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Full text of "Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven 6.1930"

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LIBRARY 
UNIVERSITY OF CALIFORNIA 
DAVIS | 


OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU 


JAHRBUCHER 
FOR 


KULTUR UND GESCHICHTE 
DER SLAVEN 


IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS 
HERAUSGEGEBEN VON 


FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH- 

BRESLAU, ROBERT HOLTZMANN-BERLIN, JOSEF 

MATL - GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, 

KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER- WIEN, 
WILHELM WOSTRY-PRAG 


SCHRIFTLEITUNG: 
ERDMANN HANISCH 


+ 


N. F. BAND VI 
1930 


PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG 
BRESLAU, RING 58 


Reprinted with the permission of Osteuropa - Institut 
JOHNSON REPRINT CORPORATION JOHNSON REPRINT COMPANY LTD. 


111 Fifth Avenue, New York, N.Y. 10003 Berkeley Square House, London, W. 1 


LIBRARY 


ROB pp ta Co Tw CATS em té rege ëm A 


First E 1966, Johnson Reprint Corporation 


Printed in West Germany 
Druck: Anton Hain KG, Meisenheim (Glan) 


OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU 


JAHRBUCHER 
FOR 
KULTUR UND GESCHICHTE 
DER SLAVEN 


IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS 
HERAUSGEGEBEN VON 


PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE -BRESLAU, 
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- 
MANN -BERLIN, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH 
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STAHLIN- BERLIN, 
KARL VOLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG 


SCHRIFTLEITUNG: 
ERDMANN HANISCH 


+ 


N. F. BAND VI HEFT I 
1930 


EEN 


PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG 
BRESLAU, RING 58, UND OPPELN 


Digitized by Google 


— — det a Sege 


I 
ABHANDLUNGEN 


POLEN UND DIE WELTWIRTSCHAFT®*) 


Von 
Dr. S. Gargas, Privatdozent an der Universität Amsterdam. 


Polen ist in Schmerz und Wehen am Ende des Weltkrieges 
November 1918 wiedergeboren. Diese Wiedergeburt erfolgte ın- 
mitten eines beinahe weltwirtschaftlichen Chaos und in einer, gerade 
für Polen besonders prekären wirtschaftlichen Lage. Wiewohl es 
selbst kein kriegführender Staat gewesen ist, waren die wirtschaftlichen 
Folgen und Nachwehen des Krieges hier viel schwerwiegender wie 
sonst in Mittel- und Westeuropa. Vor allem, weil der Krieg und der 
Kriegszustand mit all seinen wirtschaftlichen Zwangsmaßregeln und 
siner Vernichtung von Kapital und Menschenleben, hier zwei volle 
Jahre länger gedauert hat als sonst in Europa. Haben sich doch hier 
beinahe unmittelbar nach dem Weltkriege die Kämpfe mit den 
Ukrainern und der Krieg mit Sovet-Rußland angeschlossen, dem erst 
der Friedensvertrag von Riga 1921 ein Ende gemacht hatte. 

Und sodann war auch Polen, der polnische Staat, nicht Subjekt 
des Weltkrieges, war es kein Kriegspartner im eigentlichen Sinne des 
Wortes, aus dem einfachen Grunde, weil Polen als Staat zur Zeit des 
Weltkrieges überhaupt nicht bestanden hatte, so war es nichtsdesto- 
weniger Kriegsobjekt, nicht nur in dem Sinne, daß die Polnische 
Frage und ihre Lösung in der oder jener Richtung, und in dem oder 
jenem Ausmaße, eines der Kriegsziele der beiden kriegführenden 
parteien gewesen ist, sondern vor allem aus dem Grunde, weil Polen 
ein Kriegsgebiet im eminenten Sinne des Wortes gewesen ist, weil in 
Polen, auf polnischer Erde und auf polnischem Boden, gar viele 
Schlachten geschlagen wurden, weil Polen nicht einmal, sondern mehr- 
mals das Aufmarschgebiet der beiden kriegführenden Mächtegruppen 
undderen Armeen gewesen ist und weil ein jeder derartige Aufmarsch 
naturgemäß mit der Einengung und Störung, vielfach auch mit der 
Vernichtung der friedlichen wirtschaftlichen Arbeit verbunden war. 

Es waren eben in Polen die Folgen der Kriegsoperationen 
iugerst weitreichend gewesen. Durch den Weltkrieg wurde vor allem 
wendlich viel mobiles Kapital vernichtet. 


*) Vortrag gehalten für die „Europäische Union“ im Haag, am 1. Mai 1929. 


Vor dem Weltkriege betrug doch die Gesamtsumme der Depo- if 
siten aller Art gegen dreitausend Millionen Goldfranken oder 
hundert Goldfranken per Kopf der Bevölkerung. Ende 1923, in einem + 
währungspolitisch allergefährlichsten Augenblicke, betrug hingegen 
die Gesamtsumme der Depositen nur fünfundzwanzig Millionen 
Goldfranken oder dreieinhalb Goldfranken per Kopf der Bevölkerung. |. 
Mit der Zeit besserte sich wohl die Lage, da Ende Juli 1925, dem , 
währungspolitisch günstigsten Zeitpunkte, die Verhältnisse ein viel |; 
besseres Aussehen aufwiesen als im Jahre 1923, aber immerhin ooch e 
weit davon entfernt waren, den Vorkriegszustand zu erreichen. Die 4 
Gesamtheit der Depositen betrug damals nämlich sechshundertdrei- 5. 
undvierzig Millionen Goldfranken, was auf den Kopf der Bevölke- . 
rung einundzwanzig Goldfranken ausmachte, also kaum 20% der Vor- 
kriegsvorräte. Mit anderen Worten, Polen war im Juli 1925, in dem, 
wie gesagt, allergiinstigsten Zeitpunkte, rund fünfmal ärmer als vor ', 
dem Kriege.“) Diese schwerwiegende Tatsache kann jedoch keineswegs ` 
auf das leichte „polnische Blut“ zurückgeführt werden, sondern hat 
tiefere volkswirtschaftliche Ursachen. 


Hatte doch das Gros der Angehörigen des polnischen Staates seine 
Ersparnisse vor dem Kriege in russischen Rubeln, österreichischen 
Kronen und deutschen Marken angelegt. Als nun die Währung Ruf- 
lands, Österreichs und Deutschlands, im Gefolge des Krieges beinahe 
völlig entwertet wurde, so schmolz auch das Vermögen so vieler 
polnischer Staatsangehöriger beinahe völlig zusammen, wodurch ge- 
waltige polnische Kapitalien völlig vernichtet wurden. Die während 
des Weltkrieges in diesen drei Staaten eingetretene Gepflogenheit, die 
laufenden Ausgaben mittels der Notenpresse zu decken, legte auch ` 
dem neuen polnischen Staate schon in die Kinderwiege große Hinder- = 
nisse in den Weg.?) a 


Wohl wurde am 1. Februar 1924 die Notenpresse für den Bedarf 
des Staatsschatzes eingestellt. Am 8. Februar desselben Jahres wurde 
der Kurs der polnischen Mark bei einem Verhältnis von einer Million 
achthunderttausend Mark für einen Goldfranken stabilisiert. Amn 
31. März 1924 haben die Finanzeinkünfte des Staates zum ersten Male 
seine monatlichen Ausgaben überstiegen. Am 28. April 1924 trat die 
Währungsreform ins Leben und die polnische Notenbank (Bank 
Polski) begann ihre Tätigkeit. Am 1. Juli verlor die polnische Mark 
den Charakter einer VA mit Zwangskurs.) Damit war wohl 
der Weg zur Gesundung eröffnet, aber neue Kapitalien wurden da- 
durch an sich noch nicht geschaffen. | 

Die Schaffung neuer Kapitalien war nicht leicht durchzuführen, | 
solange die Inflation nicht völlig überwunden war, da die Inflation 
das Geldkapital vernichtet und verbraucht und das Sparen natur- | 


e WS M. Szawleski, Polska na de gospodarki światowej. Warszawa 1928, 


3) F. Młynarski, Kryzys i Reforma walutowa. Lwów 1925, S. 62. 
) F. Młynarski, Kryzys i Reforma walutowa. Lwów 1925, S. 8. 


— ä Ü— — — ee —2—Ʒ— — 


— — —— ———— ͤ —mœ— 8 —Pbœ=„L7 — — — — ———— one 


emäß hintanhalt. Auch die Erinnerung an die noch unlängst er- 
ıttenen Verluste übte auf Geldbelegungen einen stark hemmenden 
Einfluß aus und verringerte den Sparsinn der Bevölkerung.“) Zudem 
wurden auch nach bereits Äkircheeiührter Währungsreform die Bank- 
depots bei der dann verfügten Aufwertung recht stiefmütterlich be- 
handelt, weil die Aufwertung kaum 5% dieser Depots betrug, wobei 
das Maximum des aufgewerteten Betrages ohne Rücksicht auf die 
Höhe der Erträge den Betrag von 125 Zloty nicht überschreiten 
durfte. Freilich, die Vernichtung des mobilen Kapitals durch den 
Weltkrieg und als Folge desselben war keine spezifisch polnische Er- 
scheinung, da nach den Internationalen Übersichten des statistischen 
Reichsamtes für das Deutsche Reich?) der Goldbestand in Millionen 
Mark folgende Ziffern aufwies: 
1913 1925 


In Mittel- und Osteuropa „„ „ 1044 2 260 
In den neutralen Ländern Europas . 1320 4 028,5 
In Entente-Europa. . . . . . . . 12578 7 217,2 


In Europa insgesamt . . . 2 . . 24 278,8 13 396,2 
In den Vereinigten Staaten von Amerika 7917,2 18 507,8 

Diese Ziffern besagen folgendes: Während vor dem Kriege der 
Kapitalbestand viel größer als nach dem Kriege sowohl in Mittel- als 
Osteuropa als auch in den Ententeländern gewesen ist, ist in den neu- 
tralen Ländern Europas eine geradezu umgekehrte Entwicklung zu 
beobachten. Hier hat der Weltkrieg das Steigen des Kapitals um das 
Dreifache zur Folge gehabt. 

Nichtsdestoweniger ist Europa als Gesamtheit ärmer geworden, 
da sein Kapitalbestand von 24,278 Millionen Mark gesunken ist, 
während in demselben Zeitraum das Kapital der Vereinigten Staaten 
von Amerika mehr als um das Zweifache gestiegen ist, nämlich von 
7917,2 Mark auf 18 507, 8 Mark. 

Die Vernichtung des mobilen Kapitals war mithin keine spezifisch 
polnische Erscheinung. Nichtsdestoweniger hatte sie in Polen weiter- 

ehende Folgen, wie sonst in Europa, weil diese Kapitalvernichtung 
ier vollkommener gewesen ist, da ja doch auch Polen vor dem 
Kriege nicht gerade als reich gelten konnte. Zudem betraf die Ver- 
nichtung nicht nur Geld, sondern auch Güter- und Warenvorräte, 
sowie Arbeitsvorrichtungen. Infolge der Vernichtung des Bodens, der 
Wirtschaftsgebäude sowie des lebenden Inventars erlitt insbesondere 
die polnische Landwirtschaft Verluste, die auf über 5 Milliarden Gold- 
franken geschätzt werden.“) Die Industrie erlitt infolge der Kriegs- 
operationen, der Kriegsrequisitionen u. ä. Verluste in Vorrichtungen 
und Waren, die auf 3,3 Milliarden Goldfranken geschätzt werden. 
Während die Industrie der kriegführenden Länder durch die Not- 


B. Friediger, Żródła kryzysu bankowego w Polsce (Przewroty walutowe i 
„ po wielkiej wojnie. Kraków 1928), S. 216. 


5) Jahrbuch des Statistischen Reichsamtes 1926, S. 116. 
©) Szawleski, a. a. O. 


wendigkeit der Deckung des Kriegsbedarfes eine gewisse Belebung er- 
fuhr, erfolgte in Polen eine starke Rückentwicklung. Während 1914 
in Kongreßpolen 325 000 industrielle Arbeiter aftigt waren, fiel 
ihre Zahl 1918 auf 47000, also auf 14% des Vorkriegsstandes. Aus 
ähnlichen Gründen und Ursachen erhielt Polen seinen Eisenbahnpark 
im Zustande völligen Ruins. Seine ersten Jahre begann Polen mithin 
im Zustande eines großen Geld- und Warenhungers. Der starke Geld- 
hunger fand seinen sprechendsten Ausdruck in dem überaus starken 
Steigen des Zinsfußes. Während dieser Zinsfuß vor dem Weltkriege 
ein halbes Prozent monatlich oder 6% jährlich betrug, stieg er 1925 
auf 3—5% monatlich oder auf 36% bis 60% jährlich (Sic!). Und das 
waren nur die Diskontsätze. Der Rediskont ıst noch erheblich teurer. 
Vor dem Kriege betrug der Unterschied zwischen Diskontsatz und 
Rediskontsatz etwa 2%. 1927 ist dieser Unterschied auf 6% gestiegen. 
Wenn also der Diskontsatz der polnischen Emissionsbank z. B. 10% 
beträgt, so wird der Rediskontsatz auf 16% festgesetzt. 


Noch in der neuesten Zeit wird von einem hervorragenden pol- 
nischen Nationalökonomen”) mitgeteilt, daß die Bank von Polen 
(Bank Polski) im Rahmen der für die Kunden festgesetzten Kontin- 
gente 8% diskontiert. Solide Banken, die legal vorgehen, diskontieren 
mit 12% (dem höchsten gesetzlich zulässigen Zinsfuß), verfügen jedoch 
nicht über die nötigen Mittel, um den ganzen Bedarf zu diesem Preise 
zu decken, deshalb werden dann auch erstklassige Wechsel zu 15%, ja 
sogar zu 20% durch Winkelbanken diskontiert. Ja, noch April 1929 
wird vom Polnischen Institut für Konjunkturforschung festgestelit, 
daß der sog. private Diskont in Lodz sich im Verhältnis von 22% er- 
hielt, wenn auch der Diskontsatz der Banken andauernd auf 11—12% 
notiert wurde.“ 

Der sog. Straßendiskont ist der eigentliche Ausdruck der pol- 
nischen Geldverhältnisse, dem Zinsfuße der ausländischen Börsen ver- 
wandt, da er durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage ge- 
formt wird. In der Zeit der Inflation wurden auf der sog. 
„schwarzen“, also behördlich nicht genehmigten Börse, Valuten und 
Devisen gekauft und verkauft zu einem Kurse, der den gesetzlich zu- 
lässigen erheblich überschritt. Heutzutage gehören wohl derartige 
Operationen der Vergangenheit an, schon aus dem Grunde, weil sie 
sich nicht mehr bezahlt machen. Hingegen wird Geld auch heutzu- 
tage recht häufig oberhalb des gesetzlich zulässigen Kurses geliehen. 
Der Verkehr dieser Art, der außerhalb der Börse zu extrem hohen 
Preisen sich vollzieht, weist auf ein unzureichendes Angebot von 
Kapital hin. Der achtprozentige Diskontsatz der Bank Polski ist ein 
Privilegium, das nur wenigen zuteil wird. 

Eine dauernde Besserung der Verhältnisse kann nur erfolgen, 
wenn der Unterschied zwischen dem Diskontsatz der Bank Polski und 
dem Diskontsatz, der von den Gläubigern verlangt und erhoben 


N) A. Krzyżanowski, Bierny Bielans Handlowy. Kraków 1928, S. 90. 
®) Konjunktura gospodarcza, II, 94. 


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wird, eine Verringerung erfahrt. Eine gewichtige Ursache dieser 
geradezu enormen Diskontunterschiede ist die ungeheure Zersplitte- 
rung des polnischen Bankwesens. Nach den Angaben des (inzwischen 
zurückgetretenen) Finanzministers Czechowicz gab es in Polen 1926 
nicht weniger als 109 Banken mit einem Gesamtvermögen von kaum 
153 000 000 Zloty.) Der Verkehr ist dadurch zersplittert und die 
Verwaltungsspesen sind übermäßig hoch.“) Der starke gegenseitige 
Wettbewerb bei der Geringfügigkeit der verfügbaren Vorräte hat 
Unvorsichtigkeit bei der Wahl der Kunden und bei der Verteilung 
der Kredite zur Folge, was wiederum erhebliche Verluste für die 
Banken nach sich zieht. Diese sind in Polen zu schwach, was die 
5 Massen abschreckt, in diesen Banken ihre Ersparnisse zu 
egen. 

In der Zeit der Inflation entstand eine ganze Menge kleiner An- 
stalten, die weder größere Eigenkapitalien noch Depositen besaßen, 
je mehr die Sparsamkeit unter dem Einflusse der Inflation zurück- 
ging und Anlagen in Varen oder Devisen suchte, um so größer wurde 
die Zahl der Banken. Es war dies eine höchst krankhafte Entwick- 
lung, die mit dem volkswirtschaftlichen Charakter der Banken als 
Geldsammelstellen im Widerspruche stand. je weniger Geld diesen 
Sammelstellen zufloß, desto größer wurde die Zahl dieser Sammel- 
stellen. Die Kreditvermittlung wuchs im umgekehrten Verhältnis 
zum Stande der Kapitalisierung, was naturgemäß den Kredit ver- 
teuern mußte.) Die Besserung der Bankverhältnisse in Polen ist 
mithin durch die Verminderung der Anzahl der Finanzinstitute ganz 
wesentlich bedingt. 

Alle diese Momente waren naturgemäß nicht darnach angetan, 
das Vertrauen des ausländischen Kapitals zu Polen zu stärken. Im 
Gegenteil, dieses starke Mißtrauen kam bei fast allen, in den ersten 
Jahren des neuen Staates aufgenommenen öffentlichen Anleihen zu 
einem vielfach recht krassen Ausdruck, was sich vor allem in der Not- 
wendigkeit der Bestellung von Pfändern für diese Anleihen äußerte. 
So mußte die italienische Tabaksanleihe im Betrage von 125,5 Mil- 
lionen Zloty durch Verpfändung der Erträge des polnischen Tabaks- 
monopols erkauft werden, die heutzutage 350 000 000 Zloty, also 
einen weit höheren Betrag als der ganze von Italien geliehene Betrag, 
jährlich ausmachen.) Überdies mußte Polen sich verpflichten, 

der von ihm benötigten ausländischen Tabaksrohstoffe in Italien 
einzukaufen, was auf die Qualität der polnischen Zigaretten einen 
höchst nachteiligen Einfluß ausübte. Die Dillon-Anleihe mit einem 
effektiven Betrage von 141,6 Millionen Zloty wurde gesichert durch 


) Współpraca rza du ze sterami gospodarczemi państwa. Sprawozdanie z 
naradny gospodarczej, odbytej 30 i 81 ziernika 1926 (wydawnictwo komitetu 
ekonomicznego ministrów, Warszawa 1927), S. 81 

10) Ahnlich B. Friediger, a. a. O., S. 244. 

11) F. Młynarski, Kryzys i Reforma walutowa. Lwów 1925, S. 68. 

12) W. Fabierkiewicz, Podstawowe wytyczne Polityki kredytowej (Zagadnienia 
gospodarcze Polski współczesnej, Warszawa 1928), S. 13. 


7 


Eisenbahnbruttoertrage (etwa 1,5 Milliarden jahrlich), sowie durch 
den Ertrag der Zuckerakzise (etwa 100 Millionen jährlich). Die 
Zündhölzchenanleihe im Betrage von kaum 33,5 Millionen Zloty zog 
eine langfähri e Verpachtung des Zündhölzchenmonopols unter 
recht SE Bedingungen nach sich. Die Harriman-Anleihe 
im Betrage von 10 Millionen Dollars zwecks Investierungen in den 
Zinkunternchmungen der Firma Giesche & Co. in Oberschlesien zog 
die Erlassung eines besonderen Gesetzes betreffend die Unterstiitzung 
der Zinkindustrie nach sich. Die sogenannte Ulen-Anleihe für die 
polnischen Kommunen mußte durch das ganze Vermögen der die 
Anleihe aufnehmenden Selbstverwaltungskörper, eine Garantie der 
polnischen Wirtschaftsbank sowie eine Sondergarantie der Staats- 
regierung sichergestellt werden. 

Beweisen all diese Tatsachen die enormen finanziellen Schwierig- 
keiten, mit denen der neue Staat in seinen Kinderjahren zu kämpfen 

tte, so sind andererseits auch zahlreiche Ta en zu vermerken, 

welche darauf hinweisen, daß das Vertrauen des Auslandes wenn 
auch vor der Hand hauptsächlich in Form von kurzfristigen An- 
leihen an polnische Banken allmählich zurückzukehren beginnt, was 
zweifellos, wenigstens zum Teile, auf den hohen polnischen Diskont- 
satz zurückzuführen sein dürfte. Betrugen doch die ausländischen 
Kai iar i der polnischen Devisenbanken (d. h. der größeren 
Banken, denen der Ankauf fremder Devisen gestattet war) in 
Tausenden polnischer Zloty: 

Am 31. 12. 1926: 282 060, 

„ 31. 12. 1927: 397 609, 

„ 31. 12. 1928: 535 439.) 

Also immerhin ein langsames jedoch konstantes Steigen der aus- 
lindischen Verpflichtungen, was auf ein andauerndes steigendes Ver- 
trauen in die polnische Volkswirtschaft hinweist. 

Dieses wachsende Vertrauen des Auslandes stützt sich auch auf 
zahlreiche Aktiv-Posten der polnischen Volkswirtschaft, wenn auch 
viele dieser Aktiv-Posten eher als potenzielle Entwicklungsmöglich- 
keiten denn als aktuelle Wohlstandsäußerungen zu Seck e sind. 

Dies gilt vor allem von der Bevölkerung, die heutzutage in Polen 
die Ziffer von 30 Millionen Menschen bereits überschritten hat und 
die noch immer im ständigen starken Steigen, hauptsächlich durch 
natürlichen Bevölkerungszuwachs, begriffen ist. Ist es doch seit 

ahren die Eigenart der polnischen Lande, daß sie in ganz Europa den 
öchsten Bevölkerungszuwachs aufweisen.“) 

Auf 10000 der polnischen Bevölkerung betrug der jährliche 
Geburtenüberschuß über die Todesfälle in den Jahren 1900—1904 
im Gouvernement Wolhynien 199, in Podolien 180, in der Provinz 
Posen (in den Jahren 1901—1910) 197, in Westpreußen 181. 


18) Konjunktura gospodarcza, II, S. 82. 


44) J. Buzek, Po na wzrost ludnosci ziem polskich w wieku XIX. — 
Kraków 1915. e E 


8 


D ee 
— 5 — . — 


Sehr interessant ist ein Vergleich der Bevölkerung bewegung 
Frankreichs mit der der Provinz Posen; beide Linder haben dieselbe 
Sterblichkeit, da jedoch Posen eine fast zweimal so hohe Geburten- 
häufigkeit aufweist, gehört es zu den Ländern mit dem größten 
natürlichen Bevölkerungszuwachs, während Frankreich seit etwa 
30 Jahren überhaupt keinen natürlichen Bevölkerungszuwachs be- 
sitzt. Wenn auch in Mittel- und Westeuropa der rschuß der 
Geburten eine riickliufige Bewegung aufweist, diirfte Polen noch 
mehrere Jahrzehnte hindurch einen höheren natürlichen Zuwachs als 
andere Staaten Europas, vielleicht mit der einzigen Ausnahme Ruß- 
lands, aufweisen. Diese vor dem Weltkriege bereits gemachten Beob- 
achtungen gelten unvermindert von der Nachkriegszeit. Infolge des 
starken natürlichen Bevölkerungszuwachses ist die Bevölkerung 
Polens 1926 um 451 000 Seelen, 1927 um 427 000 Seelen gestiegen.“) 
Dieser große natürliche Bevölkerungszuwachs in Polen Ee be- 
sonders stark zum Ausdruck, wenn man den polnischen Bevölkerungs- 

Kooffizienten mit dem anderer großer europäischer Staaten 
nach dem Stande von 1926 vergleicht. So betrug dieser Kooffizient 
in Deutschland 7,0, in Italien 10,9, in Großbritannien 6,7, in Frank- 
reich 1,3, in Polen hingegen 15,2. Polen marschiert mithin in dieser 
Hinsicht geradezu an der Spitze der Großstaaten Europas. Der große 
natürliche Bevölkerungszuwachs gibt Polen eine verhältnismätige 
große Anzahl junger Leute unterhalb 21 Jahren, also in einem Alter, 
das nicht nur am zeugungsfähigsten, sondern auch wirtschaftlich am 
produktivsten ist. 

Diese Zahlen beweisen auch, daß, wenn dieser Bevölkerungs- 
zuwachs noch anhält (und nichts weist auf das Gegenteil hin) Polen 
in etwa 20 Jahren die vierte Stelle unter den europäischen Staaten 
der Zahl der Bevölkerung nach einnehmen dürfte. 

Wird Polens landwirtschaftliche Produktion durch Meliorationen 
vergrößert, wobei besonders in den östlichen Provinzen Polens an 
fast unbegrenzte Möglichkeiten zu denken ist, so wird Polen nicht 
eine Bevölkerung von 30 Mill., sondern eine von 50 Millionen Seelen 
nicht nur haben, sondern auch ohne besondere Schwierigkeiten er- 
nähren können. Freilich sind das nur potenzielle Entwicklungs- 
möglichkeiten, während die aktuellen Existenzbedingungen hinter 
diesen potenziellen Entwicklungsmöglichkeiten sehr weit zurück- 
stehen. Diese Diskrepanz hatte seit einer Reihe von Jahren und hat 
noch heutzutage eine enorme polnische Auswanderung zur Folge. 

Die Auswanderung ist heutzutage in Polen ein notwendiges Übel. 
Angesichts der aktuellen Erwerbsmöglichkeiten ist das Land geradezu 
übervölkert. Das gilt vor allem vom platten Lande, das ja ın Polen 
bei weitem überwiegt. Hinzu kommt noch die industrielle Arbeits- 
losigkeit, der starke Bevölkerungszuwachs, die geringe Kapazität der 
Arbeitsstätten, um den Bevölkerungszuschuß aufzunehmen. All diese 


18) L. Studnicki, L’acroissement de la population en Pologne (le Messager 
Polonais, IV) Nr. 288, S. 6. 


Momente zwangen und werden wohl auch in Zukunft zur Aus- 
wanderung zwingen. Welch große Bedeutung die Auswanderung fiir 
Polen besitzt, beweist die Tatsache, daß vor dem Kriege die jährliche 
Auswanderungsziffer 900 000 Personen alljährlich umfaßte. 

Die polnische Auswanderung besitzt auch für die polnische 
Zahlungsbilanz eine große Bedeutung, da die Ersparnisse der polni- 
schen Emigranten gar häufig ihren Weg nach der Heimat nahmen, 
und hier besonders in den beschränkten Verhältnissen der Bewohner 
des platten Landes eine große Rolle spielten. 

Die polnische Auswanderung ist bereits seit einem halben Jahr- 
hundert überall eine wohlbekannte Erscheinung. Anders ist es mit 
der polnischen Ware, die vor dem Kriege zumeist durch Vermittlua 
fremder Exportfirmen in Berlin, Wien oder St. Petersburg das Lan 
verließ.“) Am Anfang des Bestandes des neuen polnischen Staates, 
angesichts der Vernichtung des Landes und des großen Waren- 
hungers, deckte der polnische Export kaum den fünften Teil des 
2 Importes. Er wendet sich hauptsächlich nach den ihm 

reits vor dem Kriege bekannten Märkten, also angesichts des staat- 
lichen Außenhandelsmonopols in Sovetrußland und der durch ihn 
bedingten starken Einfuhrbeschränkungen nach Deutschland und der 
Nachfolgestaaten der ehemaligen österreichisch - ungarischen 
Monarchie. 

Der Außenhandelsverkehr ist daher schwach entwickelt. Der 
durchschnittliche monatliche Export in den Jahren 1924—1927 
kommt in folgenden Ziffern (in Millionen Goldfranken) zum 


Ausdruck: 
1924 1925 1926 1927 1924—1927 
Import 123 133 75 140 118 
Export 105 105 109 121 110. 


Diese Ziffern weisen darauf hin, daß Polen auf seiten des 
Importes großen Schwankungen unterworfen ist, je nach dem Ernte- 
5 dem Zustande der Währung und den Tendenzen der Zoll- 
politik. 

Im Welthandelsverkehr ist der Anteil Polens sehr bescheiden. 
Wiewohl es 1,5% der Erdbe völkerung besitzt, beträgt der Anteil 
Polens am Welthandelsverkehr kaum 1%. In der polnischen Handels- 
bilanz kommt recht deutlich der Charakter Polens als eines Rohstoff- 
lieferanten zum Ausdruck. 

Wiewohl auch viele Rohstoffe und Halbfabrikate nach Polen 
importiert werden, um hier einer Verarbeitung und Veredelung ent- 
gegenzugehen, weist nichtsdestoweniger der ache Export auf dem 
Gebiete der Veredelungsindustrie eher Riickgang als Fortschritt auf. 
Die industriellen Erzeugnisse in den Jahren 1924—1926 bildeten etwa 
30% des Exportwertes, wahrend in den Jahren 1926—1927 ihr Anteil 
auf etwa 20,5 zugunsten der Erzeugnisse der Landwirtschaft und des 
Bergbaues gefallen ist. Das Hauptgewicht des Exportes wendet sich 


16) Szawleski, a. a. O., S. 410. 


10 


mithin immer mehr in der Richtung des Exportes der billigen and 
unverarbeiteten Massenartikel. Die Erzeugnisse des Bergbaues und 
der Landwirtschaft bilden beinahe 80% des Wertes des Exportes, ins- 
besondere Holz, Kohle, Rohöl und ihre Derivate, repräsentieren dem 
Werte nach beinahe die Hälfte des Exportes, dem Volumen nach 
sogar beinahe 90% des Exportes. 


Die Steinkohlenlager ziehen sich im Süden Polens hin. Das 
Steinkohlenrevier Polnisch-Oberschlesien, das größte und wichtigste 
des Landes, birgt über 100 Milliarden Tonnen abbaureifer und 
qualitativ hochwertiger Steinkohlen und würde bei gleichbleibender 
jährlicher Förderung zirka 2000 Jahre reichen. Die im polnischen 
Staate, im Dombrowaer, Krakauer, Teschener und oberschlesischen 
Reviere befindlichen Steinkohlenlager bilden dem Ursprunge nach ein 
Ganzes, sind ein Teil des Schlesisch-Mährisch-Krakauer Kohlen- 
beckens. Die im Dombrowaer Kohlenbezirk geförderte Steinkohle 
steht zwar der oberschlesischen an Qualität nach, findet aber als aus- 
gezeichnetes Brennmaterial ausgedehnte Verwendung. Im Krakauer 
Kohlenrevier weisen die im Norden des Bezirkes gelegenen Gruben 
eine der Dombrowaer Qualität nachstehende Kohle auf. In den 
reichen Kohlengebieten im Südwesten von Krakau werden jedoch 
auch Fettkohlenlager festgestellt. Der polnische Teil des Teschener 
Schlesiens besitzt produktive Kohlenschichten auf einem Gebiet von 
200 Kilometern. Die hier geförderte Kohle besitzt die Eigenschaften 
der Krakauer Kohle. Mit seiner durchschnittlich 25 Millionen Tonnen 
jährlich betragenden Steinkohlenförderung steht Polen an vierter 
Stelle unter den Kohlenproduzenten Europas. 


Die gesamte Kohlenproduktion Polens vor dem Kriege betrug 
1913 gegen 41 Millionen Tonnen Steinkohlen, wobei jene Gebiete, 
die heutzutage zu Polen gehören, selbst 27,7 Millionen Tonnen ver- 
brauchten. Der Produktionsüberschuß wurde fast ausschließlich ın 
den Staaten verbraucht, denen die einzelnen polnischen Gebietsteile 
angehörten.“) Da die in Polen herrschenden Staaten Polen zumeist 
wie eine Kolonie behandelten, so war die innere Aufnahmefähigkeit 
des polnischen Marktes noch mehr herabgedrückt und die Not- 
wendigkeit eines polnischen Kohlenexportes noch stärker dargetan. 
Nun ist Rußlands Aufnahmekapazität seit der bolschewistischen 
Revolution sehr stark gesunken. Die Cecho-Slovakei und Rumänien 
führen eine stark autarkische Wirtschaftspolitik. Drei Jahre hin- 
durch, seit dem Anschluß Oberschlesiens und Polens, wurde durch 
den Genfer Vertrag die Möglichkeit einer intensiven oberschlesischen 
Kohlenausfuhr nach Deutschland gewährleistet. In dem Genfer Ver- 
trage wurde Polen bis 1925 ein Kohlenausfuhrkontingent von 
500 000 Tonnen nach Deutschland zugesichert. Da Deutschland sich 
der weiteren Fortsetzung dieses Importes nach 1925 widersetzte, kam 
es bekanntlich zum Ausbruch des deutsch-polnischen Zollkrieges. 


150 A Cybulski, Rozwój, Przemyslu węglowego e niepoldieglej Polsce, 
(Przemysł i Handel 1928). | 


11 


Dieser dreijahrige Export ist wohl eine zeitliche Erleichterung der 
Lage der oberschlesischen Kohlenindustrie gewesen, trug jedoch in 
keiner Weise zur Lösung des dauernden Kohlenexportproblemes bei. 


Die Frage der Kohlenausfuhr erlangte denn auch für die polnische 
Kohlenindustrie, besonders nach 1925, eine geradezu vitale Be- 
deutung. Ging doch von diesem Zeitpunkte 64,03% der ganzen 
polnischen Kohlenausfuhr nach Deutschland. Seit dem englischen 
Kohlenstreik hat sich jedoch die Lage grundsätzlich geändert. Die 
oberschlesische Kohlenindustrie eroberte neue belangreiche Absatz- 
märkte in den skandinavischen Ländern und in Südeuropa. Auf diese 
Weise wurde es möglich, daß der polnische Kohlenexport im Jahre 
1927 1579000 Tonnen betrug, also den Stand des Jahres 1924 er- 
reichte, das ist in jener Zeit, wo der durch den Genfer Vertrag ge- 
sicherte deutsche Absatzmarkt noch nicht ins Stocken geraten war. 
Auch die Produktionsziffern aus dieser Zeit beweisen die 
Konkurrenzfähigkeit der polnischen Kohlenindustrie und die Erträg- 
ee eines weitgehenden Verzichtes auf dem deutschen Absatz- 
markte. 

1927 wurden in Polen 38 084 000 Tonnen Kohle geholt, also nur 
6,5% mehr als in dem Jahre der englischen Konjunktur (1926) und 
im Vergleiche mit der Zeit vor dem Verluste des deutschen Absatz- 
marktes stieg die Produktion sogar um 9,4%. Die Lage der polni- 
schen Kohlenindustrie hat sich mithin in den letzten Jahren erheb- 
lich gebessert. Die Kohle spielt in der polnischen A eine viel 
überragendere Rolle als in den anderen Kohle exportierenden Ländern 
Europas. Im Verhältnisse zum Gesamtexport dieser Länder betrug 
in den Jahren 1923—1927 der Kohlenexport: 


1923 1924 1925 1926 1927 


Deutschland. . O, 7 0,9 31 6,4 5,6 
Cecho-Slovakei 3,9 2,7 1,8 3,4 1,9 
England. . . 13,0 9,0 6,5 — 4,0 
Polen 26,6 20,9 11,6 19,6 13,6.**) 


Noch stärker tritt dies zutage, wenn wir das Aktivsaldo des 
Kohlenverkehrs, also den Netto-Wert des Exportes, betrachten. Dann 
erhalten wir für Deutschland im Jahre 1925 1,5%, im Jahre 1926 5,7%, 
im Jahre 1927 4,5%, für die Cecho-Slovakei entsprechend 0,2%, 1,5%, 
0,2% des Wertes des Gesamtexportes. Für Polen bleiben diese Ziffern 
angesichts des sehr geringen Exportes fast ohne Anderung. 

Die Schaffung von für die Vergrößerung des Kohlenexportes 
nach dem Auslande günstigen Bedingungen war jedoch für Polen mit 
erheblichen Opfern verbunden, so mit der Gewährung von Kontin- 
genten für Einfuhr italienischer Orangen und von gleichwertigen 
Kontingenten für Lettland, Schweden und Norwegen in bezug auf 
Waren, deren Einfuhr verboten war. Auch die Erreichung geeigneter 


ze 18) Sprawozdanie komisji ankietowej Tom V. Wegiel. Warszawa 1928, 


12 


Eisenbahntarife für die Beförderung polnischer Kohle über die Cecho- 
Slovakei und über Osterreich war unmöglich ohne Gewährung von 
Kompensationen an diese Staaten beim Abschluß von Handels- 


verträgen. Wohl ist auch der innere Verbrauch der Kohlen im all- 
mählichen Steigen begriffen. Er betrug auf den Kopf der Bevölkerung: 
1924 700 kg, 
1925 710 „, 
1926 730 „, 
1927 840 „ 


Der Aufstieg des inneren Kohlen verbrauches ist jedoch in Polen 
viel langsamer als in der Cecho-Slovakei, in Belgien und in Frank- 
reich, so daß die polnische Steinkohle auf die ausländischen Absatz- 
märkte geradezu angewiesen ist, unter der Gefahr, daß sich sonst 
der Betrieb der polnischen Kohlenwerke nicht rentiert, wobei noch 
ganz wesentlich für die Zukunft der Umstand in Betracht kommt, 
daß die veredelnde Industrie in Polen noch wenig entwickelt ist. 

Eine Verständi der polnischen Kohlenindustrie mit der eng- 
lischen ist angesichts der ungünstigen Lage des Weltmarktes ein 
dringendes Gebot der Notwendigkeit. Es ist wohl zu erwarten, daß 
die englische Kohlenindustrie sich dieser Erkenntnis nicht länger 
widersetzen wird, nachdem das Eindringen der polnischen Kohle auf 
die neuen Märkte der polnischen Kohle eine durchaus günstige Marke 
verschafft hatte. Hat doch die englische Monatsschrift The 
Compendium über den Wert nach England eingeführter fremder 
Kohle eine besondere Enquete durchgeführt und deren Ergebnisse 
in den Nummern 8—9 vom Jahre 1926 veröffentlicht. 

Die dort gemachten Meinungsäußerungen sind für die polnische 
Kohle im allgemeinen äußerst vorteilhaft. Die aa iy es 
The Compendium gelangt denn auch zu dem Ergebnis, daß die n 
Sorten der ausländischen Kohle mit der englischen vollständig 
konkurrenzfähig sei, was besagen will, daß England auf den Aus- 
landsmärkten kein Monopol mehr besitze ohne Rücksicht auf die 
zweifellos ungeheuren Vorteile der englischen Kohle. 

Eine geringere handels- und wirtschaftspolitische Bedeutung 
haben neben der Steinkohle auch die in verschiedenen Teilen Polens 
vorkommenden reichlichen Vorräte an Braunkohlen der Miozän- und 
Trias-Formation, sowie große Torflager, die jedoch bei den großen 
teinkohlenvorräten in den Hintergrund treten. Hervorzuheben 
sind die Braunkohlenlager in der Gegend von Zawiercie, die Braun- 
kohle in geringer Tiefe aufweisen. Braunkohle kommt ferner in 
Galizien, Posen und Pomerellen vor. Allerdings hat die Braun- 
kohlenförderung nur lokale Bedeutung. Ä 

Die Eisenerzlager Polens sind noch zu wenig erforscht, als daß 
eine annähernde Berechnung ihrer Vorräte möglich wäre. Ost- 
schlesiens abbaureife Erzlager werden auf 16 Millionen Tonnen ge- 
schätzt. Größere Erzvorkommen weist Kongreßpolen in den 


19) E. Kwiatkowski, Postep gospodärczy polski. 


13 


Kohlenrevieren in Czenstochau und Radom auf, die sich auf einer 
Fläche von 10000 qkm hinziehen. Die Erzablagerungen bestehen 
im Westen hauptsächlich aus reichen Sideriterzen, im Osten aus 
ärmeren Siderit- und Rasenerzen. Die Erzvorräte belaufen sich auf 
etwa 260 Millionen Tonnen, mit einem Gehalt an reinem Metall von 
100 Millionen Tonnen. Die Erze weisen einen niedrigen Gehalt an 
Eisen (35>—40%) auf und stehen infolgedessen den ukrainischen und 
den schwedischen nach. 

Auch in dieser Industrie bildete der durch den Genfer Vertrag 
festgesetzte 15. Juni 1926 als Ende der durch diesen Vertrag sicher- 
gestellten deutsch-polnischen Wirtschaftsgemeinschaft einen wirt- 
schaftspolitisch Pede Wendepunkt. Bis zu diesem Zeit- 
punkte hatten die polnischen Eisenhütten in Oberschlesien völker- 
rechtlich den Bezug eines Jahreskontingentes von 235 000 Tonnen 
Brucheisen zugesichert, wodurch alle Schwierigkeiten in der Ver- 
sorgung der nölnischen Hüttenindustrie behoben waren.“) Das Ver- 
bot der Ausfuhr von Brucheisen von Deutschland bedeutete nach Ab- 
lauf dieses Zeitraumes eine ganz erhebliche Schwierigkeit und wird 
wohl erst in dem nunmehr abzuschließenden deutsch- polnischen 
Handelsvertrage behoben werden können. 

1927 haben alle europäischen Eisenhütten ihre Produktion an 
Gußeisen von 1913 erheblich überschritten. Die polnische Gußeisen- 
erzeugung hat jedoch in diesem Jahre kaum 70% des Vorkriegs- 
zustandes erreicht. Auch hierin äußern sich die weitgehenden und 
so nachteiligen Folgen des Weltkrieges. 1918 nach dem Rückzuge 
der Besatzungsmächte bildete die polnische Hüttenindustrie nur eine 
große Ruine. Es gab damals niche einen einzigen Hochofen. Der 
Vernichtung unterlagen sowohl die technischen Vorrichtungen und 
die Maschinen als auch die Verkehrsmittel. 

Der Eisenbahnverkehr war höchst mangelhaft. Der Kohlen- 
ankauf bedeutete damals ein äußerst schwer zu lösendes Problem, da 
die Kohlenausbeutung in den damals Polen angehörenden Kohlen- 
rcvieren, dem Dombrowaer und dem Krakauer, nur unbedeutend 

ewesen ist. An Brucheisen mangelte es zwar nicht, aber seine Zu- 
uhr war mit Schwierigkeiten verbunden. Aber eine intensive Hilfe 
der Regierung in Form von staatlichen Kohleneinkäufen, ergiebiger 
Regierungskredite, endlich Beförderungserleichterungen, erweckten 
die polnische Hüttenindustrie Juni 1919 zu neuem Leben. Eine neue 
Lage entstand für die polnische Hüttenindustrie am 15. Juni 1922, als 
Oberschlesien an Polen angegliedert wurde, wodurch an Polen auch 
die großen oberschlesischen Hüttenanlagen kamen. 

Während die Eisenhütten Konreßpolens während des Welt- 
krieges fast vollständig vernichtet worden waren, wiesen die ober- 
schlesischen Eisenhütten eine völlig unverminderte Produktionskraft 
auf, nachdem für diese Hütten die Kriegszeit eine geradezu glänzende 
Epoche bedeutete, betrugen doch damals die ausgeschütteten 


3°) H. Glück, Hutnictwo żelazne w Polsce (Przemysł i Handel 1928). 


14 


Dividenden 20—30%. Die Hüttenindustrie Kongreßpolens be- 
fürchtete denn auch nicht ohne Grund einen rücksichtslosen und 
ruinösen Konkurrenzkampf seitens der oberschlesischen Hütten- 
industrie. 

In der ersten Zeit nach der Angliederung Oberschlesiens an Polen, 
d. h. in den Jahren 1922 und 1923, beachtete die oberschlesische 
Hiittenindustrie den polnischen Absatzmarkt recht wenig, da ihre 
Erzeugnisse gerade 1 infolge der Ruhrbesetzung durch die 
französische Armee in ganz Deutschland gesucht wurden. Es war 
dies jedoch die Zeit der Inflation, sowohl der deutschen als auch der 
polnischen Mark, wodurch wohl eine glänzende Scheinkonjunktur 
geschaffen wurde, gleichzeitig jedoch die Grundlagen des von der 
Inflation berührten Virtschaftsorganismus völlig untergraben 
wurden. Die aus der vergrößerten Produktion erzielten Mark- 
Milliarden schmolzen in den Bankdepots recht schnell völlig zu- 
sammen, und dies um so mehr, als die oberschlesischen Hütten in- 
folge des Miftrauens zu der Stabilität der polnischen Verhältnisse in 
dieser Zeit irgendwelche größeren Investierungen völlig unterlassen 
haben. So war denn auch das einzige Ergebnis dieser scheinbar 
glänzenden Konjunktur die fast völlige Vernichtung des Betriebs- 
kapitals der oberschlesischen Unternehmungen und eine erhebliche 
Beschädigung der Produktionskapazität, der damals stark über- 
lasteten, aber nicht erneuerten und nicht modernisierten Anlagen. 
Gleichzeitig ging die Kaufkraft des ganzen deutschen und polnischen 
Absatzgebietes erheblich zurück. 


Am 15. Juni 1926 um 12 Uhr nachts hörte der Import der 
polnischen Kohle und des polnischen Eisens in Deutschland auf, was 
selbstredend der polnischen Kohlen- und Eisenindustrie sich äußerst 
peinlich fühlbar machen mußte. Die polnische Hüttenindustrie 
richtete nunmehr eine gespannte Aufmerksamkeit auf den inneren 
Markt ın Polen, aber erst das Jahr 1927 brachte den oberschlesischen 
Hütten eine entschiedene Besserung der Lage. Vor allem ist der 
innere Konsum des Eisens von 239 426 Tonnen in 1926 auf 368 456 
Tonnen in 1927 gestiegen. Sodann stieg auch der polnische Eisen- 
export von 104824 Tonnen in 1926 auf 170370 Tonnen in 1927. 
Der Zollkrieg mit Deutschland zwang geradezu die oberschlesischen 
Hütten, neue Absatzgebiete zu suchen und verlieh ihnen einen 
eminent exportpolitischen Charakter. 

Dazu war vor allem eine völlige Verständigung der einzelnen 
Gruppen der polnischen Hüttenindustrie nötig, die auch tatsächlich 
recht bald zustande kam. Schon am 1. August 1925 wurde das ober- 
schlesische Eisenhüttensyndikat gebildet und bald darauf trat diesem 
Syndikat auch die Sosnowitzer Röhren- und Eisenfabriksgesellschaft 
bei. Schwieriger gestaltete sich die Frage einer internationalen Ver- 
ständigung, welche jedoch für die polnische Hüttenindustrie, die ihre 
Erzeugnisse nach 33 Ländern exportiert, geradezu zu einer Lebens- 
frage wurde. Die polnische Hüttenindustrie hatte unzweifelhaften 
Willen, dem internationalen Eisenverbande beizutreten, kann jedoch 


2 ur 6 15 


weder auf den Ausbau seiner Exportmöglichkeiten, noch auf den des 
inneren Absatzmarktes verzichten, da beide in ihrer .Entwicklung 
aus exogenen Gründen stark gehemmt waren, daher nicht der rein 
augenblickliche Stand und die potenziellen Entwicklungsmöglichkeiten, 
zum Ausgangspunkte beim Festsetzen der, Polen zuzuweisenden 
Absatzkontingente genommen werden müssen. Am 8. Mai 1928 
wurde endlich der Standpunkt der polnischen Eisenhütten dahin fest- 
gelegt, daß der polnische Markt den polnischen Hütten unein- 
geschränkt überlassen wird und der internationale Eisenverband diesen 
Markt der polnischen Hüttenindustrie garantiert, daß mit dem Augen- 
blicke der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Handelsvertrages 
die polnischen Hüttenverhandlungen mit den deutschen Hütten in 
der Frage des polnischen Eisenausfuhrkontingentes nach Deutschland 
eröffnen werden. Diese Bedingungen wurden jedoch von dem inter- 
nationalen Eisenverbande nur teilweise angenommen. Der polnische 
Export sollte danach auf 300 000 Tonnen Gußeisen jährlich beschränkt 
werden und überdies sollte dieser Kontingent von dem Steigen der 
Produktion für den Bedarf des inneren Marktes abhängig gemacht 
werden, in der Weise, daß für jedes 1000 Tonnen des vergrößerten 
polnischen Eisenkonsums der Ausfuhrkontingent um je 333 T. ver- 
ringert werden sollte. Da die polnischen Eisenhütten diese Be- 
dingungen ihrerseits als unannehmbar erklärten, so gelangten die 
internationalen Verhandlungen ins Stocken. 

Zink- und Bleierze der Trias liegen im südwestlichen Teile 
Polens. Neben dem bereits ziemlich viel erschöpften Vorkommen bei 
Tarnowitz ın Oberschlesien sind reichliche Vorräte bei Beuthen, ferner 
in Kongreßpolen in der Wojwodschaft Kielce und auch bei Krakau 
vorhanden. 

Die Kupfererzvorkommen Polens sind von geringer Bedeutung 
und auf die Gegend von Kielce beschränkt. Schwefel kommt in der 
Gegend von Krakau vor und am Fuße der Karpathen. Auch in 
Kongreßpolen und in Oberschlesien finden sich schwefelhaltige Ge- 
biete, die jedoch nicht genügend untersucht sind und deren Ertrag 
bis jetzt gering ist. Überaus zahlreich und reich sind die galizischen 
Erdölquellen. Die Naphtafelder, deren Gehalt auf mehrere 100 Milli- 
onen Doppelzentner Roherdöl geschätzt wird, ziehen sich auf einer 
Strecke von 400 Kilometer längst der Karpathen, von Neu-Sandez bis 
an die Quellen des Pruth hin. Rohnaphta wird in den Bezirken 
Krosno, Sanok, Sambor und vor allem Drohobycz zutage gefördert. 
Die seit mehr als 60 Jahren betriebene Ausbeutung der in Galizien 
befindlichen Erdöllager erreichte ihren Höhepunkt im Jahre 1909 mit 
einem Ertrage von 2000000 T. In den folgenden Jahren ist eine 
Verringerung der Produktion zu verzeichnen, die schließlich infolge 
von Kriegsschäden noch mehr herabsank. Indessen beweisen geo- 
lcgische Untersuchungen, daß die Erdöllager noch lange nicht er- 
schöpft sind und ihr Vorrat schätzungsweise rund 270 000 000 T. 
beträgt. Dank weiteren Bohrungen gelang es auch in den letzten 
Jahren, die Produktion etwas zu heben, was zum Teil auf die Be- 


16 


seitigung der staatlichen Beschränkungen des Pctroleumhandels und 
auch die unter starker Zuziehung ausländischen Kapitals durchge- 
führten Neuinvestierungen zurückzuführen sein dürfte. Auch die 
Bohrungen werden intensiver und weitgehender durch auf Brennstoff- 
ersparnis in Anwendung verbesserter Bohrmethoden gerichtete Be- 
strebungen und haben die Rentabilität der Gruben bedeutend erhöht. 
Einen kraftvollen Aufschwung hat die Raffinerieindustrie genommen. 
Während vor dem Kriege nur 40—48% der Produktion an Ort und 
Stelle verarbeitet wurde, stieg im Jahre 1921 unter dem Einflusse des 
Ausfuhrverbotes von Rohöl dieser Prozentsatz auf 90%. In den 
folgenden Jahren wurde die ganze Produktion, samt den Lager- 
beständen im Lande verarbeitet und heute wird das Verarbeitungsver- 
mögen der Raffinerien auf etwa 200% der gegenwärtigen Produktion 
geschätzt. Die steigende Herstellung von Petroleumerzeugnissen 
spiegelt sich in folgenden Ziffern wieder: im Jahre 1913 betrug die 
Produktion 304 000 T., 1921: 572000 T., 1922: 658300 T., 1923: 
610 000 T., 1924: 770 792 T., 1925: 800 000 T., 1926: 709904 T. und 
1927: 619 295 T. Diese steigende Entwicklung machte es Polen mög- 
lich, einen Teil der Raffinationsprodukte ins Ausland zu senden, deren 
Export vorwiegend nach eutschland, Usterreich, der Cecho- 
slovakei und Ungarn gerichtet, in den letzten Jahren bis zum Aus- 
bruch des deutsch-polnischen Zollkrieges 60% der Gesamtproduktion 
ausmachte. 

An der polnischen Petroleumindustrie sind zahlreiche aus- 
ländische Kapitalien beteiligt, es überwiegt jedoch bei weitem das 
amerikanische, so daß hier die Standard Oil Company die polnische 
Rohölproduktion monopolistisch beherrscht, nicht immer zu Nutz 
und Frommen Polens, da dieser Einfluß der Standard Oil sich vielfach 
produktionshemmend auswirkt. Deshalb wird es auch in den Kreisen 
der polnischen Rohölproduzenten außerordentlich bedauert, daß 
insbesondere das englisch-niederländische Petroleumkapital, die Royal 
Dutch voran, in Polen sich so außerordentlich zurückhaltend benimmt. 
Die Royal Dutch wäre in Polen als Gegenpart zur Standard Oil sehr 
willkommen. 

Polen ist ferner reich an Steinsalzen, sowohl in Gestalt von reinem 
Kristallsalz als auch von Salzschlamm mit einem 40—45prozentigen 
Gchalt an reinem Salz. Außerst kompakte Salzlagen befinden sich in 
Galizien, wo sie in Wieliczka, Bochnia und Stebnik in Stollen von 
150 Meter Tiefe abgebaut werden. Außer mehreren Salzquellen, im 
früheren Kongreßpolen, deren Salz durch Auskochen gewonnen wird, 
befinden sich noch kegelförmige Salzlager in Großpolen, und Stein- 
salz ist weiter in Schlesien und im Posener Land bekannt. Die Salz- 
industrie ist die älteste Industrie auf polnischem Boden. Nach dem 
Weltkriege hat die Salzgewinnung eine bedeutende Steigerung er- 
fahren und heute deckt die Produktion nicht nur die Bedürfnisse des 
Inlandes, sondern gestattet auch eine Ausfuhr. Die Salzproduktion 
der galizischen Gruben übersteigt um mehr als 35% deren Ergiebigkeit 
vor dem Kriege. Eine ähnliche Erscheinung läßt sich im posener und 


17 


im kongreßpolnischen Gebiete feststellen. Das Salz ist von guter 
Qualität und frei von schädlichen Verunreinigungen. Die Entwick- 
lung der Salzindustrie bildet einen wichtigen Faktor des polnischen 
Wirtschaftslebens schon mit Rücksicht auf die chemische Industrie. 
Mit Ausnahme einer Grube in Großpolen, die der Firma Solvay- 
Werke angehört, sind alle Salzgruben Eigentum des Staates. Kali- 
salze in Gestalt von Kainit und Sylvinit sind in Kalusz und Stebnik 
in Ostgalizien in reichlichen Lagern vorhanden, die erst in letzter Zeit 
intensiver ausgebeutet werden. Die bis jetzt festgestellten Vorräte in 
Kalusz werden bis jetzt mit ca. 5000000 T., in Stebnik auf 10 bis 
12 Millionen T. geschätzt. Außerdem bewiesen Bohrungen in anderen 
Gegenden Polens das Vorhandensein von Kalisalzen, die mit ähnlichen 
Ablagerungen in Deutschland identisch sind. In allerjüngster Zeit 
wurden große neue Kalilager aufgedeckt, deren Ertragsmöglichkeit 
aber vor 10 bis 15 Jahren nıcht in Frage kommt. Die Produktion der 
Kaliwerke in Kalusz und Stebnik ist von 4 628 T. im Jahre 1912 auf 
176984 T. im Jahre 1925, auf 207 389 T. ım Jahre 1926 und schließ- 
lich auf 276054 T. ım Jahre 1927 gestiegen. Da aber die polnische 
Landwirtschaft jährlih an 500000 T. Kalisalz braucht, so ist bei 
stärkerer Ausbeutung die Möglichkeit gegeben, sich in dieser Be- 
ziehung unabhängiger vom Auslande zu machen. 

Bei einer Darstellung der natürlichen Reichtümer Polens dürfen 
die Energiequellen Polens nicht unerwähnt gelassen werden, welche 
die zahlreichen und starken Wasserfälle bilden. Die nur zum ge- 
ringen Teile ausgenützte Wasserenergie der Karpathen wird auf 
500 000 PS. berechnet und wäre hinreichend, ganz Polen bis in die 
entferntesten Teile des Landes mit Elektrizität zu versorgen. Die 
Verwertung der Wasserkräfte zu Elektrizitätszwecken steht erst im 
Anfangsstadium der Entwicklung. Ferner nennen die polnischen Ost- 
gebiete reiche Torflager ihr eigen, die zur Gewinnung elektrischer 
Kraft verwendet werden könnten. Derzeit besitzt Polen 10 Kilowatt 
auf den Kopf der Bevölkerung. Die Elektrifizierung, eine der 
wichtigsten Aufgaben der Entwicklung Polens, ist heute Gegenstand 
eifriger Verhandlungen mit ausländischen Interessenten zwecks 
Kapitalbeteiligung. Immerhin sind all diese polnischen Bodenschätze 
eher potentielle Kräfte als aktuelle, da die Industrie Polens, die 
meistens auf seinen natürlichen Reichtümern aufgebaut ist, vorderhand 
im Stadium der Entwicklung sich befindet und ihr Wachstum von der 
intensiven Ausnutzung der ungeheuren Vermögenswerte, die der 
polnische Boden in sich birgt, abhängig ist. Eine viel größere aktuelle 
Bedeutung hat die polnische Landwirtschaft. 

Auf ein Gesamtgebiet Polens von 838 323 Quadratkilometer um- 
faßte das landwirtschaftlich bebaute Gebiet 48,6%, die Wiesen und 
Weiden 16,9%, die Wälder 24%, die Städte und ungenützten Flächen 
10,4%. Die südöstlichen Gebietsteile, die einen außerordentlich frucht- 
baren Boden besitzen, haben eine verhältnismäßig sehr niedrige, 
durchschnittliche Ernteergiebigkeit: nämlih 10—12 Zentner vom 
Hektar. Diese östlichen und südlichen Gebiete Polens mit der so ge- 


18 


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ringen Ernteergiebigkeit umfassen jedoch 53,1% der Gesamtfläche des 
Staates.“) Das Gesamtergebnis der polnishen Landwirtschaft ist 
daher auch mehr als bescheiden zu nennen. Betrug doch die durch- 
schnittliche Ernte an Weizen pro Hektar in Polen 1170 Kilogramm, 
in Deutschland hingegen 1800, in Dänemark aber gar 2900 Kilo- 

m, d. h. die Intensivität der dänishen Landwirtschaft war 60% 

öher als die der polnischen. 

Und weist doch die polnische Handelsbilanz gerade auf landwirt- 
schaftlichem Gebiete andauernd Defizite auf. So betrug dieses Defizit 
(in bezug auf die vier wichtigsten Getreidearten) im Wirtschaftsjahr 
1926/27 119 038 000 Zioty, im Wirtschaftsjahr 1927/28 145 589 000 
Zioty. Besonders im Verhältnis zu Deutschland zeitigen diese Ver- 
hältnisse recht bemerkenswerte Folgen. Betrug doch während der 
letzten drei Jahre der deutsche Export von Getreide und Mehl nach 
Polen rund 295 000 Tonnen, der polnische Export dieser Waren nach 
Deutschland hingegen nur 280000 Tonnen, ales um 15000 Tonnen 
weniger. Dem Werte nach ist der Überschuß des deutschen Getreide- 
exportes über dem polnischen noch erheblich größer. Die größte 
Bedeutung hat denn auch heutzutage nicht der Export von Getreide 
und Mehl, sondern der Export von Vieh, Fleisch, Geflügel. Der ganze 
polnische Viehvorrat betrug nach der polnischen statistischen Viertel- 
jahresschrift B.V. Heft 2 vom Jahre 1928 6 333 456 Stück, von denen 
rund 800 000 Stück ausgeführt wurden, ein übrigens auf diesem Ge- 
biete zweifellos ganz erheblicher Fortschritt, da vor dem deutsch- 
ng Zollkrieg der polnische Viehexport kaum 400 000 Stück 

en hatte.“) 

Die praktische Folge des deutsch- polnischen Zollkrieges ist auch 
nur der Nutzen dritter Staaten. Duobus litigantibus tertius gaudet. 
Die polnischen Schweine werden auch weiterhin nach Deutschland 
trotz Zollsperre exportiert, aber auf Umwegen, nämlich über Oster- 
reich und die Cechoslovakei, mit dem Ergebnis, daß der polnische 
Schweineziichter für seine Ware einen erheblich niedrigeren Preis er- 
halt, während der deutsche Importeur genötigt ist, die höheren Trans- 
5 und die Gebühren der österreichischen und decho- 
slovakischen Mittelsmänner zu bezahlen, also die polnischen Schweine 
zu erheblich höheren Preisen als vor dem Zollkriege einkauft. 

In der Zeit der Zerrüttung der Währung war die Landwirtschaft 
in einer schlechteren Lage als die Industrie: Der Produktionsprozeß 
in der Landwirtschaft dauert linger und die PE Be- 
völkerung, die weit von dem Mittelpunkte des Bank- und Börsen- 
lebens lebt, paßt sich schwerer und langsamer den Folgen der In- 
flation an. Bei der Hebung der Nominalpreise für ihre Erzeugnisse 
hat die Landwirtschaft schwerer und langsamer sich dem Goldpreis- 
niveau angepaßt. In der Zeit des Rückganges der Währung blieb der 
Goldindex der landwirtschaftlichen Preise hinter dem Index der 


21) „Czas“ (Krakau) vom 1. November 1928. 
27) „Czas“ v. 8. Okt. 1928. 


19 


Industriepreise erheblich zurück. In dieser Hinsicht trat eine grund- 
sätzliche Änderung nach der Stabilisierung der Währung ein. 

Die große Spannung der Schwankungen im polnischen Import 
äußerte sich besonders in der Inflationszeit auch in Polen in der 
größten Spannung zwischen dem landwirtschaftlichen und dem in- 
dustriellen Preisindex, also in der sog. Preisschere:“) diese begann sich 
zu schließen, und zwar zugunsten der Landwirtschaft. Die Schere 
schloß sich durch schnelleres Heben des inneren Armes, der den land- 
wirtschaftlichen Preisindex bedeutete. 

Die Struktur der polnischen Volkswirtschaft hat zur Folge, daß 
die Besserung der Absatzverhältnisse der Landwirtschaft, die den 
größten Teil der Bevölkerung umfaßt, auch den inneren Markt für 
Produkte von Industrie und Bergbau vergrößerte. Das stärkere 
Steigen der landwirtschaftlichen Preise in Gold sicherte der polnischen 
Landwirtschaft durch die Hebung ihrer Kaufkraft einen größeren 
Anteil am Volkseinkommen. 

Die durch die Stabilisierung der Währung erfolgte Besserung der 
Lage der Landwirtschaft hatte für das Ausland auch eine unmittel- 
bare Bedeutung, da es auch den Import mancher, gerade in der Land- 
wirtschaft benötigten Waren steigerte, so den Import von Kunst- 
dünger, der trotz einer gleichzeitigen starken Steigerung der eigenen 
Produktion von 348 000 T. in 1925 auf 488000 T. in 1927 gestiegen 
war, sowie den Import der landwirtschaftlichen Maschinen von 
4205 T. in 1926 auf 11701 T. in 1927.) 


Wohl ist dem Steigen des Verbrauches die Steigerung der Pro- 
duktion nicht in demselben Maße gefolgt. Wenn die Produktions- 
steigerung mit der Konsumsteigerung auch nur einigermaßen Schritt 
halten und dadurch das Gleichgewicht der Handelsbilanz wieder her- 
gestellt würde, so müßte diese Produktionssteigerung vor allem die 
Landwirtschaft und die landwirtschaftliche Produktion betreffen. 


Der Gedanke der wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit, der be- 
sonders nach dem Weltkriege in so vielen Staaten und Ländern 
Europas überaus volkstümlich geworden ist, hat auch Polen nicht ver- 
schont. Wie vor dem Kriege, so erklingen auch jetzt gar häufige 
Rufe nach Boykott fremder Ware. Nur vergißt man dabei in Polen, 
daß jede handelspolitische Maßregel, handelspolitische Gegenmaß- 
regeln auf der Gegenseite hervorzurufen pflegt. Dabei kann doch 
Polen als ein Kulturland auch nicht auf jede Auslandsware verzichten. 
Das was tatsächlich ausgeschlossen werden könnte, spielt handels- 
politisch so gut wie gar keine Rolle. So z. B. könnten wohl italieni- 
sche Orangen, die für etwa 6000000 Złoty in Polen importiert 
wurden, vom polnischen Markte ausgeschlossen werden. Wenn aber 
Polen sich tatsächlich zu einem derartigen Einfuhrverbote entschließen 
sollte, so würde seine Handelsbilanz sich wohl um 6 000000 Zloty 


22) F. Młynarski, Rola rolnictwa w bilansie handlowym. Warszawa 1928, 


24) F. Mlynarski, a. a. O., S. 7 und 8. 


20 


bessern, aber Italien würde wohl aufhören, polnische Kohle zu im- 
portieren, was einen handelspolitischen Verlust von 15 000 000 Zloty 
nach sich ziehen müßte. 


Die heutige Schicksalsverbundenheit Polens mit Westeuropa ist 
auch aus dem wesentlich gleichen Konjunkturverlaufe in Polen einer- 
seits, in Deutschland, Usterreich, der Tschechoslovakei andererseits zu 
ersehen.“) 


Ein wesentlich gleicher Konjunkturlauf wie in Polen ist insbe- 
sondere auch in Deutschland zu beobachten. In Polen wie in Deutsch- 
land bringt das Ende des Jahres eine gewisse Besserung der Lage, die 
am Anfang des Jahres 1925 ganz deutlich wird. Die Besserung ver- 
andert sich dann in Polen in der zweiten Hälfte des Jahres 1925 in 
eine heftige Krisis. 

Ebenso wie Deutschland hatte auch Polen nicht nur eine In- 
flation, sondern zwei. Der Unterschied war nur der, daf die zweite 
Inflation in Polen eine Geldinflation war, verursacht durch eine über- 
mäßige Emission von „Scheidenoten“ (currency notes), während 
sie in Deutschland den Charakter einer Kreditinflation besaß, verur- 
sacht durch den ungeheuren Zufluß der ausländischen, vor allem der 
amerikanischen Kredite. Ihr Einfluß auf die Industrie war in Polen 
wie in Deutschland gleich. Sie schaffte eine mehrmonatliche Inflations- 
konjunktur, welche infolge ihres durchaus künstlichen Charakters sich 
nicht lange erhalten konnte und die mit einer noch schärferen Krisis 
enden mußte. 


Die Inflationskonjunktur, durch die zweite Inflation verursacht, 
wurde im zweiten und dritten Viertel 1925 unterbrochen. Die Besse- 
rung beginnt in Deutschland Anfang 1926. Januar 1926 steigen die 
Aktienkurse und vom Februar geht die Zahl der Arbeitslosen zurück. 
Der Produktionsindex ist vom Mai dieses Jahres im Steigen begriffen. 
In demselben Jahre trat auch in Polen ein Umschwung der Lage zu- 
tage. Die ersten Äußerungen dieses Umschwunges traten im No- 
vember und Dezember 1925 zutage, im Februar 1926 war der Um- 
schwung fast Hess hie Der weitere Lauf der Jahre 1926 und 1927 
ist ebenso in Deutschland wie in Polen Zeit der Besserung und eines 
die Besserung begleitenden Auflebens. In der zweiten Hälfte 1927 
wurde der Höhepunkt der höchsten wirtschaftlichen Entwicklun 
schon überschritten, sowohl in Polen als auch in Deutschland. Sowo 
in Polen als auch in Deutschland beginnt seit November 1927 die 
Arbeitslosigkeit wieder zu steigen. Ähnlich war auch der Konjunktur- 
verlauf in Österreich und der Cechoslovakei. Die Konjunktur hat 
eben einen hervorragend internationalen Charakter und weist be- 
sonders in benachbarten und wirtschaftlich aufeinander angewiesenen 
Ländern wesentlich denselben Verlauf auf, ohne Rücksicht darauf, ob 
die in Betracht kommenden Völker sich lieben oder hassen. 


38) O. Lange, Konjunktura w życiu gospodarczem Polski 1923— 1927, 
(Przewroty walutowe i gospodarcze po wielkiej wojnie Kraków 1928), S. 417. 


2] 


Die enge weltwirtschaftliche Verflecht Polens hat zur Folge, 
daß für die weltwirtschaftliche Zukunft Polens seine Entwicklungs- 
tendenzen von ausschlaggebender Bedeutung sein dürften. Und da ist 
es von Belang, festzustellen, daß der polnische Export wohl weder 
einen ausgesprochen landwirtschaftlichen, noch einen ausgesprochen 
industriellen Charakter trägt, daß jedoch, inwieweit es sich um einen 
Industrieexport handelt, ein entschiedenes Übergewicht, die wenig ver- 
feinerten Artikel bilden, die für andere Industriezweige eigentlich 
den Rohstoff abgeben“) und nur einen ganz unbedeutenden Bestand- 
teil, die Fertigfabrikate, bilden, daß ferner auch der auf Pflanzen- 
zucht beruhende landwirtschaftliche Export nur etwa 10% des Ge- 
samtexportes ausmacht, daß hingegen im ständigen und stetigen 
Steigen der Export der Erzeugnisse der polnischen Viehzucht begriffen 
ist. Im Jahre 1926 betrug er nur 16,9% des Geamtexportes, 1927 
2,8%, 1928 hingegen schon 23,5%, wobei hier vor allem das lebende 
Vieh und die Molkereiprodukte in Betracht kommen, hier wiederum 
vor allem aber der Schweineexport. 

So faßte denn auch m. E. mit Recht die allgemeinen Entwicke- 
lungstendenzen des polnischen Exportes das polnische Institut für 
Konjunkturforschung dahin zusammen, daß vor allem der Export der 
Erzeugnisse der Viehzucht gestiegen ist, während der Export der 
landwirtschaftlichen Erzeugnisse je nach dem Ergebnisse der Ernte 
schwankte, der Export der Erzeugnisse der sog. Agrarindustrie hin- 
gegen im Rückgange begriffen war.“) Großen Schwankungen unter- 
ag auch der Export von Holz und Kohle. 

Die strukturellen Daseinsbedingungen der polnischen Volkswirt- 
schaft haben auch zur Folge, daß eine tiefere volks- und weltwirt- 
schaftliche, daß die sog. westliche Orientierung Polens trotz erheb- 
licher politischer Widerstände im Wachsen begriffen ist. Der natür- 
liche Absatzmarkt für Polens Rohstoffe, besonders für Produkte 
seiner Landwirtschaft und seiner Viehzucht ist Deutschland. Daher 
das große Bedürfnis an geregelten Handelsbeziehungen, an einem 
regelrechten Handelsvertrag mit Deutschland. Freilich verhehlt man 
sich in Polen keineswegs, daß, falls es zu diesem lange erwartetem und 
in beiderseitigem Interesse herbeigewiinschten Handelsvertrage 
kommen wird, der hervorragend agrarische Charakter Polens, der 
schon jetzt 80% der Gesamtbevölkerung umfaßt, sich noch vertiefen 
dürfte. Nun glaube ich aber keineswegs, daß der vorwiegend land- 
wirtschaftliche Charakter eines Landes mit seiner kulturell und 
materiell niedrigen Entwicklungsstufe identisch sei, nachdem zahl- 
reiche Beispiele (Dänemark) das Gegenteil beweisen. Auch dürfte 
diese geopolitisch natürlichste internationale Arbeitsteilung wirt- 
schaftspolitisch sich am meisten reibungslos entwickeln. Immerhin 
darf man sich nicht verhehlen, daß ein großer Teil des polnischen 
Volkes zum Teile von gänzlich anderen wirtschaftspolitischen Idealen 


20) Konjunktura gospodarcza II, S. 58. 
27) Konjunktura gospodarcza II, S. 54. 


22 


beseelt ist. Das lang dauernde Streben nach Wiederherstellung der 
staatlichen Unabhängigkeit hat naturgemäß auch wirtschaftspolitische 
Selbstgeniigsamkeitsideale erzeugt. Dabei kamen besonders in 
Kongreßpolen noch äußerst lebendige Erinnerungen an eine erst vor 
kurzem dahingeschwundene Vergangenheit. War doch Kongreß- 

len zur Zeit seiner Zugehörigkeit zu Rußland nicht sein Hinter- 

d, sondern eher sein Vorderland gewesen. Es veredelte die 
russischen Rohstoffe, aber lieferte sie nicht. Vielmehr erstreckte sich 
der Export der polnischen Industrie nicht nur auf das europäische 
Rußland, sondern auch auf das asiatische und dehnte sich sogar bis 
auf den fernen Osten aus. 


Das hat zahlreiche große private Reichtümer großgezogen, die 
vielfach auch das politische Denken vieler Polen beeinflußte und die 
Reminiszenz an diese Zeiten spielt auch noch heutzutage in Polen eine 
große Rolle. Man weist in ce Zusammenhange darauf hin, daß 
die östliche Orientierung zum mindest in wirtschaftspolitischer Be- 
ziehung eine stärkere Industrialisierung Polens ermöglichen dürfte und 
dadurch das ökonomische Gleichgewicht von Industrie und Land- 
wirtschaft, damit aber auch einen höheren Grad der wirtschaftlichen 
Autarkie, sicherstellen würde. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, 
daß Rußland ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Zur- 
zeit sind jedoch diese Möglichkeiten recht begrenzt. Das ganze 
kommunistische System, besonders aber die grundlegende Außerung 
desselben, das russische Außenhandelsmonopol ist nicht darauf ge- 
richtet, die Bedürfnisse der russischen Volksmassen zu steigern, 
sondern die Deckung dieser Bedürfnisse planwirtschaftlich sicher zu 
stellen.“) Der heutzutage recht wenig aufnahmefähige russische Ab- 
satzmarkt dürfte sich deshalb nur langsam vertiefen. Das kann nicht 
ohne tiefgehende Rückwirkungen auf die polnische Wirtschaftspolitik 
bleiben, die jedoch zurzeit geradezu gezwungen ist, sich hauptsäch- 
lich nach dem Westen zu orientieren, um ihre Zahlungsbilanz auch 
nur einigermaßen aktiv zu gestalten, aber selbstredend kann Polen 
auch seine wirtschaftspolitischen Ausdehnungsmöglichkeiten auch 
nach dem Osten, wenn auch vielleicht im weiteren Stadium der 
russischen Wirtschaftsentwicklung, nicht aus den Augen verlieren und 
ist genötigt, die Ausbeutung derartiger Möglichkeiten auch handels- 
vertragsrechtlich mit anderen Staaten, insbesondere auch mit Deutsch- 
land, sich vorzubehalten und sie sicher zu stellen. 

Insbesondere gilt dies mit Rücksicht auf die Lage Polens als eines 
Durchgangsgebictes, welche es geradezu prädiziniert, Mittler zwischen 
Völkern, insbesondere Mittler zwischen Westen und Osten zu werden. 
Polen verfügt über den besten Zugang zu Lande, nach dem immer- 
hin auch jetzt großen, wenn auch wie gesagt erheblich geschwächten 
russischen Markte, was um so mehr in die Wagschäle fällt, da der 
Seeweg durch die Ostsee aus klimatischen Rücksichten einen großen 


38) Vergleiche darüber S. Gargas, Le monopole du commerce exterieur en 
Russie Soviötique (Journal des economistes 1929), S. 187—144. 


23 


Teil des Jahres nur schwer zugänglich ist, der Seeweg über das 
Schwarze Meer wiederum verhältnismäßig sehr lange, mithin auch 
nicht immer rentabel ist.“) Polen hat mithin in einem gewissen 
Grade im Verhältnisse zu Rußland ein Verkehrsmonopol, welches 
ihm große weltwirtschaftliche Vorteile bietet, da es die Nachbarn im 
Westen geradezu zwingt, mit Polen zu unterhandeln, wenn der 
russische Markt nicht verloren gehen soll. Diese Lage legt jedoch 
Polen auch erhebliche Pflichten auf, besonders auf dem Gebiete des 
Verkehrswesens (der Eisenbahnen und der Wege), das in recht argem 
Zustande von Polen übernommen und dessen Vervollkommnung und 
Ausbreitung ein gebieterisches Erfordernis ist, wenn Polen seinen 
weltwirtschaftlichen Aufgaben gerecht werden soll. Nur dann näm- 
lich wird es in der Lage sein, wirklich ein Mittler zwischen Westen 
und Osten zu werden und zu bleiben. 


39) „Czas“ v. 17. Juni 1929. 


24 


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DIE REISE KATHARINAS Il. NACH SUDRUSSLAND 
IM JAHRE 1787 


Von 
Theresia Adamczyk. 


Es könnte eine Aufgabe sein, den einzigartigen und berühmten 
Zug der großen Katharına in das alte Taurien als rein kultur- 
historisch fesselndes Ereignis zu betrachten, im Schauspiel der 
Reise das Bild des an seinem Ende stehenden Jahrhunderts mit allem 
Licht und Schatten wie ein Gleichnis zu sehen. Aber ehe man so, 
das Ganze überschauend, deuten könnte, scheint es notwendig, die 
Einzelzüge klar zu erkennen. Gerade das Hauptmotiv, den poli- 
tischen Grundzug, hat man bisher überschen. Es wird das Thema 
dieser Arbeit sein. 

Der Plan der Reise reicht weit zurück. Schon 1780, bei der Zu- 
sammenkunft von Mohilev, hatte Joseph II. seiner Verbündeten ein 
neues Zusammentreffen in Cherson versprochen. Am 1. Juli 1787 
schreibt Katharina an Zimmermann, sie wundere sich, daß so viele 
Gerüchte über ihre Reise umgingen, sie habe sie sich schon seit drei 
Jahren vorgenommen, damals, um einen Anfall von Hypochondrie 
zu heilen, der allerdings jetzt vorüber sei. Das wäre dann im Jahre 
1784 gewesen. In diesem Jahre beginnen auch die offiziellen Vor- 
bereitungen. Befehle der Kaiserin, Potemkins, des Senats ergehen an 
die Gouvernements und Städte. Potemkin ist in fieberhafter Tatig- 
keit.) Am Ende des Jahres 1785 erhält Ligne eine Aufforderung 
Katharı an ihrer Reise nach Taurien teilzunehmen, die 1786 
wiederholt wird, mit detailliertem Programm. In diesem Jahre werden 
auch die Gesandten, Cobenzl*) und Ségur, ) offiziell zu der Reise ein- 
geladen. Joseph II. erwähnt in einem Brief an Kaunitz (9. August 
1786)*), daß er eine Aufforderung, nach Cherson zu kommen, täg- 
lich erwarte, daß er aber wenig Neigung habe, ihr nachzukommen. 


1) Vgl. Sborn. 27 u. a. S. 840f. 

2) Font. 54, 75. Cob. an Jos. 1. Nov. 1786. 
8) Ség. Mém. I, 422. 

) Arneth, S. 277 f. Anm. 


Als sie dann wirklich erfolgte (16. August a. St.), geschah das in einer 
merkwiirdigen Form, als Postskriptum, ganz nebenbei, was Joseph so 
in Zorn brachte, daß er in einem Brief an Kaunitz*) für seine hohe 
Verbündete das bekannte Wort prägte: „La Princesse de Zerbst 
Catherinisee.“ Kaunitz wußte ihn zu Ce und Katharina 
erhielt, ebenfalls in der Form eines Postskriptums, eine Zusage. Noch 
aber war es nicht bestimmt, daß der Kaiser von Cherson aus Katha- 
rina in die Krim begleitete. 

In Rußland aber und dem übrigen Europa begannen schon die 
wildesten Gerüchte über die Reise umzugehen, und in Kiev, dem 
eigentlichen Ausgangspunkt der Fahrt, sammelten sich Abgesandte 
aus Europa und Asien, um die Beherrscherin des Nordens im Triumph 
zu sehen; denn das Ansehen einer Triumphfahrt erhielt die 
Reise durch die ungewöhnlichen Vorbereitungen, deren Einzelheiten 
man ausführlich in den Arbeiten Alexander Brückners®*) findet. 


Wozu aber begab sich Katharina mit ihrem ganzen Hofstaat, 
mit den Gesandten der europäischen Mächte auf die Reise? 


Offiziell bekanntgegeben war eine Inspektionsreise der 
Kaiserin in die neuerworbenen Provinzen. Befremdend jedoch wirkt 
der außergewöhnliche Aufwand, der in ihrem Verlauf sichtbar 
wird, „la marche triomphale“,*) „notre impériale caravane“) — die 
in die Augen fallende Inszenierung. 


Eher paßt hierzu die Bezeichnung der Fahrt durch Brückner als 
eine „Lustreise“, eine „partie de plaisir“) der Kaiserin; einige 
schnitte der Fahrt wirken durchaus so. 

Es ist aber unmöglich, den dominierenden politischen Ton, der 
bald lauter, bald verdeckter mitklingt, zu überhören. Brückner be- 
gnügt sich in dieser Beziehung mit unbestimmten, widerspruchsvollen 
Hinweisen. In seiner letzten speziellen Arbeit über die Reise”) ist von 
einer politischen Bedeutung des Unternehmens nirgends die Rede, nur 
gelegentlich heißt es etwa (S. 486): IIyremecrgxe .... ge MOTXO He HMETb 
BAXHOTO IIOXHTHYECKAO anaden . . . während er in seinem früheren 
Werk über Katharina doch immerhin sagt (S. 356): „. . Und in 
der Zeit einer solchen Spannung und Erregung erschien Katharina 
an den Grenzen ihres Reiches, in Cherson und Sevastopol, umge 
von ihren Gesandten, und Ministern, in Gesellschaft Joseph II., von 
welchem man wußte, daß er zu einer Teilung der Türkei die Hand 


zu bieten bereit war; in solcher Zeit revidierte man angesichts der 


Welt die Streitkräfte, über welche Rußland verfügte. Kein Wunder, 
daß die partie de plaisir der Kaiserin die Bedeutung einer schwer- 
wiegenden politischen Aktion gewann.“ 


8) Ibid. 

6a) Vgl. noch Esipov: Kievsk. Star. XXXI, 175 ff. 

2) Ség. Mém. I, 422 f. 

7) Ibid. 

8) Kath. II. S. 356. 

®) Putesestvie Ekateriny II v Krym. Istor. Vestnik. XXI. 1885. 


26 


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— . ———‚(vͥ — — . —— . — ST — .— —— — — — — 


Aber auch hier ist anscheinend zu verstehen: eine politische 
Aktion in den Augen der Zeitgenossen und nicht in der Uberzeugung 
Brückners, andernfalls hätte seine spätere Arbeit diesen neuen Ge- 
sichtspunkt hervorheben müssen.“) 

Die politische Lage des Zeitpunktes der Reise allein läßt nach- 
denken. Seit der Erwerbung der Krim durch Rußland war das Ver- 
haltnis zur Pforte immer gespannter geworden. In der Türkei 
rüstete man ganz offen, unter den Augen Europas, während Katha- 
rina hinter der Maske der friedliebenden Herrscherin das „große 
Projekt“ mit Zähigkeit im Auge behielt. 

Die Annexion der Krim war ein Anfang gewesen. Die Reise liegt 
in derselben politischen Linie. Schon vor 1783 war sie geplant,“) als 
eine „Reise nach Cherson“, gerade nach Cherson, der Basis für jede 
kriegerische Operation gegen die Pforte. Damals wurde ihr ein poli- 
tischer Zweck nicht abgesprochen. Bezborodko und Potemkin gaben 
ihm die Formulierung „Konsolidierung der Freundschaft der Alli- 
ierten“, ) denn eine Zusammenkunft mit Joseph II. war von vorn- 
herein vorgesehen. Durch immer wieder auftretende Seuchen in 
Cherson wurde die Fahrt stets weiter hinausgeschoben. 

Als sie dann aber 1787 wirklich stattfand, hatte sich die Spannung 
zwischen Rußland und der Pforte durch den vom Pascha von Achal- 
zich unterstützten Einfall der Lesghier in Georgien so verschärft, 

die geringste kriegerische Bewegung von einer Seite heraus- 
fordernd wirken mußte. Und gerade da, als die diplomatischen Ver- 
handlungen auf des Messers Schneide standen und die Pforte nach- 
drücklicher ihre Rüstungen betrieb, “) begab sich Katharina mit auf- 
falligem Prunk in den Süden ihres Reiches, vereinigte sich mit ihrem 
Alliierten und hielt eine imponierende Heerschau über ihre zu- 
sammengezogenen und verstärkten Truppen ab.“) 


Das politisch-kriegericha Moment ist nicht zu verkennen. 
Katharinas Ville zum Krieg, zu weiterer Eroberung, wenn auch 
nur des Cherson einengenden und beschränkenden Landzipfels 
mit Otakov,"*) wurde von ihr anfangs sehr wohl verborgen. Vor 
allem wollte sie nicht die Angreifende sein und eine unantastbare 
Fassade bewahren, um immer einlenken zu können; deshalb die sich 


se) Esipov (s. u. Literatur verzeichnis), der, soweit ich sehe, letzte Betrachter 
der Taurischen Reise, verzichtet überhaupt darauf, die breite Masse der von ihm 
zusammengetragenen Einzelheiten zu wägen. Seine Stoffsammlung kann zur Aus- 
füllung des Rahmens dienlich sein. In der vorliegenden Arbeit sollte das Be- 
deutungs volle herausgehoben werden. 

10) Fontes 58, 89. Cob. an Jos. 2. Aug. 1780. 

11) Ibid. u. Fontes 53, 484. Cob. an Jos. 3. Nov. 1784. 

13) Nach Zinkeisen, Gesch. d. osmanischen Reiches VI, 614 war die ganze 
Türkei von religiösem Fanatismus und der Stimmung zum „heiligen Krieg“ gegen 
Rußland erfaßt. 

13) Vgl. Fontes 54, 57. 

18) Pot. zu Ség. Mém. II, 26: „ .. mais au moins devriez-vous consentir 
à laisser resserrer les Turcs dans des frontières plus naturelles, plus convenables, 
pour évitert des guerres dont on est à chaque instant menacé.“ 


27 


stets wiederholenden Versicherungen des Vertreters ihrer offiziellen 
Politik, Bezborodkos, und im Anfang auch Potemkins, Rußland 
würde nur zum Krieg schreiten, wenn seine Ehre beleidigt und an- 
gegriffen sei.“) 

Eben das ist auch die Ursache der Haltung Bulgakovs ın Kon- 
stantinopel, der bis zum letzten Augenblick die friedlichen Absichten 
Rußlands versichert, weil er nicht unterrichtet war; beständig fehlten 
ihm in Momenten der Entscheidung feste Instruktionen.?*) Diese seine 
zweideutige Haltung bot der Türkei eine Gelegenheit mehr, die 
russische Ehre anzugreifen. Katharina machte ihre Politik hinter 
diesen Kulissen. Ségur, der notgedrungen als Vertreter Frankreichs, 
gerade diese Symptome beobachtet, erkennt diese Stellung Katha- 
rinas deutlich, wenn er nach den Chersoner Verhandlungen, die die 
Forderungen Rußlands an die Pforte im Grunde überhaupt nicht 
eingeschränkt hatten, zu Joseph II. sagt:“) „... tout dépend de la 
manière dont en. elle-même considère ces propositions, et 
du ton avec lequel elles seront présentées; peut-étre ne les regarde-t- 
elle que comme de bons matériaux préparés pour un manifeste. 
Tout est prét; et dés qu’elle le voudra; sous prétexte que les Turcs 
tardent A la satisfaire sur les griefs dont elle se plaint, une partie 
de ses troupes peut attaquer Oczakov et Akerman... .“ 

Katharina wollte den Krieg, denn sie wollte Eroberung, das 
heißt: Ruhm. 

Im Verlauf der Reise tritt diese Absicht immer klarer hervor; 
an vielen gelegentlichen, oft nur scheinbar scherzhaften Bemerkungen 
der Kaiserin und ihrer Begleiter, die sich des Zweckes der Fahrt sehr 
bewußt waren, läßt sich dieser Vorsatz wohl deutlich beweisen. 

Aber er trat dabei in einer Form auf, die auch die öster- 
reichischen Politiker, denen das „große Projekt“ vertraut war, über- 
raschte. Katharina, wie auch ihre Mitarbeiter, brachten unzweifelhaft 
ihren Willen zum Ausdruck, auch ohne tätige Unterstützung Oster- 
reichs das Unternehmen gegen die Türkei zu wagen. Rußland fühlte 
sich allein stark genug, es wünschte von seinem Verbündeten nur 
diplomatische Hilfe. 


18) Font. 54, 152, Cob. an Kaunitz 8. Juni 1787: „ . . et lui (Bezborodko) de 
son coté m’assüre toujours que l’Impératrice ne desire nullement la guerre: 
ce ne s’y prêtera que dans le cas où sa dignité blessée ne lui permettroit pas 
autre parti. Vgl. auch S. 154. — Pot. zu Ség. Mém, I, 881: „ .. je suis prêt 
à vous signer, si vous le voulez que nous n’attaquerons pas les Turcs; mais 
songez-y bien, s’ils nous attaqueront, nous pousserons la guerre et nos armes 
aussi loin que possible.“ — Ség. Mém. II, 26. Ség: J’entends ... . vous voulez 
Oczakov et Akerman ... c'est à peu près demander Constantinople; c'est 
declarer la guerre pour prouver le désir de conserver la paix.“ — Pot.: „. .. Non 
. Mais, si ON nous attaque nous prendrons les indemnités qui nous conviendront. 
Il serait cependant possible, si vous le voulez, et sans combattre, de rendre 
indépendants les princes de Moldavie et de Valachie ...“ — Ség.: „Sans 
combattre! Vous ne le croyez pas.“ 
16) Vgl. Zinkeisen VI, 614 ff. Sbornik 26, 187. Bezborodko an Voroncov, 
Aug. 1787. 
17) Ség. Mém. II, 81. 


28 


Schon einige wenige herausgegriffene Aussprüche geben eindeutig 
darüber Auskunft. Katharina schreibt 1783 an Potemkin: ,,...Ich bin 
fest entschlossen, auf niemanden zu rechnen und meiner eigenen Kraft 
zu vertrauen. Ist der Kuchen erst gebacken, wird jeder Eßlust ver- 
spüren. Ich rechne aber so wenig auf meine Alliierten, als ich den 
Donner, oder richtiger, das Wetterleuchten der Franzosen fürchte.“ 
Oder man höre die Kiever Tagebuchstelle Chrapovickijs:“) „. ee 
(Pforte) no ¥ymoMy COBBTY BOOpVXaO Tb, HO MH MORCMD CAMH HAYATD: 
1—e Axammuickoe Abo: 2—e CMbHa rocnokxaps, Kb HAM YKIOHHB- 
marocs, koero He BHIAaXNM'b....” 


Im Verlauf der Fahrt wird die Sprache immer offener. Ein Brief 
Cobenzls an Kaunitz aus Sevastopol’*) z. B. bringt eine An- 
zahl von 5 in denen man sich von russischer Seite ganz 
offen ausspricht. Einige Auszüge aus diesem Brief lauten: (Katharina 
zu Joseph II.) „. . que la France bien loin de pouvoir penser 4 une 
guerre, n' avoit pas de quoi payer le courrant de ses dépenses en 
temps de paix, que par conséquent le moment paroissoit favorable 
et qu'il falloit en profiter. Au reste ajouta !’Impératrice contre les 
Turcs je me vois assez forte, il suffit que Vous ne m’ empéchiez pas. 

(Potemkin zu Ligne): ,,...dites 4 Sa Majesté Empereur, si vous 
en avez loccasion, que nous ne Lui demandons autre chose contre 
les Turcs que de nous laisser faire et tout au plus de faire quelque 
démonstration entre temps en notre faveur... 

(Potemkin zu Joseph II.): „. (la France) feroit d’abord beaucoup 
de bruit, qu'elle iroit jusqu’ aux démonstrations de toute espace, mais 
qu'elle finiroit par prendre elle même un part du gfiteau.“*) 


In einem anderen Brief an Kaunitz”) äußert sich Cobenzl: 
„ . Mais la possibilité que |’Impératrice nous a avouée d’entrer en 

„ même sans nous, en nous laissant après le choix d’être ou 
spectateurs ou acteurs, mérite la plus sérieuse attention. II seroit 
très fâcheux que la Russie s’emparat d’Oczakow et de son territoire, 
sans que nous de notre côté ne fissions aucune acquisition... 


Dieser Plan gibt auch der kurzen, verletzenden Einladung Katha- 
rinas an Joseph II. erst einen Sinn. Sie glaubte, ihn nicht nötig zu 
haben, und sıe wollte ihm dies zeigen. Joseph II. verstand sie erst, 
als er persönlich mit ihr zusammentraf und ihre eigene Sprache hörte. 
Schon ın Cherson, wo zunächst nur oberflächlich die Rede von Politik 
war, sah er klar, er schrieb an Kaunitz:“) „...L’Imp£ratrice meurt 
d'envie de recommencer avec les Turcs; elle n’écoute sur ce chapitre 
aucun raisonnement, car son amour-propre et son bonheur l’aveug- 


18) Chrap. S. 17 f. 7. April 1787. 
10) Font. 54, 151 ff. 8. Juni 1787. 
20) ib. 

21) ib. S. 152. 

22) ib. S. 158. 

33) Font. 54, 164 ff. 18. Juni 1787. 
24) Arneth S. 292 Anm. 


29 


lent au point qu’elle se croit seule suffisante d’exécuter tout ce qu’elle 
veut, sans que jy coopére, et c'est par là qu'elle s’imagine de faire 
évanouir toutes les difficultés que je lui ai fait sentir relativement 
au Roi de Prusse, et 4 la France.“ Und nicht erst berauscht durch 
ihre kriegerische Machtentfaltung hat Katharina ihren selbständigen 
Plan gefaßt. Er war seit langem gereift, ihre Machtmittel, die ihr 
der von Potemkin arrangierte Triumphzug zeigte, waren ihr eine er- 
wartete Bestätigung. 

Jee? II. war widerwillig zur Zusammenkunft gekommen, im 
Glauben, Katharina wolle ihn enger verpflichten; das Bündnis aber 
aufzugeben, wovon damals in Politikerkreisen das Gerücht ging, lag 
ihm fern. Sein Wort, das der damalige preußische Gesandte in Kon- 
stantinopel, Diez, als Beweis dafür anführte:“) „Mit seinen Freunden 
muß man nun einmal den Becher bis auf den Grund leeren“, läßt 
sich eher entgegengesetzt deuten. Die Ereignisse der Reise, wie man 
sehen wird, kräftigten jedenfalls die Beziehungen der beiden Herrscher. 
Aus dem Brief, den Joseph nach der Entscheidung in Konstantinopel, 
am 30. August 1787”) an Katharina schrieb, wird man keine Be- 
denken von seiner Seite mehr herauslesen können. Es heißt da unter 
anderem: „. . . Je sens la juste indignation que cela doit donner 
V. M. I., et je la partage bien sincérement avec Elle. Que ne sommes- 
nous dans ce moment à Sevastopol? On ne pourrait s’empécher 
d'aller par un bon vent souhaiter à grands coups de canon le bon 
jour au Grand-Seigneur et à ses insolents conseillers. — Pour moi, fidèlé 
aux engagements, qui me lient comme allié 4 V. M. I., et encore plus 
par le tendre attachement et la sincére amitié que je Lui ai voués 
pour la vie, je suig prét 4 Lui prouver par tous les moyens possibles, 
combien Sa cause est la mienne... D 

Die einzelnen Ereignisse der Fahrt werden die Plane Katharinas 
am besten erhellen. — 

Den Verlauf der Reise kann man vielleicht, ähnlich wie ein 
Schauspiel, durch eine Kurve darstellen, die kurz ansteigt, dann 
einen Ruhepunkt, ein retardierendes Moment, bildet, um in zwei An- 
läufen zu einem Höhepunkt hinanzusteigen und schnell wieder ab- 
zufallen. Daraus ergeben sich die durch die Hauptetappen gegliederten 
Abschnitte der Reise. 

Das Vorspiel, oder was ich so nennen möchte, reicht von der 
Abreise von Carskoe-Selo, am 18. Januar (n. St.), bis zur Ankunft 
in Kiev (9. Februar); den Aufenthalt in Kiev, bis zum 3. Mai, be- 
trachte ich als das retardierende Moment. Von hier bis zur Abfahrt 
aus Cherson am 28. Mai ergibt sich der erste Hauptteil der Reise. 
Den Übergang zum zweiten großen Teil bildet ein kurzes Zwischen- 
spiel in der Steppe zwischen Cherson und Perekop, am 29. und 
30. Mai. Der zweite Teil umfaßt die Reise von der Ankunft in Bach- 
Cisaraj, am 31. Mai, bis zur Durchfahrt durch Perekop, am 11. Juni. 


36) Zinkeisen VI, 621 Anm. Diez, Depesche v. 10. Juli 1787. 
26) Arneth S. 299. 


30 


Von da ab bildet die Riickreise tiber Poltava, Chafkov und Tula 
nach Moskau (8. Juli) und später Carskoe-Selo (22. Juli) das Nachspiel. 


Die Hauptetappen des ersten großen Teiles, also von Kiev 
bis Cherson (3. Mai bis 28. Mai) sind Kanev (6. und 7. Mai), Kremen- 
tug (11. bis 14. Mai), Ekaterinoslav (20. Mai), Cherson (23. bis 
28. Mai); die des zweiten — Bachlisaraj (31. Mai bis 1. Juni), Inker- 
man—Sevastopol’ (2. bis 3. Juni), wieder Bachtisaraj (4. bis 5. Juni), 
Simferopol’—Karasubazar (6. Juni), Staryj-Krym—Karasubazar (7. 
bis 10. Juni). 

Der erste Teil der Fahrt wirkt, von hier gesehen, nur wie eine, 
wenn auch prächtige, Ouverture zu dem Triumphzug der eigentlichen 
Reise. Die Kaiserin hatte am 1. Januar wie gewöhnlich ihren Neu- 
jahrsempfang abgehalten und verabschiedete sich abends mit einem 
großen Ball offiziell von Petersburg. Am folgenden Tag reiste sie, 
nach Anhören der Messe in der Kazaner Kirche nach Carskoe-Selo, 
wohin ihr am 6. die drei Gesandten, Cobenzl, Ségur und Fitzherbert, 
folgten und den Abend mit ihr verbrachten. Die Kaiserin war sehr 
schweigsam und schien verstimmt. Ségur bemerkt, die Reise habe wie 
ein dunkles Ereignis auf allen gelastet. Katharina aber war wohl 
mehr mit Familiensorgen beschäftigt. Sie hatte nämlich beabsichtigt, 
die Großfürsten Alexander und Konstantin mit auf die Reise zu 
nehmen. Kurz vorher aber waren beide erkrankt, und Konstantin, 
an dem ihr gerade in diesem Fall am meisten lag, ihres „großen 
Projekts wegen, war noch nicht wieder hergestellt, zur großen 
Freude seiner Mutter, der Großfürstin, mit der Katharina schon 
vorher deswegen einen unangenehmen Briefwechsel gehabt hatte. 
Außerdem war die Kaiserin über die Affaire des Bruders der Groß- 
fürstin, des Prinzen von Württemberg, erregt, den sie eben aus Ruß- 
land verwiesen hatte. Chrapovickij 535 darüber am 4. Januar 
(a. St.). Zu allem kam noch eine leichte Erkrankung Mamonovs; 
Katharina begann die große Fahrt mit nicht gerade heiteren Ge- 
fühlen.“ 

Auch über den drei Gesandten lag eine gedrückte, wie von 
künftigen Gewittern und Unheilen, wie Ségur sagt,“) erfüllte Stim- 
mung. Der später Schreibende glaubt das als Vorahnungen großer, 
künftiger Umwälzungen deuten zu müssen. Aber er selbst war von 
politischen Augenblickssorgen erfüllt: die Beziehungen Rußlands zu 
Frankreich schienen durch die Drohung der Reise gegen die Türkei 

efahrdet; dazu kam die innere Finanzkrise Frankreichs. Gering- 
kigi ere Dinge rein privater Art verdüsterten die Stimmung 
Fitzherberts. Cobenzl aber, geborener Höfling, war eigentlich 
stets von einer unverwüstlichen Heiterkeit, niemals von Stimmungen 
sichtbar beeinflußt. Unter den drei Diplomaten dominierte er nicht 
nur als Vertreter der alliierten Macht; der Schüler Kaunitz’ wußte 
sich am russishen Hof seiner Fähigkeiten und Mittel zu bedienen. 


27) Font. 54, 96 ff. Cob. an Jos. 18. Jan. 1787. 
28) Ség. 1, 428. 


1 RE 6 31 


Er besaß in hohem Grade jenes „talent de séduire“, das Friedrich der 
Große in seinem politischen Testament für einen Diplomaten am 
russischen Hof wünschte. Er vernachlässigte niemanden, er gewinnt 
Bezborodko genau wie das Hoffräulein Protasova. „La cour semblait 
son élément“, sagt Ségur von ihm, vielleicht mit einem leisen Be- 
dauern über seinen eigenen Mangel hierin. Denn dieser französische 
Diplomat, dessen Freunde Nassau und Ligne waren, der mit Lauzun 
und de Broglie in Amerika gekämpft hatte, der die Gesellschaft von 
Schriftstellern und Künstlern suchte, besaß eine gewisse Schwerblütig- 
keit, die ihn gelegentlich bedrückte. Trotzdem hatte er bei Katharina 
roßen Erfolg, sie schätzte seine Kenntnisse, seine Lebensart, sein 
iterarisches Talent, seinen Geist und nahm ihn in den Kreis der 
Habitués ihrer Tafelrunde der Eremitage auf. Auch auf dieser Reise, 
die für Ségur als Vertreter Frankreichs sehr unangenchme und 
schwierige Lagen brachte, wußte er sich in der Gunst der Kaiserin 
zu behaupten. Cobenzl schreibt an Joseph:“) ,,L’Impératrice traite 
à merveille le Comte de Ségur, qui a fait tout ce qu'il falloit pour 
réussir complétement ici, et que le Prince Potemkin aime comme son 
enfant. Neben diesen beiden sehr verschiedenen Menschen, die 
beide erfolgreiche Politiker waren, tritt Lord Fitzherbert etwas zu- 
rück. Er hatte politisch überhaupt keine Erfolge aufzuweisen, wie 
ja England in der Politik Katharinas in diesem Zeitpunkt ziemlich 
in den Hintergrund geschoben ist. Aber auch er fügte sich dem 
glänzenden Kreis der Persönlichkeiten um Katharina ein; seine 
Melancholie und seine ständige gelangweilte Miene, unter der sich 
„un esprit fin et orné““ ) verbarg, sah Katharina mit Vergnügen in 
der wechselnden Reihe ihrer Tafelrunde. | 


Die drei Gesandten schlossen sich in Carskoe-Selo einem Hofstaat 
an, oa) dem allerdings noch die interessantesten und wichtigsten Per- 
sönlichkeiten fehlten. Da waren Mamonov, ,„lenfant gâté“, wie 
Joseph II. ihn nannte,“) der sich außerordentlich gut an die Gesell- 
schaft um die Kaiserin anpaßte, sich mit Ligne und den Gesandten 
anfreundete, so daß Cobenzl an Joseph schrieb:“) „. .. ayant reçu une 
bonne éducation, et doué d’ailleurs d’assez esprit naturel 4 une con- 
versation beaucoup au dessus du celle de ses prédécesseurs, et qu’ on 
peut plus aisément causer avec lui... II a des talens, dessine fort 
joliment...“ Mit Potemkin verband ihn eine gemeinsame Liebe zur 
Musik. Ihm reihten sich die übrigen Höflinge an: Andrej Suvalov, 
der Mazen, der Oberkammerherr Ivan Suvalov, der sich eben durch 
Tadeln der Petersburger Normalschulen unbeliebt gemacht hatte, der 
Graf von Anhalt, der als Generaladjutant die Kaiserin begleitete und 


2) Font. 54, 130. 25. April 1787. 

30) Ség. I, 

30a) Eine Liste der Mitreisenden bei Esipov: Kievsk. Star. XXXI (1890) 891 f. 
und XXXIII (1891) 72 f. 

$1) Ség. II, 86. 

32) Font. 54, 188 f. 25. April 1787. 

33) Ligne, Lettres. S. 28. 


32 


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von ihr sehr ausgezeichnet wurde, der Hofmarschall Barjatinskij, der 
immer Beschäftigte, der Oberstallmeister Naryskin, „le meilleur des 
hommes et le plus enfant“,**) der „buffon de la cour“, mit dem 
Katharina gern zu ihrer Erheiterung Politik treibt, denn, sagt sie: 
„C'est un grand plaisir que de lui donner à arranger I Europe“.“ 

So setzte sich denn am 18. Januar der riesige Zug der kaiser- 
lihen Karawane in Bewegung. Er bestand aus vierzehn Reisewagen, 
die auf Kufen gesetzt waren, hundertundvierundzwanzig Schlitten 
und vierzig Ersatzschlitten. Auf jeder Station standen fiinfhundert- 
undsechzig Pferde zum Auswechseln bereit. Es war die kälteste Zeit 
des Jahres und der Winter war ungewöhnlich hart. Der pomphafte 
Zug von Schlitten, von denen jeder verschwenderisch mit Pelzen 
und Fellen ausgestattet war, zog in rasender Schnelligkeit über 
die einsamen weißen Ebenen. Während vieler Tage blieb die Land- 
schaft unverändert, und Ségur, wie wohl auch die übrigen Ausländer, 
fühlten sich durch die Einförmigkeit bedriickt. Die Kaiserin änderte 
ihre gewohnte Tageseinteilung nicht, sie erhob sich an den verschie- 
denen Halteplätzen wie immer um sechs Uhr und arbeitete, um neun 
fuhr man ab, um zwei Uhr hielt man zum Diner und fuhr wieder 
weiter bis sieben Uhr. Da es sehr früh dunkelte, waren zu beiden 
Seiten des Weges in kurzen Zwischenräumen riesige Scheiterhaufen auf- 
geführt, die bei Anbruch der Nacht in Flammen gesetzt wurden. Es 
schien allen ein seltsamer Anblick, wie mitten durch die tiefste Ein- 
samkeit ein taghell erleuchteter Weg führte, auf dem die orientalische 
Pracht der Schlitten dahinsauste. ,,C’était ainsi que la fière auto- 
catrice du Nord, au milieu des plus sombres nuits voulait et comman- 
dait que la lumière se fit.“) 

Im Schlitten der Kaiserin befanden sich beständig Mamonov und 
das Hoffräulein Protasova; dazu lud sie dann abwechselnd die Ge- 
sandten usw. ein. Es war natürlich, daß am ersten Tag Cobenzl be- 
fohlen wurde, als Gesandter der verbündeten Macht, am zweiten Tag 
erst Ségur und Fitzherbert. 

An jedem Aufenthaltsort fand die Kaiserin einen Palast oder ein 
elegantes Haus, das besonders für diesen Zweck hergestellt war, in 
dem sie vielleicht eine Nacht, oft nur die wenigen Stunden des Diners 
verbrachte, und das dann für immer verödet dastand und verfiel. Die 
Gesandten erhielten in den Städten bequeme Wohnungen bei reichen 
Einwohnern, gelegentlich mußten sie aber auch, in den Dörfern, mit 
den Hütten der Bauern zufrieden sein, und Ségur stellte dann manch- 
mal Betrachtungen an über die Armseligkeit der Bauern, die in so 
grellem Gegensatz zu dem Prunk des für eine Stunde in ihre Mitte 
versetzten Hofes stand. Gewöhnlich verweilte man nicht länger als 
einen Tag in den Städten. Die Kaiserin empfing den Adel, die Kauf- 
mannschaft und gab einen großen Ball. In jedem Gouvernement, das 
sie berührte, wurde sie vom Generalgouverneur empfangen. Aus dem 


28) An Grimm, 2. Jan. 1787. Sborn. 28, 891. 
35) Ség. I, 429. 


33 


Tagebuch Chrapovickijs erfährt man, daß sie am 22. Januar Berichte 
über das Gouvernement Pskov von Repnin, der sie in Velikija Luki 
erwartete, lobte, daf sie mit denen Passeks (23. Januar), iiber das 
Gouvernement Mohilev, gar nicht zufrieden war und dem Sekretär 
befahl, Erkundigungen über die Kosten der Illumination einzuziehen. 
Denn auch die Feuerwerke, die später ein so riesiges Ausmaß an- 
nahmen, begannen schon hier, — nur fragte die Kaiserin Potemkin 
nıemals nach den Kosten. 


In Smolensk, der einzigen größeren Stadt, die der Zug vor 
Kiev berührte, blieb die Kaiserin drei Tage, zum Teil gezwungen 
durch Krankheit Mamonovs, der, wie Katharina sich (an Grimm) 
5 . . . S est couché tout de son long dans son lit, avec une 
fièvre de cheval et un mal de gorge affreux .. .“ und durch eine 
plötzlich unter der Dienerschaft auftretende Augenkrankheit. Die 
drei Tage vergingen unter endlosen Festlichkeiten, Bällen, Reden usw.; 
da außer dem ansässigen auch der Adel aus der weiteren Umgebung zu- 
sammengekommen war, schien die Oberfläche des Lebens eine gewisse 
Zivilisation anzudeuten, „mais“, schreibt Ségur, „sous cette écorce 
légère l’observateur attentif retrouvait encore facilement la vieille 
Moscovie“. 


Schon in Smolensk begann der Menschenzusammenlauf, der sich 
später immer noch steigern sollte. Als man Katharina darauf auf- 
merksam machte, gab sie ironisch zur Antwort:“) .. . H Meß BAA 
CMOTpETL Ryuam codnparor es.“ 


Seit man das Petersburger Gouvernement verlassen hatte, hatte 
die Landschaft sich langsam verändert. Hinter Porchov überschritt 
man eine Hügelkette, der Eindruck der Einöde verschwand, und 
Smolensk überraschte mit seiner herrlichen Lage am Abhang des 
Berges über dem Dnepr die gelangweilten Reisenden. Von Smolensk 
ab wurden die Dörfer zahlreicher, die Landschaft immer schöner, je 
weiter man sich dem Süden näherte. An der Grenze des Gouverne- 
ments Kiev endlich wurde die Kaiserin am 4. Februar von Rumjancov 
auf seinem Gut WySenki empfangen und nach Kiev geleitet, wo man 
in der Nacht vom 9. zum 10. Februar ankam.“) 


Während dieses Teiles ihrer Reise, über den die Quellen sich 
hinsichtlich irgendwelcher Reformen ganz ausschweigen, und der 
sich nicht sehr von ihren früheren Fahrten unterscheidet, hatte 
Katharina ihre Geschäfte nicht vernachlässigt. Sie erledigte regel- 
mäßig ihre Korrespondenz (u. a. jede Woche einen Brief an die Groß- 
fürsten Alexander und Konstantin, an den Thronfolger usw.), sie 


38) Sborn. 28, 898. 19. Jan. 1787. 
37) Chrapov. S. 13. 17. Jan. 1787. 


37a) Über frühere Zarenbesuche in Kiev unterrichtet V. S. Ikonnikov (s. u. 
Literaturverzeichnis) S. 15 ff., 24 ff., 48 ff. Gegen Peters d. Gr. Bemühungen um 
die Veste Kiev (Stützpunkt der Südfront) 1706 und 1709 hebt sich die Südreise 
seiner Tochter (1744) eigenartig genug ab. In ihrer Suite übrigens die junge 
Katharina mit dem Thronfolger. 


34 


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verlor ihre iibrigen politischen Pline nicht aus dem Auge (lange Ge- 
5 mit Ségur über den französisch- russischen Handelsvertrag, der 

in Kiev endgültig abgeschlossen wurde), sie hatte die Unter- 
nehmungen und Fortschritte der einzelnen Gouvernements, die ihr 
in schriftlichen Berichten vorgelegt wurden, gelobt und getadelt, sie 
beschäftigte sich mit der Vorbereitung der Duell Gesetzgebung, sie 
las Blackstone. Auch in Kiev, wie auf der weiteren Fahrt, führte sie 
ein Leben wie in Carskoe-Selo oder in Petersburg. — 

„Ah! Bon Dieu! Quel train! Quel tapage!“ ruft Ligne inmitten 
des Völkergewühls von Kiev aus,“) „que de diamants, d'or, de 
plaques et de cordons, sans le Saint Esprit! De chaines, de rubans, 
de turbans et de bonnets rouges, fourrés ou pointus! ... des 

is . . . sont venus en députation ainsi que plusieurs autres sujets 
des frontières de la grande muraille de cet empire chinois et de celui 
de Perse et de Byzance... Louis XIV. aurait été jaloux de sa soeur 
Cathérine II.“ Wie in einem magischen Theater sah man Antike 
neben der neuen Zeit, Zivilisation neben Barbarei; Kaukasier, 
Georgier, Kalmüken neben Europäern aller Länder umdrängten den 
Palast Katharinas, der auch hier für sie gebaut war. ,,C’était tout 
Orient accouru pour voir la moderne S&miramis recevant les 
hommages de tous les monarques de l’Occident.‘”) Und bald nach 
ihrer Ankunft, nachdem sie Kiev und die Umgegend besucht hatte 
und verstimmt und unangenehm berührt zurückgekommen war 
(Rumjancov wurde sehr ungnädig behandelt), begann sie inmitten der 
alten, halb zerstörten Stadt, in der sie notgedrungen den Eisgang des 
Dnepr erwarten mußte, Hof zu halten und empfing Europa und 
Asien. Damit kam in das Völkergemisch eine gewisse Ordnung, 
Kreise der Politik, des Geistes, der Hofgesellschaft sonderten sich. 


Mit großem Vergnügen hatte Katharına den Fürsten de Ligne 
empfangen; Bezborodko, der Hüter ihrer politischen Pläne, höflich 
und schweigsam, Potemkin, eben von einer Reise in die Krim zurück- 
gekehrt, waren erschienen; die Kaiserin sah ihren Kreis der Eremitage 
vollzählig um sich, noch vermehrt durch den Prinzen von Nassau- 
Siegen, den „Weltumsegler“, der von Potemkin eingeführt und sehr 
gnädig empfangen worden war. Mitten in der alten Hauptstadt 
war plötzlich der Geist des 18. Jahrhunderts aufgestanden. Um eine 
geistvolle Fürstin scharten sich Männer, erwachsen und erzogen in 
der alten Kultur Europas, gewöhnt an vertrauten Umgang mit den 
Größten ihrer Zeit, die die Welt gesehen hatten und überall in ihr 
heimisch waren; die Lebenskunst und die Kultur der Lebens- 
führung des Zeitalters schien sich auf den Trümmern einer ver- 
gangenen Zeit zu erheben. Katharina genoß die Situation, die Augen 
Euro waren auf sie gerichtet, auf dieses, schon dem Äußeren nach, 
unerhörte Unternehmen, das unfaßbar schien und Unheil und Um- 
sturz nach sich ziehen mußte. 


38) Ligne, Lettres. S. 8f. 
20) Ség. II, 4 i 


Vom Kreise um Katharina liefen die Fäden, durch den nächst 
größeren Ring der Hofgesellschaft, in die einzelnen Gruppen, die sich 
in Kiev schnell gebildet hatten. 


Naturgemäß waren die Häuser der Gesandten die Mittel 
punkte für die politisch Interessierten, deren Länder sie vertraten, 
daneben traten die russischen Politiker, angeführt von Bezbo- 
rodko, die beiden polnischen Parteien, die eine ge- 
führt von Branicki, die andere die Poniatowski-Partei, von Nassau 
und Stackelberg, dem „Vizekönig von Polen“. Die polnische: Partei 
besonders machte sich durch Intrigen und Unklugheiten unbeliebt, so 
daß Potemkin gelegentlich u A mußte. Branicki und seine An- 
hänger versuchten mit allen Mitteln, noch jetzt die vorgesehene Be- 
pegnung mit dem König von Polen zu verhindern oder doch erfolg- 
os zu machen. Nassau arbeitete mit aller Macht dagegen. Aber was 
er als „Paladin“ der Kaiserin vor Branicki voraushatte, glich die 
Nichte Potemkins, die mit Branicki verheiratet und Ehrendame der 
Kaiserin war, wieder aus. Wenn hier um ganz bestimmte Ziele ge- 
kämpft wurde, auch das natürlich unter der Oberfläche, so ging es in 
der übrigen politischen Gesellschaft nicht so heiß her. Die drei Ge- 
sandten Bon sich sogar schließlich vereinigt und machten Russen 
und Fremden gemeinsam die Honneurs. Ihr Haus glich, wie Ségur 
sagt,“) einem „Café de l'Europe“ — „on y trouvait des hommes de 
toutes les nations, on y entendait les langages de tous les pays, on 
s’y nourissait des mets, des fruits et des vins de toutes les contrées, 


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on y jouait 4 toutes les sortes des jeux“. 


Es war das politische Element, es waren die verschiedenartigen 
politischen Probleme, die alle diese Kreise bewegten. Auch der Fürst 
von Ligne, Mittelpunkt der Gruppe, die, weniger aktiv, betrachtend 
und überlegen die Zauberwelt dieser Reise genoß, hielt es für not- 
wendig, eine Rolle im politischen Spiel zu übernehmen und gelegent- 
lich als „diplomatischer Jockey“ für Osterreich aufzutreten. Zu thm 
fand sich Nassau, der spanische Grande, im Eremitagekreis der Un- 
verwundbare genannt, auch er im Grunde unbeschwert von politi- 
scher Verantwortung, ein Abenteurer, robust aktiv, nicht geistig wie 
Ligne. Aber wie dieser hätte auch er von sich sagen können: „Moi 
qui n’ai rien à risquer et peut-être quelque gloire à acquérir. . .‘“*®) 
Im Gefolge Katharinas waren diese beiden Paladine die Aben- 
teurer, wenn auch verschiedener Prägung, des westlichen Europa. 
Mit diesen beiden Gestalten, zumal mit derjenigen Lignes, dem 
Inbegriff westlicher Verfeinerung, kontrastierte die „urrussische“ 
Figur Potemkins. Bessere Begleiter für ihre Reise nach Taurien 
konnte die „Cleopätre du Nord“, die „neue Semiramis“ nicht finden. 


Während sich die Geister so schieden, blieb Potemkin außerhalb. 
Von allen umworben, besonders den Polen, „petite et grande 
Pologne“, bemerkt Ligne, hielt er in der Pelerskaja Lavra 


40) Ség. II, 4. 
aa) Ligne, Lettres. S. 11. 


36 


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über der Stadt Hof, von orientalischem Prunk umgeben, und 
empfing, nach Laune im Paradeanzug oder im Négligé, ganz Europa 
bei sich, das heißt, er empfing es gewöhnlich nicht, sondern ließ es 
im Vorzimmer stehen.“) 

Im Verlauf der drei Monate in Kiev folgten Feste auf Feste, der 
ganze Glanz des Carenhofes wurde aller Welt entfaltet, noch dazu 
durch einen Zug orientalischen Pompes verstärkt. Wie angeregt, ja 
ausgelassen und erwartungsvoll man besonders im engeren Kreis war, 
wo man das Eigenartige der Situation am besten fühlte, geht aus 
einem Brief Katharinas an Grimm hervor.“) „... die Leute sind ganz 
ausgelassen; sie rasen und sprechen und lachen einige Male alle zu- 
gleich, und ich höre und sehe zu, und sitze dabei ganz still, in einer 
Ecke; ja, das ist ein Leben, und dennoch nennen sie das: une vie fort 
douce; die dollen Leute!“ f 

Bei Katharina, aber auch bei allen anderen, stellte sich allmählich 
Müdigkeit und Überdruß ein. Am 8. Februar schon schreibt Katha- 
rina an Grimm: „. . . . nous avons passé tous ces jours-ci en bals, en 
fétes, en mascarades et aujourd'hui lundi, Dieu merci, le caréme a 
commencé et a mis fin 4 tous ces bruits.“**) Aber nur die großen 
Feste hörten auf, dafür besuchte Katharina mit ihrem Gefolge die 
Kirchen und die Lavra. Chrapovickij notiert am 15. Februar: 
64. Gun Bb OGUPB UX nemeparb H NIPURIANBIBAIHCK KO BCEMB MO maus“ 


Unter dieser anscheinend nur von nichtigen Dingen erregten 
Oberfläche war jedoch während der ganzen Zeit die Politik nicht ein- 
geschlafen. Katharinas türkische Absichten, noch verborgen, aber von 
den meisten erwartet, gaben allen Gesprächen und Scherzen den 
doppelten Sinn, den alle verstanden, besonders in der nahen Um- 
sabang der Kaiserin. Ligne schreibt an die Marquise von Coigny:**) 
„On désire et on craint la guerre. On se plaint du ministère 
d' Angleterre et de la Prusse qui y excitent les Turcs; et on les agace 
continuellement . . .“ Katharina fürchtete den Krieg kaum. Aller- 
dings war sie hier in Kiev, am Anfang der Reise, noch zurückhaltend 
und vielleicht unsicherer als später, nachdem sie ihre Kampfmittel 
gesehen und sich versichert hatte, daß ihr Plan ausführbar sei. 


Auch die russischen Politiker verhielten sich zurückhaltend. 
Bezborodko blieb es bis zum Ende der Fahrt. Er war beständig den 
Redeangriffen Cobenzls ausgesetzt, der ihn (gewiß mit Recht) für einen 
Anhänger der Allianz mit Osterreich hielt, aber unterschätzte, daß er 
vor allem der Vertraute Katharinas war. Cobenzl erhielt auch in 
Kiev auf seine Vorstellungen, der gemeinsame Feind Preußen müsse 
zuerst unschädlich gemacht werden, ehe man an das „große Projekt“ 


1) Vgl. SE II, 5: „ . . il semblait qu'on y assistät A l’audience d'un visir 
de Constantinople, de Bagdad ou du Caire; le silence et une sorte de crainte y 
ent.“ 
2) Sborn. 28, 994. 26. Febr. 1787. 
83) Sborn. 28, 898. 
) Ligne, Lettres. S. 11. 


gehen könne (dessen Anhänger er übrigens mehr als Joseph II. war), 
die stetig wiederkehrende Antwort, Rußland würde nur zum Krieg 
schreiten, wenn seine Ehre beleidigt würde. Potemkin allein geht 
aus seiner Reserve heraus, und seine Haltung ist ganz 
kriegerish. Er verschmäht nicht, wie schon früher,“) auch mit den 
gröbsten Mitteln zu arbeiten, so etwa die Vertreibung der Türken 
aus Europa (man sprach schon sehr offen), als eine Kulturtat hin- 
zustellen; man höre Ségur, den Vertreter der türkenfreundlichen 
Macht: „Ce sera peut-être enfin de Kioff que s’élanceront les armées 
vengeresses qui chasseront d’Europe les féroces musulmans, et qui 
par lì favorisent les efforts de l’heroique Grèce, trop longtemps 
abandonnée au joug intolérable et 4 la féroce cruauté de ses 
oppresseurs. 


Wenn auch noch nicht so offen, wie dann weiterhin, das poli- 
tische Moment an die Oberfläche trat, so trifft Ségur doch den 
Kernpunkt sehr genau: „La cour de Cathérine devenait le foyer de la 
politique et le point sur lequel se fixaient tous les regards des hommes 
d'Etat.) — 

Endlich, nachdem eine allgemeine Kanonade den Eisgang des 
Dnepr verkündet hatte, am 3. Mai (22. April), konnte Chrapovickij 
in sein Tagebuch schreiben: BRThTau us» Kiega na raıepaxr‘.*”*) 


Obgleich die Kaiserin das Gouvernement Potemkins noch nicht 
betreten hatte, setzte bereits seine Regie ein; denn so kann man es 
nennen, der ganze Weg war auf das Sorgfältigste hergerichtet. Vom 
Dnepr aus sah Katharına die Ufer wie eine Folge schöner Bilder an 
sich vorüberziehen. Jede der verschiedenen Stationen hatte ihre be- 
sondere Bedeutung, Kanev und Cherson sozusagen als außenpolitische 
Haltestellen, Ekaterinoslav, Krementug und wieder Cherson als 
innenpolitische. Ein großer Verbündeter Potemkins war der Früh- 
ling, den er mit Geschick ausnutzte. Die Gesellschaft, aus Kiev 
und vom Winter befreit, bestieg in der besten Laune die Flotte, die 
mächtig und eindrucksvoll auf dem Dnepr lag. Ségur schildert sie: 
„La flotte, la plus pompeuse, qu’un grand fleuve efit jamais portée. 
Elle était composée de plus de quatre-vingt bâtiments avec trois mille 
hommes d’équipage et de garnison; à leur téte marchaient sept 
galéres d'une forme élégante, d'une grandeur majestueuse, peintes avec 
art, garnies d Cquipages nombreux, lestes, uniformément vêtus. 
L’or et la soie étincelaient dans les riches appartements construits sur 
les tillacs. L’une des galères qui suivaient celle de Impératrice reçut 


45) . Mém. I, 401, Pot.: „Convenez que l’existence des musulmans est 
un veritable fléau pour l'humaniték. Cependant, si trois ou quatre grandes 
uissances voulaient se concerter, rien ne serait plus facile que de rejeter ces 
éroces Turcs en Asie, et de délivrer ainsi de cette peste l'Egypte, l’Archipel, la 
Grèce, et toute l'Europe. N’est-il pas vrai qu'une telle entreprise serait à la 
fois juste, utile, réligieuse, morale et héroique? 

as) Ség. II, 1. 

47) Ség. II, 22. 

47a) Zum Kiever Aufenthalt Katharinas vgl. auch Ikonnikov a. a. O. S. 51 ff. 


38 


A son bord M. M. de Cobenzl et Fitz-Herbert; une seconde fut 
assignée au prince de Ligne et à moi; les autres étaient destinés au 
8 Potemkin, à ses niéces, au grand-chambellan, au grand- 

yer, aux ministres et aux grands que Cathérine avait admis à 
’honneur de l’accompagner. Mademoiselle Protasoff et le comte 
Mamonoff étaient és dans la galère de Sa Majesté. Nous 
trouvämes chacun sur les nötres une chambre et un cabinet dont le 
luxe égalait Vélégance, un divan commode, un excellent lit, en 
taffetas chiné et un secrétaire en acajou. Chaque galère avait sa 
musique. Une foule de chaloupes et de canots voltigeaient sans cesse 
à la téte et sur les flancs de cette escadre qui ressemblait aux 
créations de la féerie.“*) 


„Feerie“, ein Wort, von Ligne gefunden, schien allein den all- 
gemeinen Eindruck, das Märchenhafte der Situation, wiederzugeben. 
Die Gesellschaft war wir Katharina selbst, in heiterster Stimmung, 
die Art der Reise war außergewöhnlich und abwechslungsvoll. Das 
Gefolge wurde zum Diner oder zum Abendcercle durch ein Signal 
auf die kaiserliche Galeere, die den Namen ,,Dnepr“ führte, gerufen. 
Auf jeder Galeere begrüßte eine ansehnliche Kapelle Abfahrt und An- 
kunft der einzelnen Bewohner; in kleinen Booten begab man sich zur 
Kaiserin, was bei stürmischem Wetter nicht ohne Gefahr war, aber 
den Reiz des Einzigartigen nur noch erhöhte. Nach ihrer Gewohn- 
heit hatte Katharina nıemals mehr als zehn Personen zum Diner, 
als „Herrin einer romantischen Tafelrunde“, wie Andreae sagt. Ihr 
wöchentlicher großer Empfang fand auf einer besonders dazu be- 
stimmten Galeere statt. Ligne hätte auf die Frage, was sie eigent- 
lich auf den Galeeren wollten, geantwortet: „Nous amuser, et voguent 
les galères!) Und das war auch die Hauptbeschäftigung während 
der Flußreise, die ganz das Bild einer Lustfahrt, „brillante et 
agréable“, ) bietet. 


Bei dieser Lebensweise ergaben sich natürlich die eigenartigsten 
und heitersten Situationen. So schildert etwa Ségur seine morgend- 
lichen Vergnügungen: „Le prince de Ligne dès le matin frappant 
contre la faible cloison qui séparait son lit du mien, il me réveillait 
pour me réciter des impromptus en vers et en chansons qu'il venait 
de composer, et, peu de temps aprés, son chasseur m’apportait une 
lettre de quatre ou six pages, où la sagesse, la folie, la politique, la 

alanterie, les anecdotes militaires et les épigrammes philosophiques, 
. mélées de la maniére la plus originale. Il exigeait une 
prompte réponse: aussi ne fut jamais plus suivi et plus exact que 
cette étrange correspondance quotidienne, entre un génér 

autrichien et un ambassadeur francais, couchés l'un à côté de 
Pautre sur la même galère, non loin de |’Impératrice du Nord et 


48) Ség. II, 29 ff. 
) Ligne, Lettres. S. 19. 
80) Ibid. 


39 


naviguant sur le Borysténe, 4 travers le pays des Cosaques, pour 
aller visiter celui des Tartares.) 

Die Abendunterhaltungen beim Billardspiel waren angeregt und 
heiter. Man sprach iiber Philosophie, Literatur, Geschichte, ohne sich 
auf gefährlichere, das heißt politische Gebiete zu begeben, man ver- 
glich gelegentlich die moderne Zeit mit der antiken, nannte Frank- 
reich Attika, England Karthago, Preußen Macedonien, stellte Katha- 
rinas Reich mit dem des Cyrus in eine Linie.“) Ligne führt in einem 
seiner Briefe auch den Vergleich Katharınas mit Kleopatra in der 
launigsten Weise durch:“) diese Kleopatra verschlinge nicht Perlen, 
sondern verschenke sie, sie reise nicht, um Cäsaren zu verführen, eine 
auch politisch zu deutende Anspielung auf Joseph, an denen die 
Unterhaltungen überhaupt reich waren, usw. Dieser Name Kleo- 
patra, tauchte, je weiter sie nach dem Süden kamen, immer häufiger 
auf, da er für den orientalisch-zauberhaften Rahmen wie geschaffen 
schien. Daneben aber erscheint noch eine andere Gestalt der Antike, 
mit der Katharina sich gern vergleichen läßt, die der Iphigenie. Sie 
selbst nennt die Krim „das Land, das Iphigenie bewohnte“.™) Ségur, 
Nassau, Ligne, alle greifen diese Bezeichnung auf. Sah sich die 
Kaiserin als Kulturträgerin für die Krim, oder Taurien, wie sie es 
nannte? Oder liebte sie vor allem den Vergleich mit der über das 
Meer nach Griechenland (Konstantinopel lag ja in der gleichen Rich- 
tung) schauenden Priesterin? 

„Si vous saviez tout ce qui se dit et se fait journellement sur ma 
galère, vous mourriez de rire. Tout ce monde qui va avec moi s’est 
si bien accoutumé chez moi, qu’ils sont comme s ils étaient à la 
maison“, schreibt Katharina an Grimm.) Gleich danach schildert 
sie ihm eine Episode eines solchen Abends. Da stellt Cobenzl Reim- 
worte zusammen, aus denen Ségur aus dem Stegreif Gedichte macht, 
während Mamonov ihn dabei zeichnet und Katharina im gleichen 
Augenblick Ligne drei Worte sagt, aus denen er eine lange Geschichte, 
ebenfalls in Versen, entwickelt. 

In solcher Stimmung verging die Fahrt. Das Land sah 
vom Schiff und im Frühling sehr viel freundlicher aus, als am 
Wintertage vom Wagen. Dazu hatte Potemkin die Ufer festlich her- 
gerichtet. Städte, Dörfer und Bauernhäuser waren durch üppige 
Girlanden und Triumphbogen fast ganz verkleidet, eine bunt und 
möglichst gut gekleidete Menge bevölkerte und belebte beständig die 
Ufer. Man sagt, es seien häufig dieselben Volkshaufen gewesen, die 
sich der Kaiserin zeigten, Potemkin habe sie jeweils weitergeleitet und 
neu angeordnet. Das läßt sich kaum beweisen. Das Land hatte 
Menschen genug, sie waren vielleicht auch hierher, wie nach Kiev, aus 
der Ferne gekommen, um die Carin zu sehen. Vielleicht waren sie auch 


51) Seg. II, 48 f. 

52) Ség. II, 32. 

53) Ligne, Lettres. S. 20. 

58) Sborn. 27, 378 f. Kath. an Ligne. September 1786. 
85) Sborn. 28, 409. 8. Mai 1787. 


40 


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von Potemkin herbeibefohlen worden; jedenfalls aber wurden sie von 

in seinem Programm verwendet. Man sah in der Ebene die 
Manöver der Kosaken in prächtigen Uniformen, sah große weidende 
Herden, erblickte an den Ufern wimmelnde Märkte, die sich nach der 
Vorbeifahrt der Flotte in nichts auflösten. Der Dnepr war von 
Booten mit singenden Mädchen und Burschen belebt usw. Zur Lan- 
dung wurden immer Punkte gewählt, die landschaftlich schön oder 
durdi ein Landhaus, ein sauberes Dorf ausgezeichnet waren. Abend 
für Abend gab es Illuminationen. 


Katharinas Lustfahrt war durch keinen Mißton gestört. Sie sah 

ein blühendes Rußland in prächtigen Einzelbildern an sich vorüber- 

eiten. Die nördlichen Provinzen, Kiev vershwanden und ver- 

laßten. „Le prince Potemkin fait aller toute la machine a son 
plaisir“, schrieb Joseph II. an Lascy.“) 

„Die Elemente, die Jahreszeit, Natur und Kunst, alles schien sich 
zu verschwören, um den Triumph dieses mächtigen Günstlings zu 
sichern. Er hoffte, indem er seine Herrscherin in dem Augenblick 
mit so viel Zauber umgab, in dem sie die durch ihre Waffen neu er- 
oberten Landschaften durchschiffte, ihren Ehrgeiz zu entflammen 
un ihr A Wunsch einzuflößen, kühn neue Eroberungen zu ver- 

en.“ 

Ségur sieht, wenn er dies schreibt, vielleicht ein wenig zu viel. 
Es scheint, daß Potemkins Ansichten und Pläne gelegentlich 
schwankten, daß er nicht immer aus eigensten Kriegsgelüsten solch 
offene Sprache führte, wie oftmals Se Ségur gegenüber, sondern 
daß er vor allem Katharinas Gedanken und Wünsche kannte und sie 
zu erfüllen strebte, da sie ihm nur nützlich sein konnten. 


Am 6. Mai ging die Flotte beim Städtchen Kanev vor Anker, 
wo der polnische König seit langem Katharina erwartete. Würden- 
träger der Kaiserin holten ihn in einer prächtigen Schaluppe ein, die 
er mit den Worten betrat: ,,Messieurs, le roi de Pologne m’ a chargé 
de vous recommander le comte de Poniatowski“, e) — eine Geste der 
Verlegenheit. An Bord war der gesamte Hofstaat um die Kaiserin 
versammelt. Nach einer förmlichen Begrüßung zogen sich beide 
Majestäten zu einer halbstündigen Unterredung zurück. Das Diner — 
Katharina schien verlegen, Stanislaw melancholisch — war nach Lignes 
Schilderung sehr angeregt, während Ségur schreibt: „On parla peu, 
on mangea peu, on se regarda beaucoup.) Nachdem unter Kanonen- 
donner die Gesundheit Stanislas ausgebracht worden war, verließ er 
die Galeere. Er hatte keinen längeren Aufenthalt erbitten können. 
Die Kaiserin begleitete ihn bis auf das polnische Ufer und kehrte auf 
ihr Schiff zurück, während der König den Russen einen großen Ball 
gab und abends ein prachtvolles Feuerwerk. Darstellung eines 


s) Arneth, Anh. S. 855. 19. Mai 1787. 
57) Ség. II, 54. 


41 


Ausbruchs des Vesuvs.) Die Kaiserin ließ ebenfalls ihr Geschwader 
illuminieren. „Je crains de devenir lampion“, sagte Ligne.) Und 
wirklich war die Zusammenkunft verp wie das Feuerwerk. Es 
war weder eine romanhafte Begegnung,“) wie Ségur erwartete, noch 
eine der Geschichte gewesen, und wie Cobenzl berichtet:“) „. . . sans 
qu'il se soit rien traité qui puisse avoir influence sur les affaires 
générales de l Europe pour Pavenir.“ 


Auf Seiten Katharinas schloß Chrapovickij diese Episode mit der 
schlichten Eintragung in sein Tagebuch am 25. April: “TIpiaraoe 
CBHXaHie Cb KOPOXeMb [loxbckamb Ba raxepaxt, npe lb Kanesomws.“ 
und einen Tag später setzte er noch hinzu: “. . OHH XOBOAbHH, WO 
H36aBHIHCh Dgepamggro Geanoxofc ra. 


Der Erfolg des polnischen Königs war kläglih. Auf alle seine 
Forderungen (Abschaffung des Conseil permanent, Feststellung der 
Erblichkeit der Krone in seiner Familie), sogar auf Wiederbezahlung 
seiner Schulden, hatte er abschlägige oder unbestimmte Antworten 
erhalten. „Il y dépensa trois mois et trois millions pour voir lim- 
pératrice pendant trois heures. 


Der nächste große Haltepunkt war Krementug. Hier empfing 
Potemkin die Kaiserin förmlich an der Grenze seines Gouvernements. 
Ein weites Palais im Geschmack der Kaiserin stand bereit, mit einem 
von Potemkin unlängst unter großen Kosten angelegten englischen 
Garten. Für alles, bis auf das Kleinste, war gesorgt, sogar der Blick 
aus ihren Gemächern auf die Stadt war mit Überlegung gewählt. Die 
Stadt selbst war von Menschen angefüllt. Der Adel der ganzen 
Gegend war zusammengeströmt. Katharina gab ihre Audienzen, wie 
überall, empfing Geistlichkeit, Adel, Kaufmannschaft und gab zum 
Schluß einen großen Ball. 


In Krementug zum erstenmal hatten die Begleiter der Kaiserin 
Gelegenheit, Potemkins Arbeit aus der Nähe zu sehen. Und das, was 
ihnen in schönster Wirklichkeit vorgeführt wurde, als Anfang von 
Potemkins Tätigkeit, war ein militärisches Lager, das außer zahl- 
reicher Infanterie acht Regimenter Kavallerie, ein Bataillon Grena- 
diere und ein Regiment Jäger umfaßte, in tadelloser Form, voll- 
ständig neu eingekleidet. Gleich am ersten Tag wurde vor Katharina 
ein großes Manöver abgehalten. Ségur bemerkt darüber:“) ,,J’ ai vu 
peu de troupes plus belles et de plus brillante tenue.“ Katharinas 
Zufriedenheit war unverkennbar, sie war strahlender Laune. „Depuis 
Pétersbourg à Kioff“, sagte sie zu Potemkin,"*) „j' ai cru voir le 
ressort de mon empire détendu et usé; ici je le retrouve dans toute 
son activité et dans toute sa vigueur.“ 


60) Ligne, Lettres. S. 23. 

61) Ség. II, 89. 

2) Font. 54, 140. Cob. ag Jos. 6. Mai 1787. 
83) Ligne, Lettres. S. 22. 

6) Ség. II, 42 f. 

65) Ibid. 


42 


Las r —. — wet * 


In rz a us in — 11 Bs 


— 


So war hier zum erstenmal der Ton angeschlagen worden, der 
von jetzt ab die Reise deutlich bestimmen sollte, der kriegerische. 
Wer sprach noch von dem angeblichen, eigentlichen Zweck der Reise, 
der Besichtigung der Fortschritte der inneren Kulturarbeit? 


Katharina verließ Krementug nach zwei Tagen. Das alte Leben 
wurde auf den Galeeren fortgesetzt. Die politischen Ausblicke waren 
verschwunden, wieder fuhr man an Potemkins russischen Genre- 
bildern vorüber. Aber es ging langsamer vorwärts. Es kamen Gegen- 
winde, einige Barken, auch Galeeren, liefen auf Sandbänke auf. 
Chrapovickij hatte schon am 29. April, also noch vor Krementug, 
eine Meldung, daß die kaiserliche Galeere ans Ufer gedrückt worden 
war, aus dem offiziellen Reisejournal, das er seit Petersburg führte, 
streichen müssen. (29. April.) Jetzt wurde die Kaiserin unruhig. Sie 
fürchtete, Joseph II. in Cherson warten zu lassen. Als sie erfuhr, daß 
er ihr schon entgegenkomme, ließ sie sich plötzlich an Land setzen 
und fuhr ihm mit wenigem Gefolge entgegen. „ . . et nous courümes 
si bien“, schreibt Katharina an Grimm,“) „que nous nous rencon- 
trämes au milieu des champs nez a nez; la première parole qu'il me 
dit fut que voila tous les politiques bien attrapés: personne ne verra 
notre rencontre; lui il était avec son ambassadeur, et moi avee le prince 
de Ligne, habit rouge“) et la comtesse Branitska. . .“ 


Joseph II., der „Graf von Falkenstein“, fand den Zug Katharinas 
in der größten Unordnung; die eine Hälfte war gelandet, die andere 
befand sich noch auf den Galeeren. Die Kaiserin hatte das Programm 
Potemkins gestört. Sein Apparat versagte für den Augenblick. So 
konnte Joseph schreiben:“) „La confusion qui régne dans ce 
voyage, est inexprimable.“ In Kajdaki verbrachte man einen ganzen 
Tag, den 19., um Potemkin Zeit zu lassen, den Zug wieder zu ordnen. 


Am 20. kamen die Kaiserin und ihre Begleiter in Ekaterinoslav 
an, das vorerst nur aus einem Landhaus Potemkins mit einem schönen 
Garten und zwei Treibhäusern bestand. Die Stadt sollte auf einer 
Höhe gebaut werden, von der man einen herrlichen Blick auf die 
Katarakte des Dnepr hatte, aber wo es auch kein Wasser gab.“) 
Schon 1784 war der Befehl, eine Universität zu errichten, erlassen 
worden, auch Professoren waren schon berufen. Es lagen ferner groß- 
artıge Pläne vor von der künftigen Kathedrale wie von der Stadt, 
es sollte ein Gerichtsgebäude im Stil der römischen Basiliken, eine 
Börse, Theater und Konservatorium, zwölf Fabriken geben. — Na 
feierlicher Messe in einem in eine Kirche verwandelten Zelt 
legten beide Herrscher den Grundstein zu der neuen Kathedrale, die, 
worauf besonders Potemkin großen Wert legte, länger sein sollte, als 
die Peterskirche. Joseph II. soll boshaft gesagt haben:“) „Ich habe 


ee) Sborn. 28, 410. 15. Mai 1787. 

87) Mamonov. 

e) Arneth, Anh. S. 356. Jos. an Lascy. 19. Mai 1787. 
es) Ség. II, 84. 

Te) Masson: Mémoires sécrets de Russie. I, 105. 


43 


ein großes Werk vollbracht — Ihre Majestät hat den ersten, ich den 
letzten Stein zu einer Stadt gelegt.“ 

Gleich nach der Zeremonie verließ die Gesellschaft Ekaterinoslav 
und fuhr in die Steppe hinaus auf Cherson zu. Hier in Ekaterinoslav 
hatte Potemkin versagt, gerade hier, wo es sich um Kulturarbeit, um 
wirkliche Fortschritte handelte, war nichts, oder doch unglaublich 
wenig, getan worden. Nur schien es niemanden von der Suite auf- 
zufallen; jedenfalls tadelte es niemand. 

Die Fahrt wurde jetzt äußerst eintönig. Man fühlte sich, wie in 
der nordrussischen Ebene, bedrückt von dieser weiten, gleichmäßig 
grünen Fläche, die sich unermeßlich hinzog. Dagegen war auch der 
Zauberer Potemkin machtlos. Auf Ségur wirkte sie wie eine un- 
geheure, einförmige Leinwand, auf der ein Maler angefangen habe 
zu malen. Schaf- und Pferdeherden, gelegentlich auch bebaute Felder, 
bildeten die spärliche Malerei, aber die stammte nicht von Potemkin. 

Desto mehr wirkte das nächste große Ereignis, Cherson. Mitten 
aus der Ebene, am Ufer des Dnepr, erhob sich vor den erstaunten 
Reisenden eine imposante Festung. Dieser dritte Aufenthaltsort, an 
dem man die Ergebnisse Potemkinscher Arbeit sehen wollte, trug 
ebenfalls das kriegerische, und nur das kriegerische Gesicht, das schon 
Krementug und die gelegentlichen Manöver oder Vorbeimärsche von 
Truppen angekündigt hatten. | 

Eine Festung mit einem Arsenal von 600 Kanonen mit ge- 
nügender Munition, Kasernen für 24000 Mann, drei Kriegsschiffe, 
eben hergestellt, auf der einen Seite, dagegen keine, oder ungenügende, 
Kais zum Anlegen der Handelsschiffe, keine Lagerhäuser, schlecht 
organisierte Gerichtshöfe auf der anderen Seite. Dazu kamen noch, 
was die Ausländer hier genau sahen, die ungesunde Lage inmitten 
von Sümpfen (die Stadt hatte beim Bau allein 20 000 Menschenleben 
gekostet), der Sanduntergrund, die Unbefahrbarkeit des Dnepr: die 
Handelsschiffe mußten 30 Werst unterhalb anlegen, und der Handel 
bestand vorläufig nur aus der polnischen Einfuhr.”‘) Aber alle diese 
Mängel verdeckte das kriegerische Gepränge innerhalb dieser doch 
trotz vieler Fehler imposanten Bee die auch auf Joseph II. 
ihren Eindruck nicht verfehlten: „Cela a l'air de quelque chose.) 
Der gewöhnliche Rahmen der Festlichkeiten wurde überschritten, 
„Pour les fétes, Cherson est, en vérité, une Alexandrie“, bemerkt 
Ligne,”) seinen Vergleich mit der Zeit Kleopatras fortfiihrend. Am 
ersten Tag schon findet der Stapellauf der drei Schiffe, von denen 
das eine den Namen „Joseph II.“ erhält, in festlicher Aufmachung 
statt. Katharinas gute Laune ist unerschütterlich. Sie schreibt an 
Saltykov, an Eropkin Briefe voll vom Lobe Potemkins und Chersons 
und betont immer wieder: „Dieses Kind lebte vor acht Jahren noch 
nicht... Ich kann sagen, daß alle meine Erwartungen erfüllt sind...“ 
Hatte sie also überhaupt nur kriegerische Wünsche gehabt? 


71) Vgl. Seg. II, 47 f. Arneth, Anh. 858 f.: Jos. an Lascy. 90. Mai 1787. 
72) Arneth ibid. 859. 
73) Ligne, Lettres. S. 20. 


44 


Auf der Fluß fahrt selbst war das Politische immer zurückgetreten, 
sie bewahrte durchaus den Charakter einer Lustfahrt. An den 
Landungspunkten aber erhob es sich naturgemäß, da man den Dingen 
näher kam, wieder an die Oberfläche. So auch in Cherson, und noch 
stärker als je vorher. Es gab verschiedene äußere Anlässe. Ein 
Gesandter Neapels, der Marquis de Gallo, erschien, um über einen 
Handelsvertrag mit Rußland zu verhandeln und lenkte damit die 
Blicke über Konstantinopel hinaus ins Mittelmeer. Bulgakov, wie 
auch der österreichische Gesandte in Konstantinopel, von Herbert, 
waren angekommen, es fanden geschäftliche Besprechungen statt, deren 
Thema vor allem Mäßigung der russischen Forderungen an die Pforte 
war. Die Kaiserin versuchte sogar einmal öffentlich, den Kaiser in 
ein politisches Gespräch zu ziehen. 

Sofort meldete sich auch Konstantinopel. Ein türkisches Ge- 
schwader erschien vor der Dneprmündung und verhinderte einen ge- 
planten Abstecher der Kaiserin nach Kinburn, gegenüber von Otakov. 
Sie verzichtete in sichtbar übler Laune auf diesen eigenartigen Er- 
kundungsmarsch auf türkisches Gebiet. Ligne erzählt eine kleine 
charakteristische Episode hierüber.“) Der Prinz von Nassau hatte der 
Kaiserin auf einer Karte die Lage auseinandergesetzt und erbot sich 
— er wünschte selbst leidenschaftlich den Krieg und war nur des- 
wegen nach Rußland gekommen —, sie von diesem Hindernis zu be- 
freien. Katharina gab der Karte einen kleinen Stoß, fing an zu 
lachen und reichte sie dem Fürsten zurück. „Je regarde cela comme 
un joli avant-coureur d’une jolie guerre que nous aurons bientöt, 
jespere“, schließt Ligne. 

Nachdem Katharina noch zahlreiche Beförderungen in der Cher- 
soner Marine vorgenommen und Geschenke an die Beamten verteilt 
hatte, verließ sie am 28. Mai Cherson, um sich über Berislav und die 
Landenge von Perekop nach Bachlisaraj zu begeben. Die erste Hälfte 
der großen Reise war beendet. Sie zeigt das Bild der Lustreise einer 
großen Fürstin, schon mit einem leicht orientalischen Zug. Sichtbar 
bleibt immer der rote Faden der politischen Absicht, der zum Schluß 
ganz offen liegt. 

Katharina war befriedigt; es war, als ob sie neue Kräfte emp- 
fangen hätte. Sie äußerte Chrapovickij gegenüber, sie könne nun mit 
frischem Kopf und den besten Kenntnissen in der Eremitage weiter- 
arbeiten (18. Mai), und es war unverkennbar, daß auch ihre Begleiter 
unter dem Eindruck einer Machtkundgebung Rußlands standen, die 
im SE Teil der Reise noch eindrucksvoller und bedeutsamer 
wurde. 

Man hatte den Dnepr überschritten und war wieder in die 
Steppen hinausgefahren. Die Reise ging so rasch wie möglich vor sich. 
Man nächtigte am 29. in Berislav und fuhr an Perekop vorüber in 
die Krim hinein. Wieder war es eine kriegerische Ouverture, die die 
Reihe der Wunder des neu erworbenen Landes eröffnete. Mitten in 


18) Ligne, Lettres. S. 26. 


45 


der Steppeneinöde, an dem einzigen Requisit, das Potemkin hatte 
finden können, einer weißen griechischen Steinbrücke, die über einen 
kleinen Fluß führte, hatte er, wie es für die ganze Steppenfahrt, für 
alle Haltepunkte angeordnet war, ein Zeltlager von asiatischer Pracht 
errichtet. Hier sah Katharina, aus ihrem Zelt tretend, unerwartet ein 
glanzvolles Manöver der Donkosaken sich entfalten, das plötzlich die 
Einöde in einen Kriegsschauplatz verwandelte. Die Gesellschaft war 
überrascht und begeistert, Joseph II. hingerissen; er erkundigte 
sich genau nach der Stärke des Heeres und unterhielt sich lange mit 
dem Ataman.”) Bemerkenswert die Zurückhaltung Katharinas. 
Prüfte sie die Wirkung bei den anderen, besonders bei Joseph? 
Chrapovickij schreibt hier (aus dem Munde der Kaiserin) in sein Tage- 
buch (19. Mai): ,,Cela fait naitre de réflexions.“ 

Eine Andeutung, wie nüchtern Katharina im übrigen rechnete 
und die Dinge ansah, sich auch durch Potemkin kaum blenden lief, 
ist ihre Anrede an Potemkin bei dieser Gelegenheit: ,,Voila un de 
vos tours!“ 

Abends, als Joseph II. mit Ségur zwischen den Zelten umher- 
wanderte (Nassau erzählt, es wäre überhaupt nur von den Kosaken 
die Rede gewesen), bemerkte er:“) „Quel singulier voyage! ... et qui 
aurait pu s’attendre à me voir avec Cathérine II et les ministres de 
France et d'Angleterre, errant dans le désert des Tartares! C'est une 
page toute neuve d'histoire. Und Ségurs Antwort: „Il me semble 
plutôt que c'est une page des „Mille et une Nuits“, que je m’appelle 
Giafar et que je me promène avec le calife Huran-al-Raschid deguisé 
selon sa coutume.“ Es schien in der Tat allen, als ob sie in einem 
— lebten. „Je ne sais plus où je suis, ni dans quel siècle je 
suis. 

Gleich nach Uberschreiten der Landenge wurde die Kaiserin von 
einer Eskorte von 1000 berittenen Tataren empfangen, sie selbst hatte 
das für ihre Krimreise gewünscht, ein Vertrauensakt, der, da er so 
wenig erwartet wurde, Erfolg hatte. Ligne bemerkte zu Ségur,”) als 
der Zug, von Tataren umgeben, sich in Bewegung setzte, es wäre 
ein merkwürdiges, ganz Europa erregendes Ereignis, wenn diese 
Tataren plötzlich die erhabene Katharina und den mächtigen römi- 
schen Kaiser samt ihrem Gefolge einschiffen und zur Erheiterung des 
Beherrschers der Gläubigen nach Konstantinopel bringen würden. 
Und wirklich wollen Zeugen bei Joseph II. eine gewisse Unruhe be- 
merkt haben. Die Tatarensuite aber rettete der Kaiserin vielmehr 
das Leben, als bei der Einfahrt in Bachtisaraj ihre Pferde auf dem steil 
abfallenden Wege durchgingen. Mit Bachlisaraj betrat man sichtbar 
den Orient. Die Landschaft, die Menschen, die sich der An- 


76) Ség. II, 55 f. 

78) d' Aragon S. 152. 

77) gie, II, 55. 

78) Ligne, Lettres. S. 81. 
79) Ség. II, 60. 

80) Ligne, Lettres. S. 29. 


46 


kunft ihrer Beherrscherin gegenüber nicht sehr interessiert verhielten, 
wurden südlich. Das Märchen aus „Tausend und eine Nacht“) hatte 
wirklich begonnen. 

Der verlassene Khanpalast von orientalischer Pracht, der sich 
selbst in einer Inschrift rühmte, schöner als alles in Damaskus, Stam- 
bul und Ispahan zu sein,“) nahm die ganze Gesellschaft auf. Potem- 
kin, Ligne, Nassau und die drei Gesandten bewohnten den früheren 
Harem und befanden sich dort sehr wohl. Eine heitere, ausgelassene 
Stimmung begann alle zu beherrschen. Joseph II., der in dieser Be- 
ziehung gelegentlich etwas unbeholfen, wurde von ihr erfaßt, wie 
Katharina selbst. So schrieb Joseph an Lascy:“) „ . . je loge dans 
appartement qu’ habitait autrefois le frère du Khan, qui m'avait 
que de vieilles femmes, par conséquent mes idées n'y sauraient étre 

e couleur de rose.“ 

Die Festlichkeiten und Illuminationen zeichneten sich durch be- 
sondere Pracht aus; auch in der Suite gab man sich gegenseitig Feste, 
wo vor allem Potemkin besondere Attraktionen, wie tiirkische Tänze- 
rinnen usw., vorführte. 

Schon während des ersten Teils der Reise konnte man das lang- 
same Ansteigen des politishen Elements bis unter, teilweise schon 
über die Oberfläche hinaus verfolgen. Katharina hielt es nicht mehr 
für notwendig, zu schweigen. So erzählt Ligne eine Unterhaltung:“) 
„ . . Leurs Majestés impériales se tataient quelquefois sur les pauvres 
diables de Turcs. On jetait quelques propos en se regardant. Comme 
amateur de la belle antiquité eg d'un peu de nouveautés, je parlais de 
rétablir les Grecs; Catherine parlait de faire renattre des Lycurgues 
et les Solons. Moi je m’étendais sur Alcibiade; et Joseph II., qui était 
plus pour Pavenir que pour le passé, et le positif [que] pour la chimère, 
disait: Que diable faire de Constantinople? On prenait, comme cela, 
bien des iles et des provinces, sans faire semblant de rien.“ Das waren 
Scherze, aber sie zeugen von der Stimmung Katharinas, die Joseph, 
der so kühl und sogar ablehnend — man denke an seinen ersten ab- 
fälligen Bericht aus Cherson, dessen Urteile er dann später revidierte 
— zu dieser Zusammenkunft gekommen war, mitgerissen hatte. 
Man höre u. a. Lignes Beobachtung:“) „Point de réserve entre ces 
deux grands souverains. Ils se contaient les choses les plus intéres- 
santes....“ 

Aber noch war Potemkins größtes Schauspiel nicht vorgeführt. 
Am 31. Mai war man in Bachlisaraj angekommen, am 2. Juni fuhr 
man nach Inkerman gegenüber Sevastopol’ an der berühmten Bucht. 
Während des Diners im Hause Potemkins öffneten sich plötzlich unter 
Musik die Balkontüren, und Katharina sah die weite Bucht von 
Sevastopol’ vor sich, ihre Flotte in Schlachtordnung, auf beiden 


81) Ibid. S. 81. 

82) Arneth, Anh. S. 361. 1. Juni 1787. 
83) Ligne, Lettres. S. 38 f. 

se) Ibid. S. 89. 


cure 47 


Ufern von tatarischen Regimentern, ebenfalls in Kampfstellung, 
flankiert. Während die Admiralsflagge gehißt wurde, donnerten 
alle Kanonen. Zugleich aber hatte Katharina sich erhoben und 
auf das Wohl „du meilleur de ses amis“, Joseph II. getrunken. — 
„Cette scene étoit réellement attendrissante“, schreibt Cobenzl an 
Kaunitz.”) 

Ohne Zweifel hatte der Vorgang Eindruck gemacht, und als jetzt 
die Kaiserin eine Schaluppe, eine genaue Imitation des großherrlichen 
Schiffes in Konstantinopel, bestieg, verstärkte sich die Wirkung noch 
durch die Disziplin und Gewandtheit der Matrosen des Geschwaders, 
das aus 3 Linienschiffen, 12 Fregatten, 20 kleineren Schiffen, 3 Bom- 
bardierbooten, 2 Brandern bestand. Ségur sagt:“) „C’&tait réellement 
un prodige d' activité“, Cobenzl:*) „... Toute l’escadre est munie de 
tout ce qu'il lui faut, pour mettre a la voile au premier ordre .. ., 
und vor allem Joseph II., der auf mehreren Schiffen war, schreibt 
nachdenklich an Lascy:“ ) „ . il faut avouer que ce spectacle était 
aussi beau que possible“, während er zu Nassau bemerkt:“) „En 
verité, il faut ötre venu ici pour croire ce que je vois... c'est in- 
croyable.“ 

Der Hafen hatte seine natürlichen Vorzüge: „Sevastopol est le 
plus beau port que j’aie vu de ma vie... ., schreibt der Kaiser.“) Aber 
Potemkin hatte auch angefangen, eine neue Stadt zu bauen. Es gab 
in Sevastopol’ schon eine beträchtliche Anzahl von Wohngebäuden, 
ein Zeughaus, ein Lazarett, allerdings überfüllt und in schlechtem 
Zustand, und einen Palast für die Kaiserin, den Potemkin „Tempe“ 
nannte, mit einer Terrasse, die der von Versailles glich. Hier hielt 
Katharina feierliche Audienzen ab, u. a. auch eine für ihre adligen 
mohammedanischen Untertanen in der Krim, wo auch Ligne und 
Nassau, die beide Besitzungen erhalten hatten, in der grün-goldenen 
Uniform Tauriens, die Katharina eingeführt hatte, erschienen. 
küßte in Ligne ein Ritter des goldenen Vlieses der russischen Kaiserin 
als Untertan die Hand. 

Die kriegerishe Atmosphäre hatte eigentlich alle ergriffen. Zum 
erstenmal, stellte Nassau fest, blieben Katharina und der Kaiser jetzt 
im Gespräch allein, das sehr eifrig zu sein schien, später wurde Po- 
temkin und ein Ingenieur hinzugezogen. 

Als abends, wie überall eine große Illumination veranstaltet 
wurde (diesmal wurde ein Fort beschossen, das in bengalishen 
Flammen aufging), war die Stimmung sehr gemischt. Ligne, Nassau, 
die Russen begeistert, Ségur nachdenklich; ihn bewegten die 
gleichen Gedanken wie den deutschen Kaiser, er überlegte, daß der 
Großherr nur 36 Stunden entfernt in Konstantinopel saß, daß es eim 


68) Font. 54, 149. 3. Juin 1787. 

86) Ség. II, 66. 

87) Font. 54, 149. 

88) Arneth, Anh. S. 868. 7. Juni 1787. 
89) d’Aragon S. 161 f. 

90) Arneth, Anh. S. 868. 


48 


Leichtes für Katharina war, plötzlich mit ihrer Flotte vor seiner 
Hauptstadt zu erscheinen. Dazu beobachtete er Joseph, der nicht im 
geringsten daran zu denken schien, einen solchen Verbündeten wie 
Rußland verlieren zu wollen. 

Katharina entging dies nicht, auch ihre Gedanken gingen ja in 
eicher Richtung.) Es freute sie wahrscheinlich, denn sie führte die 
eitersten Gespräche. Sie fragte Nassau, ob dies vielleicht dieselben 

Schiffe seien, die vor Očakov gelegen hätten, den Kaiser, ob er nicht alle 
seine verlorenen Besitzungen wiederzuerobern gesonnen sei. Besonders 
bei der Feier des Konstantintages ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. 
Cobenzl berichtet an Kaunitz:“) „.. . Le jour de la föte du Prince 
Costantin qu'on passa à Baktschisarai j ai eu occasion de me con- 
vaincre que 5 a plus que jamais en tête l' execution du 
grand projet. Elle a beaucoup appuyé sur la singularité de célébrer 
cette thee précisément dans l’ancıenne capitale de la Crimée, et tout 
d'un coup elle se reprit en me disant a l’oreille, qu’elle n’avoit pas 
pris sande que le Comte de Ségur étoit vis-a-vis d’Elle. Au reste, 
ajouta S. Mté., il est bon qu'il s’accoutume peu a peu a cette idée. 
Je pris occasion de lui dire que le succés de ces vastes idées dépen- 
droit de la manière dont la chose seroit entamée, et surtout de |’épo- 
que qu'on choisiroit pour cela. L’Impératrice me repliqua qu’à la 
facon d’attendre le bon moment, on perdroit bien des moments.“ 

Auch der Kaiser, dem sie beim Anblick der Flotte gesagt hatte: 
„que ce seroit dommage que tout cela dit pourrir dans le port“, “) 
verstand sie sehr wohl. Er schrieb an Lascy:“) ,,L’Impératrice est 
fort extasi¢ée de tout ce qu'elle voit et du nouveau degré de puissance 
qui en résulte pour l’Empire russe. Le prince Potemkin est dans ce 
moment tout-puissant et fété au-delà de l’imagination. Si je pouvais 
ötre aussi pres de Berlin et que les Prussiens fussent d’aussi grands 
bénéts que le sont les Turcs, je vous avoue que je ne résisterais point 
à la démangeaison de me défaire de pareils voisins.“ 

Mehr als diese einigermaßen verständnisvolle Stellungnahme des 
Kaisers hatte Katharina nicht gewollt. Sie ließ am nächsten Tag die 
Ausbringung der Gesundheit aus dem offiziellen Journal streichen.“) 

Es folgte, bevor sie nach Bachtisaraj zurückkehrte, noch ein Be- 
such auf einem Gute Potemkins, der, nach Joseph,“) „pour nous faire 
voir un bouc et une chévre d’Angora“, die ganze Gesellschaft auf 
schlechten Wegen umherfiihrte. Man kam nachts in Bachlisaraj an. 

Am 26. Mai verließ man endgültig die orientalische Hauptstadt, 
in der sie, nach Ligne, gelernt hatten, wie alle übrigen Mohammed 


1) Sborn. 27, 411. Kath. an Konstantin Pavlovič: “. . . Tyr BCHOMHHIR 
MEI gro An Ilerep6ypra 65110 BepcMm% THCAIH NOATOPH, a XO Iaparpaza 
CYTEH XB0e MopeM%2.“ 

en) Font. 54, 158. 8. Juni 1787. 

es) Ibid. 154. 

66) Arneth, Anh. S. 864. 8. Juni 1787. 

%) Chrapov. 28. Mai. 

6) Arneth, Anh. S. 865. Jos. an Lascy. 7. Juni 1787. 


49 


anzurufen. Während die Kaiserin die Hauptroute innehielt, machten 
Joseph, Ligne, Nassau, einmal auch Ségur, gelegentliche Abstecher. 
Joseph II. besichtigte den alten Hafen Balaklava. Ligne und Nassau 
aber unternahmen einen romantischen Ritt in die Berge an der Küste, 
um ihren Besitz kennen zu lernen. Ligne, dessen Eigentum der alte 
Dianatempel geworden war, in dem Iphigenie gelebt haben sollte, 
verbrachte dort nach seinem Bericht (Lettre V), der fast von Lara oder 
Werther geschrieben sein könnte, die schönsten Stunden seines Lebens. 

Die Kaiserin berührte in rascher Folge Akmetet, Karasubazar und 
Staryj-Krym. Überall vergingen die Tage in Audienzen, Festen, Illu- 
minationen, die oft bis zehn Meilen im Umkreis alles beleuchteten. 

Überall ließ die Kaiserin reiche Geschenke zurück. Besonders in 
Karasubazar, wohin eine neue, ausgezeichnete Straße führte und wo 
Potemkin ein. prachtvolles Haus mit einem englischen Garten besaß, 
die er scheinbar überall angelegt und für die er den größten Teil 
seiner Mittel verbraucht hatte, wurde die Kaiserin noch einmal in der 
Krim gefeiert. Aus Türken, Tataren, Armeniern gemisch:e Reiter- 
schwärme empfingen sie. Sie besichtigte und lobte die Kasernen und 
das Arsenal mit 50 Kanonen. Abends erleuchtete das größte Feuer- 
werk der ganzen Reise den Garten und die Stadt, die Berge waren 
bis 20 Werst hinaus in drei riesigen Feuerkreisen, die in der Mitte den 
Namenszug Katharinas trugen, illuminiert. Potemkin hatte eine 
Kompagnie Petersburger Bombardiers eigens dazu kommen lassen, die 
die Reise zu Fuß machen mußten. 

„Tout est possible dans ce pays-ci“, sagte Joseph II., “) halb 
neidisch. Ein kurzer Besuch in dem zerstörten Kaffa beendete die 
Reise, „. . . Pinfortuné et célèbre Théodosie“, schreibt Ségur,*”) „le 
silence de la destruction y régnait.“ Katharina verweilte nicht lange. 

Störte es sie, daß das Ende ihrer Reise durch ihr neu erworbenes 
Gebiet eine zerstörte Stadt war? 

Die Fahrt durch die Krim hatte nur elf Tage gedauert. Sie 
sollte ursprünglich noch weiter ausgedehnt werden, bis Kerč und 
Taganrog. Warum sic verkürzt wurde, ob Potemkin nicht vor- 
bereitet war, dariiber berichten die Quellen nichts. Um der Krim 
willen war die Reise angetreten worden, und doch hatte gerade sie 
die kürzeste Zeit in Anspruch genommen. Hatte Sevastopol’, die in 
Europa bekannt gewordene Erregung der türkischen Hauptstadt, die 
Nachdenklichkeit Josephs II. der Kaiserin genügt? 

In diesem zweiten Teil, dessen Höhepunkt Sevastopol’ war, war 
das politische Element ganz an die Oberfläche emporgestiegen und 
vorherrschend geworden, alles andere trat zurück. Es hatte sich eng 
mit der Wunder- oder Märchenstimmung verbunden und war fast 
etwas wie ein gefährliches Rauschmittel geworden. 

Das Nachspiel, die Rückfahrt, die längere Zeit in Anspruch 
nahm, näherte sich wieder der gewöhnlichen Reiseart. Schon am 
31. Mai fuhr die Kaiserin durch die Tore von Perekop, die die Auf- 
schrift trugen: Hpeanocaaaa eTpaxr n npunnecna wun: 1787“. 


97) Ség. II, 77. 
50 


Am 2. Juni trennten sich die beiden Monarchen unter Freund- 
schaftsversicherungen in Berislav. Joseph II., der so kühl und ab- 
lehnend gekommen war, zeigte sich als bester Verbiindeter. Es wurde 
sogar ein neuer Besuch des Kaisers in Petersburg verabredet, der aller- 
dings nie zustande kam. 

Die Fahrt wurde über Krementug (15. Juni), Poltava (18. Juni), 
Chafkov (21. Juni) fortgesetzt. In Poltava erwartete ein großes 
Schlußtableau Potemkins die Kaiserin. Kurz vorher schon war sie an 
11 000 Rekruten für das Südheer voriibergefahren; Potemkin hatte 
es sich nicht versagen können, auch sie noch vorzuführen. Jetzt 
krönte das große und prachtvolle Schauspiel der Schlacht Peters des 
Großen gegen Karl XII. den Triumphzug dieser „voyage aussi 
romanesque qu historique“. ) 

Potemkin hatte der Herrscherin also alle ihre Machtmittel vor- 
geführt, um ihr abschließend verheißungsvoll das Bild eines großen 
russischen Sieges vorzuhalten. 

„Alors“, sagte Ségur,”) „son coup de théatre a eu lieu, la toile 
est baissée; il va s'occuper d'autres scènes“ (der Regisseur Potemkin 
nämlich). Vorher aber erhielt er den Lohn seiner kaiserlichen Zu- 
schauerin. Eine Medaille mit seinem Bild wurde geprägt, auf der 
sein Name den Beinamen „Tavriteskij“, der Taurier, trug. 


Am 8. Juli zog Katharina in Moskau ein. Seufzend schreibt 
Ligne: “) „Ce n’était plus Cléopâtre à Alexandrie. D'ailleurs César 
nous avait quittés pour s’en retourner chez lui. Le roman disparut 
et fit place à la triste réalité . . . Les fêtes s’arrétérent. La bienfaisance 
vint remplacer la magnificence, et le lux céda a la nécessité. On 
ne jeta plus l’argent, on le distribua..... Un nuage obscurcit un 
instant le front auguste et serein de Catherine le Grand.“ In 
mehreren Gouvernements waren Hungersnöte ausgebrochen. Die 
Feste brachen jäh ab. Nach diesem Vorspiel war der Vorhang wirk- 
lich gefallen. 

Wohl stiegen wahrscheinlich in Katharina beim Anblick dieser 
trüben inneren Lage augenblickliche Bedenken auf, ihre Pläne jetzt 
zu verwirklichen und den Krieg zu wagen. Aber sie waren kaum 
von Dauer. Man höre nur u. a. den entschlossenen Ton Bezborodkos, 
den mam für genau unterrichtet halten muß. Er schreibt im August 
1787 an Voroncov:') „. . . y Hach BCe TOTOBO H roToBhe, (but BL 
1768 roay. . .“ 

Joseph II., einer der kritischsten Zuschauer der Fahrt, faßt seine 
Eindrücke so zusammen:“) „On nous a menés d’illusions en illusions. 
Ce qui est intérieur ici a de grands défauts, mais l' extérieur a autant 


de réalité que d’éclat.“ 
ve) Ség. II, 85. 
e) Ibid. 
10°) Ligne, Lettres. S. 90. 


161) Sborn. 26, 189 


102) Ség. II, 85. 


51 


So komme ich wieder zu meiner anfänglichen These über den 
Zweck der Reise zurück. Die offizielle Ankündigung bei ihrem Be- 
ginn wie die nach dem Abschluß geprägte pomph Erinnerungs- 
medaille mit der Inschrift: “IIyrs ma IImay lassen auf eine 
Inaugenscheinnahme der im russischen Süden durchgeführten 
europäisch-zivilisatorischen Reformen als den eigentlichen Reisezweck 
schließen. Wo aber ist in Wahrheit davon die Rede? Wo sahen die 
Reisenden das neugeschaffene Europa? Im nördlichen Rußland ent- 
deckte man das alte Moskowien, in den Steppen das Kosakenreich, 
in der Krim die Trümmer des alten orientalischen Reiches. Bei 
keinem von den Teilnehmern finden sich Berichte über wirkliche, 
erfolgreiche Neuerungen und Fortschritte, sei es der Verwaltung, des 
Handels, der Siedlung — fast das Wichtigste für die entvölkerten 
neuen Gebiete — oder der Bodenkultur. Ist Europa in dem kriege- 
rischen Firnis, mit dem Potemkin, der alles andere als ein Europäer 
war, alle Schäden verdeckte? Europäisch war nur die Herrscherin 
selbst, und europäischer Geist lebte nur in dem kleinen Kreis von 
Menschen, der sich um sie gebildet hatte, und das waren fast durch- 
weg — Nichtrussen. Die meisten jener europäischen Reformen 
standen nur auf dem Papier. 

Katharina aber wollte stets nur den Ruhm: „J'aurais tout 
risqué pour chercher la gloire“, sagte sie zu Ségur und ihrer Gesell- 
schaft.“) Da er durch Arbeit im Innern nicht in dem erwünschten 
Maße kam, war diese nun in den Hintergrund geschoben und hatte 
mehr und mehr einer größeren Glanz verheißenden Außenpolitik 
Platz gemacht, und sie fand dafür eine ideale Entschuldigung: „. . On 
peut les (ihre Untertanen) croire heureuses ... Je ne sais pas, si, 
en les civilisant, comme je l'ai voulu je ne les aurais pas gat ae 

In dieser äußeren Politik tat sie folgerichtig einen Schritt na 
dem anderen. So ist auch ihre Siidreise zu betrachten. Sie ist eine 
Manifestation der Politik Katharinas, ein Ausdruck ihrer Macht auf 
dem Höhepunkt ihrer Regierung, eine allgemeine Demonstration 
ihres Ruhmes, und eine spezielle Demonstration gegen die 
Türken, womit sich die Festigung Südrußlands als der militärischen 
Operationsbasis für den demnächstigen großen Krieg gegen das 
Osmanenreich verbindet. 


Literaturverzeichnis. 
Ekaterina II: Pifma k Grimmu. (1774—1796.) Sbornik Russk. Ist. Ob$lest. XXIII. 
1878. 


— Briefe an Ch. J. Prince de Ligne. Sbornik Russk. Ist. Obl&est. XXVII. 
p. 377—380, 8 95 und XLII, p. 847—51. 

Arneth, Alfred Ritter von: Joseph II. und Katharina von Rußland. Ihr Brief- 
wechsel. Wien 1869. 


103) Ség. II, 34. 
108) Ibid. II, 82 f. 


52 


— w w " 2 wr "e — ag 


be 


Joseph II. und Graf Ludwig Cobenal: Ihr Briefwechsel. Bd. 2. 1785—1790. Fontes 
rerum Austriacarum, Koe II. Bd. 54. Vien 1901. 


de SEN Lettres A la Marquise de Coigny. (Edit. par H. Lebasteur.) 


— en et Pensées. (Edit. par M. F. Barrière.) Paris 1890. 
te de: Mémoires, Souvenirs et Anecdotes. (Edit. par Barriere.) Paris 


Dnevnik A. v. Chrapovickago. 1782—98. izd. N. Barsukova. Moskva 1901. 

Weikard, Adam: Taurische Reise der Kaiserin Katharina II. Coblenz 1799. (Ano- 
nym erschienen.) 

D’Aragon: Un Paladin du XVIIIe siècle. Le Prince Charles de Nassau-Siegen. 
D’après sa Correspondence inédite de 1784—1799. Paris 1898. 

Blum, Karl Ludwig: Ein russischer Staatsmann. = Grafen J. J. v. Sievers Denk- 
würdigkeiten zur Geschichte Rußlands, Bd. II. Leipzig und Heidelberg 1857. 

Brückner, Alexander: Katharina II. Berlin 1888. 

Thirheim, Andreas Graf: Feldmarschall Fiirst de Ligne. Die letzte Blume der 
Vallonen. Wien 1877. 


Andreae, Friedrich: prince de Lig zu den Briefen der Kaiserin Katharina von Ruß- 
land an Ch. J. Prince de Ligne, in: Beiträge zur russ. Geschichte für Th. Schie- 


mann. Berlin 1 
Bil’basov, V. A.: 85 de Lin v. Rossii. Russk. Starina 78. 1892, p. 275—812, 
541—578. 


Brückner, Alexander: Die Reise Katharinas II. nach Südrußland im Jahr 1787. 
Russische Revue 1878, II, p. 1—88, 97—182. 
— SE Ekateriny II e Krym. Ist. Vestnik XXI, 1886. Ijul, Avgust, 
t 
Esipov, G. V.: Putelestvie imperatricy Ekateriny II v juknuju Rossiju v 1787 g. — 
Aë Starina: XXXI (1890), XXXII—XXXV (1891), XXXVI—XXXVII 
Ikonnikov, V. S.: Kiev v 1654—1855 gg. Istoriteskij oëerk. Kiev 1904. 


53 


NEUE EINBLICKE IN LEBEN UND WERKE 
ZIESZKOWSKIS 
Aus unveröffentlichtem Nachlaß. 
Von Walter Kühne. 


I. 
Von den deutschen philosophischen Werken Cieszkowskis. 


Im Zeitalter des deutschen Idealismus war Graf August 
Cieszkowski bekannt durch seine deutschen Schriften „Prolegomena 
zur Historiosophie“ (Berlin 1838) und „Gott und Palingenesie 
(Berlin 1842) sowie durch die Begründung der Philosophischen Gesell- 
schaft in Berlin in Gemeinschaft mit dem ihm befreundeten Professor 
Carl Ludwig Michelet von der Universität Berlin. 

Man konnte aus diesen Schriften Cieszkowskis erkennen, wie sein 
Ringen danach ging, aus dem Geiste der Philosophie Hegels heraus 
mit Hilfe ihrer eigenen Methode die Intuition als Organ für die 
realen geistigen Grundlagen der Innenwelt und der Außenwelt zu 
entwickeln. Nach seiner Auffassung blieben die Hegelianer in der 
Sphäre der allgemeinen Gedanken stecken, drangen aber nicht zu dem 
wahrhaft Wesenhaften, wie es z. B. das reale geistige Ich des Einzel- 
menschen ist, vor. Die Kraft der Intuition beruhte nach ihm auf 
einer Ausbildung des Willens aus dem reinen Denken heraus, das 
durch die Philosophie Hegels auf die Höhe seiner Entwicklung ge- 
bracht worden war. 

Cieszkowski gliederte die Entwicklung der Weltgeschichte in drei 
Perioden: die des Altertums bis auf Christus, die wesentlich das 
menschliche Fühlen und die aus ihm hervorgehende Sphäre der Kunst 
ausgebildet habe, die Epoche der Moderne, die das Element des 
Denkens und die Sphäre der Philosophie entwickelt habe, und die Zu- 
kunft der Menschheit, in der die Willenssphäre, das Tun in den ein- 
zelnen Menschen und der Gesellschaft einen eigenen phänomeno- 
logischen Prozeß durchmachen werden und die wahrhaften sozialen 
Institutionen geschaffen würden. 

Im dritten, 1852 erschienenen, Gespräch seiner philosophischen 
Trilogie: „Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes“, das 
unter dem Titel „Die Zukunft der Menschheit und die Unsterblich- 
keit der Seele“ erschien, läßt Michelet Cieszkowski Anschauungen 
aussprechen, die eine Weiterbildung seiner Lehre von der Intuition 


54 


und dem realen Ich zeigen: Cieszkowski schrieb diesem Ich wieder- 
holte Erdenleben zu und setzte durch seine Ideen über die Palin- 
genesie eine Ideenrichtung fort, die Lessing in seiner „Erziehung des 
Menschengeschlechtes‘“ begonnen hatte, wie Cieszkowski völlig be- 
wußt war. 

Michelet berichtet zwar in seinem Werke „Wahrheit aus meinem 
Leben“ vom Jahre 1884, daß Cieszkowski mit jener Darlegung seiner 
Ichlehre in dem Werke von 1852 sehr einverstanden gewesen sei, 
einige Jahrzehnte später aber war es in polnischen Kreisen, die für 
Cieszkowski ein Interesse bewahrt hatten, in gewissem Sinne frag- 
lich geworden, ob Michelets Darstellungen auch authentisch gewesen 
sei. Für denjenigen, der sich mit der inneren Gedankenrichtung, der 
Denkart, dem tätigen Denken Cieszkowskis in seinen Werken 
„Prolegomena zur Historiosophie“ und „Gott und Palingenesie“ zu 
verbinden weiß, kann es allerdings keinem Zweifel unterliegen, daß 
die Cieszkowski von Prof. Michelet in den Mund gelegten Auße- 
rungen über das reale Ich und die wiederholten Erdenleben ganz und 
gar in der Konsequenz der beiden Werke von 1838 und 1842 lagen. 

Alle Bedenken müssen aber vollends verschwinden, da wir jetzt 
einen Einblick in den jahrzehntelang verschollenen Briefwechsel 
zwischen Cieszkowski und Michelet haben. Ich fand nämlich bei 
meinen Arbeiten im Nachlasse Cieszkowskis Abschriften von 18 seiner 
Briefe an Michelet und 26 Originalbriefe Michelets an Cieszkowski, 
aus denen u. a. hervorgeht, daß Michelet in höchstem Alter mit 
Cieszkowski über die Herausgabe ihres ausgewählten Briefwechsels 
verhandelte. 

In seinem Briefe vom 13. Dezember 1850 nun legt Michelet dar, 
wieweit er ın der Ausarbeitung der literarischen Darstellung der Ideen 
Cieszkowskis gelangt sei, welche Methode er dabei verfolgt habe und 
welche Stellung er in dem Gespräch dem Freunde eingeräumt habe. 
Er bittet ihn dann, ihm einige Notizen über die Palingenesie, die 
Seelenwanderung oder vielmehr die Verwandlung des Körpers, über 
den Chor der Seligen usw. zur Verfügung zu stellen, damit er mit 
größerer Sachkenntnis diesen Ideen antworten könne 

Die Antwort Cieszkowskis hierauf vom 28. Dezember 1850 ent- 
hält im wesentlichen eine Entschuldigung für die verspätete Beant- 
wortung und dafür, daß er sich nicht ausführlich auf die Fragen 
Michelets äußern könne, weil er sich jetzt seinem bei ihm weilenden 
Vater widmen müsse, auch habe er sich durch seine mannigfaltigen 
anderen Beschäftigungen in den letzten Jahren fühlbar von dem 
spekulativen Boden entfernt. Zwar bleibe er durchaus bei seiner 
Grundüberzeugung auf diesem Felde stehen, aber er müsse doch 
manche Notiz erst wieder durchlesen, manche Studien wieder auf- 
nehmen, um sich in den Gegenstand wieder einzudenken, bevor er 
die gewünschten genauen Ausführungen übermitteln könne. „Noch 
dazu“, so schreibt er (ich übersetze seine Darlegungen hier wörtlich 
aus dem französischen Text), „würde ich Gefahr laufen, Ihnen Einzel- 
angaben zu machen, die Sie schon kennen — sei es direkt aus meinen 


55 


früheren Schriften oder unseren verschiedenen Unterhaltungen, oder 
sei es indirekt durch Ihre Schlußfolgerungen aus meinen Gedanken 
— oder im Gegenteil das auszulassen, was Sie mehr interessieren 
würde. Wenn wir das alles wohl erwägen, so ist also das Beste, was 
wir tun können, daß wir die Angelegenheit bis zu meiner sehr nahe- 
liegenden Ankunft in Berlin verschieben. Und wenn Sie dann die 
Güte hätten, mir die Argumente mitzuteilen, die Sie mir in den 
Mund gelegt haben und die sicherlich viel durch einen solchen Inter- 
preten wie Sie gewonnen haben werden, so werde ich mich beeilen, 
Ihnen alle mir möglichen Aufschlüsse zu geben.“ 

Bei der Durchsicht der Briefe Cieszkowskis für die geplante 
Herausgabe hat Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts Michelet 
die folgende Randbemerkung gemacht: Ich glaube, daß sich dieses be- 
zieht auf mein drittes Gespräch von 1852. 

Also noch im Jahre 1851 hat Cieszkowski die gewünschten 
näheren Mitteilungen über seine Ideen an Michelet gegeben, dieser 
hat sie in der Cieszkowski in den Mund gelegten Rede verwertet, und 
zwar nach seiner gewissenhaften Art, die uns in seinen Briefen und 
Schriften deutlich entgegentreten, so daß Cieszkowski völlig damit 
einverstanden sein konnte. 

Es will sogar scheinen, als habe Cieszkowski im Jahre 1851 selber 
seine Anschauungen niedergeschrieben, zum mindesten ist eine Ein- 
leitung für einen Beitrag zu den philosophischen Gesprächen Michelets 
noch erhalten, aus der ich eine sehr bemerkenswerte Stelle hier ab- 
drucken möchte, die von Michelet nicht verwendet worden ist: 

„Meine hochgeehrten Herren! Lassen Sie mich zuerst eine Bitte 
an Sie richten — ich weiß, an wen ich sie richte und darum weiß ich 
zum Voraus, daß sie genehmigt wird. Ich will frei sprechen — ich 
will frei ohne Rückhalt meine Überzeugung über die hier ver- 
nommenen Ansichten ausdrücken. 

Ich bin der jüngste unter Ihnen. Sie sind fast alle durch Wort 
oder Schrift meine Lehrer gewesen, ich bin mit einem warmen Ge- 
fühl von dankbarer Pietät gegen die meisten von Ihnen erfüllt, und 
doch wird mich dieses Verhältnis keineswegs verhindern, meine volle 
Überzeugung Ihnen gegenüber auszusprechen — amicus Plato sed 
magis amica veritas. Beschuldigen Sie mich nicht eines jugendlichen 
Übermutes. Mich zwingt meine klare und feste Überzeugung, mich 
zwingt die Begeisterung der Wahrheit. Dürfte ich sie nicht in vollem 
Maße und klar aussprechen, so verzichte ich augenblicklich auf das 
1 denn kapitulieren und sich akkomodieren ist meine Sache 
nicht.“ 

Deutlich und offen drückt hier Cieszkowski seine innige Ver- 
bundenheit mit den Hegelianern aus, dabei jedoch die Freiheit seiner 
eigenen Meinung ganz und gar betonend. Diese Haltung war lebens- 
länglich für ihn charakteristisch. 

Alles in allem ist jetzt das deutsche philosophische Gesamtwerk 
Cieszkowskis in den drei Veröffentlichungen „Prolegomena zur 
Historiosophie“ von 1838, „Gott und Palingenesie“ von 1842 und 


56 


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Darlegungen in Michelets Werk „Die Zukunft der Menschheit und die 
„Unsterblichkeit der Seele“ als eine tatsächliche Einheit gesichert. 


II. 


Die Entstehung von Cieszkowskis erster Schrift „Prologomena zur 
Historiosophie“. 

Ein zweiter wichtiger Punkt im Lebenswerke Cieszkowskis, der 
Zweifeln ausgesetzt scin konnte, war der Zeitpunkt der Abfassung 
seiner ersten deutschen Schrift „Prolegomena zur Historiosophie“, 
die 1838 in Berlin erschien. 

Cieszkowski hatte nämlich seinem Sohne und literarischen Erben 
kurz vor seinem Tode Mitteilungen gemacht, die ich hier wieder- 
geben möchte: 

Nach der beendeten Niederschrift der „Prolegomena“ hatte 
er diese seinem Vater zu lesen gegeben. Der habe ıhr einen sehr 
hohen Wert beigemessen und beschlossen, in einer besonderen Messe 
dem Himmel zu danken, der seinen Sohn mit einem solchen Werke 
und ihn, den Vater, mit einem solchen Sohne begnadet habe. Der 
Vater sei daher mit ihm zur Kirche gefahren, um eine Messe lesen 
zu lassen. Während nun sein Vater dem Gottesdienste hingegeben 
gewesen sei, habe er für sich das Vater-Unser rezitiert — und dabei 
sei ihm wie durchsichtig geworden und sei ihm das aufgegangen, was 
auszuarbeiten er sein weiteres Leben bestrebt gewesen sei: sein Werk 
das „Vater-Unser“ (der „Ojcze-Nasz“). 

Auf Grund dieser Mitteilungen blieb es immer noch ungewiß, 
wann die Niederschrift der „Prolegomena“ beendet wurde und wann 
das für Cieszkowskis Lebenswerk entscheidende Erlebnis, der Aus- 
gangspunkt seines polnischen Hauptwerkes also, eingetreten war. 

Die Prolegomena selber führen allerdings Werke an, die 1837 
erschienen sind, wie Hegels Vorlesungen über Philosophie der Ge- 
schichte, die Ed. Gans herausgegeben hat (auf S. 48, 49 und 121), und 
Karl Ludwig Michelets „Geschichte der letzten Systeme der Philo- 
sophie von Kant bis Hegel“ I. Bd. auf S. 103. Aber es könnte immer 
noch die Behauptung Platz finden, daß die Prolegomena bedeutend 
früher verfaßt wären — wie ich denn tatsächlich auch in Polen selbst 
gehört habe —. Es könnte die Annahme bestehen, daß das Hinein- 
arbeiten dieser Anführungen kurz vor der Drucklegung des an sich 
älteren Manuskriptes geschehen sei, ohne den Text weitgehend zu 
ändern, da Hegels Lehren ja auch bekannt gewesen wären, bevor 
seine Vorlesungen von seinen Schülern herausgegeben worden seien. 

Über diese Fragen habe ich manche Unterhaltungen mit polni- 
schen Gelehrten gehabt, für die Cieszkowskis Leben und Werk von 
entscheidender Bedeutung für ihr eigenes Leben geworden sind. 

Eine genauere Datierung und damit ein genauerer Einblick in 
Cieszkowskis innere Entwicklung ist mir jetzt jedoch möglich ge- 
worden durch eine Anzahl von Funden in seinem Nachlasse, die mir 
durch wiederholte schwierige Nachforschungen geglückt sind. 


57 


Es kommen da zunächst zwei Briefe Cieszkowskis aus dem Jahre 
1836 in Betracht, die seine damalige geistige Arbeit und seine literari- 
schen Pläne ganz deutlich erkennen lassen: er rang mit einer kriti- 
schen Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels, die er aus 
ihren eigenen Voraussetzungen und ihrer eigenen Methode da fort- 
führen wollte, wo Hegel nach seiner Meinung nicht ganz auf der 
Höhe seiner sonstigen Werke und hauptsächlich seiner Logik sei: näm- 
in der Naturphilosophie und vor allem der Philosophie des 

eistes. 

Er plane unter anderem, so schrieb er selbst am 30. 6. 1836 an 
Michelet, eine „Dialektik der Geschichte“, die Hegels Philosophie der 
Geschichte fortführen und die Geschichtsphilosophie auf neue Grund- 
lagen stellen wolle. Er müsse dabei natürlich die Werke seiner Vor- 
gänger und besonders die Hegels zur Hand haben und werde wohl 
auf die Herausgabe (der Hegelschen Philosophie der Geschichte) durch 
Ed. Gans warten 

In einem weiteren Briefe vom 10. Oktober 1836 aus Warschau 
teilt er Michelet mit, daß er sich noch nicht ganz ernstlich mit dem 
Werke beschäftige, von dem er ihm geschrieben habe. Er beschränke 
sich auf kleine Niederschriften, da er das Ganze möglichst in einem 
Zuge verfassen möchte. Die Art, wie Michelet seinen Plan einer 
Dialektik der Geschichte interpretiert habe, werde ihn zur Wahl 
eines anderen Titels fiir sein beabsichtigtes Werk veranlassen... Zwar 
könne er nicht ausführlich seinen Plan entwickeln, weil das den 
Rahmen eines Briefes iiberschreiten werde, aber immerhin wolle er 
die Ausgangspunkte ganz kurz behandeln, weil Michelet dann schon 
weiter denken werde. 

Im ersten Teile gedenke er das System der Prinzipien zu be- 
handeln, auf die sich die einzelnen geschichtlichen Systeme stützen, 
im zweiten Teile die Verwirklichung der Prinzipien in der Zeit, den 
Faden der Ereignisse und den Gang der Geschichte in seiner organi- 
schen Totalität und schließlich im dritten Teile die höhere Einheit 
beider: die Früchte des Baumes der Geschichte, der in dem zweiten 
Teile sich entfaltet habe und dessen Keim in dem ersten Teile gelegt 
worden sei... Nach dem Wie werde er das Was und dann das 
Warum der Geschichte darlegen. — 

‚In diesem Programm der Gliederung seines geplanten Werkes 
haben wir die Kapiteleinteilung der „Prolegomena zur Historio- 
sophie“ von 1838 vor uns: nur hat der Verfasser im gedruckten Werk 
mit dem zweiten Teile seines urspriinglichen Planes begonnen, dann 
den ersten Teil folgen lassen und mit dem dritten auch tatsächlich 
seine Prolegomena beschlossen. 

Auf diese Mitteilungen hin muß Michelet seinen jungen polni- 
schen Freund recht aufgemuntert haben, wie aus einem sehr langen 
Briefe Cieszkowskis an Michelet vom 18. März 1837 hervorgeht. 
Dieser Brief ist zwar zum größten Teil bereits im Jahre 1892 in 
französischer Sprache veröffentlicht worden — und zwar in einer 
Sammlung von 8 Abhandlungen, die Karl Ludwig Michelet zu seinem 


58 


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90. Geburtstage dargebracht wurden, aber diese Veröffentlichung ist 
anz verschollen. Nicht einmal dem Sohne Cieszkowskis war sie 
kannt, welcher das nachgelassene Hauptwerk seines Vaters heraus- 
gegeben und ins Französische, die deutschen und französischen Werke 
seines Vaters ins Polnische übertragen hat und wohl mit allen Ver- 
ehrern der Werke seines Vaters noch heute in Verbindung steht. 


Cieszkowski schreibt in jenem Briefe, daß er noch nicht endgültig 
an seinem Werke arbeite, aber doch von Zeit zu Zeit einige Blätter 
seinem Stoß vorbereitender Materialien zufüge. 


Es ist mir auch gelungen, den größten Teil dieser Notizen auf 
Zetteln, die in ihrer Gesamtheit etwa als Cieszkowskis wissenschaft- 
liches Tagebuch von 1832—1838 und später bezeichnet werden 
können, aufzufinden. Einige Notizen behandeln den Aufbau der ge- 
planten Schrift und stimmen überein mit den neuen Erklärungen über 
sein Werk, die er in seinem Briefe von 1837 dem befreundeten 
Professor gibt und in denen er beginnt mit der Dialektik der Ge- 
schichte, die Kategorien der Geschichte anschließt und mit dem 
Organismus der Geschichte endigt. Schon deutlich erhellt aus dem 
Briefe wie aus den Notizen, daß er auf dem Wege ist, die Geschichts- 
philosophie Hegels im Sinne der Methode Hegels selber fortzuführen 
oder auch positiv zu überwinden. Und man muß die Sicherheit be- 
wundern, mit der er auf den phänomenologischen Prozeß der Willens- 
entfaltung als dem Prozeß der Entfaltung des bewußten Denkens 
folgend hinweist. Die Formulierungen der Notizen 


a) Humanität. Ästhetische Bildung. Piekne [Das Schone], 
b) Selbstbewußtsein. Theorie. Prawdziwe [Das Wahre], 
c) Selbsträtigkeit. Spontaneität. Dobre [Das Gute] 


enthalten schon fast wörtlich diejenigen der Prolegomena über die 
drei Sphären des geschichtlichen Lebens. 


Der Brief an Michelet zeigt vor allem, wie die innere Gliederung 
des Werkes in Cieszkowski heranreift, die Notizen weisen mehr auf 
die Höhe seiner Spekulation, seines tätigen Denkens und vor allem 
auf die Intuition hin, die in ihm die Keime seiner eigenen Welt- 
anschauung hat aufleuchten lassen. In dieses innere Tun des Geistes 
bei Cieszkowski Einblick zu gewinnen, ist geschichtlich von großer 
Bedeutung, weil wir den Keim seiner eigenen Philosophie und den 
mé polnischen Hegelianismus dabei geradezu greifbar nahe vor uns 

aben. 

Es kommt ihm darauf an, über die Sphäre der allgemeinen 
Gedanken Hegels in den Geist als Selbst, als lebendige Indivi- 
dualität einzudringen. Er will das schöpferishe „Hervor- 
bringen“ aus sich selbst, keineswegs aber das Herausgehen oder sogar 
das Herausbleiben außer sich, oder das Außersich-seyn, wie er selbst 
in einer seiner Notizen schreibt. Die Stelle enthält im Keime die 
Ablehnung solcher Tendenzen, wie sie später sein Zeitgenosse Adım 
Mickiewicz, der einen außerordentlichen Einfluß auf das polnische 
Geistesleben ausgeübt hat, mit dem Lob der Exaltation im Sinne des 


59 


Gefühlsüberschwanges als der geistigen Grundkraft des Polentums 
propagierte. Cieszkowski erstrebte von vorhinein die Erhöhung der 
Ichkräfte, die Eroberung des tätigen Geistes, das Selbsttun, während 
in Mickiewicz’ Leben, Werken und Lehre die Exaltation zur Selbst- 
entfremdung, zum Ichverlust und zur Besessenheit führte. 


Auf einem weiteren Notizblatt findet sich eine besonders ſeb- 
hafte Auseinandersetzung mit Hegels Stellung zum Praktischen, zum 
Tun. Er tadelt, daß Hegel es eine Seite des Theoretischen, als 
einen Filialausfluß des Denkens sozusagen betrachtet, während es doch 
eine Stufe des Geistes für sich, ganz abgesondert und sogar die höchste 
sei. — — Cieszkowskis Auffassung geht aus seinem Gesichtspunkt 
hervor, daß die eigentliche Willensentfaltung bisher noch gar nicht 
eingetreten sei, daß die Denkentfaltung die Menschen gleichsam be- 
herrscht habe, und es ihnen schwer falle, sich von der Eigenart des 
Willens eine Idee zu machen: In seiner Reinheit konnte er erst 
hervortreten, nachdem das denkende Bewußtsein auf die Höhe seiner 
eigenen Entwicklung gelangt war, wozu Hegel entscheidend und so- 
zusagen abschließend gewirkt habe. 


Man kann immer wieder erkennen, daß Cieszkowski eine 
tätige Erkenntnis anstrebt und gleichsam vor Augen hat, welche 
wirklih aus dem Willen des ich, aus dem Selbst, hervorgeht, 
schöpferisch ist und nicht bloß vorhandene Elemente 
verbindet. Die Philosophie Hegels bleibt dabei stehen, die von außen 
gegebene Welt der Natur und die von innen gegebene Welt des 
Gedanken zu verbinden; er möchte dagegen eine Erkenntnisweise, die 
sich Neues erobert, für die die Vereinigung des objektiven und des 
subjektiven Elementes im Sinne Hegels SE de ein Ausgangspunkt, 
nicht der Endpunkt, ist. In dieser Richtung liegt eine Notizstelle: 


„Wenn nach Hegel alles geistige Thun nur diesen Zweck hat, sich 
der Vereinigung des Sub- und Objektiven bewußt zu werden, so 
könnten wir gerade umgekehrt mit demselben Rechte behaupten, 
daß alles Bewußtseyn nur diesen Zweck hat, diese Vereinigung aus 
sich thätig zu realisieren. (Ph. d. G. S. 38.) 


Diese Notiz ist in all ihren Wendungen in die Ausführungen der 
Prolegomena auf S. 120 und 121 übergegangen. Für unsere Unter- 
suchung ist der Hinweis der Notiz auf Hegels Vorlesungen über die 
Philosophie der Geschichte wichtig, der übrigens auch in die Prole- 
gomena übernommen worden ist, da eben diese Vorlesungen in der 
Redaktion von Ed. Gans erst 1837 erschienen. Cieszkowski wartete 
laut seinem Briefe an Michelet vom 30. Juni 1836 auf dieses Werk; 
nach seinem Erscheinen 1837 wurde es sicher bald von ihm gelesen: 
die Notiz ist dadurch einwandfrei datiert. 

Es ist hiernach gar keine Frage mehr, daß sich Cieszkowski in 
den Jahren 1836—1838 mit den kommenden „Prolegomena zur 
Historiosophie“ beschäftigte; sie konnten noch nicht fertig sein und 
er konnte noch nicht direkt an den Anfängen des „Ojcze-Nasz“ 
arbeiten, wenn man seine Äußerung zu seinem Sohne berücksichtigt. 


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Da Cieszkowski das Grunderlebnis in der Kirche beim 
Rezitieren des „Vater-Unser“ in die Formen der Philosophie Hegels 
eingekleidet hat, die eben damals die entwickelteste Terminologie 
bot, so ist allerdings eine wesentliche Vorarbeit für den „Ojcze-Nasz“ 
mit der Arbeit an den ersten Entwürfen und der eigentlichen Nieder- 
schrift der Prolegomena von ihm geleistet worden. Ja, man wird 
sagen können: der schöpferische Funke, der in sein tätiges Denken 
fill und ihn zum Weiterdenken der Philosophie Hegels führte, ist 
schon eine Vorstufe des als ein so entscheidend empfundenen Er- 
lebnisses in der Kirche, der „mystisch tätigen Intuition“, um in 
Cieszkowskis späterer Sprache zu reden. 


Außer den Briefen vom Jahre 1836 und den Notizen 
konnte ich noch eine un veröffentlichte Vorrede zu den 
Prole gomenis auffinden, die meine bisherigen Darlegungen be- 
kräfti Sie ist in der Handschrift eines seiner Berliner Studien- 
freunde, Carl Lehmanns, erhalten, der Jahre lang sein Sekretär und 
Jahrzehnte lang sein getreuer Helfer war, wie aus einem ziemlich um- 
fangreichen ebenfalls von mir aufgefundenen Briefwechsel zwischen 
beiden Männern und noch anderen Dokumenten des Nachlasses 
hervorgeht. 


Der Text dieses wichtigen Dokumentes, das zwar nicht datiert 
ist, sich jedoch selber datiert, lautet folgendermaßen: 


Vorrede. 


Lange vor dem Erscheinen der Hegelschen Vorlesungen über die Philosophie 
der Geschichte waren die Hauptresultate derselben ziemlich bekannt geworden, 
teils durch Hegels wichtige Andeutungen in verschiedenen seiner Werke, teils durch 
seine und seiner Schüler öffentliche Vorträge. Jedoch hat man, um diesem Gegen- 
stande näherzutreten und entweder durch Entgegentretung die Entwick- 
lungslinie dieser Wissenschaft selbst fortzubilden und gleichsam zu verlängern 
oder durch Hinzutritt den Standpunkt selbst durch speziellere Ausführungen 
auszubilden und gleichsam zu verbreiten, die Herausgabe des viel- 
versprochenen und vielversprechenden Werkes sehnlichst abgewartet, da man ver- 
langte, auf dieses sich erst bestimmt stützen und den Standpunkt in seiner totalen 
Ausführung auffassen zu können. Das Werk ist erschienen, der neue Ausgangs- 
punkt ist gewonnen. 


Seit dem Augenblicke, wo ich mich mit der Hegelschen Philosophie der Ge- 
schichte vertraut machte, fing ich an, mit der Anerkennung ihrer so wichtigen 
Schätze, auch zugleich auch ihre Mängel einzusehen und das nicht bloß innerhalb 
des Hegelschen Systems selbst, sondern auch außerhalb desselben, d. h. einerseits 
fand ich dessen Philosophie der Geschichte nicht ganz dem Standpunkt seiner 
Philosophie überhaupt adaequat ausgebildet und zwar sowohl der Form und 
Me als auch dem Inhalte nach, — andrerseits aber fand ich umgekehrt seine 
Philosophie selbst noch nicht zu dem absoluten Standpunkte der Weltgeschichte 
adaequat ausgebildet, also ein gegenseitiger Mangel und ein gegenseitiges Miß- 
verständnis machte sich mir fühlbar. Der Entfernung des ersten Mangels, nach 
seinen beiden wieder entgegengesetzten Seiten, sind die zwei ersten Kapitel dieser 
Schrift bestimmt, sie sind also nur eine Ausbildung des Hegelschen Stand- 
reg — von der Abhilfe des anderweitigen Mangels aber handelt das dritte 

apital, das insofern eine Fortbildung dieses Standpunktes ausmacht. 


Vor einiger Zeit fing ich an, Materialien an der aus diesen Betrachtungen 
hervorgehenden Historiosophie zu sammeln und das System derselben zu ent- 
werfen. Aus subjektiven und objektiven Gründen aber ging ich nicht rasch zu 


61 


Werke und jetzt noch bin ich ziemlich von deren gänzlicher Ausführung entfernt. 
Ein großer Teil der objektiven Gründe, der auf den Schwierigkeiten beruht, welche 
die neuen Forderungen der Historiosophie veranlassen, wird aus diesen 
Blättern selbst einleuchten. 

Nach dem Erscheinen des Hegelschen Werkes aber habe ich einen Stütz- 

kt für diese neuen Forderungen: gewonnen, und darum finde ich mich durch 
ieselben objektiven Schwierigkeitsgründe, die mich von der sofortigen Ausführung 
meines Werkes abhielten, jetzt umgekehrt veranlaßt, diese Prolegomena erscheinen 
zu lassen, einerseits, um in das künftige neue System einzuführen, anderer- 
seits (im Text ist hier eine Lücke!) 

In diesen Prolegomenis führe ich nichts aus, ich stelle bloß auf. Sie sind 
auch teils durch Nachdenken über die Historiosophie, teils durch Fragmente aus 
deren begonnenem Baue entstanden. Dieser Bestandteil ist aber der kleinste, denn 
sie sollen nicht das System, sondern nur dessen Ansicht darstellen; dasjenige also 
auch, was sich aus ihm in ihr befindet, muß nachher im Werke mit ganz anderer 
Bestimmtheit auftreten als es hier perspektivisch geschehen kann. 


III. 
Cieszkowskis Freundschaft mit Michelet. 


Wenn auch Cieszkowski in seinen Schriften keinen Zweifel 
darüber läßt, daß er dem deutschen Idealismus und der Philosophie 
Hegels die Methode der Darstellung und der Gedankenform ver- 
dankt, in die er seine Geistesblitze eingekleidet hat, so erscheint doch 
lediglich von seinen Werken aus sein Zusammenhang mit dem deut- 
schen Idealismus als ein wesentlich ideeller. Aus Michelets bereits 
herangezogener Schrift von 1852, in der Cieszkowski redend eingeführt 
wird, ließ sich wohl seine Zugehörigkeit zu Michelets Kreis, seine 
Freundschaft mit Michelet erkennen — aber sie schien doch wesentlich 
philosophish. Daß diese Freundschaft aber eine innigere war, geht 
aus den Äußerungen Michelets in seinem Werke „Wahrheit aus 
meinem Leben“ von 1884 hervor —, jedoch dieses Werk ist ja auch 
so gut wie verschollen. 

Michelet schreibt darin auf Seite 522: 


„Nicht ohne Absicht habe ich mir vom Grafen Cieszkowski zuletzt zu 
sprechen vorbehalten, wenn ich ihn auch in die erste Reihe meiner Freundschaften 
stelle. Während des halben Jahrhunderts, in dem wir uns kennen, seit der ersten 
Vorlesung, die er bei mir hörte, hat unser Verhältnis keinen Augenblick auch nur 
die leiseste Trübung erfahren, ungeachtet unserer philosophischen eren Ei 
in mancher Hinsicht abweichend: auch bei der Verschiedenheit unserer Volks- 
tümlichkeiten und ihrer Standpunkte, unsere staatlichen und weltbürgerlichen An- 
schauungen sich verschiedentlich mögen gestaltet haben. Nicht nur die Philo- 
1 Gesellschaft selbst, auch ihr Organ, den Gedanken, half er mir später 
gründen.“ 


Wie beide Männer zueinander standen, zeigt in schöner Weise 
ihr von mir aufgefundener Briefwechsel. Schon der erste Brief 
Cieszkowskis an Michelet, auf den ich bereits oben eingegangen bin, 
behandelt nicht nur Probleme, sondern Leben und Streben beider 
Männer im weitesten Umfange. So berichtet Cieszkowski von seinen 
vielen Beschäftigungen, seiner Tageseinteilung, seinen Plänen für das 
ihm von seinem Vater anvertraute Gut Surhöw bei Lublin, wo er 
eine Fabrik für Zucker aus Runkelrüben gründen und die Kultur der 
Maulbeerbäume einführen wolle. 


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Im zweiten Briefe scherzt er mit Michelet tiber die Be- 
stimmung von Michelets erstem Sprößling, schreibt ihm über seine 
Ideen von der Ehe, empfiehlt ihm für die gemeinsame Lektüre mit 
seiner Frau George Sand, läd ihn ein, einen Teil seiner Ferien in 
Polen bei ihm zuzubringen. . . 

Im dritten Briefe erzählt er unter anderem vom Karneval 
in Warschau, von seinem Plane, durch pseudohistorishe Romane 
seine historiosophischen Ideen für das große Publikum zu verdeut- 
lichen, beklagt er, daß er die Unterhaltungen mit Michelet entbehre 
und tee seinen Brief ungebührlich ausgedehnt habe, um 
doch einen schwachen Ersatz für sie zu haben. Und bittet er schließ- 
lich Michelet, ihm ja Nachrichten über sein und seiner Familie Leben 
zukommen zu lassen. 

Und auch Michelet geht in seiner Antwort vom 6. Aprıl 1838 
nicht nur auf die Probleme ein, die den jungen Philosophen be- 
schäftigen, sondern berichtet ihm unter anderen, daß er bei seiner Frau 
mit den geäußerten Ideen über die Ehe etwas in Ungnade gefallen sei 
und vieles werde tun müssen, um wieder in Gnaden angenommen 
werden zu können 


Im November desselben Jahres beantwortete Michelet zwei bis- 
her nicht wieder aufgefundene Briefe seines Freundes mit einem Be- 
richte von seiner Mitarbeit bei der Korrektur der „Prolegomena zur 
Historiosophie“, seiner und seiner Familie Aufenthalt im Seebade und 
Ge den neuesten Vorgängen in der Wissenschaft der Natur und des 

istes. 

Cieszkowski war damals in Paris. Auch hier pflegte er seine 
freundschaftlichen Beziehungen zu dem Berliner Professor. Für ihn 
besuchte er z. B. mit Michelet bekannte Philosophen wie Cousin, 
unterhandelte er mit Verlegern, hielt er Rücksprachen mit Ver- 
tretern der Akademie. So wurde sein Brief vom 2. Februar 1839 
geradezu ein Bericht über seinen Pariser Aufenthalt. 


Der Briefwechsel beruht durchaus auf menschlich-freundschaft- 
licher Grundlage. Leider sind viele Briefe verloren gegangen, auf die 
in den erhaltenen Antworten angespielt wird: der Austausch von 
Mensch zu Mensch, der sich in Berlin vollzog, wo sich die 
Freunde besuchten, wurde im Briefwechsel fortgeführt. 

Im Jahre 1843 gründeten beide die Philosophische Gesellschaft 
zu Berlin und das verband sie noch weiter: diese Gesellschaft war 
zwar ihr Lieblings-, aber auch ihr Sorgenkind, ging es doch in thr 
nicht um Ideen allein, sondern um 3 von 
Menschen mit verschiedenen Ideenrichtungen trotz des gemein- 
samen Ausgangspunktes in der Philosophie Hegels. 

Dieser Briefwechsel wirft überhaupt ein wichtiges Licht auf die 
Geschichte der Schule Hegels und der Philosophischen Gesellschaft in 
Berlin. Er läßt erkennen, daß Cieszkowski als Mensch und nicht nur 
als Kopf mit dem deutschen Idealismus verbunden war. Der letzte 
Brief von ihm in dem Heft der Abschriften ist vom 31. August 1860 


sure 63 


datiert, der letzte von Michelet erhaltene vom 31. März 1893. 
Die Hälfte der Briefe Michelets fällt in die Zeit, für die wir leider 
keine Abschriften oder Originalbriefe seines Freundes haben. Diese 
Briefe enthalten aber in gleicher oder gar noch stärkerer Weise viele 
Zeichen der Sympathie, die beide bedeutenden Männer verband. 

Schon Michelet hat in den 80 er Jahren des 19. Jahrh., als er selbst 
sich mit den Vorbereitungen für eine Veröffentlichung seines ausge- 
wählten Briefwechsels mit Cieszkowski beschäftigte, nicht alles 
Material zusammenbekommen können, wie es scheint. 

Michelets jüngster Sohn, Dr. George Michelet, hat mir noch per- 
sönlich erzählt, daß der größte Teil der Briefe, die im Besitze seines 
Vaters waren, nach dessen Tode durch unachtsame Angestellte seines 
Schwagers vernichtet worden seien. So bedauerlich diese Tatsache 
auch ist, die vorhandenen Briefe reichen völlig aus, zu beweisen, daß 
der deutsche Idealismus nicht nur eine Lehre war, die Cieszkowski 
aufnahm, sondern vor allem ein Lebensstrom, der ihn durchdrang 
und ihn in seinem ganzen Wesen bereicherte. Einen sehr schönen 
und vorbildlichen Beweis dafür haben wir in seiner durch mehr als 
60 Jahre gepflegten Freundschaft mit seinem Lehrer Michelet. 


Wie Cieszkowski in seinen ersten Briefen an Michelet schon 
zeigt, blieb er dauernd bestrebt, von den Formulierungen Hegels in 
den lebendigen Gedankenstrom einzudringen, dessen Erscheinungen 
sie sind: aus ihnen heraus allein konnte er ja Hegel in dessen eigenem 
Geiste fortführen wollen. Durch sein ernstes Ringen mit den 
Formulierungen, den festgewordenen Formen des Denkens, in dem 
Hegel schöpferish lebte, legte Cieszkowski deren Unterstrom frei 
and konnte ihn gleichsam in sein eigenes Wesen hineinleiten. Diesen 
Umgang mit dem Lebensstrom des deutschen Idealismus kann man 
ja gerade bei den slavischen Idealisten überhaupt gut studieren: für 
sie hatte z. B. die Philosophie Hegels nicht nur einen ideellen, sondern 
vor allem einen Lebenswert. Cieszkowski nahm Hegels Philo- 
sophie durchaus als welthistorisches Symptom, sah es also im großen 
Zusammenhange der Geschichte der Philosophie nicht nur, sondern 
der allgemeinen Kultur überhaupt. Er schritt vom Gedanken, 
von dem allgemeinen Gedanken zu den Menschenwesen, den 
realen Ichen vor, die in sich die Früchte der Arbeit mit der 
Sinneswelt und mit der Gedankenwelt hineinnehmen, und nach seiner 
Auffassung von einem Leben in das andere tragen, bis ihre innere 
Reife so groß geworden, daß sie den Zusammenhang ihrer Inkar- 
nationen überschauen können — und schließlich den letzten Feind, 
den Tod, überwinden. — 

Die Bedeutung der Cieszkowskischen Ideen kann man in ihrer 
17 Klarheit erst dann so recht erkennen, wenn man sich neben 
ihnen diejenigen Michelets vergegenwärtigt. 

Michelet geht in seiner Weltanschauung davon aus, daß zunächst 
dem Menschen eine Fülle von sinnlichen Eindrücken und inneren 


64 


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Seelenzustinden gegeben -ist, die jeder Ordnung entbehren. Durch 
unser Denken entdecken wir die waltenden Ordnungskräfte aller 
dieser Gegebenheiten in den Ideen, die die vielen Einzelheiten der 
Welt zusammenhalten und durchdringen. In unserem denkenden Be- 
wußtsein haben wir dann diese Ideen, die in der Welt wirksam 
sind, in begrifflicher Form gegenwärtig. Was in Welt und Leben 
als wirksames Gesetz waltet, bringen wir uns zum Bewußtsein. Alle 
diese Ideen — und unsere Gedanken haben eine Uridee zu ihrem 
Mittelpunkte, die in sich alle befaßt: das ist das Absolute. Auch dieses 
Absolute bringen wir uns zum Bewußtsein. 


Der Charakter aller Ideen ihrer Wirksamkeit nach in der Welt 
und in ihrer begrifflichen Form in unserem Bewußtsein ist ein allge- 
meiner gegenüber den zahllosen, zufälligen, mannigfaltigen Einzel- 
heiten. Man kann deshalb schlechtweg von dem Allgemeinen als dem 
wahrhaft Seienden in den Dingen reden. Und die vielen Allge- 
meinen, die vielen Ideen sind dann konzentriert in dem absolut 
Allgemeinen. 


Nun ist damit, daß wir das Allgemeine und das absolut Allge- 
meine uns denkend zum Bewußtsein bringen, nicht bloß für uns 
etwas geschehen, daß eben wir uns etwas zum Bewußtsein bringen, 
sondern zugleich ein Bewußtwerden des Allgemeinen von 
sich, ein Zum-Bewußtsein-Gelangen des Allgemeinen in unserem Be- 

tsein. Wir verschaffen dem Allgemeinen ein Bewußtsein, indem 
wir es uns bewußt machen. 


Dem Allgemeinen gegenüber sind wir einzelne Bewußtseine und 
teilen wir die Eigenschaft der Einzelheiten, vergänglich zu sein, 
während das Allgemeine bei allem Wechsel der an ihm auftretenden 
Einzelheiten sich erhält und fortdauert. Das Bewußtsein, das wir 
dem Allgemeinen, auch dem absolut Allgemeinen, verschaffen, bleibt 
dem Allgemeinen gleichsam imprägniert, auch wenn wir Einzel- 
bewußtseine verschwinden. Gliedweise wecken wir sozusagen das 
Allgemeine auf, bringen es zum Bewußtsein — und der historische 


Menschheitsprozeß ıst ein Bewußtwerden des Allgemeinen und 
Absoluten. 


Man könnte im Sinne Michelets etwa sagen, daß die Menschen 
in ihren denkenden Bewußtseinen die Gedankensphäre mit Bewußt- 
sein gleichsam imprägnieren, daß im Grunde die einzelnen Menschen 
nur Organe des absoluten Geistes sind und als solche wieder zugrunde 
gehen. Das Absolute inkarniert sich in den vielen Einzelnen, zieht 
sich aus ihnen zurück und überläßt sie der Vernichtung, nachdem sie 
ihren allgemeinen Zweck erfüllt haben. 


Ganz anders ist die Anschauungsweise Cieszkowskis: die vielen 
einzelnen realen Menschen-Iche imprägnieren sich mit den Früchten 
ihrer Arbeit an der Sinneswelt und an den Gedanken. Sie inkar- 
nieren sich in vielen Leben nacheinander, bis die aus den früheren 
Leben herübergeretteten geistigen Bestimmungen sich in einem neuen 
Leben wiedererkennen, bis in einer der Umgestaltungen des Geistes 


65 


sein Wille alle Resultate der früheren Stufen gezogen und die Seele 
aus ihrem Leibe immer ätherischere, seelenhaftere Keime entfaltet 
und ihn zuletzt vollständig durchdrungen und verklärt hat, damit 
aber die Seelenwanderung fortfallen kann. („Die Zukunft der 
Menschheit und die Unsterblichkeit der Seele.. S. 132/133). 


In Michelet lebte unzweifelhaft ein Nachklang der Lehre des 
Averroés von der für alle Menschen gemeinsamen Gedankensphäre, 
in Cieszkowski der fortgebildete Thomismus, der ja einst heftig die 
Lehre des Averroés bekämpft hatte. Und gerade die Leugnung des 
geistigen Ichs, die für Michelet so charakteristisch ist, weil sie 
wurzelt in seiner Auffassung von dem in den Menschen hinein- und 
hinausflutenden allgemeinen Denkleben, erweist ihn als zugehörig 
zur älteren Weltanschauungsströmung, die noch nicht mit dem 
modernen Individualismus zu rechnen hatte. Cieszkowski dagegen 
legte den Hauptwert auf eine tätige Erkenntnis aus dem 
Ich heraus, auf das Selbsttun des Geistes und berücksichtigte 
so von den ersten Anfängen seiner philosophischen Entwicklung ab 
das Auftreten der modernen Individualität. 

Er fühlte sich durchaus — und mit vollem Rechte — als Vor- 
läufer der Epoche der Menschheit, in der die tätigen Einzelindividuen 
durch ihr geistiges Streben die ihnen überlieferten Elemente der Welt- 
anschauung und der Kultur auf eine höhere Stufe ihrer Entwicklung 
bringen und ein Zeitalter wahren Geisteslebens und wirklich sozialer 
I ısticutionen begründen werden. 


66 


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MISCELLEN 


KSAVER SANDOR GJALSKI 
Von J. Mati, Graz. 


Ksaver Sandor Gjalski, povodom njegove sedamdesetogodisnjice. 
Brastvo XXVII, 34. Knj, Beograd 1927. 


1927 vollendete der bedeutendste kroatishe Romanschriftsteller des 
19. Jahrhs., Gjalski, sein 70. Lebensjahr. Von den bei dieser Gelegenheit er- 
schienenen Festartikeln, Aufsätzen u. Studien verdienen zwei besonderes literar- 
historisches Interesse: die oben genannte Studie von A. Barac u. eine Studie des 
jungen Agramer Kritikers Ivan Nevistié; Ksaver Sandor Gjalski, 
Zagreb 1928, 96 S. Der Wert der Studie von Nevistié wird allerdings durch die 
einseitige Einstellung — Nevistic sieht in Gjalski wesentlich nur den feudalen 
laudator temporis acti — und eine gewisse Animosität stark beeinträchtigt; dagegen 
ist die Studie von Barac als eine grundlegende u. weit ausgreifende vergleichende 
Würdigung des literarischen Schaffens des Dichters zu werten. Barac, der bereits 
durch seine Senoa-Monographie, ferner durch seine Studien über Harambasié, 
Lj. Wiesner (vgl. meine seinerzeitigen Berichte in der Zeitschriftenschau in diesen 
Jahrbüchern), ferner durch seine neuen Studien über Vjenceslav Novak 
(Savremenik 1928), über Fran Mažuranić (Srpski Književni Glasnik, N.S. XXIV. 
S. 114 ff.) u. seine Synthese in der Narodna enciklopedija sich als einer der besten 
Kenner und methodisch fortschrittlicheren Literarhistoriker der kroatischen 
Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts legitimiert hat, zeichnet in dieser Studie 
das Leben und Schaffen, die geistige und literarische Physiognomie des Dichters, 
den Stoff und Ideengehalt seiner Werke, seine Stellung und Bedeutung in der 
kroatischen Literatur und im kroatischen Geistesleben, ohne dabei auf den all- 
gemeinen kultur-, national- und ideengeschichtlichen Hintergrund zu vergessen. — 
Allgemeines: In bezug auf nationale Konzeptionen bewegte sich das Leben in 
Kroatien im 19. Jahrh. zwischen einem engherzigen Kroatentum, welches nur das 
kajkavische Kroatien im Auge hatte, und einem weiten Gefühl für alle Südslaven. 
In der Mitte zwischen diesen beiden entgegengesetzten nationalen Konzeptionen 
steht die großkroatische Idee Starčević’, die in ihrem Kern eine jugoslavische 
Konzeption war. Ausgenommen den Anfang des 19. Jahrhs. entwickelte sich das 
nationale Leben Kroatiens im Zeichen der nationalen Einheit der Kroaten und 
Serben (illyrische Bewegung, das jugoslavische Programm Stroßmayers u. Ratkıs 
in den 60er und 70 er Jahren). In den 70 er und 80 er Jahren ändern sich die 
nationalen Konzeptionen im Sinne eines exklusiven Großkroatentums (A. Starčević 
u. das pravaötvo — Rechtspartei); die jugoslavisch Orientierten treten in den 
Hintergrund, das kulturelle und politische Leben entwickelte sich im Zeichen des 
Kampfes zwischen dem Kroatentum u. dem Serbentum, insbesondere im Zeichen 
des Kampfes gegen die Träger der illyrischen und jugoslavischen Ideologie. In 
dieser Richtung entwickelte sich das nationale Leben auch zu Beginn des 20. Jahr- 
bunderts, nur daß jetzt parallel mit der Tätigkeit der kroatisch-serbischen Koalition 
immer stärker die Tendenz nach nationaler Einheit der Serbokroaten, besonders 
in der jungen Generation, zum Ausdruck kommt. Die soziale Struktur Kroatiens 


67 


machte im 19. Jahrhundert eine tiefgreifende Umwandlung durch. Durch die 
Bauernbefreiung ie) und durch die immer größere Demokratisierung des öffent- 
lichen Lebens erhielten die Adeligen, der bisher privilegierte Stand, den Todes- 
stoß. Sie verloren die unentgeltlichen Arbeitskräfte, verstanden sich nicht auf die 
Verwaltung ihrer Güter u. deren Ukonomisierung in den neuen Verhältnissen, 
setzten trotzdem die bisherigen luxuriösen Lebensgewohnheiten fort, stürzten sich 
dabei immer mehr bei Banken und Wucherern ın Schulden u. gingen so zugrunde. 
Auch die Bauern hatten durch die Bauernbefreiung nicht das bekommen, was sic 
erwartet hatten. Ungewohnt an ein selbständiges Wirtschaften verfielen sie in 
Streitigkeiten untereinander, ihre Grundbesitze wurden immer mehr zerstückelt 
u. sie kamen in Schulden. Aus diesen sozialen Umwälzungen ging gestärkt nur das 
Bürgertum hervor, welches jedoch von allen Ständen den nationalen Bedürfnissen 
und Problemen am fernsten stand (— ich halte zwar diese Behauptung von Barac 
in dieser allgemeinen Form nicht für richtig —), u. seine alten deutschen und 
jüdischen Traditionen fortsetzte. Mit Rücksicht auf alle diese Erscheinungen bietet 
das kroatische Leben des 19. Jahrh. in seiner inneren psychologischen Struktur ein 
außerordentliches reichhaltiges und buntes Bild. In diesem Wechsel politischer 
Systeme u. gesellschaftlicher Einrichtungen kam es auch zum Wechsel u. Umbruch 
der Charaktere, zum Gesinnungswechsel dem System zuliebe, zur Korrumpierung 
usw. In diesem Kampf zwischen den Konservativen u. den neuen Kräften spielten 
sich tragische Konflikte zwischen dem Festhalten an der Schönheit der Vergangen- 
heit u. dem Geiste der neuen Zeit ab. Das feudale Kroatien hatte einen be- 
deutenden kulturellen u. ästhetischen Wert repräsentiert, welcher nach der Bauern- 
befreiung vollständig zugrunde ging, ohne sich dafür in der neuen kleinen 
Bourgeoisie ein Aquivalent gefunden hätte. Die politischen Kämpfe waren in 
Kroatien infolge der so verschiedenen Tendenzen sehr scharf, wurden gewöhnlich 
aus der Sphäre der prinzipiellen Gegensätzlichkeit in die Sphäre der persönlichen 
Feindschaft u. des persönlichen Kampfes bis aufs Messer getragen. In diesem 
Kampfe konnte es vorkommen, daß die radikalsten Träger einer Ideologie aus 
Haß gegen den politischen Gegner bewußt oder unbewußt Helfershelfer des 
fremden Regimes wurden. Dieses ganz bunte und verschiedenartige Leben, inter- 
essant für den Psychologen, Kulturhistoriker und Romanschriftsteller, wurde in 
der kroatischen Literatur verhältnismäßig wenig bearbeitet und dargestellt. Die 
ganze Literatur des Illyrismus erschöpfte sich in großen nationalen Phrasen und 
naiver Erotik. Die Literatur zur Zeit des Absolutismus durfte zich nicht offen 
mit den Zeitproblemen beschäftigen, so daß erst die Literatur der 60 er und 70 er 
Jahre etwas tiefer in das Leben der Gegenwart einzudringen anfängt. Diese Hin- 
wendung zu den realen Problemen des nationalen, kulturellen und sozialen Lebens 
vollführte August Sen oa. Dieser warf in einer Reihe von Romanen aus der 
Vergangenheit u. Novellen aus dem gegenwärtigen bürgerlichen Leben eine Reihe 
nationaler u. soziale Probleme SE die Versuche der Germanisierung un 

Magyarisierung, den nationalen Widerstand dagegen, den Verfall des Adels, die 
Korruption der Behörden, das Kulturproblem des Bauerntums, die Erhebung des 
Kleinbürgertums, die Charakterlosigkeit der eigenen Leute in der Politik, das sinn- 
lose Nachäffen fremder Vorbilder. Durch diese charakteristischen literarischen 
Eigenschaften steht Senoa an der Grenze zwischen Romantik und Realismus, seine 
realistisch konzipierten Romane hüllte er in einen romantischen Schleier. Erst ın 
den 80 er und 90 er Jahren, in der sogenannten Periode des kroatischen Realismus, 
setzten sich in der Literatur die Tendenzen Senoas voll durch. In den 80 er und 
90 er Jahren tauchen eine Reihe Schriftsteller auf, die in zahlreichen Werken die 
allseitige Darstellung des sozialen, politischen und kulturellen Lebens Kroatiens 
versuchten: Vjenceslav Novak, Eugen Kumilıd, Josip 
Kozarac, Janko Leskovar, Antun Kovačić. Der fruchtbarste 
Schriftsteller dieser Epoche, der die meisten aktuellen Probleme des sozialen, 
kulturellen, politishen und individuellen Lebens der Zeit berührte, war Ksaver 
Šandor Gjalski. Barac gibt nun eine kurze biographische Übersicht und eine 
Aufzählung der Werke Gialskis (ein Großteil erschien in der Zeitschrift Vijenac 
ab Jahrgang 1884, in den Ausgaben der Matica Hrvatska 1884—1906, 1924, einige 
in den Ausgaben des Društvo hrvatskih književnika 1906, die gesammelten Werke 
begannen 1913 zu erscheinen; einzelne kleinere Arbeiten erschienen in verschiedenen 


68 


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anderen Zeitschriften). Neben der literarischen Originalproduktion trat Gjalski 
auch in literarischen Kämpfen seiner Zeit aktiv hervor. Er stand zunächst bei 
Beginn der literarischen Kämpfe zwischen der BEE Generation, den Vertretern 
der sogenannten Moderne, u. den Alten, gegen n Kampf auf u. erklärte sich 
als Gegner jeder literarischen Schule und für den nationalen Charakter der 
Literatur. Im weiteren Verlauf dieser Kämpfe wurde er jedoch selbst hinein- 
gezogen, von den Jungen als Repräsentant ihrer Richtung reklamiert, schrieb 
ideologische Aufsätze im Sinne u. in den Organen der Modernisten u. war 1908 
bis 1918 Vorsitzender der Vereinigung derselben, des Društvo hrvatskih 
književnika. Seiner sozialen Herkunft u. Anschauung nach ist Gjalski ein Glied 
einer Familie mit Herrentradition, mit Feudaltradition, die ein verhältnismäßig 
hohes Kulturniveau repräsentierte. Seiner nationalen Konzeption nach ist er 
als Sohn eines Vaters, der aktiv in der illyrischen Bewegung mitbeteiligt war, er- 
zogen in den slavischen und jugoslavischen Ideen. Während er in seinen Mittel- 
schuljahren unter dem Einfl er damals um sich greifenden Startevilschen groß- 
kroatischen Ideologie sich zum Anhänger der exklusiv kroatischen Idee entwickelt 
hatte, kehrte er später wieder zu den Ideengingen des Illyrismus zurück u. seine 
weitere Arbeit entwickelte sich im Sinne der jugoslavischen Idee Stroßmayerscher 
Prãgung. In diese Richtung fällt auch seine öffentliche politische Tätigkeit auf 
Seite der kroatisch- serbischen Koalition zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach 
der Einigung u. Staatsgründung kehrte er, abgestoßen und im Innern beleidigt 
durch die Zustände im neuen Staate, wieder ostentativ zu der exklusiv kroatischen 
Einstellung zurück u. seine Werke aus dieser Zeit (Roman: Pronevjereni ideali, 
5 Dolazak Hrvata) geben Zeugnis von dieser Verbitterung. Gjalski, 
das Produkt eines Milieus mit herrschaftlichen Traditionen, mußte naturgemäß 
von früh auf Sympathien für diese Tradition, für die Schönheit des Herrentums 
und eine Aversion gegen die Gemeinheit und Niedrigkeit des Lebens, einsaugen. 
Anderseits war sein Intellekt genügend lebendig u. seine Bildung entsprechend weit, 
daß er auch das Unzeitgemäße des Feudalismus u. die Ungerechtigkeit der 
privilegierten Position einsehen mußte. Und so begeisterte er sich vorübergehend 
auch für sozialistische und kommunistische Ideen. Aus diesen Momenten heraus 
kam es bei ihm zu einem Zusammenstoß, zu einem Konflikt zwischen Gefühl und 
Intellekt, die angeborenen u. anerzogenen Gefühle fesselten ihn an ein Milieu, 
sein Verstand führte ihn anderswohin. Diesen gleichen Konflikt zeigen alle seine 
nationalen Anschauungen: Die vernünftige Überlegung führte ihn zur jugo- 
slavischen Ideologie, doch das Gefühl band ihn an die Tradition des Kroatentums. 
In der Literatur trat Gjalski in einer Zeit ein, als Senoa theoretisch bereits den 
Realismus begonnen hatte, ihn jedoch nicht in allen Konsequenzen durchgeführt 
hatte. Gjalski tritt als der erste ausgesprochene Realist hervor. Als seine literari- 
schen Vorbilder betrachtet er Turgenjev, Tolstoj, Balzac, Dostojevski. Er selbst 

ichnet als sein wichtiges literarisches Prinzip die realistische Darstellung des 
nationalen Lebens und seiner Erscheinungen. Er verfolgte mit seinen literarischen 
Arbeiten folgende Tendenz: Das bellerristishe Buch hat dem menschlichen Ge- 
danken und dem menschlichen Gefühle zu dienen u. der menschlichen Entwicklung 
in der Hebung dieses Gedankens und Veredelung dieses Gefühles zu helfen und 
vor allem der Wahrheit zum Siege zu helfen. Er ist ein Gegner jedes ästhetischen 
Dogmatismus. Mit diesen Lebenserfahrungen und diesen literarischen An- 
schauungen brachte Gj. in seinen literarischen Schöpfungen einen Großteil des 
sozialen, politischen und intellektuellen Kroatiens des 19. Jhs. in seinen Haupt- 
phasen zur Darstellung. 

Gj. erfaßt in seinen Werken vor allem drei große Gebiete: 1. die soziale 
Umwälzung, die in Kroatien nach der Aufhebung der Leibeigenschaft eintrat, 
2. die kulturelle, politische u. soziale Entwicklung Kroatiens im Laufe des 19. Jhs., 
8. die Probleme des intimsten menschlichen Innenlebens, den Sinn des mensch- 
lichen Lebens überhaupt. Barac wendet sich mit Recht gegen die bisher bei den 
Literarhistorikern u. Kritikern übliche Einteilung der Werke des Dichters mit dem 
Hinweis darauf, daß in der inneren Struktur der Personen in allen Werken Gj.s 
ohne Unterschied des Stoffes u. der Tendenz eine große Verwandtschaft herrsche. 
Als Dichter des kroatischen Zagoriens stellte Gj. in einem Großteil seiner Werke 
jenen sozialen Prozeß dar, der in Kroatien nach der Bauernbefreiung entstand: 


69 


den Verfall des kroatischen Adels, seine Unfähigkeit, sich den neuen Verhältnissen 
anzupassen, den Zustrom der Fremden, den Verfall u. die Verschuldung der 
heimischen Wirtschaften. Der kroatische Adel war einerseits durchtränkt von den 
Traditionen der Superioritit und des Herrentums, anderseits sicherte ihm seine 
privilegierte Lage die ay ee des Kontaktes mit den kulturellen Errungen- 
schaften des Westens. das führte dazu, daß der kroatische Adel bei der 
kulturellen und wirtschaftlichen Rückständigkeit des größten Teiles der Be- 
völkerung eine gewisse Elite sowohl in den äußeren Manieren, in seinen Be- 
ziehungen, wie auch in seinem geistigen Leben, repräsentierte. Gj. sah diese 
Feudalen in der Zeit ihres Verfalles, als die Erinnerung an die Vergangenheit noch 
zu stark waren, als daß sie sich den neuen Verhältnissen, dem Wirtschaften 
ohne unbezahlte Arbeitskräfte, hätten anpassen können; in einer Zeit, als das 
Gefühl des Herrentums in ihnen noch zu tief eingewurzelt war, als daß sie in 
ihrer schweren materiellen Lage den bisherigen Lebensgewohnheiten entsagen und 
ihre Not hätten eingestehen können. 

So gingen sie zugrunde, einer nach dem andern, langsam und sicher, ohne 
sich helfen zu können u. ohne das, was um sie herum vorging, zu verstehen, u. sie 
mußten mit Schmerz sehen, wie ihre eigenen Kinder aus Not und Armut das 
Bewußtsein ihrer Stellung verloren und sich mit gesellschaftlich Minderwertigen 
mischten. Doch alle repräsentierten in ihren Persönlichkeiten und ihren Gewohn- 
heiten ein Leben, in dem eine große Dosis tragischer Größe steckte. Alle diese 
zagorianischen Herrenhäuser waren voll von Erinnerungen an die Tage einstiger 
Größe und Herrschaft. Diese Erinnerungen, die noch in den Gegenständen und 
Leuten lebten, bilden den Kern der zagorianischen Novellistik Gj.s. Gj. ist nicht 
ein gewöhnlicher laudator temporis acti, er ist in seinen zagorianischen Motiven 
in erster Linie der Dichter jenes Lebens, der Dichter der zagorianischen Herren- 
häuser, des Herrenlebens u. seiner hedonistischen Lebensauffassung. Er gestaltete 
das Leben dieser Menschen, denen Tage und Jahre vorübergingen zwischen Trink- 
sprüchen, Tanzunterhaltungen, Kurmachereien, lang dauernden Gelagen, die jedoch 
gleichzeitig Repräsentanten des konservativen Kroatiens waren, das stolz und hart- 
näckig an seiner Konstitution festhielt. Gj. ist der Dichter der zagorianischen 
Landschaft, der Idylle des häuslichen Herdes, der zagorianischen Hügel, der 
romantischen Liebschaften und Tragödien, die sich in dieser von Vergangenheit 
durchsättigten Umgebung abspielten. Diese zagorianischen Adeligen konnten i 
hörigen Bauern gegenüber kleine Tyrannen sein, doch gleichzeitig gab es unter 
ihnen Anhänger Voltaires, der französischen Enzyklopädisten und der französi- 
schen Revolution. Doch auch die Bauern wußten sich nach ihrer Befreiung von 
der Adelsherrschaft in der ncuen Ordnung vielfach nicht zu helfen, da sie eben- 
sowenig wie der Adelige darauf vorbereitet waren, u. gingen vielfach zugrunde. 
Als Dichter dieser Verfallserscheinungen bringt Gjalski selten seine persönliche 
Meinung zum Ausdruck, der Dichter in ihm ist stärker als der Ideolog, die Poesie 
stärker als die These. Die Lebensbeschäftigung in den Mannesjahren führte Gj. 
in die Bürokratie u. brachte ihn in Verbindung mit den politischen Verhältnissen 
Kroatiens. Damit erweitert sich seine Belletristik von den zagorianischen Motiven 
zu allgemein nationalen Gesichtspunkten; seine Novellen und Romane werden 
damit ein Dokument der kroatischen politischen und kulturellen Zustände des 
ganzen 19. Jhs., vom Illyrısmus über den Bachschen Absolutismus bis zum Regime 
des Banus Khuen Hedervary, und es kommt jetzt eine bestimmte politische u. 
kulturelle Ideologie zum Ausdruck. In dieser Novellistik des politischen Lebens 
Kroatiens unterscheiden sich scharf die historischen Romane Osvit, Za materinsku 
riječ von den Romanen und Novellen aus dem gegenwärtigen Leben. In den ersten 
beiden Romanen bringt der Dichter ein groß angelegtes Bild der illyrischen Be- 
wegung u. der kroatischen Gesellschaft dieser Zeit in ihrem Verhältnis zu den 
neuen Ideen der nationalen Wicdergeburt. Im Rahmen erdichteter Fabel gibt er 
Idealportraits jener Leute, die die Grundlagen des modernen Kroatiens schufen 
(Janko DraS’kovit, Ljudevit Gaj, Stanko Vraz u. al Parallel mit den „Illyriern“ 
zeichnet Gj. objektiv auch die Verteidiger magyarischer Tendenzen in Kroatien 
u. die Verteidiger der alten kroatischen Konstitution, der lateinischen Sprache u. 
der Privilegien des Adels. Gj. zeichnet ferner die einzelnen Regimes, die nach dem 
Illyrismus in Kroatien kamen u. deren gemeinsames Prinzip darin bestand, eine 


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möglichst verläßliche Bürokratie zu schaffen. Er schildert die Tragik der Leute, 
die an eine Gerechtigkeit im Staate Usterreichs glaubten, die Tragödien der 
Familien, deren Ernährer sich etwas freiheitlich gebärdeten u. deshalb den Kriechern 
und Dienern des Regimes gegenüber zurückgesetzt wurden. (Zur einseitig un- 
historischen, austrophoben Interpretation dieser Epoche, wie sie Barac gibt, möchte 
ich kritisch bemerken, daß jede andere Regierung sich feindlich gegen jene 
Elemente wendete, die gegen das herrschende System waren, im Interesse der Selbst- 
erhaltung, u. daß es auch im heutigen S.H.S.-Staat seit 1918 nicht anders ist, wie, 
um nur ein Beispiel zu erwähnen, die Behandlung der republikanischen u. „kom- 
munistischen™ Intellektuellen beweist.) Gj. zeichnet ferner unverhüllt alle mög- 
lichen Erscheinungen der Korruption, des Nepotismus, gibt anderseits aber auch 
eine scharfe Analyse der nationalen Moral u. eine Anklage der nationalen Kreise. 
In der Zeit, als Gj. am meisten literarisch schaffend tätig war, nahm die 
Starte vicsche groß kroatische nationalpolitische Ideologie immer mehr überhand, 
der sich fast die ganze junge Generation zuwendete. Durch die politische Kampfes - 
weise des Führers Starčević drang in die politischen Debatten an Stelle des mehr 
akademischen Tones der Anhänger der Stroßmayerschen Ideologie ein brutaler Ton 
der persönlichen Beleidigung und Herabsetzung. Das politische Leben dieser 
Epoche der 80 er Jahre, den phrasendrescherischen radikalen Patriotismus der 
Universitätsjugend, der im schärfsten Gegensatz stand zu ihrer späteren Haltung 
im Beruf und im Leben, schildert Gjalski in dem Roman U noći. Im ganzen ist 
das politische Bild Kroatiens bei Gjalski schwarz gezeichnet. Doch auch das Bild 
des kulturellen Kroatiens ist nicht viel lichter. Die kroatische Gesellschaft der 80 er 
1 hat keinen Sinn u. kein Interesse für die höheren kulturellen Bedürfnisse, 
ümmert sich nicht um die Literatur mit der Ausrede, daß nach noa keine 
kroatische Literatur bestünde. Dem Menschen der kroatischen bürgerlichen Ge- 
zellschaft imponierte nur das Fremde, während er auf die Leistungen der 
nationalen Kultur mit Verachtung herabsah. Der kroatische Literat fand für seine 
Arbeit nicht nur keine Anerkennung, sondern mußte noch mit heimtückischen 
Angriffen auf Schritt und Tritt rechnen. Während das kulturelle und politische 
Zentrum aus seichten Journalisten, charakterlosen Politikern, literarischen 
Kandidaten und ambitidsen Bürokraten bestand, war die kroatische Provinz ein 
gewaltiger Sumpf, in dem das Denunziantentum und Pamphlete herrschten u. 
jeden vernichteten, der seine Umgebung überragte. (Kritisch wäre dazu zu be- 
merken, daß die quantitativen und qualitativen kulturellen, wissenschaftlichen 
Leistungen dieser Zeit eine Verallgemeinerung dieser pessimistischen Behauptungen 
nicht rechtfertigen.) 

Die gesamte Belletristik Gj.s hat bei aller Heterogenität des Stoffes dennoch 
ein einheitliches Merkmal im intimen Bau der Gestalten: Die Hauptpersonen sind 
nicht nur Protagonisten der Handlung und Träger einer Ideologie, sondern 
gleichzeitig mehr oder minder Träger einer Tebensohilossphie und diese Lebens- 
philosophie ist zum größten Teil eine pessimistische: Die Träger der Handlung 
gehen zugrunde im Kampfe mit einer inferioren Umgebung, die Tüchtigen und 
Gesunden gehen zugrunde u. die Dummen und Verdorbenen bleiben. Als primäres 
Motiv tritt diese Auffassung im Roman anne Borislavié zum Vorschein. Au 
die Analyse des Lebensproblems an sich führt bei Gj. zu einer pessimistischen 
Lösung. Es gibt nichts, das den Menschen vollständig zufrieden stellen könnte. 
Die Analyse der Liebe zeigt, daß der tierische Trieb ihre Grundlage ausmacht; 
die Verserkung in die Wissenschaft zeigt, daß uns alle Wissenschaften zusammen 
keine endgültigen Ausblicke gewähren. Um sich vor der Verzweiflung des Pessi- 
mismus zu retten, sucht Gjalski die Verbindungen zwischen dem irdischen und dem 
überirdischen Leben u. gelangt damit mit seinem Schaffen zu den Novellen okkul- 
tistischen Inhalts. 

Gj.s allgemein literarhistorische Bedeutung: Als Gj. in die kroatische Lite- 
ratur eintrat, gab es keinen fruchtbareren u. ausgeprägteren Schriftsteller. 1889 
war Senoa gestorben, der fruchtbarste unter den ee kroatischen Literaten, 
der durch den künstlerischen Wert seiner Werke den literarischen Dilettantismus 
unmöglich gemacht hatte, durch sein reiches und verschiedenartiges Schaffen das 
literarische Publikum vergrößert u. dadurch die Aktualität seiner Ideen wie durch 
dıe epischen Eigenschaften seiner Produkte seine Leser dauernd gefesselt hatte. Von 


71 


den kroatischen Realisten, die später zu Ansehen kamen, zeigte in dieser Zeit 
nur Vjenceslav Novak in seinen Skizzen neue literarische Merkmale. 

Das Auftreten Gj.s ist literarhistorisch wichtig wegen der Weite des Stoff- 
umfanges seiner Belletristik, wegen der Aktualität der Ideen u. wegen des geistigen 
Niveaus, das diese Belletristik in den 80 er u. 90 er Jahren des vorigen Jahrhunderts 
veranschaulicht. Bis Šenoa erschöpfte sich die kroatische Novellistik in pseudo- 
historischen Novellen, romantischen Liebesgeschichten u. Hajdukenmotiven. Senoa 
brachte — mit Tomié — eine Erweiterung durch den historischen Roman, durch 
die Novelle aus dem bürgerlichen u. dem feudalen Leben, blieb jedoch im wesent- 
lichen ein Darsteller seiner bürgerlichen Gesellschaft. Gjalski bot schon als lite- 
rarischer Anfänger dem kroatischen Publikum einen Einblick in das innere, intime 
Leben der Adelsgesellschaft, ging dann auf den politischen, Kultur- und Gesell- 
schaftsroman über, um damit gesamte kroatische Gegenwartsdasein aus der 
Nähe des gewöhnlichen Alltags zu umfassen. Er schuf schließlich die ersten psycho- 
logischen Romane u. Novellen. Noch größer ist Gj.s Bedeutung in bezug auf die 
Aktualität seiner Werke. War schon Senoa in seiner Belletristik bestrebt, in 
Verbindung mit den Tendenzen des kroatischen Gegenwartslebens zu sein — in 
den historischen Romanen indirekt und eingekleidet —, so wagte es doch Gj. als 
erster, die Erscheinungen u. Verhältnisse seiner Zeit gleichzeitig u. parallel mit 
ihrem Auftreten literarisch zu gestalten (die Misere der kroatischen literarischen 
Verhältnisse im: Radmilović, den Phrasenpatriotismus der Omladina in: U noći 
usw.). Auch seine historischen Romane Osvit u. Za materinsku riječ waren 
letzten Endes aus aktuellen Bedürfnissen entstanden. Einen bedeutenden Fort- 
schritt gegenüber Šenoa bedeutet Gj.s Auffassung des historischen Romanes. Gi.s 
Roman erschöpft sich nicht mehr in der Fabel mit bestimmter Tendenz, sondern 
er wird — wie im Westen — ein universelles literarisches Spiegelbild der geistigen 
Strömungen u. der Veränderung in der Struktur der Gesellschaft seiner Zeit. Gj 
war der gebildetste Erzähler seiner Zeit u. brachte sich in seinen Werken ganz mit 
seinem geistigen u. emotionalen Lebensgehalt zum Ausdruck. Er besaß unter 
allen kroatischen Realisten eine verhältnismäßig hohe Kultur, las deutsch, russisch, 
italienisch u. französisch, verfolgte neben der Belletristik auch die philosophische 
u. naturwissenschaftliche Literatur. Eine weitere Bedeutung der Bellerristik Gj.s 
liegt darin, daß Gj. in einer Zeit, als die freie publizistische, Gleiser 
Meinungsäußerung sowie die politische Freiheit unterbunden war, offener u. frei- 
mütiger als irgendein anderer Erzähler das kroatische Milieu, die Gesellschaft u. 
das Regime mit all den Schatterseiten zeichnete. Gj. war einige Jahre nach seinem 
literarischen Auftreten der populärste kroatische Erzähler. Die bedeutendsten 
Literaturkritiker der 80 er Jahre — M. Srepel u. J. Cuka — brachten ihm größtes 
Interesse u. auch frühzeitig vollste Anerkennung entgegen. T. Grabowski widmete 
ihm einige Zeit später ein eigenes Buch (Współczesna Chorwacya 1906). Eine 
Reihe seiner Arbeiten wurden in verschiedene slavische u. westeuropäische Sprachen 
übersetzt. Die junge Modernistengeneration, die zu Beginn des 20. Jhs. auftrat, 
feierte Gj. als einen der ihren, weil er spezifisch künstlerische Maßstäbe u. euro- 
päische Gesichtspunkte in die Literatur hineintrug. Im Lauf des ersten Dezenniums 
unseres Jhs. ging das unmittelbare Interesse an Gj. etwas zurück. — 

Das Neue im literarischen Schaffen Gj.s besteht darin, daß er bestrebt war, 
möglichst viel Leute aus dem Alltagsleben zu gestalten, u. daß er seine Werke mit 
den aktuellen Ideen seiner Zeit durchtränkte; daß er Schluß machte mit den bisher 
üblichen erklügelten u. erdichteten Fabeln, daß er das ihn umgebende Leben be- 
trachtete u. beobachtete u. das nationale Leben u. seine Poesie darzustellen ver- 
suchte. Der Realismus, wie ihn die kroatischen Schriftsteller der 80er Jahre 
interpretierten, hat sehr verschiedenen Charakter. Gj.s Realismus erschöpft sich 
in der Darstellung der realen Lebenstatsachen u. in der Betonung der aktuellen 
Probleme des nationalen Lebens. In der Kombination dieser realen Tatsachen, 
im Bau der Fabel, überwiegt jedoch die intime, die Gefühlsseite über die konsequent 
realistische Auffassung des Lebens. Er feiert die Schönheit der Vergangenheit im 
Verhältnis zur Häßlıchkeit der Gegenwart. Die Tragik eines Großteiles seiner 
Personen liegt in der Disharmonie zwischen der idealen u. schönen Welt der Vor- 
stellung u. der Welt der Wirklichkeit. Seine ganze zagorianische Novellistik ist 
im wesentlichen eine Glorifikation der alten Zeit. Ein eigentlicher Bazarov-Typ, 


12 


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der Träger einer rationalistischen u. realistischen Weltanschauung (David Hermann 
in: Na rodjenoj grudi) erscheint als antipathische Karikatur. Sein sozialer 
Exklusivismus macht sich — ebenso wie in vielen Werken des soeben (80. August 
1929) verstorbenen ragusäischen Dramatikers Ivo Vojnovié — in seinen 
literarischen Werken sehr bemerkbar, ebenso wie die aus seinem Lebensmilieu 
erwachsene Neigung zur schönen Phrase u. Geste. Trotz seiner Beamtenkarrierc 
blieben seine Interessen u. sein Arbeitsgebiet im feudalen Kreise. Die Personen, die 
in seinen Werken das nationale Leben repräsentieren, sind vorwiegend Adelige 
(daneben Beamte) oder Nachkommen heruntergekommener Adelsfamilien, ihre 

cise ist wesentlich die des Adels. Seine Männergestalten sind vorwiegend 
Salonlöwen, seine Frauen sprechen von ihren Zusammenkünften mit Komtessen u. 
Gräfinnen. Sein Realismus ist auf der Höhe, wenn er ein Adels- oder Patrizier- 
haus u. das Leben in ihm beschreibt. Er verfällt jedoch in Pathos u. wird unwahr, 
wenn er Menschen oder Gegenstände beschreibt, die ihm unsympathisch sind. 
Seine Frauen sind außerordentliche Schönheiten — oder Karikaturen. Ganz reale 
Männer und Frauen sind bei ihm selten. 

Das Innenleben der Haupthelden Gj.s besteht aus vielen großen Ambitionen, 
großer Empfindlichkeit u. Willensschwäche. Sie fühlen sich unglücklich, weil sie 
von ihrer Umgebung nicht verstanden werden. Diese Grundnote der Romane 
Gj.s ist auch gleichzeitig eine persönliche Note des Autors. Ein Mann mit Manieren, 
mit großer Bildung, mit Traditionen u. damit mit Aspirationen auf gesellschaftliche 
Stellung mußte seın Leben in einer Zeit verbringen, in der Gewalt über Recht, 
Dummköpfe u. gewöhnliche Kreaturen über die Intelligenten u. Vornehmen 
herrschten. Dadurch wurde seine Seele empfindlih u. leicht verwundbar. Mit 
dieser wesentlich lyrischen seelischen Disposition u. mangelhafter Aktivität war 
er stärker in der Analyse als in der Ideologie. Im inneren Aufbau seiner Werke 
sieht man häufig einen Bruch: Er wendet sich von der angefangenen These u. 
läßt sich von der Fabel — zum Schaden der psychologischen Klarheit u. Glaub- 
würdigkeit — auf einen neuen Weg verführen. Auch in seinen Helden sicht 
man das mehr Iyrische, aber nicht kontemplative Temperament des Autors. In 
sciner Weltanschauung liegt etwas Zerrissenes, eine Spaltung zwischen Gefühlen u. 
Verstand, zwischen der Logik des ideellen u. der Logik des emotionalen Lebens. 
Den größten Umfang nehmen die Liebesfabeln ein. Der Schönheit der Frauen 
werden Hymnen gesungen. In der Schilderung herrscht auch bei Gj. wie bei Senoa 
die Schwarz-Weiß-Technik, also von einem konsequenten Realismus noch keine 
Rede. Der echte Gj. ist nur in den Motiven aus dem Leben des zagori- 
anischen Adels zu finden. Hier ist er ein Dichter seiner Landschaft, ein Dichter 
einer im Vergehen befindlichen Lebensform. Hier zeigt er sich als wirklicher 
Künstler. Hier waltet eine Poesie ähnlich der zagorianischen Lyrik eines Dragutin 
Domjanić und der Poesie der Dubrovacka trilogija von Ivo Vojnović. Kinen 
Großteil der Werke schrieb Gj. nach eigenen Aussagen der Tendenz wegen, in 
einer Zeit, als er als anerkannter u. routinierter Erzähler seine Meinung über 
aktuelle Probleme des nationalen Lebens zum Ausdruck bringen wollte. Daher 
finden sich in diesen Werken viel papierene Elemente, viel Konstruiertes, viel 
psychologisch Unglaubwiirdiges, viel künstlerisch nicht voll Erlebtes und Aus- 
gereiftes. Gj.s philosophische Erudition ging mehr in die Weite als in die Tiefe. 
Daher zeigen die literarisch behandelten philosophischen u. wissenschaftlichen 
Probleme mehr feuilletonistische Leichtigkeit als wissenschaftliche und künstlerische 
Vertiefung. Bei alledem liegt Gj.s große literarische Bedeutung — durch den 
großen Motivenreichtum, durch die Aktualität und Kühnheit seiner Ideen u. durch 
die philosophische Fundierung seines Schaffens — in der Tatsache, daß er nach 

oa am meisten Elemente des kroatischen nationalen (politischen u. geistigen) 
Lebens in seinen Verken konzentrierte. Durch seine relativ weite philosophische 
Bildung wurde Gj. geistesgeschichtlich auch insoweit von Bedeutung, als erst durch 
seine Werke eine Reihe moderner philosophischer Ideenginge — Schopenhauersche, 
ferner die darwinistischen positivistisch- naturwis senschaftlichen, okkultistischen An- 
schauungen u. Denkweisen — in die weitere kroatische Offentlichkeit eindrangen. 
Die Beobachtungsgabe des Dichters ist verhältnismäßig einseitig; es überwiegen 
gleiche Typen in verschiedenen Variationen. Stil u. Komposition: Der Stil ist in 
den meisten Erzählungen ohne besondere persönliche Note, nicht voll durchgebildet. 


18 


In der Wortwahl sind ihm nur die Vorstellungsinhalte wichtig, auf den 
emotionalen Gehalt wird nicht viel Gewicht gelegt. Attribute u. Epitheta werden 
nicht individualisierend gewählt. Unter den kroatischen Realisten haben Kozarac, 
Leskovar u. Novak einen viel mehr ausgeprägten Stil. In einem großen Teile seiner 
Werke kämpfen der Denker, Erzähler u. der Ideolog mit dem Künstler, häufig 
zum Nachteil des Künstlers. Die Quantität des Erlebnisgehaltes ist bei manchen 
Erzählungen gering. Gegenüber den vielfach konstruierten, im Stil unpersönlichen 
Romanen erweist er sich dort, wo er aus vollem Innenleben schöpft, als vorzüg- 
licher Kompositor. Mit der patriotischen Tendenz in seinen Werken wurden ın 
Kroatien einige Generationen der Jugend ım Geiste des nationalen Widerstandes, 
im Streben nach Charakterhaftigkeit u. im Streben nach Europa, europäischer 
Geisteshaltung erzogen. Gj. bedeutet in der kroatischen Literatur u. im kroati- 
schen nationalen Leben ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den romantisch- 
nationalen Stimmungen u. Bestrebungen Kroatiens der 60 er u. 70 er Jahre u. dem 
modernen Leben. Als Künstler gehört er nicht in die Reihe der größten jugo- 
slavischen Dichter — Njegoš, Kranjčević, Bor. Stanković, Ivan Cankar — kommt 
aber gleich nach ihnen in der Reihe derer, die wichtige Abschnitte der jugoslavischen 
literarischen u. allgemein nationalen Vergangenheit charakterisieren (Preradovié, 
Lazarević, Šenoa). 


BULGARISCHE HISTORISCHE BIBLIOTHEK 


(Blgarska istoričeska biblioteka. Redaktori prof. Dr. V. N. Zlatarski, 
prof. Dr. P. Nikov. Urednik-Stopanin Strašimir Slavčev, Sofija 1928.) 


Von Josef Matl. 


Der Plan zur Herausgabe dieser Historischen Bibliothek ist dem schon zu 
Beginn der bulgarishen Wiedergeburt erwachten und lebendig gewordenen, die 
nationalkulturelle Wiedergeburt und Aufbauarbeit gestaltenden Bewußtsein ent- 
sprungen, daß die eingehende Kenntnis der kulturellen und politischen geschicht- 
lichen Leistung des eigenen Volkes in der Vergangenheit und die damit geweckte 
Tradition eine Existenz- und Kraftgrundlage des nationalen Lebens, Seins, 
Schaffens für die Gegenwart und Zukunft bedeute. Eine Wandlung ist auch hier 
bei den kleinen slavischen Völkern — wenn auch nicht in dem Ausmaße, wic bei 
den älteren, reiferen und dadurch kritischeren und skeptischeren großen west- 
europäischen Völkern — nur insoweit eingetreten, daß der im wesentlichen aus 
dem romantischen Organismusgedanken entstandene Historizismus durch die er- 
nüchternden kritisch-positivistischen, empirischen, evolutionistischen Strömungen 
in der Wissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den illusions- 
reichen Höhen naiv-romantischer Idealisierung herabgestiegen und sich zu einer 
auf kritische Beurteilung der Quellen beruhenden nüchternen Betrachtung der 
historischen Zusammenhänge und Tatsachen gewandelt hat. Wir in Westeuropa, 
die wir heute schicksalsmäßig in einer vielleicht für Jahrhunderte entscheidungs- 
vollen geistigen und politisch-sozialen Umstellungskrise darinnen stecken, sind in 
letzter Zeit etwas kritisch geworden gegenüber dem Übergewicht des Historizismus 
— ich denke hier vor allem an die in der deutschen und französischen Offentlich- 
keit zu hörende Losung: Los vom Historizismus — aus dem Bewußtsein und 
Gefühl heraus, daß uns die seit über 100 Jahren gepredigte Rückschau in das Ver- 
gangene in ihren Auswirkungen zu einer Last zu werden beginnt, die Handlungs- 
und Urteilsfreiheit gegenüber den Aufgaben der Gegenwart und Zukunft manch- 
mal schon mehr beschwert als erleichtert. Dies nebenbei. Diese allgemeine 
kritische Randbemerkung ist nicht als Vorwurf gegen diese vorzüglich redigierte 
Bulgarische Historische Bibliothek gedacht, für deren Qualität uns die Namen der 
hier vertretenen führenden bulgarischen Historiker und Fachleute gel vor 
allem der Name V. N. Zlatarskis, der durch seine bisherigen grundlegenden 


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Arbeiten zur bulgarischen Geschichte Proben seines wissenschaftlichen Kritizismus 
und seines europäischen wissenschaftlichen Niveaus gegeben hat. — 


Wie schwer sich in der südslavischen Geschichtswissenschaft aus den gegebenen 
schwierigen Entwicklungsumständen auf dem Wege zum freien Volk und freien 
Staat, aus der Tatsache, daß das primum est vivere, deinde philosophari und 
damit das nationalpolitisch zweckbetonte Geschichtsforschen und Geschichts- 
schreiben bis in die neueste Zeit dauerte, eine streng kritische Auffassung der 
nationalen Geschichte durchsetzt, möge nur eines illustrieren: Man beobachte die 
Genesis und Bedeutung der naiv-romantisch-nationalistischen Auffassung und These 
vom „Erbfeind“, unter dem jeweilig der Türke, Germane oder Italiener verstanden 
wird. Diese Auffassung, die in den weiten Kreisen der Intelligenz bis heute noch 
nicht überwunden ist — die führenden kritischen Historiker wie L. Haupt- 
mann, F. Silik, N. Radojtié, V. N. Zlatarskıu. a. sind ja darüber 
hinaus —, ist zu einer Mentalität, Psychose geworden, die den Blick und den 
Villen für eine kritische objektive Bewertung der historischen Zusammenhänge 
und der geschichtlich durch die jeweiligen Kräfte verhältnisse gegebenen Macht- und 
Abhängigkeitsrelationen trübt durch das Hineintragen von uld problemen und 
angeblichen Haßtendenzen und für den gegenwärtig notwendigen Neuaufbau die 
Atmosphäre vergiftet. Daher denn auch bis heute die Vorherrschaft der politi- 


schen Geschichte, daher denn auch die gegenüber der polnischen, Cechischen und 


russischen geschichtsforschenden Tätigkeit auffallende mangelhafte systematische 
komparative Erforschung der rechts-, wirtschafts-, sozial-, kulturgeistesgeschicht- 
lichen Entwicklung. Eine Wandlung zum Besseren ist erst in den letzten Jahren 
zu bemerken. Ich verweise hier nur auf die Untersuchungen und programmati- 
schen Arbeitspläne des Serben Dušan Popović (Belgrad), des Slovenen Cremoßnik 
(Sarajevo), des Kroaten Matasovié (Skoplje), des Slovenen L Hauptmann u. a. 
Immerhin wird es wohl noch eine Weile dauern, bis eine Geschichte der Süd- 
slawen in der Art Kljulevskijs Geschichte des russischen Volkes wird geschrieben 
werden können. Eine Reihe wertvoller Bausteine für eine derartige Geschichte 
der Südslaven bringt die neue Bulgar. Historische Bibliothek. — 


Der erste Jahrgang (godina prva) 1928 der neuen Blgarska Istorideska 
Biblioteka enthält in 4 Bänden folgende Studien, teils in Form populär gehaltener 
Dessen ung ohne wissenschaftlichen Apparat, teils (nur in wenigen Fällen) mit 

pparat: 

Bd. I (Tom prvi): Prof. Gavr. J. Kacarov gibt einen Abriß der Ge- 
schichte und des Wesens des alten Thrakiens (Očerk na istorijata i bita na drevna 
Trakija. God. I, T. I, S. 1—21). Prof. Bogd. Filo zeichnet die Geschichte 
und die Bedeutung der römischen Herrschaft in Bulgarien (Rimskoto vladigestvo 
v Bigarija. T. I, S. 22—48). Der Sprachforscher Prof. St. Mladenov unter- 
sucht auf Ain Better erer Grundlage die Stellung der Bulgaren Asparuchs 
in der Reihe des türkischen Zweiges der ario-altaischen Völker (Polozenieto na 
Asparuhovité Blgari v reda na tjurskija klon ot ario-altajskité narodi. T. I, 
S. 49—78) und bringt dabei einen kritischen Überblik über die bisherigen Thesen 
der Herkunft und Zugehörigkeit der Bulgaren (hunnisch, türkisch usw.). Den 
historischen Prozeß der Formierung des bulgarischen Volkstums — im Wege des 
Zusammenfließens zweier ethnischer Elemente, des bulgarischen und des slavischen, 
seit den 3 des 8. Jahrh. — schildert V. N. Zlatarski in der 
außerordentlich interessanten und aufs chluß reichen, die politischen, rechtlichen, 
sozialen und istigen Komponenten aufhellenden Studie (Obrazuvane na 
bigarskata narodnost’. T. I, S. 74—112). 


In die bedeutungsvollste und schicksalsschwerste Epoche der Balkangeschichte 
führt uns Prof. P. Niko in dem Aufsatz, der die einzelnen Etappen der 
Eroberung Bulgariens durch die Türken und das Schicksal der letzten Silmanen 
behandelt. (Turskoto zavoevanie na Blgarija i sadbara na poslednit& Silmanovei. 
T. I, S. 118—59). In die leider noch immer wenig bekannte und zu wenig ge- 
würdigte Geschichte der Volkskunst der Balkanslaven, die übrigens vor kurzem 
durch das epochale Werk des Wiener Kunsthistorikers Strzygowski über die alt- 
kroatische Kunst (herausgegeben von der Matica Hrvatska) eine wertvolle Be- 
reicherung erfuhr, leuchtet der Aufsatz des Prof. Kr. Mij ate v über die Kunst- 


75 


handwerke bei den alten Bulgaren hinein. Die im e beigegebenen 
XVI Bildtafeln vermitteln die nötige Veranschaulichung (H eni zanajati 
u starité Bilgari. T. I. S. 160—84). Den Unterschied zwischen der 55 
schen und bulgarischen Renaissance er Wiedergeburt) zeigt aus gründlicher 
Kenntnis der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte der 1928 zu früh dahin- 
geraffte Prof. Iv. D. 8 iImanov in einem kurzen, aber inhaltsreichen Aufsatz 
(Zapadnoevropejskoto i blgarskoto vzrakdanie. T. I, S. 185—98). Die Be- 
E des Lebenswerkes des Neofit Hilendarski-Bozveli (1785—1848) in der 
Geschichte der geistigen und nationalen Befreiung der Bulgaren beleuchtet die 
gründliche Arbeit des berufenen Kenners Prof. M. Arnaudov (Neofit Hilen- 
darski-Bozveli. T. I, S. 194—224). — Bd. II (Tom vtori). Auf Grund der Ergeb- 
nisse der Ausgrabungen der letzten Zeit gibt uns Iv. Velkov ein Bild von 
Pliska, der ersten bulgarischen Residenz, mit Bildern und SE 
(Pliska — prvata blgarska stolica. T. II, S. 1—26). Der Wirtschaftshistoriker 
Iv. Sakizov, dessen bulgarische Wirtschaftsgeschichte vor nicht langer Zeit im 
Grundriß der slavischen Philologie erschienen ist, bringt zusammenfassend über- 
sichtlich die ethnischen Verhältnisse und die soziale Schichtung im mittelalterlichen 
Bulgarien zur Darstellung (Naselenie i vlast’ v srédnovékovna Bigarija. T. II. 
S. 27—68). Die religiösen und politischen Ursachen der Kreuzzüge im allgemeinen 
und den ersten Zug der Kreuzfahrer durch das Balkangebiet im einzelnen schildert 
Prof. Sv. Georgiev (Prviat krstonosen pochod i blgarskitě zemi. T. II. 
S. 60—117). Die Persönlichkeit und die politisch-militärische Tätigkeit des aus 
der südslavischen epischen Volksdichtung gut bekannten „guten Helden“ aus dem 
Rhodope Momčilo (Momäil Voevoda) zeigt uns im Licht der Geschichte V. N. 
Zlatarski in seinem Aufsatz (Rodopskijat junak Momtil Voevoda. T. II, 
S. 118—81). Einen wertvollen Einblick in die geistige Lage und die religiösen 
Strömungen in Bulgarien im 14. Jh. vermittelt uns V. SL Kiselkov in einer 
monographie Studie, die das Leben und Wirken und die Lehre Theodosius’ von 
Trnovo, eines der bedeutendsten Repräsentanten der damaligen bulgarischen 
Intelligenz, schildert (Kilifarskijat otielnik Teodosij. T. Il, S. 18264) Als 
Fortsetzung der Lebens reibung des hl. Ivan von Rila, verfaßt vom Patriarchen 
Euthymij, ist uns in der altbulgarischen Literatur eine Erzhlung von der Über- 
tragung der Gebeine des hl. Ivan v. Rila aus Trnovo ins Rila-Kloster von Vladislav 
dem Grammatiker erhalten, die ein getreues Bild der bulgarischen Verhältnisse in 
der Mitte des 15. Jhs. gibt und in rein literarischer Hinsicht zu den interessantesten 
Literaturdenkmälern jener Zeit gehört. Prof. P. Ni k o v gibt eine literatur- und 
kulturgeschichtliche Einleitung zu dieser Erzählung und eine Übersetzung der- 
selben ins Neubulgarische (Vladislav gramatik — Prenasjane moštitě na sv. Ivana 
Rilski ot Trnovo v Rilskija monastir. T. II, S. 165—87). 


Bd. III (Tom treti): In die Prähistorie der bulgarischen Gebiete führt uns 
der allgemeine Oberblick über die Kultur en in der Vorgeschichte Bul- 
on von R. Popov (Obst pregled na kulturnité epochi v predistorijata na 

Igarija. T. III, S. 1—21). Einen Abriß der Religion der alten Thraker gibt 
illustriert durch Bildtafeln Prof. D. Detlev (Olerk na religijata na drevnicé 
traki. T. III, S. 22—55). Die kirchen- und gei ichtlich, wie auch politisch- 
und sozialgeschichtlich bedeutungsvolle Bogomilenbewegung steht noch im Vorder- 
rund des Interesses und ist Objekt verschiedener Deutungsversuche (ich verweise 

ier auf die bulgarischen und serbokroatischen Arbeiten der letzten Jahre von 
Ivanov, oev, V. Glušac, V. Klaić, Iv. Pilar). Prof. Iv. Sn&garov versucht 
das Auftauchen, Wesen, die Glaubenslehre und die Bedeutung der Bogomilen- 
bewegung vom kirchengeschichtlichen Standpunkt aus klarzulegen (Pojava, so$tnost’ 
i značenie na bogomilstvoto. T. III, S. 58-75). Die diplomatische Aktion des 
Zaren Kalojan zur Annäherung an Rom schildert eingehend P. Nikov in dem 
Aufsatz über die bulgarische Diplomatie seit Beginn des 18. Jahrhunderts (Blgarska 
diplomacija ot nagaloto na XIII věk. T. III, S. 76—108) V. I Zlatarski 
legt in dem Beitrag zur Geschichte und politischen Bedeutung der ersten bulgari- 
schen Deputation nach Rußland (Atanas Nikolaev u. Ivan Atanasov Zambin 
1864 in Petersburg) die Anfänge der bulgarisch-russischen politischen Beziehungen 
im 19. Jh. klar (Prvitk „bulgarski deputati“ v Rusija. T. III, S. 109—190). In 


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das gleiche Gebiet leuchtet die Studie des Prof. M. G. Poprukenko über die 
Rolle Rußlands in der bulgarischen Wiedergeburt des 19. fhs. hinein sowie über 
das Interesse russischer Kreise an den Bulgaren (Rusija i blgarskoto vzraZdane. 
T. III, S. 180—147). In gewissem Sinne ergänzend zur vorigen Studie zeigt der 
en A Gs audc si die Haltung der ete Ik Intelli 5 zu ege 
i ildun rebungen im inn des 19. Jhs. sowie die eutung der 
jechischen ee en Wiedergeburt für die bulgarische Kultur (Grcka i 
Igarska prosvéta v načaloto na XIX. věk. T. III, S. 148—76). Einen weiteren 
Beitrag zu den russisch-bulgarischen Beziehungen liefert J. Trifunovs Aufsatz 
über den russischen Anteil in der bulgarischen Kirchenfrage (Rusko ulastie v 
blgarskija crkoven vipros. T. III, S. 176—87). — 


Bd. IV (Tom četvrti): Der 4. Band des ersten Jahrganges ist dem Zaren 
Simeon und seiner Epoche anläßlich der Milleniumsfeier gewidmet. Er enthält 
folgende Studien: V. N. Zlatarski zeichnet auf breiter Grundlage die politi- 
sche Tätigkeit des Zaren Simeon (893—927) (Polititeskata dejnost’ na Car Simeona. 
T. IV, 8—48). Einen sehr willkommenen sprachgeschichtlichen, zusammen- 
fassenden Überblick über die Entwicklung der bel e Sprache von der Zeit 
Simeons bis zur Gegenwart gibt uns der berufendste Kenner St. Mladenov 
(Hiljado godini blgarski ezik—ot Car Simeona do dnes. T. IV, S. 49—78). 


Was Zar Simeon und die durch ihn inaugurierte Litcratur und Kultur in der 
Geschichte der kirchenslavischen und speziell bulgarischen Literaturgeschichte be- 
deutet, legt eingehend M. Genov in einer Studie dar (Car Simeonovija vék v 
literatura. T. IV, S. 79—121). Eine anschauliche geistes- und kultur ichtliche 
Darstellung des geistigen Lebens und der Kultur (Bildung) bei den Bulgaren zur 
Regierungszeit Simeons gibt J. Trifunov (Duchoven Zivot i prosvéta u. 
Blgaritě v caruvaneto na Simeona. T. IV, S. 122—47). Das besondere Interesse 
der Kunstgeschichtler verdient die durch Illustrationen veranschaulichte Arbeit 
Prof. Kr. Mijatevs über die Kunst bei den Bulgaren im 9. und 10. Jh. 
(Izkustvoto na Blgaritk prez IX i X v. T. IV, S. 148—79). Die als Quelle 
wichtige Korrespondenz des bulgarischen Fürsten Simeon mit dem kaiserlichen 
Delegierten Magister bringt V. N. Zlatarski in bulgarischer Übersetzung mit 
erläuternden Erklärungen (Prepiskata na blgarskija knjaz Simeona s imperatorskija 
delegat Lva Magistra. T. IV, S. 180—92). Diesen Simeon-Band eröffnet ein 
Porträt des Zaren Simeon von Prof. Sim. Velkov, ferner im altkirchenslavischen 
Text und neubulgarischer Übersetzung das Lobgedicht auf den Zaren Simeon, das 
uns in einem Sbornik aus dem Jahre 1078 erhalten ist.*) 


1) Den Inhalt jener Beiträge der Blgarska Istoriteska biblioteka, die von all- 
emeinerem Interesse sind, werde ich gelegentlich in der Zeitschriftenschau aus- 
ührlicher wiedergeben. 


77 


II 
LITERATURBERICHTE 


DIE MARXISTISCHE GESCHICHTS WISSENSCHAFT 
IN DER SOVETUNION SEIT 1927 


Von 
Fritz Epstein (Hamburg). 


1: 
Chronik der Entwicklung. 


Inhaltsübersicht. 
Vorbemerkung. 


Die Kommunistische Akademie. — Das Lenin-Institut (und Istpart). — Das 
Marx-Engels-Institut. 

M. N. Pokrovskijs 60. Geburtstag. — Der Kampf der marxistischen 
Historiker gegen die Repräsentanten der „bürgerlichen“ Geschichtswissenschaft 
D. M. PetruSevskij und E. V. Tarle. — Das Institut für Geschichte der RANION. 

Die Konferenz der Osteuropa-Historiker in Warschau. — Die Russische 
Historiker-Woche in Berlin. — Die russische marxistische Geschichtswissenschaft 
und der VI. Internationale Historiker-Kongreß in Oslo. — Die I. Konferenz der 
marxistischen Historiker der gesamten Sovetunion in Moskau. 

Das Verhältnis der marxistischen Historiker zur Akademie der Wissen- 
schaften der Sovetunion. 

Die Begründung des Forschungsinstituts für Geschichte bei der Kommunisti- 
schen Akademie. 

Die marxistische Geschichtswissenschaft in der Ukraine. 

Die Konferenz für den Unterriht in den marzistischen historischen 
„ Disziplinen: „Geschichte der Kommunist. Partei“, „Leninismus“ und „Geschichte 
der Kommunist. Internationale“. 


Über zwei Jahre erstreckt sich das Erscheinen der zehn letzten 
Hefte des „Istorik-Marxist“, der in der Sovetunion für das „marxi- 


stisch-leninistische“ historische Denken maßgebenden Zeitschrift.“) 


1) „Istorik-Marxist“. Žurnal obščestva istorikov-marxistov pri Kommunisti- 
¢eskoj Akademii CIK SSSR (izd. Kommunist. Akademii; Moskva 19, Volchonka 14). 

Heft 5 (1927) 802 S.; 6 (1927) 819 S.; 7 (1928) 810 S.; 8 (1928) 262 S.; 
9 (1928) 250 S.; 10 (1928) 275 S.; 11 (1929) 278 S.; während der Korrektur wurden 
einige Hinweise auf H. 12, 18 und 14 eingeschaltet, eine eingehende Berücsichti- 
gung der drei Hefte für den vorliegenden Bericht war indessen nicht mehr möglich. 
Die vier ersten Hefte des „Istorik-Marxist“ habe ich 1928 in diesen Jahrbüchern 
(N.F. IV, 277—294) angezeigt. 

Die in den Anmerkungen gebrauchten Abkürzungen sind: Izvestija = 
Izvestija CIK Sojuza SSR i Vseross. CIK Sovetov Rab., Krestj. i Krasnoarm. 
Deputatov (Moskauer Tageszeitung); Pravda — Organ Central’n. Komiteta 1 


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Parolebuch des Generalstabs der marxistischen Geschichtsforschung, 
der ,,Gesellschaft der marxistischen Historiker bei der Kommunisti- 
schen Akademie“ in Moskau, weisen die neuen Hefte in unvermin- 
derter Schärfe die beispiellose Eigenart auf, daß ein ausgesprochen 

litisches Kampforgan die Geschichtswissenschaft im heutigen Ruß- 
and repräsentiert. Die historische Forschung und der Geschichts- 
unterricht sind bewußt in den Dienst der Politik, d. h. der herrschen- 
den Partei, gestellt.) Die marxistische Geschichtsschreibung ist Aus- 
druck der Parteipolitik; Streben nach Unparteilichkeit bedeutet Ab- 


Moskovsk. Kom. V. X. P. (b.), Mosk. Tageszeitung; Vestnik Komakad. — Vestnik 
Kommunistileskoj Akademii; Vochenbericht — Wochenbericht der Gesellschaft 
für kulturelle Verbindung der Sowjetunion mit dem Auslande; Trudy I und 
Trudy II = Trudy pervoj vsesojuznoj konferencii ıstorikov-marksistov Bd. I und 
II (Mosk. 1880). — Verweisungen auf den „Istorik-Marxist“ erfolgen in der Regel 
ohne Nennung der Zeitschrift, wobei die voranstehende Ziffer (1 bis 14) die Nr. 
des zit. Heftes bezeichnet. 

In meiner Übersicht bleibt die methodisch-didaktische Abteilung der Zeit- 
schrift außer Betracht, die nicht unabhängig von der Stellung des historischen 
Materialismus im System der marxistischen Wissenschaftslehre und nur in ihrem 
Zusammenhang mit der Aufgabe der Geschichte im Rahmen der Soverpädagogik 
richtig eingeschätzt werden kann. Ebenso sind Hinweise auf die sehr zahlreichen 
Kußerungen zur nichtrussischen Geschichte fast völlig unterblieben, soweit für die 
Erwähnung nicht besondere Gründe sprachen; auf einige Beiträge zur west- 
europäischen Geschichte in den letzten Heften des „Istorik-Marxist“ habe ich in 
der Histor. Zeitschrift Bd. 140 (1920), S. 196 und 692 hingewiesen. 

Um das in der Zeitschrift „Istorik-Marxist“ aufgespeicherte bibliographische 
Material zu erschließen, führe ich häufiger als in meinem ersten Bericht auch be- 
merkenswerte Rezensionen an. Die Übersicht stützt sich in erster Linie auf die 
mir durch das Osteuropäische Seminar der Hamburgischen Universität, das 
Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv, das Hamburger „Institut für Auswärtige 


Politik“ und das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt a. M. 
zugänglichen Materialien. 


2) Einige Offenherzigkeiten der Redaktion im Anschluß an eine Aus- 
einandersetzung Pokrovskijs mit dem Akademiker E. V. Tarile über dessen 
Werk „Westeuropa in der Epoche des Imperialismus“ (Evropa v epochu imperia- 
lizma; s. unten S. 109) verdienen Beachtung, weil sie den Klassenkampfcharakter 
des Organs, die Bestimmung der Zeitschrift, als „Kampfmittel der marxistischen 
Historiker im Kampf mit feindlichen Ideologien“ (Minc 11, 277) zu dienen, in 
ungewöhnlicher Schärfe betonen. Tarle hatte sich gegen die persönlich verletzende 
Art gewandt, in der an seinem Werke Kritik geübt worden war, — daß in 
Pokrovskijs Polemik gegen T. ein spöttischer Unterton mitschwingt, den man 
als absichtlich kränkende Mißachtung der Überzeugung des Angegriffenen emp- 
finder, ist nicht zu leugnen. Was die Redaktion Tarle erwiderte, ist bei aller 
persönlichen Färbung durchaus von prinzipieller Bedeutung: „Des — ist der Ton, 
ın dem wir immer mit unseren nfeinden uns auseinandersetzen werden. 
Ob Sie zufällig oder absichtlich, mit oder ohne Willen unter deren Zahl geraten 
sind, das ist eine Frage, die genau so müßig ist wie die Frage nach der moralischen 
Verantwortung Wilhelms oder Greys für den Krieg. Wir können uns zu cinem 

r uns so lebendi en Faktum, wie es der Imperialismus ist, nicht mit „aka- 
demischer™ Leidenschaftslosigkeit verhalten. Europa in der Epoche des Im- 
mus darf für Sie nicht ein Thema wie die ägäische Kultur sein. Mit unseren 
feinden werden wir immer in dem gleichen Ton sprechen, wie mit ihnen 
Marx und Engels, Plechanov und Lenin gesprochen haben. Wem dieser Ton nicht 
beh der soll sich nicht in den kampf einmischen und es bleiben lassen, 
den Standpunkt dieser oder jener Imperialisten gegen die marxistische Analyse in 
Schutz zu nehmen . . . (9, 109). 


6 NF 6 79 


fall, Abgleiten ‘ins Biirgerliche, und umgekehrt wird der Vorwurf, 
den sih M. N. Pokrovskij vor langen Jahren von Kiese- 
wetter zuzog: er degradiere die ganze Geschichte zur Partei- 
polemik, ihm von seinen Anhängern als Verdienst angerechnet.“ 

In zäher und zielbewußter Arbeit liefert die Kommunistische 
Akademie beim Zentralen Vollzugsausschuß der Sovetunion, die 
1918 errichtete Hochburg des „Marxismus- Leninismus“, für 
die einzelnen „Sektoren“ der sog. dritten, der „ideologischen“ oder 
Kulturfront (nach der „politischen“ und der „ökonomischen“ Front) 
die geistigen Waffen.“) „Die marxistischen Historiker bilden eine Ab- 
teilung der leninistischen Armee, die gleichzeitig auf mehreren 
Fronten kämpft“; ) sie fühlen sich als der Stoßtrupp auf dem vielleicht 
wichtigsten Abschnitt der „ideologischen“ Front, auf der mit geistigen 
Waffen der Kampf zweier Welten, der bürgerlichen und der prole- 
tarischen, ausgekämpft wird.) 

In der Unterrichtung über die historische Arbeit in der Sovet- 
union sieht sich der Osteuropa-Historiker heute vor einer gegen die 
Zeit vor dem Kriege völlig neuen Lage: eine beachtenswerte 
historische Literatur in ukrainischer,") weißrussischer,®) armenischer, “ 


„Man muß es deutlich aussprechen, daß marxistischer Historiker nicht sein 
kann, wer sih von der litischen Praxis zurückhält; für den marxistischen 
Historiker erscheint sein politisches Wirken als die Quelle wissenschaftlich-schöpfe- 
rischer Arbeit.. Es verstehy sich von selbst, daß außer der praktischen iti- 
schen Tätigkeit für den marxistischen Historiker noch zureichende Kenntnis der 
Geschichtstatsachen und Beherrschung der Forschungstechnik der bürgerlichen 
historischen Wissenschaft gefordert wird.“ P. Gorin, Na istori¢eskom fronte: 
Pravda Nr. 272 (4104) v. 28. Nov. 1920. 

„Die Geschichtswissenschaft — ein Blinder, der das nicht sieht! — ist ein 
Stück Klassenkampf“: V. Seltzer (Zel’cer) 10, 251. 

„Geschichte ist immer Klassengeschichte, nicht nur deshalb, weil ein Historiker 
mitunter auf dem Klassenstandpunkt steht, sondern deshalb, weil der Historiker 
immer den Interessen seiner Klasse dient“: S. Piontkovskij, Oktjabf i 
russkaja istoriceskaja nauka: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2 S. 112; vgl. diese Jahr- 
bücher N. F. III (1927), 584—536. 


3) Rubinstein 9, 77. — Die deutsche Geschichtswissenschaft, die sich 
eben zur Abwehr der „Historischen Belletristik“ — Histor. Ztschr. Bd. 188 (1928) 
— aufraffte, wird selbst — von Ranke angefangen bis zu den Teilnehmern am 
VI. Internat. Historikerkongreß — vom Führer der marxistischen Historiker als 
„Belletristik, die den Interessen ihrer Klasse diente“, abgetan! Vorrede Pokrov- 
skijs zur Schrift von G. Serebrjakova, Zen&iny epochi Francuzskoj revol- 
jucii (1929), nach S. Gorodeck ij: Izvestija Nr. 186 (8672) v. 16. Juni 1929. 

ta) Die „Kulturfront“ steht traditionell an dritter Stelle; vgl. A. V. 
Luna ars kij, Tretij front. Novye zadaci i puti narodnogo obrazovanija 
(Moskau 1924), der die „kommunistische“ und die „militärische“ Front an erster 
und zweiter Stelle nennt (S. 27). 

) Pokrovskij 11, 217: P. KerZencev, Bofba na ideologileskom 
fronte: Kniga i revoljucija 1929 Nr. 12. 

42) C. Friedland (Fridljand). Ob ideologit. borbe na istorič. frorte: 
Kommunistiéeskaja revoljucija 1929 Nr. 23/24.: ; 

5) Über die Geschichtsforshung in der Ukraine s. unten S. 145. 

©) Vgl. Vlad. Piéeta, La littérature historique blancheruthéne: Bulletin 
d'information des sciences historiques en Europe Orientale I (1928), 214—222; 


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georgischer) Sprache und in anderen mitunter erst in den letzten 
Jahren zu Schriftsprachen erhobenen Nationalsprachen“) ist im Ent- 
sehen. Die Sprachenfrage, in der sich der tiefgreifendste 

litische Unterschied des alten und neuen Rußland, wohl das wesent- 
ichste und sicher ein bleibendes Ergebnis der bolschevistischen Um- 
wälzung, die Verwirklichung des Nationalitätenprinzips bis ins 
Extrem auf dem Territorium der Sovetunion, ) nach der kulturellen 
Seite auswirkt, ist in ihrer Gefährlichkeit für die Zukunft der deut- 


ders., Die weiß russische Geschichtsforschung 1922—1928: Slavische Rundschau 
1. Jg. (1929), 661—666 und 828—827. 

Eine „Weißrussische Gesellschaft der marxistischen Historiker“ (Belorusskoe 
ob3lestvo istorikov-marksistoo) wurde im Jahre 1927 begründet; in ihrer 
Vortragstätigkeit stehen Themen aus der Geschichte der revolutionären Be- 
wegungen in Weißrußland im Vordergrund, z. B. über die Beteiligung am polni- 
schen Aufstand 1868, die revolutionären Zirkel in Weißrußland in den siebziger 
Jahren, die Oktoberrevolution in Weißrußland usw. Die Gesellschaft bereitet 
Veröffentlichungen über die Geschichte der revolutionären Bewegung in Weiß- 
rußland (S. Agurskij, Revoljucionnoe dviZenie v Belorussi, 1868—1907. 
Istpart_ CK VKP(b)B, Minsk 1928; vgl. dazu M. Jugov: Ist.-Marxist 18, 
254—259), die Geschichte der Partei (Knorin) und die Geschichte der revo- 
lutionären Bewegungen in Weißrußland in den sechziger Jahren vor. — : 
Panke vi &, O rabote belorusskogo obS&estva istorikov-marksistov: Vestnik 
Komakad. 27, 294; ebda. 32, 240, Istorik-Marksist 10, 268; vgl. die Referate über: 
„Rok 1863 na MinszczyZnie“ (Minsk 1927) und ,,Socyjalistyény ruch na Belarusi 
u proklamacyjach 1905 g.“ in diesen Jahrbüchern N.F.V. (1929) 95 f. und 96. 
S. auch Anm. 118 a. 

Bei der ersten Heerschau der marxistischen Historiker, der Moskauer 
Historikerkonferenz im Dezember 1928, blieb die Marxistische Geschichtswissen- 
schaft der weißrussischen Bundesrepublik völlig im Hintergrund; in der Ver- 
öffentlichung der auf der Konferenz gehaltenen Vorträge ist die Geschichte Weiß- 
rußlands nicht vertreten. Über die Tagung vgl. unten S. 128. 

7) Vgl. A. Zor’jan, Sostojanie armjanskoj istoriografii: 11, 245 f.; 
Trudy I, 472—488 und II, 621; der Vortrag wurde auf Deutsch gehalten. 

8) Vgl. Die historische Wissenschaft in Sowjetgeorgien: Wochenbericht 
4. Jg. Nr. 80/81 (28. 7. bis 4. 8. 1928), S. 14—16; M. Poliewktow, Die Ge- 

ichtswissenschaft in Georgien in den Jahren 1917—1927: Osteuropa 4. Jg. 
(1928—29), 171—188. 

sa) „Die Geschichte des Volkskommissariats für die Angelegenheiten der 
Nationalitäten (Narodnyj komissariat po delam nacional’nostej) ist noch nicht 

ieben. Es ist zu wünschen, daß dies geschehe“: Skrypnik in der Sitzung 

Präsidiums des Nationalitätenrats Zentralen Exekutivkomitees der 
UdSSR am 11. Febr. 1930 im Glückwunsch an Stalin zum fünfzigsten Ge- 
burtstag (Izvestija Nr. 45/3892 v. 15. Febr. 1980). — Vgl. N. Popov, Stalin 
und die nationale Linie der Leninschen Partei: Internat. Presse-Korrespondenz 
10. Jg. Nr. 2 (7. Jan. 1980); S. Di manite jn, Stalin kak bol’Sevistskij teoretik 
nacional’nogo voprosa: Revoljucija i nacional’nosti Nr. 1 (1930). 

®) Vgl. z. B. Th. Menzel, Der I. Turkologische Kongreß in Baku: Der 
Islam 16 (1927), 1—76 und 169—228; Ch. Gabidullin, Perechod tjurko- 
tatarskich narodnostej na latinskij alfavit: Izvestija Nr. 138 (8674) v. 19. Juni 
1929; A. Tagi-zade, Latinizacija pis’mennosti narodov SSSR: Pravda 
Nr. 158 (4287) v. 7. Juli 1929; S. Budrjanskij, Rez. über: Kul’turnaja 
revoljucija na vostoke. Novyj tjurkskij alfavit v Sovetskom Sojuze. (Moskau- 
Baku 1930) in der Pravda Nr. 9 (4454) v. 9. Jan. 1980; Sovet Nacional’nostej o 
tov. I. V. Staline: Izvestija Nr. 45 (3892) v. 15. Febr. 1930; Bericht über die 
Beratung der Historiker des Orients während der Moskauer Konferenz der 
marxist. Historiker: Ist.-Marxist 12, 824—838 


81 


schen und der westeuropäischen Osteuropaforschung noch kaum er- 
kannt. Der Vorgang der Auflösung des den europäischen Osten und 
Südosten umspannenden Begriffs „Geschichte des Slaventums“ in nur 
von Spezialisten noch völlig zu beherrschende Nationalgeschichten 
der slavischen Völker erfährt eine grotesk anmutende Wiederholung 
und Steigerung und scheint unvermeidlich ein vielfältiges neues 
Spezialistentum zu erfordern.“) Die Auflösung in Geschichten der 
Nationalitäten, die zusammengehalten werden durch die Fessel der 
marxistischen Methode, bildet die Signatur der heutigen Lage der 
Geschichts wissenschaft in der Sovetunion. 

Aus der Zersplitterung der ehemaligen „ Russischen“ Geschichte 
in eine Vielzahl von „Geschichten der Völker der Union der Sozia- 
listischen Räterepubliken“ ergeben sich gleichzeitig für die fernere 
Behandlung der osteuropäischen Geschichte schwierige methodische 
Fragen von großer Bedeutung:“) bereits ist in Rußland im Zu- 
sammenhang mit der Sprachenfrage eine Diskussion darüber im 
Gange, daß die Geschichte der orientalischen Völker der Union mehr 
und mehr in die Sphäre und Domäne der Orientalistik rückt.“) 

Es wird immer zweifelhafter, wieweit es in Zukunft möglich sein 
wird, außerhalb Rußlands eine gewisse Übersicht über die historische 
Arbeit auf dem Gesamtgebiet der Union zu behalten. Aus dieser 
Schwierigkeit aber ergibt sich, daß — ungeachtet seiner ideologischen 
Einseitigkeit — der Wert des „Istorik-Marxist“ für die nichtrussische 
Forschung sich in dem Maße steigern muß, wie es der Redaktion 
gelingen wird, für die Zeitschrift als Organ einer das gesamte Gebiet 
der Union umspannenden Historikervereinigung””) eine regelmäßige 
und EE Berichterstattung über die historische Forschung 
Sovetrußlands, zumal über die in nationalen Sprachen abgefaßten 
Arbeiten, ) zu organisieren und damit den Aufschwung der heimat- 


10) Über die Auswirkung der Dezentralisation der Verwaltung und der 
Sprachenpolitik in der Wirtschaft: H. v. Eckardt, Zur Problematik des Natio- 
An Archiv für Sozial wissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927), 410. 

10) Die notwendige Folgerung für den akademischen Unterricht hat als 
erster V. L Piceta in seiner „Einführung in die russische Geschichte“ (Vvedenie 
v russkuju istoriju, Moskau 1922) =e ; die nordostrussische, die weißrussische 
und die ukrainische Quellenkunde und Geschichtsschreibung sind jede für sich 


11) Vgl. A. Samojlovié, Kavkaz i tureckij mir: Izvestija ob-va obsledo- 
vanija i izulenija Azerbajdžana ( Bulletins de soc. scientif. d’Azerbaidjan) 
Nr. 2 (Baku 1926), 3—9; W. V. Barthold, „Über das Studium der Geschichte 
der Türkvölker“ und Ubajdulin (Baku), Die augenblickliche Lage und die 
nächsten Aufgaben der Erforschung der Geschichte der turko-tatarischen Völker 
bei den Türkvölkern Rußlands selbst, — bei Th. Menzel, Der erste turko- 
logische Kongreß in Baku: Der Islam 16 (1927), 88—40 und 41—46. 

12) Vgl. unten S. 181. 

13a) Im Kreise der marxistischen Historiker ist man sich bewußt, daß in der 
gegenwärtigen Entwicklung für die geforderte einheitliche Auffassung des histo- 
rischen „Schemas auch eine Gefahr liegt: Ein Artikel P. Gorins gegen 
Javor$kyj — Izvestija Nr. 61 (3908) v. 3. März 1980 — mißt Javorskyjs 
Gebrauh der ukrainischen Sprache, deren Kenntnis unter den marxisti- 
schen Historikern außerhalb der Ukraine wenig verbreitet sei, die Hauptschuld 


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kundlichen historischen Forschung”) für umfassendere und zu- 
sammenfassende Betracht nutzbar zu machen. 

Bei regelmäßiger Verfolgung der russischen Presse und der Zeit- 

1 gewinnt man freilich immer stärker den Eindruck, daß in 
den letzten ein bis zwei Jahren der Kampf um den Primat des 
marxistischen Denkens in der russischen Geschichtswissenschaft cine 
derartige Ausdehnung und Verschärfung erfahren hat, daß selbst ein 
zentrales Organ wie der „Istorik-Marxist" von den Äußerungen, 
Formen und Phasen der Auseinandersetzung der marxistischen 
Historiker mit der nichtmarxistischen Forschung im eigenen Lande 
und in der übrigen Welt nur eine unvollkommene Vorstellung ver- 
mittelt. Der „Istorik-Marxist‘ unterrichtet zwar rasch und zuverlässig, 
aber nicht umfassend genug über die historische Arbeit der russischen 
marxistischen Gelehrten und über organisatorische Veränderungen, 
die für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft ın der Sovetunion 
von Bedeutung sind. 

Auf der Berliner Russischen Historiker- Woche und auf dem 
Internationalen Historikerkongreß in Oslo, den ersten Veranstal- 
tungen, auf denen die marxistischen Historiker der Sovetunion 1928 
im Ausland als scharf ausgeprägte Richtung in der Geschichtswissen- 


bei, daß jener jahrelang die Führung der marxistischen Wissenschaft in der Ukraine 
habe usurpieren können; über die Angelegenheit vgl. S. 148 f. 


18) Vgl. z. B. D. Zelenin, Die russische (ostslavische) volkskundliche 
Forschung seit 1914: Zeitschrift für slav. Philologie I (1924), II (1925) und IV 
1927), s. auch „Etnografija“ Nr. 1—4 De S. Nikola je v, Die Heimat- 
orschung in der Sowjetunion: Wochenbericht 5. Jg. Nr. 9—10 (11. März 1929), 
S. 16—18; Das Heimatkundeinstitut im Süd wolgagebiet (angegliedert an die 
Staatsuniversität in Saratov): ebda. A Jg. Nr. 14/15 (7.—14. April 1928), 13 f.; 
A. M. LadyZenskij, Die ethnographische Erforschung der kaukasischen 
Völker: ebda. 5. Jg. Nr. 7/8 (25. Febr. 1929), 8—6; Die Heimatforschung im 
Nordkaukasischen Gebiet: ebda. 5. Jg. Nr. 21/22 (8. Juni 1929), 5—9; im Istorik- 
Marxist: G. Kokiev zu V. P. Pozidae v, Gorcy Sev. Kavkaza (1926): 3, 
289—241; ders. zum Sbornik materialow dlja opisanija mestnostej i plemen 
Kavkaza, vyp. 45 (1926): 4, 264 f.: N. J. Jakovlev zu G. Kokie v, Ocerki 

istorii Osetii I (Vladikavkaz 1926, Os etinskij nau£no-issledovatel’skij institut 
edenija): 5, 270—278. — H. Findeisen, Neue russische Literatur zur 
Kultur- und Völkerkunde (Gebiet der unteren Volga): Asia Major II (1925), 
; K. Azadovskij, Irkutskij universitet i izucenie mestnogo kraja 
1918—1928: Desjatiletie Irkutsk. universiteta 1918—1928 (Irkutsk 1928), 26—41; 

Wissenschaftliche Tätigkeit in Sibirien: Slav. Rundschau 1 (1929), 177—182; 
Weifruss. Landeskunde und Ethnographie: ebda. 607 f.; Sumackıj, Pobeda 
marksistskogo kraevedenija: Bol’Sevik 1929 Nr. 20; Wangenheim, Central’noe 
bjuro kraevedenija: Archivnoe Delo 20 (1930), 28 f.; meine Referate: „Severnaja 
Azija“ in diesen Jahrbüchern N. F. 8 (1927), 495—504 und über Publikationen 
der „Gesellschaft zur Erforschung des Gouvernements Moskau“: ebda. N.F. 5 
(1929), 122ff.; die Zeitschriften „Sever“ (Vologda), „Turkmenovedenie“ 
ee „Tatarovedenie“ (Kazań) usw. Das Dilettantentum in der landes- 

ichen historischen Forschung wird scharf abgelehnt; vgl. I. Makarov in 
Pečat’ i revoljucija 1927 H. 6, 202 f. . . 

Zu Beginn des Jahres 1980 setzte das Zentraibiiro für Landeskunde für die 
besten virtschaftsgeschichtlichen Arbeiten von lokaler Bedeutung (2. B. Mono- 

phien über einzelne Industriebetriebe) mehrere ziemlich hohe Preise aus; vgl. 
Evarin Nr. 810 (8846) v. 80. Dez. 1929. 


83 


schaft hervortraten, begegnete man ihnen eher mit abwartender 
Skepsis oder mit Anerkennung als prinzipiell ablehnend. Die „Gesell- 
schaft der marxistischen Historiker wurde seit 1927 immer mehr die 
treibende Kraft in der historischen Forschung. Ihr Gewicht und ihre 
Wirkung im kulturellen und politischen Leben verstärkte sich derart, 
daß erst eine Übersicht über ie wissenschaftliche Leben in der Union 
1927—1929 fiir das Teilgebiet der marxistisch orientierten Geschichts- 
wissenschaft die richtige Einschätzung ihres Hauptorgans ermöglicht. 

Ein Versuch, die Stellung der marxistischen Geschichtswissenschaft 
im eigenen Lande zu umreißen, ihre besonderen innerrussischen welt- 
anschaulichen und politischen Voraussetzungen und Auseinander- 
setzungen aufzuzeigen, die auf die historischen Fragestellungen, die 
Art ihrer Beantwortung und die Organisation der wissenschaftlichen 
Forschung entscheidenden Einfluß ausüben, stößt auf eine besondere 
Schwierigkeit. Sie besteht darin, daß die „wissenschaftlichen Ergeb- 
nisse“ des Marxismus in den sog. Gesellschaftswissenschaften, die das 
Ausland (von den geschworenen Anhängern des Kommunismus ab- 
gesehen) als relative Wahrheiten entgegennimmt, dem Inlande gegen- 
über stets zugleich absolute und politische sind; sie stellen absolute 
Erkenntnisse vor, indem eine „streng marxistische“ Erklärung grund- 
sätzlich als die einzige „wirklich wissenschaftliche“ ausgegeben wird,“) 


—— 


18) „Für unsere Zeit ist eine Wissenschaft ohne Marxismus etwas ähnliches 
wie die kirchliche Weltanschauung, als sie die Lehre Galileis ablehnte. Sie ist ein- 
fach eine Halb wissenschaft. Das Proletariat kann sich natürlich mit einer Wissen- 
schaft nicht begnügen, die von der bürgerlichen Gesellschaft für ihre Bedürfnisse 
zurechtgemacht ist“: A. Luna K ars kij, Der Kampf um das Bündnis der 
Wissenschaft mit der Arbeit: Das Neue Rußland 6. Jg. (1929), H. 1—2 S. 54 (Ober- 
setzung des Artikels: „Neuvjaska“ v Akademii Nauk, in den Izvestija Nr. 29 
[8565] v. 5. Febr. 1929). 

C. Friedland (8, 126): „Marxismus ist, allgemein gesprochen, nicht eine 
politische Theorie, er ist nichts anderes als das einzige und kog Wort echter 
Wissenschaft; steht etwas mit dem Marxismus nicht in Einklang, dann auch nicht 
mit der Wissenschaft in ihren höchsten Ergebnissen“; vgl. auch die Einleitung Fried- 
lands zu seiner „Geschichte Westeuropas 1789—1914“ (Istorija Zapadnoj Every 
1789—1914. C. I: Evropa v epochu promySlennogo kapitalizma, 1789—1871), 
1928, und seinen programmatischen Aufsatz „Očerednye zadači marksistskoj 
istoričeskoj nauki“: Byulleten’ zaoëno - konsul’tacionnogo otdelenija Instituta 
Krasnoj Professury Nr. 4 (März 1980), 9—16. 

„Man muß sich immer wieder klarmachen, daß es cine „objektive historische 
Wissenschaft“ bei der Bourgeosie nicht gibt und nicht geben kann. Die einzige 
objektive, wissenschaftliche Methode, die zur Erklärung dessen führt, was existiert, 
ist die marxistische. Außer der marxistishen Geschichtswissenschaft gibt es eine 
andere als Wissenschaft nicht“: M. Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i 
SE front“ in der Pravda Nr. 260 (4092) v. 7. Nov. 1928. 

Charakteristisch ist, daß der Verfasser des oftiziellen Berichts im „Istorik- 
Marxist“ (H. 9) über die Berliner Historikerwoche, Minc, später zwei Stellen, 
die zu unrichtigen Auslegungen Anlaß geben könnten, eine scharfe Interpretation 
nachschickte. Er wandte sich dagegen, daß seine Ausführungen als Herabminder- 
ung des Kampfcharakters des Marxismus und seiner Bedeutung als der herrschen- 
den Weltanschauung aufgefaßt würden und unterstrich, daß die Methode, mit 
deren Hilfe die „Bourgeoisie“ historische Tatsachen erläutere, nicht wissen t- 
ich sei; einzig und allein der Marxismus sei die wissenschaftliche Methode: 11, 
277. — Die Gleichung „wirklich marxistische Geschichte = einzige echt wissen- 


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während in politischer Hinsicht die Feststellungen des Historikers 
möglichst als eine nach zwei Seiten geschliffene Waffe, sowohl gegen 
die „Klassenfeinde im bürgerlichen Lager wie gegen Opponenten in 
den eigenen Reihen, verwertbar sein sollen. 


Bei zahlreichen historischen Urteilen ist ihre Abhängigkeit von 
aktuellen politischen Spannungen, wie der Auseinandersetzung Stalins 
mit der Opposition, offensichtlich; z. B. wenn Rezensenten von der 
„Streikbrecherrolle Zinov’evs und Kamenevs 1917“ sprechen.“) Der 
Eindruck drängt sich auf, daß unter den Mitarbeitern des „Istorik- 
Marxist“ literarische Ausfälle gegen das verfemte oppositionelle 
Triumvirat Trocij-Kamenev-Zinov’ev eine Zeitlang geradezu Attri- 
bute der Gesinnungstüchtigkeit bildeten.“) Die Politiker der Trockij- 
Opposition wurden gewarnt: Sie sollten nicht wagen, ihre Haltung 
„Wissenschaftlich“ mit Berufung auf die französische Revolution zu 
begründen.“) Vie bekannt, gipfelten die Anklagen gegen die troc- 
kistische Opposition im Verdammungsurteil, der Resolution des 
15. Parteitags, in dem Vorwurf der „faktischen Verneinung der 


schaftliche“ wird fortwährend aufgestellt: 7, 206 (Jugov), 8, 128 (Fried- 
land); vgl. auch Anlage 2 und 4. 


15) „Itrejk-brecherskaja rol’ Zinov’eva i Kameneva v 1917 godu: 8, 808 
(L. Mamet); I. Frolov, Anzeige des 20. und 21. Bandes von Lenins Werken: 
Pravda Nr. 250 (4308) v. 7. Nov. 1929. 
10) 8, 159 (Bacvskij); 9, 20 u. 29 (Kin); 9, 88 (Gorin); 11, 218: 
A. Mühlstein (Milštejn); vgl. auch: E. Kee Bol’teviki v 
oktjabre: Prolet. revoljucija Nr. 68 — 1927 H. 10; J. Jakovlev, Voprosy II 
Vserossijskogo s’ezda sovetov: ebda. Nr. 71 — 1927 H. 12. Zu den Anklagen 
vgl. Leo Trotzki, Die Fälschung der Geschichte der russ. Revolution (Berlin: 
Volkswille [1928)). 
Das Protokoll des Referats von Skrypnik über das Ukrainische Institut 
für Marxismus auf der Konferenz der marxist.-leninist. Forschungsinstitute 1928 
verzeichnet folgenden Vorfall: Als Rjazanov bei der Erwähnung von Vaganjans 
Theorie der nationalen Kultur Zustimmung bekundete, bemerkte Pokrovskij als 
Vorsitzender spitz: „Ich lege Wert auf die Feststellung, daß der Zwischenruf vom 
Marx-Engels-Institut, nicht etwa von der Kommunistischen Akademie ausgeht“, 
worauf der Berichterstatter fortfuhr: „Ich bedauere sehr, daß jenes die Ansicht 
des Marx-Engels-Instituts ist und bin sehr froh, daß der Präsident der Kommu- 
nistischen Akademie der Sovetunion davon einen Trennungsstrich zieht; denn wir 
sind der Ansicht, daß die betr. Richtung nicht marxistisch, nicht leninistisch, 
sondern ihrem Wesen nah trockis tis ch ist und daß man sie theoretisch mit 
allen Kräften bekämpfen muß“: Vestnik Komakad. 27 S. 811 (auch Prapor 
Marksizmu 4 — 1928 Nr. 8 S. 228). Es wirkt beinahe komisch, daß die Redak- 
tion der offiziellen Geschichte der Kommunist. Partei („Istorija VKP (b)“ . Pod 
Em. Jaroslavskogo) einen Irrtum in der Zählung der „Attacken des 
Trockismus gegen die bolschevistische Partei“ (Bd. IV, S. 451) durch eine öffent- 
liche Erklärung in der Presse richtigstellte, damit ja keine übersehen werde: 
Pravda Nr. 140 (4274) v. 21. Juni 1929. Vgl. auch D. Kin, Bor’ba na dva 
fronta v istorii partii (Pravda Nr. 27/4472 v. 28. Jan. 1980): „Die Geschichte des 
Ischevismus ist die Geschichte des schonungslosen Kampfes mit dem Oppor- 
tunismus in allen seinen Erscheinungsformen, mit dem Rechts-Revisionismus und 
der kleinbürgerlichen Revolutionierung eoue onno) — S. Agurskij, 
Bor’ba protiv uklonov na istoričeskom fronte (K voprosu ob istoričeskoj roli 
Bunda): Prolet. revoljucija 1929 Nr. 11. 


17) Zacher 7, 811. 


85 


proletarischen Diktatur in der UdSSSR („Thermidor“) und der 
damit verbundenen Kapitulations- und Niederlagenstimmung“.”*) 
A. S. Bubnov, bisher Mitglied des Revolutionären Kriegs- 
rates, seit September 1929 an Stelle Lunalarskijs Volkskommissar fü 
das Bildungswesen in der RSFSR, übermittelte als Sprecher des 
Zentralkomitees der Partei auf der Jubiläumsfeier für Pokrovskij 
der marxistischen Historikerschaft den Befehl, aktiv am Kampf mit 
der Rechtsopposition teilzunehmen: „Nach rechts — Feuer!“) 


Bei der „Entlarvung“ von Anschauungen, die mit dem orthodoxen 
Marxismus nicht in Einklang stehen, erscheint wesentlicher als die 
Behauptung und Sicherung der marxistischen wissenschaftlichen 
Position der Nachweis, wie sehr derartige Irrtümer dem Proletariat 
politisch schädlich seien.“) In den letzten Jahren löst ein Fall 
den anderen ab, in dem die orthodoxe Kritik gegen neue Werke 
We Ke historischer Irrtiimer einen organisierten Feldzug in der Presse 
und in Zeitschriften führt.) 


48) Deutsche Zentral-Zeitung (Moskau) Nr. 146 v. 28. Dez. 1927. Uber die 
von der Opposition gegen die Partei erhobene Beschuldigung des „termidor- 
janstvo“: O. Hoetzsch, Monatsübersicht über die innere Politik Rußlands, 
Okt. 1927: Osteuropa 8 (1927—28), 57—59; siehe auch: „Vor dem Thermidor.” 
Revolution und Konterrevolution in Sowjetrußland. Die Plattform der linken 
Opposition in der bolschewistischen Partei. Hrsg. von den aus der Kommunist. 
Partei ausgeschlossenen Hamburger Oktoberkimpfern (Hamburg [1927]) und 
L. Trocki j, Termidor ili partijnaja repeticija termidora? im: Bjulleten’ 
Oppozicii (Bol’sevikov-lenincev) — Bulletin de l' Opposition Nr. 5 (Okt. 1929), 8 f. 

Nicht zufällig wird daher von der Sovetforschung die Periode des ,,Thermi- 
dor“ zum Gegenstand eindringlichen Studiums gemacht; vgl. J. M. Zacher, 
Problema „Termidora“ v svete novejlich istori&eskich rabot: 6, 286—242. — Eine 
populär gehaltene Schrift von V. Kolokolkin und S. Monosov: Cto 
takoe Thermidor? (1928) setzte sich zur Aufgabe, neben der Darstellung der 
Epoche des Thermidor die Theorie des sog. „russischen Thermidor“ ad absurdum 
zu führen. Sie suchte zu zeigen, weshalb die „Gesetzmäßigkeiten“ dieser Epoche 
der französischen Revolution nicht auf die russische apse werden könnten. 
Der Rezensent im ,,Istorik-Marxist“ bedauerte, daß die Schrift zu spät gekommen 
sei, um im Kampf der Stalin-Mehrheit der Kommunistischen Partei mit der 
Opposition gegen deren quasi-historische Analogien aus der Epoche der Großen 
Französischen Revolution als Waffe zu dienen: 8, 210—212. 


19) 10, 270; der „Prikaz Nr. 818“ v. 16. Okt. 1929, durch den der Volks- 
kommissar für Heer und Flotte, Vorolilov, die Verdienste Bubnovs als Leiter 
der marxistischen Aufklärungsarbeit in der bewaffneten Macht der Union te, 
hebt seinen „Kampf mit dem gegenrevolutionären Trockismus“ gebührend 
hervor: Pravda 240 (4874) v. 17. Okt. 1929. 

10) Gorin: 9, 86; ders., Klassovaja bor’ba v SSSR i sovremennaja istori- 
écskaja nauka: Izvestija 23 (8870) v. 24. Jan. 1980. 

:ca) Außer der Kritik an Trockij und seinem Kreise, der Bekämpfung Tarles 
und Javorskyjs, auf die ich später zurückkommen werde, wurden in der letzten 
Zeit derartige Angriffe geführt gegen Bucharin (vgl. z. B. V. G. Sorin, O 
razn jach Bucharina s Leninym, 1980), gegen Pereverzev 
S. Ščukin, Marksizm-leninizm ili Pereverzev? Pravda Nr. 298 (4482) v. 
18. Dez. 1929), gegen P. Ta¥karov und G. El’vov (Ob odnoj popytke 
iskaženija marksizma-leninizma, Mosk. 1929; vgl. dazu die Anzeigen in den 
Izvestija Nr. 50/3897 v. 20. Febr. 1980 und in der Pravda Nr. 66/4511 v. 
8. März 1980), gegen S. M. P (K voprosu o suščnosti ,,aziatskogo“ 
sposoba proizvodstva, feodalizma, krepostničestva i torgovogo kapitala: Agrarnye 


86 


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Die wichtigsten Vorgänge, durch die die marxistische Geschichts- 
wissenschaft im Bewußtsein der Offentlichkeit zu ihrer heutigen 
mächtigen Stellung gelangte — ein Vorgang, von dem die Chronik 
der Gesellschaft im „Istorik-Marxist“ nur einzelne Stadien eingehend 
würdigte —, waren etwa: die Feier des zehnjährigen Bestehens des 
Sovetstaats (1927); der 60. Geburtstag M. N. Pokrovskijs 
im Herbst 1928; zwei Konferenzen der marxistisch - leninistischen 
Forschungseinrichtungen der Sovetunion (Frühjahr 1928 und 1929); 
der Kampf der marxistischen Historiker gegen PetruSevskij und 
das von ihm geleitete Institut für Gesch: te der RANION;“ ) die 


problemy 1929 Nr. 2 u. sep, Mosk. 1929; vgl. dazu P. Gorin, Klass. bor’ba 
v SSSR i sovrem. istor. nauka: Izvestija Nr. 28/8870 v. 24. Jan..1980 und 
I. Frolov in der Pravda Nr. 26/4471 v. 27. Jan. 1980), g Teodoro- 
vi“: Auffassung der „Narodnaja Volja“ vgl.: VI. Malachovskij, Rez. 
zu Iv. Teodorovil, Istori¢eskoe značenie partii ,Narodn. Voli“: Pravda 
Nr. 800 (4484) v. 20. Dez. 1929; Teodorovié, Pobol’fe  istoriteskoj 
ob’ektivnosti V porjadke obsułdenija): Pravda Nr. 806 (4440) v. 26. Dez.; 
i 


Nr. 41 (4486) v. 11. Febr. 1980; Potal, Spornye voprosy istori- 
teskogo znalenija „Narodnoj Voli“: Bjulleten’ zao&no-konsul’tacionnogo otdelenija 
IKP (= Institut Krasnoj Professury) Nr. 4 (Mirz 1980), ; vgl. 8 


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$. M. Dubrovskogo, und (S. e Ze I. Minc, Protiv mechanisticeskoj postanovki 
me D i erte "bk 


Dubrovskij. — N. Slepnev, Na den fronta (K itogam diskussi s literaturo- 
vedéeskoj Kr ereverzeva): Leningradskaja Pravda Nr. 111 


Hohes Interesse bieten die von der Kultur- und Propaganda-Abteilung des 
Zentral-Komitees der Kommunist. Partei ausgegebenen parteiamtlichen Richt- 
linien, die die zulässigen Anschauungen über die „Narodnaja Volja“ streng fest- 
legen: Tezisy k 50-letiju „Narodnoj Voli“, z. B. in der Pravda Nr. 98 (4548) 
v. 9. April 1980. 


21) d. h. der Rossijskaja Associacija Naučno — issledovatel’skich Institutov 
ObStestvennych Nauk = Russische Assoziation der wissenschaftlichen Forschungs- 
institute für Gezellschafta wissenschaften. — Der Assoziation gehörten 1928 an: 
In Moskau zehn Institute für igs ag Disziplinen: Wirtschaft, Landwirtschaft, 
Organisation des Ackerbaus und der Kolonisation, Landverteilung, Philosophie, 
Experimentelle ee Sovetrecht, Geschichte, Sprache und Literatur, 
Archäologie und Kunstwissenschaft, Ethnische und nationale Kulturen der orien- 
talischen Völker der UdSSR; in Leningrad: Die Akademie für Geschichte der 
materiellen Kultur; das Leningrader Institut für marxistische Methodologie (vgl. 
Anm. 48), Institute für vergleichende Sprach wissenschaft und für vergleichende 
Literaturkunde. Vgl. Fritsche, Associacija nauéno-issledovatel’skich institutov- 
uéreZdenij: Vestnik Komakad. 27 S. 296—298 und D. A. Magerovskij, 
Rossijskaja associacija nautno-issledov. institutov oblè. nauk: Pečat’ i revoljucija 
1927 H. 7 S. 276—284. 


Gegenwärtig, im akademischen Jahre 1980—31, bestehen nur noch die 
folgenden Institute: 1. für Virtschaft, 2. für exper. Psychologie, B. für Sprache 
Literatur, 4. für Archäologie und Kunst wissenschaft, 5. für die nationalen und 


87 


erste marxistische Historikerkonferenz in Moskau um die Jahres- 
wende 1928—1929 und die Umwandlung der Gesellschaft in die 
„Vsesojuznoe obščestvo istorikov-marksistov“, d. h. in eine die 
marxistischen Historiker in der gesamten Union umfassende Organi- 
sation; ferner: die systematische Stärkung des marxistischen Einflusses 
in der Akademie der Wissenschaften in Leningrad, angefangen von 
den Ergänzungswahlen zur Akademie zu Beginn des Jahres 1929 vis 
zur Einleitung eines zurzeit schwebenden gerichtlichen Verfahrens 
gegen S. F. Platonov; endlich: die Eröffnung eines Kommunist. 
Historischen Forschungsinstituts bei der Kommunistischen Akademie 
im Herbst 1929 und die Abhaltung einer Konferenz für die Behandlung 
des „Leninismus“, der Geschichte der Partei der Bolscheviki und der 
Geschichte der Kommunistischen Internationale (Komintern) als 
Unterrichtsfacher im Februar 1930. Neuesten Datums ist M. Ja- 
vors kyjs Ausstoßung aus der Partei und Entfernung aus allen seinen 
Amtern. In der ukrainischen marxistischen Geschichtsforschung 
wird damit eine Periode beendet, für die eiligst das Schlagwort der 
„Javorꝭ&ina“ geprägt worden ist.“ 

In den Kampf der Meinungen über die Anwendbarkeit des Ra- 
tionalisierungsplans der Wirtschaft für das Jahrfünft 1928/29 — 1932/33 
in der Wissenschaft?) wurde die Geschichte mit hineingezogen; 
z. B. für die Arbeiten in den Archiven wurden konkrete Vorschläge 
ausgearbeitet..) 

Ich beginne meine Ubersicht mit einem kurzen Hinweis auf die 
Organisation der marxistischen historischen Arbeit an den drei 
Hauptstätten marxistisch-leninistischer Forschung: der Kommunisti- 
schen Akademie, dem Lenin-Institut und dem Marx-Engels-Institut. 


Die Kummunistische Akademie. 


Die Kommunistische Akademie, die wissenschaftliche Haupt- 
gründung der Partei — von V. I. Nevskij mit einem „Vivat 
Marxismi Academia!“ begrüßt —, ein Komplex wissenschaftlidier 


ethnischen Kulturen der Völker des Orients, 6. (in Leningrad) für vergleichende 
Geschichte der Sprachen und Literaturen des Westens und des Ostens: Institut 
sravnitel’noj istorii literatur i jazykov Zapada i Vostoka = ILJaZV. Die 
ademie für Geschichte der materiellen Kultur in Leningrad wird auf Vorschlag 
des Akad. Marr der Akademie der Wissenschaften angegliedert. 
31a) P. Gorin, Ob odnoj poutitel’noj biografii: Izvestija Nr. 61 (3908) v. 
8. März 1930. ur SE 
sıb) Vgl. z. B.: V. Miljutin, O nauéno-issledovatel’skoj rabote v 
rekons truktivnyj period: Pravda Nr. 257 (4391) v. 5. Nov. 1929; L. Bogo- 
le pova, O planirovanii nautnych rabot: Pravda Nr. 279 (4418) v. 29. Nov. 
1929; über die Aufstellung von Fünfjahresplänen für die russischen Akademien der 
Wissenschaften vgl. Izvestija Nr. 68 (8910) v. 5. März 1930; V. P. Miljutin, 


O direktivah po sostavleniju plana rabot Kommunistiteskoj Akademii: Vestnik 
Komakad. 32 — 1929 H. 2 S. 217—224. 


210) Einzelheiten in meinem Bericht über das Archivwesen in der Sovetunion 
im 89. Jahrg. (1930) der Archivalischen Zeitschrift. 


21d) Pečat’ i Revoljucija 1928 H. 8 S. 116. 


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Institute, Kabinette, Seminare, Kommissionen, Gesellschaften, bildet 
heute das Zentrum der theoretischen marxistisch-leninistischen 
Arbeit.”) In der Organisation der russischen Wissenschaft wird ın 
der letzten Zeit immer stärker die Tendenz bemerkbar, die Arbeit 
anderer führender wissenschaftlicher Einrichtungen der Union wie des 
Marx-Engels-Instituts und der Unionsakademie der Wissenschaften 
noch der Kommunistischen Akademie abzustimmen. 

Als ähnliche Organisationen wie die „Gesellschaft der marxisti- 
schen Historiker“ bestehen bei der Kommunistischen Akademie die 
Gesellschaften der materialistischen Biologen, der materialistischen 
Psycho-Neurologen, der marxistischen Statistiker, der marxistischen 
Pädagogen, der Zirkel der materialistischen Physiker und Mathe- 
matiker, die Untersektion der kommunistischen Kritiker bei der 
Sektion der Akademie für Literatur, Kunst und Sprachwissenschaft 
usw. Außerhalb des eigentlichen „historischen Sektors“, den die Ge- 
sellschaft der marxistischen Historiker und das Historische Instit at 
der Akademie“) bilden, leisten historische Arbeit noch eine Reihe 
von „Dependenzen“: 

Zum 70. Geburtstag von Klara Zetkin wurde 1927 eine 
Sektion für Erforschung der Theorie und Praxis der internationalen 
(Arbeiter-) Frauenbewegung (Sekcija po izuleniju teorii i praktiki 
meZdunarodnogo Zenskogo dviZenija) begründet, die u. a. die Teil- 
nahme der Frauen an den verschiedenen Formen des Klassenkampfes 
untersucht. Als erste Veröffentlichung ließ die Sektion eine Über- 
setzung von Klara Zetkins Geschichte der Arbeiterinnenbewegung in 
Deutschland erscheinen.“) — Das Institut für Weltwirtschaft und 
Weltpolitik (Institut mirovogo chozjajstva i mirovoj politiki) gibt 
u. a. eine Serie: „10 Jahre der Union e sozialistischen Raterepubliken 
in kapitalistischer Einkreisung‘“*) heraus und bereitet die Herausgabe 
einer Serie diplomatischer Dokumente vom Ende des 19. Jahr- 


22) A. Udal’cov, Oterk istorii Soc. Akademii (1918—1922 gg.): Vestnik 
Komakad. 1 (1922), 18—87; Ustav Komm. Akad. pri CIK SSSR: ebda. 19 (1927), 
200—276; E. PaSukanis, Kommunisti&eskaja Akademija: Pečat’ i revoljucija 
1927 H. 7 S. 250—256; Die Kommunist. Akademie des Zentralexekutiv-Komitees 
der Sowjetunion: Wochenbericht 8. Jg. Nr. 9—10 (11. März 1927), Bt: 
Dejatel’nost’ Kommunisti&eskoj Akademii 1918—1928 (Mosk. 1928); O. Lozovij, 
Do 10—riččja Komunistitnoi Akademii: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 2 
S. 175—188; G. Thorbecke, Die Kommunistische Akademie: Moskauer Rund- 
schau Nr. 35 = 2. Jg. Nr. 1 v. 5. Jan. 1980. 


22a) Siehe unten S. 140. 


23) Vgl. Vochenbericht der Gesellschaft für kulturelle Verbindung der 
Sowjetunion mit dem Auslande Nr. 89/40 v. 4. Okt. 1927; Vestnik Komakademii 
31 — 1929 H. 1 S. 245; „Die Frau“ 36. Jg. (1928—29), 681. — Kl. Zetkin, 
Celi i zadati sekcii po izueniju teorii i praktiki meZdunarodnogo Zenskogo 
dvizenija: Vestnik Komakademii 27 (= 1928 H. 3), 240—251. 

24) SSSR za 10 let v kapitalistiteskom okruzenii. — Den großzügigen Plan 
einer Kollektivarbeit der Sektion iiber die Vereinigten Staaten in der Niedergangs- 
Periode des Kapitalismus (, Soedinennye Staty v period zakata kapitalizma“) 
entwickelte E. Varga im Julihefe 1929 (S. 122—125) des Organs der Sektion 
„Mirovoe chozjaijstvo i mir. politika“. 


89 


hunderts bis zum Jahre 1917 vor.“) — Von der Kommission zur Er- 
forschung der Nationalitätenfrage (Komissija po izuteniju nacio- 
nal'nogo voprosa) wurden Materialien zur Nationalitätenfrage in 
Rußland in der Periode der provisorischen Regierung 1917 — in 
Finnland, der Ukraine, Pend: Estland, Weißrußland, bei den 
Völkern der unteren Wolga, in den Gebieten der Tataren und 
Baschkiren, im Kaukasus, in Transkaukasien und Mittelasien — zum 
Druck vorbereitet; eine weitere Veröffentlichung ist über die Agrar- 
lanes der nationalen Regierungen in der Epoche des Biirger- 

riegs in Aussicht genommen.“) — Eine 1928 gegründete Korn- 
mission für Religionsgeschichte (Komissija po istorii religii) — ein 
Zentrum des wissenschaftlichen Kampfes auf der „antireligiösen 
Front“ — arbeitet über religiöse Fragen im Geiste der marxistischen 
Methode und har mit der Gesellschaft der marxistischen Historiker 
Fühlung genommen, um mit ihr dem Beschluß des 12. Parteitages über 
die Einführung von religionsgeschichtlichem Unterricht an den kom- 
munistischen Hochschulen Geltung zu verschaffen.“) — Schließlich 
sind Sektionen für Geschichte der Philosophie und für historischen 
Materialismus im Philosophischen Institut der Kommunist. Akademie 
zu nennen. 


Im Mai 1929 wurde von der Akademie ein Redaktionskollegium 
für die Herausgabe der Werke des im Oktober 1928 verstorbenen 
führenden Mitgliedes der Partei I. I. Skvorcov-Stepanov”) 
gebildet; die Edition der historischen Schriften Skvorcovs wurde 


25) Vgl. Vestnik Komakad. 26 (1928), S. 24. 

28) Erschienen Anfang 1980: Revoljucija i nacional’nyj vopros. Dokumen 
i materialy po istorii nac. vopr. v Rossii i SSSR v XX veke. Pod red. 
S. M. Dimandtejna, Bd. III (1917, Febr. —Okt.). 

20a) Vestnik Komakad. 30 1928 H. 6 S. 261 f. 


37) Vestnik Komakad. 80 1928 H. 6 S. 262. — Eine Schrift eines der 
Hauptanreger der Sektion, des Prof. M. A. Reissner (t 1928): „Ideologii 
vostoka. Oterki vostoënoj teokratii“ (1927) stellt nach dem Urteil ihres 
Rezensenten im „Istorik-Marxist“ (9, 197—200), A. Lukalevskij, einen der 
ersten Versuche vor, eine marxistische Analyse des Klassengehalts der Religionen 
des Orients zu geben; z. B. wird das Entstehen des Islam aus der Bewegung des 
arabischen Handelskapitals im 7. Jahrhundert hergeleitet. 

„Wir alle, die wir Materialisten sind, erklären auf das bestimmteste, daß jede 
religiöse Lehre, von wem sie auch kommen mag, von einer beliebigen Sekte bis 
zu Tolstoj einschließlich, ihrem Wesen nach reaktionär ist. Indessen die Lehre 
des N.N. ist reaktionär nicht nur deswegen, weil alle derartigen Lehren reak- 
tionär sind, sie ist.. gegenrevolutionär“: Die leitende Idee der marxistischen 
religionsgeschichtlichen Forschung in Rußland hat in dieser zugespitzten Form ein 
Gelehrter ausgesprochen, von dem eine derartige Formulierung nach seiner wissen- 
schaftlichen Vergangenheit überrascht und befremdet; weiter konnte der bekannte 
Sektenforscher V. D. Boné-Bruevié, als er unlängst in einem Prozeß gegen 
den geschlechtlich abnorm veranlagten Begründer einer religiösen Sekte als Sach- 
verständiger zugezogen war, den Tendenzen der Prozeßleitung schwerlih ent- 


gegenkommen. Vgl. Pravda Nr. 61 (4506) v. 8. März 1980: Delo kontrrevolju- 
cionera i sadista ... 


26) Vgl. M. Pokrovskij, Ivan Ivanovič Skvorcov-Stepanov (1870—1928): 
Vestnik Komakad. 90 = 1928 H. 6 S. 8—6. 


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Pokrovskij, die seiner Publizistik zur Geschichte der Partei 
N. L. Me$lterjakov und Sorin übertragen.“) — Die Sektion 
für Geschichte der Agrarrevolution und von GE 
(Sekcija istorii agrarnoj revoljucii i agrarnych dviZenij) — ursprünglich 
nur eine Kommission zur Erforschung der Agrarrevolution beim 
Agrarinstitut der Kommunistischen Akademie”) — hat zunächst die 
Geschichte der sogenannten Komitees der Dorfarmut (Komitety 
bednoty = ,,Kombed“), der Bannerträger der sozialistischen Revo- 
lution im Dorfe, nach Archivalien der Kreise Tambov, Penza und 
Ivanovo-Voznesensk in Angriff genommen.) 

Die Wissenschaftsgeschichte, für die in der Union zuerst die 
Akademie der Wissenschaften in Leningrad eine besondere Kom- 
mission (Komissija po istorii znanij) bildete,”®) besitzt neuerdings in 
einem Kabinett für Geschichte der Naturwissenschaft (Kabinet istorii 
5 bei der Kommunistischen Akademie eine eigene 
marxistische Pflegestatte. Außer Übersetzungen und Bearbeitungen 
klassischer natur wissenschaftlicher und mathematischer Werke (z. B. 
von Galileis Discorsi, Kleins Vorlesungen über die Geschichte der 
Mathematik u. a.) wird das Institut eigene Forschungsarbeiten heraus- 
bringen: Prof. Mil ko vi & arbeitet über die Geschichte der Geologie 
im Zusammenhang mit der Romantik und Naturphilosophie am 
Anfang des 19. Jahrhunderts.“) 

Durch Entschließung des Vollzugsausschusses des Zentralexekutiv- 
komitees der Union vom 12. Juni 1929 wurde die Organisation eines 
einheitlichen Instituts zur Erforschung von Fragen des Staats, des 
Rechts und des Sovetaufbaus gutgeheiffen. Das neue Institut — 
Institut gosudarstva, prava i sovetskogo stroitel’stva CIK SSSR i 
VCIK — wurde durch Verschmelzung der Sektion fiir Recht und den 
Staat (Sekcija prava i gosudarstva) der Kommunistischen Akademie 
und des bisherigen Instituts für Sovetaufbau (Institut sovetskogo 


3°) Izvestija Nr. 108 (8689) v. 9. Mai 1929. | 

20) Komissija po izuleniju posledstvij agrarnoj revoljucii: Vestnik Komakad. 
26 S. 274, 

sea) Als erster Band der „Trudy Komissii po izuč. agrarnoj revoljucii“ er- 
schienen 1928: Materialy po istorii agrarnoj revoljucii v Rossii. Pod obšč. red. 
L. N. Kricmana (Nebent.: Matériaux sur histoire de la révolution agraire. 
Réd. en chef L. Kritzman). 


seb) Vgl. M. Bloch, Die Kommission für Geschichte des Wissens an der 
Akademie der Wissenschaften der Sovetunion: Mitt. zur Geschichte der Medizin 
und Naturwissenschaften 26 (1927), 281 f. 


81) Vgl. Vestnik Komakad. 26 (1928), 24 und 81 (1929), 244 f.; „Die Not- 
wendigkeit der Gründung einer russ. Gesellschaft für Geschichte der Medizin und 
Natur wissenschaften und eines Forschungs instituts“ (Referat über einen Vortrag 
von P. P. Lazarev, Dez. 1926): Mitt. zur Gesch. der Med. u. Naturwiss. 26 
(1027), 227—281; H. Zeiß, Das neugegründete Forschungs institut für Geschichte 
der Natur wissenschaften in Moskau: Archiv für Geschichte der Mathematik, der 
Natur wissenschaften und der Technik Bd. 11 (1929), 808—816. Unlängst erschien 
eine Bibliographie der russischen Arbeiten zur Geschichte der Medizin seit 1789: 
D. M. Ross ijs ki j, Bibliografiteskij ukazatel’ russkoj litertury po istorii medi- 
ciny s 1780 do 1928 g. (Mosk. 1929). 


91 


5 gebildet.) Die Aufgabe des Instituts wird in seiner 
Satzung folgendermaßen umrissen: „Die Aufgabe des bei der Kom- 
munistischen Akademie bestehenden Institut gosudarstva, prava i 
sovetskogo stroitel’stva CIK SSSR i VCIK“ besteht in der theoreti- 
schen Bearbeitung der Grundfragen der marxistisch - leninistischen 
Lehre vom Staat, vom Recht und der Diktatur des Proletariats und 
darin, auf dieser Grundlage aus dem ganzen praktischen Versuch auf 
dem Gebiete des Riteaufbaus und des Rechts die wissenschaftlichen 
Folgerungen zu ziehen.“ Seine wissenschaftliche Arbeit gründet das 
Institut auf einen Entwurf Lenins für eine Broschüre „Über die 
Diktatur des Proletariats“, “) der die wichtigsten staats- und ver- 
waltungsrechtlichen Fragen skizziert, die mit der Verwirklichung der 
Liktatur des Proletariats auftauchten. 


Das neue Institut gliedert sich in sieben Sektionen: 1. für allge- 
meine Rechts- und Staatslehre; 2. für die Diktatur des Proletariats; 
3. für die zentralen Organe und den Staatsapparat; 4. für den Aufbau 
des Bundes, der Bundes- und autonomen Republiken; 5. für die Stadt- 
und Dorfrate; 6. für revolutionäre Gesetzlichkeit und konkretes 
Recht; 7. für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. 
Man darf das neuerdings als Institut prava i sovetskogo 
stroitel’stva bezeichnete Rechtsinstitut bis zu einem gewissen Grade 
als historisches Institut auffassen. Nicht nur gehört die Erforschung 
der Entwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts Sovetrußlands zu 
den Aufgaben fast aller Sektionen; die Errichtung einer histori- 
schen und einer Rayonierungs- Kommission bringen den 
Doppelcharakter des Instituts, — auf der einen Seite der Begründung 
einer marxistischen Staats- und Verwaltungslehre und wissenschaft- 
licher Erforschung der Ausbildung des Sovet-Staatsapparats, auf der 
anderen Seite den praktischen Erfordernissen der Gegenwart und 
Zukunft zu dienen —, am klarsten zum Ausdruck.“ 


*) Vgl.: Wochenbericht der Gesellschaft für kulturelle Verbindung der 
Sowjetunion mit dem Auslande Nr. 18/19 v. 5. u. 12. Mai 1929; Reorganizacija 
Instituta sovetskogo stroitel’stva v prezidiume CIK Sojuza SSR: Izvestija Nr. 133 
(8669) v. 18. Juni 1929; I. Černjak, V nastuplenie na fronte teorii prava i 
gosudarstva: Izvestija Nr. 157 (8698) v. 12. Juli 1929. 


33) V. I. Lenin o diktature proletariata. Cernovye nabroski i plan 
nenapisannoj broSjury. 1919—20: Leninskij Sbornik III (1925), 489—518. Bereits 
1924 ließ die Sektion für Sovetaufbau der Kommunist. Akademie eine Sammlung 
von Äußerungen Lenins über die Sovetorganisation erscheinen: Lenin o sovetskom 
stroitel’stve. Sost. V. Maksimovskij. 


3) Schon im „Institut sovetskogo stroitel'stva“ bestand seit dem Frühjahr 
1926 eine ständige Historische Kommission, um gemeinsam mit dem Istpart die 
Geschichte der Zentral- und Lokalverwaltung der UdSSR zu erforschen; unter 
dem Titel: „Materialy po istorii sovetskogo stroitel’stva“ hat sie wertvolle Doku- 
mentensammlungen zur Geschichte der Arbeiterräte im Jahre 1917, über die Räte 
während der Oktoberrevolution und in der Epoche des Kriegskommunismus ver- 
öffentlicht; vgl. Pravda Nr. 51. (4185) v. 2. März 1929; s. auch Istorik-Marxist 6, 
302 f. Als Veröffentlichungen der Histor. Kommission werden 1930 erscheinen: 
1. Peterburgskij sovet v 1917 g.; 2. Krest’janskie organizacii v 1918 g.; 8. Sara- 
tovskij sovet rab. deputatov v 1917 g. — S. auch Berman: e delo 


92 


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In engster Verbindung mit der Kommunistischen Akademie 
tagten in Moskau 1927 bis 1929 mehrere wissenschaftliche marxisti- 
she Kongresse. Außer einer Fachtagung, der „Konferenz der 
marxistischen Historiker“, ) erlangten für die fernere Entwicklung 
der marxistischen historischen Forschung Bedeutung die beiden Kon- 
ferenzen der marxistisch-leninistischen Forschungsinstitutionen der 
Sovetunion im Frühjahr 1928 und 1929, eine Konferenz der Gesell- 
schaft der kämpfenden materialistischen Dialektiker und eine Kon- 
ferenz der marxistischen Spezialisten für Agrarfragen. 

Die I. Konferenz der marxistisch-leninistischen wissenschaftlichen 
Forschungseinrichtungen der Sovetunion fand in Moskau vom 22. bis 
25. März 1928 statt;“) ihr gab Pokrovskijs denkwürdige Zu- 
sammenfassung: „Zehn Jahre Gesellschaftswissenschaften in der 
UdSSR“) das Gepräge, wobei er auch über die Leistungen der 
marxistischen Geschichtswissenschaft im ersten Jahrzehnt der Räte- 
republik Rechenschaft ablegte. 

In dem Vortrag unterstrich der Redner eingangs den Klassen- 
charakter aller Wissenschaften**) und charakterisierte die Gesellschafts- 
wissenschaften sowohl als „Klassenkampf, gespiegelt in wissenschaft- 
lichen Formen“ (S. 18) wie als „Waffe des Klassenkampfes“ (S. 6). 
Fiir die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stellte er Lenin als 
reinen Vertreter der proletarischen und Pobedonoscev als typischen 
Vertreter der „feudalen“ Ideologie einander gegenüber; der Klassen- 
und politische Kampf werden vom Kampf der Ideologien umhüllt. 

Ausgezeichnet erläuterte Pokrovskij die Wandlung von klein- 
bürgerlichen, durch die Philosophie von Mach und Avenarius stark 
beeinflußten Auffassungen, die für den Moskauer Teil der bolsche- 
vistischen Fraktion noch 1905 offizielle Geltung besessen hätten, zu 
einer „wirklich proletarischen Ideologie“ nach der Revolution von 
1905, — eine Entwicklung, die Schriften Lenins (Agrarnaja pro- 
gramma socialdemokratov; ) Materializm i empiriokriticizm“) u. a.) 


20 (1929), 26f.; Vestnik Komakad. 88 — 1929 H. 8 S. 274 f., ferner 
A. Angarov, Otdelenie prava i gosudarstva Instituta Krasnoj Professury: 
Izvestija Nr. 299 (8835) e 19. Dez. 1929. 

26) Siehe S. 128 ff. 


20) Vgl. Vestnik Komakad. 26 — 1928 H. 2 S. 238—294 und 27 — 1928 
H. 3 S. 288—816. 
87) Obščestvennye nauki v SSSR za 10 let: Vestnik Komakad. 26 = 1928 
H. 2 S. 8—80. 
Das Sammelwerk: Obščestvennye nauki SSSR 1917—1927. Sbornik pod. red. 
V. P. Volgina, G. O. Gordona, I. K. Luppola (Moskau 1928) mit Beiträgen von 
P. F. Preobraženskij EE B. S. Zuko (Archäologie), M. V. 
Ne€kina (Russ. Geschichte), S. F. Oldenburg (Regionale Forschungen), M. N. 
Peterson (Linguistik) war mir nicht SE 

38) Z. B. erklärt er Astrologie und Alchimie für typische feudale Wissen- 
schaften; die Entstehung der Nationalökonomie war an die kapitalistische Gesell- 
schaftsstufe gebunden. 


38) Vgl Lenin, Agrarnaja programma russkoj social-demokratii. Per- 
vonacal’ny} tekst rukopisi $ zamelanıjami avtora, G. V. Plechanova, P. B 


Aksel’roda, V. IL. Zasuli& i Ju. O. Martova: Leninskij sbornik III (1925), 303—395. 


93 


entscheidend beeinflußt haben. Sodann ging Pokrovskij auf einige 
Werke, die nach der Oktoberrevolution in verschiedenen Disziplinen 
einer marxistischen Gesellschaftswissenschaft auf streng materialisti- 
scher Basis die Bahn gebrochen hätten, näher ein. An die Spitze 
stellte er drei Werke: Leni.ns „Staat und Revolution“ (Gosudarstvo 
i revoljucija),*) ferner Bucharins „Wirtschaft der Übergangszeit“ 
(Ekonomika perechodnogo perioda“), endlich Kritzmanns 
„Geroiteskij period našej revoljucii (Die heroische Periode unserer 
Revolution),"*) welches der erste Versuch einer theoretisch haltbaren 
Wirtschaftsgeschichte der Revolutionsjahre gewesen sei (S. 14). Die 
Oktoberrevolution erscheint als der Ausgangspunkt aller Richtungen 
der heutigen marxistischen Gesellschaftswissenschaft, für die die 
Erforschung der Oktoberrevolution im Mittelpunkt stehe; d. h.: von 
der Aufhellung der lokalen Bedingungen für die sozialistishe Revo- 
lution in Rußland schritt sie fort zur Untersuchung der gesellschaft- 
lichen Zustände vor dem Kriege, während als letztes Ziel die Er- 
klärung des ganzen russischen „historischen Prozesses“ — gesehen von 
der Warte der Oktoberrevolution — vorschwebt. 


Nur kurz verweilte Pokrovskij bei den Hauptvertretern der 
nichtmarxistischen Richtungen in der Geschichtswissenschaft des 
heutigen Rußland: bei Platonov, der zum reinen Individualis- 
mus als Erklärungsprinzip gelangt sei und z. B. in seinem „Boris 
Godunov“ (1924) alle Züge des Klassenkampfes im Moskauer Staat 
am Ende des 16. und im Anfang des 17. Jahrhunderts getilgt habe; bei 
„Vipperianischen Richtungen“ (Vipperovskie nastroenija), indem 
Vippers „Krisis der historischen Wissenschaft“ (Krizis istorileskoj 
nauki,**) als Manifest der idealistischen Richtung hingestellt und 
PetruSevskijs „Skizzen aus der Wirtschaftsgeschichte des Mittel- 
alters) als literarisches Hauptsymptom dafür angeführt wurden; 
endlich bei dem als „Pseudo-Marxisten“ aus dem marxistischen Lager 


a) Neudruck in Bd. XIII der 8. Ausgabe von Lenins Werken (Lenin, Soči- 
nenija), auch in der vom Lenin-lastitut autorisierten deutschen Ausgabe (,,Simt- 
liche Werke“, Verl. f. Literatur und Politik) ebenfalls als Bd. XIII (, Materialismus 
und Empiriokritizismus. Krit. Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie“); 
vgl. die Anzeige von F. Haase in diesen Jahrbüchern N.F. 4 (1928), 451 f. 


41) Neue deutsche Ausgabe: Marxistische Bibliothek Bd. 19 (1929). — „Lesen 
und analysieren wird man es Jahrhunderte, Jahrhunderte wird man es kommen- 
tieren“ (Pokrovski)). 

41a) Liev Natanovit) Kricman (deutsche Namensform: L. Kritsman). 
Die heroische Periode der Groben Russischen Revolution 5 period 
velikoj russkoj revoljucii). Ein Versuch der Analyse des sog. „Kriegs- 
kommunismus“, erschien 1929 als Bd. 16 der ,,Marxistischen Bibliothek“. 

42) Zur marxistischen Beurteilung der publizistisch philosophischen Schrift- 
stellerei des universal gerichteten Althistoriker: W i p pe r, eines der interessantesten 
Köpfe der durch den Marxismus verdrängten russischen Gelehrtengeneration, seit 
1918 vgl. C. Friedland, Krugovorot professora istorii: Pečat’ i revoljucija 
1928, H. 6 S. 8—19. 


42) D. M. Petrule vs ki j, Oterki iz ekonomiteskoj istorii srednevekovoj 
Evropy (Moskau 1928); vgl. im Folgenden S. 106 ff. 


94 


heftig befehdeten Tarle“) als einem anderen Vertreter der histo- 
rischen Reaktion. 

Dem hohen Lied Pokrovskijs auf die Ergebnisse der marxistischen 
historischen Forschung ist nicht bedingungslos zuzustimmen, da 
aus den eigenen Reihen skeptischere Stimmen gleichzeitig laut 
wurden. Wenn Pokrovskij z. B. rühmend hervorhob: „Auf dem 
Gebiete der westlichen Historiographie haben wir eine solche Menge 
Arbeiten zur Geschichte des Klassenkampfes in der neuesten 
Zeit, daß sie wahrscheinlich völlig alles aufwiegen, was darüber in 
Rußland vor der Revolution gearbeitet worden ist“ und als Spezia- 
listen „N. M. Lukin, Monosov, Friedland, Séegolev, 
Zacher u. a.“ nannte (S. 27), so ist demgegenüber Rochkins ge- 
dämpfteres Urteil wohl richtiger und ehrlicher, daß wissenschaftlich 
für die Geschichte des Westens in den ersten zehn Jahren nach der 
Revolution lediglich das Werk von Lukin „PariZskaja kommuna“, 
die einzige streng marxistische Arbeit über die Pariser Commune, 
einen wirklich großen Fortschritt und Erfolg bedeute.“) 

Keiner der von Pokrovskij weiterhin genannten marxistischen 
Spezialisten für die Geschichte des Sozialismus (V. P. Volgin), für 
die Geschichte der antiken Welt (A. I. Tjumenev, P. F. Preo- 
brazenski)), für das Mittelalter (E. A. Kosminskij)") kann 
sich an Ansehen im Ausland auch nur entfernt mit D. B. Rjazanov 
und seinem Mitarbeiterkreis am Marx-Engels-Institut messen. 

Mit berechtigtem Stolz konnte Pokrovskij darauf hinweisen, 
daß auf dem Gebiete der russischen Geschichte eine Reihe historischer 
Probleme sowohl durch Materialveröffentlichungen wie durch die 
marxistische Betrachtungsweise in den letzten Jahren gefördert 
worden sind; es genügt, an den Pugalev-Aufstand, die Dekabristen, 
das Jahr 1905, die Bauernbewegung 1905—1907 und 1917, die 
marxistische Beleuchtung der russischen Geschichtsschreibung des 
19. Jahrhunderts zu erinnern.“) 


40) Siehe im Folgenden S. 109. 

) Vestnik Komakad. 26 — 1928 H. 2 S. 284. 

) Von ihm s. Russian work on english economic history: The economic 
history review I (1927), 208—288. Vgl. auch Anm. 188. 

.) Da sich der russische Beitrag zu den Gesellschaftswissenschaften und die 
Leistung russischer Gelehrter in der Geschichtswissenschaft seit 1918 nicht aus- 
schließlich in der wissenschaftlichen Arbeit innerhalb der Grenzpfähle der Sovet- 
union erschöpft, erscheint hier als notwendige Ergänzung zu Pokrovskijs Über- 
blik ein Hinweis auf den Anteil der Emigration an der historischen Forschung 
im letzten Jahrzehnt berechtigt: Außer zwei Übersichten von A. Florovskij, 
La littérature historique russe (Emigration). Compte-rendu 1921—1926: Bulletin 
d'information des sciences historiques en Europe Orientale I, 1—2 (Varsovie 1928), 
88—121 und: The work of russian émigrés in history (1921—1927): Slavonic 
Review VII (1928—29), 216—219 — vgl. auch in der „Bibliothèque de la Revue 
Historique“ im Sammelwerk: Histoire et historiens depuis cinquante ans. Méthodes, 
Organisation et résultats du travail historique de 1876 à 1926, Bd. I (Paris 1927), 
den im wesentlichen als Epilog auf die bürgerliche Geschichtsschreibung Rußlands 
im angegebenen Zeitraum abgestimmten Beitrag „Russie“ von N. Kareev 
(S. 841—870); s. ferner A. Kizevetter (Kiesewetter), Histoire de Russie. 
Be des savants russes émigrés 1918—1928: Rev. Histor. 163 (1930), 


7 ur 6 95 


Auf der zweiten Konferenz im März 1929 waren u. a. vertreten: 
die Kommunistische Akademie, das Marx-Engels-Institut, das Lenin- 
Institut, das Institut der Roten Professur, das Leningrader Institut für 
Marxismus;) aus der Ukraine das Ukrainische Institut für Marxis- 
mus und Leninismus in Char’kiv und das Katheder für Marxismus 
und Leninismus bei der Ukrain. Akademie der Wissenschaften in Kiiv, 
ferner weißrussische Forschungsstellen. Diese Tagung — im 
Gegensatz zu der des Vorjahres — einen betont philosophischen und 
naturwissenschaftlich - theoretischen Charakter;**) Referate des Aka- 
demikers A. Deborin über die Probleme der Philosophie des 
Marxismus und von O. J. Sch mi dt über die Aufgaben der Marxisten 
in den Natur wissenschaften standen im Mittelpunkt. Deborins Vor- 
trag war bestimmt, Klarheit zu schaffen über die Aufgaben der 
marxistisch-leninistischen Einrichtungen im Kampf für den dialekti- 
schen Materialismus; er polemisierte gegen den Idealismus und jeg- 


0 Ober die historische Abteilung des Leningrader Instituts für Marxismus 
(Leningradskij nau¢no-issled. institut marksizma), in die die Leningrader Filiale 
des Moskauer Instituts für Geschichte der RM ON umgewandelt wurde, be- 
richtete auf der Moskauer Historikerkonferenz Seidel are): vgl. 11, 226 f. 
Die Abteilung besteht aus einer Sektion für die ichte Rußlands und einer 
Sektion für den Westen. In der Sektion für russische Geschichte arbeiten Gruppen 
über Geschichte der Agrarverhältnisse; die Narodnikibewegung; die Ausstands- 
bewegung; die Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung und über Quellen- 
kunde; in der zweiten Sektion bestehen Gruppen für Altertum, Mittelalter und 
die materielle Kultur; für Geschichte der französischen Revolution, die Geschichte 
der Industrie-Revolution und die Geschichte der II. Internationale. Die Abteilung 
beabsichtigt, das vor einigen Jahren cingegangene, vom Petrograder Gouverne- 
mentsrat der Gewerkschaften angeregte „Archiv fiir Geschichte der Arbeit in Ruß- 
land“ (Archiv istorii truda v Rossii) zu erneuern. — Siehe auch Vestnik Komakad. 
27 — 1928 Nr. 8 S. 291 


Das Leningrader Wissenschaftl. Forschung: · Institut für Marxismus ist seit 


kurzem der Kommunistischen Akademie als ihre Leningrader Filiale angeschlossen; 
vg. Pokrovskij, Na den fronta: Leningradskaja Pravda Nr. 66/4445 v. 
8. März 1980 und S.Gonikman, Licom k socialistiteskoj praktike (Oterednye 
zadali Leningradskogo otdelenija Kommunistideskoj Akademii): Ebda. Nr. 70/4449 
v. 12. März 1980. — Vgl. Anm. 99. 


Karev (Das Problem einer marxistischen Geschichte der We ger behandelt 

werden: Mitt. der Pravda v. 20. Jan. 1980. — Vgl. auch S. Alichnjan, Za 

TESA marksistsko-leninskij istoričeskij materializm: Kniga i revoljucija 
Nr. 


96 


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lihen Revisionismus, insbesondere gegen die Mechanisten, die sich 
von der marxistisch-leninistischen Linie in der Philosophie abgewandt 
hätten. — 

Bedeutung für die russische Agrargeschichte hatte L. N. Kritz- 
manns Vortrag: „Analyse des Bauernhofes“, eine Betrachtung der 
„inneren Struktur und der inneren Veränderungsprozesse des Bauern- 
hofes als des konstitutiven Elements des bäuerlichen Produktions- 
systems“, im wesentlichen auf Grund der aus dem Agrarinstitut der 
Kommunistischen Akademie hervorgegangenen Untersuchung von M. 
Kubanin: „Die Klassennatur des Zerstückelungsprozesses der bäuer- 
lichen Virtschaft..) 

Eine nachhaltige Einwirkung auf die Leninforschung und 
die marxistische Theorie dürften philosophische Fragmente aus 
Lenins Nachlaß (Auseinandersetzungen mit Hegel, Plechanov, Marx) 
ausüben, über die V. V. Adoratskij vortrug. 


In einer Resolution bestätigten sich die Konferenzteilnehmer, 
der dialektische Materialismus sei die einzige wissenschaftliche 
Theorie, die dem Proletariat eine umfasende Veltanschauung und 
eine Waffe im Kampfe für die proletarische Diktatur und die 
sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft gebe. Pokrovskij er- 
klärte in seinem Schluß wort u. a.: „Nicht zufällig haben wir uns im 
gegenwärtigen Moment der sozialistischen „Rekonstruktion“, im 
Moment eines auß erge wöhnlichen Aufschwungs, der an die Oktober- 
revolution erinnert, zur Erörterung der theoretischen Fragen zu- 
sammengefunden. Ich meine, daß die Beherrschung der Naturwissen- 
schaft durch Kommunisten die dringendste Aufgabe ist. Wie einst- 
mals die Losung ausgegeben wurde: ,,Proletarier — aufs Pferd!“ 
so sollte jetzt die Losung gegeben werden: „Kommunisten — zur 
Natur wissenschaft!“ Solange wir nicht die Natur wissenschaften be- 
herrschen, werden wir uns in Abhängigkeit von Leuten befinden, die 
uns ideologisch fremd sind. Die Tatsache, daß wir in den 
Gesellschafts wissenschaften den Taktstock in 
unseren Hin den halten, ist ein Zeichen dafür, daß wir auch 


* 


s) „Klassovaja suStnost’processa droblenija krest’janskich chozjajstv.“ Vstup. 
stat ja L. Kricmana. (Moskau 1929); vgl. dazu A. Sochin in der Pravda Nr. 121 
(4255) v. 80. Mai 1929. 


51) Vgl. Adoratskij, V. I. Lenin o. gegelevskoj logike i dialektike: Pro- 
letarskaja revoljucija Nr. 87 = 1929 Nr. A — Mit der Veröffentlichung von 
Lenins kritischen Bemerkungen zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ (mit einer 
Einleitung von A. Deborin, dtsch. in den „Philosoph. Heften“, hrsg. von Max. 
Beck, II. Jg. H. 1, (Berlin-Wannsee 1929) hat die „Geschichte des Marxismus- 

ini “ den wertvollsten Beitrag seit Jahren empfangen: V. I. Lenin, Kon- 
spekt knigi Gegelja „Nauka logiki“ (1914) im: Leninskij sbornik IX. Izd. Instituta 
Lenina pri CK VKP (b), Mosk. 1929; s. auch I. Podvolockij, Leninskij kon- 
spekt „Nauki logiki“ i problemy materialisti¢eskoj dialektiki (I): Vestnik Komakad. 
81 = 1929 H. 1 S. ITI—XLVII und 82 — 1929 H. 2 S. 30—78; V. V. Ado- 
ratskij, O rabotach Lenina po filosofii: Ebda. 32 S. 198—210; M. Mitin, 
Lenin i gegelevskaja dialektika: Revoljucija i kul’tura 1929 Nr. 7; P. Demczuk, 
Lenin und Hegel: Der Rote Aufbau 2. Jg. (1929), 271—273. 


97 


auf dem Gebiete der Naturwissenschaften die Aufgabe bewältigen 


werden... .“ 

An die Konferenz schloß unmittelbar eine eintägige Zusammen- 
kunft der Gesellschaft der kämpfenden materialistischen Dialektiker™) 
an. Die Gesellschaft besteht erst seit der Jahreswende 1928—29 
und ist durch Verschmelzung der Be? allen Mechanisten und Freud- 
Anhängern gereinigten) Gesellschaft der kämpfenden Materialisten™) 
und der Gesellschaft der materialistischen Freunde der Dialektik 
Hegels**) entstanden. Als ihre Hauptaufgabe betrachter die Gesell- 
schaft das Eintreten für die prinzipielle Reinheit des marxistisch-leni- 
nistischen dialektischen Materialismus und atheistische Propaganda. 
Die theoretische Arbeit der Gesellschaft verdient Beachtung auch von 
seiten der Historiker; bereits von der alten Gesellschaft der kämpfen- 
den Materialisten wurden atheistische Kampfschriften des 18. Jahr- 
hunderts wieder ausgegraben und neu herausgegeben..) Der dritte 
Absatz des $ 1 in der Satzung der Gesellschaft der materialistischen 
Dialektiker lautet: „Die Gesellschaft betrachtet als ihre Aufgabe 
auch den Kampf gegen falsche Auslegungen des orthodox-dialektischen 
Materialismus (ortodoksal'nyj dialekticeskij materializm) in den 
historischen, den Wirtschafts-, Natur- und anderen Wissen- 
schaften“ und $ 2 führt unter den besonderen Aufgaben der Ge- 


$2) Pravda Nr. 86 (4220) v. 14. April 1929. 


Zu einer weiteren Veröffentlichung aus Lenins philosophischem Nachlaß: 
Konspekt lekcij Gegelja po istorii, konspekt istorii filosotü (I i II tomy) (Leninskij 
sbornik XII, 1980) vgl. Nik. Karev in der Pravda Nr. 62 (4507) v. 4. Marz 1990. 

Vgl. auch I. K. Luppol, Lenin i filosofija. K voprosu ob otnofenii filosofii 
k revoljuciju. M.-L. ? 1929. 


53) Oblẽestvo Voinstvujustich Materialistov-Dialektikov, abgekürzt: OVMD. 
Sitz: Moskau, OstoZenka 58. Institut Krasnoj Professury. 


88) Ob&estvo voinstvujuscich materialistov. 
56) Obščestvo materialisticeskich druzej gegelevskoj dialektiki. 
86a) Areisticeskie pamflety XVIII stoletija. Pod red. A. M. Deborina. 


Die Protestbewegung der christlichen Kirchen gegen die vor allem vom Bund 
der Atheisten (Sojuz Bezbo2nikov SSSR) betriebene antireligiöse Propadanga in 
der Sovetunion, insbesondere das Hervortreten des Papstes durch seinen Brief an 
den Cardinal Bas. Pompilj vom 2. Februar 1990 (vgl. l’Osservatore Romano 
Nr. 88/21188 v. 9. Febr. 1980) rief die marxistische Wissenschaft zu Gegenkund- 
N auf den Plan. N. Bu char in führte den Gegenschlag in einem 21 Spalten 
angen (auch als Sonderdruck verbreiteten) Pamphlet „Finansovyj kapital v mantii 
papy“ in der Pravda Nr. 65 (4510) v. 7. März 1980, einer historischen Übersicht 
über die „finstere Institution“ des Papsttums. 


Ein „Offener Brief“ russischer Astronomen an den Papst (, Otkrytoe pis mo 
sovetskich astronomov pape Piju XI“), der am 27. März 1980 in der Pravda 
(Nr. 85/4530) und in den Izvestija veröffentlicht wurde, bringt eine eigenartige 
Note in die Diskussion mit der katholischen Kirche. Der Brief sucht die Geschichte 
der Astronomie, die Haltung der Kurie gegenüber Giordano Bruno, Galilei, 
Copernicus, Tycho de Brahe, Kepler „und viele andere Märtyrer der Wissenschaft“, 
gegen das Papsttum auszuspielen und fordert die Offnung der Geheimarchive der 
Inquisition, in denen der Welt bisher vorenthaltene Schriften Galileis zu vermuten 
on ... Merkwiirdigere Verfechter der „Freiheit der Wissenschaft" hat es nie 
gegeben. 


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sellschaft die Beschäftigung mit Fragen des historischen Materialismus 
auf. 

KS der Tagung der marxistischen Agrartheoretiker (Konferencija 
agrarnikov-marksistov) am 25. Mai 1929 wurden auch Sektionen fiir 
die Geschichte der Agrarrevolution und fiir die Agrarfrage im Orient 
gebildet;“) A. Heister (Gajster) trug über „Die Ergebnisse der 
Agrarrevolution in Rußland“ vor. 


Das Lenin - Institut.“) 


Das Lenin- Institut, das sämtliche gedruckten und handschrift- 
lichen Materialien, die sich auf Lenin beziehen, vereinigt, besteht seit 
1923. Seine Aufgabe ist die Bearbeitung von Lenins Nachlaß, die 
Erforschung der Geschichte der Russischen Kommunistischen Partei 
und der Kommunistischen Internationale. Bereits im Herbst 1920 
wurde eine „Kommission für die Geschichte der Kommunistischen 
Partei Rußlands und der Oktoberrevolution“ ) eingesetzt. Die Kom- 
mission, die mit einem Netz von Filialen arbeitet, hat sich um die 
Sammlung und Herausgabe von Materialien zur Geschichte der Ok- 
toberrevolution und der russischen revolutionären Bewegung in den 
letzten Jahrzehnten ein großes Verdienst erworben. Der weitgehende 
Parallelismus der Aufgaben der parteigeschichtlichen Kommission und 
des Lenin-Instituts führte 1928 zur Vereinigung der beiden Ein- 
richtungen. 


se) Vgl. Ustav Ob kes tva voinstvujul& ich materialistov-dialektikov (OVM O): 
Vestnik Komakad. 81 — 1929 Nr. 1 S. 248—253; M. B. Mit in, O voinstvujulèem 
dialektièeskom materializme: Pravda Nr. 29 (4168) v. 5. Febr. 1929; Pravda 
Nr. 76 (4210) v. 8. und Nr. 89 (4228) v. 18. April 1929. 


87) Vgl. Vestnik Komakad. 81 — 1929 H. 1 S. 240; Pravda Nr. 60 (4208) 
v. 26. März 1928: K agrarnikam-marxistam. 


se) „Das Lenininstitut“: Wochenbericht 8. Jg. Nr 4 (28. Jan. 1927): E. 
Sallaj, Institut V. I. Lenina pri CK VKP (b): Pečat’ i revoljucija 1927 H. 7 
S. 270—275; (E. L.), Das Lenin-Institut: Moskauer Rundschau 1. Jg. Nr. 27/28 
v. 17. Nov. 1929. — Das Institut gibt drei Reihen heraus: den „Leninskij sbornik“ 
(bisher 18 Bände) zur Veröffentlichung von Lenin-Materialien, „Leniniana“ (bisher 
5 Bände, Bibliographie der russ. Lenin-Literatur 1924—1928), „Zapiski Instituta 
Lenina (bisher 8 Bände), außerdem die speziellen Istpartorgane: „Proletarskaja 
revoljucija“ und „Z pola walki“ (Žurnal, posvjašč. istorii revoljucionnogo dviZenija 
v Polk, in polnischer Sprache). — M. Savel’ev, Rabota Instituta Lenina: 
Trudy I, 28—85; ders.: Vestnik Komakad. 82 — 1929 H. 2 S. 225—229. 


se) Otdel CK VKP (b) po izuteniju istorii Oktjabr’skoj Revoljucii i VKP (b) 
= „Istpart“; vgl. P. LepeSinskij, Objasnicel’naja zapiska k programme po 
istorii RKP: Proletarskaja revoljucija 1922 Nr. 5 S. 45—91; N. Bel & i ko v 
(Literatura po archivnomu delu 1917—1928): Archivnoe delo H. 2 (1925), 158 bis 
157: Archiv revoljucii; S. Piontkovskij, Oktjabf i russkaja istori&eskaja 
nauka: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2 S. 112—121; V. I. Nevskij, Cto sdelano 
po istorii revoljucionnogo dviZenija za desjat let (1917—1927 g.): Pečat’ i revol- 
jocija 1924 H. 8 S. 62—69. — Über die Tätigkeit der Polnischen Kommission des 


Istpart vgl. St. Bo bins ki j, Materialy po istorii pol’skogo bol“ Jevizma: Ist. 
Marxist 7, 255—260. 


99 


Ausführungen Savel’evs über die Aufgaben des Lenin- 
Instituts und die Filialen des Istpart, mit denen Anfang Januar 1929 
eine an die Konferenz der marxistischen Historiker anschließende 
Tagung der Vertreter der lokalen Istpartbureaus im Lenin; Institut 
eröffnet wurde,“) entwickelten das durch die Verschmelzung er- 
weiterte Programm der „Hochschule der revolutionären Strategie“, 
wie Trockıj das Institut einmal genannt hat.“) Außer seiner 


Hauptaufgabe, der beschleunigten Fertigstellung der Gesamtausgabe 


von Lenins Werken, wird das Institut — um eine vom 15. Parteitag 
empfangene Direktive zu erfüllen — die Vorbereitung einer wissen- 
schaftlichen Geschichte der Partei in Angriff nehmen. Savel’ev 
kündigte ferner eine neue Zeitschrift, ein „Archiv instituta Lenina“ 
zur Veröffentlichung von Dokumenten aus der Geschichte der Partei 
an.) Der zweite Redner (Essen) erläuterte die speziellen Aufgaben 
der lokalen Istpart - Organisationen,“) u. a. wies er auf den unbe- 
friedigenden Stand der Literatur zur Geschichte der Partei in der 
Epoche der Reaktion nach 1905 hin. Den Abschluß der Tagung 
b SE: ein Referat über die parteigeschichtliche Arbeit in Lenin- 
gi ad.“ 


) I. vsesojuznoe sovedtanie zavedujußlich mestnymi Istpartami: Izvestija 
Nr. 6 (8542) v. 8. Jan. 1929; Pjatoe vsesojuznoe soveščanie istpartrabotnikov 5 
do 7 janvarja 1929 g. (Stenografil. order), Mosk. 1929; vgl. auch Sa vel evs 
Bericht über das Lenin-Institut auf dem Moskauer Historikerkongreß: Istorik- 
Marksist 11, 225 f. und Trudy I, 28—85. 


D Rede zum fünfjährigen Bestehen der Sverdlov-Universität: Izvestija 
Nr. 185 v. 10. Juni 1923. 


62) Die Istpart-Organisation bildet einen der beachtenswertesten Versuche, 


— 


historische Arbeit zu popularisieren. Ein Artikel von M. Essen Gstpartovskaja 


ob&estvennost’: 5, 278—282) berichtet über ein eigenartiges, anscheinend geglückte: 
Experiment, aus alten Mitgliedern der Partei der Bolscheviki Gruppen zu bilden, 
um die Arbeit der für die Geschichte der Partei gebildeten Kommissionen zu 
prüfen und zu ergänzen und namentlich da einzuspringen, wo in der Doku- 
mentierung der Geschichte der revolutionären Bewegung Lücken vorhanden sind. — 
Um die Erinnerung an die Revolutionsbewegung, illegale Propagandatätigkeit, 
Gefängnis, Katorga und Strafverbannung wachzuhalten, wurde durch die „Gesell- 
schaft der ehemaligen politischen Strafgefangenen und Verschickten“ ein revolu- 
tions-historisches Wandertheater begründet: Izvestija Nr. 200 (8786) v. 81. August 
1929. Ober die Bemühungen, im russischen historischen Film den Stil der Ver- 
gangenheit getreu zu rekonstruieren, vgl. die Beispiele des Regisseurs J. Tar id: 
Wochenbericht 4 Jg. Nr. 18—19 (5.—12. Mai 1928), 19 f. — Als typische Kritik 
der Aufführung eines historischen Bühnenstücks, von A. Tolstojs „Peter I.“, 
führe ich aus der Pravda Nr. 69 (4514) v. 11. März 1980 an: „Es ist nichts von 
jenem Hauch des Handelskapitalismus zu spüren, der die reformatorische Tätig- 
keit Peters umweht und der die bewegende Kraft seiner Reformen war“ 


(L. Cernjavski)). 


) Über einen Skandal im Krim-Istpart im Zusammenhang mit der Ver- 


öffentlihung von P. V. Makarov, Ad’jutant generala Maj-Maevskago. Iz 
vospominanij nač. otrjada Krasnych partizan v Krymu (Leningrad 1929); vgl. 
Rul’ (Berlin) Nr. 2681 v. 24 Juli 1929. 

68) Vgl. Izvestija Nr. 6 (3542) v. 8. Jan. 1929. 


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Das Marx - Engels - Institut.“) 

Verhältnismäßig wenig ist bisher im „Istorik-Marxist“ über die 
Tätigkeit des Marx-Engels-Instituts zu finden;“) auch auf der 
marxistischen Historikerkonferenz wurde nur über Lenin-Institut 
vorgetragen. Das Marx-Engels-Institut ist das „marxistische 
Arsenal“ und erhebt den Anspruch, das einzige „wissenschaftliche 
Laboratorium“ der Welt für „Marxkunde“, für die Geschichte des 
wissenschaftlichen Sozialismus und die Geistesgeschichte der Neuzeit, 
die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf des Proletariats im 
Westen zu sein.“) Die Ausstattung des Instituts mit wissenschaft- 
lichen Hilfsmitteln — allein die Bibliothek zählt bereits 
330 000 Bände — sucht in der Welt ihresgleichen.“ ) 


€s) Die Begründung dieses Instituts (wie auch des Lenin-Instituts) wurzelt 
in dem Glauben, „daß die auf breitester wissenschaftlicher Grundlage vollzogene 
Errichtung eines Marx-Engels-Kultus einen ideellen Gewinn für die Festi 
die Sicherung und das Ansehen der Sowjet-Republik bedeutet. Nach den Kaisern, 
Königen, Feldherren der militärischen Epoche, nach den Entdeckern, Erfindern, 
Unternehmern des bürgerlichen Zeitalters, nach den Heiligen und Märtyrern 

ubenserfüllter Epochen werden nun sozialistische Theoretiker die Staats- 
ıdeologen einer großen Nation“: A. Meusel in den „Kölner Vierteljahrsheften 
für Soziologie“ 6 (1926—27), 299. 

se) Die eingehende Würdigung der Publikationstätigkeit des Instituts, die 
bereits 1926 in der ersten Nummer der Zeitschrift verheißen worden war — 
institute K. Marksa i F. Engel’sa pri CIK SSSR: 1, 828—825 —, steht heute 
noch aus; lediglich Bd. III des „Archiv K. Marksa i E. Engele: (1927) wurde 
in Heft 7 (S. 279—281) besprochen. 

Die monumentale Ausgabe der Werke von Marx und Engels in 27 Bänden 
(X. Marks i F. Engel’s, Sotinenija), die das Institut unter der Redaktion von 
D. Rjazanov erscheinen läßt und die 1982 abgeschlossen vorliegen soll, um- 
faßt in Bd. I—XIV Publizistik, Philosophie und Geschichte, in Bd. XV—XX 
wirtschaftliche Untersuchungen, in Bd. XXI—XXVII Briefe; die Bände 1—8, 
5, 8, 21—28 sind bereits erschienen. Außerdem sind die Vorarbeiten für eine 
„akademische“ Ausgabe der Werke von Marx und Engels im Gange. — Das 
Institut hat ferner mit der Veröffentlichung der Werke Hegels (bisher Band I, 1: 
Encik] ija filosofskich nauk. Logika, mit Einl. von A. Deborin: Hegel i 
dialekti¢eskij materializm), G. V. Plechanovs, K. Kautskys und P. Lafargues be- 
gonnen und gibt neben den Zeitschriften: „Archiv K. Marksa i F. Engel’sa“ und 
den „Letopisi Marksizma“ mehrere Serien heraus: „Biblioteka nautnogo 

jalizma“, ,,Issledovanije po istorii i teorii marksizma“, „Issledovanija po istorii 
proletariata i ego klassovoj bofby“, „Biblioteka materializma“, iki 
socializma“, „Klassıki političeskoj ekonomii“, „Biblioteka marksista“. 

Uber die Publikationstätigkeit des Instituts im Jahre 1929 vgl. G. Seidel 
(Zajdel), Prodvinem v massy aktiva idejnoe nasledie Marksa i Engel’sa: Lenin- 
gradskaja Pravda Nr. 285 (4859) v. 10. Dez. 1929. 

67) Vgl. E. Czobel, Institut K. Marksa i F. Engel’sa: Pečat’ i revoljucija 
1927 H. 7 S. 257—200; G. Lenz, Das Marx-Engels-Institut in Moskau: Histor. 
Zeitschrift Bd. 187 (1928), 498—501; F. Schiller, Institut K. Marksa i 
F. Engel’sa v Moskvi: Prapor marksizmu 1929 Nr. 4 S. 188—189; A. Bern- 
feld, Das Marx-Engels-Institut: Moskauer Rundschau Nr. 26 v. 8. Nov. 1929. 
Das Marx-Engels-Institut: Marx-Engels-Archiv I 3 448—400; über das 
Archiv des Instituts: Archivnoe delo 20 (1929), 24— ie Kee Bestim - 
mungen des im Sommer 1929 bestätigten neuen Statuts teile ich im Anhang 
(S. 190 £.) in Übersetzung mit. 

eva) Vgl. den Bericht Rjazanovs vor dem Zentralexekutiv-Komitee der 
UdSSR am 8. März 1980: Izvestija Nr. 62 (8909) v. 4. März 1980. 


101 


Zum 60. Geburtstag D. B. Rjazanovs, des Begriinders und 
Leiters des Instituts, im März 1930*”°) erschienen mehrere bemerkens- 
werte Kundgebungen: A. I. Rykov erklärte die Marxkunde 
als einen neuen Wissenszweig, der aufs engste mit dem revolutionären 
Kampf des Proletariats für den Sozialismus verbunden sei,“) das 
Lenin-Institut erkannte das Marx-Institut als einen der wichtigsten 
Vorposten im Kampfe der Kommunistischen Partei für die möglichst 
weite Verbreitung der marxistisch-leninistischen Ideen an“) und das 
Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale rühmte 
Rjazanovs Institut als eine Stütze aller Sektionen der Komintern in 
ihrem Kampf mit den Verdrehungen, denen der Marxismus durch die 
Inspiratoren der Zweiten Internationale ausgesetzt sei. Im Glück- 
wunsch der nächsten Mitarbeiter des Jubilars, der Parteizelle und des 
„Kollektivs“ der Mitarbeiter des Marx-Engels-Instituts, hieß es: 

„Die Aufgaben und die Rolle des Instituts wachsen mit jedem Tag. Soeben, in 
der Periode der tiefen Krisis der bürgerlichen Wirtschaft, Politik und Kultur während 
des gleichzeitigen grandiosen Aufbauens des einzigen Landes der Welt mit der 
Diktatur des Proletariats, erscheint die marxistisch-leninistische Theorie als die 
Kraft, mit deren Hilfe das Proletariat alle großen Aufgaben des Aufbaus des 
Sozialismus in unserem Lande und in der internationalen proletarischen Revolution 
löst. Die wissenschaftlihe Aufgabe der Arbeiten von Marx und Engels... , 


ebenso die ganze wissenschaftliche Forschungsarbeit des Instituts... dienen diesen 
großen Aufgaben "ef 


Eine Entschließung des Präsidiums des Exekutiv-Komitees der 
UdSSR auf Grund von Rjazanovs Bericht über die Tätigkeit des 
Instituts 1928/29 erachtet als notwendig, „daß in der gegenwärtigen 
Periode der Verschärfung des Klassenkampfs und der verstärkten Ent- 
wicklung der wissenschaftlichen Tätigkeit in der UdSSR, insbesondere 
auf dem Gebiet der Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, und 
beim Anwachsen der wissenschaftlichen Cadres das Institut alle Mög- 
lichkeiten im höchsten Maße ausnutze, um das Hauptzentrum der 
Forschungs- und Popularisierungsarbeit auf dem Gebiet der Marx- 
kunde zu werden, indem es seine Arbeit mit der Tätigkeit der 
Kommunistischen Akademie und des Lenin-Instituts in Einklang 
bringe“; die Resolution regt an (oder nimmt eher wohl eine An- 
regung Rjazanovs auf), das Institut solle periodische Konferenzen der 


eb) Vgl. E. Czobel D. B. Rjazanov, kak marksoved: Izvestija 
Nr. 68 (3915) v. 10. März 1990; M. Pokrovskij, D. B. Rjazanov v sovetskom 
stroitel’stve: Pravda Nr. 69 (4514) v. 11. März 1930; I. Ran, Revoljucioner i 
ulenyj: Pravda Nr. 81 (4526) v. 23. März 1980; V. Kirpotin, David 
Borisovič Rjazanov: Leningradskaja Pravda Nr. 88 (4462) v. 25. März 1980; 
G. Seidel (Zajdel’), D. B. Rjazanov—revoljucioner i ucenyj: Ebda. Nr. 86 
(4465) v. 28. März; ders., Rjazanov-istorik: Problemy marksizma (Organ Lenin- 
gradskogo Otdela Kommunist. Akad.) 1990 Nr. 2. 


ec) Pravda Nr. 68 (4518) v. 10. März 1980. 
67d) Ebda. 

eze) Pravda Nr. 70 (4515) v. 12. März 1930. 
ef) Pravda Nr. 68. 


102 


„Spezialisten fiir Marxkunde“ (specialisty-marksovedy) aus der ganzen 
Union veranstalten..) 


Fiir die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung sind 
die Arbeitsgebiete des Marx-Engels-Instituts und des Lenin-Instituts 
derart abgegrenzt, daß die Epoche der II. Internationale bis zum 
Ausbruch des Weltkriegs zur Aufgabe des Marx-Engels-Instituts ge- 
hört, während die Sprengung der II. Internationale durch den Krieg 
und die III. EE vom Lenin-Institut bearbeitet werden. 


M. N. Pokrovskij. 


Der 60. Geburtstag Pokrovskijs“) wurde als Paradetag der 
russischen marxistischen historischen Wissenschaft, als ein Jubiläum 
marxistischen historischen Denkens gefeiert. Mit den von der Gesell- 
schaft der marxistischen Historiker vorbereiteten Kundgebungen des 
25. Oktober 1928, der als Tag der offiziellen Feiern festgesetzt 
worden war, läßt sich keine Ehrung vergleichen, die einem Historiker 
in einem anderen Lande je zu Lebzeiten zuteil geworden ist. Zum 
Lobe Pokrovskijs als marxistischer Gelehrter, Revolutionär und 
Politiker und als Organisator der Wissenschaft bleibt nichts mehr zu 
sagen übrig. Aus unzähligen Kundgebungen einige markante Bei- 

iele: „Sie, der Sie ihr ganzes Leben mit dem revolutionären Kampf 

es Proletariats er haben, schreiten in der ersten Phalanx der 
Kämpfer und halten hoch das Banner Marx-Lenins. . . . Sie schufen die 
einzige Schule der Welt von revolutioniren marxistischen Historikern 
und gelten mit vollem Recht als ihr Haupt, als Leader dieser Schule“ 
heißt es im Glückwunsch seiner Garde, der „Gesellschaft der marxisti- 
schen Historiker“, nach einer eindringlich formulierten Wiirdigung 
von Pokrovskijs Verdiensten.“) „Ihnen gehört in der Geschichts- 
wissenschaft das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert des Sieges des 
Proletariats“, verkündete die Glückwunschadresse der Leningrader 


67g) Zadači Instituta K. Marksa i F. Engel’sa. Postanovlenie prezidiuma 
CIK SSSR: Pravda Nr. 78 (4523) v. 20. März und Izvestija Nr. 88 (3980) 
v. 25. März 1980; s. auch oben Anm. 67 a. 


ei Geb. am 29. August 1868; über Pokrovskijs Lebensgang vgl. außer den 
biographischen Notizen Anm. 73, die aus Anlaß von Pokrovskijs Kandidatur zum 
Mitgliede der Akademie der Wissenschaften geschriebene Würdigung seines Lebens 
und Werkes durch P. Gorin („M. N. Pokrovskij“) in den Izvestija Nr. 238 
(8472) v. 12. Okt. 1928; s. auch diese Jahrbücher N. F. 4 (1928), 283. — Kurz 
und bündig begründete der Wahlvorschlag der „Sektion der wissenschaftlichen 
Arbeiter“ die Präsentation Pokrovskijs zum ord. Mitgliede der Akademie der 
Wissenschaften mit dem einzigen Satz: „Weil seine Arbeiten den festen Grund 
für die marxistische Methodologie der russischen Geschichte gelegt haben und weil 
er gegenwärtig als das allgemein anerkannte Haupt der russischen Schule der 
marxistischen Historiker anzusehen ist“: Izvestija Nr. 282 (8466) v. 5. Okt. 1928. 

Zum Pokrovskij-Jubiläum vgl. die Veröffentlichung des „Komitet po 
oznamenovaniju O0-letijja M. N. Pokrovskogo“: Na boevom postu 
marksizma. Stenogramma torzestvennogo zasedanija, posvjalk. 60-letiju so 
185 . i 35-letiju naučnoj dejatel’nosti M. N. Pokrovskogo (Mosk. 1929). 


Spa) Na boevom postu marksizma 61—63. 


103 


Universität.) „Das ideelle Zentrum, das Frankreich vor hundert 
Jahren war, befindet sich heute bei uns, an den Ufern der Moskva 
und der Neva.) Ein stolzer Überschwang spricht aus Worten 
Lunalarskijs, die Spezialisten Europas beneideten Rußland um 
die hohe Stufe, die dort die Sicherung der Archivalien und das 
Editionswesen erreicht hätten.“) Eigentümlich berührt die Be- 
hauptung Sestakovs im Jubiläums-Hauptartikel des „Istorik- 
Marxist“, die bürgerliche Geschichts wissenschaft fahre „aus völlig 
verständlichen Ursachen“ fort, Pokrovskij tot zu schweigen“) —, 
nachdem man es wenige Vochen zuvor gegenüber dem Führer der 
russischen Historiker- Delegation in Berlin und Oslo an Aufmerksam- 
keit und Aufmerksamkeiten gewiß nicht hatte fehlen lassen.“) 


e) 10, 267. 

70) Archivnoe delo 17 (1928), 75. 

71) Izvestija Nr. 249 (8483) v. 25. Okt. 1928. 
72) 9, 8. 


73) Es würde zu weit führen, hier auf die Außerungen zum Pokrovskij- 
Jubiläum näher einzugehen; ich begnüge mich mit einigen Hinweisen. 

Im „Istorik-Marxist" wurde von A. V. Šestakov („M. N. Pokrovskij 
— istorik-marxist“: 9, 8—17) Pokrovskij als Bahnbrecher des revolutionären 
Marxismus in der russischen Geschichtsschreibung, von P. Gorin („M. N. Po- 
krovskij kak istorik pervoj russkoj revoljucii“: 9, 84—57) als Historiker der 
ersten russischen Revolution von 1905, von D. Kin, („M. N. Pokrovskij kak 
istorik Oktjabr’skoj revoljucii“: 9, ae) und von N. Rubinstein 
(„M. N. Pokrovskij — istorik vneinej politiki“: 9, 58—75) als Historiker der 
äußeren Politik Rußlands gewürdigt. Eine nüchterne biographische Notiz 
(M. N. Pokrovskij. Kratkaja biografiteskaja spravka“: 9, 79—88) brachte vor 
allem die beispiellose wissenschaftsorganisatorische Leistung des Jubilars seit der 
Oktoberrevolution zur Anschauung und eine durch die Bibliothek des Instituts 
der Roten Professur zusammengestellte Bibliographie seiner Veröffentlichungen 
(„Materialy k bibliografii M. N. Pokrovskogo 1896—1928“: 9, 218—281) schuf 
für die „Pokrovskij-Forschung“, von der man heute schon sprechen kann und 
der die Gefahren einer Pokrovskij-Philologie drohen (vgl. 9, 42 Anm. 1!) die 
sichere Grundlage. 

„Izvestija“ und „Pravda“ brachten am 25. Okt. 1928 besondere Pokrovskij- 
Beilagen mit Beiträgen u. a. von Lunalarskij, V. Polonskij („P. als 
Künstler“), V. Fritsche („Der Schöpfer der proletarischen Kultur“), A. Sesta- 
kov („Der proletarische Historiker P.“), Evg. Krivolein az („Der kämpfende 
bolschevistische Historiker“): Izvestija Nr. 249 (3488); N. Bucharin („Der 
Professor mit der Pike“), D. Kin („Der Historiker der proletarischen Revo- 
lution“), A. Sidorov („P. und die russische Geschichte“), N. Rubinstein 
(„Der Historiker der äußeren Politik“): Pravda Nr. 249 (4081); P. Gorin („Der 
kämpfende marxistische Historiker“) und S. Dubrovskij („Die Agrarfrage 
in den Arbeiten von P.“; vgl. A. Heister [Gajster], M. N. Pokrovskij — 
istorik agrarnoj revoljucii: Na agrarnom fronte 1928 Nr. 10 S. 8—6): Pravda 
Nr. 250 (4082) v. 26. Okt. 1928; A. S. Bubnov („Der Theoretiker der 
leninistischen Schule“): Izvestija Nr. 251 (8485) v. 27. Okt. 1928 (vgl. dazu 
Istorik-Marxist 10, 270). — Weitere Würdigungen z. B. im Vestnik Komak. 29 
= 1928 H. 5 (Lunalarskij, V. Miljutin), Proletarskaja revoljucija 
Nr. 81 = 1928 H. 10 (P. Gorin, Die historische Begründung der Oktober- 
revolution in P's Arbeiten), Pečat’ i revoljucija 1928 H. 7 (V. I. Nevskij, 
Istorik-materialist), Nauènoe slovo 1928 Nr. 10 (J. Min c); Novyj vostok 
Nr. 25 (1929): V. Gur ko- Krja zin („M. N. Pokrovskij und die Er- 
forschung der Geschichte des Orients“, S. 29—46) und A. E. Chodorov 
(„M. N. Pokrovskij und die Erforschung des Fernen Ostens“, S. 1—28); Mirovoe 


104 


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Der Abstand zwischen der dogmatisch gebundenen marxistischen 
und einer freien und tiefen Auffassung der Wechselwirkung zwischen 
dem Individuum und der Gemeinschaft, die sich in Pokrovskijs Dank- 
rede auf dem offiziellen Festakt“) zur maflosen Verherrlichung der 
Klasse des Proletariats als der Wurzel seiner Leistung und der Quelle 
seiner Kraft vereinfacht, läßt sich kaum schärfer andeuten als 
durch Gegenüberstellung von Rankes Bekenntnis aus einem ähnlichen 
Anlasse, ın seiner Dankrede am neunzigsten Geburtstag. 


Der Kampf der Schule Pokrovskijs egen die bürgerliche Geschichts- 
wisse 3 

Den Kampf der marxistischen Historiker gegen die geringen 
Überreste des alten bürgerlichen Professorentums an Hochschulen und 
wissenschaftlichen Forschungsinstituten macht kein Vorgang der 
letzten Jahre deutlicher, als die Auseinandersetzungen, die sih an 
D. M. PetruSevskijs „Skizzen aus der Wirtschaftsgeschichte 
Europas im Mittelalter“) knüpften. Das Werk, das sich erkenninis- 
theoretisch an Rickert und Max Weber orientiert, wurde in einer 
ausgedehnten Diskussion in der Soziologischen Sektion der Gesell- 
schaft der marxistischen Historiker am 30. März und 6. April 1928 
von mehreren Mitgliedern (Pokrovskij, C. Friedland, P. I. Kušner, 


chozjajstvo i mirovaja politika 1928 Nr. 11 (F. Rotstein, P. als Historiker der 
internationalen Beziehungen), Archivnoe delo 16 — 1928 H. 8 (V. Maksakov, 
P. und die Frage der Archivorganisation), s. auch Arch. delo 17, 68—75; Ost- 
europa 4 (1928—29), 308 f. — Sogar dem Schicksal, vom gefeiertsten Schmied 
marxistischer Verse, Dem jan Bednyj, angedichtet zu werden, entging 
Pokrovskij nicht: ,,Kul’turnejlemu“ — in der Pravda v. 25. Okt. 1928. 

Frau M. V. Nelkina, die die Unvorsichtigkeit begangen hatte, 1919 als 
Studentin nicht ganz parteifromm „Die russische Geschichte in der Beleuchtung 
des ökonomischen Materialismus“ (vgl. diese „ N. F. IV, 287 Anm. 23), 
im wesentlichen eine Gegeniiberstellung Rozkovs und Pokrovskijs, zu schreiben 
(s. dazu V. Nevskij in Pečat’ i revoljucija 1928 H. 7 S. 181—188), und der 
diese Jugendsünde namentlich zur Zeit des Pokrovskij- Jubiläums wiederholt vor- 
gehalten wurde (vgl. A. V. Šestakov, M. N. Pokrovskij — istorik- marks ist: 
H. 9; N. Stepanow zu M. Cvibak, Rokkov-istorik, Taškent 1927: 9, 
183—187), leistete öffentlich Abbitte, indem sie in einer Erklärung die zahl- 
reichen Irrtümer und Fehler der Arbeit auf ihre damalige ungenügende marxi- 
stische Vorbereitung schob (11, 277 f.); sie ist inzwischen längst eine fleißige 
und „ideologisch untadelhafte Mitarbeiterin des „Istorik-Marksist“ geworden. 
— Bei der Verfeinerung der historischen Kritik des Marxismus durch 
Unterscheidung des ökonomischen, historischen und dialektischen Materialismus 
— wobei der ökonomische Materialismus als „Materialismus minus Dialektik“ 
(Pokrovskij) an letzter Stelle rangiert, während „das Wesen des dialektischen 
Materialismus geradezu darin besteht, alles historisch zu betrachten“ (Rja za - 
nov: Vestnik Komakad. 26 S. 251) — mußte sich das Urteil über die Arbeit von 
Frau Netkina im Lauf der Jahre ständig verschlechtern. — Vgl. A. V. Šesta- 
k'o v, Proletarskij istorik — M. N. Pokrovskij: in den „Izvestija“ Nr. 249 (4383) 
v. 25. Okt. 1928 und im „Istorik-Marxist“ H. 9. 


74) Siehe unten Anlage 2. 


78) Siebe Anm. 48; über Petrulevskij 3. E. A. Kos mins ky, Russian 
. = english economic history: The economic history review Bd. I (1927), 
6—21 


105 


S. S. Krivcov, V. D. Aptekar) völlig verworfen, während sich 
A. I. Neusychin und E. A. Kosminskij mit vielen Vorbehalten dafür 
einsetzten. 


Das Stenogramm der Diskussion ist ein klassisches Dokument 
zugleich der russischen und der deutschen Wissenschafsgeschichte: 
Es gibt in der russischen historischen Literatur kein aufschlußreicheres 
Zeugnis für den deutschen Einfluß in den russischen „Gesellschafts- 
wissenschaften“, für die Auseinandersetzung der beiden Lager der 
russischen Wissenschaft, des marxistischen und des nicht nicht- 
marxistischen, mit der deutschen Philosophie und Soziologie der 
letzten Menschenalter und mit der Forschung der Schule Dopschs über 
das Mittelalter. *) Um sich vor dem Marxismus zu retten, erklärte 
Friedland, nähmen die bürgerlichen idealistischen Historiker zu 
den „extravagantesten Theorien des geschichtsphilosophischen 
Denkens im Westen“, zu Max Weber und Troeltsch, ihre Zuflucht, 
während auf dem Gebiete des konkreten historischen Wissens für sie 
Dopsch maßgebend sei;“) und er versicherte: „Wir werden einen 
hartnäckigen Kampf führen gegen den barbarischen Überfall auf den 


Marxismus durch die in Mode stehenden westeuropäischen philo- 
sophischen Schulen und ihre russischen Schüler.“ w) 


Nur in der Gesellschaft der marxistischen Historiker konnte es 
geschehen, daß durch PetruSevskijs Untersuchung hervorgerufene 
Differenzen über Agrarkommunismus bei den Germanen sich zu 
einem Streit um die richtige Interpretation einer Stelle in Engels 
„Ursprung der Familie“ zuspitzten“), und nicht weniger typisch 


78) Disput o knige D. M. Petrulevskogo: 8, 79—128: S. S. Krivcov 
79—85; C. Friedland 85—90, 126—128; E. A. Kos mins kij 90—95, 
117—119; A. D. Udal’cov 9%—90; A. I. Neusychin 99—104, 119—126; 
P. I. KuSner 104—115; V. D. Aptekar 115—117; vgl. Histor. Ztschr. 140 


(1929), 196. — Siehe auch die Rez. von A. Kiesewetter: Rul’ Nr. 2828 
v. 25. Juli 1928. 


mea) Vgl. N. N. Rosenthal (Rozental), Problemy zapadno-evropejskoj 
sredne-vekovoj istorii v osvedtenii Dopla-Petrulevskogo: Im Sbornik 2 der 


nr marksizma (Izd. Leningradsk. nautno-issledov. instituta marksizma), 
1929; Friedland, Markzism i zapadno-evropejskaja istoriografija ere 
einandersetzung mit Tröltsch): Istorik - Marxist 14, 17—21; V. Rudaf, 
Vozmoinost’ i charakter istoriteskoj nauki (gegen Rickert): Bjulleten . . IKP 


(s. oben Anm. 20a), 
77) 8, 104. 


78) 8, 127; „die Modetheorie der Soziologie Max Webers“: Udal’cov in 
einer Diskussion über die marxistische Auffassung der Soziologie (12, 207). 
7) Kosminskij und Kušner: 8, 88 und 106f. 


Wann werden die marxistischen Historiker dahin kommen, das Gutachten 
zu beherzigen, das Albert Einstein zur Herausgabe von Friedrich Engels 
„Dialektik und Natur“ im II. Band des Marx-Engels- Archivs“ (herausg. von 
D. Rjazanov, Frankfurt a. M. 1927) erstattete? Einstein schrieb: „Wenn dieses 
Manuskript von einem Autor herrührt, der als historische Persönlichkeit nicht 
interessierte, würde ich zu einer Drucklegung nicht raten; denn der Inhalt ist 
weder vom Standpunkt der heutigen Physik noch auch für die Geschichte der 
Physik von besonderem Interesse. Dagegen kann ich mir denken, daß diese 


106 


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offenbarte sich die Kanonisierung von Marx in einer abwehrenden 
Bemerkung Neusychins:®) „Gen. Friedland gab D. M. PetruSevskij 
den Rat, die „Deutsche Ideologie“ von Marx zu lesen. Ein sehr ver- 
nünftiger Rat. Aber welche Belehrung für die mittelalterliche Ge- 
schichte vermag er aus einer Arbeit zu schöpfen, die in den vierziger 
Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben ist? Er kann daraus 
interessante Ideen, reiche Impulse auf dem Gebiete der Methodologie 
entnehmen, aber Tatsächliches zur Frage, ob es bei den Germanen 
die Gemeinde gegeben hat oder nicht, findet man im Text des Tacitus 
und nicht in einer — überdies in den vierziger Jahren geschriebenen 
— philosophischen Arbeit, wenngleich sie von Marx selbst herrührt“, 


— eine Ketzerei, mit der der Redner seine Geltung als Marxist aufs 
Spiel setzte. 

A. D. Udal’cov*) argumentierte u. a.: Petrusevskijs Werk 
sei ein Buch, von dem einer der Diskussionsredner mit Recht sagen 
konnte, daß es seiner Art nach völlig außerhalb aller der Streitfragen, 
aller der Diskussionen, aller der Interessen stehe, die den Inhalt der 
heutigen russischen marxistischen Wissenschaft bilden; es sei nach 
Westen orientiert und wende sich im Grunde an den Westen. Das 
Buch sei ein Produkt der westeuropäischen wissenschaftlichen Ent- 
wicklung; die marxistischen Historiker müßten es überwinden, 
indem sie an ihm die eigene marxistische Methode schärften und 


Schrift für eine Publikation insofern in Betracht käme, als sie einen interessanten 
Beitrag für die Beleuchtung von Engels’ geistiger Bedeutung bildet“ (S. 141). 

Professor KraZeninnikov (Voronež), der es wagte, bei den Neu- 
wahlen der Hochschullehrer im Frühjahr 1929 freimütig einzugestehen, er sei 
nicht Marxist, sei es nie gewesen und könne es nicht werden, und fortfuhr: 
„Auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft haben Marx, 
Engels und Lenin nichts geleistet“, empfing die „gebührende Ant- 
wort“ durch Entfernung aus dem Amt: Pravda Nr. 187 (4271) v. 18. Juni 1929. 
Die angeblichen Außerungen von Professoren des Pädagogischen Instituts in 
Jaroslav, die ein Artikel von A. Vyšinskij in den Izvestija Nr. 3 (3850) v. 
3. Jan. 1980 anführte: „Newton hat seine Gesetze auch ohne den Marxismus 
entdeckt (Prof. Znamenskij), „Botaniker können auch ohne den Marxismus 
auskommen“ (Prof. Sludskij) oder eine Erklärung des Professors am Kiever 
Institut für Volkswirtschaft Ptucha: „Mit Politik befasse ich mich nicht. 
Statistik ist keine politische Wissenschaft“ (Pravda Nr. 271/4405 v. 21. Nov. 1929; 
dagegen: Sovetskaja statistika dolžna stat’ boevym oruliem! Pravda Nr. 24/4469 
v. 25. Jan. 1980) werden als Beweise für „reaktionäre Gesinnung“ angesehen. 

Im Glückwunsch der Aspiranten des Instituts für die nationalen Kulturen 
des Sovet-Orients an Stalin zu seinem fünfzigsten Geburtstag, der die Aus- 
wirkung der bolschevistischen Nationalitätenpolitik unter den orientalischen 
Völkern der Sovetunion rekapitulierte, fehlte in der Aufzählung der Wider- 
stände gegen das „Vordringen der sozialistischen Epoche“ nicht ein Hieb gegen das 
„reaktionäre Professorentum“; man warf ihm vor, es versuche z. B. die Er- 
forschung der Sprache oder Literatur von der Erforschung der Entwicklung der 
materiellen Kultur, die Erforschung der Geschichte von der Erforschung der Ent- 
wicklung der sozialökonomischen Formation zu trennen; vgl. Europ. Gespräche 8 
(1980), 117. 

s) 8, 102. 

81) Vgl. Friedlands Replik 8, 127. 

2) 8, 95, 90. 


107 


dadurch, daß sie dieser konkreten historischen Untersuchung eine 
Reihe marxistischer konkreter Untersuchungen entgegenstellten. 
Dagegen fand Kos mins k ij“) daß in Petrulevskijs Unter- 
suchungen alle Grundkonzeptionen der Mittelalter - Forschung von 
einem Gesichtspunkt aus behandelt worden seien, der ihre Uber- 
setzung in die „ marxistische Sprache“ sehr leicht mache! 

In anderem Zusammenhang äußerte Friedland in der 
Campagne gegen PetruSevskij: Wenn PetruSevskij sich in seinem Auf- 
satz: „Strittige Fragen der mittelalterlichen Verfassungs- und Wirt- 
schaftsgeschichte“® gegen Büchers Schema wende, so kämpfe er damit 
in Wirklichkeit gegen den Marxismus, der nach seiner Ansicht im 
Grunde das Schema Büchers wiederhole.) — Petrulevskijs Er- 
Srterungen, — hervorgegangen aus allgemein bekannter, langjähriger 
Beschäftigung mit dem Gegenstand, ınsbesondere mit dem Feuda- 
lismus™) —, bieten weder für seine weltanschauliche Stellung Über- 
raschendes, noch sind sie in einem die marxistische Forschung ver- 
letzenden oder herausfordernden Ton vorgetragen. Es bleibt das 
Geheimnis seiner marxistischen Gegner, wie von ihnen gerade jener 
Aufsatz als ein „antimarxistisches Manifest) einge- 
schätzt werden konnte. ö 

Pokrovskijs ußwort in der Diskussion“) ist die denkbar 
schärfste Abrechnung des Seniors der marxistischen Historiker Ruß- 
lands gleichzeitig mit zwei hervorragenden Vertretern der nicht- 


83) 8, 95. 

88) Zeitschrift für die gesamte Staats wissenschaft Bd. 85, 1928, S. 468—490 
= Übersetzung des 1. Kapitels der ,,Ocerki iz ist. srednev. Evropy“: O neko- 
torych predrassudkach i sueverijach, tormozjaščich razvitie nauki srednevokovoj 
istorii, was dort nicht angegeben ist. 

84a) Vgl. unten S. 197 Pokrovskijs Ausfall gegen Dopsch in seiner Rede am 
25. Okt. 1928. 

85) Zum Begriff des Feudalismus bei Petrulevskij vgl. Kosminskij 8, 
93 f. und P. I. Kušner 8, 104—108; über den Feudalismus in Rußland vgl. 
I. Trockij: 8, 188f. S. auch P. B. Struve über die Stellung von 
N. P. Pavlov-Sil’vanskijs „feudaler Theorie“ in der russischen Rechtsgeschichte: 
L. L’vov, Beséda s P. B. Struve-ulenym: Rossija i slavjanstvo Nr. 88 v. 
17. August 1920; Struve, Feodal’nye elementy v gosudarstvenno-obXest- 
vennom stroé udél’noj Rusi, im Sbornik russkago instituta v Pragé I (1929). — 
E. A. Kosminskij, Pomestnyj stroj pozdnego srednekov’ja: Bjulleten’ . . . 
IKP (s. oben Anm. 20 a), 54—62. 

Die russischen Historiker haben sich jetzt zu O. Hintzes universal- 
historischer Anschauung und Einordnung eines russischen feudalen (terminologisch 
prazis definierten) Imperialismus und seines Zusammenhangs mit der Kultur und 
dem Imperialismus von Byzanz zu äußern; vgl. Hintze, Wesen und Ver- 
breitung des Feudalismus: Sitzungsberichte der Preuß. Akad. d. Wiss., Philol.-hist. 
Kl. Jg. 1929, S. 840f. 

e) Friedland: Pod znamenem marksizma 105; s. auch E. Krivo- 
Zeina: Izvestija Nr. 200 (8588) v. 25. Dez. 1928. 


sea) Sehr scharf wandte sich unlängst N. Majorskij in einer Besprechung 
von Petrulevskijs „Olerki po istorii Anglijskogo gosudarstva i obščestva v srednie 
veka“: Bjulleten IKP (s. oben Anm. 20 a), 92—96, gegen den Autor. 


#7) Novye tecenija v russkoj istoriceskoj literature: 7, 8—17; vgl. Histor. 
Ztschr. 140 (1929), 196 


108 


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marxistischen Geschichtsschreibung, — außer mit PetruSevskij, dessen 
historisch-methodologische Anlehnung an Rickert und Max Weber als 
Ausdruck bürgerlich-reaktionärer Gesinnung gebrandmarkt wurde, 
mit dem Mitgliede der Akademie der Wissenschaften Professor 
E. V. Tarle. Tarle stelle sich zwar in seinem Werke „Westeuropa 
in der Epoche des Imperialismus) auf den Klassenstandpunkt, allein: 
„Marxist ist nur, wer nicht nur den ökonomischen Faktor in der Ge- 
schichte und den Klassenkampf anerkennt, sondern auch die unaus- 
weihlihen Konsequenzen annimmt, die sozialistische Revo- 
lution und die Diktatur des Proletariats.“ ) 

Von Differenzen in Einzelpunkten abgesehen, 2. B. in der Beur- 
teilung der englischen Arbeiterbewegung und der Aussichten auf eine 
sozialistische Revolution vor dem Weltkrieg,“) erscheint wesentlich 
(und im allgemeinen zutreffend) die Charakterisierung Tarles als 
eines russischen Sekundanten der Entente in der Kriegsschuldfrage.™*) 
„Die Seiltänzerei, zu der der geehrte Historiker seine Zuflucht nimmt, 
um die These: „Deutschland ist der Angreifer!“ zu retten, vermag 
wahrlich die besten Rekorde des Goscirk”) zu überbieten.“ Zum 
Beweise an. Pokrovskij Tarles Darstellung der Rolle Hartwigs 
in der Vorbereitung des Balkanbunds, des Verhältnisses der serbi- 
schen Regierung zu den Verschwörern von Sarajevo,“) der russischen 


88) Zapadnaja Evropa v epochu imperializma. 

8°) In ver röberter Form nahm auf Grund der Erklärungen Pokrovskijs 
P. Gorin in der Presse den Kampf gegen Tarle auf: „Na istori¢eskom fronte“ 
in der Pravda Nr. 272 (4104) v. 23. Nov. 1928. 

%) Po. ovskij erklärt einmal den Weltkrieg zum „Präventivkrieg der 
Bourgeosie, in erster Linie der englischen, gegen die sozialistische Revolution“: 
»Klassovaja botba i „ideologiteskij front“ in der Pravda Nr. 260 (4092) v. 
7. Nov. 1928. Zu Pokrovskijs „Imperialistskaja vojna“. Sbornik statej (1915 bis 
1927), Mosk. 1928 vgl. Istorik-Marxist 8, 218—220; vgl. auch das Referat in 
diesen Jahrbüchern N. F. III (1927), 588 f. über Pokrovskij, Der historische Sinn 
des Februar (Carismus und Bourgeoisie in der Februarrevolution). 


ea) Tarle hat sich z. B. die Kritik von Bourgeois an der deutschen Akten- 
publikation kritiklos zu eigen gemacht: „Man druckt nur das, was Deutschland 
nützen kann. Das, was die Angriffspolitik des deutschen Imperialismus in der 
Wei arg charakterisiert, druckt man nicht“: Aus einem Vortrag Tarles 
(Archivnoe delo na zapade), Archivnoe delo 11—12 (1927), 100. 


81) Gosudarstvennyj cirkus, Staatlicher Zirkus. 


em Als Vorabdruck aus einem Werke, das in der Diskussion über die 
Kriegsursachen und den Kriegsausbruch bald eine Rolle spielen dürfte, veröffent- 
lihte N. P. Poletika ein Kapitel über den Mord von Sarajevo als diplo- 
matischen Anlaß zum Kriege: Otvetstvennost’ za mirovuju vojnu (K analizu st. 
281 Versal’skogo mirnogo dogovora): Saraevskoe ubijstvo kak diplomaticeskij 
vod k vojne: 11, 49—82. Das Buch ist Anfang 1980 erschienen. — Aus um- 
assender Materialkenntnis gelangt Poletika in einer Kardinalfrage — der Frage 
der Mitwisserschaft der serbischen Regierung am Attentat — zu folgenden, von 
der modernen russishen Forschung (Pokrovskij 7, 14; Rubinstein 11, 
158 f.; Bol’$aja Sovetskaja Enciklopedija Bd. 14, 638 f.: N. G. 8 [Hartwig ) 
weitgehend geteilten Schlußfolgerungen: Es bestehen keinerlei Zweifel daran, daß 
die serbische Regierung vorher von dem bevorstehenden ‚Attentat gewußt und sich 
zu ihm fördernd verhalten hat. Ernsthafte Gründe liegen vor zu glauben, daß 
einige Agenten der russischen Regierung (der russische Gesandte Hartwig in Bel- 


109 


Mobilmachung, des Eintritts Englands in den Krieg, des Friedens von 
Brest-Litovsk, des Eingreifens der Vereinigten Staaten. In dem Ab- 
schnitt über Brest-Litovsk sind die Akzente scharf gesetzt; in der 
Wahl der Ausdrücke: „Überfall Deutschlands auf Sovetrußland“, 
„reines Raubmanöver Ludendorff-Hoffmanns“ bricht die Bitterkeit 
der persönlichen Erinnerungen des Autors als Mitglied der russischen 
Delegation in Brest-Litovsk durch.“) 


Man hat den Eindruck, daß Pokrovskijs massiver Angriff 
sich nicht bloß gegen die beiden Gelehrten, gegen Einzelpersonen, 
richtete, sondern daß zugleich die Institutionen, denen sie angehörten, 
das in den Kreisen der marxistischen Historiker mit unverhohlenem 
Mißtrauen beobachtete RANION-Institut für Geschichte und die 
Leningräder Akademie der Wissenschaften getroffen und blofgestellt 
werden sollten.“) 


Das historische Institut der RANION.") 


Das Institut für Geschichte der RANION (Institut istorii 
RANION) wurde neben anderen Forschungsinstituten durch cine 
Verordnung des Rats der Volkskommissare vom 4. März 1921 be- 


grad und der russische Militarattaché Oberst Artamonov sicher, Sazonov und der 
russische Generalstab möglicherweise) ebenfalls von dem geplanten Anschlag gewußt 
haben. Nicht ausgeschlossen ist die Möglichkeit, daß man von dem bevorstehenden 
Attentat auch in Regierungskreisen Frankreichs und Englands wußte (S. 82). Für 
den letzten Punkt vermag Poletika jedoch außer sehr vagen Vermutungen nichts 
anzuführen, was die Annahme rechtfertigt. | 


®3) Vgl. diese Jahrbücher N.F. IV, 288 Anm. 15. 


*) Es muß anerkannt werden, daß die Redaktion dem hart Angegriffenen 
die Spalten der Zeitschrift zu einer längeren Entgegnung — „in ihrer ganzen Un- 
antastbarkeit“, wie es allerdings spöttisch in einer redaktionellen Vorbemerkung 
hieß —, öffnete: K voprosu o načale vojny. Otvet M. N. Pokrovskomu (Zur 
Frage des Kriegsanfangs. Antwort an Pokrovskij): 9, 101—107. Tarles Replik — 
eine gewundene und gekünstelte, nicht besonders glückliche Interpretation 
seiner von Pokrovskij beanstandeten Formulierungen — bedeutet, darin kann man 
dem Nachwort der Redaktion beipflichten, eine Milderung seiner parteiischen 
Einstellung zur Frage des Kriegsausbruchs. Im Grunde ist eine Verständigung der 
streitenden Parteien unmöglich, da Tarles Schwankungen auf einen teilweisen 
Wandel seiner Ansicht über die moralische Verantwortung für den Kriegsausbruch 
beruhen; der Marxismus dagegen beschränkt in der Frage der Kriegsursachen seine 
Analyse im Kerne auf die Erkenntnis der im Imperialismus der Vorkriegszeit 
wirksamen nationalen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren, aus deren inter- 
nationalen Spannungen der Weltkrieg notwendig habe hervorgehen müssen. Die 
Diskussion über die Entstehung des Weltkrieges ist durch das Duell Pokrovskij- 
Tarle nicht gefördert worden. 

N. Rubinstein konnte bei seiner Kritik der Behandlung des Kriegsaus- 
bruchs in der 2. Auflage von Tarles Buch (Otstuplenie v boevom besporjadke: 11, 
157—162) mit Recht von einer Vermengung konkret-historischer Fragen mit dem 
Problem der moralischen Verantwortung für den Krieg sprechen. — Die Be- 
sprechung der 2. Auflage von Tarles „Oderk novej3ej istorii Evropy (1814—1919)“ 
Leningrad 1929, in der Pravda Nr. 281 (8465) v. 6. Okt. 1929 zeigt, daß der Kampf 
gegen T. in unverminderter Schärfe andauert, ebenso eine Rez. von S. Monosov 
ım „Istorik-Marxist“ 13, 285—238. 

DI Vgl. Anm. 21. 


110 


gründet und war 1921—1925 der Fakultät für Gesellschaftswissen- 
schaften der ersten Moskauer Staatsuniversität“) angeschlossen. Bei 
den Lehrstiihlen für Geschichte der damaligen Fakultät für Gesell- 
schaftswissenschaften wurde damals die wissenschaftliche Forschung 
von der Lehraufgabe der Katheder abgetrennt. Im September 1925 
wurde die Verbindung des Instituts mit der Universität gelöst und das 
Institut ein Glied der oben genannten Russischen Assoziation wissen- 
schaftlicher Forschungsinstitute für Gesellschaftswissenschaften. 

Ursprünglich bestanden im Institut fünf Sektionen für 1. alte, 
2. mitte alterliche, 3. neue, 4. russische Geschichte und 5. für Ge- 
schichte der außereuropäischen Gesellschaften und der Kolonial- 
politik; die fünfte Sektion wurde bald mit der Sektion für neue Ge- 
schichte vereinigt. Bei der Verschmelzung des Instituts für Sozio- 
logie mit dem Institut für Geschichte (1923) erhielt das Institut eine 
neue Sektion für Ethnologie, während bei der russischen Sektion 1926 
eine Unterabteilung für neueste russische Geschichte (19. und 20. Jahr- 
hundert) unter dem Vorsitz von V. I. Nevskij gebildet wurde. 
Im Frühjahr 1928 wurden die Sektionen für russische und neue 
russische Geschichte vereinigt unter kollegialer Leitung von 
M. N. Pokrovskij (Präsident), V. I. Nevskij, A. E. Presn- 
jakov, S. V. BachruSin und S. A. Piontkovskij 
(Sekretär).*) Die Verwaltung des Instituts besorgte ein Kollegium 
unter dem Vorsitz von D. M. Petru3evskij, dem Direktor des 
Institut seit der Gründung. Jede Sektion hat ihr eigenes Präsidium. 
Die wissenschaftlichen Kräfte im Institut (etatsmäßige und nicht etats- 
mäßige) zerfielen ın wirkliche Mitglieder und in wissenschaftliche 
Hilfsarbeiter erster und zweiter Stufe.“ 

Der Zweck des Instituts war ein doppelter: Auf der einen Seite 
Forschungstätigkeit durch systematische Bearbeitung bestimmter 
e der Geschichté und Ethnologie; andererseits die Ausbildung 
qualifizierter Lehrkräfte in diesen Wissenschaften für die Hochschulen 
und wissenschaftlicher Arbeiter für Forschungsunternehmen. Die Ein- 
führung der ,,Aspirantur“ beim RANION-Institut für Geschichte, 
wodurch die Ausbildung der künftigen Hochschullehrer nicht aus- 
schließlich marxistischen Kräften überantwortet war, erklärte und ver- 
teidigte Pokrovskij einmal durch Berufung auf den Satz Lenins: 
„Wir müssen verstehen, den Kommunismus mit den Händen von 


#0) I. Moskovskij gosudarstvennyj universitet = I- j MGU. 

7) S. meine Notiz in der „Histor. Vierteljahrsschrift“ (1930), und 
den Nachruf von A. Kiesewetter: Sovrem. Zapiski 41 (1980). 

se) 9, 212. 

6) Im Frühjahr 1927 wurden in Leningrad gleichzeitig eine Zweigstelle des 
Instituts (Leningradskoe otdelenie instituta istorii) und ein Institut zur Erforschung 
des Marxismus und Leninismus ins Leben gerufen; den Vorsitz im Leningrader 
Kollegium und in der Sektion für russische Geschichte führte A. E. Presnjakov, 
die Sektion für allgemeine Geschichte wurde von E. V. Tarle geleitet. Die Lenin- 
grader Filiale wurde später aufgehoben und die Zweigstelle zur historischen Ab- 
teilung des Leningrader Instituts für Marxismus umorganisiert: 5, 278; 11, 226 f. 
— Vgl. Anm. 48. 


u 111 


Nicht-Kommunisten aufzubauen . . .) Die historischen Sektionen 
stellten sich die folgenden Hauptaufgaben: 


Sektion für alte Geschichte: Grundfragen der sozialwirtschaft- 
lichen Geschichte des Altertums unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte 
der Agrarverhältnisse; Geschichte des Städtewesens; religionsgeschichtliche Fragen in 
der Epoche des Synkretismus (Urchristentum!) und ihre sozialen Voraussetzungen. 

Sektion für Geschichte des Mittelalters: Grundfragen der 
Wirtschafts- und Sozialgeschichte der mittelalterlichen Gesellschaft: 

1. Aufhellung des Begriffs „Feudalismus“ als einer soziologischen Kategorie 
durch Untersuchung der konkreten Besonderheiten der Feudalordnung in 
verschiedenen Ländern des mittelalterlichen Europa unter Heranziehung des 
Materials über feudale Verhältnisse in außereuropäischen Ländern, bei 
heutigen Primitiven und bei Völkern des Altertums; | 

2. Untersuchung der Agrarverhältnisse und des Städtewesens im Mittelalter, 
insbesondere Verfolgung der Anregungen von Dopsch. 

Sektion für neue Geschichte: Die Entstehung des Kapitalismus; 
Sozialgeschichte Englands, Frankreichs und Deutschlands im 18. und 19. Jahr- 
hundert; internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert; Geschichte der 
ersten und zweiten Internationale. 

Sektion fürrussishe Geschichte: Vorlina-Wirtschaft und Leib- 
eigenschaft; Geschichte des Handels und der Industrie vom 17.—20. Jahrhundert; 
Geschichte der äußeren Politik Rußlands im 18. und 19. Jahrhundert; Geschichte 
der revolutionären Bewegungen vom 17.—20. Jahrhundert; Herstellung eines 
historisch-geographischen Atlasses. 

Auf die Institutstätigkeit — die Themen der Vorträge 1927 bis 
1929, das Programm der Kollektivarbeit 1928—1929, Publikationen 
usw. — kann hier nicht näher eingegangen werden.“) 

Von den im „Istorik-Marxist“ beprochenen Veröffentlichungen 
des Instituts“) wurden als Mängel das Fehlen einer „bestimmten 
Konzeption“, das Vorhandensein reaktionärer Prinzipien und die 
Schwäche der soziologischen Analyse betont;™) Petrulevski; ‚wurde 
in seinem Nachruf für Savin eine Wendung Ber verübelt, die dem 
Verstorbenen als Vorzug die Haltung des Wissenschaftlers nach- 
rühmte, der die Wissenschaft nur um ihrer selbst willen getrieben 
habe;“) rund heraus wurde geagt: „Die allgemeinen Ideen, die 


100) Vgl. M. N. Pokrovskij, O nautno-issledovatel’skoj rabote istorikov: 
Pravda Nr. 69 (4197) v. 17. März 1929. 

101) Vgl. E. Morochovec: 5, 276—278; 6, 206—802; 9, 204— 212. 

163) Trudy instituta istorii, Sbornik statej I (Pamjati A. N. Savina), 1926; 
Uč. zapiski II (1927): 5, 211—217; vgl. auch Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2 S. 151 
bis 158 (P. Preobraženskij). Über dieselben Bände vgl. das Urteil der 
Emigration (A. Kiesewetter und P. Bicilli): Sovrem. Zapiski 84 (1928), 
e 4 ; 

193) S, 210, 214. 

168) S, 210. — Die absolute Gegnerschaft der marxistischen Wissenschaft gegen 
einen Begriff der „reinen“ Geschichte und der Wissenschaft „um ihrer selbst willen“ 
kommt in der folgenden Kußerung V. D. Aptekars in der Petrulevskij- 
Diskussion drastisch zum Ausdruck: „Mir kommt es eigentiimlich genug vor, 
man in den Mauern der Kommunistischen Akademie, auf einer Sitzung der 
marxistischen Historiker Zeit mit der en der Ansicht des Gen. Neusychin 
verliert, es könne am Ende des dritten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts einen 
Historiker geben, der — von der objektiven Wirklichkeit völlig abgewandt — gar 


112 


historischen Themata und Konzeptionen der besprochenen Autoren 
lassen sich sozusagen mit den Prinzipien der marxistischen Methodo- 
logie nicht messen; sie vom Standpunkt der letzteren kritisieren, 
bedeutet die idealistische Konzeption der russischen Geschichte kriti- 
dieren“; ) trotz alledem wurde freimütig als unzweifelhaftes Ver- 
dienst der Mehrheit der Aufsätze Überfülle an neuen, bis dahin 
nicht veröffentlichten Quellen, die äußerste Sorgfalt in der Bear- 
beitung des dokumentarischen Materials und die große, durch um- 
fassende Heranziehung der einschlägigen Literatur bekundete Gelehr- 
samkeit der Autoren anerkannt. Bie „Duldsamkeit“ der marxisti- 
schen Kritik gegenüber den „Sammlern historischer Fakten“, als die 
ihnen die Mehrzahl der nicht- marxistischen RANION- Historiker galt, 
besteht eben darin, daß sie, wie Pokrovskij am Beispiel von A. I. 
Zaozerskij „Caf Aleksej Michajlovič in seiner Wirtschaft‘) 
hervorgehoben hat, keineswegs die Benutzung der historischen Fakten 
eines selbst „1000 km vom Marxismus entfernten“ Sammlers ver- 
schmäht, wenn sie nur nicht verfälscht seien und zur Unterstützung 
der marxistischen Auffassungen verwandt werden können.“) 

Trotz der starken Vertretung der marxistischen Forschung in 
der Leitung des Instituts machte sich in den letzten zwei Jahren eine 
wachsende Unzufriedenheit in marxistischen Kreisen mit dem Er- 
scheinen nicht- marxistischer Untersuchungen von Institutsmitgliedern 
geltend.“) Seitdem die erbitterte Diskussion um Petrusevskijs 
„Skizzen aus der Wirtschaftsgeschichte Europas im Mittelalter“ die 
Geschlossenheit der Phalanx der marxistischen Historiker einer harten 
Belastungsprobe unterworfen hatte, wurde von marxistischer Seite 
darauf hingearbeitet, einen deutlichen Trennungsstrich zwischen der 
marxistischen Forschung und dem RANION-Institut für Geschichte 
als Sitz und Hort der „wissenschaftlichen Reaktion“ zu ziehen. Diese 
Bestrebungen sipfelten in der Begründung des Historischen For- 


. i der Kommunistischen Akademie im Frühjahr 
Die marxistische Geschichtswissenschaft und das Ausland. 


Die russische marxistische Geschichts wissenschaft, deren Wege 
in der ersten Dekade der Räterepublik das Ausland nur wenig 


nicht mit dem politischen Leben verbunden ist, der ausschließlich in den Reichen 
(v empirejach) des reinen Wissens schwebt auf der Suche nach der absoluten 
Wahrheit — —“: 8, 115 f. 
106) S. 217. 
186) Caf Alekskj Michajlovič v svoem chozjajstvé = Zap. istoriko-filol. 
fakul’teta imp. Petrogradskago universiteta Bd. 185 (1917). 
1,4 
108) Vgl C. Friedlands Anzeige der von Mitgliedern des RANION- 
ituts bearbeiteten ,,Chrestomatija po social’no-ekonomileskoj istorii Evropy 
v novoe i novejice vremja. Pod V. P. Volgina (1929): 11, 184—187; S. 185: 
„Soll die Chrestomathie den Studenten helfen, sich von der Diktatur der 
5 „dogmatischen“ Schemata zu befreien” — Vgl. auch 
Anm. 823. 


118 


beachtet hatte, trat im Beginn ihres zweiten Jahrzehnts durch die 
Russische Historiker-Woche in Berlin vom 7. bis 
14. Juli 1928 und die mit ihr verbundene Ausstellung historischer 
Literatur, wenig später durch die Teilnahme einer russischen 
Historikerdelegation am VI. Internationalen Historikerkongreß in 
Oslo — „délégation, celle qui a fait le plus sensation, parce Ou on 
s’attendait à peine à la voir *) — vor die Veltöffentlichkeit. ) 
„Berlin“, „Oslo“ und — durch die I. marxistische Historiker- 
konferenz am Ausgang des Jahres 1928 — „Moskau“ gelten als Sym- 
bole für den e der Sovet wissenschaft“, demgegenüber Symp- 
tome des unleugbaren und unaufhaltsamen Verfalls und Niedergan 
(„zakat“, ,,upadotnidestvo’) der bürgerlichen Geek duswinen dial 
aufgezeigt werdan. ) 

Der Niedergang der bürgerlichen Geschichts wissenschaft ist nur 
eine Teilerscheinung im Bankrott der bürgerlichen Kultur überhaupt. 
Kein Geringerer als Kalinin, der Präsident des Zentral-Exekutiv- 
Komitees der Union, hat im März 1929 in einer Rede vor dem 
Unions-Kongreß der Arbeiter für Bildungswesen (Vsesojuznyj s'ezd 
rabotnikov prosvestenija) über die äußere und innere Lage des Staates 
in diesem Sinne einen Vorgang der Zeitgeschichte, die Lateran-Ver- 
träge vom 11. Februar, interpretiert. Die offizielle „ materialistische“ 
Wertung jenes Ereignisses, die schon als einzigdastehende Kundgebung 
eines fremden Staatsoberhauptes in dor italienischen Konkordatsfrage 
Beachtung verdiente, gebe ich im Anhang in wörtlicher Ubersetzung 
als a fiir die ganz offizielle Lehre vom ,,Untergang des Abend- 
andes“. 


Warschau. 
Als ersten Versuch, die russischen Historiker für die inter- 
nationale Zusammenarbeit zu gewinnen, ließ 1927 das Warschauer 
Organisationskomitee für die Konferenz der Historiker Osteuropas 


106) M. Lhéritier, Le Vie congrès internat. des sciences historiques: 
Revue de la Société des études historiques Bd. 94 (1928), 840—874. 


100) Vor dem Auftreten russischer Historiker in Berlin und Oslo liegt eine 
engere Fühlungnahme zwischen den skandinavischen Archivverwaltungen und dem 
Centrarchiv, die im März 1928 auf einer Konferenz in Stockholm zur Einsetzung 
einer internationalen Kommission zur Erforschung der Beziehungen zwischen 
Skandinavien und Rußland führte; näheres in meinem Aufsatz über das russ. 
Archivwesen in der Archival. Zeitschr. Bd. 89 (1960), 806. 


1) Z. B. Gorin 11, 219; Mine 11, 277. 


116) S. 197. — Die slavophile und die russische sozialistische Heilslehre sprechen 
dem Westen gegenüber die gleiche Sprache: „Lenin hatte Recht, als er sagte, d 
die Europäisierung unseres Landes im Grunde genommen mit der Oktober- 
revolution begonnen habe. Doch indem wir von der Europäisierung sprechen, 
geben wir uns davon Rechenschaft, da ie europäische 
Kultur durch und durch verderbt ist. Wir sckicken uns nicht an, 
Europa im Schlepptau zu folgen. Wir gehen einen anderen Weg. Die e 
Kultur nehmen vir kritisch an und werfen aus ihr alles, was untauglich und 
schädlich ist, heraus“: Aus einer Rede Luna K arskijs auf dem 14. „All- 
russischen“ Rätekongreß. Pravda Nr. 110 (4244) v. 17. Mai 1929. 


114 


und der slavischen Linder Einladungen an wissenschaftliche Institu- 
tionen auch der Sovetunian ergehen. Dieser Schritt stieß — wohl 
auf einen Wink der Regierung — auf kühle Ablehnung. An der 
Konferenz, die vom 26. bis Juni 1927 in Warschau und Krakau 
tagte und einen Verband der historischen Gesellschaften Osteuropas 
gründete, nahmen keine Vertreter aus der Sovetunion teil. Am 
Eröffnungstage der Konferenz begründete A. Boreckij in den 
vestija ) das Fernbleiben der Sovethistoriker ar überzeugend 
damit, es sei zu befürchten, daß auf der Konferenz die unbedingt 
reaktionäre“ panslavistische Idee Macht gewinne; in der Organisation 
der osteuropäischen Geschichtsforschung wolle Polen sich den Vorrang 
sichern, um ihn in politische Propaganda umzusetzen; vor allem aber 
mache die Einladung von russischen Emigranten den Historikern der 
Sovetunion die Beteiligung an der Veranstaltung unmöglich. In der 
Schlußsitzung der Konferenz wies M. Handelsman den Vorwurf, 
Polen strebe in den Wissenschaften nach einer Suprematie, entschieden 
zuruck. 

In der polnischen Initiative zur Einberufung der Konferenz kam 
(wie 1928 in dem erfolgreichen Bemühen, daß der Siebte Internat. 
Historikerkongreß in Warschau stattfinden solle) das gehobene Selbst- 

tsein der befreiten Nation und das Bedürfnis der polnischen 
Vissenschaft nach internationaler Geltung zum Ausdruck; der Vor- 
gang konnte gerade bei Russen die Erinnerung an den 1903/04 von 

Russischen Akademie der Wissenschaften vorbereiteten I. Kon- 
greß der slavischen Philologen und Historiker wachrufen, der damals 
„en vue des circonstances politiques“ hatte abgesagt werden 
müssen..) 

Die russische Publizistik verfolgt bei der dauernden Spannung 
zwischen Polen und der Sovetunion die Tätigkeit des Ukrainischen 
Instituts in Warschau und des am 23. Februar 1930 eröffneten Ost- 
europa- Instituts in Wilna) mit unverhohlener Feindseligkeit. Zur 
Wl ie des Wilnaer Instituts: Erforschung des Gebiets und der 
Völkerschaften zwischen dem Schwarzen und dem Baltischen Meer, 
schrieb D. Zaslavskij in einem gehässigen Artikel in der 
Pravda***) folgenden Kommentar: „Vom Meer zum Meer —, das 
ist die alte traditionelle Lösung der polnischen kriegerischen Szlachta, 
die Losung der Eroberung von Gebieten und Staaten. Unter dieser 
Losung erwuchs das historische polnische Köni und unter der 
gleichen Losung ging es in Trümmer.“ — Erst die Zukunft kann er- 


1108) S'ezd istorikov v Varšave: Izvestija Nr. 148 (8077) v. 26. Juni 1927. 

116b) Conférence des historiens des Etats de l’Europe Orientale et du Monde 
slave. Varsovie, le 26—29 juin 1927. Il-me partie: Compte-rendu et communi- 
cations (Varsovie 1928), 41; s. auch: I. M., Die Konferenz der Historiker Ost- 
europas und der slavischen Länder, in der Prager Presse v. 9. Juli 1927. 

110c) Vgl. Pervyj s’&zd slavjanskich filologov i istorikov. I. Materialy po 
organizacii s’ 1. avgust 1908—maj 1904. (St. Pbg. 1904.) 

1104) Vgl. Osteuropa 5 (1928—29), 284. 

419) Vedra so sporami...: Pravda Nr. 6 (4451) v. 6. Jan. 1980. 


115 


weisen, ob in Wilna ein Gegenstück zum „Westslavischen Institut” 
der Universität Posen und dem ,,Baltischen Institut“ in Thorn ge- 
schaffen worden ist, deren Tätigkeit wiederholt die deutsche Wissen- 
schaft zu kritischer Abwehr genötigt hat. 


Berlin. 

Die Berliner Russische Historiker-Woche gab nach Jahren der 
Isolierung dem Auslande zum ersten Mal eine Anschauung vom Stand 
der Geschichtsforschung in der Sovetunion; sie war in den Jahren nach 
dem Kriege neben der Russischen Naturforscher-Woche des — 
1927 und der Woche der deutschen Technik in Moskau im Januar 
1929 die eindrucksvollste Kundgebung zur Erneuerung der inter- 
nationalen wissenschaftlichen Beziehungen Deutschlands nach dem 
europäischen Osten. In der Veröffentlichung der 5 einer 
Reihe hervorragender marxistischer Historiker und von Gelehrten 
der Vorkriegszeit, die neben den Vertretern der offiziell herrschenden 
Lehre des historischen, dialektischen Materialismus ohne doktrinäre 
Bindung weiter im Geiste und mit den Methoden der westeuropii- 
schen historischen Forschung arbeiten, stehen Namen der beiden 
Richtungen paritätisch nebeneinander. 

Ich beschränke mich hier auf Angabe der behandelten Themen: 
M. N. Pokrovskij, Die Entstehung des russischen Abeolutismus; 112) 

M. J. Ja vori ky j, Die Ergebnisse der ukrainischen Geschichtsforschung in den 
Jahren 1917—1927; ders., Westeuropäische Einflüsse auf die Ideengestaltung 
der sozialen Bewegung in der Ukraine im zweiten und dritten Viertel des 
19. Jahrhunderts ;112) 

V. V. Adoratskij, Das Archivwesen in der Russischen Föderativen Sovet- 
Republik; 110) 

S. F. Platonov, Das Problem, des russischen Nordens in der neueren Historio- 
graphie ; 115) 

V. A. Jurinec, Der soziale Prozeß im Spiegel der ukrainischen Literatur des 
20. Jahrhunderts: 10) 


D. N. Egorov, „Zur Kritik der mittelalterlichen Geschichtsschreibung West- 


europas 110) und „Das Bibliothekswesen in der Union der Sozialist. Sovet- 
Republiken“; ub) 


111) Aus der historischen Wissenschaft der Sovet- Union. Vorträge ihrer Ver- 
treter während der „Russischen Historiker woche“, veranstaltet in Berlin 1928 von 
der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas. Hrsg. von O. Hoe tz ch 
(= Osteurop. Forschungen N. F. Bd. 6), 1929. 

113) S. 1—82. 

118) S. 98—105 und 88—97. 

118) S. 88—57. 

115) S, 189—199; russ. u. d. T. „Problema russkogo severa v novejšej istorio- 
grafii“: Letopiś zanjatij archeografičeskoj komissii za 1927—1928 gody = Vyp. 85 
(1929), 105—114; von Pokrovskij in seiner Rede zur Eröffnung des om- 
munistischen Historischen Instituts als ein „halb-belletristischer Aufsatz“ bezeichnet: 
„Istorik-Marzist“ 14 S. 7. — Vgl. oben Anm. 8. 

116) Nicht veröffentlicht. 

116a) Nicht veröffentlicht. 

116b) S. 79—87. 


116 


B. PaSukanis, Cromwells Soldatenräte;11%) 

M. Dubrovskij, Die Stolypinsche Agrarreform;11) 

K. Ljubavskij, Die Besiedelung des großrussischen Zentrums ; 

IL Pik eta, Die Agrarreform in den östlichen Bezirken des Litauisch - Weiß 

i Staates in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahr- 

hunderts,11%8) 

In der deutschen und in der russischen „offiziellen“ Bericht: 
erstattung über die Russische Historiker-Woche treten total ver- 
schiedene Einschätzungen der Veranstaltung hervor, die auch dann, 
wenn man bei den russischen Äußerungen die unentbehrliche 
agitatorische Färbung in Anschlag bringt, auf deutscher Seite einiges 
Befremden hervorrufen müssen. 

Berichte des Generalsekretärs der Deutschen Gesellschaft zum 
Studium Osteuropas, auf deren Initiative die Veranstaltung zurück- 
ging, beschränkten sich rein referierend darauf, im Sinne der Veran- 
stalter die wissenschaftliche Bedeutung der Konferenz und der damit 
verbundenen Ausstellung russischer historischer Literatur zu betonen 
und vermieden es peinlich-korrekt, auf die politisch gefärbte Be- 
richterstattung eines Teils der deutschen und in der ausländischen 
Presse einzugehen.“ 


118c) S. nr 
11 
118) S. 106—127; vgl. dazu jetzt: M. K. Ljubavskij, Obrazovanie 
osnovnoj gosudarstvennoj territorii velikorussko) narodnosti (Akademija Nauk 
SSSR. Arch f. Komissija). Leningrad 1929. 

1180) S. 158—188. 

110) Ober die Historikerwoche vgl. „Osteuropa 8 (1927—28), 748 f. ro- 
ES und Heft 11 (August 1928) des gleichen FA cc ie Die russische 

istorikerwoche und die Ausstellung der russischen geschichtswissenschaftlichen 

Literatur 1917—27 in Berlin“: S. 745—751 Rede von O. Hoetzsch E auch 
seine Einführung der oben Anm. 111 genannten Veröffentlichung), 755—759 Rede 
von Pokrovskij in der Eröffnungssitzung (sympathisch wirkte die achtungs- 
volle Nennung Th. Schiemanns, des Begründers der osteuropäischen histo- 
rischen Arbeit an der Berliner Universität; sie konnte den überraschen, der 
Pokrovskijs Urteil über Schiemanns Nikolaus-Biographie kennt: „samoe černo- 
sotennoe osvestenie, kakoe možno pridumat“: Pečat’ i Revoljucija 1928 H. 8 
S. 102); 751—764 H. Jonas, Bericht über die Tagung; ders., Die Russ. Historiker- 
woche: Histor. Ztschr. 189 (1928), 220 f.; R. Foerster, in der Histor. Viertel- 
jahrsschrift 24. Jg. (1927—28), 675 f.; R. Salomon, Die Russ. Historiker-Woche 
in Berlin: Hamburger Fremdenblatt Nr. 199 v. 19. Juli 1928. Über den an die 
Berliner Woche anschließenden Besuch einiger russischer Historiker in Hamburg: 
Osteuropa 4, 145 f. 

I. Minc, Marksisty na istoriteskoj nedele v Berline i VI meZdunarodnom 
kongresse istorikov v Norvegii: Istorik-Marxist 9, 84—96; E. B. Pa$ukanis, 
Nedelja sovetskich istorikov v Berline: Vestnik Komakad. 80 = 1928 H. 6 


delo 15 — 1 H 2 S. 88—88; M. Javorskij, Nimec’kij „tiZdeA- radjahskoi 
nauki“: Prapor marksizmu 4 = 1928 H. 8 S. 229—289. 

Zur Ausstellung russischer historischer Literatur aus dem Jahrzehnt 1917 bis 
1927: M. Pokrovskij, Vystavka sovetskich istori¢eskich knig i dokumentov 
v Nem. Akad. Nauk: Pravda Nr. 168 (8905) e 15. Juli 1928. — „Die Ge- 
schichtswissenschaft in Sowjet-RuSland 1917—1927.“ Bibliogr. Katalog, herausg. 
von der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas. Mit einem Vorwort 
von Prof. O. Hoetzsch (Berlin 1928), — dazu die Besprechung von 
A. N. Makarov in diesen Jahrbüchern N. F. 5 (1929), 260—263. 


117 


In welchem Sinne die russische Delegation sich als politischen 
Faktor auffaßte und der Historikerwoche politische Bedeutung bei- 
legte, geht besonders klar aus einer Äußerung im Bericht von 
I. Minc im „Istorik-Marzist“ hervor, die ihre Spitze gegen die 
deutsche Sozialdemokratie richtet; von ihr, die im Wahlkampf kurz 
zuvor einen großen Erfolg errungen hatte und zur Regierung gelangt 
war, glaubt der Officiosus feststellen zu können: „Die Sovet- 
Historikerwoche störte ihre Orientierung zur Entente als eine un- 
angenehme Erinnerung der Entente an die Möglichkeit einer An- 
1 zwischen Deutschland und der Sovetunion." 

Noch weiter gehen Äußerungen, die M. N. Pokrovskij, der 
Führer der russischen Delegation in Berlin und Oslo, gé dem 
I. marxistischen Historikerkongre in Moskau getan hat und die in 
gewissem Widerspruch stehen zu den Mitteilungen über ein Inter- 
view durch den Berliner Korrespondenten der „Izvestija“.“) 
In seiner Eröffnungsansprache am 28. Dezember 1928 erklärte 
Pokrovskij über die Berliner Veranstaltung Folgendes:“) „Wir 
selbst drängen uns nicht auf, aber man „zieht“ uns mit Gewalt, mit 
allen Mitteln zum Auftreten in Westeuropa; so war es mit der Woche 
in Berlin, so war es mit Oslo. Für die bürgerlichen Historiker war 
die Einladung unserer Delegationen ein Mitrel, das interessante Tier 
mit eigenen Augen zu sehen, “) für uns eröffnete sich damit die 
Möglichkeit zu breiter ideologischer Einwirkung nicht nur auf das 
europäische Proletariat, sondern auch auf die ihrer Natur nach ewig 
schwankenden kleinbürgerlichen Schichten. Taktisch hat das unge- 
heuere Bedeutung, da — nach den Vorten Lenins — an der sozia- 
listischen Revolution nicht nur proletarische, sondern auch alle mit 
dem Kapitalismus unzufriedenen Gesellschaftsgruppen teilnehmen, 
darunter das durch seine Masse starke Kleinbürgertum. Um diese 
taktische Aufgabe erfolgreich zu Ende zu führen, ist jedoch nötig: 
1. die bürgerliche Vissenschaft gut zu kennen, 2. in den eigenen 
Reihen völlige Einheit zu bewahren. . In dem kompakten Auf- 
treten des kämpfenden Marxismus auf der europäischen Arena liegt 
der historische Sinn von Berlin und Oslo.“ 

Diese öffentliche Erklärung bekennt mit Stolz in charakteristi- 
scher Weise die russische marxistische Geschichtswissenschaft als ein 


1) Minc 9, 85. — Eine Außerung von Palukanis, der sich 
wunderte, daß im „Vorwärts“ vom 14. Juli 1920 über seinen Vortrag 
»Cromwells Soldatenräte“ trotz seiner Ausfälle gegen Bernsteins Auffassung der 
englischen Revolution objektiv berichtet wurde, verdient in diesem Zusammen- 
hang angemerkt zu werden: Vestnik Komakad. 80 — 1928 H. 6 S. 244 


131) L. Kajt, Tov. Pokrovskij o nedele sovetskich istorikov: Izvestij 
Nr. 165 (8890) v. 18. Juli 1928 (auch SEET 8, 768); vgl. ferner den Berich t 
Kajts in den Izvestija Nr. 156 (8890) v. 7. J 

132) Istorik-Marxist 11, 216; das Zitat gibt den genauen Sinn von 
Pokrovskijs Erklärung; den ausführlicheren Wortlaut nach dem Stenogramm 
s. Trudy I, 5f. 

CH Vgl. hierzu auch Pokrovskij, „Novye“ tetenija v russkoj 
istori¢eskoj literature: 7, 4 


118 


Instrument jener Politik, die an der Herbeiführung der Welt- 
revolution arbeitet; derartige Sätze decken prinzipielle Wesens- 
unterschiede der deutschen und der marxistischen historischen Arbeit 
auf und dürfen nicht unbeachter bleiben. Bei aller gebotenen Zurück- 
haltung, die Tragweite von Pokrovskijs aus besonderem Anlaß 
agitatorisch-rhetorisch möglichst wirkungsvoll zugespitzten Formu- 
lierungen zu überschätzen, bleibt es tief bedauerlich, daß der 
itische Stempel, den die politisch akzentuierten russischen 
ußerungen der Berliner Veranstaltung aufdrücken, die ungastliche 
Frage der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ ins Gedächtnis zurück- 
ruft, die einen Mißton in die Harmonie der Berliner Tage brachte 
und der man in deutschen wissenschaftlichen Kreisen damals und für 
später nicht eine Spur Berechtigung gewünscht hat.“) Die russischen 
Äußerungen werfen einen Schatten auf die Ver tung; aber trotz 
dieser Feststellung bleibt es wahr, daß die wissenschaftliche Beschäfti- 
gung mit Rußland durch die Russische Historikerwoche bereichert 
worden ist und neue Impulse empfangen hat. Die damals teils neu 
angebahnte, teils wieder belebte persönliche Fühlungnahme wirkt in 
einem fruchtbaren Gedankenaustausch zwischen den Historikern der 
beiden Länder nach; auch wer den Marxismus, die materialistische 
Geschichtsauffassung, nicht als die allein berechtigte historische An- 
schauungsweise anerkennt, konnte sich dem Ernst und dem Eifer, mit 
dem eine universal gerichtete marxistische historische Schule in der 
Sovetunion arbeitet, nicht verschließen. Die Historikerwoche wird 
in der Geschichte der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen 
Deutschland und Rußland als eine „historische Woche“ fortleben.**®) 


Oslo. 


Den „unsichtbaren politischen Einschlag, der überall vorhanden 
war“ (W. Goetz) und der dem Kongreß nah Rein dc e- Blochs 
Urteil den Stempel einer Zusammenkunft der Nationen statt der 
einzelnen Gelehrten 8 empfanden die Russen anders: 
Sie standen auf dem Kongreß a der auch ihnen dort nicht 
verborgen bleibenden politischen Rivalitäten der Nationen unter- 
einander und sahen in Oslo nur den Graben, der Sovet-Rußland vom 
ier tibrigen Europa trennt. Es gab in Oslo keine Darbietung, 

i der sie nidit — offen oder versteckt — Spitzen gegen den 

138) (G. W.), Die russische Historikerwoche. Gesamtbild und Ergebnis: 
Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 826 v. 14. Juli 1928; vgl. die Erwähnung des 
Artikels in Pokrovskijs Rede an seinem Geburtstag, unten Anlage 2 (S. 192). 

135) Nach einer Äußerung Pokrovskijs: Archivnoe delo 15, 88. 

198) Vgl. V. Mommsen, Die Historiker tagen: Vossische Zeitung Nr. 208 
v. 81. August 1928; W. Goetz, Der internat. Historikerkongreß in Oslo: Frank- 
furter Zeitung Nr. 658 v. 1. Sept. 1928; H. Reincke-Bloch, Der sechste 
internat. Historikerkongreß zu Oslo: Histor. Zeitschrift 189 (1928), 818—822. — 
M. L’héritier: s. oben Anm. 108a; F. L. Gans hof, Le congrès historique 
internat. d’Oslo: Revue Belge de Philologie er d’Histoire 7 (1928), 1686-1602: 
M. P. Renouvin, Le sixiénie congrès internat. des sciences historiques: 
5 1. oct. 1928; besonders drastisch und sarkastisch ist die 

ng Pokrovs ki j: Tru iy I, 8. : 


119 


Marxismus glaubten heraushören zu können.““) Immer wieder stößt 
man auf die Behauptung: „Die Bourgeoisie, die ihre Kräfte für diesen 
Kongreß mobilisierte, ließ auf ihn natürlich nicht Leute, die dem 
Marxismus mehr oder weniger nahe stehen, wie Mathiez u. en 
Seiner Zusammensetzung nach sei Oslo der reaktionärste Kongre 
gewesen; „ganze Sektionen wurden nur von Pfaffen gebildet. 

In den russischen Berichten erscheint die russische Delegation zu 
sehr heroisiert als ein kleines Häuflein einer Welt von Feinden 
gegenüber. In Wirklichkeit lag dem Kongreß, der Pokrovskij ins 
Präsidium gewählt hatte, jegliche Aggressivität gegen die kom- 
munistischen Gelehrten fern; vergeblich bemühte sich ein russischer 
Emigrant von Weltruf, der jetzt an der Yale-University wirkende 
Professor M. I. Rostovcev, die öffentliche Meinung Norwegens 
und die Kongreßteilnehmer gegen die russische Delegation einzu- 
nehmen.“) 


137) „Etwas gegen den historischen Materialismus bei jeder Gelegenheit zu 
sagen, ist anscheinend für den europäischen Historiker, der etwas auf sich hält, 
ebenso unerläßlich, wie auf dem Bankett im Frack oder Smoking zu erscheinen“: 
Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i ,,ideologiteskij front“: Pravda Nr. 260 
(4092) v. 7. Nov. 1928. — Indem Minc herausfand, daß ein großer Teil der 
Redner in Oslo dem schwach vertretenen Marxismus Schläge zu versetzen suchte, 
sah er darin einen Beweis (neben vielen anderen), „wie ak die wissenschaft- 
lichen Positionen der idealistischen Geschichtsschreibung sind, wenn sie die ganze 
Kraft ihrer Beweise nur zum Kampf gegen die marxistische Methode ver- 
wandte“: 9, 95. 

Was der Marxist Halvdan Koht, dessen taktvollem Verhalten als Vor- 
sitzendem des Kongresses bei der Attacke des Professors Rostovcev gegen 
Pokrovskij die Russen hohe Anerkennung zollen, in seinem Vortrag: „Die Be- 
deutung des Klassenkampfs in der neueren Geschichte“ — „Résumés“ (siehe 
Anm, 188) S. 145; engl.: „The importance of the class struggle in modern history“ 
im Journal of Modern History I, 8 (1929) und II, 1 (1980) — bot, war 
nach revolutionir-marxistischhem Urteil „eine Einführung ins Studium des poli- 
tischen ABC“ (vvedenie v izulenie politgramoty“), mehr nicht (ebda.). 

138) Evg. Krivolein a: Izvestija Nr. 299 (8588) v. 25. Dez. 1928. 

120) Ebenda. 

130) Vgl. Samuel N. Harper, A communist view of historical studies: 
The Journal of Modern history I, 1 (März 1929), 77 f. 

Dem 1925 von der „Akademie für Geschichte der materiellen Kultur“ ver- 
legten Werke Rostovcevs ,,Skifija i Bosfor“ zollte sein Kritiker im 
„Istorik-Marxist“, S. N. Bykovskij, eingangs zwar widerwillig Anerkennung 
als einer für die weitere Erforschung der Skythenfrage grundlegenden und völlig 
unentbehrlichen Zusammenfassung, einem „typischen Beispiel bürgerlicher Gelehr- 
samkeit“ (er hätte sich sonst in Widerspruch zur autoritären Meinung des als 
Begründers einer materialistishen Sprachwissenschaft gefeierten Akademikers 
J. Marr setzen müssen). Allein mit der verfänglichen Frage: „Kann Rostovcev 
als ein weißer Emigrant und Feind der Sovetunion frei von politischen Tendenzen 
sein? vollzog er sodann den Übergang aus der wissenschaftlichen in die poli- 
tische Ebene und schrieb diesem nach Oslo bestgehaßten Vertreter des Emi- 
grantenprofessorentums die fällige „vernichtende Kritik“ vom Standpunkt der 
„marxistischen Ideologie“: 11, 180—182. 

Das Urteil A. Kiesewetters in der Rul’ („Chlestakov3£lina“, Rez. des 
I. Bandes der ,,Trudy pervoj vsesoj. konferencii istorikov-marksistov) Nr. 2788 
v. 22. Jan. 1980 über die Sovethistoriker in Oslo ist ungerecht; wenigstens haben 
3 und Volgin nach Auferungen bürgerlicher Gelehrter dort Anerkennung 
gefunden. 


120 


Wenn in einer Vorschau auf Oslo H. Steinacker scharf 
pointiert geäußert hatte, Geschichte sei nichts als die Politik der Ver- 
gangenheit, “) so leugnete nach Oslo ein kommunistischer Historiker, 
C. Friedland, im „bürgerlichen“ Verhältnis von Geschichte und 
Politik geradezu den nach rückwärts gerichteten Zug: er fand, daß 
für das Bürgertum die Geschichtswissenschaft, die sich ihrer „Un- 

eilichkeit brüste und gern den „klassenlosen Charakter der 

issenschaft“ betone, in Wirklichkeit stets Politik sei und zwar eine 
gegen die Revolution der Zukunft gerichtete Politik.“) Der 
Marxismus dagegen sei ehrlicher; hier sei die Geschichtswissenschaft 
zur Politik erklärt, hier werde die Geschichte als eine scharfe Waffe 
des Klassenkampfes gebraucht. 


Der Kampf der alten nicht-marzistischen und der neuen 
marxistischen Richtung in der russischen Geschichtswissenschaft trat 
in Oslo dadurch in Erscheinung, daß Pokrovskij, der Führer der 
russischen Delegation, als Präsident der durch ihn vertretenen Kom- 
munistischen Akademie die Vertretung der Sovetunion im „Comité 
international des sciences historiques“ beanspruchte und damit die 
in Oslo nicht vertretene Akademie der Wissenschaften, die bis dahin 
durch ihren ständigen Sekretär S. F. Oldenburg und durch 
Professor Tarle Sovet-Rußland im Komitee repräsentiert harte, 
verdrangte. Daß die Sovetunion im Internationalen Komitee 
künftig marxistisch vertreten sein werde, hob Pokrovskij in seinem 
Bericht vor dem Präsidium der Kommunistischen Akademie über 
Oslo am 15. Dezember 1928 besonders hervor;“) politische Be- 


181) H. Steinacker, Der Internat. Historikertag in Oslo: Köln. Zeitung 
Nr. 484 v. 9. August 1928; s. auch St. Wedkiewicz, Przed kongresem 
historyków w Oslo: Przegląd Współczesny 7. Jg. Bd. 26 (1928), 105—128. 

182) O bor’be za marksistskuju istori¢eskuju nauku v SSSR.: Pod znamenem 
marksizma 1929 Nr. 2/8 S. 108. 

133) O poezdke v Oslo: Vestnik Komakad. 80 = 1928 H. 6 S. 281—287; 
an russischen Berichten über Oslo sind mir außerdem bekannt: I. Minc, Mark- 
sisty na 5 nedele v Berline i VI meZdunarodnom kongresse istorikov 
v Norvegii: Istorik-Marxist 9, 84—96; M. Ja vor ſkij, Sostij miZnarodnil 
kongres istorienij: Prapor marksizmu 5 = 1928 H. 4 S. 216—224; N. Lukin, 
Šestoj internacional’nyj kongress istorikov: Pravda Nr. 215 (4047) v. 15. Okt. 
1928, — ins Englische übersetzt von S. N. Harper: A communist view of 
historical studies, s. oben Anm. 180. Im „Istorik-Marxist“ gab ferner V. Ado- 
ratskij (Archivnoe delo na VI kongresse istorikov: 9, 97—100) eine kurze 

fassung seines Vortrages iiber die Grundprinzipien der Archiv-Organi- 
sation in der RSFSR und über die wichtigsten Bestände der russischen Archive 
wor der Osloer Sektion fiir Hilfswissenschaften, Archive und Publikationswesen; 
s. auch Archivnoe delo 15 (1928), 60 f. und 16 (1928), 60—62. 

In der Veröffentlichung des Organisationskomitees des Kongresses: „Vle 

congres international des sciences historiques. Résumés des communications 
résentés au congrès Oslo 1928" finden sich Résumés folgender von Mitgliedern 
r russischen Delegation in Oslo gehaltener Vorträge: 
V. V. Adoratskij, Zentralarthiv RSFSR. (S. 19f.); 
B. Bogaevskij, Die Götte der Töpferei des minoischen Kreta (S. 80 f.): 
N. A. Dubrovskij, Die Bauernbewegung in Rußland im 20. Jhdt. (S. 144); 
M. Javorskyj, Westeuropäische Einflüsse auf die Ideenformung der 


121 


deutung schreibt er der Beteiligung der Russen an den Arbeiten der 
Sektion für Geschichtsunterricht auf dem internationalen Historiker- 


schichtsunterrichts nahm an der Tagung des Comité in ti 
sciences historiques in Venedig (4.—9. Mai 1929) C. Fried- 


Man wird den von Pokrovskij in Berlin und Oslo ange- 
kündigten russischen Aktenpublikationen, den „Dokumenten zur 


Geschichte des im es“ (Dokumen po istorii 
ees bond vojny) und einer russisch Parall publikation zur 
99 n O. 


Politik im imperialistischen talter“ mit großen Erwartungen und 
doch zugleich mit einer gewissen Reserve entgegensehen müssen.) 
»Die Archive bilden ein politisches Waffenarsenal, mit dem wir noch 
lange Jahre den politischen Kampf mit den Weiß ardisten führen 
werden, indem wir ihre Ve angenheit enthüllen uad 
werden, die Geschichte und 
stellen. , Nicht in Berlin und nicht in Oslo, aber auf der Moskauer 

Tagung wurde yon Maksakov betont, man werde den 
patriotischen“ publikationen Deutschlands und Englands eine 
Dokumentensammlung entgegenstellen, auf die sich die marxistisch- 


sozialen Bew in der Ukraine im zweiten und dritten Viertel des 
19. Jahrhunderts Be. 290 f.) und Lex Josephoviciana (S. 296); 
V. A. Ju ee jisuptstrdmungen in der zeitgendssischen ukrainischen Lite- 


E. A. Kos’mins ij, English Village in the thirteenth century (270f.); 
M. N. Pokrovskij, Les origines de Pabsolutisme russe au point de vue 
du matérialisme historique (7 f.); 
P. Kurz obrakenskij, e realistic features in early religions belief 
V. P. Volgin, Sozialismus und Egalitarismus in der Geschichte der Sozial- 
theorien (280 f.). 
ie von A. S. Fedorovskij — „Age de pierre et ige de bronze en 

Ukraine d’aprés de nouvelles données“ (s. 62) und „Monuments de l’époque de 

la transmigration des peuples en Ukraine“ (S. 126) —, Hrulevékyj 
"Ukraine et la situation politique de l'Europe Orientale dans la moitié du 
VIIe siècle, S. 187 f.) und E. Tarle (La classe ouvrière en France à la veille 

de la révolution de 1848, S. 291 f.) angekündigten Vorträge fielen durch das Nicht- 

erscheinen der Redner auf dem Kongreß aus, während die russischen Delegations- 

mitglieder N. M. Lukin und V. Pik eta auf dem Kongreß nicht sprachen. 
184) Vestnik Komakad. 30, 285. 

Ä 133) Izvestija Nr. 108 (8689) v. 9. Mai 1929; C. Friedland, Tret’fa 
sessija internacional nogo komiteta istorigeskich mauk: Istorik-Marxist 18, 200—275; 
R. Holtzmann » Die Tagung der Internat. Historischen Vereinigung zu 

Venedig: Minerva-Zeitschrift 5. Js. (1929), 150—152. | 

430) Ober eine Äußerung Pokrovskijs zur russischen Dokumentenveräffent- 

lihung auf der Moskauer Historikerkonferenz s, diese Jahrbücher N. F. v 

1929), 448; vgl. auch Istorik-Marxist 11, 248; (A. P.), K izdaniju diplomati- 
Rich dokumentov: Arch. dels 15 (1928), 20—28, 

137) Maksakov: Archivnoe delo 16 — 1928 H. 8 8. 17. 


122 


leninistische Auffassung des Weltkriegs fest verlassen könne,) und 
N. Rubinstein, der wissenschaftliche Sekretär des Redaktions- 
komitees, erklärte in einem Vortrag: „Der Krieg der Dokumente“ 
auf dem zweiten Archivartag der RSFSR Gi s'ezd archivnych 
rabotnikov RSFSR) am 30. Mai 1929 als Zweck des Unternehmens: 
„Wir können die kunstvoll hergerichteten Publikationen der 
Imperialisten zerstören..) Die nichtrussische Kritik der russischen 
Dokumentenveröffentlichung wird den leitenden Gesichtspunkt bei 
der Auswahl der Dokumente sorgfältig zu berücksichtigen haben. 
Politisch ist nicht zu unterschätzen, daß die bevorstehende Veröffent- 
lichung der diplomatischen Archive aus den Kriegsjahren das Gewicht 
der sovetrussischen Anklage gegen die Zurückhaltung der anderen 
Mächte verstärkt“); das russische Beispiel soll für die Kriegszeit eine 
ähnliche Wirkung auslösen wie die große deutsche Aktenpublikation 
für die Vorkriegszeit. 


Die I. Marxistische Historikerkonferenz. 


Der „I. allrussische Historikerkongreß““ (Pervyj vserossijskij s’&zd 
istorikov), dessen Berufung die Historische Gesellschaft an der Mos- 
kauer Universität im März 1917 ins Auge gefaßt hatte, %) wäre zweifel- 
los eine machtvolle und stolze Kundgebung der liberalen Intelligenz für 
die neu errungene bürgerlich-demokratische Staatsform geworden. Im 
Weitertreiben der Revolution und durch den Sieg der Bolscheviki fiel 
das Projekt. Die erste ,,Gesamtunions-Konferenz der marxistischen 
Historiker“ (Vsesojuznaja konferencija istorikov - marksistov), die 
die Gesellschaft der marxistischen Historiker zehn Jahre später 
einberief und die in Moskau vom 28. Dezember 1928 bis zum 
4. Januar 1929 nicht nur die Historiker Großrußlands, der RSFSR, 


128) Dejatel’nost’ Centrarchiva RSFSR: 11, 228; aus Archivnoe delo 20 (1980), 
8 ergibt sich, daß Maksakov nur eine Äußerung Pokrovskijs abwandelte: 
„Durch diese Serie (Die große Politik der europäischen Kabinette) sicherte Deutsch- 
land seinem Standpunkt ziemlich fest die Herrschaft in allen, Arbeiten über inter- 
nationale Beziehungen, die in der nächsten Zeit erscheinen werden. Und nur 
wir allein in der ganzen Welt sind in der e, dem Standpunkt des deutschen 
Imperialismus (jetzt auch des englischen und französischen, soweit bereits Bände 
der englischen und französischen Serien diplomatischer Dokumente erschienen 
sind) den marxistisch-leninistischen Standpunkt auf diesem praktisch und theo- 
retisch ungewöhnlich wichtigen Gebiet der Weltgeschichte entgegenzustellen.“ 


130) Er fügte hinzu: „Und das wird nicht eine der letzten Voraussetzungen 
für den Si es Proletariats bilden.“ — Vgl. „Vojna dokumentov“: Pravda 
Nr. 128 (4257) v. 1. Juni 1929 und den in Kniga i revoljucija Nr. 18/14 (20. Juli 
1929), S. 17—28 („Vojna v dokumentach“) veröffentlichten Wortlaut. 


18) Bereits vor fünf Jahren, bei Eröffnung der Archivkurse des Zentral- 
archivs der RSFSR am 21. November 1924, wurde Pokrovskij schr deut- 
lich: „Man beachte, wie knauserig die deutsche republikanische Regierung alle 
Publikationen über den imperialistischen Krieg gibt. Dieselben Briefe Izvol’skijs 
an Sazonov, die wir längst gedruckt haben, läßt sie jetzt mit großer Reklame 
und mit Pomp drucken, aber die eigenen Geheimnisse hiitet sie sehr sorgfältig“: 
Archivnoe delo H. 2 (1925), S. 5f. i 

141) Istori¢eskija Izvöstija“, izdav. Istorideskim obščestvom pri imp. 
Moskovskom universitete, 1917 Nr. 1 (Vorwort). 


123 


sondern auch Historiker aus der Ukraine, Weißrußland, Trans- 
kaukasien, Turkmenistan und Uzbekistan vereinigte, bedeutete einen 
entscheidenden Schritt auf dem Wege zur wirklichen Hegemonie des 
Marxismus im Machtbereich der Gesellschaft: Hier wurde die Bilanz 
der historischen Arbeit der russischen marxistischen Gelehrten im 
ersten Jahrzehnt der Sovetunion gezogen. Hier wurde allen den 
Marxismus umlauernden Gefahren — den offen anti-marxistischen 
Strömungen im Anschluß an die bürgerliche Wissenschaft West- 
europas (Petrusevskij), den schwer zu entlarvenden „pseudomarzisti- 
schen“ Konzeptionen (Tarle) und der „kleinbürgerlichen“, „men- 
schevistischen“ Geschichtsschreibung (Rozkov, we) der „rechte 
Glaube entgegengehalten. Hier wurde die Aufgabe der Zukunft in 
einer programmatischen Erklärung e sas Der Schwur der 
Konferenz im Ergebenheitstelegramm an Zentralkomitee der 
Kommunistischen Partei,“) den Marxismus und Leninismus in prin- 
zipieller Reinheit auf dem Gebiete der historischen Forschung zum 
Siege zu führen und keine Kompromisse, keinerlei Versöhnung mit 
der bürgerlichen Geschichtsschreibung zu dulden, wird ebenso wie 
die Resolution, die offizielle Kriegserklärung der marxistischen 
Historiker Rußlands an die „bürgerliche“ Geschichtsschreibung im 
eigenen Lande wie in der übrigen Welt, ihren Platz in der Geschichte 
unserer Vissenschaft finden.“) 

Eine typischere und für den Nicht-Marxisten aufschlußreichere 
Selbstdarstellung der russischen „marxistisch - leninistischen Ge- 
schichtsforschung als den offiziellen Bericht über die Tagung) gibt 
es nicht. Man findet die Feststellung vollauf bestätigt: „Die Kon- 
ferenz faßte ihre Aufgaben vor allem als politische auf.. und 
unterstrich durch ihre ganze Arbeit, daf das Bündnis der Politik 
mit der Wissenschaft jedem marxistischen Historiker als die Haupt- 
aufgabe erscheint.“ — — ) 

Die Sektionen, die auf der Tagung gebildet wurden, lehnten sich 
an die Sektionen an, in denen sich die reguläre Arbeit der Gesellschaft 
der marxistischen Historiker vollzieht. Die demonstrative politische 
Bedeutung der Änderung der ursprünglich in Aussicht genommenen 


142) S. Anlage 4a. 
288) Ich gebe die Resolution als Anlage 4b im Wortlaut. 
re 10 Istorik-Marxist 11, 216—265; 12, 800—888 und Trudy I und II (s. oben 
m. 1). 
145) Izvestija Nr. 9 (8545) v. 11. Januar 1929. Vielleicht noch besser trägt 
zum Verständnis der Tagung der lapidare Satz der boxlustigen Frau Krivo- 
Zeina bei: „Dem Angriff der bürgerlichen Wissenschaft setzten die marxistischen 
Historiker ihre wissenschaftliche revolutionäre Faust entgegen“ (ebenda). In der 
Resolution des Kongresses und in den Zeitschriften- und Pressekommentaren zur 
Tagung (jedoch nicht im Anm. 144 erwähnten Protokoll im „Istorik-Marxist“) 
wurde der Vorrat an revolutionärer Phraseologie reichlich in Anspruch ge- 
nommen; ohne Unterlaß werden die Losungen der Partei: „Kampf für den revo- 
lutionären Marxismus!“, „Kampf für die Befreiung des Proletariats in der ganzen 
nr und für den Aufbau des Sozialismus!“ als Richtlinien für die historische 
rbeit eteuert. 


124 


Bezeichnung „Sektion für Geschichte Rußlands’*) in „Sektion für 
Geschichte der Völker der UdSSR“ ist nicht zu verkennen. Die 
weiteren Sektionen waren: eine Sektion für Geschichte des 
Vestens, “) eine Sektion für Geschichte der Kommunistischen Partei 
(der Bolscheviki), eine Soziologische Sektion und eine Sektion für 
Methodik des Geschichtsunterrichts; daneben traten eine Kommission 
für die Erforschung der Geschichte der bewaffneten Aufstände, der 
Revolutions- und Bürgerkriege, ) eine Kommission für Religions- 
geschichte und eine Beratung der Historiker des Orients“ ) zu- 
sammen. 

An der Konferenz nahmen 123 Delegierte (darunter 10 Frauen) 
mit beschließender, 273 mit beratender Stimme teil. Unter den be- 
schließenden Stimmen machten die wirklichen Mitglieder der Gesell- 
schaft 45,5%, die korrespondierenden Mitglieder 5,7% aus; von den 
Kongreßteilnehmern waren nicht weniger als 87,8% Mitglieder der 
Partei, 1,7% werden als „Kandidaten“ der Partei, 9,8% als parteilose 
Marxisten aufgeführt.“) 

Die Eröffnungsansprahe Pokrovski js“) hob in einem 
Rückblick auf den Internationalen Historikerkongreß in Oslo aufs 
Schärfste den Klassencharakter alles historischen Vissens hervor und 
verkündete der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der Sovet- 
union das Todesurteil, das von der Resolution am Schluß der Tagung 
in aller Form in wurde. In geschickter Regie illustrierten nach 
Pokrovskijs Rede außer dem Sekretär der Gesellschaft, Gorin, der 
den Rechenschaftsbericht erstattete, ) Vertreter einiger bedeutender 
marxistischer historischer Forschungsstätten in Plenarsitzungen den 
Aufschwung der marxistischen Forschungstätigkeit im ersten Jahr- 
zehnt der Räterepublik.“ 


188) S. den Aufruf zum Historikertag: 8, 261. 


147) In der Sektion wurde der Wunsch geäußert, engere Zusammenschlüsse 
derjenigen Marxisten herzustellen, die über die Große französische Revolution 

die Arbeiterbewegung in der Epoche der II. Internationale arbeiten. 

1072) In der Kommission wurden zwei Vorträge gehalten: B. I. Gore v, 
Der Krieg in der Geschichte und der Marxismus; S. Rabinovié, Die Kampf- 
organisationen der Bolscheviki im Jahre 1917; vgl. Istorik-Marxist 12, 821 

14%) Die Zusammenkunft war ausgefüllt durch eine große Anzahl vom Refe- 
raten, die eine Obersicht über die Organisation der orientalistischen Arbeit in der 
Sovetunion vermittelten: Istorik-Marxist 12, 8 

188) 11, 229. Die Statistik des Moskauer Kongresses läßt weder die ursprüng- 
liche soziale Zugehörigkeit noch das Alter der Delegierten außer Acht: 
178% waren bäuerliher Herkunft, während 15,4% aus Arbeiterkreisen, 58, 7 
aus Kreisen der „Intelligenz im Angestellten verhältnis stammten. Auch die An- 
gaben über die Alters- und Berufsschichtung der Delegierten sind nicht un- 
interessant, indem ca. 70% im Alter zwischen 25 und 85 Jahren standen und 
ebensoviele Teilnehmer als Geschichtslehrer tätig waren; 82%. der Delegierten 
hatten gedruckte Arbeiten aufzuweisen (ebenda). 

188) Istorik-Marxist 11, 216—218; vgl. oben Anm. 122; der genaue Wortlaut 
steht in den Trudy I, 8—15. 

180) 11, 218—225; Trudy I, 16—27. 

181) Es sprachen: Savel’ev für das Lenin-Institut (11, 225 f.; ar 
28—85), Javorskyj für das Ukrainische Institut für Marxismus (11, ; 


125 


Eine Übersicht über die auf der Tagung behandelten Themen 
braucht einen Vergleich mit anderen „nationalen“ Historikertagungen 
nicht zu scheuen und vermittelt eine eindringliche Vorstellung von 
der Intensität und Vielseitigkeit der politisch-historischen marzisti- 
schen Forschung innerhalb des Rahmens der Parteiparolen.“ 


I. Sektion für die Geschichte der Völker der UdSSR. 


Zum Wesen des Lenin - Kults gehört, daß er in der grandiosen 
Einseitigkeit und Folgerichtigkeit des revolutionären Heros kein 
Genüge findet, sondern ihn auf möglichst vielen Gebieten groß und 
bahnbrechend erscheinen lassen möchte.“) Bei Lenins Fruchtbarkeit 
als Schriftsteller war es nur eine Frage der Zeit, wann die marxistische 
Revision der russischen Historiographie“) dahin gelangen werde, 
Lenin als großen Historiker der marxistischen Historikerschaft zu 
cooptieren. Nicht als letztes Verdienst wird Pokrovskij kiinfti 
angerechnet werden, daß er sich selbst in den Schatten Lenins 
Historiker gestellt hat; unvermeidlich wird Lenin nun in die Reihe 
der Bees Denker Rußlands einrücken und in der Geschichte 
der marxistischen Geschichtsschreibung den Ehrenplatz zugewiesen 
erhalten. In Lenins Schrift: „Was sind die Volksfreunde und wie 
kämpfen sie gegen die Sozialdemokratie? ) ist nach der Interpretation 
durch Pokrovskij in seinem Vortrag vor dem Moskauer 
Historikerkongreß „Leninizm i russkaja istorija“ (Der Leninismus 
und die russische Geschichte)“) das marxistische Schema der russi- 


Trudy I, 86—40), Seidel (Zajdel) für die historische Abteilung des Leningrader 
Instituts für Marxismus gi, 226 f.; Trudy I, 41—49), Maksakov für das Centr- 
archiv RSFSR (11, 227 f.; Trudy I, 55—66), Rubač über das Archivwesen in 
der Ukraine (11, 229; Trudy I, 67—72). 

182) Auf eine Anzahl Vorträge gehe ich nach den Sitzungsprotokollen und 
nach der ausführlichen Berichterstattung der hauptstädtischen Presse erst im zweiten 
Teil dieses Berichts meiner systematischen Übersicht über den Inhalt des „Istorik- 
Marxist“ Heft BIL ein; die Trudy . . . . konferencii waren mir bei der Aus- 
arbeitung des Berichts noch nicht zugänglich, die Verweisungen darauf sind erst 
in der Korrektur eingesetzt. 

wr A. Luther zu V. Polonskij, Lenin über Kunst und Lite- 
ratur: Osteuropa 8 (1927—28), 894—896; R. Salomon, Lenin und sein Staat: 
Der Kreis 6 Jg. (1929), 402. 

1532) Vgl. vor allem: Russkaja istorileskaja literatura v klassovom osvedétenii. 
Sbornik statej s predisl. i pod red. M. N. Pokrovskogo. I (= Trudy instituta 
Krasnoj Professury), Mosk. 1927; II (1980). 

184) Cro takoe „druz’ja naroda“ i kak oni vojujut protiv social-demokratov? 
(St. Pbg. 1894); jetzt V. I. Lenin, Sotinenija I (1927), 51—222. Vgl. auch 
„Internat. Presse-Korrespondenz“ 1928 Nr. 96. 

158) Abgedruckt in: Proletarskaja revoljucija 84 — 1929 Nr. 1, Trudy I, 
801—817 und Litopis Revoljucii 1929 Nr. 1 („Leninizm ta istorija Rosi), s. auch 
Istorik-Marksist 11. 285 f.; ein früherer Hinweis Pokrovskijs auf Außerungen 
Lenins zu historischen Fragen: Vestnik Komak. 26 (1928), 268. — Wie zu er- 
warten war, hat der Vortrag Pokrovskijs den Anstoß zu spezieller Beschäftigun 
mit Lenins historischen Urteilen gegeben; vgl. z. B. V. Nevskij, Lenin istor 
revoljucionnogo dvizenija: Pečat’ i revoljucija 1929 H. 1; M. Volin, Lenin jak 
istorik partii; Litopis revoljucii 1929 Nr. 2. 


126 


schen Geschichte — ,,das man richtiger das leninsche nennen sollte“ — 
bereits vorgezeichnet; darum: ,,Lenin war in der russischen Geschichte 
nicht Spezialist. Hätte sein geniales Büchlein ,,Cto takoe dru2ja 
naroda?“ eine Magisterdissertation darstellen sollen, so kann man sich 
vorstellen, was das für ein lautes Gelächter unter den akademischen 
Historikern hervorgerufen hätte. Und doch steckt in diesem 
Biichlein weit m russische Geschichte als in drei Dutzend 
(tri desjatki) gelehrter Dissertationen.“ 

In der Sektion fiir die Geschichte der Völker der Sovetunion 
wurde außerdem über die folgenden Themen vorgetragen: 


N. Vanag,“") Ober den Charakter des Finanzkapitals in Rußland ;1®) 
A. M. Pankratova, Probleme der Erforschung der Geschichte der Arbeiter- 


in Rußland; 180) 


M. Javors$skyj, Ober die heutigen antimarxistischen Richtungen in der ukrai- 
nischen ichts wissenschaft; 100) 


M. Kor but, Die Arbeitergesetzgebung in der 8. und A Staatsduma: 10) 

P. Galuz o, Die Periodisierung der Geschichte der nationalen Freiheitsbewegung 
in Mittelasien; 162) 

F. Macharadze, Grusien im 19. Jahrhundert; 105) 

Ja. Rathaus er (Ratgauzer), Der soziale Charakter der (azerbajdłanischen) 
„Muszavat“ - Partei; 0) 

A. Zor ! jan, Der Stand der armenischen Geschichtsschreibung. 168) 


II. Sektion für Geschichte Vesteuropas. “ 


N. Lukin, Das Problem der Erforschung der Epoche des Imperialismus; 197) 

C. Friedland, Die Ergebnisse der Forschung über die große französische 
Revolution in der Sovetunion; 0) 

F. Potemkin, Zur Frage der Methodologie (der Geschichte) der industriellen 
Revolution; 1) 

A Rosenberg, Kritik der neuesten deutschen Theorie über die Entstehung 
der Monarchie Karls V.; 170) 


: 5? Pravda Nr. 7 (4141) v. 9. Jan. 1928; vgl. auch die Resolution (unten 

187) In diesen Jahrbüchern N. F. V, 448 irrtümlich Vanaga. 

188) Istorik-Marxist 11, 281—285; Trudy I, 818—889. 

188) Istorik-Marxist 11, 286—288; Trudy I, 890—425; s. auch Archivnoe 
delo 17 (1920), 7; vgl. unten S. 144 über die Begründung einer entsprechenden 
Sektion im Historischen Institut der Kommunist. ie. 

100) Pravda Nr. 8 (4187) v. A Jan. 1920; Istorik-Marxist 11, 239—242; 
Trudy I, 426—468. 

101) 11, 242. 

163) Istorik-Marxist 11, 242—244; Trudy I, 521—554. 

168) 11, 244f.; Trudy I, 484-500. 

168) 11, 245; Trudy I, 501—520. 

168) 11, 245 f.; Trudy I, 470—488. 

188) Einen Hinweis auf die Vorträge in dieser Sektion s. Annales historiques 
de la Révolution franç. 6 (1929), 218 f. 

267) 11, 248—248; Trudy II, 7—52. 

388) 11, 248—250; Trudy II, 88—112. 

188). 11, 250; Trudy II, 58—82. 

178) 11, 251 f.; Trudy II, 289—268 (zu E. Dürrs Forschungen über Kerl 
d. Kühnen). 


TI 127 


O. Weinstein (Vajngtejn), Die französischen Handelskolonien in der Levante 
unter dem alten Regime und in der Epoche der Revolution; 171) 

K. Dobroljubskij, Die Teuerung in Paris im Jahre 1795 nach der Ab- 
schaffung des Maximums; 17) 

P. S&egole v, Die „Conjuration des Egaux“;273) 

A. Molo k, Der Juniaufstand 1848;174) 

G. Seidel (Zajdel’), Die Lehre Babeufs und der Marxismus. 175) 


III. Sektion für Geschichte der Kommunistischen 
Partei. 

V. Nevskij, Die Geschichte der Partei als Wissenschaft;1?®) 

Ark. Lomakin, Cernylevskij und Lenin; 17e) 

K. Popov, Das Problem des Übergangs einer bürgerlich- demokratischen Re- 

volution in eine zoꝛialistische; 177 

, Rachmetov, Über den Ursprung der menschevistishen Konzeption des 

russischen historischen Prozesses;17®) 

. Nevskij, Der Nordrussische Arbeiterverband; ire) 

Rabinovié, Die militärischen Organisationen der Bolscheviki im Jahre 
1917; e) 

. Kramol’nikov, Die Konferenz der Bolscheviki in Tammerfors im 
Jahre 1905; 705) 

Sochin, Die Gesetzlichkeit in der Entwicklung der proletarischen Jugend- 
bewegung. Ac) 


> Q V < 


171) 11, 252—254; Francuzskie torgovye kolonii na Levante pri starom por- 
jadke i v epochu revoljucii: Novyj vostok 25 (1929), 216—285; Trudy II, 118—187. 

173) 11, 254; Trudy II, 188—157. 

173) 11, 255; Trudy II, 158—182. 

178) 11, 256; Trudy II, 218—288. 

175) 11, 257 f.; Trudy II, 188—212. 

De, Pravda Nr. 8 (4187) v. 4. Jan. 1929; Ist.-Marxist 12, 800—808; Trudy I, 
178) 12, 818; Trudy II, 248—264. 

117) Vgl. Popov, Istoriteskija uslovija pererastanija burZuazno-demokrati- 
eg revoljucii v proletarskuju: Bolieeik 1928 Nr. 21/22 und 28/24, 1929 Nr. 1, 
danach „Osteuropa 4 (1928—29), 868 und 625f.; 5 (1929—30), 88f.; Ja. Rez- 
vulkin, Lenin o pererastanıı burZuazno-demokratileskoj revoljucii v socia- 
listi¢eskuju: Proletarskaja revoljucija Nr. 81—88 — 1928 Nr. 10—12; K. Po po v 
und Ja. Rezvulkin, O pererastanii burZuazno-demokratideskoj revoljucii v 
socialistileskuju (Učenie Lenina i ego kritika), Mosk. 1980; St. Krivcovs 
Pravda Nr. 16 ke v. 19. Jan. 1929; D. Kar dale v, Problema pererastanija 
burZuazno-demokratiteskoj revoljucii v socialistiteskuju v svete leninskoj teorii 
„amerikanskogo“ i ,,prusskogo“ puti razvitija Rossii: Prolet. revoljucija Nr. 88 == 
1929 Nr. 5. — Istorik-Marxist 12, 808—807; Trudy I, 114—166. 

ive) 12, 811 f.: Trudy I, 166—188. 

Sé, Pravda Nr. 4 (4188) v. 5. Jan. 1929; Ist.-Marxist 12, 818f.; Trudy I. 


area) Trudy I, 184—209. 

1755) 12, 807—810; Trudy I, 210—247. 

170c) 12, 810 f.; Trudy I, 279—297. — Die „Kommission für Erforschung der 
Geschichte der Jugendbewegung in der UdSSR und des leninistischen kommu- 
nistischen Jugendbunds der Gesamtunion“ (Komissija po izuteniju istorii juno- 
leskogo dvizenija v SSSR i VLKSM [= Vsesojuznogo Leninskogo Kommunisti£. 
Sojuza Molodesip), abgekürzt: Istmol CK VLKSM (!), veröftentlichte 1929 das 
Stenogramm der dritten allruss. Konferenz des Jugendbundes im Jahre 1928. 


128 


IV. Soziologische Sektion.“ 


N. Marr, Der historische Prozeß im Lichte der japhetitischen Theorie; 101) 
V. Aptekar, Marxismus und Ethnogeographie; 182) 


180) Vgl. G. Lozovik, Do pidsumkiv I vsesojuznoi konferencii istorikiv- 
marksistiv: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 1 S. 174—178. 


181) 11, 258—261; Trudy II, 267—3815. 


Wa, der alten Geschichte des Orients und der Slaven; vgl. — außer dem Abschnitt 
„Jatetidologija“ in der „Bibliografija Vostoka“ Vyp. I. Istorija (1917—1925). Pod. 
red. D. N. Egorova (Mosk. 1928), S. 18—81 — z.B. V. Aptekar zu I. I. 
Meséaninov, Chaldovedenie. Istorija drevnego Vana, vključaja drevnejšie 
svedenija o Zakavkaz’e (Baku 1927): 10, 256f. und S. N. Bykovskij, K 
voprosu o trech drevnejšich centrach Rusi = Trudy Vjatskogo pedagogič. instituta 
im. V. I. Lenina III, 6 (1928). — 

Nach dem von Pokrovskij gelegentlich wiedergegebenen Ausspruch eines 
Leningrader Kommunisten mug die japhetitische eorie den Marxismus als 
ihre allgemeine philosophische und soziologische Basis anerkennen, der Marxis- 
mus dagegen die japhetitishe Theorie als seinen besonderen linguistischen Be- 
zirk: O tv. nauki v SSSR za 10 let: Vestnik Komak. 26 (1928), 26. — 
„Wenn Engels noch unter uns weilte, würde sich jeder Student mit der Marrschen 
Theorie beschäftigen, weil sie zum eisernen Bestand der marxistischen Auffassung 
von der menschlichen Kulturentwicklung gehören würde“: Pokrovskij (1928) nach 
Dresen, Uber die japhetitishe Theorie: Wochenbericht 5. Jg. Nr. 25/26 
(1. 7. 1929); Pokrovskij, Zum vierzigjährigen Jubiläum des Akademie- 
mitgliedes N. I. Marr: ebda. 4. Jg. Nr. 28/29 (14.—21. 7. 1928), S. 16; A. Gor- 
deev: Schidnij wit Nr. 5 (1928), 208—210; I. Borozdin: Novyj vostok 
Nr. 22 (1928), 168—168. 

Zur Lehre von Marr vgl.: „Japhetitische Studien zur Sprache und Kultur 
Eurasiens“ (Stuttgart, Kohlhammer) Bd. I: F. Braun: Die Urbevölkerung 
Europas und die Herkunft der Germanen (1922), Bd. II.: N. J. Marr, Der 
japhetitische Kaukasus. Aus dem Russ. von F. Braun (1923) und die Rezensionen 
von Meillet: Bull. Soc. Linguistique de Paris 27 (1927), Comptes rendus 
p. 194 und 28 (1927), Comptes rendus p. 226 ff. — V. Aptekar, Jafetičeskaja 
teorija N. J. Marra i marksizm: Novyj vostok 22 (1928), 189—193 und: Na 
putjach k marksistskoj lingvistike: Vestnik Komakad. 28 (1928), 254—278; 
V. Sereda, Jafetiöna teorija N. J. Marra i movoznavstvo: Schidnij svie Nr. 5 
(1928), 211—215. — Jazykovedenie i materializm (Sammelband, hrsg. von 
N. Ja. Marr), Leningrad 1929; N. Ja. Marr, Aktual’nye problemy i oderednye 
zadati jafeti¢eskoj teorii (Mosk. 1929: Kommunist. Akad ; Sekcija literatury, 
iskusstva i jazyka, podsekcija materialist. lingvistiki); E. Boka- 
rev, Jazykovedenie i marksizm: Meždunarodnyj jazyk 1929 (Juni-Okt.); 
A. P. Andreev, Revoljucija jazykoznanija. Jatetičeskaja teorija akademika 
N. Ja. Marra (1929); N. S. Deržavin, Jafetičeskaja teorija akad. N. Ja. Marra: 
Naučnoe slovo 1980 Nr. 1 und 2. 


Bei der Wiederbesetzung des Akademiesitzes „Sprachen und Literaturen der 
europäischen Völker“ nach dem Tode V. M. Fritshes, für den als Kandidaten 
N. N. Durnovo, A. V. Lunalarskij, V. F. Pereverzev, V. F. Šišmarev und 
L. V. Sčerba vorgeschlagen worden waren (Pravda Nr. 287/421 v. 7. Dez. 
1929; gewählt wurde im März 1980 Lunalarskij) stießen die Kandidaturen 
Durnovo und Séerba bei Anhängern Marrs auf energischen Widerspruch: 
In einer Zuschrift der Dozenten Danilov und Palmbach an die Pravda 
hieß es: „Die Sovet-Offentlichkeit hat ein Recht darauf, von einem Vertreter der 


129 


A. Lukalevskij, Die Erforschung der sozialen Grundlagen der Religion in 
der UdSSR ;1®3) 

V. Nikol’skij, Das Protoneolithicum;!*) 

G. Natadze, Ein Versuch, den landeskundlichen Faktor in historischen Spezial- 
untersuchungen anzuwenden (Das, Dorf Kaspi in Grusien); 188) 

G. Rochkin, Die Entwicklung der historischen Ansichten von K. Marx. 0) 


V. Methodische Sektion.“ 
S. Krivcov, Methodik und Methodologie der Geschichte 29791 ders., Der Unter- 
richt in geschichtlicher Methode auf den Hochschulen; 187b) 
L. Mamet, Die Hauptrichtungen in den Fragen des Geschichtsunterrichts;197c) 
A. Ioannis iani, Die Organisation des pädagogischen Aufbaus im Geschichts- 
unterricht; 187d) 
A. Sluck ij, Lehrbücher und Lehrmittel für die historischen Disziplinen. 1876) 


Linguistik eine aktive Anwendung der marxistischen Methode in der Untersuchung 
der Sprache und in der praktisch- linguistischen Arbeit zu erwarten, die in den 
letzten Jahren gerade in der UdSSR einen ungeahnten Aufschwung genommen 
hat: Hier wurde zie zum ersten Male in der Geschichte der Linguistik zur ver- 
antwortlichsten Mitwirkung am kulturellen Aufbau berufen — zur Verbreitung 
der Kunst des Lesens und Schreibens unter den Verktätigen einer ees An- 
zahl von Nationalitäten und zur Schaffung von Schriften für bis dahin schrift- 
lose Völker. 

Welchen Nutzen können im gegenwärtigen Stadium des sozialistischen Auf- 
baus, im gegenwärtigen Stadium auch des Aufbaus im wissenschaftlichen Denken 
in unserem Lande die Tätigkeit von N. N. Durnovo und L. V. Sterba in der 
Akademie der Wissenschaften bringen, an denen nicht nur die historisch- 
materialistischen Ergebnisse des Akademikers Marr, der ein strenges System einer 
neuen Linguistik geschaffen hat, und einer marxistisch-sprachwissenschaftlichen 
Pflanzschule vorbeigegangen sind, sondern auch die Arbeiten der Vertreter einer 
sozialen Dialektologie in Rußland, — des Professors Zelenin und des Professors 
Karinskij!“ (Pravda Nr. 20/4465 v. 20. Jan. 1980). 

Gegen die Kandidatur Sidmarev protestierte die Untersektion für Lite- 
ratur des Westens der Sektion für Literatur, Kunst und Sprache der Kommunist. 
‚Akademie: Pravda Nr. 20 (4465) v. 20. Jan. 1980. 

In einer Zuschrift des Kollegiums des „Forschungsinstituts für vergleichende 
Geschichte der Literaturen und Sprachen des Westens und des Ostens“ (s. oben 
Anm. 21) an die „Leningradskaja Pravda“ (Nr. 114/4498 v. 25. April 1980) finden 
sich die folgenden charakteristischen Sätze: „Das Institut macht sich in seiner Arbeit 
die systematische Anwendung der Methode des dialektischen Materialismus in der 
Sprachwissenschaft zur Aufgabe und. .. teilt die Ansicht, daß die Erforschung der 
Arbeiten von Marx, Engels, Lenin und Plechanov durch gelehrte Linguisten not- 
wendig ist... Die japhetitische Theorie ist nach der Ansicht des Kollegiums gegen- 
wärtig die einzige von allen linguistischen Theorien, die dem Marxismus nahesteht.“ 


182) 11, 261 f.; Trudy II, 816—840. 
183) 11, 262 f.; Trudy II, 388—421. 

194) 11, 268 f.; Trudy II, 360—881. 

185) 11, 264 f.; Trudy II, 341—359. 

186) 11, 265; Trudy II, 882—897. 

187) 11, 221. 

187a) 12, 314 f.; Trudy II, 458—478. 
187b) 12, 319 f.; Trudy II, 584—608. 
187c) 12, 815—317; Trudy II, 479—511. 
187d) 12, 317—319; Trudy II, 512—588. 
187e) Trudy II, 589—583. 


130 


Der Moskauer Korigreß betrachtete sich als Vorläufer eines inter- 
nationalen marxistischen Historikerkongresses, “) der innerhalb der 
nächsten zwei bis drei Jahre einberufen werden soll. 


Im Jahre 1918 hätte nach dem Beschluß des Londoner Historiker- 
kongresses (1913) in „St. Petersburg“ der 4. internationale Historiker- 
kongreß zusammentreten sollen. Der Krieg machte den frühzeitigen 
Vorbereitungen dafür ein Ende.) Heute, zwölf Jahre nach dem 
Termin, schikt Moskau unter gänzlich veränderten Verhältnissen 
sich an, der Internationale der „bürgerlichen“ Geschichtswissenschaft, 
deren Weg statt nach St. Petersburg über Brüssel (1923) nach Oslo 
(1928) führte, eine Internationale der marxistischen Historiker ent- 
gegenzustellen; der Moskauer Historikertag bildete die erste, vor- 
läufige Antwort der marxistischen Forschung auf Oslo. Ebenso soll 
die auf dem Moskauer Kongreß beschlossene Umwandlung der Gesell- 
schaft in eine Organisation der marxistischen Historiker in der ganzen 
Union mit Filialgesellschaften in den Republiken“) und der Zeit- 
schrift „Istorik-Marxist“ als Zentralorgan nur der erste Schritt zur 
Internationalen Marxistischen 11 sein, zu der 
man in Oslo mit wenig Glück sondiert hatte.“ 


In seinem Rückblick auf die Konferenz“) vergleicht Pokrov- 
ski j die Aufgabe der marxistischen Historiker mit der Lage, die in 
den vierziger Jahren Solov’ev und Kavelin meisterten, indem sie 
der alten Schule, deren letzter hervorragender Vertreter Pogodin 


188) 11, 225. 


180) Nau£nyj istoriceskij žurnal Nr. 2 — I, 2 (1918), 157—161: N. Karecv, 
K predstojal᷑emu IV medzdunarodnomu s’ézdu istorikov; ebda. S. 180—188: Pod- 
E k predvaritel’nomu s’&zdu istorikov 18—20 dekabrja 1918 goda v Peter- 

č; ebda. Nr. 8 = II, 1 (1914), 118—129: Protokoly zasédanij Predvaritel’nago 
sov ija po voprosu ob ustrojstvě Meždunarodnago Istoričeskago S’ézda v S.- 
Peterburgě v 1918 godu; Le quatrième congrès international d’histoire: Revue 
Historique 115 (1914), 468 f.; B. M. Seen Nesostojavlijsja „Vsemirnyj 
mer ounarcany)) Istori¢eskij kongress E ) v 1918 g. v Peterburgé“: Uč. zap. ist.- 
ilol. fakul’teca Gosud. Dal’nevostotn. Universiteta IV, 1 (Vladivostok 1922), 
45—49. S. auch N. M. Bubnov, Ulenyja prava russkago jazyka ege Titres 
scientifiques de la langue russe pour l’admission de la langue russe dans les congrés 
historiques internationaux). Kiev 1913. 


100) Bisher bestehen: Ukrainskoe tovaristvo „Istorik-Marksist“ (Char’kiv); 
Belorusskoe obi<estvo istorikov-marksistov (Minsk); Sektionen in Rostov a Don 
und Voronež (18, 288); Zakavkazskoe obščestvo istorikov-marksistov (Tiflis): 
6, 298; 10, 267; in Baku arbeiter das „Institut istorii klassovoj bor’by v Azer- 
bajdZane im. Stepano Saumjana“ (Schaumann-Institut für die Geschichte des 
Klassenkampfs in A.) in der Art einer Gruppe der Gesellschaft: 12, 326. 


291) Der gescheiterte Propagandaversuch, in Oslo alle marxistischen Gelehrten 
zu sammeln und die Griindung von Zweiggesellschaften der russischen Gesellschaft 
in anderen Ländern in die Wege zu leiten, wird im „Istorik-Marxist“ in einer 
kleingedruckten Anmerkung mit 24 Zeilen eben erwähnt; zur Besprechung waren 
außer den Russen nur zwei Personen erschienen: 9, 15; vgl. auch Pokrovskij, 
Klassovaja bor’ba i ,,ideologiceskij front“: Pravda Nr. 260 (4092) v. 7. Nov. 1928. 


19%) Vsesojuznaja konferencija istorikov-marksistov: 11, 8—11; vgl. auch 
Pokrovskijs Vorwort zur Veröffentlichung der auf der Konferenz gehaltenen Vor- 
träge: Trudy I, S. VII—XV. 


13] 


gewesen war, eine neue Auffassung des historischen Geschehens ent- 
gegenstellten; der Unterschied von damals und heute sei der, daß 
die Neuerer von damals nur Liberale waren, die heutigen — Revo- 
lutionäre seien.“) 


Man wird die Durchführung der in den Resolutionen nieder- 
gelegten Programme, die einen Maßstab für die Beurteilung der 
künftigen wissenschaftlichen und organisatorischen Leistungen der Ge- 
sellschaft und ihrer einzelnen Mitglieder bilden, mit der größten 
Aufmerksamkeit verfolgen müssen.“) Es kann nicht übersehen 
werden, daß der marxistischen Forschung der letzten Jahre eine große 
Zahl fruchtbarer neuer Fragestellungen zu verdanken ist. Die 
notwendig einseitigen Lösungsversuche befriedigen keineswegs; 
in der E Produktion herrscht eine Eintönigkeit und 
sehr häufig ein Mangel an Niveau, die, je länger je mehr, 
die Enge der Auffassung und den Mangel an allgemeiner 
Bildung erschreckend hervortreten lassen. Dennoch ist nicht zu 
billigen, wenn die marxistische historische Arbeit, wie es 
mitunter geschieht, systematisch herabgesetzt wird. Wenigstens 
sollte auch bei prinzipieller Ablehnung der in der russischen Ge- 
5 gegenwärtig herrschenden Richtung nicht ver- 
kannt werden, zu welcher Bedeutung das marxistische historische 
Weltbild im öffentlichen Leben der Sovetunion gelangt ist. Das 
Beispiel, wie in einem Lande von 150 Millionen ein sehr bestimmtes 
und sehr waches historisches Bewußtsein herangebildet wird, hat die 
verdiente Beachtung bisher nicht gefunden.) 


198) 11, 5. 


1%) Resolution über die Aufgaben der marxistischen Historiker (s. unten 
Anlage 4b), Resolution iiber methodische Fragen im Geschichtsunterricht und Re- 
solution über den Schutz wertvoller historischer Archivmaterialien vor Ver- 
nichtung: Trudy II, 600—614; Resolution der Beratung der Orienthistoriker: 
Istorik-Marxist 12, 882 f. 


1942) Ober den Moskauer Historikerkongreß vgl. Ankündigung und Grund- 
züge des Programms: 8, 210f. und Vestnik Komakad. 27: O sozyve vsesojuznoj 
konferencii istorikov-marksistov; Evg. Krivo$eina, K vsesojuznoj konferencii 
istorikov-marksistov: Izvestija Nr. 200 (8588) v. 25. Dez. 1928 und: Itogi 
vsesojuznoj konferencii istorikov-marksistov: Izvestija Nr. 9 (8545) v. 
11. Jan. 1929; M. N. Pokrovskij, Vsesojuznaja konferencija istorikov- 
marksistov: Istorik-Marxist 11, 8—11; P. Gorin, O pobede marksistov na fronte 
nauki: Bol’Sevik 1929 Nr. 2; C. Friedland, O bor’be za marksistskuju isto- 
ri¢eskuju nauku v SSSR: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 2/8 S. 101—113; 
ders., Ob ideologi¢. bor’be na istori¢. fronte: Kommunistié. revoljucija 1928—29 
Nr. 23/24; I. I. Minc, Pervaja konferencija istorikov-marksistov: Nauénoe slovo 
1929 Nr. 2 S. 98—102; A. Sestakov, Na istori¢eskom fronte: Novyj mir 
1929 Febr., 236—242; vgl. des Referat in diesen Jahrbüchern N. F. 5 (1929), 447 f.; 
O. Ju. Germajze, 1—ša Vsesojuzna Konferencija istorikiv-marksistiv u Moskvi: 
Visti vseukrains’koi Akademil nauk (= Procès-verbaux de l'Aczd. des Sciences 
d’Ukraine) 1929 Nr. 1 S. 12—18; M. Rubad, Vsesojuznaja konferencija isto- 
rikiv-marksistiv ta denkt naši čergovi zavdanija: Litopis revoljucii 1929 Nr. 2; 
Pravda Nr. 3 (4137) v. A Jan., 4 (4138) v. 5. Jan., 7. (4141) v. 9. Jan. 1929. 


132 


Das Verhiltnis der marxistischen Geschichtswissenschaft zur Akademie 
der Wissenschaften der Sovetunion. 


Von den historischen Unternehmungen der Bundesakademie 
der Wissenschaften (Vsesojuznaja Akademija Nauk SSSR) in Lenin- 
grad wurde im „Istorik-Marxist“ einmal in einem knappen, aber 
durchaus sachlich gehaltenen Literaturbericht Notiz genommen.“ 
Dagegen war von den dauernden Reibungen zwischen der Aka- 
demie der Wissenschaften und der Kommunistischen Partei, die stets 
an die Machtmittel des Staates appellieren kann, im „Istorik- 
Marxist“ außer dem Angriff Pokrovskijs (des Präsidenten der Kom- 
munistischen Akademie) gegen den „Pseudomarxismus‘“ des Lenin- 
grader Akademikers Tarle **) merkwürdig wenig zu spüren, obwohl 
die marxistische Geschichtswissenschaft bei diesen Vorgängen viel 
genannt wurde. Es ist notwendig, hier wenigstens diejenigen 
Momente in den Differenzen zu rekapitulieren, die dazu beigetragen 
haben, die Machtstellung der marxistischen Richtung in der russischen 
Geschichtsforschung zu festigen und zu steigern. 

Im Auslande mußte das Kesseltreiben befremden, das in der 
Sovetpresse im November 1928 wegen der Mitarbeit sovetrussischer 
Gelehrter an ausländischen russischen bezw. ukrainischen Zeitschriften 
einsetzte und das sich mit besonderer Schärfe gegen ein Mitglied der 
Akademie der Wissenschaften, den Althistoriker und Archäologen 
S. A. Zebele v,“) und gegen den Kunsthistoriker A. I. Anisi- 
mov ) richtete. Zebelev hatte zu der hauptsächlich aus Kreisen 
der russischen Emigration hervorgegangenen Prager Gedächtnis- 
Sammelschrift für Kondakov einen Beitrag geliefert.“) 


108) J. Trock ij, Obzor statej po russkoj istorii v izdanijach Akademii 
Nauk SSSR: 5, 221—225. 


196) Siehe oben S. 109. 
107) Vgl. Izvestija Nr. 271—278 (8505—3507) v. 22.—24. Nov. 1928. 
1972) Ebda. Nr. 284 (8518) v. 7. Dez. 1928. 


100) Recueil d’études dédiées A la mémoire de N.P. Kondakov (Prag 1926), 
S. 1—18: S. A. Zebelev, Ikonografiteskija schemy Voznesenija Christova i 
isto¢niki ich vozniknovenija. 

Ein Nachspiel zu dieser 5 bildete ein offener Brief, den der 
Helsingforser Archäologe A. M. Tallgren, der Mitherausgeber der „Eurasia 
septentrionalis ae am 16. Dez. 1928 in der Zeitung „Helsingen-Sanomat“ 
an die Wissenschaftliche Hauptverwaltung (Glavnauka) richtete; die Akademiker 
S Oldenburg, A. Marr und Zebelev selbst hatten die undankbare Auf- 
gabe, gegen die von dem finnischen Gelehrten sicher mit Recht, aber mit einigen 
ırrıgen Details behauptete Bedrohung der freien Forschung in der Sovetunion — 
leichfalls in „offenen Briefen — zu protestieren: Izvestija Nr. 19 (8555) v. 
24. Jan. 1929: Pis’mo prof. Tal’grena i dostojnyj otvet sovetskich ucenych. — Der 
Unterschied der Voraussetzungen fiir die sogen. „freie Forschung“ in Rußland, wo 
der Marxismus den Anspruch auf ausschließliche Geltung erhebt, und der grund- 
sätzlich freien wissenschaftlichen Forschung und Lehre im Westen, die nur für 
die katholische Forschung er formale Bindungen kennt, kommt in den Ent- 
gegnungen der russischen Gelehrten nicht zum Ausdruck. Hier ist an eine Aufe- 
rung Pokrovskijs in Berlin zu erinnern: „Wir sind in dem Maße von der Über- 
pe unserer Methode überzeugt, daß wir es für eine Herabsetzung derselben 
halten würden, ihr durch irgendwelche Zwangsmaßnahmen Ausdehnung zu ver- 


138 


Von entscheidender Bedeutung fiir das Verhältnis der marxisti- 
schen Wissenschaft zur Akademie der Wissenschaften waren Anfang 
1929 die Zuwahlen zur Akademie auf Grund ihres neuen Statuts, ) 
durch die von marxistischen Historikern Michail Nikolaevité Po- 
krovskij,) der Direktor des Marx-Engels-Instituts David Borisovič 
Rjazanov”") und der Historiker der Pariser Commune Nikolaj 
Michajlovič Luk in“) ihren Einzug in die Akademie hielten,“) — 
Lukin allerdings erst, als die Akademie das Ergebnis der Haupt- 
abstimmung, in der drei der kommunistischen Partei angehörende 
Gelehrte unterlegen waren (außer Lukin der Philosoph Deborin und 
der Literarhistoriker Fritsche, gest. September 1929), in einer Nach- 
wahl korrigiert hatte.“) Neben den drei führenden marxistischen 


schaffen‘ (Osteuropa 8, 758). Wer vermag indessen — allein nach marxisti- 
shen Zeugnissen — an dem Druck zu zweifeln, unter dem heute in der 
Sovetunion alle nicht marxistisch orientierte wissenschaftliche Arbeit, nicht nur die 
im historischen Bezirk, steht? 

106) Ustav Akademii Nauk Sojuza SSR: Sobranie Zakonov Sojuza SSR 
1927 Nr. 85, dazu 1928 Nr. 22 (Verordnung Nr. 195, 197, 198). 


200) Vgl. Anm. 78. 
701) C. Friedland, „D. B. Rjazanov“: Izvestija Nr. 282 (8466) v. 5. Okt. 


1928; Biografija D. B. Rjazanova: Izvestija Nr. 68 (8915) v. 10. März 1980; siche 
auch oben Anm. 67 b. 


292) S. Monos ov, „N. M. Lukin“: Izvestija Nr. 287 (8471) v. 11. Okt. 
1928. — Als Beispiel für Lukins Auffassung der Commune — sein Buch „Pariks- 
ka ja kommuna 1871 g.“ erschien 1980 in 8. Aufl. — vgl.: Lukin (-Antono v), 
Von der Pariser Kommune zur Oktober- Revolution: „Internat. Presse -Korre- 
spondenz 9. Jg. (1929), 555 f. und 570 f.; von Lukin s. auch N. Louki ne, La 
revolution française dans les travaux des historiens soviétiques: Annales histo- 
riques de la révolution française N.S. 5 (1928), 128—138. 


203) Unter den als Kandidaten für die wirkliche Mitgliedschaft nominierten 
zwölf Historikern: D. V. Ajnalov, D. I. Bagalej, V. N. Benelevi&, M. S. Hruševś- 
kyj, D. N. Egorov, N. M. Lukin, M. K. Ljubavskij, D. M. Petrulevskij, M.N. Po- 
krovskij, A. E. Presnjakov, D. B. Rjazanov und A. A. Spicyn marschierten — ein 
Beweis für die stramme Organisation der Einwirkung des Parteiapparates auf die 
zu Wahlvorschlägen berufenen wissenschaftlichen Körperschaften (vgl. z. B. den 
Bericht über die Versammlung der „Sektion der wissenschaftlichen Arbeiter“ in 
Kazan zur Aufstellung einer Kandidatenliste: Izvestija Nr. 240/8474 v. 14. Okt. 
1928) — Pokrovskij mit 29, Rjazanov mit 16 und Lukin mit 9 Nomi- 
nationen weitaus an der Spitze; alle übrigen Anwärter — außer Presnjakov, 
der viermal aufgestellte worden war — hatten nicht mehr als eine oder zwei 
Nominationen aufzuweisen. Zu berücksichtigen bleibt ferner, daß für einen der 
vakanten „sozialökonomischen‘“ Sitze Pokrovskij weitere 2, Rjazanov 15 Nomi- 
nationen erhalten hatte, und daß außerdem unter den Vorsclägen für die 
„philosophischen“ Sitze einer für Rjazanov abgegeben worden war: Izvestija Nr. 168 
402) v. 21. Juni 1928. 


204) Ober den Konflikt der Akademie mit der e weder und den Ent- 
rüstungssturm gegen die Akademie in der Presse wegen des als antisovetistische 
Demonstration eines Teils der früheren Akademiker hingestellten Abstimmungs- 
ergebnisses vom 12. Januar 1929 vgl. außer „Osteuropa“ 4 (1928—29), 878 f. und 
A. Pierre, En U. R. S. S.: Le conflit entre le gouvernement et l’Académie des 
sciences : Le monde slave 6. Jg. (1929), Bd. I (H. 8), 470—480, insbesondere: 
J. Larin, Akademiki i politika: Pravda Nr. 20 (4154) v. 25. Jan. 1928; 
A. Lunaéarskij, „Neuvjazka“ v Akademii Nauk: Izvestija Nr. 29 (8565) 
v. 5. Febr. 1929, deutsch unter dem Titel „Der Kampf um das Bündnis der 


134 


Historikern wurden die drei Nicht-Marxisten HruSevskyj, 


Ljubavskij und PetruSevskij zu ordentlichen Mitgliedern 
der Akademie gewählt.“) 


Vor und nach den Akademiewahlen ersuchte die Redaktion det 
„Izvestija“ zahlreiche russische Gelehrte aus verschiedenen Disziplinen 
um Erklärungen über die Bedeutung der Wahlen für die Zukunft der 
wissenschaftlichen Arbeit in der Union. In den Zuschriften finden 
sich außerordentlich interessante Äußerungen, welche Erwartungen 
für die künftigen gesellschaftswissenschaftlichen Aufgaben der Aka- 
demie die marxistishen Gelehrtenkreise an die Neuwahlen 
knüpften. 


Wissenschaft mit der Arbeit“: Das Neue Rußland 6. Jg. (1929), Nr. 1/2 S. 54 
bis 56; Mich. Kol cov, Anekdoty: Pravda Nr. 29 (4168) v. 5. Febr. 1929; 
„Das Land der Räte braucht die Akademie der Wissenschaften als ein aktives 
Kollektiv hochqualifizierter wissenschaftlicher Arbeiter und nicht einfach als einen 
Paradesenat emeritierter Gelehrter, der durch Erbschaft an es übergegangen ist“: 
S. Romano va, Nekotorye vyvody iz čistki v Akademii Nauk, in den Izvestija 
Nr. 208 (8744) v. 10. Sept. 1929. 


(8710) v. 1. August 1929. — Presnjakov (vgl. Anm. ) den Pokrovskij 
als den bedeutendsten russischen Historiker der auf Platonov folgender Generation 
gelten läßt (7, 5), ist am 80. September 1929 gestorben; vgl. die Nachrufe von 


A. Kiesewetter in der Rul’ Nr. 2704 v. 17. Okt. 1929 und in den Sovrem. 
Zap. 41 (1930). 


308) Professor M. L. Schherwindt (Polytechnisches Institut in Leningrad): 
„Im Gegensatz zu ihren Leistungen in naturwissenschaftlichen Disziplinen gab die 
Akademie auf dem Gebiet der ee Wissenschaften mit seltenen Aus- 
nahmen (z. B. dem Japhetischen Institut; ethnographische Arbeiten) sehr wenig 
und sie bearbeitet überhaupt kein aktuelles Problem, das unsere Offentlichkeit 
interessiert. Wen können z. B. solche Arbeiten interessieren wie: Erläuterungen zu 
den Basiliken des Konstantin Porphyrogenetos oder über die literarische Tätigkeit 
Epiphanios II., Erzbischofs von Cypern? 


Die Aufgabe einer Sovetakademie der Wissenschaften unter den gegen- 
wärtigen Bedingungen muß darin bestehen, aktuelle Probleme auf dem Gebiet 
der philosophischen und sozialökonomischen Wissenschaften zu bearbeiten. Diese 
Aufgabe kann dann erfüllt werden, wenn die Akademie nach Auffüllung ihres 
Bestandes mit frischen wissenschaftlichen Kräften einen cadre von Vertretern des 
wissenschaftlichen Marxismus, der anerkannten Ideologie der arbeitenden Klasse, 
umfassen wird. In der Sovetunion, dem ersten Lande, wo die Diktatur des 
Proletariats verwirklicht worden ist, darf es einen solchen Zustand nicht geben, 
daß die Akademie der Wissenschaften, die höchste wissenschaftliche Einrichtung, 
keine Vertreter des revolutionären Marxismus, der Ideologie des Proletariats, aut- 
weist. Diesen Mangel müssen die bevorstehenden Wahlen beseitigen. Ohne den 
Einzug von Marxisten in die Akademie der Wissenschaften ist eine fruchtbare 
Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Arbeit kaum denkbar“ (Izvestija Nr. 110 
8844 vom 18. Mai 1928). 


Professor A. K. Luppel, verantwortlicher Sekretär der Sektion der 
wissenschaftlichen Arbeiter: „Die neuen Verhältnisse müssen unausweichlich den 
bevorstehenden Wahlen ihr Gepräge geben in dem Sinne: daß einzelne Wissen- 
schaften, einzelne wissenschaftliche Neigungen und Sympathien fich einschränken 


135 


Von den neu zu Mitgliedern der Akademie gewählten 
Historikern trat im April Hru$evskyj mit dem Vorschlag hervor, bei 
der Sektion für Gesellschaftswissenschaften der Akademie ein Institut 
zur Erforschung der Geschichte der Ukraine ée po izuleniju 
Ukrainskoj Se? zu errichten, indem er auf den Reichtum an 
Materialien zur ukrainischen Geschichte in den Leningrader Archiven 
und Bibliotheken hinwies.“) 


Im Sommer 1929 wies die Akademie den in den „Izvestija“ an 
die Adresse des Literarhistorikers V. M. Istrin als Vorsitzenden 
ihrer „Kommission zur Herausgabe des Worterbuchs der russischen 
Sprache“ (Komissi ja po sostavleniju slovarja russkogo jazyka) ge- 
richteten Vorwurf, sie zögere absichtlich, beim Druck des Akademie- 
wörterbuchs zur neuen Orthographie überzugehen, “) in einer Zu- 
schrift an die Redaktion entschieden zurück. 


und Platz machen müssen anderen Vissenschaften, anderen Neigungen und 
Sympathien. 

Vir wollen diesen Gedanken näher erläutern. Zwei Historiker sind in 
formalem Sinne ihrer wissenschaftlichen Qualifikation nach gleich, aber der eine 

äftige zich — sagen wir einmal — mit byzantinischer Geschichte, der andere 
mit der Geschichte Europas in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen 
Revolution. Es wäre doch sonderbar, wenn bei sonst gleichen Voraussetzungen 
die bevorstehenden Vahlen dem ersten den Vorzug gäben. — Zwei Philosophen 
(werden nominiert): von denen der eine sich um die mittelalterliche Philosophie 
müht, um mystischen oder halbmystischen Idealismus, der andere aktuelle Pro- 
bleme des dialektischen Materialismus bearbeitet; es ist klar, daß die gegen- 
wärtigen Wahlen dem Zweiten den Vorzug geben werden. Wenigstens können 
das die lebendigen und aktiven Vertreter der genannten Wissenschaften mit 
Recht erwarten‘ (Izvestija Nr. 102/3336 vom 4. Mai 1928). 

Professor D. N. Bogole pov: „Fragen des Evangeliums und der bischöf- 
lichen ‚Erleuchtungsfabriken‘ (Voprosy . . . eparchial’nych svétnych zavodov — ge- 
meint sind das geistliche Schrifttum oder die geistlichen Akademien) müssen 
Fragen der heutigen Weltwirtschaft und der Bearbeitung aktueller Probleme des 
Marxismus weichen“ (Izvestija Nr. 121/3355 v. 26. Mai 1929). 

Sehr absprechend äußerte sih über die von en der Akademie 
1922—1927 bearbeiteten philologischen und historischen Themen Ter- 
Oganezov in der Pravda Nr. 243 (4075) v. 18. Okt. 1928. 

Zwischen der Haupt- und der Nachwahl erklärte ein im Auftrag des Rats 
der Volkskommissare in der Wahlangelegenheit nach Leningrad entsandter hoher 
Beamter, Gorbunov: „Die reformierte Akademie der Wissenschaften muß 
sich aus einer Akademie des überlebten, halbfeudalen Typus in eine Sovet- 
Akademie verwandeln, die von der alten Akademie als Erbe alle ihre ungeheuren 
wissenschaftlichen Reichtümer übernehmen soll, aber keinesfalls ihre alten Tradi- 
tionen, die bei ihr nicht ohne wohlwollendes Zutun der carischen Regierung 
entstanden sind“ (Pravda Nr. 28/4162 v. 8. Febr. 1929). 


207) Izvestija Nr. 95 (4229) v. 25. April 1929. 


208) G. Ry klin, Smelee nazad: Izvestija Nr. 112 (8648) v. 19. Mai 1929. 
— Die Behandlung Istrins durch die Presse ist ein Schulfall für die Methode, 
mißliebige Gelehrte vor der Offentlichkeit herabzusetzen. Von ihm schrieb 
I. P. Podvolockij („Nauka i politika“ in der Pravda Nr. 26/4160 v. 
1. Febr. 1929) während der durch die Akademiewahlen verschärften Spannung 
zwishen der Akademie und den marxistishen Gelehrten als dem Verfasser 
„einer ‚wissenschaftlichen‘ Arbeit von der Sorte: „Die Offenbarung des Methodios 
von Patara und die apokryphen Visionen Daniels“ („Otkrovenie Mefodija 
Patarskago i apokrifiteskija vidénija Daniila v vizantijskoj i slavjanorusskoj 


136 


Vom Budgetjahr 1929—30 an wurde die Akademie durch Ein- 
führung der „Aspirantur ) zur „Ausbildung hochqualifizierter 
wissenschaftlicher Arbeiter“ als Spezialisten fester in das System der 
wissenschaftlichen Ausbildungsstätten der Union eingegliedert; von 
hundert Aspirantenstellen (75 in der physikalisch-mathematischen, 
25 in der humanistischen Abteilung) entfallen auf Linguistik und 
Orientalistik je acht, auf Geschichte und Literatur- 
geschichte fünf und auf Soziologie und Wirtschaft vier.“) Von 
350 Bewerbern wurden Anfang Dezember 57 fest angenommen; nicht 
weniger als 33 von diesen Aspiranten waren Mitglieder der Kom- 
munistischen Partei. 62 weitere Bewerber wurden vorgemerkt und. 
hatten sich einem Kolloquium in den „marxistischen Disziplinen“ zu 
unterziehen..) 

Die Präponderanz der Natur wissenschaften, wie sie in der Aus- 
schreibung des Akademie entgegentrat,”") verstärkt die von mir 
früher ausgesprochene Befürchtung um die Zukunft der historischen 
Forschung in Rußland,“) vor allem um die Pflege der mittelalter- 
lichen Geschichte Rußlands und um das Fortbestehen der 
Archäographischen Kommission der Akademie als eines autoritativen 
Gremiums dafür.“) Die Zurücksetzung der historischen Wissen- 


literatur“). Durch die Art der Zitierung mußte zugleich der Eindruck hervor- 
gerufen werden, als werde eine unlängst erschienene Untersuchung angeführt, 
während es sich in Wirklichkeit um ein im Anfang von Istrins Laufbahn, vor 
bereits mehr als dreißig Jahren (1897 in Bd. 181—188 der „Ctenija v imp. 
ob&estv& ist. i drevn. ross. pri Mosk. universitete) erschienenes Werk handelt. 
Ober die wissenschaftliche Bedeutung des Gegenstands, den Istrin in seiner wissen- 
schaftlichen Arbeit 5 hat (vgl. seine Miszelle „Otkrovenie Mefodija 
Patarskogo i Letopi$“: Izv. otd. russk. jaz. i slovesn. ross. Akad. Nauk 1924 g. 
Bd. 29, S. 880—882), und über die genannte, jeglicher politischen Wertung 
(solite man meinen) entrückte kirchengeschichtlich-quellenkundliche ER 
Istrins unterrichtet die Besprechung von C. E. Gleye in der „Byzant. Ztschr.“ 
(1900), 222—228. Wir wollen es Herrn Podvolockij nicht besonders an- 
rechnen, daß er von der jedem Historiker bekannten geistesgeschichtlichen Be- 
deutung des Pseudomethodios keine Vorstellung hat. 


200) Izvestija Nr. 187 (8678) v. 18. Juni 1929. Unter dem Titel: „Sdelano 
na- jat“ nahm D. Zaslavskij in der Pravda Nr. 28 (4468) v. 24. Jan. 1980 
die Nörgelei am Akademie-Wörterbuch wieder auf. 

10% Vgl.: Vissenschaftlicher Nachwuchs in Sowjet-Rußland: Osteuropa 1 
(1925—26), f. 

219) Vgl. die Bekanntmachung der Akademie in der Pravda Nr. 224 (4858) 
v. 28. Sept. 1929. 

2108) Izvestija Nr. 286 (8822) v. 5. Dez. 1929. 

211) Die Ausschreibung der Akademie nennt Mathematik, Physik, Seismo- 
logie, Geologie, Mineralogie, Chemie, Zoologie, Biologie, Botanik, Mikrobiologie, 
Anthropologie, Ethnologie, Ethnographie, Geographie und Expeditionswesen. 

213) Diese Jahrbücher N.F. IV, 280 f. 

213) Ober die Kommission vgl: Akademija Nauk SSSR za desjat let 
1917—1927 (Leningrad 1927), S. 88—95: S. F. Platonov, „Istorija“. — Die 
Arbeitspline der Archäographischen Kommission, die am 9. April 1880 in den 
„Izvestija" (Nr. 98/8045) bekanntgegeben wurden, kündigen eine Umstellung und 
neve Richtung ihrer Editionstãtigkeit an: die Kommission wird Materialien zur 
Geschichte der Arbeiter in der Epoche der Leibeigenschaft (feodal’no-krepostnaya 


137 


schaften im Plan der Aspirantenstellen war nicht in Einklang zu 
bringen mit Pokrovskijs Erklärung der Geschichte als einer 
„universellen Wissenschaft oder, genauer gesagt, als dem universellen 
Zugang zum Verstehen jeden gesellschaftlichen Problems“. 

Im Winter 1929/30 spitzte sih das Verhältnis zwischen der 
Akademie und der Regierung wie nie zuvor zu. Am 5. November 
1929 wurde der ständige Sekretär der Akademie, Professor Sergej 
F. Oldenburg, der diesen Posten seit über zwanzig Jahren be- 
kleidete, durch einen Beschluß des Rats der Volkskommissare der 
Sovetunion seines Amtes enthoben. Mit außerordentlihem Geschick 
hatte sich Oldenburg seit 1918 bemüht, die Tätigkeit der Akademie 
allmählich den neuen Verhältnissen anzupassen, ohne ihrem wissen- 
schaftlichen Rufe etwas zu vergeben. Die überraschende Maß- 
nahme der Regierung hatte folgende Vorgeschichte:: ) Am 19. Ok- 
tober war der Kommission des Volkskommissariats der Arbeiter- und 
Bauern-Inspektion, die den Personalstand der Akademie scharf 
revidierte, ) gemeldet worden, daß in einigen Instituten der 
Akademie, z. B. in der Akademie-Bibliothek, im PuSkin-Haus und bei 
der Archäographischen Kommission, Dokumente von politischer Be- 
deutung aufbewahrt würden. Die sofortige Untersuchung bestätigte 
die Anzeige; bei den Archivalien, die in der Akademie ausfindig 
gemacht wurden, handelte es sich in der Hauptsache um Dokumente 
aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie in Rußland, um die 
Protokolle der Zentralausschüsse verschiedener Parteien, das Archiv 
der Presse-Hauptverwaltung u.s.w. Diese Dokumente dürften in den 
ersten Monaten der Revolution in die Akademie in Sicherheit ge- 
bracht worden sein, was niemals ein Geheimnis gewesen ist; 1925 
wurden von der Akademie Akten der sog. Dritten Abteilung der 
Höchsteigenen Kanzlei und des Polizeidepartements „in beträcht- 
licher Menge“ an die Archivverwaltung abgegeben. V. Maksa- 
kov erwähnte die Ablieferung 1927 in der russischen Archivalischen 
Zeitschrift „Archivnoe delo“ und gab zugleich der Vermutung Aus- 
druck, daß sich noch weitere derartige Akten bei der Akademie be- 
fänden.“ ) Das erstaunlichste an der Auffindung der längst in der 
Akademie vermuteten, wie es nun hieß: von der Akademie verheim- 


epocha) und zur Geschichte der Städte im 17. und 18. Jahrhundert veröffentlichen 
und Materialien für ein Vörterbuch zur Geschichte der Technologie in Rußland 
bis zur industriellen Revolution sammeln. Als erster Band einer neuen Serie 
„Materialy po istorii ekonomiteskogo razvitija Rossii“ (pod obščej red. M. N. 
Pokrovskogo) ist angekündigt: „Krepostnaja manufaktura v Rossii‘: 
I. Materialy po istorii tul’skich i kalirskich Zeleznych zavodov (1647—1690 gg.), 
pod red. B. GrekovaiS. Tomsinskogo. 

314) Obščestv. nauki v SSSR. za 10 let: Vestnik Komakad. 26 (1928), 24. 


214) Vgl. Pravda Nr. 258/4392 v. 6. Nov. 1929; weitere Einzelheiten in 
meinem Bericht über das russische Archivwesen, Archival. Ztschr. 1930. 

214b) Die Zahl der Hilfskräfte, die durch die „Säuberung“ aus dem Dienste 
der Akademie entfernt wurden, ging in die Hunderte: Pravda Nr. 284/4418 v. 
4. Dez. und Izvestija Nr. 300/3836 v. 20. Dez. 1929. 


314c) Archivnoe Delo 18 S. 86 Anm. 1. 


138 


lichten Dokumente bleibt, daß die Regierung nicht längst eingegriffen 
hatte, um Klarheit über die bei der Akademie deponierten Akten- 
bestände zu schaffen. 

Die Archive der Sovetunion haben, — so ist es in den letzten 
Jahren unzählige Male ausgesprochen worden, — die Aufgabe, 
Waffen für den politischen Kampf zu liefern; daher war es leicht, die 
Nichtanmeldung von Dokumenten zur Geschichte Rußlands in den 
letzten Jahren des Carismus, die im Grunde nur ein historisches 
Interesse besitzen, zu einem politischen Vergehen zu stempeln. 
Außer Oldenburg wurde der Historiker S. F. Platonov, der 
Präsident der Archäographischen Kommission und Direktor der 
Akademie-Bibliothek und des Pugkin-Hauses, seiner Funktionen ent- 
hoben. In Versammlungen „wissenschaftlicher Arbeiter“ und ın der 
Sovet-Presse knüpfte an diese Vorgänge eine lebhafte Agitation für 
eine völlige Umgestaltung der Akademie an. Die Revisionskommission 
beanstandete die wissenschaftliche Qualifikation und die soziale Her- 
kunft zahlreicher Hilfskräfte der Akademie. 0 

Um die Jahreswende wurde die in den letzten Jahren von kom- 
munistischer Seite so häufig geforderte radikale „Reorganisation der 
Akademie eingeleitet. Da im Statut von 1927 die besonderen Auf- 
gaben der Akademie in der „Periode des Aufbaus“ nicht berücksichtigt 
seien, wurde im Februar 1930 zur Ausarbeitung eines neuen Statuts 
eine besondere Kommission gebildet, in der die Akademie, der 
Oberste Volkswirtschaftsrat, die Plankommission, die Kommunisti- 
sche Akademie und das Komitee für wissenschaftliche Angelegen- 
heiten beim Zentral- Exekutivkomitee der Sovetunion vertreten 
waren. Der Entwurf zum neuen Statut stammt von den Aka- 
demikern Bucharin und Deborin. ““) Der am 1. März als 
Nachfolger Oldenburgs zum ständigen Sekretär der Akademie ge- 
wählte marxistische Historiker V. P. Volgin erklärte am 
18. März, % das neue Statut werde sich u. a. vom ‘alten vor allem 
dadurch unterscheiden, daß bei Neuwahlen neben der rein wissen- 
schaftlichen Qualifikation des Kandidaten seine Mitwirkung an der 
sozialistischen Umgestaltung des Landes durch seine wissenschaftlichen 
Arbeiten ein Kriterium bilden werde; Mitglieder der Akademie 
könnten künftig nur Gelehrte werden, die zur revolutionären Be- 
wegung des Proletariats nicht feindlich eingestellt seien. 

Ein Übereinkommen, das Anfang März zwischen der Unions- 
Akademie in Leningrad, der Allukrainischen Akademie der Wissen- 


3144) Vgl. z. B. Izvestija Nr. 266, 269, 271, 282, 284 von 1929, Nr. 5 von 

1980; Pravda Nr. 266, 269, 271, 284 von 1929. — Ju. Figat ner, Proverka 

ta Akademii Nauk: „VARNITSO“ (Organ Vsesojuznoj Associacii Rabot- 

ov Nauki i Techniki dlja sodejstvija socialisti¢eskomu stroitel’stvu SSSR) 1980 
Nr. 2. 


314e) Leningradskaja Pravda Nr. 59/4488 v. 1. März 1930; s. ebda. Nr. 96/4475 
v. 7. April 1980: Zadali rekonstrukcii naučnoj raboty. Doklad. tov. Bucharina 
v Akademii Nauk. 


216!) Izvestija Nr. 78/8925 v. 20. März 1990. 


139 


schaften in Kiev und der Weißrussischen Akademie der Wissen- 
schaften in Minsk geschlossen wurde, sieht eine planmäßige Reorgani- 
sation der Akademien vor, die ihre Tätigkeit in Übereinstimmung 
und die wissenschaftliche Forschungsarbeit der Akademien mit den 
aktuellen Fragen des sozialistischen Aufbaus in Verbindung bringen 
soll; die Akademien der Wissenschaften und die Kommunistische 


Akademie sollen organisch miteinander verbunden werden..) 


Es läßt sich zurzeit nicht übersehen, wie die tiefgreifenden 
organisatorischen Veränderungen in der Leningrader Akademie auf 
ihre fernere historische Arbeit und Publikationstätigkeit zurück- 
wirken werden. 

Aus einer Rede A. I. Rykovs in einer Versammlung wissen- 
schaftlicher Arbeiter am 16. Februar 1930**") erfuhr man, daß die 
Regierung Beweise dafür zu haben glaubt, daß es in der Unions- 
Akademie einen konstitutionell-monarchistischen Kreis gegeben habe, 
und daß S. F. Platonov beschuldigt wird, eine Thronkandidatur 
des Großfürsten Andrej Vladimirovič propagiert zu haben. Die von 
Rykov verlesene Ee Aussage des Professors S. V. RoZdest- 
venskij, eines Schiilers von Parona und wissenschaftlichen Be- 
amten („Mitarbeiters“) der Akademie, über derartige müßige 
Kombinationen einer politisch völlig einflußlosen Gruppe von Ge- 
lehrten, die überdies von der „Sovet-Offentlichkeit“ seit langem arg- 
wöhnisch beobachtet wird, und die Anklage gegen den hoch ange- 
sehenen betagten und kränklichen Führer der nichtmarxistischen 
Historiker, der niemals in seinem Leben eine aktive politische Rolle 
gespielt hat, muß sehr ernst genommen werden. 


Die Begründung des kommunistischen Historischen Instituts. 


In den Jahren 1927 und 1928 — im Kampf um Petrulevskij — 
verdichtete sich die Opposition der marxistischen Kreise gegen das 
historische Ranion-Institut immer stärker zu der Forderung, dem 
Institut ein eigenes marxistisches wissenschaftliches Forschungsinstitut 
für Geschichte zur Seite oder vielmehr entgegen zu stellen. Die Not- 
wendigkeit eines kommunistischen Historischen Instituts als unum- 
gänglicher Voraussetzung für eine systematische wissenschaftliche 
Forschungsarbeit der Gesellschaft und für die Sicherung eines streng 
und rein marxistischen Nachwuchses“) zu erweisen, zog der Sekretär 


2148) Izvestija Nr. 68/3910 v. 5. März 1980. 

214h) Zadaci inZenerno-technileskich i nauénych sil v period socialistiteskoj 
rekonstrukcii: Izvestija Nr. 50 (8897) und Pravda Nr. 50 (4495) v. 20. Febr. 1980. 

218) Die Sorge um den wissenschaftlichen Nachwuchs aus Kreisen der Partei 
beschäftigte nach der II. Gesamtunionskonferenz der marxistisch-leninistischen 
Forschungseinrichtungen im März 1929 wiederholt das Zentralexekutivkomitee 
der Parteı und führte zu entsprechenden Entschließungen; vgl.: O meroprijatijach 
po ukrepleniju naučnoj raboty: Pravda Nr. 158 (4292) v. 18. Juli 1929; 
N. Zimin, Nauönye kadry partii: Izvestija Nr. 157 (8608) v. 12. Juli 1929; 
O nautnych kadrach VKP (b): Pravda Nr. 189 (4823) v. 18. Aug. 1920; die 
letztere Entschließung forderte zur Erhöhung der Qualifikation der kommu- 


140 


der Gesellschaft, Gorin, bereits in der Eröffnungssitzung des 
Moskauer Historikertags alle Register. Dem Berichterstatter schwebte 
in letzter Vollendung eine „Akademie für marxistische Geschichts- 
wissenschaft“ als ein Gegenstück zur Leningrader Akademie für Ge- 
schichte der materiellen Kultur vor.“) Im Falle der Nicht- 
begründung des Instituts für Geschichte werde sich die Gesellschaft 
nicht als lebensfähig erweisen.) 

Den Zweck des Instituts hat Pokrovskij in einem Vergleich 
am Schluß seiner bereits erwähnten Eröffnungsansprache vor dem 
Moskauer Historikerkongreß folgendermaßen umschrieben: „Wenn 
wir für den Kriegsfall Flugzeuge, Tanks und Maschinengewehre 
rüsten, wenn es bei uns Militärakademien und ielle Einrichtungen 
gibt, die der Unterweisung in dieser Technik dienen, so müssen wir 
auch für den „friedlichen“ Kampf auf der ideologischen Front ent- 
sprechend anleitende wissenschaftlich? Einrichtungen schaffen und die 
einzige wissenschaftliche Methode zur Erklärung der Geschichte, über 
die nur wir, wir Marxisten, verfügen, mit der entsprechenden wissen- 
schaftlichen Apparatur waffnen.) In seinem Rückblick auf die 
Konferenz unterstrich Pokrovskij die Forderung eines kommunisti- 
schen Historischen Instituts als einen der wichtigsten Beschlüsse der 
Tagung, mit dem die marxistische Historikerschaft den Willen zu 
streng wissenschaftlicher Forschung neben der Popularisierungsarbeit 
bekundete: „Es ist Zeit, daß die wissenschaftliche Forschungsarbeit 
des Leninismus auf dem Gebiete der Geschichte bei uns die Formen 
annimmt, die zu dem Lande passen, wo die Diktatur des Proletariats 
herrscht und der Leninismus als die einzige annehmbare Ideologie für 
die weitesten Kreise erscheint..) 

Das Präsidium der Kommunistischen Akademie beschloß dem- 
entsprechend im Frühjahr 1929, bei der Akademie ein Institut für 


nistischen wissenschaftlichen Arbeiter u. a. neben Kommandierungen ins Aus- 
land den weiteren Ausbau der wissenschaftlichen Kommandos im Inland, be- 
sonders aus der Provinz nach Moskau zur Arbeit in den marxistisch-leninistischen 
Einrichtungen der Union, vor allem im Marx-Engels- Institut, im Lenin - Institut 
und in der Kommunistischen Akademie. — Für häufigere Kommandierungen mar- 
xistischer Historiker ins Ausland trat besonders N. Lukin wiederholt ein; vgl. 
seinen Bericht über den Historikerkongreß in Oslo: Pravda Nr. 215 (4047) vom 
15. Oktober 1928 und Istorik-Marxist 5. 1 


10) 11, 222 f.; Trudy I, 24; über die Akademie vgl. N. Marr, Gosud. 
akademija istorii material’noj kul’tury: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 7 S. 285—292 
und die „Mitteilungen“ (Soobl&enija) der Akademie (I, Leningrad 1926; II 1929). 

217) Unter den Gründen, die dazu drängten, eine feste Basis für die kom- 
munistische historische Forschungsarbeit zu schaffen, führte Gorin u. a. an: 
„In unserer Zeit tritt die nichtmarxistische Geschichtswissenschaft häufig 
unter der Flagge formaler Anerkennung des Marxismus auf und verlangt 
daher von dem marxistischen Historiker neben der marxistischen Methode noch 
eine sehr beträchtliche Summe von Kenntnissen. Sich lediglich auf die Methode des 
Marxismus beschränken ohne . Tatsachenkenntnis und ohne die „Technik“ 
der historischen Forschung geht in jetziger Zeit nicht mehr an.“ (11, 219.) — Vgl. 
auch die Rede Pokrovskijs, Anl. 2 (S. 197). 

318) 11, 218. 

210) 11, 6. 


141 


Geschichte (Naučno - issledovatel’skij Institut istorii SSSR pri 
Komakademii) als Zentrum der marxistischen historischen Forschung 
in der Union zu begriinden. Es wurde Vorsorge getroffen, das 
Institut eng mit der Arbeit der Gesellschaft der marxistischen 
Historiker zu verkniipfen; in ihm sollten diejenigen Einrichtungen 
der Akademie, die bisher schon historisch arbeiteten, aufgehen, in 
erster Linie die Sektion fiir Methode und Methodologie der Ge- 
schichte (Sekcija metodiki i metodologii istorii),”) zu der 1928 die 
Sektionen für Geschichte der revolutionären Bewegung (Sekcija istorii 
revoljuc. dviZenija) und die methodologisch-soziologische Sektion 
vereinigt worden war. Auch eine Verschmelzung des Ranion-Insti- 
tuts für Geschichte mit der Neugründung wurde ins Auge gefaßt. 
Die „Aspirantur“, d. h. die Vorbereitung des wissenschaftlichen Nach- 
wuchses für Hochschulen und wissenschaftliche Forschungsstätten, die 
bisher zu den Kompetenzen des Ranion-Instituts gehörte, sollte an 
die Neugründung übergehen.“) 

Die Offentlichkeit wurde auf den Beschluß des Präsidiums der 
Kommunistischen Akademie, ihr ein Institut für Geschichte anzu- 
gliedern, nachdrücklich aufmerksam gemacht: ein Artikel von 
Pokrovskij selbst, dem präsumptiven Direktor des neuen Instituts, 
kennzeichnete wenige Tage später in der „Pravda“ ) Ver- 
öffentlichungen zweier Mitglieder des Ranion- Instituts für Ge- 
schichte, der Professoren S. B. Veselovskij”) und 
P. F. PreobraZenskij,”) und eines Mitarbeiters der ersten 


220) Vgl. Vestnik Komakad. 31 — 1929 Nr. 1 S. 289. — Die Sektion trat 
1928 zum Cerny3evskij-Jubiläum mit einer fünfbändigen Auswahl aus Cerny$evskijs 
Werken hervor; der erste Band (Historische Schriften) bringt den berühmten Auf- 
ruf an die herrschaftlichen Bauern (,,Barskim krest’janam“) zum ersten Male in 
der originalen, unverkürzten Fassung; vgl. Vestnik Komakad. 80 — 1928 Nr. 6 
S. 262; Istorik-Marxist 8, 244. 

221) Izvestija Nr. 60 (8596) v. 14. März 1929. 


222) O naucno-issledovatel’skoj rabote istorikov: Pravda Nr. 68 (4197) vom 
17. März 1929; s. dazu auch M. Pokrovskij, Vse o tom Ze, no neskol’ko drugimi 
slovami: Pravda Nr. 112 (4246) v. 19. Mai 1929. 

233) Veselovskij, K voprosu o proischo2denii vottinnogo režima 
(Mosk. 1926). 

234) Preobraženskij, Tertullian i Rim; vgl. V. Sergeev, Krizis 
anti¢nogo mira i christianskaja cerkov’: Istorik-Marxist 6 (1927), 227—286 (zurück- 
haltend anerkennend); N. I. Deratani: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2. S. 149 f. 

Als sich Preobraženskij in einer Einsendung an die Redaktion der 
„Pravda“ gegen die wissenschaftliche Disqualifikation und öffentliche Diffamierung 
verwahrte, ließ Pokrovskijs Entgegnung an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: 
„Man kann der ehrlichste Spezialist in Sovetdiensten sein, kann aufrichtig und 
eifrig, ohne jede Täuschung für den Sovetstaat arbeiten, ohne dabei Marxist zu 
scin: das sind zwei völlig verschiedene Qualifikationen. Wir können die Ver- 
dienste dieses oder jenes ehrlichen Spezialisten hoch schätzen, aber daraus folgt 
keineswegs, daß wir verpflichtet sind, die Erziehung der künftigen Historiker 
Nicht-Marxisten anzuvertrauen. Professor Preobraženskij wie auch einige seiner 
Kollegen haben — von allem Sonstigen abgesehen — bis jetzt nicht Begriffen; 
daß in der Wissenschaft die ideologische Frage eine politische Frage ist. Wer an 
unserer Ideologie zu rütteln sucht, ist unser politischer Feind .. .“ Pravda Nr. 84 
(4218) v. 12. April 1929: P. Preobraženskij, Pismo v redakciju. — M. 


142 


Kategorie (N. Drukinin) *) in auffallend scharfer Weise. als 
nichtmarxistische Forschungen.“) Diese Beispiele sollten vor 
der Offentlichkeit die jedem marxistischen Historiker bereits ins 
Bewußtsein gehämmerte Notwendigkeit eines eigenen Historischen 
Instituts für die Ausbildung kommunistischer Historiker noch 
schärfer beweisen.“) Indem er an eine bereits angeführte Äußerung 
Lenins“) — über den Aufbau des Kommunismus im Anfang mit 
Hilfe von Nichtkommunisten — erinnerte, schloß Pokrovskij seinen 
Artikel mit einer seiner typischen Lenin-Interpretationen: Lenin habe 
so gesprochen, als wir noch nicht genug eigene Hände hatten. „Und 
der große Dialektiker würde uns Dummköpfe schelten, wenn er 
sähe, daß wir jetzt, wo wir eigene Hände haben, sie nicht aus der 
Tasche nehmen und die Arbeit fremden Händen überlassen. . .“ 

Die Regierung sanktionierte den Beschluß des Präsidiums der 
Kommunistischen Akademie und bestätigte im April das Kollegium 
des neuen Instituts, — außer M. N. Pokrovskij, als Direktor, 
N. N. Vanag, V.P. Volgin, P. O. Gorin, N. M. Lukin, S. M. Monosov, 
S. A. Piontkovskij, M. A. Savel’ev, A. D. Udal’cov und C. Fried- 
land. Im Institut waren vier Sektionen vorgesehen: für die Geschichte 
der Völker der UdSSR; für die Geschichte Westeuropas und 
Amerikas; für Geschichte des Orients; ferner eine Sektion für 
Soziologie.) 

Das Institut wurde im November 1929 eröffnet. Vom Ranion- 
Institut für Geschichte, das in dem neuen Institut aufging, wurden 
45 Personen übernommen; 13 Aspiranten wurden neu aufgenommen. 
Der Aufbau des Instituts entfernte sich etwas von dem ursprüng- 
lichen Plan, indem zunächst Sektionen für Methodologie der Ge- 
schichte, für die Geschichte des Industriekapitalismus, für Soziologie, 


Pokrovskij, Otvet prof. Preobrakenskomu. — In den „Izvestija“ vom 
26. März 1980 (Nr. 84/8081) griff F. Teslenko von neuem Preobraženskij, 
dem er absprechende Außerungen gegen Engels vorwarf, in schärfster Weise an; 
Pr. verwahrte sich dagegen in einer Zuschrift an die Redaktion (abgedruckt in 
We bc v. 4. April), Teslenko behielt das letzte Wort (Nr. 98/3945 v. 
. April). 

338) N. M. Družinin, „Zurnal zemlevladel’cev“ (1858—1860 goda.): 
Uden. zap. instituta istorii RANION II (1927), 251—810. 


220) Ich halte die Arbeit von Veselovskij, obwohl sich in ihr in der Tat 
von "Klassen" -Analyse keine Spur findet und wirtschaftliche Fragen darin stark 
zurücktreten, für einen wertvollen Beitrag in der Diskussion über die staatsrechts- 


geschichtliche Struktur des Moskauer Rußland. 


41 In die Polemik gegen das RANION- Institut für Geschichte fällt auch 
Friedland Kritik an einer aus dem Kreise der Mitglieder und Mitarbeiter 
des Instituts hervorgegangenen Chrestomathie zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 
Europas in der neueren und neuesten Zeit (Chrestomatija po social’no-ekonomi- 
českoj istorii Evropy v novoe i novejšee vremja, pod red. V. P. Volgina. 1929) 
im Istorik-Marxist 11, 184—187; am Schlusse der Rez. heißt es: „Nach alledem 
ist offenkundig, daß die Konferenz der marxistischen Historiker nicht ohne Grund 
feststellte, daß erst die Heranbildung eigener streng marxistischer Cadres über 
die Zukunft unserer Arbeit entscheiden wird“ (S. 187). 

238) S. 111 f. 

220) Pravda Nr. 98 (4227) v. 26. April 1929. 


10 NF 6 143 


fiir die Geschichte des Proletariats der Sovetunion und fiir die Ge- 
schichte des Orients gebildet wurden. Von der Abteilung fiir die 
Geschichte des Proletariats wurde mit Unterstiitzung des Zentral- 
verbands der Gewerkschaften eine Vierteljahrsschrift fiir die Ge- 
schichte der Arbeiterklasse in der Sovetunion (, Istorija proletariata 
SSSR“) begründet. 

Schon in den wenigen Monaten, die seit der Einweihung des 
Instituts verstrichen sind, ist deutlich geworden, daß das Kollegium 
keine Gelegenheit vorbeigehen läßt, die Offentlichkeit zu beein- 
flussen, indem es sich in der russischen Geschichts wissenschaft sozu- 
sagen oberrichterlihe Funktionen anmaßt. Gleich in der Er- 
öffnungssitzung wurde eine Resolution gefaßt, die die Verheim- 
lichung von Dokumenten in der Akademie der Vissenschaften 
„politische Gegenrevolution und wissenschaftliches Schädlingstum“ 
brandmarkte.”®) Am 26. Januar 1930 übergab das Kollegium des 
Instituts der Presse eine Erklärung zu den bevorstehenden Akademie- 
wahlen. Es habe beschlossen, die Kandidatur des Genossen V ol g i n”) 
zu unterstützen und spreche sich entschieden gegen die Kandidaturen 
Ajnau (Ajnalov), Dovnar-Zapol’skij,”%) Veselov- 
skij und Egorov aus; es werde an das Gelehrte Komitee beim 
Zentral-Exekutivkomitee der Sovetunion eine motivierte Erklärung 
gelangen lassen, warum diese Kandidaturen unerwünscht seien. Es 
sei notwendig, auf einer erweiterten Sitzung des Präsidiums der Kom- 
munistischen Akademie zu erörtern, in welcher Form die Tätigkeit 
der Akademie der Wissenschaften und speziell ihrer kommunistischen 
Mitglieder am besten durch die Offentlichkeit kontrolliert werden 
könne. Auch werde man bei der kommunistischen Fraktion der 
Akademie der Wissenschaften darauf hinwirken, den zweiten 
vakanten Sitz eines Historikers vorläufig nicht zu besetzen, da die 
Kandidaturen nicht befriedigten. ) Zu dieser auffälligen Kund- 
gebung nahm Lunalarskij als Präsident des Gelehrten 


32ta) Otkrytie instituta istorii: Izvestija Nr. 270 (8806) v. 20. Nov. 1929. 
Pokrovskijs Rede bei der Eröffnung des Instituts („Institut istorii i zadali 
istorikov-marksistov“) ist in Heft 14 des „Istorik-Marxist“ gedruckt. 


329b) Über Volgin, der in der Frühjahrssession der Akademie zum Mit- 
glied gewählt wurde: G. Seidel (Zajdel’), V. P. Volgin, kak istorik socializma: 
Izvestiya Nr. 18 (8865) v. 18. Jan. 1980. 

22%) Eine Zuschrift an die „Pravda“ („Protiv Dovnar-Zapol’skogo“) bezeich- 
nete den Historiker als „typischen Professor einer Provinzial-Universität": Nr. 2 
(4468) v. 24. Jan. 1980. 

Im Auftrag des Instituts für turkmenische Kultue (Institue turkmenskoj 
kul’tury) erklärte V. Karpyé in den Izvestija Nr. 25 (8872) v. 26. Jan. 1990: 
„Auf völliges Unverständnis stößt die Aufstellung solcher Kandidaturen zur Aka- 
demie wie die des Prof. Dovnar-Zapol’skij, der — nachdem er gesellschaftlich-politisch 
und wissenschaftlich-methodologisch in Weißrußland Bankrott gemacht hat —, sich 
jezt bemüht umzusatteln (perevooruZit’sja) und sich mit Orientalistik zu be- 
schäftigen, insbesondere mit den Problemen des sovetistischen Mittelasien. 

Volle Unterstützung finden natürlich solche Kandidaturen wie die der Gen. 
Lunalarskij und Volgin.“ 


229d) Izvestija Nr. 25 (3872) v. 26. Jan. 1930. 


144 


Komitees in einer Zuschrift an die „Izvestija“ Stellung:) Das 
Komitee besitze nicht die Kompetenz, bestimmte Kandidaturen ab- 
zuweisen. Kundgebungen wie die des Instituts würden durch die 
gemischten Kommissionen aus Vertretern der Republiken und der 
Akademie der Wissenschaften zur Kenntnis genommen und auch 
durch die wählenden Akademiker selbst. Zugleich gab er bekannt, 
daß in der Frage des vakanten Sitzes das Präsidium der Akademie 
im Sinne des Wunsches des Instituts für Geschichte 
entschieden habe. 

Als im Februar 1930 M. Javor$kyj, der bis dahin als Führer 
der ukrainischen marxistischen Geschichtswissenschaft gegolten hatte, 
aus der Partei ausgeschlossen wurde, nahm das Kollegium des Instituts 
öffentlich zum „Fall aad Stellung und gab den ukrainischen 
Historikern die Richtlinie für die neue Periode ihrer Arbeit.“ ) 


Ukraine. 

Zentren der marxistischen historischen Arbeit in der Ukraine 
sind das 1923/24 gegründete Ukrainische Institut für Marxismus und 
Leninismus in Char’kiv”®) und das marxistisch - leninistische 
„Forschungskatheder“ bei der Ukrainischen Akademie der Wissen- 

aften in Kiiv (Nauéno-issledovatel’skaja kafedra marksizma- 
leninizma pri Ukrainskoj Akademii Nauk), mit dem eine Kommission 
für Geschichte der Partei verbunden ist und das Sektionen für die 
Ukraine und den Westen besitzt;“) außerdem die ukrainische Ist- 


320e) Ulenyj komitet pri CIK = Komitet zavedyvaniju utenymi i 
uebnymi učreždenijami CIK SSSR. | = we SE? 


230!) Nr. 83 (8880) v. 8. Februar 1980. 


30g) Siehe Anlage 5. Vgl. dazu die reichlich spi 


i dte Entgegnung des 
Sekretärs des Zentralkomitees der Kommunist. Partei der Ukraine, S. Kosior, 


in der „Pravda“ Nr. 95 7 v. 6. April 1980 und: „Ob Javorščine“. Rezoljucija, 
prinjataja sobraniem partkollektiva Ukrainskogo Instituta Marksizma-Leninizma, 
in den „Izvestija“ Nr. 101/3948 v. 12. April 1980. 

320b) Vgl. Javorskj: Vestnik Komakad. 26 — 1928 H. 2 S. 272 f.; ders. 
Ukrainskij institut marksizma (Char’kov): Istorik-Marxist 11, 224; Skrypnik 
Ukrainskij institut marksizma i leninizma: Vestnik Komakad. 27 = 1928 H. $ 


S. 808—311; J. Osersky, Organisation und Stand der wissenschaftlichen Arbeit 
in der Ukraine: Osteuropa 4 (1928—29), 229. 


2330) Vgl. Levik, Kievskaja marksistsko - leninskaja kafedra: Vestnik 
Komakad. 27 — 1928 H. 8 S. 811—316; als Levik in seinem Bericht vor der 
I. Konferenz der marxistisch- leninistischen Forschungseinrichtungen erklärte, die 
marxistischen Kreise der Ukraine betrachteten die Art dieses Katheders, seine Ver- 
bindung mit der Ukrainishen Akademie der Wissenschaften, als eine besondere 
Form des Kampfes und als geeignetes Mittel, sich in der Akademie einzunisten, 
konnte Rjazanov ob solcher naiver Offenherzigkeiten den Zwischenruf: „Ein 
schlaues Volk!“ nicht unterdrücken; das trug ihm von Pokrovskij (als Vor- 


sitzenden der Versammlung) eine Rüge ein: „Ich bitte, sich nationalistischer Be- 
merkungen zu enthalten!“ (S. 812). 


‚Im Sommer 1929 wurde der marxistische Einfluß in der Ukrainishen Aka- 
demie der Wissenschaften durch einen „Pairsschub“, der ein Gegenstück zur Lenin- 
rader Akademiewahl bildete, beträchtlich verstärkt; zu den am 29. Juni d. J. 
inzugewählten 84 neuen Mitgliedern. gehörte im Cyklus der historischen Wissen- 


145 


art-Organisation mit Filialen in Char’kiv, Kiiv und Odessa, die seit 
3 ein eigenes Organ: „Litopis revoljucii“, Zurnal istparta 
CK KP(b)U herausgibt. 

Im Char kiver Institut, das eine Zeitschrift „Prapor Marksizmu“ 
(Fahne des Marxismus) erscheinen läßt, entwickelten die historische 
Abteilung mit drei historischen Lehrstühlen (für die Geschichte der 
Ukraine, die Geschichte des Westens und die Geschichte der Partei 
und der Oktoberrevolution), ferner der Lehrstuhl für Soziologie (mit 
Kommissionen für den historischen Materialismus und für die Ge- 
schichte der „bürgerlichen Soziologie“, — gemeint ist die Geschichts- 
auffassung Hrusevsky js) und ein besonderes Katheder für die 
ukrainische Nationalfrage eine rege Tätigkeit. M. Ja vor Sky j, 
der Inhaber des Katheders für die Geschichte der Ukraine, machte 
die größten Anstrengungen, an Stelle HruSevSkyjs „genetischer Ge- 
schichte“ — einer Periodisierung, die eine völlig eigene, vom 
„Klassen“ standpunkt unberührte historische nationale Entwicklung 
des ukrainischen Volkes konstruierte —, einem eigenen „marxisti- 
schen Schema“ der ukrainischen Geschichte Geltung zu verschaffen.“) 
Von den marxistischen Historikern der Ukraine, die seit dem De- 
zember 1928 in der „Ukrainischen Gesellschaft der marxistischen 
Historiker“ (Ukrains ke tovaristvo Istorik-Marksist) zusammen- 
geschlossen ne) hat in den letzten Jahren keiner einen Beitrag 
zur marxistischen historischen Arbeit in der Sovetunion geliefert, der 
über die Grenzen der Ukraine hinaus Beachtung verdient hätte.“) 


schaften M. Ja. Javorskyj, der Wortführer der ukrainischen marxistischen 
Geschichts wissenschaft in Berlin und Oslo 1928 (vgl. Osteuropa 4 (1928—29), 684 
und 815 f.); am 30. November wurde Javorskyj zum Mitglied des Präsidiums der 
Akademie gewählt. 


231) Die Stellung, die Javorskyj der Dekabristenbewegung in der ukrainischen 
Geschichte zuweist, wurde von J. Lossky („Neuere ukrainische wissenschaftliche 
een zum Dekabristenaufstande‘) in diesen Jahrbüchern N.F. V. (1929), S. 401 
gestreift. 


232) Bei der Gesellschaft besteht eine Kommission zur Erforschung der West- 
ukraine, die Veröffentlichungen über die revolutionären Bewegungen in Galizien 
1848 und 1918—19 vorbereitet: Vestnik Komakad. 27 — 1928 H. 8 S. 307. 


233) In dieser Hinsicht ist das völlige Fehlen von Besprechungen über aus- 
gesprochen marxistische ukrainische historische Publikationen in den elf Heften 
des „Istorik-Marxist“ vielsagend. Daß von der außerordentlich umfangreichen und 
vielseitigen, international anerkannten (HruSevSkyj-Festschrift!) Editionstätigkeit 
der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in dem Moskauer marxistischen 
Organ fast keine Notiz genommen wurde — eine Ausnahme bildet I. Trockijs 
Anzeige der durch Heranziehung orientalischer Quellen und archäologischen und 
linguistischen Beweismaterials bemerkenswerten Untersuchung von Pavlo Smir- 
nov, Volz’kij šljach i starodavni Rusi (Der Volgaweg und die alten Russen). Narisi 
z ruSkoi istorii VI—IX vv. = Ukrains’ka Akademija Nauk. Zbirnik istori¢no- 
filologitnogo viddilu Nr. 75 (1928): 10, 244—246 — ist weniger erstaunlich, als 
daß Javorskyj in seinem Vortrag über „die Ergebnisse der ukrainischen Geschichts- 
forschung in den EE 1917—1927” in Berlin und Oslo 1928 sich auf die Mit- 
teilung der von ihm sehr überschätzten marxistischen „Ergebnisse“ beschränkte. 
Die notwendigen Ergänzungen über die nicht marxistisch orientierte ukrainische 
Forschung, — mit der Javorskyj auf der Moskauer Konferenz in seinem Vortrag 


146 


Die Moskauer Historikerkonferenz erhielt fiir das Verhältnis der 
„großrussischen“ und der „ ukrainischen“ marxistischen Forschung be- 
sondere Bedeutung dadurch, daß Pokrovskij die Ukrainer nachdrück- 
lich auf die Gefahren einer „klassovo-nacional'nyj metod“, auf die 
Entstellung des Klassenkampfschemas durch allzustarkes Hineinziehen 
nationaler (bzw. ethnographischer) Gesichtspunkte hinwies;™*) er 
machte die größten Anstrengungen, die Gefahren des Nationalismus 
für die Geschlossenheit der marxistischen Historiker-Phalanx zu 
bannen: angesichts der einheitlichen Front der „istoriko-kontra- 
revoljucionery“ beschwor er die Versammlung, eine feste und ein- 
heitliche Front der russischen und ukrainischen Historiker zu bilden 
und sofern man von ukrainischen, weißrussischen u. dgl. Traditionen 
und Ambitionen sprechen könne, diese eine Zeitlang zurückzu- 
stellen. 


Unter diesen Umständen bekundete die Zusammenstellung einer 
starken, demonstrativ aus den aktivsten Mitgliedern der Gesellschaft 
zusammengesetzten offiziellen Delegation des Moskauer marxisti- 
schen Historikerkreises für eine geplante ukrainische Historiker- 
konferenz) den Willen der „Zentrale“, den nationalistischen Ein- 


über die „antimarxistischen Strömungen in der ukrainischen historischen Literatur 
von heute“ (s. oben S. 127) abrechnete —, bieten: D. Dorolen ko, Ukrainian 
historiography since 1914: The Slavonic Review Bd. III (1925), 288—289; ders., 
„Die Entwicklung der ukrainischen Geschichtsidee vom Ende des 18. Jahrhunderts 
bis zur enwart™ in diesen Jahrbüchern N.F. IV (1928), 868—879; ders., 
Die Entwicklung der Geschichtsforschung in der Sowjetukraine in den letzten 
Jahren: Mitteilungen des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin H. 2 
(1928), 85—56; R. Smal’-Stockyj, The Centres of Ukrainian Learning: 
The Slav. Rev. II (1928), 558—566; I. Krypiskie vy, Létat actuel de histo- 
riographie ukrainienne: Conférence des historiens des états de l'Europe Orientale 
et du Monde Slave, II (Varsovie 1928), 100—114; O. Hermajze, Die ukrai- 
nische Geschichtswissenschaft in der USSR: Slavische Rundschau 1 (1929), 368 
bis 866; ders. (Germajze), Ukrainsk. istor. nauka 1917—1927, in den ,,Studii z 
istorii Ukraini naukovo-doslidéoi katedri istorii Ukraini v Kiivi, Bd. II (Vseukr. 
Akad. Nauk. 1929). — Vgl. auch J. Osersky, Organisation und Stand der 
wissenschaftlichen Arbeit in der inet Osteuropa 4 Sie 223—226; 
O. Kolo da, Die Allukrainische Akademie der Wissenschaften: Das Neue Ruß- 
land 6. Jg. (1929), H. 1 S. 20—22. — V. Klinger, Z martyrologji nauki w 
Rosyi (die Tragödie Sterbakivskij): Przeglad Wspölczesny 6. Jg. Bd. 23 (1927) 
56—64; M. Pakul, Vsevitnja istorija na Ukraini za 1917—1928 r.: Prapor 
Marksizmu 1929 Nr. 2 S. 184—206. 

Über den Antrag HruSevékyjs, in Leningrad ein Ukrainisches histo- 
risches Institut bei der Akademie der Wissenschaften der Sovetunion zu begründen, 
s. oben S. 186. 


ss.) 11, 8f. 
235) Vgl. den Bericht über den Historikertag in der Pravda Nr. 8 (4137) 
v. 4. Jan. 1929. Über nationalistische Tendenzen, die in die Beratung der künf- 


tigen Organisation der Gesellschaft der marxistischen Historiker hineinspielten, 
s. Evg. Krivoleins in den Izvestija Nr. 9 (3545) v. 11. Jan. 1929. 


3%) Aufruf zum Ukrainischen Historikerkongreß: Litopis revoljucii 1929 
Nr. 1. Beilage; Karetnikova, Ustanovka konferencija Ukrains’kogo tova- 
ristva „Istorik-Marksist“: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 1 S. 174. 


147 


flüssen, die den ukrainischen Marxismus bedrohen, nach Kräften 
entgegenzuwirken.“ 

Bereits im Februar 1929, fünf Vochen nach der marxistischen 
Historikerkonferenz, hatte P. Gorins Besprechung der „Istorija 
Ukraini v stislomu narisi“ Ja voorSKy js) einen tiefen Gegensatz 
in der marxistischen Historikerschaft enthüllt. Gorin fand, 
Javor$kyj seine Aufgabe von einem „formal-nationalistischen“ an- 
statt vom Klassen-Standpunkt durchgeführt habe, und ging so weit, 
das Buch eine „nicht bolschevistische“ Arbeit zu nennen. Dieser 
Kuß erung kam durch die Persönlichkeit des Rezensenten besonderes 
Gewicht zu, da Gorin als Schriftleiter der Zeitschrift „Proletarskaja 
Revoljucija“ und als „Gelehrter Sekretär“ der Gesellschaft der 
marxistischen Historiker über großen Einfluß verfügt. Schon in 
der Diskussion, die sich an Javorskyjs Vortrag auf der Moskauer 
Konferenz über antimarxistische Richtungen in der ukrainischen 
Geschichts wissenschaft anschloß, hatte Javorskyj vor Gorins Angriff, 
der ihm eine nicht genügend marxistische Formulierung der Ge- 
schichte der Revolution von 1905 in der Ukraine vorhielt, kapitu- 
lieren müssen.““) Während des ganzen Jahres 1929 setzte sich 
Javorskyj gereizt mit seinem unerbirtlichen, ihm dialektisch weit 
überlegenen Kritiker, dem in der Gesellschaft der marxistischen 
Historiker sekundiert wurde, auseinander;*°) er führte einen ver- 
zweifelten Kampf um seine Geltung als marxistischer Historiker, die 
durch ein Trommelfeuer von Anklagen erschüttert wurde. Vor- 
würfe, die in der Campagne gegen Javorskyj immer wiederkehrten, 
waren z. B.: National-Chauvinismus, der für eine nationale „Ab- 
weichung nach Rechts“ von der Parteilinie die historische Begründung 
liefere; Feindschaft gegen die Ideen des Internationalismus; Ver- 
zeichnung der Rolle des Proletariats in der revolutionären Bewegung 
der Ukraine und Fehler in der Beurteilung der Ukrainischen Kom- 
munistischen Partei; Irrtümer in der Einschätzung des ukrainischen 


337) Zu Mitgliedern der Delegation wurden gewählt: M. N. Pokrovskij, 
N. M. Lukin, C. S. Friedland, S. M. Dubrovskij, S. S. Krivcov, Evg. Krivoleina, 
P. O. Gorin, A. M. Pankratova, P. G. Galuzo, P. I. Kulner, D. Ja. Kin, P. I. 
Anatol“ ev: Izvestija Nr. 108 (3639) v. 9. Mai 1929; es handelt sich bei den Ge- 
nannten z. T. um hervorragende Spezialisten — Dubrovskij für die Agrarverhält- 
nisse Rußlands im 20. Jahrhundert, Lukin und Friedland für die Geschichte der 
französischen Revolution, Galuzo für die russische Politik in Mittelasien usw. —, 
deren Namen im „Istorik-Marxist“ und überhaupt in der marxistischen historischen 
Arbeit häufig begegnen. 

238) Pravda Nr. 34 (4168) v. 10. Febr. 1929. 

230) Pravda Nr. 8 (4137) v. 4. Jan. 1929; Trudy I, 467 f. 


240) Diskussion zwischen Javorskyj und Gorin: Prapor Marksizmu 1929 
Nr. 2, S. 207—218 und Nr. 5, S. 227—229; s. auch Ist.-Marxist 12, 884 f. — 
Vgl. ferner T. Sk ubickij, Rez. von Javorskyjs „Istorija Ukraini“: Ist-Marxist 
12, 282—285; im Dezember 1929 hielt Skubickij in der Gesellschaft der marxist. 
Historiker vor der Sektion für die Geschichte der Völker der Sovetunion einen 
Vortrag: „Schema istorii Ukrainy v rabotach Javorskogo.“ Vgl. auch V. 
Suhino-Chomenko, Na marksists’komu istoriènomu fronti: Bil’dovik 
Ukraini Nr. 17—18 (1929), 42—55 und Nr. 19 S. 40—56. 


148 


Kulakentums und der Zentralen Rada; Idealisierung der kleinen Bauern 
im Geiste des Narodniki usw. Die „Irrlehren“ hätte Javorskyj im 
schlimmsten Falle abschwören können, wie er in einzelnen Punkten 
schon früher seine Ansicht revidiert hatte. Es waren im Grunde nicht 
die historischen Streitfragen, die zu Beginn des Jahres 1930 Javorskyjs 
politischer und wissenschaftlicher Laufbahn ein jähes Ende setzten; 
vielmehr führten Feststellungen über seine politische Vergangenheit, 
daß er nach dem Kriege in Galizien im Kampf gegen den 
Bolschevismus in vorderster Reihe gestanden hatte, i der 
„Säuberung“ der Kommunistischen Partei der Ukraine seinen Aus- 
schluß her 2 

Die Tiefe dieses Sturzes ermißt, wer sich erinnert, daß Javorskyj 
es gewesen ist, der vor zwei Jahren in Berlin und Oslo die ukrainische 
marxistische Geschichtswissenschaft repräsentierte, daß er es E 
ist, der auf der marxistischen Historikerkonferenz als Sprecher der 
ukrainischen Delegation Pokrovskij als dem „Schöpfer und Organi- 
sator der einheitlichen ideologischen marxistischen Front in unserer 
Geschichtswissenschaft“ unter tosendem Beifall den Glückwunsch der 
Versammlung zum sechzigsten Geburtstag entbot.“) 


Die marxistische Geschichtswissenschaft der Ukraine, die in den 
nächsten Monaten im Zeichen der Bekämpfung der _,,JavorStina“ 
stehen wird, befindet sich in einer schweren Krise; denn auch ihr be- 
kanntester Vertreter nächst Javorskyj, Professor O. Ju. Germajze, 
der als Historiker beim Katheder für Marxismus der Ukrainischen 
Akademie der Wissenschaften in Kiev arbeitete, wurde bereits vor 
längerer Zeit vom Amte suspendiert und befand sich unter den 
Hauptangeklagten in dem Hochverratsprozeß, der im März 1930 in 
Char’kiv gegen die Mitglieder eines „Bundes zur Befreiung der 
Ukraine“ begann; “) am 19. April wurde er zu zwei Jahren Freiheits- 
entziehung mit strenger Isolierung und Verlust der Rechte verurteilt. 


Die Konferenz für den Unterricht in den marxistischen historischen 
Disziplinen.“ 
Vom 7. bis 9. Februar 1930 veranstaltete die „Sektion für Ge- 


schichte der Kommunistischen Partei und des Leninismus“ der Gesell- 
der marxistischen Historiker eine Beratung über die Behand- 


341) Vgl. A. Seljubskij, Matvej Javorskij — avantjurist: Pravda Nr. 59 
(4504) v. 1. März 1980; P. Gorin, Ob odnoj poutitel’noj biografii: Izv. Nr. 61 
(8908) v. 8. März 1980; M. Skripnik, Pomilki na vipravlenija akademika 
M. Javorskogo: Bil’$ovik Ukraini 1980 Nr. 2. Vgl. auch die bereits oben er- 
wähnte Erklärung des Histor. Instituts der Kommunist. Akademie (Anlage 5). 

343) Trudy I, 75. 

343) Vgl. den Prozeßbericht in der Pravda Nr. 72 (4517) v. 14. März 1930. 

34) Pervoe vsesojuznoe sovelèanie po voprosam prepodavanija Leninizma, 
istorii VKP (b) i Kominterna; vgl. Pravda Nr. 41 (4486) v. 11. Febr. 1930; 
Izvestija Nr. 43 (3890) v. 18. Febr.; Ja. Bronin, Aktual’nye zadali prepo- 
davanija leninizma i istorii partii: Kommunistileskaja revoljucija 1930 Nr. 7; ders., 
K itogam soveitanija po voprosam prepodavanija leninizma, istorii VKP (b) i 


149 


lung der drei nah verwandten parteigeschichtlichen Disziplinen ,,Ge- 
schichte der Kommunistischen Partei (der Bolscheviki)“, „Leninismus“ 
und „Geschichte der Kommunistischen Internationale (= Komintern)“ 
im Unterricht. Um eine klare Linie der „historischen Front“ für die 
Parteigeschichte (,,istoriko-partijnyj front“) herauszuarbeiten, war 
Aufgabe der Referate, die Methoden für die Forshung über Fragen 
des Leninismus und der Parteigeschichte prinzipiell zu klären. Es 
wurden folgende Themen behandelt: 


Dic Aufgaben des Unterrichts in der Geschichte der Partei und im Leninismus 
(E. Jaroslavskij); 


Die Arbeit des Lenin-Instituts (M. A. Savel’ev); 

Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Biographie Lenins (V. V. Adoratskij); 

Der Leninismus als wissenschaftlihe Disziplin und als Unterrichtsgegenstand 
(K. A. Popov); 

Die Geschichte der Partei als Wissenschaft (D. Ja. Kin); 


Der Gegenstand, die Programme und die Methode des Unterrichts tiber dic Ge- 
schichte der Komintern (Bela K u n). 4) 


Viel Mühe wurde darauf verwandt, die Geschichte der Partei, 
d. h. die Geschichte des Bolschevismus in Rußland, als selbständiges 
Fach gegen die Geschichte der Sozialdemokratie überhaupt, die Ge- 
schichte der Arbeiterbewegung und die Geschichte der revolutionären 
Bewegung und des Klassenkampfes abzugrenzen. 


Die Konferenz schlug in Fragen der Theorie des Marxismus die 
schärfste Tonart an, verdammte alle Versuche, in der „Toga der 
Orthodoxie“ den Marxismus-Leninismus opportunistisch zu ver- 
fälschen und bekannte sich unbedingt zu Stalins Definition des 
Leninismus: 

„Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der 
proletarischen Revolutionen. Der Leninismus ist eine geschlossene revolutionäre 
Weltanschauung, die die Gesamtheit der Erscheinungen der Natur und der mensch- 
lichen Gesellschaft umfaßt und die mit ihrer Spitze auf die revolutionäre Um- 
gestaltung dieser Gesellschaft durch das Proletariat gerichtet ist. Als Marxismus 
einer bestimmten Epoche setzt er sich aus drei Bestandteilen zusammen: der 
materialistischen Dialektik und dem historischen Materialismus, der marxistischen 

litischen Okonomie und dem wissenschaftlihen Kommunismus. Der letztere... 
ist nichts anderes als die wissenschaftliche Theorie der proletarischen Revolution 
und der Diktatur des Proletariats. Der Leninismus als besondere wissenschaft- 
liche Disziplin und als besonderer Unterrichtsgegenstand ist die marxistische Lehre 
der Epoche des Imperialismus von der proletarischen Revolution und der Diktatur 
des Proletariats. Oder, mit anderen Vorten: vom Programm der Strategie, Taktik 
und Organisation des Proletariats im Kampf für seine Diktatur und fir die Ver- 


Kominterna: Izvestija Nr. 50 (8897) v. 20. Febr.; D. Kin, K itogam odnogo 
sovestanija: Pravda Nr. 68 (4518) v. 10. März; „Rezoljucija“: Izvestija Nr. 62 
(8909) v. 4. März 1980. 

2044) Vgl: E. Jaroslavskij, Zadati izulenija istorii partii: Prole- 
tarskaja Revoljucija 1980 Nr. 2—8; V. Adoratskij, K voprosu o 
naučnoj biografii V. I. Lenina (ebda.); D. Kin, Istorija partii kak nauka: 
Bjulleten’ zao&no—konsul’tac. otdel. Instituta Krasnoj Professury Nr. 4 (1980), 
47—538; V. Adoratskij, Ob izučenii partii i leninizma: ebd. S. 44—48, 


150 


wirklichung seiner Aufgabe d. h. für die Aufrichtung der kommunistischen Gesell- 
schaft.“ 18) 


Daß die Geschichte der Partei unlösbar mit den Fragen, die heute 
die Partei bewegten, mit dem gegenwärtigen Stande des Kampfes der 
Arbeiterklasse verknüpft sein müsse, bildete ein Axiom in der Aus- 
sprache über die Geschichte der Partei als Vissenschaft. Dem Ein- 
wand, daß die Interessen des aktuellen politischen Kampfes eine 
wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte der Partei, „Objek- 
tivität“ gegenüber parteigeschichtlichen Fragen ausschlössen, be- 
gegnete die Konferenz folgendermaßen: 


„Dieser Einwand ist seinem Wesen nach unbegründet (nesostojatel’no). Die 
Politik der Partei des Proletariats ist errichtet auf dem festen wissenschaftlichen 
Grunde des Marxismus-Leninismus und setzt eine strenge wissenschaftliche Er- 
forschung der Geschichte der Partei voraus, ohne die eine richtige Politik der 
Partei unmöglich ist. Die Partei des Proletariats ist interessiert an der wissenschaft- 
lichsten und an der vollständigen Erforschung ihrer eigenen Geschichte. Zugleich 
d-mit steht die leninistische Geschichte der Partei der bürgerlichen Objektivität 
tern. Indem sie in der Untersuchung den Gesichtspunkt der strengsten Parteilich- 
keit anwendet, der allein eine wirkliche Wissenschaftlichkeit der Untersuchung 
sichert, dient die Geschichte der Partei ihren Kampfaufgaben der Vernichtung des 
Kapitalismus, der Sache des Aufbaus des Sozialismus in unserem Lande und dem 
Kampfe für die internationale Revolution.“ de) 


Mit anderen Worten: Die kommunistischen Historiker haben 
eine leninistische Geschichte der leninistischen Partei zu schreiben.“) 


Die Forschungen über die Geschichte der Komintern sollen 
die Erfahrungen früherer Kämpfe der Komintern zum Eigentum des 
kämpfenden Proletariats der kapitalistischen Länder und der revolu- 
tionären Massen der Kolonien machen, sowie die internationale Er- 


ziehung des Proletariats und der Werktätigen der Sovetunion ver- 
stärken und vertiefen. 


Man fand, „daß die Interessen der Welt-Revolutions-Bewegung 
gebieterisch die Erweiterung des Cadres marxistischer Historiker im 


248) Bronin, K itogam.... 


Der Glückwunsch des Instituts der Roten Professur umschrieb Stalins histo- 
risches Verdienst um die geistige Grundlage des Sovetstaats: „Deine Arbeiten über 
den Leninismus sind ein Beispiel für die marxistisch-leninistische revolutionäre 
Dialektik, ein Beispiel für schöpferischen Marxismus im Unterschied vom dog- 
matischen „Marxismus“, im Unterschied von scholastischen, mechanistischen, quasi- 
marxistischen theoretischen Erklärungen, die den Opportunisten eigentümlich sind. 
Deine Auslegung der leninistischen Lehre von der Diktatur des Proletariats, der 
Lehre vom Klassenkampf, der leninistischen Strategie und Taktik, der leninistischen 
Lehre vom Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus und von 
der Aufrichtung des Sozialismus in einem einzelnen Lande, Deine Arbeiten über 
die nationale Frage sind ein sehr wertvoller Beitrag zur marxistisch-leninistischen 
Wissenschaft.“ Nach der Pravda Nr. 802 (4436) v. 22. Dezbr. 1929. — Vgl. auch 


V. Adoratskij, I. V. Stalin kak teoretik leninizma: Proletarskaja revoljucija 
Nr. 95 = 1929 Nr. 12. 


7) Bronin, K itogam.... 
247) Kin, K itogam.... 


151 


Lande der siegreichen Diktatur erforderten“, und daß die wissen- 
schaftliche Arbeit in den Disziplinen, denen die Arbeit der Konferenz 
galt, intensiviert werden müsse. Daher soll die Abteilung für die 
Geschichte der Partei im „Institut der Roten Professur“ in ein selb- 
ständiges Institut für die Geschichte der Partei (Partijno-istoriteskij 
institut) mit vier Abteilungen: für die Geschichte der Partei, für den 
Leninismus, für die Geschichte der Komintern und für die Organı- 
sation der Partei (partstroitel’stvo) umgestaltet werden. 


Die umfangreiche Resolution der Tagung, die den Gang der Ver- 
handlungen und alle Fragen, die angeschnitten wurden, zusammen- 
faßt, formuliert in zwei Sätzen präzis die Bildungsaufgabe und den 
Inhalt der parteigeschichtlichen Disziplinen folgendermaßen: 


„Unter den Bedingungen der von uns durchlebten Periode des 
entschiedenen Kampfes für die Verwirklichung des Sozialismus er- 
langen Fragen des Unterrichts des Leninismus, der Geschichte der 
VKP(b) und der Komintern eine besonders große politisch- 
erzieherische Bedeutung, indem sie als ein machtvolles Mittel für eine 
bolschevistische Erziehung der proletarischen Massen erscheinen. 
Beim Studium der Geschichte der Partei ist es notwendig, das Haupt- 
augenmerk darauf zu richten, daf ihr Studium den Aufgaben des 
gegenwärtigen Kampfes der Partei diene.“ — „In der nächsten 
Zeit muß die Erforschung und der Unterricht der Geschichte 
der Partei und des Leninismus seine Aufmerksamkeit auf die Fragen 
der leninschen Auffassung der Theorie des Klassenkampfes in 
der Epoche der Übergangsperiode, auf das Problem der „smyčka“ 
des Proletariats und des Bauerntums, auf die leninsche Lehre über die 
Übergangsperiode (Kriegskommunismus, NEP, Aufbauperiode), auf 
das Problem der gegenseitigen Beziehungen der Partei und der Klasse, 
insbesondere in der Periode der Diktatur des Proletariats, 


konzentrieren.“ 
Abgeschlossen April 1930. 


Anlagen*): 1. Das neue Statut des Marx-Engels-Instituts. 


2. Auszug aus der Rede Pokrovskijs bei der Feier seines 60. Ge- 
burtstags. 3. Auszug aus einer Rede Kalinins. 4. Dokumente 
zur I. Marxistischen Historikerkonferenz. 5. Erklärung des 
Kollegiums des Historischen Instituts an der Kommunistischen 
Akademie zum Fall Javorskyj. 6. Resolution der Konferenz für 
den Unterricht in den marxistischen historischen Disziplinen. 


II. 


Die „Gesellschaft der marxistischen Historiker“ und ihr 
Organ „Istorik - Marxist“ 1927—1929. 


Inhaltsübersicht: 

Tätigkeit der Gesellschaft. 

Bericht über den „Istorik-Marxist“: 

Alte russische Geschichte. — Russische Geschichte des 18. Jahrhunderts. — 
18. Jahrhundert. — 20. Jahrhundert (Russischer Kapitalismus und Imperialismus). 
— Geschichte der revolutionären Bewegung und des Klassenkampfes in Rußland 
im 20. Jahrhundert. — Weltkrieg und ‘Intervention. 

Wirtschafts- und Sozialgeschichte. — Orient. 

Zur Geschichte der russischen Geschichtsschreibung. — Zur marxistischen 
Forschung über die Geschichte der französischen Revolution. 

Der „Istorik-Marxist“ als Rezensionsorgan und bibliographisches Hilfsmittel. 


Nur eine Berichterstattung, die in gleicher Ausführlichkeit die 
Publikationstatigkeit der Kommunistischen Akademie,“ ) des Marx- 
Engels- Instituts“ *) und des Lenin- Instituts (einschließl. „Istpart“), 8) 
des „Istprof“, ) der Komintern,“ ) des Revolutionsmuseums der 
Union,“ ) des Centrarchiv RSF SR) und etwa der historischen Ab- 
teilungen des Internationalen Agrarinstituts, “ ) des Instituts der 
Roten Professur“) und der „Gesellschaft der ehemaligen politischen 


338a) Vgl. den „Katalog des Verlages der Kommunistischen Akademie beim 
Zentralen Vollzugskomitee der Sowjetunion“ (Moskau, Volchonka 14), 1928; 
deutsch. (65 S.) 


uo i Vgl. „Institut K. Marksa i F. Engel’sa. Katalog izdanij“. Gosizdat. 1929. 
2) Vgl. „Institut Lenina pri CK VKP(b). Katalog (dan, Gosizdat. 
1929. (60 S.). 

2418) — Komissija istorii prof essional'nogo dviženija v Rossii: 
Kommission für Er ne der Gewerkschaftsbewegung in Rußland; vgl. 
B. Nikolajewsky, Die histor. Literatur in Rußland während der 


Revolution: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 
12 (1926), 29. 


24) Vgl. „Komintern 1919—1929. Katalog knig“. Gosizdat 1929. (72 S.); 
vgl. Anm. 277. 

2838) Vgl. „Muzej revoljucii Sojuza SSR. Sbornik“: I (1927); II (1929); vgl. 
Istorik-Marxist 14, 215—217 (L. Mamet); Archivnoe delo 20 (1929) 27 f. 
(S. I. Mick e vi J). 

248) Vgl. „Centrarchiv RSFSR Katalog izdanij“. Gosizdat 1928. (87 S.). 


2482) Vgl. „Agrar- Probleme“ (Her. vom Internat. Agrarinstitut, Moskau), 
H. 1 (1928), 226 f. über die Arbeiten der im „Kabinett für Landwirtschaft und 
Bauernschaft in der UdSSR“ bestehenden Sektion für die Bauernbewegung im 
vorrevolutionären Rußland; A. K. Dchiveleg ow (Diivelegov), Die Methoden 
des Studiums der Geschichte der Bauernbewegungen: ebenda S. 207—211. 

3468) Vgl. insbesondere die Sammelbände: Russkaja istoriòeskaja literatura 
v klassovom osveščenii. Sbornik statej s predisl. i pod red. M. N. Pokrovs- 
kogo = Trudy instituta krasnoj professury (Mosk. 1927); dazu V. Nevskij 
in Pečat’ i revoljucija 1927 H. 6 S. 152—155. — Ocerki po istorii Oktjabr’skoj 


153 


Strafgefangenen und Verschickten““ ) verfolgte, könnte den An- 
spruch erheben, wenigstens der im Zentrum des Staates und am 
Sitze der Parteileitung geleisteten, offiziell geförderten marxistischen 
historischen Arbeit gerecht zu werden. Bis jetzt ist im Ausland die 
Arbeit der marxistischen Historiker der Sovetunion wenig bekannt; 
die Beschäftigung mit dem Virken der „Gesellschaft der marxisti- 
schen Historiker‘ als der Vereinigung aller Marxisten, die wissen- 
schaftlich als Historiker arbeiten,) und als der „breiten Basis 
für die Propaganda der marxistischen Historiographie“) und die 
kritische Würdigung ihres Organs, des „Istorik-Marxist“, vermag 
einen gewissen Ersatz zu bieten. Im Rahmen der zahlreichen von der 
Kommunistischen Akademie ausgehenden periodischen Veröffent- 
lichungen und Enzyklopädien, *) die das Reservoir marxistischer 
wissenschaftlicher Erkenntnis jeweils für die ihnen entsprechenden 
geistigen Bezirke zum Gebrauch durch die politische Publizistik und 
Propaganda bilden, b) ist die Stellung und Aufgabe der Zeitschrift 
„Istorik-Marxist“ eindeutig und unverrückbar festgelegt: marxistische 
Bearbeitung historischer Fragen, der historischen Methode und der 
Methodik des Geschichtsunterrichts; Kampf für die Reinheit der 
marxistischen Prinzipien, gegen die bürgerliche („idealistische“) Ge- 
schichtsschreibung, gegen Entstellung und Vulgarisierung der histori- 
schen Methode von Marx und Lenin. 

Die letzten Hefte zeugen bereits für die Bemühungen der 
Redaktion, den Lesern der Zeitschrift eine lebendige Anschauung 


revoljucci; pod red. M. N. Pokrovs ko go. Bd. I (1927), dazu P. Gorin: 
8, 153—160. — Ober das Institut der Roten Professur: Wochenbericht 3. Ig. 
Nr. 7/8 (25. Febr. 1927), S. 10 f. 


3478) Vsesojuznoe obStestvo byvlich polititeskich katorinikov i ssyl’no- 
poselencev; Veröffentlihungen: Katorga i ssylka. Istoriko-revoljucionnyj vestnik 
(10. Jg. 1930); „Istoriko-revoljucionnaja biblioteka“ 5 Unter- 
5 Dokumente u. a. Materialien aus der Geschichte der revolut. Ver- 

ngenheit Rußlands; vgl. A. Mühlstein [Milštejn], Is toriko- revoljucionnaja 
iblioteka ob&estva politkatorkan 1929 goda: Kniga i revoljucija 1929 Nr. 24); 
Bio - bibliografiteskij slovar dejatelej revoljucionnogo dviženija v Rossii ot 
predSestvennikov dekabristov do padenija carizma“ (vgl. 4, 240); Publik. zum 
Dekabristenaufstand (vgl. 11, 201) u. a. 


348) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 277. 
240) Friedland: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 2—3 S. 105. 


a) Ihres „Vestnik“ (Bote) und ihrer Fachorgane: „Na agrarnom fronte“ 
der Agrarsektion, „Mirovoe chozjajstvo i mirovaja politika (Weltwirtschaft und 
Weltpolitik) des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik, „Sovetskoe 
gosudarstvo i revoljucija prava“ (Der Rätestaat und die Revolution des Rechts) 
des Instituts für Recht und Sovetaufbau, „Problemy ekonomiki“ der Sektion für 
Wirtschaft, „Estestvoznanie i marksizm“ (Naturwissenschaft und Marxismus) der 
Sektion für exakte und Naturwissenschaft, „Problemy Kitaja“ (Vierteljahrs- 
schrift des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für China an der Kommunist. 
Universität der werktätigen Chinesen), „Istorija proletariata SSSR“ (Vierteljahrs- 
schrift der Sektion zum Studium der Geschichte des Proletariats in der UdSSR am 
Institut für Geschichte). 


249b) Literaturnaja Enciklopedija; Ekonomičeskaja E.; Filosofskaja E.; 
E. gosudarstva i prava; Kratkaja E. meZdunarodnogo 8 viZenija, 


154 


von der gesamten historischen Arbeit im Gebiete der Union, auch der 
nicht marxistisch orientierten Forschertätigkeit, zu vermitteln, — ein 
Bestreben, das der Zeitschrift im Ausland besondere Beachtung sichert. 
Auffallend wenig berücksichtigt ist in allen bisher erschienenen Heften 
die nicht Großrussisch geschriebene Literatur. 


Der äußere Aufstieg der Gesellschaft, die im Zeitraum 1927 bis 
1929 auf so vorzügliche organisatorische Leistungen wie die Veran- 
staltungen zum Pokrovskij-Jubiläum, die Abhaltung der Moskauer 
Historiker-Konferenz und die Begründung des kommunistischen 
Historischen Instituts zurückblicken kann, Bat sich fortgesetzt; am 
Ende des Jahres 1928 zählte sie 345 Mitglieder.“) Die merkwürdige, 
im vorliegenden Falle eindeutige Frage nach der „politischen Sr 
tät“ dieser wissenschaftlichen Gesellschaft wird durch die Feststellung 
beantwortet, daß von den 169 ordentlichen Mitgliedern 136, von den 
176 Korrespondenten 133 zugleich der Kommunistischen Parteı an- 
gehörten; bei dem nicht der Partei angehörenden geringen Mitglieder- 
rest handelte es sich um parteilose Marxisten, ,,die den Marxismus 
voll und ganz, ohne jeglichen Vorbehalt angenommen haben, da der 
Marxismus seiner Natur nach etwas ist, das keinerlei — noch so ge- 
ringe — Vorbehalte zuläßt“.“ 


Die Gliederung der Gesellschaft in Sektionen, von denen jede 
eine Art Sondervereinigung der marxistischen Spezialisten auf be- 
stimmten historischen Arbeitsgebieten vorstellt,) ist gegen 
früher“) etwas geändert. Gegenwärtig bestehen sechs Sektionen: für 
die Geschichte der Partci; die Geschichte Rußlands; die Geschichte 
des Westens und Amerikas; die Geschichte des Orients, 
eine soziologische und eine methodische Sektion.“) Eine Äußerung 
des Präsidiums der Kommunistischen Akademie vom März 1928 auf 
Grund des Tätigkeitsberichts der Gesellschaft“) und der Bericht des 
Sekretärs der Gesellschaft, Gorin, vor dem 1. Marxistischen Histo- 
rikerkongreß im Dezember) lassen erkennen, daß die Tätigkeit der 
Sektionen außer auf die Veranstaltung von Vorträgen und Dis- 
kussionen sich bis dahin auf die Vorbereitung populär-wissenschaft- 
licher historischer und historisch-didaktischer Literatur beschränkte; 
irgend welche von den Sektionen organisierte systematische 
wissenschaftliche Forschungsarbeit lag nicht vor. 


35%) Am 1. Jan. 1926: 29 wirkliche und 11 korrespond. Mitglieder; 1927: 
72 wirkl., 89 korresp. M.; 1928: 109 wirkl., 102 korresp. M.; 1929: 169 wirkl. und 
176 korresp. Mitgl.; vgl. 6, 297; 11, 218. 

351) Gorin 11, 218. 

22) Gorin 11, 220. 

253) Vgl. 8, 245; 4, 273. 

254) 11, 220; 18, 276—281. 

255) 7, 308. 

sse) 11, 218—225; Trudy I, 16—27. — Ders. (Bericht über die Tätigkeit der 
Gesellschaft auf der zweiten Konferenz der Archivarbeiter der RSFSR, Mai 1929): 
Archivnoe Delo 20 (1929), 28 f. 


155 


Uber die von den Sektionen der Gesellschaft ausgearbeiteten 
historischen Lesebücher wurde auf dem Kongreß folgendes bekannt- 
gegeben: Die Lesebücher für die Geschichte der Kommunistischen 
Partei = Knigi dlja &tenija po istorii VKP (b) werden die Geschichte 
der Partei in fünf Teilen behandeln: Bd. I. Die Entstehung der 
Sozialdemokratie in Rußland; II. Bildung des Bolschevismus und des 
Menschevismus; III. Die Partei in der ersten Revolution; IV. Die Partei 
zwischen den Revolutionen; V. Die Partei in der Revolution von 
1917.) — Die Serie der Lesebücher zur russischen Geschichte 
= Kniga dlja Zren po istorii Rossii (unter Redaktion von 
M. N. Pokrovskij) wird gleichfalls fünf Bände umfassen: I. 17. und 
18. Jahrhundert; II. 19. Jahrhundert; III. Das Ende des 19. Jahr- 
hunderts und die Revolution von 1905; IV. Die Jahre der Reaktion 
und des imperialistischen Krieges und die Revolution von 1917; 
V. Der Bürgerkrieg in Rußland.“) — In der Reihe der Sektion für 
Geschichte des Westens (= Kniga dlja &tenija po istorii zapada) sind 
vier Bände vorgesehen: I. Die Epoche des Handelskapitals; II. Die 
Epoche des Industriekapitals; III. Die Epoche des Imperialismus und 
der imperialistische Krieg; IV. Imperialismus und Klassenkampf in 
der Nachkriegszeit;?°*) Jie Sektion bereitet außerdem eine Serie 
populär wissenschaftlicher Broschüren zur neuesten Geschichte des 
Westens (,,Istorija sovremennogo zapada“) vor, in der Bändchen über 
„Versailles und der Völkerbund“, das moderne Deutschland, Frank- 
reich, Italien, England, Amerika, den Fascismus, die Sozialdemokratie 
vorgesehen sind.“) — Die Sektion für Soziologie wird mit einem 
Sammelwerk über die heutigen bürgerlichen und antimarxistischen 
Tendenzen in der Geschichtswissenschaft (, Sovremennye burZuaznye 
i antimarksistskie teòenija v istoriòeskoj nauke“) hervortreten.“ ) 


In ihrer Forschungsarbeit wird die Sektion für die Geschichte 
der Partei sich an andere mit der gleichen Aufgabe betraute 
Forschungsstellen, das Lenin-Institut und die Abteilung für Partei- 

schichte des Instituts der Roten Professur (Istoriko-partijnoe otde- 
enie Instituta Krasnoj Professury), anlehnen können.“) 


Neben den Sektionen arbeiten wissenschaftlich zwei Kom- 
missionen: 1. Eine Kommission zur Erforschung der bewaffneten 
Aufstände und Revolutionskriege (Kom. po izuéeniju voorubennych 
vosstanij i revoljucionnych vojn) widmet sich mit Vorliebe der 
historischen und militärtechnischen Untersuchung von Vorgängen aus 
der jüngsten Vergangenheit, z. B. dem Spartacus-Aufstand 1919, dem 
Umsturz in Bulgarıen 1923, den Hamburger Unruhen 1923, dem 


257) 11, 220. 

258) 11, 221; s. auch 8, 244. 
25%) ebda. 

260) 6, 298. 

261) 11, 221. 

262) 11, 220. 


Staatsstreich Pilsudskis 1926.2) Die partei-taktische Aufgabe dieser 
historischen Kommission, die als Zelle einer besonderen Sektion für 
Kriegswissenschaften (Voennaja teorija) an der Kommunistischen 
Akademie anzusehen ist,) darf nicht außer Acht bleiben; bei Er- 
wähnung eines Aufsatzes von N. Cuk ak über die Arbeit der 
Bolscheviki in der Armee wies der Rezensent im „Istorik-Marxist“ 
darauf hin, welche Bedeutung die wissenschaftliche Beschäftigung der 
Kommission mit der Theorie und Praxis der kommunistischen 
Propaganda im Heere für die Bruderorganisationen jenseits der 
Grenzen der Union haben könne.“) 

In der ersten Sitzung der Kommission, am 24. Februar 1928, 
gab B. I. Gorev einen Überblick über die theoretische Beschäfti- 
gung mit Fragen des Krieges im marxistischen Lager: Voennaja 
istorija i marksizm (Kriegsgeschichte und Marxismus).“) Nach 
Marx und Engels“) wandten sich erst in der imperialistischen Epoche 
eine Reihe führender Marxisten wie Jaurès, Mehring, Pavlovič, Lenin 
und Pokrovskij wieder eingehender militärischen Fragen zu, als die 
mit großer Achtung genannten Forschungen Hans Delbrücks der 
Kriegsgeschichte neue Bahnen gewiesen hatten. Als kriegsgeschicht- 
liche Themen, die von der marxistischen Forschung vorzugsweise in 
Angriff genommen werden müßten, bezeichnete der Redner — außer 
den in der Benennung der Kommission gekennzeichneten speziellen 
Aufgabengruppen —: „Der Krieg als soziologisches Problem; seine 
Genesis und Evolution; die Rolle des Krieges als eines charakteristi- 
schen Moments der Geschichte, als eines entscheidenden Punktes in 
der Lösung von Gegensätzen, als eines Moments, in dem die 
Quantität in die Qualität übergeht; ferner: der Zusammenhang des 
Krieges mit der Virtschaft, Technik und Politik, der Zusammen- 


363) 6, 297; 11, 222; über den Hamburger Aufstand im Oktober 1928 vgl. 
G. Zin ov ev: Bolšaja Sov. Enciklopedija 14 (1929), 478—481! 

2632) „Special'naja sekcija voennoj teorii“; „sie wird kommen, Genossen, 
darauf könnt Ihr Euch verlassen!“ Pokrovskij in seiner Rede auf der Fest- 
sitzung zum zehnjährigen Bestehen der „Kriegsakademie des Roten Arbeiter- und 
Bauern-Heeres“ (Voennaja Akademija R{abote] — Kfrest’janskoj] Kf[rasnoj] 
A[rmii]), nach der Pravda Nr. 6 (4140) v. 8. Jan. 1929; s. auch R. Eidemann 
(Ejdeman), Voprosy voenno-nauénoj raboty: Pravda Nr. 45 (4179) v. 28. Febr. 1929. 

2%) 11, 171: A. Šestakov über N. Cu ak, Bol’Sevistskaja rabota v 
armii (Katorga i ssylka Nr. 49 — 1928 H. 12). — 

In ähnlicher Weise wird man im Ausklang von Rubinsteins Artikel 
über „Pokrovskij als Historiker der äußeren Politik“: an Pokrovskij werde man 
die tiefe und feine Analyse der Geschichte der Außenpolitik lernen, „solange nicht 
der terminus ‚Äußere Politik‘ selbst ein Anachronismus wird“ (9, 78), eine ge- 
schickte Anspielung auf die Weltrevolution sehen müssen, indem nach ihrem Siege 
sich die Herrschaft des im Bund der Räterepubliken geeinten Proletariats über die 
ganze Erde erstrecken und es nur noch „Innere Politik“ geben wird. 

335) 9, 119—124; „Vojna v istorii marksizma“: 12, 821—323. Als Gorev 
seinen Vortrag hielt, war noch nicht bekannt, wie eingehend sich Lenin mit 
Clausewitz’ Buch „Vom Kriege“ beschäftigt hat; Lenins Auszüge und Rand- 
bemerkungen liegen, von Bubnov eingeleitet, im 12. Band des „Leninskii 
Sbornik“ (1980) vor. 

2658) G. Zinov’ev, Učenie Marksa i Engel’sa o vojne (Moskau 1930). 


157 


hang von Kriegstechnik und Heeresorganisation; die ‚militärische 
Taktik. Die politische Geschichte der letzten Kriege; die 55 
Funktion des Krieges; die Politik als Mittel des Krieges, als Mittel 
der Isolierung; Einkreisungen des Gegners als Mittel politischer 
Rückendeckung u.s. w.“ 

Die zweite Kommission — Komissija po istorii proletariata 
SSSR — arbeitet über die Geschichte der russischen Arbeiter- 
bewegung; ) eine Unterkommission stellt Ermittlungen über die 
Materialien zur Geschichte der Arbeiterklasse in den Archiven der 
Union an.“) Eine dritte Kommission sollte gebildet werden um 
das Material für eine wissenschaftliche Geschichte des Weltkriegs zu 
sichten und zu systematisieren (Kom. po dokumentacii imperiali- 
stiCeskoj vojny 1914—1918 gg.). 

Die Zeitschrift wurde in der Berichtszeit weiter von dem ur- 
sprünglichen Redaktionskollegium™) redigiert, aus dem V. P. Polonskij 
ausschied, während 1927 N. M Lukin (- Antonov) und Em. 
M. Jaroslavskij (von Heft 6 ab) und 1928 D. J. Kin und I. I. Minc 
(von Heft 7 ab) j neu eintraten. Der lange erwogene Plan, neben 
dem „Istorik-Marxist“ als dem streng wissenschaftlichen Organ der 
Gesellschaft eine kleinere, populär gehaltene historische Zeitschrift für 
die breiten Massen herauszugeben, “i) scheint seiner Verwirklichung 
entgegenzugehen; es soll beabsichtigt sein, darin u. a. Dokumente des 
en zur Vorgeschichte des Weltkriegs zu veröffent- 
ichen. 

Wiederum erfolgte auf zufällige äußere Anlässe hin wie bei 
früheren Gelegenheiten (den Jubiläen, die an die Revolutionen von 
1905 und 1917, an die Namen Pugatev, Bakunin und Stapov an- 
kniipften),?") stoßweise die Produktion über bestimmte Fragen; 


286) 11, 222. 

#07) Archivnoe Delo 17 (1929), 7. 

208) 11, 222. 

70) S. diese Jahrbücher N. F. IV, 277. 

270) 7, 811. 

371) 8, 202; 6, 267; 7, 270. 

272) Poslédnija Novosti (Paris) Nr. 8080 v. 28. Aug. 1929; nach der Mos- 
kauer Tageszeitung „Velernaja Moskva“ v. 25. August. 

» Historische Makulatur“ bildeten die wenigen Lieferungen eines von der 
»Krasnaja gazeta“ seit Dezember 1927 in Riesenauflagen hergestellten illustrierten 
istorischen Almanachs „Minuvlie dni“ (Vergangene Tage), eines auf Sensation und 
die Instinkte der Masse berechneten Machwerkes, das mit einem angeblichen Tage- 
buch der Freundin der letzten Carin, Frau A. A. Vyrubova (Verfasserin da 
„Stranicy iz moej žizni“, Paris 1922), aufwartete; A. A. Sergeev vermochte 
das Tagebuch im „Istorik-Marxist“ ohne Mühe als eine Fälshung zu erweisen 
(Ob odnoj literaturnoj poddelke. Dnevnik A. A. Vyrubovoj): 8, 160—172; 
s. auch 6, 270; 7, 276 f.; P. O. Gorin, Ob odnoj vylazke bul’varščiny: Pravda 
Nr. 61 (8893) v. 11. März 1928. 

273) Vgl. diese Jahrbücher N. P. IV, 278. — 

Selbst in marxistischen Kreisen wird die Gewohnheit, daß im heutigen Rug- 
land die Erforschung bedeutender revolutionärer Erscheinungen stark von ihren 
Jubiläen abhängig geworden ist, als unerfreulich empfunden. Frau Nelkina 


153 


bereits beginnt sich eine Wellenbewegung der Schriften über 
jubiläumswürdige Gegenstände abzuzeichnen; nach dem Abebben der 
Literatur zum zwanzigjährigen Jubiläum der Revolution von 1905 
machen sich jetzt die Vorboten des fünfundzwanzigjährigen im 
nächsten Jahre bemerkbar. Gefeiert wurden in der Berichtszeit so- 
wohl die 30. Wiederkehr des ersten Kongresses der russischen sozial- 
demokratischen Arbeiterpartei“) (30. März 1898) wie das fünfund- 
zwanzigjährige Jubiläum ihres zweiten Kongresses, von dem die 
bolschevistische Partei ihren Ursprung genommen hat;“) in die Be- 
richtszeit fielen ferner die Gedenktage der „Prozesse der 50“ und der 
„193“ vor fünfzig Jahren,“) das Jubiläum des zehnjährigen Be- 
stehens der Kommunistischen Internationale, “) der Plechanov- 
Gedenktag, ) der ,,Cerny$evskij-Tag*.?”) Den Höhepunkt der 
Jubiläumskundgebungen und Schriftstellerei aber bildeten ohne 
Frage die in Selbstverherrlichung der marxistischen historischen Idee 
aufgehenden außerordentlihen Ehrungen Pokrovskijs zu seinem 
60. Geburtstag.“) 


Alte russische Geschichte. 

In den Heften 5 bis 11 tritt die ältere russische Geschichte 
wiederum völlig zurück. Es wiederholt sich das Bild der ersten vier 
Hefte: keine selbständige Untersuchung handelt über ein Thema, 
das zeitlich vor der großen französischen Revolution liegt. Dem 
Ausbau des bibliographischen Teils ist zu verdanken, daß die russische 
Geschichte bis zum 18. Jahrhundert trotzdem nicht vollständig leer 
ausgeht. Eine Übersicht über historische Arbeiten in den periodischen 
Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften, Mitteilungen 
über die Tätigkeit des „Instituts für Geschichte der RANION“ 
und ein Literaturbericht von I. Trockij stellen zusammengenommen 
eine vorzügliche Orientierung vor. Trockij,’) zu dessen Über- 


fand heraus, daß die „bürgerliche Historiographie“ an diesem Zustand schuld sei: 
ihre Hinterlassenschaft an Fragen sei zu groß, als daß sie von den marxistischen 
Historikern auf einmal in Angriff genommen werden könnten; man müsse nach 
irgend einer Ordnung vorgehen; diese — zum Glück wenigstens als reichlich 
„elementar empfundene „Ordnung“ — schaffen die Jubiläen! (8, 173). 

e ae Russkaja social - demokratičeskaja rabočaja partiją = R. R. D. R. P.; 
s. 7, 269. 

375) Vgl. N. Lj usin: 9, 178 f. 

2378) Vgl. L. Kulezycki, Geschichte der Russischen Revolution Bd. II 
(Gotha 1911), 228 f. 

277) Kommunistiteskij Internacional — Komintern; vgl. 10 let Kommunistides- 
kogo Internacionala. Tezisy APO IKKI i APPO CK VKP(b) dlja doklad¢ikov: 
Pravda Nr. 49 (4188) v. 28. Febr. 1929; Desjat let Kominterna 1919—1929: Pravda 
Nr. 52 (4186) v. 3. März 1929; G.S., Čto čitat’ po istorii Kominterna: Pravda 
Nr. 58 (4187) v. 5. März 1929. 

378) Vgl. unten Anm. 359 u. 360. 

2379) Vgl. Osteuropa 4 (1928—29), 217. 

sea) Vgl. oben S. 108—105. 

280) Osnovnye voprosy drevnej russkoj istorii v literature poslednich let: 
8, 182—191. 


11 NF 6 159 


sicht die Redaktion anmerkt, sie behalte sich vor, auf die besondere 
Problematik zurückzukommen, die eine marxistische Würdigung 
der älteren Perioden der russischen Geschichte in sich schließe, be- 
spricht die russische Literatur seit 1920 zur Geschichte der russischen 
Besiedlung und der Entstehung des russischen Staats, zur Kolonisation 
des russischen Territoriums, schließlich Beiträge zur Sozial- und Wirt- 
schaftsgeschichte des alten Rußland, insbesondere zur Frage des 
russischen Feudalismus.“ 


Die im Referatteil der Zeitschrift nunmehr angebahnte 
systematische Einbeziehung der älteren russischen Geschichte, die Be- 
rücksichtigung der byzantinischen Geschichte“) und die immer 
stärkere Anwendung der marxistischen Betrachtungsweise auf nicht- 
russische Geschichte, wofür die früher angezeigten Hefte lediglich 
Beispiele aus der Geschichte der französischen Revolutionen seit 1789 
und aus der neuesten Entwicklung des nahen und mittleren Ostens 
darboten, wird allmählich die bereits öffentlich geforderte ausdrück- 
liche Berücksichtigung des Altertums) und der mittelalterlichen Ge- 
schichte im Programm der Zeitschrift herbeiführen.“) Der plan- 
mäßige Ausbau der Zeitschrift im angedeuteten Sinne ist nur eine 
Frage der Zeit; der ,,Istorik-Marxist wird damit erst, in vollem Maße 
nicht nur zum „Handbuch des marxistischen Historikers“, 0) sondern 


zur unentbehrlichen Enzyklopädie der marxistischen historischen 
Forschung überhaupt werden. “ 


281) Vgl. Anm. 85. 


282) Die russische Byzantinistik ist durch Beiträge von G. Lozovik ver- 
treten: einen Nachruf auf den „größten russischen Byzantinisten“ Fedor Ivanovič 
Uspenskij (1845—1928): 9, 110—114; Anzeige von Ernst Steins, Geschichte 
des spätröm. Reichs Bd. I: 14, 197—199. Zu Lozoviks Übersicht über die Arbeit 
der russischen Byzantinisten in der Kriegs- und Revolutionszeit, die zugleich der 
künftigen marxistischen Byzantinistik die Wege weisen und bereiten will (7 [1928], 
228—238: Desjat let russkoj vizantologii) — vgl. auch I. Sokolov, Russkaja 
literatura po vizantinovedeniju s 1914 po 1927 g.: Slavia 7 (1928), 418—426 und 
682—700, und V. Waldenberg (Val’denberg): „Byzantion“ IV (1927—28), 
1929, S. 481—504 über die russische Byzantinistik 1924—1929. 


283) Um auf dem „Poehlmann und seinen ideologischen Genossen vertrauten 


Gebiet der Altertumswissenschaft“ (S. Lurje im „Marx-Engels-Archiv“ II, 810) 
ein marxistisches Paroli zu bieten. 


_ 384) Seidel (Zajdel’): 11, 227. — Die gleichzeitig gewünschte besondere Ab- 
teilung über den modernen Orient würde den ,,Istorik-Marxist mit einer speziellen 
Aufgabe der neuen russischen orientalistischen Zeitschriften vom Charakter des 
„Novyj vostok“ (Der neue Orient, Moskau) oder „Schidnij svit (Die Welt des 
Orients, Char’kiv) in Konkurrenz treten lassen; vgl. Mich. Pavlovié 
(-Vel’tman), Zadalı Vserossijskoj Naučnoj Associacii Vostokovedenija: Novyj 
vostok 1 (1922), 3—15. 

285) Gorin: 11, 219. 


286) Daneben kann nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, 
welche Fundgrube die in ihren historischen Partien von Pokrovskij redigierte 
Bol’$aja Sovetskaja Enciklopedija für den Historiker bildet, um die offizielle 
orthodox-marxistische Lesart besonders in Fragen der neueren und neuesten Ge- 
schichte, der revolutionären und Arbeiter-Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert 
und der Geschichte des Sozialismus kennen zu lernen; zur Behandlung der Ge- 


16) 


Russische ‘Geschichte des 18. Jahrhunderts. 


Zur Geschichte des Pugatev-Aufstandes lieferte einen wertvollen 
Beitrag S. G. Tomsinskij: „Über den Charakter der 
Pugadcevséina.“**’) 


Die Abhandlung stellt eine Abrechnung vor mit den 1926 von 
G. E. Meers on („Eine frühe bürgerliche Revolution“) aufgestellten 
Thesen: 1. Die Pugačevščina war eine frühe bürgerliche Revolution. 
Sie war der politische Ausdruck des Konflikts zwischen den beiden 
historischen Typen der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation: 
der monopolistischen und der vom Monopol durch handelskapita- 
listische Tendenzen freien Ausbeutung unmittelbarer Unternehmer; 
2. Die Niederwerfung der Pugačevščina ist zurückzuführen auf die 
Verschiedenartigkeit der beiden Typen bäuerlicher handels-kapita- 
listischer Akkumulation in Rußland im dritten Viertel des 18. Jahr- 
hunderts, derjenigen im Zentrum (der metropolen) und der 
kolonialen; 3. das Rätsel der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit 
Rußlands, sein Abstand von den Ländern Westeuropas rührt aus der 
Vernichtung des amerikanischen Typus der Entwicklung des Kapitals 
in den carischen Kolonien her. 


In einer Vorbemerkung setzt sich T. mit Meerson begrifflich 
auseinander; mit auß erordentlicher Beherrschung des gesamten ein- 
schlägigen Materials untersucht er die gegenseitigen Beziehungen 
der Klassen im eigentlichen Rußland und in den „Kolonien“ Groß- 
rußlands (unteres Volgagebiet und das Land jenseits des Ural). Seine 
Analyse der Gesellschaftsordnung in den Gebieten der Kirgisen und 


schichte in der Sovet-Enzyklopidie vgl. A. Sidorov: Vestnik Komakad. 20 
(1927), 274—278; G. Seid el (Zajdel’): Ist.-Marxist 7, 239—244; Rich. 
Salomon, Die Große Sowjet-Enzyklopädie: Osteuropa 8 (1927—28), 613 f. 
und „Hamburger Fremdenblatt“ Nr. 194 v. 14. Juli 1928; I. Fendel, Novejlaja 
istorija Zapada v Bol’$oj Sovetskoj Enciklopedii: Kniga i Revoljucija 1980 Nr. 2. 

Am 2. Februar 1980 stieß G. K ru min in der „Pravda“ Nr. 32 (4477) einen 
Alarmruf aus wegen des farblosen Artikels von I. Rubin iiber Lujo Brentano 
in der Großen Sovet-Enzyklopädie (, Bol ie ostoro2nosti i bol’$evistskoj četkosti!“). 
Die Aufgabe der Enzyklopa ie wird von ihm folgendermaßen umschrieben: „Sie 
ist dazu bestimmt, ein Geschlecht im Geiste des konsequenten Leninismus 
heranzubilden, im Geiste des revolutionären Marxismus, sie ist bestimmt, glühenden 
Haß gegen die bürgerliche Ordnung einzuflößen, gegen ihre Verteidiger und 
Ideologen, sie ist berufen, eine sharf geschliffene Waffe der marxistisch- 
leninistischen Theorie in die Hände derer, die für den Sozialismus kämpfen und 
ihn aufbauen, zu legen, sie ist bestimmt, das Banner der bolschevistischen Unver- 
söhnlichkeit gegen jede Abweichung, gegen den geringsten Revisionsversuch, hoch 
zu halten, sie ist bestimmt, eine ungeheure Rolle bei der Bildung des neuen 
Menschen zu spielen, der von dem schweren und abscheulichen Erbe einer 
Ordnung, in der das private Eigentum herrscht, befreit ist.“ 

387) O charaktere pugacevidiny: 6, 48—78. 


288) Rannjaja burZuaznaja revoljucija v Rossii (Pugacev$tina): Vestnik 
Komakad. 18 (1925), 34—107; in einer neuen Arbeit setzt sich Meerson mit einigen 
seiner Kritiker (Ljaščenko, Piontkovskij, Kušner, Pokrovskij u. a.) temperament- 
voll auseinander (K istoriko—sociologileskomu sporu o Pugatevsdine: Utenye 
zapiski Saratovskogo gosud. imeni N. G. CernySevskogo universiteta Bd. VII, 
Lief. 8 [Pedagog. fakul’cer], 149—172). 


161 


Baschkiren zerstört Meersons Vorstellung von einem „amerikanischen 
Entwicklungstypus“, einer Art Farmertum in jenen Kolonialgebieten; 
die einzige „Kolonie“ Rußlands, wo man von einem Farmertum 
sprechen könne, sei das später besiedelte Neu-Rußland gewesen, dessen 
Kolonisation ausländische Kolonisten — Deutsche, Schweden, Bul- 
garen, Griechen, Juden und Mennoniten — die Signatur gaben. 


Mit seiner Definition des Pugalev-Aufstandes als eines Bauern- 
krieges gegen die weitere Ausdehnung der Leibeigenenwirtschaft und 
gegen die Ausbeutung des Bauerntums in den russischen Grenz- 
gebieten im 18. Jahrhundert macht sich Tomsinskij Pokrovskijs 
Erklärung zu eigen.“) In einem Abschnitt: „Die Niederringung des 
Aufstands“ faßt Tomsinskij die Gründe für das Scheitern der Be- 
wegung (wie der Bauernaufstände in der russischen Geschichte über- 
haupt) zusammen. Als Entgegnung auf den letzten Punkt Meersons, 
über den Grund der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit Rußlands 
und der langen Dauer der carischen a wird lediglich auf 
Lenin verwiesen. „Wenn sich der russische Kapitalismus an keiner 
Stelle über die Grenzen des Gebietes ausdehnen könnte, das er schon 
zu Beginn der Periode nach der Reform eingenommen hatte, dann 
hätte dieser Widerspruch zwischen der kapitalistischen Großindustrie 
und den veralteten Einrichtungen der Landwirtschaft (Fesselung der 
Bauern an die Scholle usw.) rasch zur völligen Beseitigung dieser Ein- 
richtungen, zur völligen Freilegung des Weges für den landwirtschaft- 
lichen Kapitalismus ın Rußland führen müssen. Aber die Möglich- 
keit für den Fabrikanten, in den kolonisierten Randgebieten einen 
Markt zu suchen und zu finden, und die Möglichkeit für den Bauer, 
auf neues Land zu gehen, schwächt die Schärfe dieses Widerspruchs 
ab und verzögert seine Lösung.“) 


1929 erschien nach längerer Pause der zweite Band der von S. A. 
Golubcov besorgten Quellenveröffentlichung des Zentralarchivs 
zur Geschichte des Pugadevaufstands.””) Von der Kritik wurde die 
verkürzte Wiedergabe zahlreicher wichtiger Akten beanstandet. Eine 
Anzeige des Bandes durch S. Tomsinskij in der „Pravda“ ) läßt 
die Virtuosität erkennen, mit der einer Publikation von Dokumenten 
zur russischen Geschichte des 18. Jahrhunderts eine ganz aktuelle, 
propagandistisch verwertbare Seite abgewonnen wird: Tomsinskij hob 


289) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 285 Anm. 19. 

200) Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland: Sämtl. Werke 
(deutsche Ausgabe) III, 553 (Anm.). 

291) Pugalevilina, Bd. II: Iz sledstvennych materialov i oficial’noj perepiski. 
Centrarchiv. Materialy po istorii revoljucionnogo dvizenija v Rossii XVII ı XVIII 
vv. pod obitej red. M. N. Pokrovskogo.) Zu Bd. I (1926) vgl. Centrarchiv 
RSFSR: Katalog izdanij (1928), S. 10 (Hinweis auf die Rezensionen), außerdem die 
Anzeige von A. Kiesewetterg in den „Sovrem. Zapiski“ 29 (1926), 497—500. 
— Vgl. auch B. H. Sumner, New material on the revolt of Pugachev: Slav. 
Review VII (1928—29), 118—127 und 838—348 (in Nr. 19 u. 20 der Ztschr.). 


292) Nr. 121 (4255) v. 30. Mai 1929; vgl. auch Tomsinskijs Anzeige in der 
Zeitschrift: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 4. 


162 


die Verwendbarkeit darin enthaltener Dokumente iiber die Nationali- 
tatenpolitik Katharinas als Agitationsmaterial hervor, da sie bis zur 
Februarrevolution Bedeutung gehabt hätten.“) 


Russische Geschichte des 19. Jahrhunderts. 


Die Dekabristenbewegung ist nur in Rezensionen vertreten,) 
wenn man von einer Äußerung Pokrovskijs absieht, durch die 
er Untersuchungen bürgerlicher Gelehrter (Grekov, Presnjakov, 
Cernov) den marxistischen Historikern als Spiegel vorhielt; er machte 
aus dem Verdruß über die originale Fragestellung Cernovs, der als 
erster auf die „Ideologie“ der einfachen Soldaten eingegangen sei, 
kein Hehl, — der „damit eine Aufgabe löste, deren Entscheidung mit 


Recht alle von unseren geschworenen marxistischen Historikern er- 
warten durften“. 


205 
Die in den Ge Jahren erschienene "Tagebuch, Memoiren- 
und biographische Literatur zur russischen Geschichte des 19. und im 
Beginn des 20. Jahrhunderts aus beiden Lagern ist im Besprechungs- 
teil der Zeitschrift reichlich vertreten. 


Russische Geschichte des 20. Jahrhunderts. 


Die Beschäftigung der marxistischen Historiker mit der Ge- 
schichte Rußlands in unserem Jahrhundert empfängt ihre Signatur 
durch die Frage nach der besonderen Struktur des russischen Kapi- 
talismus und der Rolle des ausländischen Kapitals in Rußland; in 


302) Zur marxistischen Behandlung des Pugatev-Aufstands vgl. auch diese 
Jahrbücher N. F. IV, 285; ferner I. Berkman zu G. Ladoca, Razin&tina 
i Pugacevixina (1928): Istorik-Marxist 9, 187 f.; S. TchorZevskij ,Krest’- 
janstvo i Pugačevščina: Zapiski nau¢nogo obščestva marksistov 1928 Nr. 4; A. 
CuloSnikov, Kazak-kirgizskie kotevye ordy i Pugatevitina (1778—1774 g.): 
Novyj vostok Nr. 25 (1929), 201—215. 


2%) Rez. zu M. V. NeEkina, Obilestvo Soedinennych Slavjan. Centr- 
archiv 1927: 6, 278 f. (A. S-ch.); Frau Nelkina über: „Vosstanie dekabristov“ 
Bd. III V (Centrarchiv): 5, 217—220 und „Dekabristy i ich vremja“. Mee) 
Moskovskoj ı Leningradskoj sekcii izuceniju dekabristov i ich vremja, I. . 
Obšč. politkatorZan i ssyl’no-poselencev: 11, 201—208. — Vgl. auch Zygm. 
Z boruck i, Dekabryci w świetle najnowszej historjografſi: Kwartalnik; 
historyczny 42 (1928), 656—670. 

308) „Novye“ te&enija v russkoj istori¢eskoj literature: 7, 5. 

90) Vgl. z. B. A. Se bunin zu A. FE. Tjut & e va, Pri dvore dvuch im- 
peratorov I (1928): 9, 188 f.; I. Volkovik er zum „Dnevnik E. A. Peretca 
1880—1888“ gl 5, 252; P. Preobraženskij zum „Dnevnik V. N. 
Lamzdorfa (1886-1890: 8, 232 f.; N. Rubinstein zu Jurij 
Solov’ev, 25 let moej diplomatiteskoj služby (1898—1918): 9, 190 f. (eine 
vollauf berechtigte ungeschminkte Verwerfung): E. Morochovec zu J. 
Steklov, M. A. unin. Ego Zizh i dejatel’nost’ 1814—1876: 5, 249—251 
( auch 9, 176 zu V. Polonskijs Veröffentlichung: Politièeskaja ispoved’ 

unina); E. Morochovec zu den ,,Vospominanija L’va Tihomirova 
st 6, 281—288; B. Koz min zu Nikolaj Morozov, S oružiem v 
III (1928): 9, 191 f.; S. Ajnzafe zu B. P. Koz min, S. V. Zubatov 

i ego korrespondenty (1928): 9, 192 f.: L. Mamet zu I. K. Mihajlov, 
Cetvert’ veka podpol Kiko (1928): 10, 258 u. a. 


163 


engstem Zusammenhang damit stehen die Fragen nach dem Charakter 
des russischen Imperialismus (verbunden mit der russischen „Kolonial- 
frage“) und nach den tieferen Gründen der Teilnahme Rußlands am 
Weltkriege. In der Erforschung der Periode des „imperialistischen 
Krieges“ — des marxistischen terminus technicus für den Weltkrieg 
— sind die leitenden Gesichtspunkte sein Verstehen als Vorgeschichte 
der Oktoberrevolution, die Aufhellung der Tätigkeit der Partei in 
den Jahren 1914—1917 und die Bedeutung des Krieges und der Inter- 
vention der Alliierten für das Verständnis des Verlaufs der Um- 
wälzung seit dem Februar 1917. 

Die von N. Rožkov™ und A. Finn-Enotaevskij™) 
vertretene Anschauung von der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit 
Rußlands und der Langsamkeit im Tempo seiner kapitalistischen 
Entwicklung vor dem Kriege und der Revolution, d. h. die Behaup- 
tung einer weitgehend selbständigen wirtschaftlichen und politischen 
Entwicklung, wird als menschevistische Legende abgetan.“) Die An- 
sicht, daß sich Rußland in den letzten Jahren vor dem Kriege in der 
E e des Finanzkapitalismus befunden habe, ist zu einer ziemlich 
allgemein angenommenen festen Stufe im marxistischen Schema der 
russischen Geschichte geworden; über den Charakter des Kapitalis- 
mus im Rußland der Vorkriegszeit, die Rolle des in Rußland vor 
dem Kriege investierten ausländischen Kapitals und sein Verhältnis 
zum einheimischen gehen indessen die Meinungen der marxistischen 
Wirtschaftshistoriker weit auseinander. Über diese Fragen ist in der 
Sovetunion eine Literatur im Entstehen,“ ) die für die Klärung des 


207) Russkaja istorija v sravnitel’no-istori<eskom osveStenii Bd. XII. 
298) Finansovyj kapital i kapital proizvoditel’nyj. 
29) Gorin: 3, 152. 


300) Vgl. z. B. Ronin, Inostrannyj kapital v Rossii (1926); Vorwort von 
Kritzmann, l. F. Gin din über M. Gol’man, Russkij imperializm. 
Oterk razvitija monopolisti¢eskoj kapitalizma v Rossii I. II (1927): 5, 191—196; 
ders., Nekotorye itogi v oblasti izucenija finansovogo kapitala v Rossii (zu E. L. 
Granovskij, Monopolisti¢eskij kapitalizm v Rossii, Leningrad 1929): 
Vestnik Komakad. 88 = 1929 H. 3 S. 185—199. — Ark. Sidorov zu I. E. 
Gindin, Banki i promy$lennost’ v Rossii do 1917 g. (1927): 6, 288—286; N. 
Vanag, O charaktere finansovogo kapitala v Rossii: 11, 1—235; Trudy I, 
818—389; ders., Puti kapitalistièesxogo razvitija sel’skogo chozjajstva vo 
vtoruju polovinu XIX i v nadale XX vv. v Rossii: Bjulleten’ . . IKP G oben 
Anm. 20 a), 63—68; M. Ju(gov) zu Z. Serebrjanskij, Ot Kerenščiny k 
proletarskoj diktatury. Očerki po istorii 1917 g. (1928): 9, 1 196; P. Gorin 
zu A. Sidoro v, Vlijanie imperialističeskoj vojny na ekonomiku Rossii (im 
Sammelwerk: Očerki po istorii Oktjabr’skoj revoljucii. Pod red. M. N. 
Pokrovskogo, izd. Istpart CK VKP (b), 1927): 8, 158—158; Pokrovskij, 
Obščestv. nauki SSSR za 10 let: Vestnik Komakad. 26 — 1928 H. 2 S. 17 f.; ders., 
Vsesojuznaja konferencija istorikov-marxistov: 11, 5; siehe auh M. Tajc, O 
diskussii po finansovomu kapitalu v Rossii (Kniga i revoljucija 1929 Nr. 21) und 
das Referat zu Heister (Gajster). „Produgol“. K. voprosu o finansovom 
kapitale v Rossii (im „Krasnyj Archiv“ 1926, H. 18 S. 119—148), in diesen Jahr- 
büchern N.F. 5 (1929), 443. Methodische Fragen zur Erforshung der Geschichte 
des Finanzkapitals in Rußland stellen Vanag, Gindin und Granovskij 
in H. 12 des „Istorik-Marxist“ zur Diskussion. 


164 


Zusammenhangs zwischen der Wirtschaftslage des Landes und der 
äußeren Politik des caristischen Rußland oder — um in der gebräuch- 
lichen marzistischen Terminologie zu sprechen — zwischen dem 
russischen Kapitalismus und dem Imperialismus des Carismus — 
bereits Wertvolles geleistet hat; für manche Fragen der auswärtigen 
Politik der Großmächte seit der Jahrhundertwende ist der Schleier, 
der bisher über der Einwirkung der internationalen Finanzkreise auf 
den Gang der internationalen Politik lag, durch russische Veröffent- 
lichungen der letzten Jahre mehr geliiftet worden als durch alle Publi- 
kationen diplomatischer Dokumente außerhalb Rußlands; in dieser 
Hinsicht wird man von der vorbereiteten Aktenpublikation wesentlich 
Neues erwarten können.“) 

Die russische Imperialismus-Diskussion sucht vorwiegend den 
von Lenin herausgearbeiteten eigentlichen Zug des russischen 
Imperialismus: die eigentümliche Verflechtung von „kapitalistischem“ 
und „militärisch-feudalem‘ Imperialismus unter der Herrschaft des in 
Rußland nach der Revolution von 1905 ausgebildeten Systems des 
monopolistischen Kapitalismus und seine Wandlung im Kriege mög- 
lichst konkret zu erfassen. 

In zweifelloser Überschätzung der Rolle des ausländischen 
Kapitals in Rußland vertreten Kritzmann (Kricman) und seine 
Richtung (Ronin, Vanag) die sog. „Theorie der Denationali- 
sierung des russischen Kapitalismus“ vor dem Kriege; infolge Über- 
fremdung der russischen Banken durch ausländisches Kapital sei das 
System des russischen Finanzkapitals kein nationales, russisches mehr 
gewesen und Rußland in eine Kolonie des westeuropäischen Impe- 
rialismus verwandelt worden. Einen spezifisch russischen Imperialis- 
mus habe es nicht gegeben, man dürfe lediglich einen französischen 
und englischen Imperialismus, der auf dem Territorium des ehe- 
maligen russischen Reichs operierte, anerkennen. Indem Rußland 
durch die bolschevistische Revolution aufhörte, der Tummelplatz des 
englischen und französischen Imperialismus zu sein, hatte die Um- 
wälzung den Charakter einer Weltrevolution. Vanags Folgerungen, 
die auf der Schätzung basierten, daß % des ganzen Banksystems Ruß- 
lands vom ausländischen Kapital kontrolliert worden seien, haben sich 


301) Se Anm. 90a, 92, 186—140. Kein Werk trägt z. B. über die wirt- 
schaftspolitischen und finanziellen Hintergründe der russischen Politik im Fernen 
Osten um die Jahrhundertwende mehr bei als die ausgezeichnete Serie von Unter- 
suchungen, die B. Romano v unter dem Titel: „Rossija v Mankkurii“ (1892 bis 
1906). Ocerki istorii vneinej politiki samoderkavija v epochu imperalizma) = 
Izd. Leningradskogo Maien i Instituta imeni A. S. Enukidze 26 (Leningrad 
1928) hat erscheinen lassen; vgl. dazu A. Popov: 14, 178—182. Weitausholend 
und in ähnlicher Weise grundlegend ist das Werk von B. A. Bor’jan: Armenija, 
meZdunarodnaja diplomatija i SSSR I (1928), II (1929). 

ber die besonderen Aufgaben ener Bearbeitung der gedruckten Quellen 
zur Geschichte der internationalen Beziehungen in der Neuzeit vgl. 11, 247 und 
Trudy II, 7—52 das Referat über einen Vortrag N. M. Lukins auf dem 
Moskauer Historikertag: „Problema izucenija epochi imperializma“, in dem er 
den Zeitraum von den achtziger Jahren bis 1900 als Übergangsepoche, die Zeit- 
spanne 1900—1914 als die Epoche des klassischen Imperialismus charakterisiert. 


165 


starke Korrekturen gefallen lassen miissen. Nach Gorin hat die 
gegenseitige Konkurrenz der ausländischen Kapitalien in Rußland 
dazu geführt, daß daneben das einheimische Kapital weitgehend seine 
Selbständigkeit behaupten konnte, wodurch zugleich die Beherrschung 
der russischen Industrie durch das ausländische Finanzkapital ver- 
hindert wurde. Daher erscheint den Anhängern der „nationalen“ 
Natur des russischen Finanzkapitals der russische Imperialismus vor 
dem Kriege selbständig, mit eigenen Zielen; sie erkennen einen — dem 
französischen, englischen, deutschen analogen — eigenen russischen 
„keim- und bastardhaften“ Imperialismus an. Vanag und Ronin 
hätten den methodischen Fehler begangen, das einheimische Kapital 
und das in Rußland investierte ausländische Kapital einander gegen- 
überzustellen, ohne dabei die Spannungen und die Konkurrenz inner- 
halb des „ausländischen Sektors“ zu berücksichtigen. 


Die Entwicklung während des Krieges stellt Gorin in ihren 
Grundzügen folgendermaßen dar: Nach dem industriellen Auf- 
schwung 1910—1913 machte sich seit Anfang 1914, als sich die 
Hoffnungen auf eine Verbreiterung des inneren Marktes durch die 
Stolypinsche Reform nicht erfüllten, sondern im Gegenteil die 
Proletarisierung des Bauerntums reißend fortschritt, die Anzeichen 
einer wirtschaftlichen und sozialen Krise bemerkbar; nur der Kriegs- 
ausbruch und die Kriegskonjunktur der Wirtschaft ließen sie nicht in 
voller Schärfe sichtbar werden. Dadurch, daß die russische Re- 
gierung den Krieg hauptsächlich mit Hilfe von Auslandsanleihen 
inanzierte, änderte sich das Vorkriegsverhältnis des russischen und 
ausländischen Kapitials. Nicht nur, daß Rußland in die Schuldknedht- 
schaft des westeuropäischen Imperialismus geriet: die ausländischen 
Gelder, die durch Vermittlung der caristischen Regierung in be- 
deutendem Maße der russischen Bourgeoisie zuflossen, verknüpften 
deren Interessen aufs engste mit denen der Regierung und ließen die 
russische Bourgeoisie zu einem politisch bedeutungslosen und in der 
Revolution des Jahres 1917 hilflosen Faktor herabsinken. 


Geschichte der revolutionären Bewegung und des Klassenkampfes 
in Rußland im 20. Jahrhundert. 


Einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der politischen Organı- 
sierung des Bauerntums in der 1. und 2. Revolution, 1905—1907 und 
1917, liefert A. Šestakov: „Der Allrussische Bauernverband“ 
in Form einer Polemik gegen die Rehabilitierungs-Publizistik des 
ehemaligen Vorsitzenden des Verbandes Semen P. Ma- 
z uren ko.“ ) 


303) Vserossijskij Krest’janskij Sojuz: 5, 94—128. 

308) Semen Mazurenko, Krest’jane v 1905 g. Mosk. 1925; Semen und 
Vas. Mazurenko, K istorii krest’janskogo dvizenija 1905g. in den 
„Puti revoljucii“ (Žurnal vseukr. soveta vsesojuznago ob%. politkatorZan i 
ea Eno-Bosclence>) Nr. 7 = 1926 H. 4 S. 11—48; S. P. Mazurenko, Krest’- 
janstvo v 1917 g.: Ebda. Nr. 10 = 1927 H. 1. 


166 


Die Bauernrevolution 1905 vollzog sich im Gefolge der prole- 
tarischen; von ihr wurde sie befruchtet, von ihr übernahm sie die 
Kampfformen und -Methoden; im Verständnis der Aufgaben und 
der Bedeutung des politischen Kampfes stand sie weit hinter der 
proletarischen zurück. Während das Proletariat in der Revolution 
von 1905 für den Sozialismus kämpfte, verfolgte die bäuerliche 
Revolution begrenztere Ziele. Sie beschränkte sich darauf, die Ab- 
schaffung der Gutsherrschaft und politische Reformen zu fordern 
und erschien damit als eine typisch bürgerlich-demokratische 
Revolution, die vom Proletariat im eigenen Interesse gefördert 
wurde. S. wendet sich gegen Mazurenkos Darstellung, die das 
Hauptverdienst am Entstehen des Verbandes der Dongruppe der 
ukrainischen Sozialdemokratie beimißt. Nach S. entstand die Idee 
des Bauernverbands in der Moskauer landwirtschaftlichen Gesell- 
schaft.“) In der Geschichte der Revolution von 1905 muß der Ver- 
band seiner Struktur, seinem Programm und seiner Taktik nach 
durchaus als eine politische Partei unter Führung kleinbürgerlicher 
Demokraten bewertet werden, die für das Bauerntum ein gewalt- 
sames Vorgehen, den bewaffneten Aufstand, ablehnten. Auf dem 
zweiten Kongreß des Verbandes in Moskau vom 6. bis 10. November 
1905, zu dem die Bauern von 23 Gouvernements ca. 200 Delegierte 
entsandt hatten, wurde erbittert über die einzuschlagende Taktik ge- 
stritten. Šestakovs Bericht über den Kongreß, “) dem er selbst als 
Vertreter des Moskauer Komitees der Partei der Bolscheviki bei- 
wohnte, verhehlt nicht seine tiefe Unzufriedenheit mit der Mäßigung 
der Einberufer, denen er nicht verzeiht, daß sie sich nicht die Losung 
des bewaffneten Aufstandes der Bolscheviki zu eigen machten. 


Die Erwähnung der Anknüpfungen zwischen den Führern des 
Bauernverbandes und dem Petersburger Arbeiterrat und seinem 
Vorsitzenden L. D. Trockij biegt 5. zu einem massiven Angriff gegen 
Trockijs Taktik in der ersten Revolution ab, der anstatt der einfachen 
und klaren Parole des bewaffneten Aufstands lediglich den General- 
streik propagiert habe.“) „Genosse Trockij stand im Jahre 1905 
in der Bewertung des allgemeinen litischen Streiks als ent- 
scheidender Waffe der Revolution und der gegenseitigen Beziehungen 
zwischen der Arbeiterklasse und dem Bauerntum nicht zu den 
Bolscheviki, sondern zu ihren Gegnern, den Menscheviki.“ “) Die 
Gründe, die für die Umbildung des Verbands in eine politische Partei 
sprachen, wurden bald nach der Novembertagung in einer Broschüre 
von Serg. Odinokij: Vserossijskaja (zemledel českaja) partija (St. 
Pbg. 1906) formuliert. Der Kongreß hatte sich für den Boykott der 
I. Duma ausgesprochen; ein Mitglied des Hauptkomitees, Šapošni- 
kov, schied jedoch aus dem Verband aus und ließ sich in die Duma 


308) S. 97; Zeugnis von A. I. Peres. 
208) S. 99—105. 

see) S. 106. 

207) S. 107. 


167 


wahlen. Er wurde Mitbegriinder der Fraktion der Trudoviki, die 
in ihre Anträge manche Forderungen des Bauernverbandes auf- 
nahmen. — Mit dem Siege der Regierung löste sich der Verband in 
Rußland auf; einige Vertreter setzten — von den Menscheviki ge- 
fördert — im Ausland als „Ausländisches Bureau des Bauern- 
verbandes ihre Tätigkeit fort. 

Im jahre 1917 organisierten die Brüder Mazurenko mit Unter- 
stützung der Provisorischen Regierung den Bauernverband aufs Neue, 
wobei sie weitgehend auf die führenden Mitarbeiter der Bewegun 
im Jahre 1905 zurückgriffen. Am 12. März 1917 trat der Verban 
mit einem programmatischen Aufruf „An die gesamte Bauernschaft“ 
(K vsemu krest’janstvu!“) hervor. In seinen Grundzügen entsprach 
die Erklärung der politischen Linie der bürgerlichen Regierung. Da 
der Verband sich als alleinberechtigte Vertretung der Bauernschaft 
gebärdete, mußte er zu den bolschevistischen Bauernräten und der 
bolschevistischen Agitation unter der „Dorfarmut“ in einen unüber- 
briickbaren Gegensatz geraten. Durch Aufstellung eigener Kandidaten 
zu den Wahlen zur 5 Versammlung (,,Uéreditel’noe 
sobranie“) bekundete er seinen Parteicharakter. Mit dem Siege der 
Bauernräte-Idee in der Oktoberrevolution war seine Rolle aus- 
gespielt.“) 

Heft 5 des „Istorik-Marxist“ war der Zehnjahrfeier der Oktober- 
revolution gewidmet.“) 

Pokrovskij sprach in einem einleitenden Beitrag: „Die Ok- 
toberrevolution in den Darstellungen der Zeitgenossen“) das Ver- 
dammungsurteil gegen Trocij als Historiker der Oktoberrevolution, 
indem er in weit ausholender Beweisführung Lenins Schema der 
Oktoberrevolution kanonisierte: nach dem gleichen Schema, wie sie 
sich vollzogen habe, müsse die Geschichte der Oktoberrevolution auch 
geschrieben werden (eine vom Schema abweichende Darstellung ver- 
diene nicht den Namen Geschichte). Ausgangspunkt jeder marxisti- 
schen Konzeption der Oktoberrevolution müsse die berühmte Stelle 
1 Nachwort zu seiner Broschüre „Die beiden Taktiken“ “) 

ilden: 


308) Zur Geschichte des Jahres 1905 vgl. ferner: V. Mala chovskij über 
„1905 g. Istorija revoljucionnogo dvizenija v otdel'nych oterkach“. P red. 
M. N. Pokrovs ko g o. III. 1 Izd. Komissii CIK SSSR po organizacii 
prazdnovanija 20-letija revoljucii 1905 g. Istpart CK VKP (b) 1927: 5, 257 bis 
259; N. A. Bu bin der zu: „1905 g. Evrejskoe rabotee dvizenie.“ Obzor 
materialy i dokumenty (1928): 7, 289 f.; E. Jugov über M. Bala ban ov: 
Or 1905 k 1917 g. Massovoe rabodee dvizenie (1927): 7, 296—299 (in der Schrift 
sei das menschevistische Schema in der Beurteilung der Arbeiterbewegung nach 
der 1. Revolution, die Trennung der wirtschaftlichen und der politischen Be- 
wegung, aufgegeben und im Grunde der Anschluß an die bolschevistische, leninisti- 
sche Auffassung vollzogen). 


300) Über die in Heft 1 bis 4 enthaltenen Aufsätze zur Geschichte des 
Jahres 1917 vgl. diese Jahrbücher N.F. IV, 292. 


310) Oktjabr’skaja revoljucija v ızobraZenijach sovremennikov: 5, 8—885. 
311) Dva taktiki (Juli 1905). 


163 


„Der volle Sieg der jetzigen Revolution wird das Ende der demokratischen 
Umwälzung und der Beginn des entschiedenen Kampfes für eine sozialistische 
Umwälzung sein. Die Verwirklichung der Forderungen des Bauerntums, die 
völlige Zerstörung der Reaktion, die Eroberung der demokratischen Republik 
wird das völlige Ende des Revolutionären in der Bourgeoisie und sogar des 
Kleinbürgertums bedeuten, wird den Anfang bedeuten des wirklichen Kampfes 
des Proletariats für den Sozialismus. Je vollständiger die demokratische Um- 
wälzung sein wird, um so schneller, breiter, reiner, entschiedener wird der neue 
Kampf durchgefochten werden. Die Losung „Demokratische Diktatur“ bringt 
bereits den historisch begrenzten Charakter der jetzigen Revolution (1905) zum 
Ausdruck und die Notwendigkeit neuen Kampfes e der Ge der neuen 
Verhältnisse für eine völlige Befreiung der Arbeiterklasse von jeglichem Druck 
und jeglicher Ausbeutung. Mit anderen Worten: Wenn das demokratische 
Bürgertum oder das Kleinbürgertum bereits eine niedrige Stufe heraufsteigt, 
wenn nicht nur die Revolution, sondern der volle Sieg der Revolution Tat- 
sache wird, dann werden wir es fertigbringen, an die Stelle der Losung „Demo- 
kratische Diktatur!“ die Losung der sozialistischen Diktatur des Proletariats d. h. 
der vollständigen sozialistischen Umwälzung zu setzen. 112) 


Hiermit und mit einer konkreteren Prognose in den „Er- 
gebnissen der Diskussion über die Selbstbestimmung) habe Lenin 
das historische Schema der Oktoberrevolution bereits vor der Revo- 
lution geliefert. Bei gleichbleibenden Grundüberzeugungen verstand 
es Lenin, in seinem Schema Realitäten, die die Entwicklung der Dinge 
in seinem Sinne in unvorhergesehener Veise beeinflußten, — wie dem 
„imperialistischen Krieg“, dem Sturz der Monarchie in Rußland —, 
in vollem Maße Rechnung zu tragen. 

Mit Lenin ist jede historische Situation nach dem besonderen 
jeweiligen Kräfteverhältnis der Klassen zu beurteilen. Trockij da- 
gegen („Uroki oktjabrja“) rechne mit einem für die ganze Epoche 
der Revolution gleichbleibenden unabänderlichen Kräfteverhältnis der 
Klassen. Die Geschichte des Bauerntums, der Bauernrevolution und 
der bäuerlichen Ideologie werde von Trockij weder gekannt noch ver- 
standen (S. 23). Trockijs „Oktoberrevolution“ wird so als nicht- 
marxistisches Werk gestempelt, das ebensogut ein Nichtmarxist hätte 
schreiben können.“) 


Drei Aufsätze handeln über den Eindruck der Oktoberrevolution 
in England, Deutschland und Frankreich:“! 


F. Rotstein, der Verfasser des ausgezeichneten Artikels über 
England der Großen Sovet- Enzyklopädie,“) spricht auf Grund per- 
sönlicher Erinnerungen über die Einstellung der englischen Regierung 
und der Parteien zur Sovetunion in den Jahren 1917-1920. 


3118) Vgl. Anm. 177. 

313) Itogi diskussii o samoopredelenii (Okt. 1916). 

2122) Vgl. Anm. 16. 

313) Entsprechende marxistische Veröffentlichungen über den Eindruck der 
Februarrevolution in den westlichen Ländern sind in diesen Jahrbüchern N.F. 4 
(1928), S. 127 f. angezeigt. 

313a) Bd. 9 (1928). 

31) F. Rotstein (Kotltejn), Anglija i Oktjabr’skaja revoljucija; 5, 
36—48. 


169 


Aus dem Deutschen übersetzt ist der Beitrag von P. Frölich: 
„Die russische Revolution und Deutschland“:“) 1. Die Februar- 
revolution; 2. Die Februarrevolution und die Politik der deutschen 
Regierung; 3. Die Oktoberrevolution; 4. Der Brester Friede; 5. Brest- 
Litovsk und die Sozialdemokratie; 6. Der Feldzug gegen das revo- 
lutionäre Rußland. 


Friedland) verfolgt die Stellungnahme der führenden 
französischen Blätter, vor allem des ‚Temps‘, des ‚Matin‘, des, Figaro 
und des ‚Petit Journal‘ zu den Vorgängen in Rußland vom Juli bis 
Dezember 1917; zugleich im Hinblick auf die französische Arbeiter- 
bewegung im Jahre 1917 wird die sozialistische Presse (, Humanité“, 
‚Journal du peuple‘) eingehender behandelt. Die Regierungsbildung 
durch Clémenceau am 8. November 1917 — das „Ministerium des 
weißen Terrors“, die „Diktatur des Bajonetts und der Peitsche“ — 
stellt Fr. als die direkte Antwort der französischen Bourgeoisie auf 
den Oktoberumsturz in Rußland hin (S. 79, 93). 

M. Jug ov bespricht in seiner Kritik des 1926 vom Zentral- 
archiv herausgegebenen Sammelwerks: „Die Arbeiterbewegung im 
Jahre 1917“ (Rabodee dvikenie v 1917 godu) ausführlich die 
Materialien über die Einführung des Achtstundentags und das Ver- 
hältnis der Arbeiterräte zu den Berufsverbänden; er vermißt einen 
Hinweis auf die Arbeit der Kriegsgefangenen, die in manchen 
Industrien des Donbezirks und des Ural einen beträchtlichen Prozent- 
satz der Arbeiterschaft ausmachten (S. 183), und auf die fremd- 
stämmigen Arbeiter (Chinesen!) im Ural und in Sibirien.“) 

A. V. Sestakov (Der Block mit den linken Sozialrevolu- 
tionären) bespricht das Zusammengehen der Bolscheviki im ersten 
Vierteljahr nach der Oktoberrevolution mit den linken Sozial- 
revolutionären, der politischen Organisation der bäuerlichen und 
kleinbürgerlichen Demokratie. Die Spaltung innerhalb der Partei 
über der Koalitionsfrage und die wochenlangen Verhandlungen über 
die Regierungsbildung sind eingehend dargestellt.“) 


Von einer Inhaltsangabe der sonstigen Mitteilungen des „Istorik- 
Marxist“ zur Geschichte der Oktoberrevolution und Bürgerkrieges 
sehe ich ab. Die Geschichte der Kommunistischen Partei und der 
Oktoberrevolution ist heute eine mit besonderen Lehrstühlen ausge- 
stattete historische Disziplin geworden; die einschlägigen Unter- 
suchungen und vielfach sehr eingehenden Rezensionen sind nur mit 
dem Gang der Ereignisse, mit den Parteien und mit den handelnden 
Personen der Revolutionsperiode gut Vertrauten völlig verständlich. 
Hinzukommt, daß die im „Istorik-Marxist“ enthaltenen Arbeiten und 
Besprechungen zur Geschichte der Oktoberrevolution nur einen ver- 


315) Russkaja revoljucija i Germanija: 5, 49—70 und 6, 8—20. 


a bi C. Friedland (Fridljand), Francuzskaja pečat’ ob Oktjabre: 5, 


317) K istorii rabocego dviženija v 1917 godu: 5, 172—183. 
318) Blok s levymi eserami: 6, 21—47. 


170 


schwindenden Bruchteil des für einen Ausländer unübersehbaren 
Materials darstellen, das in Büchern und Zeitschriften über jene 
Periode bereits vorliegt und das fortwährend wächst.“) 

A. Sestakov, der die Bilanz der zum Zehnjahrstag der Ok- 
toberrevolution erschienenen Zeitschriftenaufsätze zog, gelangte zu 
dem pessimistischen Urteil, daß sich die Journalistik der ihr durch 
das Jubiläum gestellten Aufgabe nicht gewachsen gezeigt habe: „Es 
ist Grund vorhanden, zu behaupten, daß mit der historischen 
Journalistik und insbesondere mit den Problemen der Revolution des 
Jahres 1917’ bei weitem nicht alles gut bestellt ist. Vor allem fällt 
in die Augen der begrenzte Kreis von Personen, die über diese Fragen 
arbeiten, und das Fehlen von Planmäßigkeit in den ihnen über- 
tragenen ‚sozialen Auftragen‘.“***) 


Weltkrieg und Intervention. 


Der Weltkrieg erscheint Pokrovskij für Rußland — nach L. N. 
Kritzmann — als der Übergang des „militärisch-feudalen Imperialis- 
mus“ (voenno-feodal’nyj imperializm) ( der äußeren Politik des 
handels-feudalen Staats) zum Imperialismus der Periode der 
kapitalistischen Monopole (= der äußeren Politik des Finanz- 
kapitals).“ “) 

Nach russischer Auffassung lag die kriegspolitische Bedeutung des 
Friedens von Brest-Litovsk weniger in der Beendigung des Krieges mit 
der mitteleuropäischen Mächtegruppe als im Bruch mit der Entente 
mit seinen weitreichenden Folgen.“) In großen Zügen schildert ein 
Rückblick von I. Minc auf die Periode der Intervention vor zehn 
Jahren“) unter Verwertung einiger jetzt im Archiv der Oktober- 
revolution befindlicher Stücke aus den Archiven der gegen- 
revolutionären Bewegung die Vorgeschichte und den Verlauf der 
Intervention der Alliierten.“) 

Mit der Februarrevolution setzten Einwirkungen der Organe der 
Alliierten auf die Führung des russischen Feldheeres ein, um den Zer- 
all der russischen Armee aufzuhalten; am Kornilovputsch nahmen 
zum russischen Heere kommandierte Offiziere der Verbündeten Ruß- 
lands aktiven Anteil. An Hand der stenographischen Berichte der 
Parlamentsdebatten geht M. der Ausbildung des Interventions- 
gedankens in England nach, als die bolschevistische Regierung durch die 


319) Vgl. „Die Geschichts wissenschaft in Sowjet-Russland 1917—1927“ (Berlin 
1928), S. 51 ff. 

$29) 5, 231. 

$21) Vgl. 6, 264 f. nah Pokrovskij, Oktjabr’skaja revoljucija i Antanta: 
Proletarskaja revoljucija 69 = 1927 H. 10; wiederabgedruct u. d. Titel: „Vychod 
Rossii iz romy in dem Sammelband: M. N. Pokrovskij, Imperialistskaja 
vojna. Sbornik statej 1915—1927 (1928); s. dort S. 268 f. 

32) Pokrovskij, Imperialistskaja vojna. Sbornik state; 1915—1927 
(Mosk. 1928), 270. 

333) K desjatiletiju neudači intervencii: 11, 88—99. 

334) Vgl. auch diese Jahrbücher N.F. IV, 291 über Gurko-Krjažin, 
Anglijskaja intervencija 1918—1919 g. g. v Zakaspii i Zakavkaze. 


171 


Annullierung der in den Ländern der Entente aufgenommenen Staats- 
anleihen (10. Februar 1918) und den Sonderfrieden an der Sache der 
Alliierten „Verrat“ geübt hatte. Als Gründe für das Scheitern der 
Intervention führt M. die Kriegsmüdigkeit der Interventionstruppen, 
die Gegensätze im Lager der Alliierten“) und die zweifellos über. 
schätzte Entwicklung der „revolutionären Bewegung“ in den Inter- 
ventionsländern an.) 


335) Ablehnung von Mannerheims Vorschlag im Juli 1919 — zur Zeit der 
höchsten Bedrohung der Sovetmacht durch Denikin, Koléak und Judenié —, mit 
vier frischen Divisionen Leningrad zu erobern; vgl. dazu auch: „Znajukxij“, 
Nelepaja vychodka finskich aktivistov, in den Izvestija Nr. 182 (8718) vom 
10. August 1929. 

#38) Zur Geschichte Rußlands während des Weltkrieges, zur Geschichte des 
Jahres 1917 und der Periode der Intervention und des Bürgerkrieges finden sich 
in Heft 1 bis 11 des „Istorik-Marxist“ bemerkenswerte Rezensionen der nach- 
folgenden Veröffentlichungen: 

S. D. Sazonov, Vospominanija. Berlin 1927: 8, 230—282 (N. R.); 
M. V. Rodzjanko, Krulenie imperii (1927): 5, 200 f. (E. Gekkin q: 
Carskaja Rossija v mirovoj vojne (Centroarchiv 1926): 2, 278—280 (G. B. 
Sandomirskij); Buržuazija nakanune fevral’skoj revoljucii (izd. B. B. 
Grave 1927): 7, 294 f. (S. Sef); V. P. Semennikov, Politika Romano- 
vych nakanune revoljucii. Ot Antanty k Germanii (1926): 8, 280 f. (I. Mi nc); 
Perepiska Nikolaja i Aleksandry (1916—1917 g.) Bd. V (1927): 4, 248—250 (S. 
Piontkovskij); B. Grave, K istorii klassovoj bor’by v Rossii v gody 
imperialisti¢eskoj vojny.t Jul’ 1914 8. — fevral’ 1917 g. Proletariat i buržuazija 
1: 1, 812f. (A. Sestakov); M. G. Fleer, Peterburgskij komitet bol’ 

vikov v gody vojny 1914—1917 g. (1927): 7, 200—204 (D. Bacvskij); E. I. 
Martynov, Carskaja armija v fevral’skom perevorote (1927): 4, 250—258 
(S. Rabinovid); Z. Serebrjanskij, Ot Kerenktiny k proletarskoj 
diktature. Očerki pe istorii 1917 g. (1928): 9, 198—196 (M. Ju); Oktjabf v 
belogvardejskoj osveščenii (I Steinberg, Ot fevralja po oktjabf 1917 g.; V. 
Cernov, Konstruktivnyj socializm I; P. Miljukov, Rußlands Zusammen- 
bruch, — vgl. diese Jahrbücher N.F. IV, 292; P. Struve, Razmyllenija o 
russkoj revoljucii; Th. Masaryk, Weltrevolution): 5, 184—190 (S. G. 
Tomsinskij); A. M. Pankratova, Fabzavkomy i profsojuzy v revol- 
jucii 1917 g. (1927): 6, 287 f. (M. Jugov); Vserossijskoe soveščanie sovetov 
rabotich i soldatskich deputatov (Centroarchiv 1928): 8, 282—284 (M. Jug o v): 
Rabočij klass Urala v gody vojny i revoljucii. Red.: A. P. Tanja ev (Sverdlovsk 
1927): 6, 286 f. A. S-ov); M. Kubanin, Machnovščina. Istpart. Otdel po 
izučeniju istorii Oktjabr’skoj revoljucii i VKP (b). Istorija graždanskoj vojny 
8 6, 201—204 (I. Kizrin); P. S. Par fenov (Altajskij), Na 
s0tzlalatel'skich frontah (zur Geschichte der Republik des Fernen Ostens), 1927: 
5, 265—268 (K. Molotov); zu Parfenovs Arbeiten vgl. auch B. S um ja & ij 
in der Pravda Nr. 110 (8942) v. 18. Mai 1929. — Al. Gukovs ki j, Literatura 
o sojuznoj intervencii v Rossii v gody koj vojny: 6, 242—258 (1. Die 
Intervention der Franzosen in Südrußland 1918—1919: S. 248—249; 2. Die eng- 
lische Intervention in Transkaspien und Transkaukasien 1918—1919: S. 249—253); 
D. Kin, DenikinSina. Istpart CK VKP(b). Istorija gra2danskoj vojny Niall 
6, 288—291 (Al. Gukovskij); Poslednie dni Koltakovitiny. Sborni 
dokumentov (Centrarchiv 1926): 8, 288 f. (N. Rubinstein); Z.L Mirkin, 
SSSR, carskie dolgi i nali kontr-pretenzii (1928): 10, 254 (Al. Gukovs k ij); 
S. L. Danisevskij, Opyt „ Oktjabr’skoj revoljucii: 8, 227—280 
(M. Jug o v): V. S. Dragomireckij, Cecho-slovaki v Rossii v 1914—1920 
godu (1828): 11, 269 (A. Gukovskij). — Vgl. auch die Referate in diesen 
Jahrbüchern N. F. 5 (1929), 444 f. zu D. Kin, K istorii francuzskoj intervencii 
na juge Rossii . . . 1919 g. und I. Mi nc, Anglitane na severe (1918—1919 gg. 
ferner Anm. 824 in dieser Übersicht. 


172 


Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 


Die russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte ist in den vor- 
liegenden Heften hauptsächlich durch Rezensionen vertreten.“) Aus 
einer eingehenden Besprechung der „Geschichte der russischen Volks- 
wirtschaft“ von Lj a l& enk o) durch Frau M. Ne€kina ist 
folgendes hervorzuheben: 


Das streng nach dem Entwicklungsschema von Marx ge- 
gliederte Lehrbuch der russischen Virtschaftsgeschichte ist die einzige 
russische Gesamtdarstellung von den ältesten Zeiten bis zur Oktober- 
revolution, solange das Werk von Kuliber ““) nicht zu Ende geführt 
ist. Am Beispiel von Lja$&enkos Abgrenzung der Epoche des Handels- 
kapitalismus gegen die Epoche des Industriekapitalismus wird deut- 
lich, wie die allzu schematische Gliederung dem Verständnis von 
Übergangszeiten in der Wirtschaft schadet. Als letzte Stufe der 
kapitalistischen Entwicklung Rußlands ist das ursprüngliche Schema 
um die Stufe des Finanzkapitalismus erweitert, den L. (nah Vanag, 
Finansovyj kapital v Rossii nakanune mirovoj vojny, 1925) v. J. 1905 
an datiert. Die Rez. hebt die Behandlung der bäuerlichen Wirtschaft 
in der Epoche des Handelskapitalismus und der Moskauer Agrarkrise 
im 16. Jahrhundert hervor; wesentliche Punkte, in denen das Werk 
sich ergänzen ließe, seien: stärkeres Eingehen auf die Lage der ncben 
den gutswirtschaftlichen Verhältnissen in der Forschung zu wenig be- 
rücksichtigten bäuerlichen Wirtschaft vor der Reform von 1861; die 


27) Vgl. L. Trockijs Anzeige seit 1920 erschienener Beiträge zur alt- 
russischen Wirtschaftsgeschichte: 8, 190 f.; eine instruktive Übersicht über wirt- 
schaftsgeschichtliche Veröffentlichungen aus den Jahren 1922—1926 gab 
V. Pit eta: Sovremennaja literatura po istorii narodnogo chozjajstva (Minsk 
1927, 14 S.). 

328) P. I. Lj aK en ko, Istorija russkogo narodnogo chozjajstva (M.-L. 
1927): 6, 221—227; vgl. auch N. L. Rubinstein (Rubin&tejn), Do istorii 
rosijskogo narodnogo gospodarstva: Prapor marksizmu 5 — 1928 Nr. 4 S. 64—87. 

Der „Istorik-Marxist“ brachte eingehende Besprechungen von drei wirt- 
schaftsgeschichtlichen Chrestomathien (die besonderen Voraussetzungen für die 
immer größere Verfeinerung dieses verbreiteten Arbeitsinstruments der Hoch- 
schulpädagogik wurden in diesen Jahrbüchern N. F. IV, 279 f. angedeutet): 
M. Ne&kina zu B. D. Grekov und I. M. Trockij, Istorija russkogo 
narodnogo chozjajstva (Materialy dlja laborat. prorabotki voprosa). I: Promyl- 
lennyj kapitalizm (doreformennyj period), L. 1926: 4, 287 f.; Ark. Sidorov 
zu A. M. Bol“ la Kkov und N. A. RoZkov, Istorija chozjajstva Rossii v 
materialach i dokumentach III (1926): 4, 244 f.; ders. zu N. Vanag und 
S. Tomsinskij, Ekonomiteskoe razvitie Rossii I. SS promy3lennogo 
kapitalizma, II. Epocha finansovogo kapitalizma: 8, 220—222. 

320) I. M. Kuli ler, Istorija russkogo narodnogo chozjajstva (1925), von 
Ljaščenko im „Istorik-Marxist“ 8, 225 f. besprochen; über das Verhältnis 
der deutschen zur russischen Ausgabe stelle ih Anm. 80 meines ersten Berichts 
über den „Istorik-Marxist“ (N. F. IV, 292) nach frdl. Mitteilung des Herrn 
Herausgebers des „Handbuchs der Wirtschaftsgeschichte“ dahin richtig, daß K. 
seine russische Wirtschaftsgeschichte in deutscher Sprache für das Handbuch 
der Wirtschaftsgeschichte verfaßt hat und daß die deutshe Ausgabe 
das Original ist. — Über die erheblichen Änderungen der (nicht autori- 
sierten) russischen Ausgabe, namentlich in den Foie Ge Partien des 
Werkes, vgl. das Vorwort. 


173 


Aufhebung der Leibeigenschaft in ihrer Bedeutung fiir die Entwick- 
lung der proletarischen Landarbeiterschaft; das caristische Rußland 
als Kolonialmacht (in Sibirien, dem Kaukasus, in Mittelasien) nach den 
Anregungen M. N. Pokrovskijs in seinem Buche: Der Marxismus und 
die Besonderheiten der historischen Entwicklung Rußlands (Marksizm 
i osobennosti istori¢eskogo razvitija Rossii, 1925, S. 110 ff.); Er- 
gänzungen zur Geschichte der Wirtschaftstechnik in Rußland; Re- 
vision der Bibliographie. 

Man wird nicht zuweit gehen, wenn man im Vortrag von Frau 
Pankratova über die Erforschung der Geschichte des russischen 
Proletariats“) mit seiner Aufstellung eines marxistischen Schemas und 
einer Fülle, in einer lebhaften Diskussion erörterter Anregungen die 
Grundlage für eine Teildisziplin der marxistischen Geschichtsforschung 
sieht. Pokrovskij konnte die Bedeutung gerade dieses Vortrags nicht 
deutlicher machen, als indem er nach der Konferenz schrieb: ,,Die Ge- 
schichte unseres Proletariats in ihrer ganzen Eigentümlichkeit ver- 
stehen heißt die Eigenart unserer proletarischen Revolution ver- 
stehen.“) Da Frau Pankratova jedoch nur ein System für die Ent- 
wicklung der Arbeiterbewegung aufstellte und nur solche Fragen an- 
schnitt, die mit der Tndosteärbeiterschaft zusammenhängen, vermißt 
man in Pokrovskijs Formulierung einen Hinweis auf die russische 
Bauernbewegung, da die Eigenart der russischen Revolution in der 
Verbindung der Bauern- und der Arbeiterbewegung liegt. Eine Reihe 
von neueren Untersuchungen läßt erkennen, wieviel die Erforschung 
der Voraussetzungen für die Oktoberrevolution durch Aufhellung der 
Bauernbewegung in Rußland im 19. und 20. Jahrhundert gefördert 
wird.“) 

330) Vgl. Anm. 159 und das erste Heft der Zeitschrift: Istorija proletariata 
SSSR (1980). 

331) 11, 10. 

392) Vgl. die Thesen von S. M. Dubrovskijs Vortrag über „Die 
Bauernbewegung in Rußland im %. Jahrhundert“ in Oslo im oben (Anm. 188) 
angeführten „Résumé“; ders., Die Stolypinsche Agrarreform (Vortrag auf der 
Russ. Historikerwoche in Berlin; s. auch A. Sidorov zu I. I. Litvinov, 
Ekonomileskie posledstvija stolypinskogo agrarnogo zakonodatel’stva (RANION, 
Institut ekonomiki): 11, 204—207. — Dubrovskij ist Verfasser einer für 
das Verständnis der Oktoberrevolution grundlegenden Monographie: Krest’- 
janstvo v 1917 g., deutsch u. d. Titel: S. Dubrowski, Die Bauernbewegung 
in der russischen Revolution 1917 = Beiträge zum Studium der internationalen 
Agrarfrage (herausgeg. vom Internat. Agrarinstitut, Moskau) Bd. I (Berlin 1929). 
— Zur Agrarfrage 1917 vgl. ferner: Krest’janskoe dviZenie v 1917 godu. 
Centrarchiv („1917 g. v dokumentach i materialach“), pod. red. M. N. Pokrovs- 
kogo i J. A. Jakovleva (dazu A. Šestakov: 5, 262 f.): Agrarnaja 
revoljucija, II: Krest’janskoe dviženie v 1917 godu; pod red. V. P. Miljutina. 
Izd. Komakad., Agrarnaja sekcija (dazu O. Lidak: 7, 299—302); 
A. Šestakov zu O. Čaadaeva, Pomeščiki i ih organizacii v 1917 godu: 
9, 196 f. — M. Kubanin ergänzt seine frühere Darstellung der Umteilung des 
Gutsbesitzerlandes im Jahre 1917. Die Schilderung zeigt die vielfach anarchischen 
Formen der Liquidation des lebenden und toten — ım Prinzip nationalisierten 
oder kommunalisierten — wirtschaftlichen Gutsinventars in der Periode vor dem 
Siege der sog. „Dorfarmut“. Der Vorteil der kleinen Hofbesitzer gab den Aus- 
schlag: K istorii Oktjabrja v derevne 7, 18—35; ders., Pervyj peredel zemli: 


174 


Ro!:kovs Bemühungen um Aufhellung der „Geschichte der 
Arbeit“ in Rußland im 19. Jahrhundert ließ Pokrovskij durch die 
Bemerkung: „Was Rokkov in seinen letzten Lebensjahren für eine 
„Biographie“ der russischen Arbeiterklasse getan habe, mache eine 
Menge seiner alten Sünden wieder gut“,) Gerechtigkeit widerfahren. 
Eine posthume Veröffentlichung: „Die Manufaktur Prochorov 
in den ersten vierzig Jahren ihres Bestehens“ ) bildet die Illustration 
zu den von Rozkov in seinem Vortrag: „Zur Methodologie der Ge- 
schichte industrieller Unternehmen“) entwickelten methodischen 
Gesichtspunkten für die wissenschaftliche Auswertung von Fabrik- 
archiven weniger als Materialien zur Geschichte der russischen In- 
dustrie, der Arbriterbeweruns oder eines Einzelunternehmens als eines 
bestimmten wirtschaftlichen Organismus als vielmehr zur Erkenntnis 
der Fabrik als Wirtschaftsorganisation. Die allgemeine Charakteri- 
sierung der Manufaktur in den dreißiger Jahren auf Grund der in 
mühseliger Forschung gewonnenen Betriebsstatistik zeichnet das 
Unternehmen als Wirtschaftsorganisation des handelskapitalistischen 
Typus auf der Schwelle zur Umwandlung in eine Fabrik des betriebs- 
kapitalistischen Typus. 


Orient. 


Die Versuche, eine marxistische Methodologie für die Geschichte 
des Orients, insbesondere für die Geschichte Russisch-Mittelasiens zu 
begründen, wofür Ansätze bereits in den früher besprochenen Heften 
vorlagen,“) werden in engstem Zusammenhang mit der Erörterung 
der „Kolonialpolitik“ des caristischen Rußland in Mittelasien und der 
Erforschung der nationalen Freiheitsbewegung und der Oktober- 
revolution in Turkestan energisch fortgesetzt..) Ihrer Natur nach 
führen die hier auftauchenden Fragen tief in wenig geklärte und 
heftig umstrittene völkische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse 
des Orients, weshalb ich nur an einem Beispiel nach den Ausführungen 


Agrarnaja revoljucija 5. — Zur Haltung des Bauerntums vom März bis Mai 1917 
vgl. auch die Referate in wiesen Jahrbüchern N. k. 8 (1927), 274 f. über 
M. Martynov, Agrarnoe dvizenie v 1917 g. po dokumentam Glavnogo 
Zemel’nogo Komiteta (Krasnyj Archiv 1926, H. 14, S. 182—226) und N. F. 4 
(1928), 180 über den von J. Jakovlev im Krasnyj Archiv Bd. 15 heraus- 
gegebenen „Obzor poloZenija Rossii za trimesjaca .. .“. 

Die Literatur zur Geschichte der Bauernbewegung in Rußland im Zeitraum 
1801—1924 hat E. Morodhovec früher im Vestnik Komakad. — 8 (1923), 
415—422; 4, 465—472; 5, 276—290; 6, 451—474; 7 (1924), 421—444; 12 (1925), 
398—408 — zusammengestellt. 

333) 11,9; s. auch Ark. Sidorov, Istorileskie vzgljady N. A. Ro ko va: 
13, 184—220 und diese Jahrbücher. N.F. IV, 286 f. 


334) Prochorovskaja manufaktura za pervye 40 let ee suStestvovanija 
(1799—1889/40): 6, 79—110; 3. auch M. K. RoZkova, Opyt raboty nad 
arhivom Trechgornoj Manufaktury, und: Sostav raboti Trechgornoj 
Manufaktury (vo vtoroj polovine XIX veka): Istorija proletariata SSSR 1 (1930). 


338) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 287 f. 
$36) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 290 f. 


13 HF 6 176 


eines der Pioniere dieses marxistischen Forschungszweiges, P. 
Galuzo, auf die Problematik der bisherigen Untersuchungen hin- 
weisen möchte. 


Galuzo, der in einem Vortrag vor der Sektion für die Geschichte 
des Orients den Kapitalismus der turkestanischen Kolonie in der 
Zeit vor der Revolution von 1917 untersuchte,) packte das tur- 
kestanische Kolonialproblem rein wirtschaftlih an und sah bewußt 
von der gi foc ares Bedeutung Mittelasiens gegen England-Indien 
ab. Auf dreifache Weise habe sich die koloniale Ausbeutung Tur- 
kestans vollzogen: Turkestan sei der Tummelplatz des wucherischen 
russischen Handelskapitals beim Baumwollaufkauf und in der Kredi- 
tierung der Baumwollwirtschaft gewesen. Das Land sei einem unred- 
lichen und bestechlichen staatlichen Verwaltungsapparat ausgeliefert 
worden. Die dritte Art der Ausbeutung des Landes habe in der Be- 
drohung des Besitzes an bewässertem und bebautem Land der ein- 
geborenen Bevölkerung durch die russischen Einwanderer be- 
standen.“) 

Ob die Anwendung der Kategorien des marxistischen Schemas 
auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Mittelasiens in den 
letzten Jahrzehnten zum Verständnis Turkestans als Kolonie des 


kaiserlichen Rußlands — abgesehen von Differenzen im eigenen 
Lager“) — entscheidend beizutragen vermag, erscheint bei einer 


Art Gegenprobe, einem Vergleich mit nichtmarxistischen Begrün- 
dungen der kolonialen Rolle Turkestans, etwa durch O. H o e t zs dh. 
und G. Cle in ow, “ zum mindesten zweifelhaft.“) — 


337) Kolonial’naja politika carskogo pravitel’stva v srednej Azii: 9, 128—183; 
N. Ja. Vi tkind, Bibliografija po Srednej Azii (Ukazatel’ literatury po 
kolonial’noj politike carizma v Srednej Azii). Pod red. A. V. Šestakova 
= Trudy nautno-issledovat. associacii pri Kommunist. universitete trudjaߣichsja 
vostoka im. I. V. Stalina vyp. IV (1929). S. auch Anm. 842 


338) Gegen die unkritische Übernahme der marxistischen Darstellungen von 
der Kolonialpolitik des kaiserlichen Rußland in diesem Punkte durch Hans 
Kohn, „Geschichte der nationalen Bewegung im Orient“ (Berlin 1928) erhebt 
P. Vitte k im „Archiv für Sozialwiss. und Sozialpolitik“ 62 (1929), 144 f. Ein- 


wendungen. 


339) Vgl. außer der Diskussion zu Galuzos Vortrag vor allem M. Cviba k, 
Klassovaja bor ba v Turkestane: 11, 190—144 und 150 f. 


40) Russisch - Turkestan und die Tendenzen der heutigen russischen 
Kolonialpolitik: Schmollers Jahrbücher 37. Jg. (1918), 903—941 und 1427—1473. 


341) Die Grundlagen der Nationalitätenpolitik in Russisch-Zentralasien: 
Osteuropa 4 (1928—29), 559—578; vgl. auch Cleinows methodisch wichtigen Be- 
merkungen: „Deutsche Rußlandforschung“ in der Zeitschrift: Das Neue Rug- 
land 6. Jg. (1929), Nr. 1—2 S. 64 f. 


342) Siehe ferner: Olerki revoljucionnogo dvizenija v Srednej Azii. Sbornik 
state} (Moskva, Naučn. Assoc. Vostokoved. pri CIK SSSR, 1926); P.G.Galuzo, 
Voorukenie russkich pereselencev v Srednej Azii (Taškent 1926: Izd. Sredne- 
Aziatskogo Kommunist. universiteta im V. I. Lenina), dazu S. Tomsinskij: Peca t“ 
i revoljucija 1927 H. 3 S. 137 f. und E. Zel’kina: 3, 241 f.; Galuzo, 
Peres elen&eskaja politika carskogo pravitel'stva v Srednej Azii, dazu 
A. Sestakov: 6, 267 und 7, 311 Galuz o, E eg ee Olerk 
istorii Turkestana ot zavoevanija russkimi do revoljucii 1917 goda = Trudy 


176 


„Irandust“, Fragen der Revolution in Giljan.™) 


Nach den üblichen Versuchen, den Stand der nationalen Freiheits- 
bewegung im vorderen Orient (Arabien, Türkei, Persien) gegen den 
Imperialismus schematisch zu klassifizieren,“) wird die revolutionäre 
Bewegung in der persischen Provinz ijan 1911—1921 nicht als ein- 
fache Fortsetzung des Kampfes um die persishe Verfassung (sog. 
„persische Revolution“ 1905—1909), sondern als ihre höchste Stute 
sowohl in der Ausbildung der Klassengegensätze wie ihrem Programm 
nach charakterisiert: „Die Hauptbedeutung der Revolution in Giljan 
besteht darin, daß in sie diejenigen sozialen Schichten verwickelt 
waren, die an den vorigen Etappen der revolutionären Bewegung 
nicht teilgenommen hatten, die Bauernschaft und das Proletariat“ 
(S. 127). I. kennzeichnet die in der Epoche 1905—1909 sich ab- 
lösenden Träger der politishen und sozialen Bewegung in Persien 
(S. 126—131) und erblickt in der Revolution in Giljan die Aufein- 
anderfolge einer nationalen Befreiungsrevolution gegen den Im- 
perialismus, einer bürgerlich-demokratischen Revolution gegen den 
Feudalismus und einer proletarisch - kommunistischen Revolution 
gegen die Bourgeoisie. In einem chronologischen Schema der revo- 
lutionären Entwicklung in Giljan endigt die „Vorgeschichte“ mit dem 
Kampf des. Komitees Ittechad -e Islam mit Khan Kučik an der 
Spitze gegen die englische Okkupation Persiens 1918—19; die eigent- 
liche Revolution in Giljan läßt I. mit der Bildung der revolutionären 
Regierung Giljans unter Khan Kutik im Mai 1920 ihren Anfang 
nehmen, die eine unmittelbare Folge der Wiederaufrichtung der 


nau£no-issledovatel’skoj associacii pri Kommunistieskom universitete trudja$lichsja 
Vostoka imeni I. V. Stalina, vyp. I (1929), dazu Vl. Larent’ev: 14, 210—212; 
Galuzo zul. Rezcov, Oktjabf v Turkestane. Taškent 1927: 7, 
ders. zu P. Alekseenkov, Krest’janskoe vosstanie v Fergane. Taškent 1927 
8, 284—288; Šestakov zu L. Rezcov, K voprosu o roli russkogo kapitala 
v Turkestane: 7, 275; ders. zu P. Alekseenkov, Nacional’naja politika 
vremennogo pravitel’stva v Turkestane v 1917 g. (in: Prolet. Revoljucija 1928 
H. 8 = Nr. 79): 9, 175; Galuzo, O periodizacii nacional’no-osvoboditel’nogo 
dviženija v Srednej Azii: 11, 242—244 und 7 Trudy I, 521—554), Ja Rachauser 
(Ratgauzer) Social’naja suščnost’ partii musavatizma: 11, 245 und Trudy I, 
501—520. — VI. Sumilin zu V. Bartold, Istorija kul’turnoj Zizni 
Turkestana: 7, 302 f.; I. Chodorov, K voprosu ob istoriteskoj evoljucii 
zemlevladenija v Turkestane: 10, 121—158. 

P. Galuzo forderte am 12. Mai 1930 in der Pravda Vostoka (Taškent) 
Nr. 106 (2207), daß die Arbeit des Istpart in Mittelasien reorganisiert und ein 
Mittelasiatisches Institut für die Geschichte der Revolution (Sredne-Aziatskij 
institut istorii revoljucii) errichtet werde. Er erklärte u. a: „Barthold und 
seine Freunde und Verehrer sind noch nicht von ihrem Piedestal gestürzt, sie 
gelten noch weiter als Autorität nicht nur bei der parteilosen und oft kolonisa- 
torisch gestimmten Intelligenz, sondern sogar bei einigen Mitgliedern der Partei. 
Mehr als das: der Einfluß ihrer Auffassungen ist mitunter sogar in den Schriften 
von Marxisten wahrnehmbar.“ 


343) Voprosy giljanskoj revoljucii: 5, 124—146. 
344) z. B.: Der von Kemal eingeschlagene Weg ist der Weg der bürger- 
lichen Entwicklung, der sich gegen den Imperialismus und die Reste des Feuda- 


lismus richtet und durch bürgerliche Reformen eine Agrarrevolution hintanzu- 
halten sucht. 


177 


Herrschaft der Sovets in Baku war. — Die Arbeit ist ein sehr lehr- 
reiches Beispiel fiir die marxistische Behandlung eines Themas aus der 
neuesten Geschichte des Orients.“) 


S. Majzel, Saad Zaghlul Pascha und seine Rolle in der 
nationalen Freiheitsbewegung Agyptens.“) 


Wie andere Führer der nationalen Freiheitsbewegungen im 
Orient — Gandhi für Indien, Kemal Pascha für die Türkeı, Ab-ul 
Kerim für Marokko, Al-Atrasch für Syrien —, so wird Zaghlul für 
Agypten als Personifizierung des Protests und des Kampfes gegen den 
Imperialismus aufgefaßt. Als Ideologe der ägyptischen Bourgeoisie 
habe er die nationale Befreiung vorbereitet, de eine andere Klasse, 
die Masse der Arbeiter und Bauern, vollenden werde. 


Zur Geschichte der russischen Geschichtsschreibung. 


Heft 8 und 10 des „Istorik-Marxist“ standen im Zeichen des 
CernyS$evskij- Jubiläums, das von einer besonderen Kommission 
unter dem Vorsitz Pokrovskijs organisiert wurde.“) 

An erster Stelle steht die Wiedergabe von Pokrovskijs 
Vortrag über CernySevskij als Historiker“) in der Gesellschaft der 
marxistischen Historiker und der daran anschließenden Diskussion.“) 
-Pokrovskij führte etwa folgendes aus:) Mit vollem Recht lasse 
sich auf CernySevskij Lenins Wort anwenden, daß der Publizist der 
Gegenwarts-Historiker sei. „Publizistik und Geschichte durchdringen 
sich bei Cerny3evskij fortwährend gegenseitig; wenn er von Ver- 
gangenem sprach, hatte er ständig die Gegenwart im Auge und ständig 
suchte er die Gegenwart historisch zu erklären . . . .“ Unrichtig sei, 
CernySevskıj heute zu einem russischen „nationalen Marx“ zu 
stempeln; wie Plechanov bereits dargelegt habe, sei Cernylevskij auf 
dem Gebiete der Geschichte unzweifelhaft Idealist gewesen. So ent- 
wickelte er in einer Polemik gegen Herzen („Über die Ursachen von 
Roms Niedergang“) den Gedanken, daß die Vorwärtsbewegung der 
Kultur ausschließlich der Anhäufung und der Entwicklung des Wissens 


345) Vgl. auch 1, 142—158: M. P. Pavlovič, Revoljucija 1905 g. i vostok; 

sie he diese Jahrbücher N. F. IV, 290. SES ie: 
%%) Saad Zaglul Pala i ego rol’ v nacional’no-osvoboditel’nom dviženii 

Egipta (1860—1927): 6, 175—194. 
gg 33 Kommissija po jubileju Cernylevskogo pri prezidiume CIK SSSR: 

348) N. G. CernySevskij kak istorik: 8, 8—26; deutsch: 
N. G. Tscher nyschewski als Historiker, in der Zeitschrift: „Unter dem 
Banner des Marxismus“ (Verlag für Literatur und Politik, Berlin und Wien) 
H. 7 = 2. Jg. H. 4 (März-Nov. 1928), 488—465. — Über das gleiche Thema vgl. 
C. Friedland in den „Letopii marksizma“ Nr. 7/8 (1928) und 
A. Nifontov, K voprosu ob istoriteskich vzgljadach Cernylevskogo: Pod 
znamenem marksizma 1929 Nr. 11. 

349) 8, 185—152. 


350) Mein Referat lehnt sich in einigen Formulierungen an die Zusammen- 
ung in der Internat. Presse-Korrespondenz 9. Jg. Nr. 9 (29. Jan. 1929), 
. 171 an. 


178 


zu verdanken sei; in einem anderen Aufsatz (, Der Aberglaube und 
die Regeln der Logik“) verfocht er die „schroff bürgerliche, schroff 
anti-marxistische und anti-leninistische Theorie“, daß das lange Be- 
stehen der Leibeigenschaft durch die schlechte Verwaltung verursacht 
war. Ähnlich führte er in seinem Aufsatz über „Lessing, seine 
Zeit, sein Leben und Werk“ die Entwicklung des deutschen Volkes im 
Beginn des 19. Jahrhunderts lediglich auf die Literatur zurück. Die 
Uneinheitlichkeit von Cerny3evskijs historischer Auffassung versucht 
P. aus der Entwicklung von CernySevskijs Weltanschauung, wie sie 
sich in seinen Tagebü ern verfolgen läßt, zu erklären. Sicher ist, 
daß die Revolution von 1848 auf Cerny3evskij starken Eindruck 
machte.) 

In seinen Ansichten über westeuropäische oder orientalische 
Geschichte scheint Cernylevskij am ehesten dem Marxismus nahe zu 
stehen; allein seinem „Marxismus“ war die Vorstellung durchaus 
fremd, daß die Proletarisierung (proletariatstvo) ein notwendiges 
Stadium der sozialen Entwicklung ist, ohne das es keine sozialistische 
Revolution geben kann. Eine Gegenüberstellung der Charakteristik 
der Junischlacht bei C. (, Cavaignac“) und bei Marx („Klassenkämpfe 
in Frankreich“) zeigt den Unterschied in der Behandlung der Ereig- 
nisse. Wenn gewisse Äußerungen CernySevskijs zur Geschichte 
des Westens vielleicht eine milde Beurteilung nur als ärgerliche „Ab- 
weichungen“ von der im allgemeinen richtig durchgeführten materi- 
alistischen Linie zulassen, so stehe es um seine Stellungnahme zu 
russischen Ereignissen viel schlimmer. Hier gehe ihm der Klassen- 
instinkt mitunter völlig ab und — in einer außerordentlichen Verall- 
gemeinerung materialistischer Anschauungen — beginne er von 
Dingen zu sprechen, die mit Materialismus gar nichts zu tun haben 
und die völlig die Charakteristik CernySevskijs durch Plechanov recht- 
fertigen, der ihn für einen idealistischen Historiker erklärte. Am 
deutlichsten sei dies aus den „Briefen ohne Adresse“ (Pis’ma bez adres, 
1861) zu erkennen, wo sich Cerny3evskij zu der Behauptung verstieg, 
solange es in Rußland den Absolutismus gebe, könne es keinen 
Klassenkampf geben. Politisch waren die Briefe außerordentlich 
kühn, seit Radi§tevs Zeiten hatte die russische Druckpresse ähnliches 
nicht gesehen. Obwohl die Revolution von 1848 C. die Tatsache des 
Klassenkampfes und seine gewaltige Bedeutung für die europäische 
Geschichte hatte erkennen lassen, blieb er gegenüber den Er- 
scheinungen des Klassenkampfes in der russischen Geschichte, — in 
der Zeit der Wirren, den Aufständen Razins und Pugalevs, den 
Bauernunruhen und Ermordungen von Gutsbesitzern zu seiner Zeit — 
merkwürdig blind. Der russische Absolutismus hat den russischen 
Klassenkampf vor C. verhüllt. 


Auf den schwachen Seiten von CernySevskijs historischer An- 
schauung beruhte die Lehre der Narodniki. Ein glänzendes Beispiel 


351) Als Lücke empfindet man hier, daß Pokrovskij weitere westliche Ein- 
flüsse auf Cerny$evskij, z. B. seine Beschäftigung mit der deutschen Geschichts- 
schreibung (Gervinus, Schlosser, Georg Weber), nicht berücksichtigt. 


179 


seiner historischen Urteilskraft habe C. aber damit bewiesen, daß er 
1857 in seinen ,,Zamétki o Zurnalach“ bereits die Bedingungen fiir die 
Entfaltung des Kapitalismus in Rußland weitschauend entwickelte. 


In der Kommission für die Geschichte der Revolutionskriege 
und bewaffneter Aufstände hielt B. Gorev einen Vortrag über 
„CernySevskiji und die Revolutionskriege“. ““) Cerny3evskij stand 
militärischen Fragen eine Zeitlang besonders nahe, indem ihn das 
Kriegsministerium in der liberalen Reorganisationsperiode der im 
Krimkrieg maßlos kompromittierten Heeresverwaltung 1858 in die 
Redaktion des fortschrittlichen militärischen Fachorgans „Voennyj 
Sbornik“ berief. Gorev verglich CernySevskijs Urteile über „Re- 
volutionskriege“ seiner Zeit — den Juniaufstand von 1848, über die 
revolutionäre Bewegung in Italien 1859 während des österreichisch- 
französischen Krieges (Garibaldi!) und über den amerikanischen 
Bürgerkrieg — mit der Auffassung der gleichen Vorgänge durch Marx 
und Engels. — Die Diskussion, in der Svelin und Pokrovskij sprachen, 
spitzte sich auf die Frage zu, wie der von Marx als „bürgerliche Re- 
volution“ systematisierte amerikanische Bürgerkrieg wirtschafts- 
geschichtlich zu beurteilen sei. 


Seine Eröffnungsrede auf der offiziellen großen Cerny3evskijfeier 
benutzte Pokrovskij zu einem wuchtigen Vorstoß gegen die bis- 
her in der Literatur vertretenen Auffassungen über die Haltung des 
Bauerntums vor jener Epoche, die heute „zum Glück“ nicht mehr den 
Namen „Epoche der großen Reformen“ trage.“) 

Aus den im Archiv der III. Abteilung der „Höchsteigenen 
Kanzlei“ des Caren aufbewahrten Gendarmerie-Rapporten der Jahre 
1858—1860 gehe hervor, daß die bürgerliche Geschichtsschreibung 
(Vas. Iv. Semevskij, Ivanjukov) in der Entstehungsgeschichte der sog. 
„großen Reformen“ einen wesentlichen Zug völlie beiseite gelassen 
oder als unerheblich betrachtet habe. In einem Auszug aus einem 
Bericht des Chefs der Gendarmerie an den Caren aus dem Jahre 1858 
wird unumwunden die Gärung unter den Bauern zugegeben, die im 
Laufe des Jahres in 25 Gouvernements zu Unruhen geführt habe und 
dem Caren nicht die Schuld verhehlt, die Übergriffe der Gutsbesitzer 
an diesem Zustand trügen; ) ein Bericht der Gouvernementsver- 
waltung von Tvef enthüllt empörende Einzelheiten. Ein Gen- 
darmeriebericht aus Saratov weist auf die Gefahr hin, die darin liege, 
daß die bessergestellten Staatsbauern mit leibeigenen Bauern gemein- 
same Sache machten und daß sogar Teile des Kleinbürgertums, untere 
Beamte, Studenten und kleine Hofbesitzer mit den unruhigen Ele- 
menten sympathisierten.**) Die Gärung unter der Bauernschaft gegen 
die Branntweinpächter führte außer der Demolierung zahlreicher 
Kneipen in weıten Bezirken eine überraschend ernsthafte Enthaltsam- 


352) Cernylevskij i revoljucionnye vojny: 10, 178—196. 

353) Černyševskij i krest’janskoe dviZenie konca 1850-ch godov: 10, 8—12. 
154) S. 3. 

355) S. 7—9. 


180 


keitsbewegung herbei. Neben der Unzufriedenheit im Dorfe machten 
der Regierung Unruhen der am Bau von Eisenbahnen beschäftigten 
Arbeitermassen beträchtlich zu schaffen. . 

Pokrovskij betrachtet Cerny3evskijss „Materialy dlja rebenija 
krest janskogo voprosa“ (Materialien zur Entscheidung der Bauern- 
frage) als „ein prächtiges, ein erstaunliches Beispiel einer Kriegslist“ 
(„voennaja maskirovka“)**) und erklärt sie als die auf die Zensur be- 
rechneten „geschickt maskierten Losungen der Bauernbe wegung.) 
Aus den Werken CernySevskijs schlage einem die glühende Atmo- 
sphäre jener Jahre entgegen. „Durch ihn, durch seine Schriften blickt 
auf uns die Revolution, die in Rußland in den Jahren 1859 — 1861 
ihren Anfang nahm, die 1905 in heller Flamme aufloderte und im 
Jahre 1917 siegte..) 

Em. Gaz ganov: „Die historischen Anschauungen Plecha- 
novs“ ) treibt Plechanovs Theorien über den Kampf des westlichen 
Einflusses und des Orients, mit anderen Worten: der Prinzipien der 
Revolution und der Reaktion in der russischen Geschichte schematisch 
auf die Spitze: auf der einen Seite die Menscheviki, die Aufklärer, 
die „Vestler“ (zapadniki), die petrinische Reform, der Westen —, 
auf der anderen: die Bolscheviki, die Narodniki, die Slavophilen, das 
Moskauer Rußland = „Orient“. Indem Gazganov Plechanov zum 
„Narodnik-bakunist“ erklärt, geht er weiter als Lenin, der Plechanovs 


200) S. 4 

387) S. 12. 

358) Heft 8 des „Istorik-Marxist“ bringt über Cernylevskij ferner: den in 
der t der marxistischen Historiker nicht ohne Widerspruch aufge- 


nommenen Vortrag von |: M. Steklov, dem Biographen CernySevskijs 
N. G. Cernylevskij, Ego Zizh i dejatel'nost“; zur 2. Aufl. des I. Bandes vgl. 
V. Kirpotin: 11, 162—160), über das Thema: ,,Cerny$evskij und seine 
politischen Anschauungen“ (C. i ego polititeskie vozzrenija): S. 129—141; einen 
Beitrag von V. Kirpotin (S. 27—40): ,,Cerny$evskij i marksizm“, der C. 
nachsagt, er habe die Bedeutung des Klassenkamptes verkannt; einen Literatur- 
bericht zum Cernylevskij- Jubiläum von M. Netkina (S. 178—179; Forts.: 
10, 211—221; s. auch Kniga i revoljucija 1929 Nr. 1): die bedeutendste Erscheinung 
war der erste Band von Cernylevskijs literarischer Hinterlassenschaft (Literaturnoe 
nasledie N. G. Cernylevskogo, 1928) mit Cernylevskijs Tagebuch 1849—1858. Der 
Grundzug der Jubiläumsliteratur war natürlich, das „einzig richtige“, ein „korrekt 
marxistisches Verständnis“ Cerny3evskijs als des „Ideologen“ der bäuerlichen 
Revolution Rußlands in den fünfziger und sechziger Jahren zu verbreiten; 
vgl. insbesondere Ark. Lomakin, Cerny%evskij-predteta našej partii: Izvestija 
Nr. 271 (8505) u. 272 (8606) v. 22. und 28. Nov. 1928. Immerhin empfand man 
seine „Bolschevisierung‘‘ durch Steklov, der aus ihm eine Art russischen Marx ge- 
macht habe, als bedenklich und als einen unrichtigen Maßstab; dem Urteil, 
Plechanovs Arbeit über Cernylevskij (Nik. Gawr. Tschernyschewski, Stuttgart 
1894) habe durch die neuere Forschung an Bedeutung verloren (8, 173) ist die 
fortwährende Bezugnahme darauf in der marxistischen Cernylevskijliteratur 
— sei es auch nur, um Widerspruch gegen Plechanov anzumelden — entgegen- 
zuhalten. — Vgl. auch B. Gore v über Bd. I der Izbrannye solinenija N. G. 
Cernylevskogo: 18, 252 f.; A. Skafty mov, Das Jubiläum N. G. Cerny- 
Yevskijs (Bibliograph. Übersicht): Slav. Rundschau 1 (1929) S. 171—177, und die 
Referate von Veröffentlichungen über Cernylevskij in diesen Jahrbüchern N. F. 3 
(1927), 174 f. und 528 f.; N. F. 5 (1929), 125 f. und 488. 


850) Istoriceskie vzgljady Plechanova: 7, 69—116. 


181 


Deutung des Moskauer Staats als Ubertreibung der von den Narod- 
niki vertretenen Ansichten bezeichnet hatte.“) 

D. Kin: N. N. Baturin (1877—1927) als Historiker der 
Partei.“) 


Baturins Hauptwerk, seine populäre, jedoch durch ihr streng bol- 
schevistisch-leninistisches parteigeschichtliches Schema bemerkenswerte 
„Skizze der Geschichte der Sozialdemokratie in Rußland“ (Oéerk istorii 
socialdemokratii v Rossii, zuerst 1906 — einer der frühesten Versuche, 
die Geschichte der russischen Sozialdemokratie im Sinne des bolsche- 
vistischen Flügels zu schreiben — wurde ursprünglich der inter- 
nationalen Bedeutung des Bolschevismus nicht ganz gerecht; spätere, 
bisher nicht veröffentlichte Vorlesungen Baturins hätten jedoch in 
dieser Hinsicht durchaus der bolschevistishen Konzeption ent- 
sprochen. In seiner Periodisierung der Geschichte der russischen 
Sozialdemokratie in der Periode vor der „Iskra“ lehnte sich Baturin 
streng an den Schluß abschnitt von Lenins Schrift: ,,Cto delat’ an. 
Kins Ausführungen über die Anfänge des russischen Marxismus und 
der russischen Sozialdemokratie sind beachtenswert, da er zu be- 
stimmen sucht, inwiefern Herzen, Belinskij, Cerny3evskij und die Re- 
volutionäre der siebziger er als Vorläufer der russischen Sozial- 
demokratie angesehen werden können. 


V. Gurko-KrjaZin: M. P. Pavlovič als Historiker.“) 


Der im Juni 1926 verstorbene marxistische Historiker der inter- 
nationalen Beziehungen in der Epoche des Imperialismus sah im Im- 
perialismus eine wirtschaftliche Kategorie, durch die alle kapitalisti- 
schen Staaten hindurchgehen müßten, wobei er besonders den Einfluß 
der Schwerindustrie auf die innere Wirtschaft und auf die äußere 
Politik der imperialistischen Staaten zu zeichnen suchte (Pavlovits sog. 
„metallurgische Theorie“). Die Überschätzung eines einzelnen öko- 
nomischen Faktors hatte gewisse Einseitigkeiten in Pavlovids histori- 
schen Arbeiten zur Folge; z. B. erschien ihm der deutsch-französische 
Gegensatz im wesentlichen als „klassischer metallurgischer Konflikt“.“) 
Pavlovičs Hauptwerke sind zusammengefaßt unter dem Obertitel: 
„Die Grundlagen der imperialistischen Politik und der Weltkrieg 
1914—1918“ (Osnovy imperialisti¢eskoj politiki i Mirovaja vojna 
1914—1918) — das vierbändige Werk: „Der Imperialismus und der 
Kampf um die Weltstraßen“; der „Imperialismus, die Internationale 
des Todes und der Zefstörung“, „Militarismus, Marxismus und der 
Krieg 1914—1918“ und „Der französische Imperialismus“, ferner: 
„Die RSFSR in imperialistischer Einkreisung“ (RSFSR v imperialisti- 
českom okruZenii, 4 Bände). 


369) Zur heutigen Beurteilung Plechanovs vgl. auch Sestakov (7, 271) 
und den Hinweis auf die Plechanov- Bibliographie der Zeitschrift Katorga 1 ssylka 
1928 Nr. 5: 8. 201. 


361) N. N. Baturin kak istorik partii: 6, 195—201. 
362) M. P. Pavlovič, kak istorik: 5, 147—152. 
203) Siehe auch 8, 218. 


182 


Seine intensive wissenschaftliche und agitatorische Beschäftigung 
mit Orientfragen im weitesten Sinne und persönliche Fühlung mit den 
Kreisen, die als Träger der orientalischen Freiheitsbewegungen im 
Jahrzehnt vor dem Kriege erscheinen, ließ Pavlovič nach der Oktober- 
revolution zum Pionier einer neuen marxistischen, vor allem auf die 
Gegenwart und die sog. „Realien“ eingestellten Orientalistik 
werden,“) die in ihm eine organisatorische Kraft ersten Ranges ver- 
lor, — den Anreger der „Wissenschaftlichen Assoziation für Orient- 
kunde“ (Nautnaja associacija Vostokovedenija), den Rektor des Mos- 
kauer Instituts für Orientkunde und Bevollmächtigten des Zentralen 
Vollzugsausschusses beim Leningrader Orient-Institut.™) 


Zur marxistischen Forschung über die Geschichte der Großen 
Französischen Revolution. 


Meine früheren Mitteilungen über die Rolle der Großen Fran- 
zösischen Revolution in der russischen marxistischen Forschung“) 
ergänze ich durch einige prinzipielle russische Äußerungen, weil dieser 
Zweig der Auslandsgeschichte in der Berichtszeit, wie bereits erwähnt, 
für den politischen Tageskampf unmittelbar die Schlagwort-Analogie 
des „termidorjanstvo“ geliefert hat.“) 


N. Lukin: Die Große Französische Revolution in Arbeiten von 
Sovethistorikern.“) 


Seiner überaus sorgfältigen Ubersicht über nur streng wissen- 
schaftliche Arbeiten schickt Lukin eine Einleitung voraus, in der er 
das ausschließliche Interesse der sog. „Russischen Schule“ unter den 
Erforschern der Französischen Revolution vor dem Kriege (Karéev, 
Kovalevskij, Ludickij, Tarle u. a.) ) für die Lage des französischen 
Bauerntums am Vorabend der Großen Revolution aus dem Zu- 
sammenhang jener Forscher mit den Fragestellungen der russischen 
Narodniki-Intelligenz der siebziger Jahre und von der Bedeutung, die 
die Agrarfrage für Rußland um die Jahrhundertwende, insbesondere 
in der Revolution von 1905 erlangte, herleitet; ihr verhältnismäßi 
schwaches Interesse für die Epoche der Jakobinerdiktatur oder für die 
Lage der Arbeiterklasse und zu den Keimen sozialistischer Bewegungen 
in der Epoche der Großen Revolution führt er außer auf die Schwäche 
der Arbeiterbewegung in Rußland bis in die neunziger Jahre auf die 


et) Vgl. R. Salomon, Die Neuorganisation der orientalistischen Studien 
in Rußland: Der Islam Bd. 14 (1924), 878—880; Th. Menzel, Das heutige 
Rußland und die Orientalistik: Ebda. Bd. 17 (1928), 88; N. I. Borozdin, 
The Progress of Orientology in the USSR: Pacific affairs Nr. 6 (June 1929), 


. Ober Pavlovič: Novy Vostok 18 (1927), V—LXXVIII, auch: Wochen- 
bericht 8. Jg. Nr. 26—27 (8. Juli 1927), 8—11. 


388) Diese Jahrbücher N. F. IV, 282. 
%7) Siehe oben Anm. 18. 


i 200 Velikaja francuzskaja revoljucija v rabotach sovetskich istorikov: 5, 
see) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 282, Anm. 14a. 


183 


Zusammensetzung des Lehrkörpers der Universitäten aus liberalen 
oder Narodniki-Anschauungen zuneigenden Elementen zurück. 


Seit dem Umsturz 1917 ist in Rußland eine Gruppe junger 
marxistischer Historiker im Wachsen, die sich für die Geschichte 
Frankreichs am Ausgang des 18. Jahrhunderts spezialisiert hat und die 
z. B. in den Schätzen des Marx-Engels-Instituts an Büchern und Archi- 
valien einzigartige Arbeitsmöglichkeiten 5 Die Anziehun 
kraft der Epoche der Großen Französischen Revolution — neben der 
Pariser Commune von 1871 — erklärt Lukin folgendermaßen: „Bei 
aller Verschiedenheit der sozial- ökonomischen Grundlagen der Großen 
Französischen und der russischen proletarischen Revolution des 
20. Jahrhunderts gibt es zwischen beiden unzweifelhaft in einigen 
Zügen Ahnlichkeiten, die Parallelen zulassen zwischen der Lage der 
französischen Republik in den Jahren 1793—1795 und der Sovet- 
republik in den Jahren des Bürgerkriegs und der Intervention, der 
Ernährungs- und Finanzpolitik in der Epoche der Jakobinerdiktatur 
einerseits und unserer Virtschaftspolitik in der Epoche des Kriegs- 
kommunismus andererseits, zwischen der Reorganisation der be- 
waffneten Kräfte des Konvents und dem Aufbau der Roten Armee 
usw. Die Jakobinerorganisation selbst — mit ihrem streng zentralisti- 
schen Apparat, ihren Reinigungen, ihren Parteimobilisierungen und 
der festen Verbindung mit den Massen — erinnert in vielem an die 
Kommunistische Partei der Bolscheviki.“ “) 


Unter den Urteilen Lukins ist bemerkenswert die Charakteri- 
sierung des Kapitalwerks von Karéev: „Die Historiker der Fran- 
zösischen Revolution““) als eines Werks höchster Erudition und als 
eines unentbehrlichen Hilfsmittels für die Arbeit auf dem Gebiete der 
Französischen Revolution; zugleich aber bringt er seine Enttäuschung 
über den von ihm unbedingt abgelehnten „historischen Idealismus“ 
des Autors zum Ausdruck. 


In seinem Nachruf auf A. Aulard (1849—1928)*”) unter- 
läßt Lukin, der A. als den bedeutendsten Vertreter der bürgerlich- 
demokratischen Tradition in der Erforschung der Französischen Re- 
volution gerecht und sympathisch würdigt, nicht, den Gründen für 
Aulards Ablehnung der Oktoberrevolution und seine unverhüllte Ab- 
neigung gegen die Räterepublik nachzugehen und bedauert wegen 
Aulards nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die öffentliche 
Meinung in Frankreich seine engen Beziehungen zur russischen Emi- 
pranon Am deutlichsten nahm Aulard zum Bolschevismus in einer 

roschiire: „La théorie de la force et la révolution française“ Stellung, 

370) Siehe oben S. 101 und Anl. 1 (S. 190). 

371) S. 197. 

312) Istoriki francuzskoj revoljucii Bd. I: Die französischen Historiker der 


ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; II: Die französischen Historiker der zweiten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts; III: Die Erforschung der Revolution außerhalb 
Frankreichs (deutsche, belgische, italienische, ehe und russische Historiker). 
Leningrad 1924. 


373) 10, 71—88. 


184 


durch die er nachzuweisen suchte, daß die Bolscheviki sich zu Unrecht 
auf das Beispiel des Konvents beriefen; die Theorie der Gewalt und 
der Diktatur sei dem ganzen Geist der Französischen Revolution völli 
fremd gewesen und nie durch ihre Führer geteilt worden. D 
Mathiez *) in der Erforschung der Französischen Revolution dem 
Begriff des Klassenkampfes Eingang verschafft habe, daß er Robe- 
spierre und damit das Regime der Diktatur und des Terrors rehabili- 
tiert habe, bedeute vom Standpunkt Aulards und seiner Schule aus 
nichts anderes als den Kommunisten Vorschub leisten. 


Friedland’) bezeichnete als das wichtigste Feld der fran- 
zösischen Revolutionsgeschichte für die marxistischen Historiker die 
allzusehr vernachlässigte Virtschaftsgeschichte der Revolution, 
daneben das in den letzten Jahren stark hervortretende spezielle Ein- 
peen etwa auf den Klassenkampf in Frankreich in der Epoche des 

errors, auf die Emigrantenfrage und auf die sozialen Lehren des 
18. Jahrhunderts (, Egalitarismus“).“ ) Den Historikern der alten 
„Russischen Schule“ in der Erforschung der Französischen Revolution 
habe es am richtigen Verständnis für den Zusammenhang zwischen 
= N Verhältnissen und dem sozial- politischen Kampf 
gefehlt. 


Der „Istorik-Marxist“ als Rezensionsorgan und bibliographische 
. Hilfsmittel. 

In zahlreichen Referaten tritt das Leninsche Schema als Norm 
in befremdender Selbstabdankung der Autoren vom Mute zu eigener 
Verantwortung als Kritiker entgegen; Rückzug auf Lenins Autorität 
an Stelle des Versuchs einer sachlichen Widerlegung ist in der marxisti- 
ee Kritik ein häufig angewandtes bequemes Auskunfts- 
mittel. 


374) Vgl. auch diese Jahrbücher N. F. IV, 282, Anm. 14a; der Titel von 
Aulards Beitrag im „Golos minuvlago na čužoj storond“ N.S. 1 (1926), 7—9 
lautet: Russkoe vlijanie v izudenii francuzskoj revoljucii. 


874a) Vgl. unten Anlage 2 Anm. 2a und 9. 


_ ) Icogi izulenija Velikoj francuzskoj revoljucii za 10 let i zadali 
sstorikov-marxistov, vgl. Anm. 168. 


76) S. Anm. 183. 


877) Z. B. 9, 195 (M. je: „Wir denken, daß es in unserer Mitte genügt, 
festzustellen, daß diese Ansicht den Ansichten Lenins widerspricht“; G. Reich - 
berg zu P. Kurc (Russko-kitajskie snogenija v XVI, XVII i XVIII stoletijach. 
1929: 11, 212) Ot Anwendung des Begriffs „imperialistisch“ auf die russische 
und chinesische Eroberungspolitik ım 17. und 18. Tabchunder egen die zwischen 
beiden Reichen wohnenden Völkerschaften: „Das widerspricht der Leninschen 
Auffassung des Imperialismus“; V. Rachmetov zu S. Piontkovskij 
(Očerki po istorii Rossii v XIX—XX v. v., 1928): „Der Autor geht mit dem 
revolutionären Marxismus-Leninismus in einer Reihe prinzipieller Fragen ausein- 
ander“: 7, 228; O. Lidak gegen V. P. Miljutins Spaltung des Leninis- 
mus im „reinen“ Leninismus (= Diktatur des Proletariats) und „bedingten“: 
Leninismus auf Rußland bezogen — Theorie der Diktatur des Proletariats in 
einem Lande mit Überwiegen des Bauerntums (7, 299) usw. 


185 


Unter der alarmierenden Überschrift: „Die Landeskunde in den 
Händen bürgerlicher Gelehrter“ besprach V. Seltzer (Zel’cer) eine 
Veröffentlichung der Gesellschaft zur Erforschung des Gouvernements 
Moskau, “) über die ich früher in diesen Jahrbüchern referiert 
habe.“) Diese Anzeige ist ein Muster verbissener, denunziatorischer 
Nörgelei an der wissenschaftlichen Arbeit einiger nichtmarxistischer 
Gelehrter, „die das Leben des Führers der Revolution, des Proletariats, 
noch nicht zu interessieren vermochte“ ($. 250). Der Sammelband 
entspreche nicht den aktuellen Forderungen, weder methodisch noch 
thematisch. S. erklärt, das Netz der provinzialen wissenschaftlichen 
Einrichtungen, Lehranstalten, Gesellschaften, Museen usw. diene als 
Zuflucht für die „bürgerliche Professur“ und ihre Schüler, wo sie völlig 
unkontrolliert, wenn auch sehr vorsichtig, die bürgerliche Ideologie 
konservierten; es sei an der Zeit, daß die marxistischen Historiker 
diesen Verhältnissen größere Aufmerksamkeit schenkten.) 


DierussischeZeitschriftenschau des „Istorik-Marxist“ ) 
vermittelte weiterhin einen vollständigen kritischen Überblick über 
die folgenden, vorwiegend der Geschichte der revolutionären Be- 
wegung in Rußland und der Geschichte der bolschevistischen Partei 
dienenden Periodica: „Proletarskaja revoljucija“ (Institut Lenina pri 


. ) Moskovskij kraj v ego prošlom. Olerki po social’noj i ekonomiteskoj 
istorii XVI—XIX vekov. Pod. red. prof. S. V. BachruSina = 
en izucenija Moskovskoj gubernii, vyp. I; vgl. Istorik-Marxist 10, 


370) N. F. 5 (1929), 122—125. 


360) Daß Seltzer das Nichtvorkommen des Wortes „Klasse“ bei Bach- 
ruin beanstandet (10, 246 — die gleiche Feststellung in Seltzers Besprechung 
des I. Bandes der „Zapiski istoriko-bytovogo otdela gosud. russkogo muzeja“: 8, 
227) führt auf einen sonderbaren Auswuchs orthodox-marxistischer ideologischer 
Splitterrichterei an den Arbeiten von Nichtmarxisten. In ähnlicher Weise teilte 
Friedland in der Diskussion um PetruSevskij magere Ergebnisse seiner 
Jagd auf das Wort „Klassenkampf“ in einem Werk von Petrulevskij mit 
Andererseits wird als „ideologische Eroberung“ selbstgefällig registriert, 
wenn Historiker der alten Schule — mitunter „vielleicht ohne es selbst zu 
merken“ — ihre Auffassungen dem offiziellen Geschichtsbild anzunähern scheinen; 
vgl z. B. A. Sestakov über N. N. Firsov: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 8 
S. 189—141; Javorskyj über Bagalej: Vestnik Komakad. 26 (1928), 
272. — „Aus der allmählichen Annäherung an den Marxismus resultiert die Frucht- 
barkeit von A. E. Presnjakovs wissenschaftlicher Arbeit und der Erfolg 
seines methodologischen Vorgehens“: I. Tatarov über A. E. Presnjakov (als 
Kandidaten für die Zuwahlen zur Akademie): Izvestija Nr. 240 (8474) v. 14. Oke. 
1928; vgl. Krivolein a: Izvestija Nr. 209 (8533) v. 25. Dez. 1928; dem 
Akademiker Petru$evskij, der sich von den marzistischen Lehren immer 
weiter entferne, trug dieses Verhalten von seiten Pokrovskijs die Kenn- 
zeichnung: „eine Art umgekehrter Presnjakov“ ein (Novye telenija v russkoj 
istoriceskoj literature: 7, 5). 

381) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 293. — Beachtenswerte Ausführungen 
über das russische historische Zeitschriftenwesen brachte die Pravda Nr. 118 (3945) 
v. 17. Mai 1929 (A. P.): „Istorikeskie i istoriko - revoljucionnye Zurnaly v 
1928 g. 


186 


CK VEP [b],”) „Katorga i ssylka“ (Istoriko-revoljucionnyj vestnik; 
izd. ob3lestva byvSich politkatorZan i ssyl' no- poselencev),“ ) ,,Kras- 
naja letopi$“ (Organ Leningradskogo istparta)ꝰ ) ,,Litopis revoljucii“ 
(Zurnal Istparta CK KP[bJU; Zeitschrift des Ukrainischen Istpart),“) 
»Kommunističeskaja Mysl“ (Organ Sredne-Aziatskogo Kommunisti- 
českogo universiteta imeni V. I. Lenina, TaSkent)***) ferner über das 
in diesen Jahrbüchern regelmäßig berücksichtigte und im Ausland von 
allen russischen historischen Organen weitaus am häufigsten zitierte 
„Krasnyj Archiv“.“) 

Ein erstaunliches Novum bildet in H. 11 unter der Uberschrift 
„Im weißen Lager“ ) der Beginn von Literaturberichten über histori- 
sche Veröffentlichungen der russischen Emigration; angezeigt sind 
zunächst nur periodische Veröffentlichungen und Sammelbände.“ ) 
Der Versuch, die marxistische Forschung mit der historischen Arbeit 
der russischen Emigration bekanntzumachen, erscheint — wenn auch 
zunächst nur ein geringer Bruchteil erfaßt ist“) — um so beachtens- 
werter, als demgegenüber die Organe der russischen Emigration in der 
Unterrichtung ihres Leserkreises auch nur über die wichtigsten peri- 
odischen räterussischen Veröffentlichungen durchweg versagen; diesen 
empfindlichen Mangel an Kontakt mit der Publizistik des heutigen 
Rußland kann die politische Tagesschriftstellerei der Emigration durch 


382) 1927 H. 6—9 (= 65—68): 5, 231—234; 10 und 11 (= 69, 70): 6 
264—266; 12 (71) und 1928 H. 1 und 2 (= 72, 73): 7, 270—272; 3—5 (= 
es 8, 199 f.; 6—8 (= 77—79): 9, 175 f.; 9—12 (= 80—83): 11, 

383) Den Hauptinhalt dieser Zeitschrift der Organisation unmittelbarer 
Teilnehmer an der revolutionären Bewegung im kaiserlichen Rußland bilden 
Memoiren und autobiographisches Material: 1927 H. 4—6 (= 33—35): 5, 236 f.; 
7 (86): 6, 267; 8 (= 37) und 1928 H. 1—3 (= 88—40): 7, 272 f.; 4-5 
(= 41, 42): 8, 200 f.; 6, 7 (= 48, 44): 9, 176; 8—12 (= 45—49): 11, 171. 

ss) 1927 H. 2 (= 23): 6, 266; 8 (24) und 1928 H. 1 (25): 7, 278 f.; 
2 (26): 9, 176 f.; 3 (27): 11, 172 f. 

205) 6. Jg. (1927), H. 2—4: 5, 235 f.; 5—6. und 7. Jg. (1928), H. 1: 7, 274 f.; 
H. 2: 8, 201 . 

see) 1926/27 H. 1—3: 5, 287 f.; H. 5: 6, 267; H. 6: 7, 275; die Zeitschrift: 
„Revoljucionnyj vostok“, hrsg. von der Nauéno-issledovat. associacija pri Kom- 
munist. Universitete trudjalk. Vostoka im. I. V Stalina, wurde bisher nicht be- 
riicksichtigt. 

387) In H. 5—11 des „Istorik-Marksist“ wurden die Nummern 20—30 des 
KA angezeigt. 

388) A. Gukovskij und J. Troc&kij, V belom stane: S. 266—275. 

389) „Beloe delo“ H. 4—6 (1928) mit den Aufzeichnungen des Generals 
Vrangel (vgl. dazu auh V. Mjakotin in den „Sovrem. zap.“ Nr. 38 
S. 587—544); „Archiv russkoj revoljucii 19 (1928), „Volja Rossii“ H. 8—11; 
„Irudy russkich udenych za granicej“, I und II (Berlin 1922/23); „Istorik i 
sovremennik“ rlin 1922/24), „Na ¢uzoj storone“ (1923—1925), »Golos 
minuvlago na čužoj storoně“ (1926—1928), „Ulenye zapiski“, osnov. russkoj 
učebnoj kollegiej v Pragt I (1924), „Zapiski instituta izučenija Rossii“ I, II (Prag 
1925). Eine erhebliche Lücke klafft in dem Bericht durch Nichterwihnung der 
„Sovremennyja zapiski“ (seit 1920) mit einer Fülle von historischen Beiträgen. 

3%) Vgl. oben Anm. 47, den Hinweis auf die Übersichten über die russische 
historische Literatur, die der Emigration verdankt wird. 


187 


noch so aufmerksame Verfolgung und Exzerpierung der russischen 
Tagespresse nicht ausgleichen, weil die wesentlichen geistigen Aus- 
einandersetzungen innerhalb der bolschevistischen Partei und der 
„bolschevistischen Elite“ mit ihren ausländischen Gegnern in Zeit- 
schriften — außer in den oben aufgeführten Organen der Kommu- 
nistischen Akademie in historischen Zeitschriften und Rezensions- 
organen, vor allem im „Bol’$evik“, in „Pod znamenem marksizma“, 
in der „Kommunistileskaja revoljucija“, im „Prapor Marksizmu“ 
(ukrain.) u. a. — ausgetragen werden. Die systematische Unter- 
schätzung und Nichtbeachtung einer der geistigen Säulen des Sovet- 
regimes, der politisch-historischen Periodica, durch „das andere Ruß- 
land“ berührt eigentümlich und ist aus der Absorption durch die 
Auseinandersetzungen im Lager der Emigration selbst allein nicht zu 
erklären. 

Die Übersicht über die historischen Zeitschriften des Aus- 
landes***) berücksichtigte deutsche, italienische, französische und eng- 
lische Organe und beachtete von deutschen Zeitschriften jetzt neben 
der „Historischen Zeitschrift“ (Bd. 135—137, 139) und dem „Archiv 
für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ auch 
das „Historische Jahrbuch“ (Bd. 46 und 47), das Archiv für Sozial- 
wissenschaft und Sozialpolitik“ (Bd. 55—57) und die „Zeitschrift für 
die gesamten Staatswissenschaften“ (Bd. 82 und 83).**) In diesen 
Übersichten fehlen wieder nicht manche grundfalschen, den deutschen 
Leser grotesk anmutende Werturteile; z. B. mit M. Braubachs 
Eintreten für eine gerechtere Beurteilung der Aufklärung („Die Eudä- 
monia“ 1795—1798. Ein Beitrag zur deutschen Publizistik im Zeit- 
alter der Aufklärung und der Revolution“: „Historisches Jahrbuch“ 
Bd. 47) wird der russische Leser folgendermaßen bekanntgemacht: 
Die kunstvoll aufgesetzte Maske der Objektivität kann indes nicht 
über die offenbare Sympathie des Autors mit seinen Gesinnungs- 
genossen in der fernen Vergangenheit hinwegtäuschen.“) F. 
Meine ckes Abhandlung: „Kausalitäten und Werte in der Ge- 
schichte“ (,, Histor. Zeitschrift“ Bd. 137) wurde als „Manifest der 
idealistischen und politischen historischen Schule“ gekennzeichnet. 
„Meinecke greift an und verteidigt sich, gestützt auf solide Gelehr- 
samkeit. Die Analyse und Kritik dieses Aufsatzes wäre unserer 
Meinung nach eine vortreffliche Obung für einen jungen Marxisten: 
Der eigentümliche Dualismus, die Fetischisierung des Staats und die 
Verbindung des Idealismus mit Voluntarismus fallen leicht unter den 
Schlägen des dialektischen Materialismus.“ ) 

Die Berichterstattung über die monographische historische 
Literatur des Auslandes wurde stark ausgebaut; über die nichtrussische 
historische Arbeit im marxistischen Spiegel wird einmal besonders 


301) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 298. 
302) 6, 260 ff.; 11, 173—179. 

30) A. Vas jutinskij: 6, 260. 
304) Ders.: 11, 178. 


188 


zu sprechen sein. Sehr zahlreichen Rezensionen und zusammen- 
fassenden Literaturberichten™) tritt seit einiger Zeit nr ausge- 
wählte, sorgfältig gegliederte Bibliographie der in Deutschland, Eng- 
land, Fr eich, den Vereinigten Staaten und in der UdSSR er- 
schienenen historischen Literatur zur Seite. 


Zusammenfassend wird man sagen können: Die russische 
marxistische Geschichtswissenschaft hat in der Berichtszeit die ersehnte 
internationale Resonanz gefunden. Vor allem bedeutete 
die Zeitspanne im eigenen Lande die Aufrichtung der nahezu unbe- 
schränkten Herrschaft der orthodox ,,marxistisch-leninistischen“, dem 
Stalinkurs unbedingt loyal ergebenen, organisatorisch festgefügten 
und bewährten „Družina“ Pokrovskijs, der „Gesellschaft der marxisti- 
schen Historiker“. Noch erscheint das Stadium der Annexion und 
Erschließung von Teilgebieten der historischen Forschung für die 
marxistische historische Arbeit nicht beendet.“) Die Begrenzungen 
des Blickfelds in der nach Universalität strebender Arbeit der russi- 
schen marxistischen Historiker durch ihre dogmatische Gebundenheit 
und eine Fülle den Nicht-Marxisten befremdender Züge vornehmlich 
in der marxistischen Polemik spiegelt am reinsten und vielseitigsten 
der „Istorik-Marxist“ wieder, dem in der Geschichte des marxistischen 
historischen Denkens unter allen periodischen Organen zweifellos 
die erste Stelle zukommt. 


395) 2, 250—257: (I. Zvavil, state Ivanič: diese Jahrb. N. F. IV, 208, 
Anm. 81) Geschichte der äußeren Politik Englands; 5, 205—210: (A. 
Kudrjavcev) Die Ostindische Compagnie — das englisch-holländische Handels- 
kapital; 6, 286—242 (J. M. Z a ch e r): Problem des „Thermidor“ im Licht 
der neuesten historischen Arbeiten; 6, 258—260 (L. Tor da j): Der Zerfall 
Osterreichs; 10, 221—288 (V. A. Vas jutins ki j): Die Industrierevolution in 
England in der neuesten historischen Literatur. 

3%) Für das 1. Halbjahr 1926: H. 4 280—287; 5, 285—802 und 6, 804—3810, 
für Juli bis Dezember: H. 6, 811—819; 8, 248—260; 9, 282—250; davon Ruß- 
land: 5, 291—802; 8, 259 f.; 9, 282—289. 

In Heft 7—11 ist in der Zeitschrift auf die Zitate in fremden Sprachen 
große Sorgfalt verwandt, so sinnlose Buchstabenanhäufungen wie in Heft 5 und 6 
wiederholen sich nicht mehr; z. B. 5, 229 und 244; 6, 254 und 270; 6, 259: 
„Heirich Richter Sveick“, EA ist — Heinrich Ritter von Srbik als Rezensent 
von Viktor Bibls „Zerfall Usterreichs“ im 180. Bd. der „Histor. Zeitschrift“. 

397) Vgl. z. B. über die Aufgaben einer marxistischen Erforschung der 
Musikgeschichte A. A. Ostrecov zu S. M. Cemodanov, Istorija muzyki 
v svjazi $ istoriej ob$lestvennago razvitija: Vestnik Komakad. 27 (1928), 252—269; 
A. a a Marksistskaja istorija estetiki: Literatura i marksizm 2 
(1929); U. Focht, Problematika sovremennoj, marksistskoj istorii literatury: 
Pečať’ i revoljucija 1927 H. 1 S. 61—72 und H. 2 S. 78—92; R. Beljakov, 
Istorija russkoj literatury XIX veka v svete leninskogo udenija: Na literaturnom 
postu 1980 Nr. 2 usw. 


189 


Anlagen. 


1. Das neue Statut des Marx-Engels-In..ıtuts. 
(Zu S. 101.) 


Das am 12. Juli 1929 in den „Izvestija“ Nr. 157 (8608) als Verordnung des 


Präsidiums des Zentralexekutivkomitees vom 28. Juni veröffentlichte Statut 
regelt in 28 Paragraphen die allgemeinen Aufgaben ($ 1—5), den Aufbau ($ 6—8), 
die Verwaltung ($ 15) und die Sonderrechte ($ 16—28) des Instituts. 


II. 


III. 


IV. 


Die Aufgabe des Instituts wird folgendermaßen definiert: 
I. Das Karl Marx- und Friedrich Engels-Institut stellt die höchste wissen- 


schaftliche Forschungseinrichtung des Gesamtbundes dar, deren Haupt- 

aufgaben sind: 

1. Erforschung des Entstehens, der Entwicklung und der Ausbreitung des 
Marxismus und 


2. Erforschung der Geschichte des Proletariats und seines Klassenkampf; 


Das Marx-Engels-Institut besteht beim Zentralexekutivkomitee des Bundes 
der sozialistischen Räterepubliken und erstattet alljährlich dem Präsidium 
des Zentralen Bundes-Exekutivkomitees einen Rechenschaftsbericht über 
seine Tätigkeit. 

Zur Aufgabe des Marx-Engels-Instituts gehören: 

a) Erforschung des Marxismus und Mitwirkung bei seiner Erforschung; 
b) Erforschung der Geschichte der internationalen Arbeiter- und der 
kommunistischen Bewegung und Mitwirkung bei ihrer Erforschung: 

c) „ Propaganda des Marxismus unter den breiten arbeiten- 

en Massen. 


Das Marx-Engels-Institut sucht diese Aufgaben zu verwirklichen durch: 


a) Sammlung, Systematisierung, Aufbewahrung und Erforschung von Hand- 
schriften, Dokumenten, Büchern und Materialien jeder Art, die Be- 
ziehung haben zum Leben, zur Lehre und zur Tätigkeit von K. Marx 
und F. Engels und überhaupt zur „Marxkunde“ (marksovedenie), das 
Vort in weitem Sinne genommen; 

b) Herstellung günstigerer Bedingungen für Forscher und issenschaftliche 
Arbeiter zur Erforschung des Marxismus, wozu Bereitstellung eines Lese- 
saals mit einem Nachschlage- und wissenschaftlichen Hilfsapparat gehört; 

c) Herausgabe sowohl einer vollständigen akademischen Ausgabe wie auch 
einer Ausgabe ausgewählter Werke von K. Marx und F. Engels in 
5 Sprache und in fremden (westlichen und orientalischen) 

prachen; 

d) Ausgabe von Serien: 1. Bibliothek des wissenschaftlichen Sozialismus, 
2. B. des Marxisten, 8. B. des Materialismus, 4. B. der Klassiker der 
Volkswirtschaft, 5. B. der utopischen Sozialisten, 6. B. der Geschichte 
der Arbeiterklasse und ihres Klassenkampfes, 7. B. der Geschichte der 

litischen Theorien, 8. B. von Dokumenten zur Geschichte des Sozia- 
ismus und der Arbeiterbewegung, 9. B. der Denkmäler der Geschichte 
des Klassenkampfs und des Proletariats usw. 

e) Herausgabe von Zeitschriften und Sammelwerken über Fragen der 
Marxismusforschung; 

f) Unterhaltung eines für die breiten Arbeiter- und Bauernmassen ge- 
öffneten Museums für Marxkunde und für Geschichte der internatio- 
nalen Arbeiter- und der kommunistischen Bewegung;') 

g) Organisation besonderer Dauer- und zeitweiliger Ausstellungen über 
einzelne Perioden der Arbeiter- und kommunistischen Bewegung, über 


1) Vgl. H. Huppert, Das Museum des Marx-Engels-Instituts: „Das Neue 
Rußland“ 5. Jg. (1928 


190 


„H. 9 S. 82—835. 


einzelne Revolutionsepochen und bestimmte Strömungen des gesell- 
schaftlichen Denkens, ebenso von Vorlesungen und Diskussionen auf 
Grund der Ausstellungsgegenstände; Unterstützung der Organisation 
von Museen derselben Art ın den Bundesrepubliken; 

h) Veranstaltungen öffentlicher Sitzungen, Berichte und Dispute über 
Fragen, die zum Bereich der wissenschaftlichen Tätigkeit des Instituts 
gehören; | 

i) Aufnahme und Pflege der Verbindung mit gelehrten Unternehmungen, 
wissenschaftlichen Einrichtungen und Unterrichtsanstalten sowohl in der 
UdSSR wie in anderen Ländern. 


V. Das Marx-Engels-Institut steht im Staatshaushalt im allgemeinen Vor- 
anschlag des Zentralexekutivkomitees der UdSSR. 


Bestand des Marx-Engels-Instituts: 
VI. Das Marx-Engels-Institut besteht aus: 


a) der wissenschaftlichen Forschungs-Abteilung, 

b) der Bibliothek, 

c) dem Archiv, 

d) dem Museum für Geschichte der revolutionären Bewegungen, des Klassen- 
ns des Proletariats und fiir das Leben und Werk von Marx und 

ngels, 

e) einer Bio - Bibliographischen und einer wissenschaftlichen Auskunfts- 
Abteilung, 

f) einer Redaktions-Abteilung der internationalen akademischen Ausgabe 
der Werke von Marx und Engels mit zwei Unterabteilungen: für Aus- 
gaben in russischer Sprache und solche in fremden en 

g) der Verwaltungs-Abteilung. 


VII. Die wissenschaftliche Forschungs-Abteilung besteht aus folgenden 18 Kabi- 
netten, von denen jedes das eine oder andere Problem der Geschichte des 
Marxismus oder der Entwicklung des Marxismus und der Arbeiter- und 
kommunistischen Bewegung in einzelnen Ländern erforscht: 

a) Karl Marx- und Friedrich Engels-Kabinett; 

b) K. für Geschichte der ersten und zweiten Internationale; 

c) K. für Philosophie und Geschichte der Wissenschaft; 

d) K. für Volkswirtschaft und Geschichte der wirtschaftlihen Verhält- 
nisse; 

e) K. für Soziologie und Geschichte der gesellschaftlichen Formen; 

f) K. für Geschichte des Rechts und der politischen Theorien; 

g) K. für Geschichte der sozialistischen und kommunistischen Lehren; 

h) K. für Geschichte der revolutionären Bewegungen und des Klassen- 
kampfes des Proletariats in den germanischen und skandinavischen 
Ländern; 

i) wie h für Frankreih und Belgien; 

k) wie h für die südromanischen Länder; 

I) wie h für England und die angelsächsischen Länder; 

m) K. für Geschichte der internationalen Politik; 

n) K. für Geschichte des Marxismus in Rußland und in slavischen Ländern. 


Die dem Institut im vierten Abschnitt des Statuts zugebilligten Privilegien 
sind einzigartig: Das Institut besitzt nicht nur das Verlagsmonopol für die 
Herausgabe der Werke von Marx und Engels ($$ 17 und 18), sondern $ 17 
sichert sein absolutes Anrecht auf alle Original-Dokumente, die sich unmittelbar 
auf das Werk von Marx und Engels bezichen; das Institut ist ermächtigt, allen 
staatlichen Stellen auf dem Gebiet der Räterepublik derartige Dokumente ab- 
zufordern. Von allen Neuerscheinungen über Fragen des Marxismus und der 
Marxkunde, ebenso über „sozialökonomische, philosophische, historische un 
andere Fragen, die zum Tätigkeitsbereih des Instituts gehören“, erhält das 
Institut Pflichtexemplare usw. 


13 NF 6 191 


2. Aus der Rede Pokrovskijs bei der Feier seines 60. Geburtstages. 
(Zu S. 105 und Anm. 78.) 


Das Stenogramm der Rede ist in der Anm. 68 verzeichneten Veröffent- 
lichung „Na boevom postu marksizma“ S. 82—48 enthalten; der in Heft 10 des 
„Istorik-Marxist“ veröffentlichte Wortlaut weist einige Verschiedenheiten auf. 

In den einleitenden Worten seiner Rede auf der Jubiläumsveranstaltung am 
25. Oktober 1928 erteilte Pokrovskij den Photographen eine Lektion, indem er 
die Unsitte geißelte, anders als in Westeuropa von einem Redner während des 
Vortrags (anstatt vorher oder nachher) Blitzlichtaufnahmen zu machen. Dann 
fuhr er fort: 

Ich bin ein prinzipieller Feind nicht allein dieser Unkultur von uns — 
achtet, Genossen, dabei auf die Dialektik der Geschichte: eine ungeheuere Er- 
rungenschaft der Kultur, die bei uns zu antikultureller Anwendung gelangte — 
. . ..ich kann es Euch nicht verhehlen, ich bin ein prinzipieller Feind der Alters- 
jubilien .... Was ist Individuelles daran, daß ich sechzig Jahre werde? Auf 
der Welt kann man einige tausend Sechzigjährige finden. Nicht ohne 
Schrecken empfing ich als disziplinierter Mensch die Direktive des Zentral- 
komitees, noch weitere sechzig Jahre zu leben 

Ich werde Euch gleich einen kleinen Bericht darüber geben, vie ich Marxist 
wurde, und Ihr werdet sehen, daß mich die Masse dazu machte. Schon aus tiefer 
Dankbarkeit gegen die Massen mußte ich vor ihren Vertretern erscheinen 

Uns stehen neue Kämpfe bevor . . . Kämpfe u. a. auch auf dieser Front, 
auf der Front der Geschichts wissenschaft. Manche beschuldigen uns der Unduld- 
samkeit, revolutionärer Bubenhaftigkeit und anderer mehr oder weniger zweifel- 
hafter Handlungen, weil wir uns in der letzten Zeit in schneidender ideologischer 
Kritik gegen die Auferungen der bürgerlich- historischen Weltanschauung wenden, 
die in der letzten Zeit, fast möchte ich sagen, immer häufiger zu vernehmen sind. 

Ich werde mich nicht hinter einem „Verteidigungskrieg“ verstecken, wie man 
es in den internationalen Beziehungen zu tun pflegt, allein es ist tatsächlich bei- 
nahe ein Verteidigungskrieg. Uffnet eine beliebige deutsche Zeitung der Rechten, 
welche Losung werdet Ihr darin finden? Die Losung des Kampfes mit dem 
Marxismus. Das kehrt bei ihnen beinahe in jeder zehnten Nummer wieder. Als 
uns nach Berlin gerade die deutsche rechtsstehende Professorenschaft einlud, die die 
„Deutsche Allgemeine Zeitung“ herausgibt, da mußte man das Jammergeschrei 
gerade dieser Zeitung hören, die sich damit selbst tadelte: „Vas tun wir, wir 
machen für die Kommunisten Reklame.“ ) 

Nehmt den Internationalen Historischen Kongreß in Oslo, auf dem ich 

hervortreten mußte. Vor mir trat Dopsch auf, im Ausland die bedeutendste 
Größe auf dem Gebiet der Geschichte des Mittelalters. Im Verlauf der ihm zu- 
stehenden halben Stunde erledigte er — man muß schon sagen, er besorgte es 
ründlich — Karl Bücher. Ich hörte zu und sagte: Das berührt mich nicht; ich 
in kein Anhänger Büchers (bjucherianec). Trotzdem bezeichnete man mich in 
der Polemik als Anhänger Büchers, aber man nannte mich auch einen Anhänger 
Struves (struvianec), — beleidigen konnte mich das nicht . . “) 


1) Vgl. oben Anm. 124. , 

2) P. B. Struve, der bekannte Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker, 
gehört zu den schärfsten Gegnern des Sovetregimes; vgl. seine in Paris seit Be- 
ginn des Jahres 1929 erscheinende Wochenschrift: „Rossija i slavjanstvo“. Organ 
nacional’no - osvoboditel’noj bor’by i slavjanskoj vzaimnosti. Über von Struve 
vorbereitete historische Arbeiten („Vvedenie v ekonomiteskuju istoriju Rossii v 
svjazi s obrazovaniem gosudarstva i kul’turnym razvitiem strany“ u. a.) vgl. 
L. L’vov, Besäda s P. B. Struve - udenym: „Rossija i slavjanstvo“ Nr. 88 v. 
17. August 1929. 

Zur Äußerung Pokrovskijs eine Bemerkung Lenins: „Nach seinen Schwan- 
kungen zwishen Bücher und Marx, zwischen der liberalen und der sozia- 
listischen Okonomie, ist er (Struve) zum liberalen Bourgeois von reinstem 
Wasser geworden. Schreiber dieser Zeilen ist stolz darauf, nach Kräften zur 
Säuberung der Sozialdemokratie von solchen Leuten beigetragen zu haben“: 
Lenin, Sämtl. Werke (deutsche Ausg.) III, 511 (Anm.). 


192 


Und nun, Genossen, wo. die Verhältnisse so liegen, daß die französische 
Delegation auf diesen Kongreß nach Oslo nicht Mathiez mitbrachte, den König 
der Geschichte der französischen Revolution seit dem Tode des alten Königs 
Aulard, ) sondern den Monseigneur Baudrillart, der etwas wie eine kirchliche 
Predigt vorlas, jetzt. . . macht sich die Verschärfung des Klassenkampfes immer 
fühlbarer. Es ist nicht zweifelhaft, uns stehen Kämpfe bevor; auf uns hoffen 
in diesen Kämpfen die wenigen Marxisten, die es in Westeuropa und in Amerika 
gibt, sie bemühen sich, sich um uns zu scharen und wir wären, von allem sonstigen 
abgesehen, Erzverräter, wenn wir den Fehdehandschuh, der uns von allen Seiten 
hingeworfen wird, nicht aufnähmen und den Kampf eröffneten. Und wenn 
jemand eine so süßliche Vorstellung hat, es wäre möglich, daß die bürgerliche 
Geschichte und die marzistische Wissenschaft nebeneinander bestehen könnten, daß 
tie, wie Löwe und Lämmchen, friedlich nebeneinander liegen und sich ab und 
zu lecken könnten, — der muß alle diese Hirngespinste kategorisch fahren 


Wir sind zum Kampf herausgefordert und wir werden diesen Kampf durch- 
fechten. Ich schließe mich durchaus dem an, was Gen. Bubnov über das „Feuer 
nach rechts“ sagte.) Unbedingt müssen wir das Feuer nach rechts eröffnen, wir 
haben es, in Wirklichkeit bereits eröffnet und werden es natürlich fort- 
setzen ... 


Was für ein Revolutionär bin ich? Ich bin gar kein Revolutionär, wahr- 
lich, — ich bin nur ein Sprachrohr der Massen auf dem Gebiet, das für uns 
wirklich notwendig ist, auf dem Gebiete der Auslegung der Geschichtswissenschaft. 


Erlaubt mir, Euch zu erzählen, wie es gekommen ist, daß ich ein der- 
dE Sprachrohr wurde. Ich stamme, wie Euch Anatolij Vasil’evit Lunedarskij 
erzählt hat, aus kleinbürgerlichem Milieu, aus dem Bürgertum, und ich muß sagen, 
daß nichts besser als dieses Bürgertum mich zur Annahme gerade des historischen 
Materialismus in seiner elementarsten Form präparierte, weil nirgends die mate- 
riellen Motive des menschlichen Handelns in gleichem Maße klar sind wie bei 
dem wenig sichergestellten, halbarmen Kleinbürgertum ... Einerseits, daß sich 
das Kleinbiirgertum um materieller Vorteile willen die Augen einander aus- 
kratzt, und auf der anderen Seite die Abneigung gegen den bürgerlichen Libera- 
lismus führten dahin, daß bei mir der Grund zur allerersten Weltanschauung 
gelegt wurde, zu einer im höchsten Grade, bis zur Abgeschmacktheit naiven. Ihr 
wißt, daß ich aus Abneigung gegen den bürgerlichen Liberalismus auf den histo- 
rischen Idealismus verfiel, — eine kuriose Sache, aber es war so. Der damalige 
bürgerliche Liberalismus liebäugelte sehr mit dem Materialismus und Plechanov 
schickte nicht ohne Grund an Miljukov als einen der unseren nach Moskau einen 
Gruf*) . . . Ich setzte das solange fort, bis ich das erste Mal vor der Masse auf- 
trat. Diese Masse waren Studentinnen (kursistki).5)} Ich kam hin und fing an 
idealistischen Unsinn®) zu verzapfen über die Philosophie Platos, den Idealis- 
mus usw. Sie hörten mich leider an, aber ich merkte deutlich genug, daß ich 
nicht das sagte, was nötig war, daß ich ein tiefes Unbefriedigtsein hinterließ und 
zur folgenden Vorlesung begann ich mich anders vorzubereiten, d. h. ich be- 
mühte mich, dem Auditorium diejenigen historischen Tatsachen zu vermitteln, die 
dieses Auditorium brauchte. Und so kam ich unausweichlich zum historischen 
Materialismus. “) 


za) „M., der jetzige König der Historiker der französischen Revolution“: 
Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i ideologi&eskij front: „Pravda“ Nr 260 (4092) v. 
7. Nov. 1928. 

3) Siehe oben S. 86 und Anm. 19. 

) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 285. 

5) Hier steht im „Istorik-Marxist“ der Satz: „Vor 85 Jahren, als ich noch 
nicht Marxist war, unterrichtete ich an den Frauenkursen und hielt dort Vor- 
lesungen über Geschichte.“ 

e) Ist.-Marxist: das gewöhnliche „ideologische Geschwätz“. 

7) Ist.-Marxist: „Die ernsthafte Beschäftigung mit den historischen Tat- 
sachen machte mich von allein zum materialistischen Historiker. Denn nur durch 


193 


Ich knüpfte an Leute an, die man nicht dessen verdächtigen kann, daß die 
Bolscheviki für sie Propaganda treiben, ich knüpfte an an den alten 
Machiavelli — der Mann lebte im 16. Jahrhundert —, des Marxismus kann man 
ihn wahrlich nicht verdächtigen. Aber lest die Geschichte von Florenz, — es 
ist ein marxistisches Buch; der Klassenkampf zieht sich als roter Faden durch 
das ganze Buch. Man braucht es fast nicht in die marxistische Sprache zu über- 
setzen, es ist schon marxistisch. 

Nehmt unsere historishen Denkmäler aus der Zeit der Wirren, den 
Avraam Palicyn, s) den „Chronographen“. ea) Nach Palicyn stellt sich die ganze Zeit 
der Wirren dar als Episoden aus der Geschichte der Getreidepreise, des Kampfs 
mit der Teuerung, — völlig nach der Schablone von Mathiez letztem Buch a 
Und das ist im 17. Jahrhundert geschrieben, so daß ich jetzt gerade bei der tiefen 
Überzeugung beharre, daß jeder Historiker, der ernsthaft historische Tatsachen 
verstehen will, unausweichlich materialistischer Historiker wird. l 

Wenn Ihr Dopsch tiefer studiert, so wäre es nicht schwierig, auch bei dem 
Dopsch, der seinen Vortrag mit einem Ausruf gegen den historischen Materialis- 
mus enden ließ, den materialistishen Untergrund zu finden; man kann ihn finden 
bei einem so rechtsstehenden Manne wie Eduard Meyer, trotzdem er selbst mit 
Bewußtsein tausend Verst jedem historishen Materialismus fernsteht. 

Auf solche Art machte die erste Masse, mit der ich zusammentraf, die 
Masse der Studentinnen, mich zuerst zum historischen Materialisten, nicht zum 
Marxisten im heutigen Sinne des Worts, eher zum ökonomischen Materialisten. 
Sie machte mich gleichzeitig auch zum Demokraten. 

Ich bestreite nicht, daß ich ein bürgerlicher Demokrat gewesen bin, und es 
wäre lächerlich, es leugnen zu wollen, aber wenn mir jemand daraus einen Vor- 
wurf macht, so sage ich, daß auch Marx und Engels von der bürgerlichen Demo- 
kratie zum Sozialismus gekommen sind. Wie hätte ich es machen sollen? Man 
kann mir sagen, es sei eine Schande, sechzig Jahre nach Marx seine Geschichte 
zu wiederholen, daß die Menschen seitdem etwas gelernt hätten, — aber es gibt 
kein Geschlecht, das Lehren der Geschichte. weniger annimmt als die Historiker. 


Es kam das Jahr 1905 ... Ich schloß mich der einzigen revolutionären 
Partei an, die es gab, — der Partei der Bolscheviki. Alle übrigen waren nicht 
wirkliche revolutionäre Parteien und hier beginnt für mich die gegenseitige Be- 
rührung mit den Arbeitern. Diese Arbeitermassen gaben mir kolossal viel 
Ich trat vor die Arbeiter als Propagandist, aber faktisch lehrten sie mich; erst 
im Arbeiterkampf 1905 sah ich vor mir wirklich die echte Massenbewegung 
Hier sah ich den echten Klassenkampf, und das Büchlein .. „Russische Ge- 
schichte in gedrängter Form“ (Russkaja istorija v samom sZatom oterke) ent- 
stand in den Moskauer Propagandakursen im Jahre 1906, als ich für Arbeiter 
„Musiktheorie“ las, — so nannte sich das, über anderes durfte man nicht Vor- 
lesung halten. Damals erinnerte ih mich, daß man mich als Kind einmal im 
Klavierspiel unterrichtet hatte. Zwar war davon außer meiner Abneigung gegen 
das Instrument nichts haften geblieben, nichtsdestoweniger hoffte ich, indem ich 
irgendwelche Erinnerungen zusammenkramte, vor denen, die etwa zur Kontrolle 
kämen, den Musikanten zu spielen. Doch leider kamen sie nicht; sie errieten 
einfach, womit wir uns beschäftigten, und schlossen diese Kurse. 


Das war meine erste Berührung mit den Arbeitermassen. Ich kam mit 
ihnen daneben außerdem in Berührung während des Wahlfeldzuges zur zweiten 
Staatsduma und auf dem Londoner Kongreß unserer Partei. Und sie machten 


das scharfe Messer der Lehre von Marx und Engels kann man den Gang der Ge- 
schichte und die Zukunft aufzeigen.“ 


8) Skazanie Avraamija Palicyna. Izd. Archeograf. Komissii: „Russkaja 
Istoric. Biblioteka“ XIII u. sep. 


sa) Povest’ kn. I. M. Katyreva - Rostovskago vo vtoroj redakcii: Russkaja 
Istoriceskaja Biblioteka XIII (1909), Sp. 625—712. 


°) Vgl. N. Lukin, Der Kampf mit der Teuerung und die sozialistische Be- 
wegung in der Epoche des Terrors: „Istorik-Marxist“ 10, 203—210. 


194 


mich aus einem ökonomischen Materialisten und bürgerlichen Demokraten — zum 
echten Marxisten 

Das ist der große Kummer auf meine alten Tage: daß ich einfach wegen 
meines Alters, meiner Schwäche, wegen Krankheit mit den Massen ausschließ- 
lich dann in Berührung komme, wenn es etwa gilt, vor den Arbeitern aus An- 
laß der Zwanzigjahrfeier des Jahres 1905 zu sprechen usw. Das wirkt möglicher- 
weise auch auf meine schriftstellerische Arbeit sehr schlimm zurück. Ich hoffe, 
daß mit den Massen zusammenzukommen mir noch in großem Maße beschieden 
sein wird, — es ist charakteristisch, daß jedesmal, wenn ich irgendetwas Nütz- 
liches nicht nur im historischen Denken, sondern auch außerhalb meiner Beruf, 
arbeit getan habe, es immer von diesen selben Massen seinen Anstoß empfing. 

Man hat hier von den Arbeiterfakultäten gesprochen. Ich sagte bereits, 
daß die Arbeiterfakultäten entstanden sind aus dem Bündnis der kommunistischen 
Studentenschaft des Plechanov-Instituts, des damaligen Marx-Instituts, und der 
Metallarbeiterschaft des Moskauer Bezirks. Man kam zu mir mit der Idee, ich 

iff sie und fing an, sie ins Leben umzusetzen. Das beweist nur, daß ich 
kein stumpfsinniger Biirokrat bin, aber mein Gedanke sind sie keinesfalls. 10) 

Das Institut der Roten Professur entstand ebenso 

Das größte Ungliick, das einem Menschen begegnen kann, die Trennung 
von der Masse, — natürlich nicht die physische Trennung (physisch bin ich 
selbst in bestimmtem Maße abgetrennt), sondern die moralische Trennung —, die 
Trennung von der Stimmung der Massen, von der Weltanschauung der 

, das ist das Schlimmste. 11) 

Die marxistische historische Wissenschaft, deren Begründung bei uns im 
Lande einige meiner . . Biographen mir zuschreiben, verdankt ihre Entstehung 
dem Proletariat. Die Begründung einer marxistischen Wissenschaft war un- 
zweifelhaft einfach eine Funktion, ich bin nur ein Sprachrohr der aufsteigenden 
Massen, die ihre Erklärung in der Geschichte verlangten 

Daß unsere Arbeiterklasse sich. .. eine eigene Wissenschaft geschaffen hat, 
ist ein unbezweifelbares Faktum, daß sie sie schuf, — das ist meiner Meinung 
nach einer der klarsten Beweise dafür, daß diese Klasse die völlige Reife besitzt, 
um die Macht in die Hand zu nehmen, und für die völlige Gesetzmäßigkeit jener 
Oktoberrevolution, von der man versucht hat, sie lediglich als einen Soldaten- 
aufstand usw. hinzustellen. Der wirkliche proletarische Historiker wird der sein, 
der den Entwicklungsprozeß unserer Arbeiterklasse schildert, wie sie entstand, 


10) Vgl. auch Pokrovskijs Zuschrift an die Redaktion der „Pravda“ (Nr. 102 
— 4286 v. 8. Mai 1929): „Aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens der Arbeiter- 
fakultiten empfing ich und empfange ich weiter eine Menge Glückwünsche. 
Wieder und wieder kann man sich davon überzeugen, daß es ein dankbareres und 
empfänglicheres Herz nicht gibt als das proletarische. Was tat ich eigentlich vor 
zehn Jahren? Als an mich der Gedanke der Arbeiterfakultäten herantrat, — er 
stammt nicht, zwanzigmal habe ich das schon erklärt, von mir —, da wies ich 
ihn nicht von mir, ich bürokratisierte ihn nicht, sondern verhalf ihm zur Ver- 
wirklichung, soweit es in meinen Kräften stand. Das heißt, ich erfüllte meine 
Pflicht gegen die Partei und den Staat (partijnyj i sovetskij dolg), — weiter 
nichts. Und zehn Jahre erinnern sich die Leute daran! Ich kann nur kurz 
wiederholen, was ich auf der Jubiläumssitzung gesagt habe: Nicht die Arbeiter- 
fakultäten sind mir irgendwie verpflichtet, sondern ich bin den Arbeiterfakultäten 
verpflichter dafür, daß mein Name mit einem der kühnsten und erfolgreichsten 
Unternehmen der Arbeiterklasse verknüpft erscheint.“ 

11) Dazu eine Äußerung Rankes am 21. Dezember 1885, seinem 90. Ge- 
burtstag: „Das ist eben das Bedeutende, daß die Zeitgenossenschaft eine unend- 
lihe Wirkung auf das Individuum übt, und zwar nicht durch persönliche Ein- 
flüsse allein, sondern durch den Zug der Dinge und die einander berührenden 
Elemente des äußeren und inneren Lebens in ihrer Gesamtheit, für die Lebens- 
kräfte im Ganzen, die, in stetem Kampf gegen einander, doch zuletzt mit einander 
zich wieder vereinigen in Höherem und zu vereinigen trachten“: Sämtliche 


Werke Bd. 51/52 (1888), S. 596. 
195 


wie sie sich in der Klemme des caristischen Regimes in eine Klesse verwandelte, 
wie sie dieses caristische Regime zertrümmerte, wie sie die Macht ergriff. Wenn 
man dieses grandiose Bild vor Euch zeichnen wird. so wird man einen solchen 
Menschen den proletarischen Historiker nennen müssen und als den proletarischen 
Historiker ehren müssen. Aber Leute, die nur unter dem revolutionär- 
marxistischen Gesichtspunkt das Material umbauten, das stets in den Kursen 

Russischen Geschichte bearbeitet wurde —, die kann man nur noch Vorläufer 
nennen und sogar nicht Johannesse, sondern Vorläufer selbst eines Johannes 


Die Chancen werden immer geringer, daß das das Werk eines Einzelnen 
sein wird. Auf demselben Kong in Oslo spielte sich eine sehr interessante 
Szene ab —, es trat ein Gentleman auf, der sich dann als ein naher Verwandter 
des Völkerbunds enrpuppre Ih mug Euch sagen, daß auf den Kongreß nach 
Oslo zu gehen sich schon deshalb verlohnte, um zu sehen, wie das geehrte b 
liche Publikum sich zum Völkerbund verhält. Als auf dem Bankett sich der Ver- 
treter des Völkerbunds erhob, da hörte ihm kein Mensch zu, noch konnte man 
ihn hören. Man sah, daß auf der Tribüne ein Herr in Frack und weißer Binde 
stand, der den Mund öffnete, allein was er sagte, konnte niemand vernehmen, 
— man af, trank, klapperte mit Messern und Gabeln, und nicht ein Laut war 
zu verstehen. Nie in meinem Leben habe ich eine derartige Mißachtung gesehen. 


Eine andere Episode, die sich nicht auf dem Bankett, sondern in einer 
Sitzung der Methodologishen Sektion abspielte: Es trat der Vertreter des 
Völkerbunds auf und fing an davon zu sprechen, daß die Zeit der individuellen 
Arbeit in der Geschichte längst vorbei sei, und daß man künftig die Geschichte 
nur kollektiv bearbeiten könne. Als der geehrte Vertreter des Völkerbunds 
dies aussprach, erklärte ich, daß es wirklich so sei und daß bei uns das dop so 
gemacht werde, sodaß ich sehr erfreut darüber sei, daß ich hier Nachfolger 
unserer Theorie fände. 

Genossen, trotzdem das der Vertreter des Völkerbundes sagte, sagte er die 
Wahrheit. Das individuelle Schaffen auf dem Gebiet der Geschichte, wie auch auf 
jedem anderen Gebiete, nähert sich seinem Ende, es wird ersetzt durch ein kollek- 
tives Schaffen und es war von mir eben keine flüchtige Bemerkung, daß es bei 
uns geschieht. Alle die letzten Arbeiten über die Revolution von 1905, 1) über die 
Revolution von 1917,32) über den Bürgerkrieg, 10) über die russische Geschichts- 
schreibung!5) — sie alle waren Kollektivarbeiten, alle sind sie Sammelbände von 
Menographien. Erstens ist es für einen Einzelnen unmöglich, mit dem historischen 
Material fertig zu werden, das jetzt vorliegt, und zweitens 5 wir uns jetzt 
daran, kollektiv zu arbeiten. Für bürgerliche Gelehrte ist es schwierig, so zu arbeiten, 
daher mußte der Völkerbund zur Kollektivarbeit aufrufen. Ich erinnere mich gut 
daran, daß ein Mensch, der in der alten Zeit interessantes Archivmaterial erlangt 
hatte, es hinter sieben Schlössern versteckte, damit nicht sogleich irgend ein ge- 
ehrter Kollege käme, das Material klaue und unter seinem Namen veröffentliche. 
Das ist eine Tatsache, die, denke ich, nicht einer von den alten Historikern be- 
streiten wird. Auf Schritt und Tritt begegnete Derartiges. Bei solchen Gepflogen- 
heiten war es natürlich unmöglich kollektiv zu arbeiten. 


Aber wenn bei uns Leute ins Archiv gehen, eine ganze Herde (tabun), und 
anfangen zu arbeiten, dann empfängt man ein völlig anderes Bild, und ich denke, 
daß auch die künftigen Historiker unseres Proletariats, aller Wahrscheinlichkeit 
nach, Kollektiv-Historiker sein werden, und wenn man einstmals für sie Jubiläen 
veranstalten wird, so wird vor Euch ein Chor auftreten in der Art der „Blauen 
Bluse“, auf jeden Fall nicht ein einzelner Mensch. 


Werte Genossen, Ihr seid alle wohlversehen mit vorzüglicher Munition 
die bürgerliche Ideologie. Das ist ausgezeichnet. Allein man muß auch wirklich alle 
Vorteile dieser Lage ausnutzen, wir- Ahr theoretisch stärker als Euere bürgerlichen 
Vorgänger seid. Wie sehr wir theoretisch stärker sind, das bewies auf dem Kongreß 
der Angriff einer so grandiosen Größe wie Dopsch. Er ist der größte Spezialist 


12—16) Vgl. die Hinweise in Anm. 245, 246, 826 und 882 im II. Teil meines 
Berichts. 


196 


auf dem Gebiete der Geschichte des Mittelalters, — allein Bücher unterscheidet er 
nicht von Marx. ... Ihr müßt das nehmen, was sich jeder Historiker notwendig 
aneignen muß und worin man uns auf der alten Universität unterwies, 
— arbeiten über Dokumente, sich kritisch zur Quelle verhalten, analysieren usw. 
In bezug auf die Technik gab mir viel Vinogradov, in geringerem — 
Kljucevskij. Kljulevskij war ein inner licher Mensch und von ihm konnte 
man weniger übernehmen, aber Vinogradov war ein westeuropäischer Historiker 
und er unterwies mich darin 


Ich rufe auf zu freundschaftlicher kollektiver Arbeit, zur kollektiven Arbeit 
eines neuen Typus, wie jede Arbeit von uns, einer Arbeit, die einen Teil in der 
allgemeinen Arbeit des sozialistischen Aufbaus bilder. In dieser Arbeit bedient Euch 

der Waffe, die wir schon längst von unseren Klassenvorgängern uns hätten 
aneignen sollen; mit dieser Waffe können wir uns von diesen Klassenvorgängern 
endgültig befreien. Nur auf diesem Wege. Reißt Euch niemals von den 
Massen los. Haltet immer fest an der klaren revolutionären Linie, die uns die 
Arbeiterklasse und ihre Partei gibt, und macht nicht Halt vor dem Guten, das 
man vom Gegner nehmen kann. Die ersten Tanks, die ich im Kreml sah, waren 
ranzösische, bei Odessa erbeutete Tanks, — aber jetzt besitzen wir so viele eigene 
Tanks, wie es uns beliebt. laßt uns die Geschichte mit den Tanks auch in 
unserer historischen Arbeit en! 


8. Der Niedergang der bürgerlichen Welt. 
Aus einer Rede Kalinins vor dem Unionskongreß der Arbeiter für Aufklärung. 


(Zu S. 114) 


„Ich bin der Ansicht, daß der Faschismus einer von den kühnen Versuchen 
ist, die Mittel ausfindig zu machen suchen, wie es möglich wäre, die Interessen der 
Arbeiter und des Kapitals zu versöhnen. 


Unlängst wurde in Rom ein Übereinkommen zwischen dem Faschismus und 
dem römischen Papst geschlossen. Dieses Ereignis ist bei uns unbemerkt vorüber- 
gegangen. Von mir aus muß ich sagen: Es handelt sich hierbei um einen un- 
geheueren prinzipiellen Vorgang. Dieser Vorgang bedeutet, daß einer der kühnen 
Reformatoren, der sechs Jahre daran arbeitete und sich mühte, eine zugleich 
Arbeiter und Kapitalisten umfassende Organisation zu schaffen, zur Vergeistigung 
dieser Organisation zum römischen Papst gegangen ist. Das bedeuter, daß die 
Bourgeoisie eigene Ideen nicht besitzt. 140 Jahre sind es her, seitdem die Bour- 
geoisie (erinnert euch der Großen Französischen Revolution) alle Heiligenbilder 
als unnützen Plunder für die entstehende bürgerliche Gesellschaft wegwarf. Da- 
mals war in der Bourgeoisie viel Leben, kreisten in ihr viele innere Säfte und die 
Bourgeoisie hatte in jenem Moment ihre fortschrittliche Rolle begriffen. Aber 
jetzt, in ihrem Untergang, ist die Bourgeoisie zum römischen Papst gegangen, 
sozusagen nach Canossa, — wie vor 852 Jahren der deutsche Kaiser Heinrich IV. 
nach an ging, in grober Kleidung und barfuß, um vom Papst Verzeihung 
zu erflehen. 


Ich bin der Ansicht, daß der Faschismus zum römischen Papst nicht aus 
eigenem Willen gegangen ist, sondern unter dem Druck der objektiven Logik der 
Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, die, ungeachtet ihrer materiellen 
Herrschaft über den Menschen, ungeachtet des Anwachsens ihrer Herrschaft über 
die Natur, durch Fäulnis im Geistig-Politischen gelähmt wird. Diese Gesellschaft 
strebt geistig rückwärts, sie strebt nach dem Mittelalter, sie sehnt sich nach der 
geistigen Herrschaft des römischen Papstes, des Haupts der Katholischen Kirche. 

it ist vor Euch meiner Ansicht nach der klarste Beweis für die Degradierung 
der bürgerlichen Welt im Geistigen und Politischen?) geliefert.“: „Izvestija“ Nr. 55 
(8501) v. 7. März 1929. 


1) „HAB60266 ApPREË NoRasaTexb Neno — NOANTHYECKOR Aerpaxannn CypRy- 
asHoro MEPA.” 


197 


4. Dokumente zur I. Marxistischen Historikerkonferenz. 
(Zu S. 124.) 


a) Telegramm an das Zentralkomitee der Kommunistischen 
Partei. 


Die erste Gesamt-Unions-Konferenz der marxistischen Historiker, die den 
Methoden des Leninismus treu sind, die in ihrer Wissenschaft nicht eine aka- 
demische Bücherweisheit, sondern eine der stärksten Waffen des Proletariats im 
Kampf für seine Befreiung und eines der machtvollsten Mittel für den Aufbau der 
neuen sozialistischen Welt sehen, sendet den wärmsten Gruß dem Führer aller 
Kämpfer und aller auf diesem Gebiet aufbauend Tätigen, — dem Zentralkomitee 
der Kommunistischen Partei der Union. Lenin hat uns gelehrt, die theoretische 
Analyse mit revolutionärem Wirken zu verbinden. Lenin hat alle Materialisten 
aufgerufen, kämpfende Materialisten zu sein. Wir materialistischen Historiker wollen 
uns auf den Standpunkt Lenins stellen und werden den ideologischen Kampf durch- 
führen gegen alle, die die Leninsche Lehre verderben und entstellen, die der Ideo- 
logie des Proletariats die Ideologie der Klein- oder Großbourgeoisie entgegenstellen. 
Nur der durch Lenin von allen Schlacken und Beimischungen gereinigte Marxismus 
ist wirkliche Wissenschaft, und nur der, der mit Lenin geht, kann wirklich die 
Wissenschaft vorwärtsbringen, kann wirklich die Wahrheit erobern. Keine Ver- 
söhnung, keine Neutralität, keine pseudo-„objektive“-Gelehrsamkeit! 

Es lebe die Partei der Bolscheviki, die unerschütterlich die Prinzipien der 
einzig richtigen Geschichtsauffassung wahrt, — des Leninismus! 


Die erste Gesamt-Unions-Konferenz der martistischen Historiker. 
Im Auftrage der Konferenz: 


M. Pokrovskij. 
Nach den „Trudy“ II, 609. 


b) Resolution der Konferenz.) 


1. Die Gesamt-Unions-Konferenz der marxistischen Historiker, die noch ein- 
mal die ungeheuere Bedeutung der marxistischen Geschichtswissenschaft als eines 
der wichtigsten Teile des ideologischen Kampfes des Proletariats für den Sozialis- 
mus konstatiert, weist darauf hın, daß in unserem Lande ein beträchtliches Kon- 
tingent von Historikern vorhanden ist, die auf dem Standpunkt von Marx, Engels 
und Lenin stehen, die verstehen, die Methode des historischen Materialismus zu 
beherrschen, und die bedeutende Erfolge aufzuweisen haben sowohl auf dem Ge- 
biete der wissenschaftlich-forschenden wie der wissenschaftlich-popularisierenden und 
der methodischen Arbeit. Man kann mit vollem Recht von einer Sovet-Schule der 
marxistischen Historiker sprechen, die sih mehr und mehr durch frische junge 
Kräfte ergänzt, die ihrer Ideologie nach mit der Arbeiterklasse fest verschweißt sind, 
die nicht selten aus dem Kreise der Arbeiterschaft stammen, und die die Methode 
des historischen Materialismus voll und ganz ohne jede Einschränkungen und Vor- 
behalte anwenden. Der Einfluß dieser Schule geht weit über die Grenzen der 
historischen Wissenschaft im engen Sinne des Worts hinaus und erstreckt sich mehr 
und mehr auf Nachbargebiete (Linguistik,?) Archäologie usw.). Nach der Qualität 
(znalitel’nost’) ihrer 5 Produktion hat diese Schule der marxisti- 
schen Historiker, die als Ausdruck der Ideen des revolutionären Marxismus und 
Leninismus erscheint, nicht nur lokale, sondern auch Weltbedeutung, was u. a. be- 
wiesen wird durch die Übersetzungen von Werken der bedeutendsten Vertreter 
dieser Schule in fremde Sprachen. 


2. Als Mängel der Schule der marxistischen Historiker der SSSR erscheinen: 


a) Das Fehlen einer allgemeinen Organisation der marxistischen Historiker 
für das ganze Land. 
b) Das Fehlen eines zentralen Organs. 


1) „Pravda“ Nr. 4 (4138) v. 5. Januar 1929, „Istorik-Marxist“ 11, 230 f. 
2 


und „Trudy“ II, 609—612. 
2) Vgl. Anm. 181. 


198 


c) Das Fehlen richtig geordneter internationaler Verbindungen. 

d) Die Belastung einer ganzen Reihe von Vertretern der Schule durch 
allerlei Nebenarbeit, die mit ihrer Wissenschaft nichts gemein hat und 
die nicht gleichzeitig politischen Charakter trägt. 

e) Die Schwäche der Entwicklung kollektiver Arbeit in einigen Teilen der 
Geschichtswissenschaft, insbesondere auf dem Gebiet der Geschichte des 
Westens. 

D Die Zersplitterung und Unorganisiertheit derjenigen marxistischen 
Historiker, die auf dem Gebiet der Erforschung der Geschichte des 
Orients jenseits unserer Grenzen wie auch über die Völkerschaften, 
die zum Bestand der UdSSR gehören, arbeiten. 

8. Im Zusammenhang damit erachtet die Konferenz als notwendig: 

a) Die Umgestaltung der Gesellschaft der marxistischen Historiker bei der 
Kommunistischen Akademie in eine die gesamte Union umspannende 
Organisation mit Bildung von Gesellschaften der marxistischen Histo- 
riker in den verschiedenen Republiken mit den Rechten von Sektionen 
der Gesamt-Unions-Gesellschaft bei der „Komm. Akademija CIK SSSR“, 
wobei die Gesellschaften der Republiken in den Rat der Gesellschaft 
der marxistischen Historiker Vertreter entsenden sollen. 

b) Erklärung des „Istorik-Marxist“ zum Zentralorgan einer die gesamte 
Union umspannenden Organisation der Gesellschaft der marxistischen 
Historiker, mit Umwandlung in eine monatlich erscheinende Zeitschrift. 

c) Hervortreten von marxistischen Historikern der Sovetunion auf 
ausländischen Kongressen und Konferenzen, sowie Organisation einer 
internationalen Konferenz der marxistischen Historiker und der mit 
dem historischen Materialismus sympathisierenden wissenschaftlichen 
Arbeiter in Moskau im Lauf der nächsten zwei bis drei Jahre. 

d) Entlastung des Grund-Cadres der marxistischen Historiker in weitestem 
Maße von jeglicher Arbeit, die nicht mit ihrer Spezialität zu- 
sammenhängt und die nicht für eine erfolgreiche Vervollständigung 
ihrer historischen Vorbereitung erforderlich ist. 

e) Herausgabe einer populären historischen, auf die lesende Masse (wört- 
ich: den Massenleser, massovyj čitatel’) berechneten Zeitschrift.“) 

f) Die Konferenz erachtet als äußerst wichtig die Bearbeitung der Pro- 
bleme, die mit der Kolonialpolitik der Imperialisten im Orient zu- 
sammenhängen, und die Erforschung der dem Proletariat feindlichen 
Ideologien des Orients. 

g) Die Erfüllung der praktishen Wünsche der Konferenz wird dem Rat 
der Gesellschaft der marxistischen Historiker übertragen. 


4. Unabhängig von den oben aufgezählten Mängeln organisatorischen Cha- 
rakters offenbarte die Konferenz gewisse ideologische Unvollkommenheiten in 
unserer Arbeit. Als die wichtigsten davon erscheinen: Erstens, eine gewisse aka- 
demische Art einzelner unserer Arbeiter, die Neigung, ihre Arbeit nicht als Teil 
des allgemeinen proletarischen Kampfes auf einem bestimmten Frontabschnitt an- 
zusehen, sondern als eine „objektive wissenschaftliche“ Tätigkeit, die man sogar 
der Politik gegenüberstellt; zweitens, eine Lebensfremdheit und mitunter, auf Grund 
der Belebung kleinbürgerlicher Ideologie, manchmal auch die Belebung nationalisti- 
scher Anschauungsweisen der Geschichte bis zur Ersetzung der Klassen-Erklärung 
durch die „ethnographische“. Die Konferenz fordert die marxistischen Historiker 
entschieden auf, mit den alten „professoralen“ Gewohnheiten zu brechen und sich 
zu erinnern, daß — bei aller Wichtigkeit akademischer Vollendung (vyderZannost’) 
unserer Schriften — Vorbild für uns nicht die Persönlichkeiten der akademischen 
Welt sein dürfen, die immer Diener der ausbeutenden Klassen waren und im 
besten Falle in der „Objektivität“ Zuflucht vor der Politik suchten, sondern die 
Gelehrten-Revolutionäre, deren Typ in unserem Lande in der Vergangenheit 
Cernylevskij repräsentierte, in der neuesten Zeit aber Lenin, der für das Ver- 


3) Vgl. Anm. 282 meines Berichts. 


193 


ständnis des russischen historischen Prozesses mehr getan hat als alle Inhaber aller 
historischen Katheder an allen „russischen“ Universitäten.) 


Die Konferenz erinnert alle marxistischen Historiker daran, daß wir 
kämpfende Marxisten sind, deren erste Pflicht besteht im Kampf mit dem Marzis- 
mus fremden und dem Proletariat klassenfeindlichen Ideologien und ihren Ab- 
legern, worin sie auch immer bestehen mögen, und wer auch immer ihr Verbreiter 
sei. Ein solcher Kampf erscheint im ge Ste po Augenblick besonders dringend, 
wo die Vertreter von Ideologien, die dem Proletariet fremd sind, das Haupt er- 
heben und zum Angriff übergehen. In dieser Hinsicht kann keine „Neutralität“, 
kënnen keine Konzessionen, kann nicht irgendwelcher Opportunismus durch unsere 
Schule geduldet werden, für die es nicht genügt, nur eine materialistische zu sein, 
— materialistische Historiker besaß und besitzt die Bourgeoisie —, sondern die eine 

inistische im vollen Sinne dieses Worts sein muß, indem sie alles dem Hauptziel 
unterordnet, — dem Kampf für die Befreiung der Proletariats in der ganzen Welt 
und der Aufrichtung des Sozialismus. 


5. Resolution des Kollegiums des Instituts für Geschichte der Kommunistischen 
Akademie in der Angelegenheit M. Javorikyj. 
(Zu S. 149.) 


Das Kollegium des Instituts fiir Geschichte der Kommunistischen Akademie, 
das von dem Fall M. Javorskyj Kenntnis genommen hat (siehe „Pravda“ v. 1. März 
d. J.), gibt aus Anlaß dieses Faktums seiner Entrüstung darüber Ausdruck, daß 
M. Javorskyj, ein politischer Hochstapler, während einer Reihe von Jahren sich mit 
der Bezeichnung als Mitglied der Kommunistischen Partei der Ukraine — KP(b)U — 
und als marxistischer Historiker der Ukraine decken konnte, während er ideologisch 
eae wirkte und die marxistische historische Wissenschaft der Ukraine dis- 

editierte. 


Das Kollegium des Instituts für Geschichte ist nichtsdestoweniger überzeugt, 
daß das schädigende Verhalten M. Javorékyjs, das ein schwerwiegendes Faktum für 
die heutige marxistische Geschichtswissenschaft ist, keinesfalls einen Schatten auf 
alle marxistischen Historiker der Ukraine und auf die Kommunistische Partei der 
Ukraine werfen kann, die einen entschiedenen Kampf mit ihren Klassenfeinden 
beim Werke des sozialistischen Aufbaus führt. Das Kollegium des Instituts für 
Geschichte der Kommunistischen Akademie kann nicht umhin, die Aufmerksam- 
keit darauf zu lenken, daß M. Javorskyj nur infolge des Fehlens bolschevistischer 
Selbstkritik lange eine repräsentative Rolle als marxistischer Historiker der Ukraine 
spielen konnte; erst als Ergebnis des erbitterten Kampfes im letzten Jahre ist es 
der Gesellschaft der marxistischen Historiker an der Kommunistischen Akademie 
gemeinsam mit dem marxistischen Historikern der Ukraine gelungen, die pseudo- 
marxistische Ideologie M. Javorskyjs zu enthüllen. 


Das Kollegium des Instituts für Geschichte ist überzeugt, daß die marxisti- 
schen Historiker der Ukraine, die auf ihren Schultern den Kampf mit Javorikyj 
getragen haben, indem sie diese Erfahrung beherzigen, das Erbe Javorskyjs restlos 
ausroden und das Resultat seiner ideologisch schädlichen Wirksamkeit, die er 
während einer Reihe von Jahren entfaltet hat, liquidieren werden. 


Das Institut für Geschichte der Kommunistischen Akademie ist überzeugt, 
daß die marxistischen Historiker mehr als je zuvor, indem sie beständig Lenin 
studieren, einen entschiedenen Kampf für das marxistische Schema der Geschichte 
der Ukraine führen werden und daß sie ebenso nationaldemokratische wie Groß- 
macht-Tendenzen enthüllen werden, die man im Zusammenhang mit dem F 
1 versucht wieder wirksam werden zu lassen. Die marxistischen Historiker 

önnen nicht die geringsten Konzessionen an die Revisionisten zulassen, indem sie 
sich erinnern, daß die marxistische Geschichts wissenschaft ein organischer Bestand- 


a) Vgl. S. 127. 


200 


teil der proletarischen revolutionären Theorie ist, ohne die es, wie Lenin es mehr- 
fach ausgesprochen hat, keine revolutionäre Praxis gibt. 


1. März 1980. 
Der Direktor des Instituts für Geschichte der Kommunistischen Akademie: 
M. Pokrovskij. 
Der Gelehrte Sekretär des Instituts: 
P. Gorin. 
(Aus den Izvestija Nr. 61/8908 v. 8. März 1900.) 


6. Resolution der Ersten Gesamt-Unionsberatung für Fragen des Unterrichts 
Leninismus, der Geschichte der Kommunistischen Partei (Bolscheviki) und der 
Kommunistischen Internationale. 


(Zu S. 152.) 


Die von der Gesellschaft der marxistischen Historiker einberufene Erste 
Gesamt-Unionsberatung für Fragen des Unterrichts im Leninismus, der Geschichte 
der VKP (b) und der Komintern stellt fest, daß unter den Bedingungen der von 
uns durchlebten Periode des entschiedenen Kampfes für die Verwirklichung des 
Sozialismus die Fragen des Unterrichts im Leninismus, der Geschichte der VKP (b) 
und der Komintern eine besonders große politische Bedeutung erhalten, indem sie 
eine machtvolle Waffe für die bolschevistische Erziehung der proletarischen Massen 
darstellen. Das Studium des Leninismus, der Geschichte der VKP (b) und der 
un muß den aktuellen Aufgaben des heutigen Kampfes der Arbeiterklasse 

enen. 

Angesichts der Verschärfung des Klassenkampfes des Proletariats erhält die 
revolutionäre Theorie besondere Bedeutung als sein machtvolles Mittel im Kampfe 
für den Sozialismus. Nur wenn es sich auf die marxistisch-leninistische revolutio- 
näre Theorie stützt, vermag das Proletariat der Führer zu werden für die brei- 
testen Massen der armen und mittleren Bauern bei der Ausrodung der Wurzeln des 
Kapitalismus und der Vernichtung des Kulakentums als Klasse, womit die Kollekti- 
vierung der Landwirtschaft als ein notwendiges Erfordernis für den sozialistischen 
Aufbau verbunden ist. Nur die revolutionäre Theorie bietet die notwendige Waffe 
für den Kampf mit jeglichen opportunistischen Einflüssen auf das Proletariat. 
Deshalb ist es notwendig, jedes Nachlassen im Kampf für die Reinheit der revo- 
5 Theorie, ebenso Versuche, sie opportunistisch auszulegen, schonungslos 
zu enthüllen. 


Bereits zu der Zeit, als die bolschevistische Partei sich bildete, warnte Lenin, 
man solle niemals einen charakteristischen Zug des Opportunismus vergessen, — 
seine „Unbestimmtheit, sein Zerflicßen, seine Nichtfaßbarkeit; immer entferne sich 
der Opportunismus seiner Natur nach von der bestimmten und unwiderruflichen 
Fragestellung, suche die Resultante, er schlängele sich wie eine Natter zwischen ein- 
ander ausschließenden Gesichtspunkten, bemühe sich um „Übereinstimmung“ mit 
dem einen sowohl wie mit dem anderen, indem er seine Widersprüche in kleine 
Korrekturen, Zweifel, fromme und unschuldige Wünsche usw. ausmünden lasse 
usw.“ (Lenin, Bd. VI, S. 320.) 

Dieser Kampf mit den opportunistischen Tendenzen erhält eine besonders 
große Bedeutung unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats, wo eine 
Revision des Leninismus in ihrer weiteren Entwicklung unausweichlich zu einem 
gegen revolutionären Faktor an wächst. Daher ist es notwendig, Abweichungen und 
Versuche aller Art, den Leninismus zu revidieren, entschlossen zu enthüllen. Es 
ist nötig, mit aller Entschiedenheit den Kampf mit der im gegenwärtigen Augen- 
blick besonders gefährlichen Rechts-Ab weichung zu unterstreichen und ebenso auch 
eine systematische Enthüllung der „linken“ trockistischen Abbiegungen vorzu- 
nehmen. Indem wir die Vergangenheit erforschen, müssen wir den Kampf der 

Bolschevismus feindlichen Gruppen und ihrer Versuche, das Klassenbewuftsein 
des Proletariats zu zersetzen, enthüllen, müssen wir die historischen Wurzeln des 
heutigen Opportunismus in allen seinen Spielarten aufdecken und den Prozeß auf- 


201 


hellen, wie oppositionelle Gruppen in der Partei (antipartijnye gruppy) sich in anti- 
sovetistische gegenrevolutionäre Gruppierungen verwandeln (der Trockismus). 

Das reiche Erbe Lenins und der bolschevistischen Partei müssen wir benutzen, 
um zu zeigen, wie Resultat eines unversöhnlichen Kampfes die revolutionäre 
Theorie geschmiedet und die mächtige Kommunistische Partei geschaffen wurde. 
Das Bekanntwerden mit der Erfahrung des früheren Kampfes der Partei erhält 
um so größere Bedeutung, je mehr wir sehen, daß zahlreiche Kaders sich am Werk 
des sozialistischen Aufbaus zu beteiligen beginnen, die nicht die Bürde des Kapi- 
talismus und des unterirdischen Kampfes getragen haben und die nicht durch die 
Schule des Bürgerkrieges hindurchgegangen sind („Die Jugend“). Unter diesen Be- 
dingungen erhält die Heranziehung der alten Parteikaders für die bolschevistische 
Erziehung, um die Erfahrungen des früheren Kampfes der Partei weiterzugeben, 
eine ungeheure Bedeurung. 


Im Kampf mit den Entstellungen des Leninismus erhält im gegenwärtigen 
Augenblick ein vertieftes Studium der leninistischen Lehre von der Dialektik im 
historischen Geschehen eine besondere Bedeutung. Es ist notwendig, den anti- 
leninistischen Gesichtspunkt eines revolutionären mechanischen Wechsels der gesell- 
schaftlichen Formationen (Genosse Dubrovskij)i) entschlossen zu enthüllen, 
ebenso auch die nichtleninistische Einschätzung einer historischen Evolution der 

„bei der das Bauerntum als eine historisch beständige und unveränderli 

Klasse von kleinen Produzenten angesehen wird. Nicht weniger gefährlich ist die 
Auferweckung der Ideologie der Narodniki und den Idealisierung der kleinen Pro- 
duzenten, die dahin geführt hat, den Kulak als revolutionär anzusehen (Javorskyj, 
der jetzt aus den Reihen der VKP (b) ausgeschlossen ist). In Verbindung damit 
erhält die leninistische Auffassung der gegenseitigen Beziehung des utopischen un 
des wissenschaftlichen Sozialismus und die Frage nach den Ursprüngen des Bolsche- 
vismus besondere Bedeutung. Die breit ausgedehnte Diskussion über die „Narod- 
sik Volja“ offenbarte bei einigen Genossen das Bestreben, dic Rolle des Narod- 
nicestvo zu idealisieren (Genosse Teodorovit)*), was unter den gegenwärtigen Be- 
dingungen seinerseits auf eine Idealisierung des kleinen Produzenten herauskommt, 
Die Beratung erkennt die Wichtigkeit eines vertieften Studiums der Geschichte der 
VKP (b) als einer selbständigen Wissenschaft an. 


In Fragen, die die Methode der Parteigeschichte anlangen, muß der Kampf 
geführt werden auf der einen Seite gegen einen vereinfachten mechanistischen 
„naturwissenschaftlichen“ Erklärungsversuch der gesellschafts-geschichtlichen Vor- 
gänge, bei dem man den spezifischen Charakter der Vorgänge ignoriert; 
auf der anderen Seite gegen die zur Idealisierung führenden Anschauungen, 
die auf dem Gebiet der Parteigeschichte das Problem der Gesetzlichkeit der 
Entwicklung in Frage stellen und es durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit er- 
setzen. Entschiedener Kampf ist nötig gegen Versuche, die Geschichte des Bolsche- 
vismus und die Geschichte der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 
(RSDRP) zu vermengen, überhaupt gegen die Versuche, die leninistische Partei als 
eine Synthese des Bolschevismus und des Menschevismus mit allen seinen Spielarten, 
darunter auch dem Trockismus, hinzustellen. Die Geschichte der Partei kann eine 
wissenschaftliche Disziplin nur unter der Bedingung sein, daß sie im strengen Geiste 
der marxistisch-leninistischen Methode betrieben wird. Nur wenn die reiche Er- 
fahrung des leninistischen Kampfes für die revolutionäre Theorie im Geiste strenger 
Parteilichkeit erforscht wird, können wir jeglichen Versuchen, die leninistische Lehre 
zu entstellen und zu vulgarisieren, Widerstand leisten. (S. das Buch: El’vov 
und Ta!karov, „Über einen Versuch, den Leninismus-Marxismus zu entstellen“,® 
die Antwort auf einen ebenso mißglückten Versuch diese Fragen zu erläutern, a 
das Buch des Genossen Xenophontov: „Die Grundfragen der Strategie und 
Taktik der VKP (b)“).) 


1) S. oben Anm. 20 a. 
2) Vgl. oben Anm. 20a. 


2) Ob odnoj popytke iskaZenija leninizma-marksizma; vgl. oben Anm. 20 . 
) Ksenofontov, Osnovnye voprosy strategii i taktiki VKP (b). 


202 


Eine Anzahl Fehler, die in der letzten Zeit in der Erforschung der Partei- 
geschichte hervorgetreten ist, stellt uns mit aller Schirfe vor die Notwendigkeit, 
Lenin sorgfältig zu studieren und die leninistischen Thesen bei der Bearbeitung 
von Fragen, die heute aktuellen Charakter haben, anzuwenden. In der nächsten 
Zeit muß sich die Aufmerksamkeit besonders konzentriereg auf die leninistische 
Auffassung der Theorie des Klassenkampfs in der Epoche der Übergangsperiode (I), 
auf das Problem des Zusammenschlusses („smyčka“) zwischen Proletariat und 
Bauerntum, auf eine leninistische Erforschung der Übergangsperiode, auf. das Pro- 
blem der gegenseitigen Beziehungen zwischen Partei und Klasse, im besonderen in 
der Periode der Diktatur des Proletariats, auf die Bedeutung der Weltrevolution 
und der kolonialen Freiheitsbewegungen, sowohl für die Festigung unserer Union 
wie für den Fortgang der Weltrevolution. Die Erforschung dieser Fragen muß 
unter dem Gesichtspunkt der praktischen Aufgaben des heutigen sozialistischen 
Aufbaus betrieben werden, indem dabei diejenigen Anschauungen stracks (neu- 
klonno) enthüllt werden, die der leninistischen Lehre fremd sind (der Trockismus 
und die Ideologie der Rechts-Abweichung). 


Die Fragen des Unterrichts im Leninismus, in der Geschichte der VKP (b) 
und der Komintern, die eine ungeheure politisch-erzieherische Bedeutung haben, 
heischen die Durchführung einer Reihe unaufschiebbarer konkreter Maßnahmen: 


1. Die Hochschulen und die kommunistischen Hochschulen haben sich in 
ihrem Verhalten zum Unterricht im Leninismus, der Geschichte der VKP (b) 
und = Komintern als selbständiger grundlegender Lehrfächer entschieden um- 
zustellen. 


2. Auf die Ausbildung hochqualifizierter Kaders für Forschung und Lehre 
im Leninismus, der Geschichte der VKP und der Komintern ist ernste Aufmerk- 
samkeit zu richten, da konstatiert werden muß, daß die Zahl der Kaders offen- 
sichtlich unzureichend ist. Dies gilt insbesondere für den Unterricht in der Ge- 
schihte der Komintern, wo es um Kaders völlig unbefriedigend steht; dazu 
kommt, daß die Erforschung und der Unterricht der Geschichte der Komintern 
unter den heutigen Bedingungen, beim Anwachsen der Weltrevolutionsbewegung, 
einen der wichtigsten Hebel für eine internationale Erziehung der breiten prole- 
tarischen Massen bildet. 


8. Auf das fast völlige Fehlen von Literatur zur Geschichte der Komintern 
und der ausländischen kommunistischen Parteien ist ernste Aufmerksamkeit zu 
richten; deswegen wird der Gesellschaft der marxistischen Historiker aufgetragen, 
zusammen mit dem Lenin-Institut ein kollektives Lehrbuch zur Geschichte der 
Komintern herauszugeben, ebenso in Form von Lehrmitteln Dokumente zur Ge- 
schichte der ausländischen kommunistischen Parteien und der westeuropäischen 
proletarischen Revolutionen zu veröffentlichen. 


Es wird festgestellt, daß die von der Gesellschaft einberufene Beratung für 
Fragen des Unterrichts im Leninismus, der Geschichte der VKP (b) und der 
Komintern bedeutenden Einfluß auf eine Verbesserung des Unterrichts in diesen 
Disziplinen haben muß; daher erscheint die Einberufung einer Gesamt-Unions- 
konferenz der wissenschaftlichen Arbeiter, die auf diesen Gebieten arbeiten, sehr 
erwünscht; auf einer solchen Konferenz sollen eine Reihe von Referaten gehalten 
werden, die die wichtigsten und aktuellsten Fragen behandeln. 


(Aus den Izvestija Nr. 62/8909 v. 4. März 1930; vgl. auch „Istorik-Marxist“ H. 14.) 


203 


BUCHERBESPRECHUNGEN 


Josef Schränil: Die Vorgeschichte Böhmens und Mährens, mit 
einem Einleitungskapitel über die ältere Steinzeit von Hugo 
Obermaier. — Grundriß der slavischen Philologie und Kultur- 
geschichte, herausgegeben von R. Trautmann und M. Vasmer. 
Se Leipzig, Walter de Gruyter & Co., 1928. 375 S. mit 

eln. 


Lange Zeit hindurch konnte die Vorgeschichtsforschung in Böhmen mit dem 
allgemeinen Fortschritt der Vorgeschichtswissenschaft nicht Schritt halten. Einen 
großen Aufschwung hatte sie vor Jahrzehnten durch die Arbeiten des Prager 
Museumsdirektors Pit erfahren, der mit 5 Eifer für die Bekanntgabe der 
wichtigeren böhmischen Bodenfunde in Bild und Schrift Sorge har. Pid 
ist es aber auch hauptsächlich zuzuschreiben, daß die böhmisch e Forschung der 
Vorkriegszeit sich in eine Sackgasse verrannt hat. Er versuchte ein System von 
Bevölkerungsgruppen vor allem auf Grund der Bestattungsformen in Böhmen auf- 
zustellen, dem zuliebe er die methodischen Grundlagen der neuzeitlichen Boden- 
forschung, Chronologie und Typologie, beiseite schob. Zeitlich und kulturell 
völlig verschiedene Fundgruppen suchte er zusammenzuschweißen, wenn sie aus 
gleichartigen Grabformen herstammten. Eine solche Fehlkonstruktion, die be- 
sonders nachhaltig und verderblich gewirkt hat, war die Verknüpfung der bronze- 
zeitlichen Urnenfelderbevélkerung mit der germanischen Hinter t der 
ersten Jahrhunderte nach Chr. Geburt zu einem einheitlichen Volk der Urnen- 
gräber, das als urslavisch angesprochen wurde. Während die Unhaltbarkeit der 
Pitschen Aufstellungen in Deutschland bald erkannt wurde, ließ die große 
Autorität von Pit in Böhmen selbst erst verhältnismäßig spät eine kritische Be- 
handlung seiner Theorien aufkommen, die geeignet war, der Bodenforschung in 
Böhmen den Weg zu ungestörter Entwicklung wieder frei zu machen. 

Diese Krisis in der Geschichte der böhmischen Vorgeschichtsforschung ist jetzt 
ücklicherweise völlig überwunden. Die böhmischen und mährischen Ce ien 
mühen sich mit anerkennenswertem Erfolge, das verlorene Terrain im wissen- 

schaftlichen Wettkampf wieder aufzuholen. Ein schönes Beispiel hierfür ist die 
Darstellung der Vorgeschichte des Sudetenlandes aus der Feder Schränils, der so- 
eben als Nachfolger von Stocky die Leitung des Prager Museums übernommen 
hat, welchem Pie dereinst auch vorgestanden hatte. Eine dem neuen Stande der 
Forschung entsprechende Schilderung der gesamten Vorgeschichte Böhmens und 
Mährens ist lange gefordert und entbehrt worden. 1925 veröffentlichte der 
mährische Forscher Cervinka zusammen mit Rzehak und Obermaier im zweiten 
Bande des Ebertschen Reallexikons der Vorgeschichte auf knapp 50 Seiten eine 
Übersicht über die Vorzeit der beiden Sudetenländer, die sich bewußt die Ergeb- 
nisse der 55 zunutze macht und in den Hauptzügen ein treffendes 
Bild zeichnet. So wertvoll und anregend diese kurze Behandlung ist, so nachteilig 
ist es, daß sie nach der Gesamtanlage des Lexikons mit dem Beginne unserer Zeit- 
rechnung abschließen und die gesamte germanische und slavische Frühgeschichte 
ausschließen mußte. 

Ein Jahr später brachte der Wiener Universitätsprofessor Menghin eine Ein- 
führung in die Urgeschichte Böhmens und Mährens im Sudetendeutschen Verlage 
Franz Kraus (Reichenberg) heraus. Auf 118 Seiten gibt er eine Darstellung in 
einem Guß von der Altsteinzeit bis zur Merowinger Zeit; nur die slavische Epoche 
findet also in seinem Buche keine Berücksichtigung. Sein Bestreben geht weniger 
dahin, ein eingehendes, lückenloses Bild der Fundgruppen des Sudetenlandes zu 
bieten, als diese in die Entwicklung der gesamteuropäischen Kulturen richtig einzu- 
ordnen. Menghin ist mit dieser Lösung dem allgemeinen Bedürfnis glücklich ent- 

egen gekommen, wenn auch naturgemäß ein solches Werk, das viel Neuland zu 
N hat, nicht ganz schlackenlos ausfallen kann. 


204 


Wieder ein Jahr später begannen die Lieferungen von Schränils Vorgeschichte 
Böhmens und Mährens. Schränil erfaßt in seinem Buche zum ersten Male die ge- 
samte Vor- und Frühgeschichte einschließlich der slavischen Periode. Er packt 
seine Aufgabe anders an als Menghin. Mit großer Sorgfalt und Genauigkeit sucht 
er alle Kulturen des Sudetengebietets und ihre Einzelformen dem Leser vorzu- 
führen. So nimmt sein Text nicht nur den dreifachen Raum des Menghinschen 
Buches ein, sondern wird auch von einer erfreulich reichen Zahl von Abbildungen 
begleitet, die auf 74 Tafeln vereinigt sind. Dieser Bilderatlas ist ein überaus 
wertvoller Bestandteil des Werkes. Die Abbildungen sind mit Geschick und Ver- 
ständnis ausgewählt und in der Hauptsache nach guten Photographien hergestellt. 
Nur ein Mangel macht sich verschiedentlich bemerkbar. Der Verfasser hat dem 
begreiflichen Wunsche, möglichst viele Gegenstände darzustellen, oft zu sehr auf 
Kosten der Klarheit der Wiedergabe nachgegeben, die bei dem kleinen Maßstabe 
naturgemäß leiden muß. Aus der Arbeit spricht in allen ihren Teilen die enge 
Vertrautheit des Verfassers mit dem Quellenstoff. Bei der eingehenden Be- 
schreibung der Fundtypen leitet ihn aber auch wieder eine bisweilen übertriebene 
Genauigkeit; daher ist der Text zu stark mit reinen Formenschilderungen belastet 
und insbesondere für Fernerstehende in diesen Teilen zu spröde und schwer lesbar. 
Freilich muß zugegeben werden, daß bei dem oben berührten Stande der Boden- 
forschung in Böhmen und Mähren viele Vorarbeiten in diese Gesamtdarstellung 
aufgenommen werden mußten, die in anderen Gebieten bereits durch Einzelunter- 
suchungen erledigt sind. Auf alle Fälle hat die gewissenhafte Art der Darstellung 
Schränils den Vorteil, daß man sein Buch stets gern und nutzbringend als Nach- 
schlagewerk zu Rate ziehen wird. 


Die ältere Steinzeit ist ebenso wie bei der Cervinkaschen Behandlung Böhmens 
und Mährens Obermaier übertragen worden. Leider ist keine Gelegenheit ge- 
nommen worden, durch neue Abbildungen den großen Aufschwung der mährischen 
Paläolichforschung zu illustrieren. Die übrigen Vorzeitepochen hat Schränil 
selbst bearbeitet. Bei der jüngeren Steinzeit kann er sich vor allem auf die um- 
fassenden Untersuchungen Stockfs stützen. In dem Abschnitt über die ältcste 
Bronzezeit fällt an ply auf, daß sich Schränil von seiner in einer früheren Ab- 
handlung aufg ten absoluten Chronologie, die wenig Anerkennung gefunden 
hat, jetzt lossagt. Setzte er bisher die ältere Stufe der Aunjetitzer Kultur in die 
Zeit von 1700 bis 1500 und die jüngere von 1500 bis 1200, so nähert er sich nun- 
mehr den allgemein gebräuchlichen höheren Zahlenwerten. Eine gewisse Unsicher- 
heit scheint bei ihm in dieser Frage noch zu bestehen, weil er einmal (S. 92) den 
beiden Stufen das 19. bis 17. und 17. bis 15. Jahrhundert v. Chr. einräumt, sie 
dann aber wieder (S. 115) in die Zeit von 1900 bis 1700 und von 1700 bis 1500 
v. Chr. stellt. Ist die älteste Bronzezeit Böhmens und Mährens recht gut erforscht, 
so bleiben bei den folgenden Stufen der Bronzezeit und ältesten Eisenzeit noch 
viele Fragen zu beantworten. Schränil sieht für sein Arbeitsgebiet noch keine 
Möglichkeit, die bronzezeitliche Kultur des sogenannten Lausitzer Typus aus der 
Aunjetitzer Stufe abzuleiten, wie es bei den nahe verwandten Erscheinungen in 
Schlesien nachgewiesen worden ist. Er versucht vielmehr das Auftreten der Lau- 
sitzer Kultur durch eine Einwanderung aus dem Norden zu erklären. Dabei gibt 
er selbst zu, daß die Nachkommen der Aunjetitzer Kultur in Böhmen, die er — 
hier ganz nach altem Pitschen Muster — allein an dem Bewahren der alten 
Körpergrabform erkennen will, in der Lausitzer Kultur aufgegangen sind. Wie 
Schränil selbst hervorhebt, bedarf es noch vieler sachgemäßer Grabungen, ehe man 
die einzelnen Bronzezeitstile in Böhmen schärfer und sicherer voneinander scheiden 
kann. Insbesondere bleibt die Herausarbeitung einer genaueren relativen Chrono- 
logie der Stilgruppen noch eine Aufgabe der Forschung. Alsdann wird sich auch 
erweisen, ob z. B. die Kultur der jüngsten Bronzezeit in Ostböhmen wirklich durch 
Einwanderung aus Schlesien zu erklären ist. Der mährischen Podolerkultur, die 
von Červinka richtig erkannt, von Menghin aber fälschlich der Frühhallstattzeit 
zugeschrieben wurde, weist Schränil wieder ihren richtigen Platz in der Spät-Hall- 
stattzeit an. Mit erfreulicher Klarheit und triftigen Gründen deckt er die Fehler 
der bereits oben erwähnten Urslawentheorie auf. Die Kultur der Urnenfelder- 
bevölkerung verschwindet auch nach ihm im 5. Jahrh. v. Chr. und zeigt keinen 


205 


Zusammenhang mit der mehr als ein Jahrtausend später aufkommenden slavischen. 
Recht verwirrend ist es, daß Schränil ın der kelti Besiedlungsepoche ohne be- 
sondere Begründung die beiden, seit Tischler allgemein als Früh-Latönezeit und 
Mirtel-Laténezeit bezeichneten Stufen zusammenfassend als „Mittel-Latène- 
Be aufführt. Die in Böhmen so reich vertretene Früh-Latènezeit ist auch 

i der Auswahl der Abbildungen außerordentlich stiefmütterlich behandelt 
worden. Die germanische Epoche der Sudetenländer wird von Schränil kurz, aber 
in den Hautpzügen treffend geschildert. Mit Recht wendet er zich — ebenso wie 
vor ihm Preidel — gegen die falschen Folgerungen, die Simek auf Grund histori- 
scher Nachrichten über die Sitze der Markomannen zicht. 

Von besonderem Werte ist Schrénils Behandlung der slavischen Zeit (600 bis 
1100 n. Chr.), weil, wie bereits erwähnt wurde, eine zusammenfassende Dar- 
stellung dieser Epoche bisher völlig gefehlt hat. Obwohl er die germanische Be- 
siedl bis zur Wende des 6. zum 7. Jahrhundert andauern läßt, möchte er die 
essten Slaven schon vor dem 6. Jahrhundert nach Böhmen einwandern lassen. Für 
diese zu frühe Ansetzung kann er jedoch keine archäologischen Beweisstücke auf- 
führen. Die tschechischen Slaven kamen nach Schränil aus ihrer Heimat nördlich 
der Karpathen über das Weichsel- und Odergebiet nach Mähren und Böhmen. Der 
ältere Abschnitt der slavischen Besiedlun e bis zum Ende des 9. Jahr- 
hunderts ist ebenso wie in ganz Ostdeutschland durch Funde schlecht zu belegen. 
Wichtig sind hier die awarischen Einsprengsel, insbesondere Schmucksachen, in den 
slavischen Kulturresten. Weit zahlreiher und entwickelter sind die Funde des 
10. und 11. Jahrhunderts, also der Zeit der Begründung der Herrschaft der 
Przemysliden. Mit der Einführung des Christentums und dem Verbot der heid- 
nischen Bestattungssitten hört auch das wichtigste tage des Archäologen 
auf. Die reichen Gräber von Kolin und Schellenken mit ihren eigenartigen 
Schmuckstiicken bilden den Schlußstein für die auf den Bodenfunden fußende 
Forschung. Sie zeugen von den starken damaligen Beziehungen der Sudeten- 
länder mıt dem Osten Europas. Die beiden Goldanhänger aus Namiest in Mähren 
freilich, die Schrénil auf Tafel XLIX, 15 und 17 abbildet, gehören nicht in die 
ee Zeit, sondern entstammen einem germanischen Funde aus der Zeit um 
400 n. Chr. 

Für eine etwa notwendig werdende Neuauflage möchten wir den Verfasser 
bitten, seinem wichtigen Handbuch dann auch Siedlungskarten der einzeinen 
Epochen beizugeben. Die kulturellen Unterschiede innerhalb des Sudetengebietes, 
insbesondere die fast während der ganzen Vorzeit bestehende Kulturgrenze 
zwischen Süd- und Nordböhmen könnten dann dem Leser viel eindringlicher und 
augenfälliger nahegebracht werden. 


Breslau. M. Ja hn. 


Dr. Blažena RyncSov4: Listäf a listinäf Oldřicha z Rožmberka z let 
1418—1462, sv. I, 1418—1437 (Brief- und Urkundensammlung 
Ulrichs von Rosenberg 1418—1462, Band I, 1418—1437). 
Herausgegeben 1929 im Auftrage des Tschechoslovakischen Histo- 


rischen Instituts in Prag. Prag 1929. 

Das böhmische Geschlecht der Rosenberge ging aus dem Stamm der Witko- 
witze hervor, deren Name den deutschen Historikern durch die Hypothese ihrer 
deutschen Herkunft bekannt ist. Das Gebiet der südböhmischen Herrschaft der 
Witkowitze, bzw. Rosenberge reichte mit einigen Gütern in das benachbarte 
bayerische und österreichische Land und die gegenseitigen Beziehungen wurden 
durch Heiraten von Angehörigen des rosenbergischen Geschlechts mit 0 
der ober österreichischen Familien Wallsee und Schaumburg schon seit dem 13. Jahr- 
hundert befestigt. Aber nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Ver- 
kehr pflegte besonders der bedeutsame böhmische Politiker des 15. Jahrhunderts 
Ulrich von Rosenberg mit Bayern und Osterreich. Es ist anzunehmen, daß die 
Herausgabe seiner Korrespondenz eine Menge Material für die Geschichte der 
bayerisch- böhmischen Beziehungen bringt, da ja gerade er eine wichtige Rolle in 
der Frage der bayerischen Kandidatur auf den böhmischen Thron nach König 
Albrechts II. Tode gespielt hat. Bereits im obenerwähnten I. Bande begegnet man 


206 


mehreren Stücken, die private wie auch öffentlich politische Beziehungen Ulrichs 
von Rosenberg mit den bayerischen Herzögen und Passauer Bischöfen aufzeigen. 
Ein reicheres Material für diese Beziehungen wird erst der bald erscheinende II. Band 
dieser Edition bringen. Deshalb wird der über die deutsch-bömischen Beziehungen 
im 15. Jahrhundert arbeitende deutsche Historiker zu dieser Edition greifen müssen, 
welche neben den auf Bayern bezugnehmenden Dokumenten auch solche hat, die 
die Beziehungen Böhmens zu Oberösterreich 5 S 


Prag. I. B. Novak, 
Vorstand des Cechoslovakischen historischen Instituts. 


Šrobár, Dr Vavro: Osvobodené Slovensko. Pamäti z rokov 
1918—1920. Sväzok prvý. — Prag, „Čin“, 1928. 480 S., ein 
Photo, eine Landkarte. 


Vavro Šrobár, Mitunterzeichner des ersten Prager Gesetzes vom 28. Oktober 
1918, dann čechoslovakischer Gesundheitsminister und bevollmächtigter Minister 
für die Slovakei, hat ein Buch geschrieben, das als Material außerordentlich wert- 
voll, in der Art seiner Anlage weniger befriedigend ist. Es sind keine bloßen 
persönlichen Memoiren (pamäti); aber die Erweiterung zu einer Gesamtdarstellung 
wird nur stellenweise und dann so unvollständig versucht, daß wichtigste Ereig- 
nisse wie die Maifeier von Liptovský Svätý Mikuláš, das Pittsburger Abkommen, 
die Deklaration von Turčiansky Svätý Martin bei weitem zu kurz kommen. Auch 
der polemische Gehalt des Buches schwankt nach Stärke und Deutlichkeit außer- 
ordentlich. 

$robär ist entschieden Unitarier. In einer historischen Einleitung bemüht er 
sich um den Nachweis, daß seit dem Falle des großmährischen Reiches im Grunde 
alle Zechischen nationalen Bestrebungen auch die Slovakei mit einbezogen hätten. 
Überzeugender ist S. jedoch, wenn er die £echoslovakische Einheit nicht als histori- 
sches Faktum, sondern als Postulat verficht. Noch jetzt und auf ein weiteres 
Jahrzehnt hinaus könne von einer slovakischen Autonomie schon deshalb nicht die 
Rede sein, weil das Magyarische sich als Umgangssprache, namentlich bei den „Neu- 
slovaken“, noch stark behaupte (wofür € eine amüsante indirekte Bestätigung 
liefert, indem er es nicht für nötig hält, magyarische Ausdrücke zu übersetzen). 
Hierzu Simmt auch das von S. in extenso mitgeteilte Verzeichnis national- 
slovakisch gesinnter Persönlichkeiten, das die kgl. ungarische Regierung 1918 auf- 
stellen und 1918 ergänzen ließ, und das nur wenige hundert Namen umfaßt. Š. 
ist sich offenbar dessen bewußt, daß auch in einer demokratischen Welt politische 
Neuordnungen meist von einer kleinen, aber energischen Minderheit gemacht und 
erst nachträglich durch die Mehrheit legalisiert werden, und sieht demgemäß in 
i Konstatierung kleiner Zahlen keine Diskreditierung der nationalen Be- 
EEN sondern im Gegenteil eine Mahnung zu energischerem Vorgehen. 

Als seine Gegenspieler betrachtet 5. neben den Magyaren (deren verzweifelte 
Bemühungen um Rettung der Slovakei auch unter Kérolyis Herrschaft durch dieses 
Buch erneut bestätigt werden) vor allem Hlinka und Hodža. Hlinka erscheint 
weniger als individuelle Persönlichkeit denn als Exponent einer klerikalen Rich- 
tung, die, ohne gegen nationale Interessen gleichgültig oder ablehnend zu sein, sie 
jedoch immer hinter den kirchlichen zurücktreten läßt. Diesen Primat religiöser 
Erwägungen findet man übrigens nicht nur bei den Katholiken, sondern auch 
bei den Juden der Slovakei, die laut zahlreichen Belegen des Srobdrschen Buches in 
völliger Verkennung der machtpolitischen Situation und ihrer wohlverstandenen 
eigenen Interessen sich eigensinnig hinter ein Magyarentum stellten, das damals 
freilich noch durch den Namen Károlyi symbolisiert wurde. Ganz persönlich zu- 

itzt sind Š.s Angriffe gegen Hodža, den „politischen Dichter“. Während des 
Krieges habe er zweı Eisen im Feuer gehabt. Als er aber nach dem Umsturz am 
22. November 1918 als echoslovakischer Vertreter (delegát; er selbst nannte sich 
bezeichnenderweise vyslanec, Gesandter; vgl. hierzu Beneš, Světová válka, Bd. III, 
Dok. Nr. 224) und Nachfolger Emil Stodolas nach Budapest geschickt wurde, da 
habe er — wirft 5. ihm vor — das von Prag in ihn gesetzte Vertrauen ent- 
täuscht. Indem er von der ungarischen Regierung die Anerkennung eines auto- 
nomen „Imperiums des Slovakischen Nationalrates“ verlangte, habe er Fragen an- 


14 NF 6 207 


geschnitten, die nicht mehr zur Kompetenz Budapests, sondern zu der Prags, evtl. 
erjenigen der Friedenskonferenz gehörten, und sei so Vater des hungaristischen 
Autonomismus in der Slovakei geworden, den er später so oft habe selbst be- 
kämpfen müssen. Insbesondere aber verurteilt S. natürlich Hodžas Demarkations- 
linien-Abkommen vom 6. Dezember 1918. Hierin wird ihm die historische Kritik 
recht geben müssen. Hodžas Rechtfertigung dieses eigenmächtigen Schrittes (Beneš, 
a. a. O., Dok. Nr. 226) als einer dringenden Notwendigkeit des Augenblicks und 
nur des Augenblicks vermag nicht zu überzeugen, wogegen die Gefahr einer Be- 
einträchtigung der definitiven &echoslovakischen Grenzlinie durch den moralischen 
Eindruck dieser Abmachung sehr erust war. Allerdings hätte 5. seine Kritik auch 
auf diejenigen Kreise in Prag ausdehnen müssen, welche trotz der wiederholten 
egenteiligen Weisungen des in Paris befindlichen Außenministers (Beneš, a. a. O., 
Dok. Nr. 214, 216) Hodža auf den von Stodola geräumten Posten nach Budapest 
schickten und dort beließen. 

Außer diesen hochpolitischen Fragen wird auch die politische Tagesarbeit 
durch §.s Buch, namentlich durch die darin enthaltenen Originalprotokolle der von 
ihm als Minister für die Slovakei geleiteten Sitzungen, wirksam beleuchtet. Störend 
ist, daß neben solchen Originaldokumenten sich ein Dokument aus zweiter Hand 
ungebührlich breit macht: Kristöffys Buch „Magyarország Kälväridja“, welches den 
ganzen, die Zersetzung der österreichisch-ungarischen Monarchie schildernden, 
ersten Teil fast ausschließlich beherrscht. S.s Werk schließt einstweilen mit dem 
Anfang des Jahres 1919 ab; ein zweiter Band ist versprochen. 

Berlin. LeopoldSilberstein. 


NOTIZEN 


Vom 10, bis 14. Juni fand in Breslau die XXII. Tagung des Allgemeinen 
Deutschen Neuphilologen-Verbandes statt. Der schon seit einiger Zeit disku- 
tierte Gedanke der Gründung einer slavistischen Sektion hatte auch gerade bei 
den im praktischen Schuldienst befindlichen Slavisten deshalb eine günstige Auf- 
nahme gefunden, weil die ganz westlich eingestellte preußische Schulreform für 
den Unterricht in den slavischen Sprachen keine angemessene Berücksichtigung bietet. 

Breslau war seiner Lage nach der gegebene Ort, den Versuch der Gründung 
einer slavistischen Sektion zu machen. Wir sind dem Deutschen Neuphilologen- 
Verbande auch äußerst dankbar, daß er uns Gelegenheit bot, uns seiner um- 
fassenden Organisation einzugliedern. Zu den vorbereitenden Sitzungen waren 
Prof. Diels- Breslau und der Unterzeichnete vom Ausschuß der Tagung hinzu- 
gezogen worden. Das Vortragsamt für die slavische Philologie wurde Prof. 
Diels übertragen. Ein wissenschaftliher und ein die praktischen Fragen des 
Schulbetriebes behandelnder Vortrag wurden vorgesehen. Den vissenschaftlichen 
Vortrag hielt Prof. Dr. Gesemann- Prag am Mittwoch den 11. Juni um 
17 Uhr über das Thema: „Vom Wesen des Volksliedes, auf- 
gezeigt an epischen und lyrischen Volksliedern der Slaven 
(mit Grammophon beispiele n).“ Der Vortrag fand im voll besetzten 
Raume des Auditorium maximum unserer Universitit statt und erregte mit 
seinen reichen Anregungen das lebhafteste Interesse aller Zuhörer. 

Die konstituierende Sitzung der neuen Sektion wurde dann am Donners- 
tag, den 12. Juni, im Auditorium V um 17 Uhr mit den Ausführungen des 
Studienrats Dr. Dittrich - Görlitz über die „Aufgaben des slavis chen 
Unterrichts“ eingeleitet, an den sich eine sehr lebhafte Debatte anschloß. Diese 
zeigte aber, wie doch in den für diesen Unterricht grundlegenden Fragen die Meinungen 
noch stark auseinandergehen und einer weiteren Klärung bedürfen. 

Die Beteiligung war erfreulich groß. Von den Anwesenden traten 17 der 
neuen Sektion bei. Auf den Vorschlag des bisher prisidierenden Prof. Diels 
wurde als 1. Vorsitzender der Sektion der Unter zeichnete, als Schrift- 
führer Studienrat Dr. Dittrich gewählt. Nach den IIniversitätsferien wird 
sich der Vorstand mit den Fachgenossen in engere Fühlung setzen. 


E. Hanisch 


208 


OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU 


JAHRBUCHER 
FOR 


KULTUR UND GESCHICHTE 
DER SLAVEN 


IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS 
HERAUSGEGEBEN VON 


FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH- 

BRESLAU, ROBERT HOLTZMANN-BERLIN, JOSEF 

MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, 

KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER- WIEN, 
WILHELM WOSTRY-PRAG 


SCHRIFTLEITUNG: 
ERDMANN HANISCH 


* 


N. F. BAND VI HEFT II UND III 
1930 


— — . «ö ͤ ««««« ? ' ⏑ꝗ—⏑t,.lt ü 


PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG 
BRESLAU, RING 58 


INHALTS-VERZEICHNIS 


I 
ABHANDLUNGEN 
Dobrovsky als Orientalist und sein Weg zur Slavistik von Dr. Theodor 
Feinki !!!!! Ss a ES OB dei e E a o 
Der Messianismus bei den Slaven von Prof. Dr. I. Mirtschuk ... . 
II 
MISCELLEN 


Sophie Kovalevskij von Helene Simon- Eckardt. 
Conférence des Historiens des Etats de Europe Orientale et du monde Slave 
von Dr. Otto Forst- Battaglia¶a 2 2 0. 


III 


LIT ERAT URB ERICH T E 
Neue Ausgaben siidslavischer poetischer Literatur und Quellen zur Kultur- 
und Geistesgeschichte von Josef Mattl 
Die Quellen zur Cechoslovakischen Geschichte in den ersten zehn Jahren der 
Cechoslovakischen Republik von V4clavHruby ....... 
Neuere Literatur zur Kirchengeschichte Polens von Karl Völker 
Archeion von St. Zagaczkowski (Lemberg) ........2.. 


Przegląd Bibljoteczny von E. Koschmieder........... 
Drei Polnische Festschriften von Dr. Otto Forst- Battaglia 

VI 

BÜCHERBESPRECHUNGEN 

IV 
ZEITSCHRIFTENSCHAU ..... 

V 

NOTIZEN 


Jan Ptasnik von A. Wagner (Lemberg) - . . . 2: 2 2 2 2 2 2 2. 


1 
ABHANDLUNGEN 


—— EAEE 


DOBROVSKÝ ALS ORIENTALIST UND SEIN WEG 
ZUR SLAVISTIK 


Von 
Dr. med. und phil. Theodor Frankl, Prag. 


I 


Es ist kaum einem Menschen vergönnt, am Anfang seiner Lauf- 
bahn seine Lebensaufgabe klar vor sich zu sehen und einem einmal 
gesteckten Ziel auf gerader Bahn entgegenzustreben. Auch ein genial 
Begabter muß oft lange tasten und suchen, ehe er zu einem eigent- 
lichen Arbeitsgebiet gelan Und so bildet auch die Entwicklung 
Joseph Dobrovskys durchaus keine Ausnahme. Vas aber bei 
Betrachtung des Lebenslaufs dieses großen Forschers, der zu den Be- 

ründern der tschechischen und slavischen 5 gehört, 

nders auffällt, sind die Schwierigkeiten, die er überwinden mußte, 

um überhaupt studieren zu können und dann die Umwege, auf detien 

er zu der Arbeit gelangte, die ihn zu einem der bedeutendsten 
Männer des tschechischen Volkes werden ließ. 


Merkwürdig ist schon seine Herkunft. Seiner Abstammung 
nach ist Dobrovsky zweifellos Tscheche (seine Vorfahren und auch 
sein Vater lebten Generationen hindurch in Solnice in Böhmen), er 
wurde aber am 17. August 1753 bei Gyatmat in Ungarn geboren, 
eine Tatsache, die auch den ungarischen Schriftstellern dann Anlaß 

ab, ihn später, als er schon brühmt war, zu den Ihrigen zu rechnen.“) 
rigens ist es eine Tatsache, daß er auch in den Schulzeugnissen 
als „Ungarus Jermetensis“ bezeichnet wird, was uns beweist, daß das 
Kind Dobrovsky eben als richtiger Ungar betrachtet werden kann. 
Sogar sein ursprünglicher Name Doubravsky wurde vom ungarischen 
Geistlichen zum heute bekannten „Dobrovský“ entstellt. 


Schon während der ersten Lebensjahre Dobrovskys verließ sein 
Vater das Militär und ließ sich in Böhmen zwar, aber im deutschen 
Bischofteinitz, nieder, wo der Knabe natürlich vollkommen deutsch 
erzogen wurde. Bis jetzt also Nichts, was den Jungen auf den Weg 


1) Fr. Palacky, 
209 


des Tschechentums oder gar der Slavistik bringen könnte. Wie 
Palack selbst zugibt, wurde Dobrovsky mit Recht zu den 
Deutschen gezählt, zu denen er auch wirklich nach seiner Erziehung 
und seinen Schriften viel mehr gehört, als zu den Tschechen. 

In Bischofteinitz war der Vater D.s inzwischen gestorben und 
er erhielt im zweiten Manne seiner Mutter, einem eingedeutschten 
Kroaten einen grausamen Stiefvater. Das einzig Gute, das D. seinem 
Stiefvater nachträgt, ist, daß er ihm ein Paar Brocken Kroatisch, 
also immerhin eine slavische Sprache beigebracht hat.“) So hat D. 
bis zu seinem 10. Lebensjahr keine Ahnung vom Tschechischen ge- 
habt und es ist auch jetzt nur ein Zufall, der ihn in die tschechi - 
sche Stadt Deutsch-Brod gebracht hat. 

Wie gesagt, konnte D. mit 10 Jahren kein Wort Tschechisch. 
Sein Stiefvater hätte sich kaum um seinen Stiefsohn weiter ge- 
kümmert, den er höchstwahrscheinlich in die Lehre gegeben hätte, 
aber D.s Mutter, die für ihn litt, und der Pfarrer, der die glänzenden 
Fähigkeiten des Jungen sah, haben den Mann überredet, den Knaben 
doch in die Mittelschule zu geben. Und nun geschah es, daß der 
Stiefvater einen Schuldner in Deutsch-Brod hatte, der nicht zahlen 
wollte, und daher auf die glänzende Idee kam, den jungen Dobrovsky 
nach Deutsch-Brod in die Schule zu geben, wo er die Schuld „ab- 
zuessen“ hätte. So ist der künftige Slavist schließlich doch in eine 
tschechische Umgebung geraten (1763), wo man in der Schule zwar 
lateinisch unterrichtete, aber sich doch oft mit Tschechisch ausge- 
holfen hat, ebenso wie man sich in den Schulen der deutschen 
Gegenden, wohin Dobrovský sonst gekommen wäre, wenn er über- 
haupt hätte in eine Schule kommen können, mit Deutsch auszuhelfen 
gesucht hat.“ 

In Deutsch-Brod wurde Dobrovský nur als Deutscher behandelt. 
In einem Briefe an Hanka vom 30. 8. 1828 schreibt Dobrovsky 
von seinem Leben in der Schule:“ 

„Als ich in Deutschbrod in die Schule ging (etwa 1764, 1765) 
schoben (suli) die böhmischen Knaben na némce (d. i. mich) manchen 
Bubenstreich; sie selbst aber spotteten, indem sie mir wiederholt 
nachschrien: „Němec brouk, hrnce tlouk, pod lavici je házel“; auch 
warfen sie mir Steine nach und schlugen meinen Kopf blutig (Ted’ 
mužové mně o mozek pfipraviti chtzih. Woher nun meine Liebe 
für Böhmen? Auf * Wohltaten gründet sie sich keines- 


wegs. 

Als Dobrovsky die vier Klassen der „Lateinischen Schule“ in 
Deutsch-Brod absolviert hatte, kam er nach Klattau an das höhere 
Gymnasium, und zwar wieder nur deshalb, weil sein Vater auch hier 
einen nicht zahlenden Schuldner hatte. Und auch dieser neue Zufall 
hat auf das ganze Leben Dobrovskys nachgewirkt. Vahrscheinlich 


2) Fr. Palacky. 
3) Ivan Snegirev 20 (s. S. 14, Anm. 1). 
) Casopis keho Musea, 1870, S. 887. 


210 


hat Dobrovsky dieser Schule, die von den Jesuiten geleitet wurde, 
den ersten Gedanken zu verdanken, Theologie zu studieren, Jesuit zu 
werden und in den Orient (Indien) als Missionär zu ziehen. Wir 
werden noch unten sehen, was fiir eine wichtige Rolle die Theologie 
in der weiteren Entwicklung von D.s wissenschaftlicher Tätigkeit 
spielte und vielleicht wan es die od ea Reise nach dem Orient, die, 
neben der Theologie, seine besonders eifrige Beschäftigung mit den 
orientalischen Sprachen veranlaßte, ein Studium, das ihm später zur 
slavischen Sprachwissenschaft brachte. 

Im Jahre 1768 wurde D. auch mit dieser Schule glänzend fertig. 
Da aber sein Stiefvater scheinbar keine Schuldner mehr hatte, zu- 
mindest keine unpünktlichen, so dachte er natürlich gar nicht daran, 
den Jungen noch weiter studieren zu lassen. Dobrovsky war aber 

on zu weit gekommen, um sich von Brotschwierigkeiten ab- 

schrecken zu lassen. Er verließ das Haus seiner Eltern und zog na 
Prag, wo er seine Bedürfnisse durch Privatunterricht deckte und sich 
so auch weiter den Studien widmen konnte. | 

1771 hatte Dobrovsky die Vorklassen, die philosophischen Kurse, 
als einer der besten Magister absolviert und trat in die theologische 
Fakultät ein. Seine Erziehung bei den Jesuiten und die allgemeinen 
Zustände jener Zeit, wo Theologie beinahe das einzige Studium dar- 
stellte, dürften ihn dazu bewogen haben. Auch hier zeichnete er sich 
im Studium und Diskussionen aus, lenkt die Aufmerksamkeit des 
Jesuiten Prof. Stepling auf sich, der es verstand, den jungen Studenten 
zu überreden, die Universität zu verlassen und in den Jesuitenorden 
einzutreten. So eine tüchtige und abte Kraft wollte man sich 
nicht entgehen lassen. Dobrovsky gehorchte, und nicht ungern. 
Unter dem Einfluß Steplitz nämlich, der zwar Jesuite, aber Vor- 
kämpfer der neuesten Ideen war, sah Dobrovský nunmehr die sach- 
liche Erklärung der Bibel, die Hermeneutik, als seinen Lebensberuf 
an. Und am Eisen konnte man sich diesen Studien widmen, 
wenn man Priester wurde.“) Und so finden wir den 19 jährigen“ 
Dobrovský 1772 in seinem Noviziate in Brünn, mit Vorbereitungen 
für die Missionärstätigkeit und für eine Reise nach Indien be- 


Aber noch bevor das Noviziat D.s abgelaufen war, traten Er- 
eignisse ein, die seine ganze künftige Laufbahn änderten. 


II 


Im Jahre 1773 gab der Papst Klemens XIV. der allgemein ver- 
breiteten Verbitterung gegen den Jesuitenorden nach und hob den 
Orden durch das Breve „Dominus ac Redemptor“ für die ganze 
Kirche auf. In verschiedenen Ländern wurde der Orden schon vor- 
her gewaltsam unterdrückt (Portugal 1759, Frankreich 1764, Spanien 


3) J. Vilek, Dějiny české Literatury, druh, dílu část. prvni S. 175 unten. 
©) Dobrovský war schon älter, als es für das Noviziat vorgeschrieben war, 
aber Stepling hat durch seinen Einfluß diese Schwierigkeit zu beseitigen gewußt. 


211 


und Neapel 1767), jetzt aber mußten die einst allmächtigen Ordens- 
brüder auch in Osterreich, bzw. Böhmen, weichen. Der Fall der 
Jesuiten, der den Plan D.s, fenn zu werden und sich der Missions- 
tätigkeit zu widmen, gewaltsam durchkreuzte, aufhob, übte auch 
durch seine Nachwirkung auf die Prager theologische Fakultät, wohin 
sih Dobrovský nadh Abbruch seines Noviziates begeben hat, einen 
weiteren Einfluß auf D.s Studien und Laufbahn aus. Die Ex-Jesuiten 
wurden natürlich vom Lehrerbestand der Universität ausgeschlossen, 
zumindest diejenigen unter ihnen, die der alten unproduktiven 
Scholastik ergeben waren. Wenige sogenannte Neu-Jesuiten, zu denen 
übrigens auch Stepling gehörte, wurden aber belassen. Zum Haupt 
der Theologishen Fakultät wurde der berühmte Scholastenfeind 
Rautenstrauch ernannt, der auch 1774 mit den Reformen an der 
Fakultät begonnen hat. Unter den neugegründeten Lehrkanzeln 
wurde besondere Aufmerksamkeit der Hermeneutik des Alten und 
Neuen Testaments geschenkt,’) einer Wissenschaft, die gerade zu 
dieser Zeit großartige Fortschritte gemacht hat. Schon die Pietisten 
haben gegen Ende des 17. Jahrhunderts das Prinzip der Gleich- 
wertigkeit der Bibel in allen ihren Teilen durchbrochen, indem 
zwischen den einzelnen Biichern nach dem Grade ihrer Erbaulichkeit 
unterschieden wurde. Die Deisten dann drängten auf die Unter- 
scheidung zwischen Kirchenlehre und Bibel. Der englische Mathe- 
matiker William Whiston erklirte (1722) in seinem ,,Essay towards 
restoring the true text of the Old Testament“ den massoretischen 
Text für eine Fälschung und machte Vorschläge zur Wieder- 
herstellung des hebräischen Urtextes auf Grund des samaritanischen 
Pentateuchs, der Septuaginta und anderer Übersetzungen und Zitate. 
Der Reformierte Alphons Turreth schließlich stellte in seinem „De 
Sacrae Sripturae interpretatione tractatus bipartibus“ (1728) den 
Grundsatz auf, daß die Heilige Schrift wie alle Bücher zu verstehen 
sei. „Das Alles vereinigte sich, um etwa mit der Mitte des 18. Jahr- 
hunderts eine neue Periode in der Geschichte der Bibelwisenschaft 
heraufzuführen. Die Textkritik gewann immer mehr einen wissen- 


schaftlichen Charakter.“) 


Dobrovsky wurde von den neuen Richtungen und Gedanken 
mitgerissen. Und wohl dank seiner besonderen Begabung fiir Sprach- 
wissenschaft, einer Begabung, die sich später auf dem Gebiete der 
Slavistik so glänzend zeigen sollte, hat er sich besonders für die 
Hermeneutik interessiert, die engstens mit Sprachwissenschaft zu- 
sammenhingt. Man merke sich wohl, daß Dobrovsky nie seinen 
Neigungen nachgegeben hätte, um Sachen nur deshalb zu studieren, 
weil sie ihn interessierten. Er war vor allem Theologe und studierte 


7) Auch Dobrovsky selbst sagt darüber (in den Abhandlungen d. königl. 
böhmischen Ges. d. Wissensch., 1802, I. Bd. S. 35, siehe auch S. 7 unten): „Nach 
Aufhebung der Jesuiten sollten dem Rautenstrauchischen Plane gemäß die bibl. 
Sprachen eifriger betrieben, werden.“ 

6) Bertholet in „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“, herausg. von 
F. M. Schiele, Tübingen 1900, S. 1206. 


312 


semitische Sprachen nur, weil er damit der Theologie zu dienen 
glaubte. Seine Neigungen und Begabungen werden ihn nur dazu ge- 

racht haben, gerade für diesen Zweig der Theologie mehr Interesse 
zu empfinden. 

Dobrovsky beginnt nun, Hebräisch und Arabisch mit Fleiß und 
Eifer zu betreiben. Die Bibelwissenschaft, die, wie wir oben sahen, 
gerade zu dieser Zeit besonderen Fortschritt zu verzeichnen hatte, 
war inzwischen schon weit genug gelangt, um die Wichtigkeit des 
Studiums der semitischen Sprachen für das Verständnis des Alten 
Testaments zu erkennen. Dobrovsky begnügt sich nicht damit, was 
ihm die Fakultät beim Studium geben kann, sondern arbeitet tage- 
lang selbständig und allein. Und auch hier hat seine besondere 
Tüchtigkeit auf diesem Gebiet die Aufmerksamkeit aller auf ihn 
gelenkt, und als Dobrovsky 1775 zu Fortunat Durych als Hörer 
des Hebräischen kommt, findet dieser sofort an dem eifrigen 
Studenten Gefallen, der für eben dieselben Dinge solch ein Interesse 
zeigt, für die er, Durych, selbst seit langem eine besondere Schwäche 
empfindet. Es entsteht nun zwischen den beiden eine Freundschaft, 
die für die wissenschaftliche Entwicklung Dobrovskys entscheidend 
werden sollte. 


III. 


In den Abhandlungen der königl. böhmischen Gesellschaft der 
Wissenschaften 1802, Band I, S. 31 ff. finden wir eine Biographie 
Durychs aus Dobrovskys Feder, die uns nicht nur sehr wichtige Auf- 
schlüsse über das Leben des Gelehrten gibt, sondern auch von hohem 
Werte für das Verstandnis des Verhältnisses zwischen den beiden 
Männern ist. Nach dieser Biographie war Durych „zu Turnau in 
Böhmen am 28. September 1735 geboren“ (S. 31), war also um 
18 Jahre älter als Dobrovsky. 1758 hielt er die Priesterweihe und 
nach einigen Jahren lehrte er als Lektor seine Ordensbriider, „nach- 
dem er sich nicht wie gewöhnlich aus einigen Kapiteln, sondern aus 
der ganzen hebräischen Bibel unterzogen hatte, die Theologie und 
insbesondere die morgenländischen Sprachen zu Wien: 1765—67 zu 
München, seit 1767 durch mehr als zehn Jahre zu Prag“. Wir lesen 
dann auf Seite 35: „Nach Aufhebung der Jesuiten sollten dem Rauten- 
strauchschen Plane gemäß die bibl. Sprachen eifriger betrieben werden. 
Er ward bei dieser neuen Einrichtung des theologischen Studiums 
zum königlichen Examinator der griechischen und hebräischen 
Sprachen . . ernannt. Dieses Amt versah er durch 10 Jahre bis 1784 
und supplierte dabei gelegentlich den Professor der hebräischen 
Sprache. 

Durych war also, wie Dobrovsky, ein Theologe, der hauptsäch- 
lich für orientalische Sprachen Interesse hatte. Wohl gemerkt, ein 
Theologe. Wir dürfen auf keinen Fall vergessen, daß es nur die 
Theologie war, die sowohl Durych, als auch Dobrovsky die Mög- 
lichkeit gab, ohne Gewissensbisse ihrer Neigung zur Sprachwissen- 
schaft nachzugehen. Und wenn beide später das ursprüngliche Ziel 


213 


ihrer Sprachstudien vergaßen und sich mit slavischer Sprachwissen- 
schaft ohne jeglichen Zusammenhang mit Theologie befaßten, so 
konnte dies nur die Frucht einer Entwicklung sein, die von der 
Theologie über semitische Sprachwissenschaft und theologische Sla- 
vistik (etwa Untersuchungen über die slavischen Übersetzungen der 
Bibel) zur reinen Slavistik führte. 

Wenn Durych nun 1775 einen Hörer bekommt, der mit solchem 
Eifer den Studien desjenigen Faches oblag, dem er selbst seit langem 
ergeben war, so müssen wir uns nicht wundern, wenn zwischen den 
beiden Männern ein engeres Verhältnis entstand, als es gewöhnlich 
zwischen Lehrer und Schüler zu bestehen pflegt: Sie konnten nämlich 
gemeinsame Studien betreiben. 

„Schon ein Mann von mehr als vierzig Jahren“ — schreibt weiter 
Dobrovsky (S. 33) — „lernte er mit mir die arabische Sprache. Bald 
suchten wir alte hebräische Grabschriften auf, bald verglichen wir 
hebräische Handschriften, wenigstens in wichtigen Stellen, für de- 
_ Variantensammlung.... Gleiche Studien verbanden uns immer 
näher.“ 

De-Rossis „Variae lectiones Vet. Testamenti“ (Parmae 1784) er- 
schienen viel später. Tatsächlich aber hat diese gemeinsame Arbeit 
von Dobrovsky und Durych schon viel früher Früchte getragen. Wir 
befinden uns nämlich in einer Zeit, wo die Textkritik darin bestand, 

aß man aus verschiedenen Varianten den Originaltext heraus- 

zubekommen suchte. „Kennicott verglich in Gemeinschaft mit 
mehreren Gelehrten gegen 1200 hebräische Handschriften und legte 
die Ergebnisse der Vergleichung in seinem zwei Foliobinde um- 
fassenden „Vetus Testamentum hebraicum cum variis lectionibus“, 
Oxonii 1776 und 1780, nieder: Die Ergebnisse brachten ziemliche Ent- 
täuschung: denn die mit Eifer aufgespürten Handschriften erwiesen 
sich alle als ziemlich jung, waren reich an Schreibfehlern, aber arm 
an wichtigen Varianten. Bestätigung fanden diese Ergebnisse durch 
de-Rossi in seinen vier Quartbände umfassenden „Variae lectiones ex 
immensa MSS congerie haustae, Parmae 1784—88“. Damit war end- 
gültig erwiesen, daß auf dem Wege der Vergleichung hebräischer 
Handschriften für die Hauptfehler des alttestamentlichen Textes keine 
Heilung zu schaffen war. Um so mehr schenkte man den übrigens 
schon von Kennicott mitabgedruckten samaritanischen Texte des 
Pentateuchs und vor allem der Septuaginta Beachtung.“) 

Aber noch lange, bevor all diese Enttäuschungen ans Licht 
kamen, als man noch alle Hoffnungen gerade auf Zusammensuchen 
und Vergleichen hebräischer Handschriften legte, haben sich die beiden 
gelehrten Theologen alle Mühe genommen, auch die ihnen zugäng- 
lichen Handschriften zu durchsuchen. Die Bibliothek des Klemen- 
tinums und die Privatsammlungen in Prag wurden durchstöbert. 
Dobrovsky hat sich eine sehr interessante Sammlung von Fragmenten 
von Bibelhandschriften angelegt, die aus bei Juden beschlagnahmten 


2) S. 6, Anm. 2. 


214 


Handschritten besteht, die man zum Binden christlicher Bücher und 
zum Beschreiben verwendete. Diese Sammlung befindet sich noch 
heute im Landesmuseum in Prag und die von Dobrovsky und Durych 
herausgefundenen Varianten des Bibeltextes in einigen dieser Frag- 
mente sind die erste Publikation Dobrovskys (wobei er sich sogar 
genierte, seinen Namen zu nennen) in der Orientalist. Bibliothek 
von Michaelis, Göttingen 1777, Band XII S. 106—111 unter dem 
Titel „Pragische Fragmente hebr. Handschriften“. “) 

So hat Dobrovsky begonnen. Es war das erste, wissenschaftlich 
unbedeutende Werk eines Gelehrten, der kurz darauf, nachdem er 
seinen richtigen Weg in der Wissenschaft gefunden hatte, die ganze 
Welt von sich reden machte. 


IV. 

Während des schon oben (S. 213 unten) erwähnten zweijährigen 
Aufenthalts Durychs in München ist aber das geschehen, was Durych, 
und später auch Dobrovskf, einen Schritt näher zu ihrem eigent- 
lichen Lebensberuf — der Slavistik — bringen sollte. In seinem für 
die Kenntnis der Beziehungen von Durych und Dobrovsky sehr 
interessanten Aufsatz „O počatcich slovanské filologie v Cechach, 
zvlaště o Fortunatovi Durichovi a jeho poměru k Dobrovskému“ 
in Časopis Musea Království Ceskeho 1896 S. 67—80 sagt F. Pastrnek: 

„Durych byl povahy povidy klidné nanejvy$ opatrhe, ba 
zrovna bäzlive; z jeho péra nevyšlo slovo ostřejší. Avšak jeho nitro 
zahříval onen svatý ohen lásky ku všemu českému a slovanskému, 
která každé oběti a největších činů schopna jest. Jiskřička stačila, aby 
tento oheń roznítila v zápal trválý. Tato jiskra zasáhla vznětlivou 
mysi Durichovu v Mnichově, jak sám v předmluvě ku své knize 
»Bibliotheca slavica“ p. XII vypravuje. Jako člen řádu sv. Frautiška 
de-Paula byl Durych v. r. 1765, jsa 30 rokü stár, poslán do Mnichova, 
aby tam bratřím svým předńašel theologii a ak jazyk hebrejsky. 
Když pak záhy zašel do dvorní knihovny, přijal jej tam velmi 
vlídně tehdejší bibliothekář, slavný bavorský dějepisec Ondř. Felix 
Oefele. Rozmluva obrátila se brzy na literárné dějiny rozmanítých 
národů, a Oefele, vida před sebou vědychtivého čecha, toužil na to, 
že takových literárních dějin slovanských dosud není a počal 
Durichovi domlouvati, aby on se věci chopil a o literatuře české a 
též ostatnich slovanů soustavně F Hned mu též návod dal, 
jak si má pe tom počínati, a slíbil, Ze mu potřebné knihy zaopatfi. 

Appell slavného učence bavorského . . . neminul se s u&inkem. 
Durich jal se hned sbirati vědecký materiál, a když se po dvouletém 
pob v Mnichově navrátil do Prahy, přinesl si již některá 
„Adversaria“ z byzantských spisovatelů. V Praze pak podařilo se 


10) Die Fragmente, denen diese Varianten entnommen sind, u. zw. I. Sam, 15, 

: A 16—86; 45, 18—46, 1; 48, 10—27; I. Regum 7, 18—26; 
7, 08, 1; II. Regum 12, 1—2; von denen Hanuš nicht weiß, wo sie hin- 
Kee sind natürlich ebenfalls im Museum und in dieser Sammlung zu 
inden. 


215 


mu sep? povzbuditi Adankta Voigts, aby domácí literatuře se 
věnoval.“ 

Wie den Voigt, so hat Durych auch Dobrovský immer wieder 
auf die Slavistik aufmerksam zu machen gesucht. Dobrovský selbst 
sagt darüber in seiner schon erwähnten (S. 213) Biographie 
Durychs (S. 33): i 

„Allein so lieb ihm auch die Betreibung hebräischer Philologie 
war, so hatte er doch mehr Hang für slavische Literatur und einen 
lange gefaßten Vorsatz, sich dieser bei müßigern Stunden ganz zu 
vidma. Er unterließ es auch nie, mich auf dieses sein Lieblingsfach 
nebenher aufmerksam zu machen und dafür immer mehr und mehr 
einzunehmen.“ 

All dies Zureden hat zunächst nicht viel genützt. Dobrovsky 

war vor allem Theologe und nur als solcher hat er sich erlauben 
können, sich mit Sprachwissenschaft abzugeben, die aber in diesem 
Falle nur die semitische Sprachwissenschaft sein konnte. Um etwas 
mehr Interesse für slavische Sprachwissenschaft zu bekommen, 
hat Dobrovsky erst darauf kommen müssen, daß sich auch auf diesem 
Gebiet für die Theologie arbeiten läßt. Zunächst hielt er aber nach 
seinen eigenen Worten die Beschäftigung mit slavischer Sprach- 
wissenschaft und Literatur für überflüssig, Übrigens können 
wir denselben Prozeß auch bei Durych verfolgen, der, obzwar er 
schon seit 1765 Interesse für Slavistik hat, doch erst 1777 sein erstes 
Werk auf diesem Gebiete veröffentlicht (De slavo-bohemica sacri 
codicis versione dissertatio Fortunati Durich . . . Pragae 1777), und 
auch dies ist ein Werk, das sich direkt auf Theologe bezieht. Außer- 
dem hat es sih Durych vorgenommen, sich der Slavistik „bei 
müßigern Stunden“ und „nebenher“ zu widmen, wie sich Dobrovský 
(S. 11 unten) ausdrückt. Man sage uns nicht, Durych sei mit seinem 
Brotberuf — Hebräerunterriht — beschäftigt gewesen: noch im 
ahre 1775 treibt ihn die Energie und der Fleiß dahin, Arabish zu 
ernen, was uns zeigt, daß er immer noch ein lebendiges Interesse 
für semitische Sprachen hegte. Und sein Vorsatz, sich der Slavistik 
nur „bei müßigern Stunden“ zu widmen, gehört eben dieser Zeit 
an, da ja Dobrovský Durych vor 1775 gar nicht kannte. Diese 
Theologen konnten eben Slavistik noch nicht als Hauptberuf und 
-zweck betrachten. Dagegen haben sie es beide schon bald ver- 
standen, daß sich die Slavistik sehr gut bei den Untersuchungen alter 
Quellen zur Geschichte des Bibeltextes verwerten ließe. Dobrovský 
läßt sich von Durych Slavisch beibringen, aber nur „jakožto nového 
nezbytného prostředku k výkladům textův biblických“ (Vlček 176) 
und so wurde schließlich das Gebiet der Slavistik berührt und ein 
Bindeglied hergestellt zwischen der Theologie und der „reinen“ 
slavishen Sprachwissenschaft. 


V 


Im Jahre 1776 kommt Dobrovsky ins Haus des Grafen Nostiz. 
In dessen Bibliothek sucht er vor allem hebräische Handschriften und 


216 


Varianten aus, so eine hat er noch viel später (1784) in de-Rossis 
Variantensammlung veröffentlicht (vgl. S. 9 oben). Vir sehen, wie 
er ncch immer neben seiner slavischen Tätigkeit, die er schon 1779 
aufnimmt (siehe noch unten), ergebener Theologe und Hebraist bleibt. 
Im Hause Nostiz trifft Dobrovsky den Historiker Peltzel an, der 
sich schon seit langem mit der Geschichte Böhmens beschäftigte, 
und dieser hat den ihm untergegebenen Dobrovsky veranlaßt, für 
ihn Material für seine Geschichtswerke zu sammeln. Was für eine 
Art „Veranlassung“ diese war, läßt sich kaum mehr feststellen. Alle 
Biographen sprechen von der Bereitwilligkeit, mit der Dobrovsky 
dem „Freund Peltzel“ half, höchstwahrscheinlih aber war es eine 
Art Sekretärarbeit.e Was aber feststeht, ist, daß Dobrovský beim 
Suchen und Stöbern nicht nur Material für sich selbst und nach 
seinem Geschmack finden konnte (auch auf seine Fragmente 
hebräischer Handschriften, siehe oben, dürfte er dabei gestoßen 
sein), ) sondern daß er auch Sachen kennen lernte, für die er sonst 
vielleicht nie Interesse gehabt hätte. Das Gebiet der Slavistik, das 
er ursprünglich zumindest für überflüssig hält, wenigstens insofern, 
als es nicht als Hilfsmittel für die Theologie diente, gewinnt lang- 
sam, aber sicher, an Boden. ,,Prozkoumévaje hraběcí knihovnu 
domácí“ sagt Vlček (176) — „biblioteku strahovskou, klementinskou 
a jiné a sbíraje i vypisuje také pro přítele Pelcla látku z dějin 
domácích, zahloubal se do starého českého jazyka, do staré české 
literatuty, do staré české historie, a záhy poznal to že je pravým 
a vlastním jeho polem. Tak Dobrovský vlastně jiz 1778 z pouhého 
vykladatele bible stal se jazykospytcem, dějespytcem i hystorikem 
literárním.“ 

Und richtig hat Dobrovský schon 1778 sein „Fragmentum 
Pragense evangelii S. Marci, vulgo autographi“ herausgegeben, ein 
Werk, das eben am besten zeigt, wie er auch für Werke, die nicht 
zur semitischen Sprachwissenschaft gehören, Interesse hatte, wenn 
sie nur von einer bestimmten Wichtigkeit für die Theologie waren. 
Bei dieser Arbeit hat sich Dobrovský auch der slavishen Texte be- 
dient, wobei ihm Peltzel behilflich war. Auch hier sehen wir, daß 
das Slavische zunächst nur als Hilfswissenschaft für Dobrovský von 
Wert ist. Aber schon enige Jahre seines Aufenthaltes in Prag und 
Zusammenarbeit mit Durych, als auch das Zusammentreffen mit der 
Gesellschaft der Vorkämpfer der tschechischen kulturellen Selb- 
ständigkeit, die kennen zu lernen er im Hause Nostiz’ reichlich Ge- 
legenheit hatte, die Zusammenarbeit mit Peltzel schließlih — all 
dies hat ihn bald in die Reihe dieser Patrioten eintreten lassen. 
„Ilpesparu YMCTBCHHATO u maniomaxbmaro mpoO6yxaxeHia’ — sagt 
Snegirev'”) — IHPNBIeRZN BHWMaHie JloOposckaro E BhsBaau ero Kr 
Raten CGOBPEMEHHATO COCTOSHIA npocghmenia BI OTEuecTBt. 


11) 1774 erschien sein erstes Werk „Kurzgefaßte Geschichte von Böhmen“. 
19) Vgl. V. Flajähans, Pisemnictvi české slovem i obrazem, Praha 1901, 
S. 458 unten. 
18) Ivan Snégirev, I. Mo06popcril, ero ZHEHL, YHEHN-AUTEPATYPHHIC TPYALL 
N SAcıyTrE Mus Aansnonh Anis, Kagans. 1884. S. 
217 


Euy xoTbIOCL BHACHHTA COCTORHIC YYCÓHHXb gane nenin, crenenb paz- 
BATİA HAYWHOH M AHTepaTypHOH XBATeALHOCTH, cocTOsHie 6HOLIOTERE 
u BOOGme cOcTOsHic HAyKb H mCKyccTBD. CB dsTOH TIL OHS 
npexnpanaap IIospenennoe nananie . . cTaHOBACh army H3XAHİOMb 
BE bAXb TOTAAMHAXS OTEIECTBOBLAOBL. JloSposesii ne O6HAPYZHBALL 
noxa IIPCHMYIICCTBEHHOR CKAOHHOCTH Kb KAKOÄ-AHÓO cneniazpbHOC TH BP 
HOBOH ug Hero OOAACTH . . . opt CTPeMHäcH OBAAABTL BCHÄ prof 
oGnacrbw, Bb HAUPABACHIAXT: HC TOPHUECKOMB, HCTOPHKOANTE 
par ypRHOMT H A3bIKO BEAHOMP. 

(Die. Zeichen der geistigen und nationalen Renaissance haben 
die Aufmerksamkeit Dobrovskys auf sich gelenkt und ihn ver- 
anlaßt, die Kulturzustände seiner Zeit in seinem Vaterlande zu be- 
obachten. Er wollte sich den Zustand der Lehranstalten klar machen, 
die Höhe der Entwicklung der wissenschaftlichen und literarischen 
Tätigkeit, den Zustand der Bibliotheken und überhaupt den Stand 
der Wissenschaften und Künste. Zu diesem Zwece hat er die 
„Periodische Ausgabe“ unternommen . . ,) sich dadurch in die Reihe 
der damaligen Vaterlandsforscher stellend. Dobrovský zeigte keine 
besondere Bevorzugung irgendeines Spezialfaches auf dem für ihn 
neuen Gebiete ..., er erstrebte das ganze Gebiet, und zwar nach den 
historischen, literar- historischen und sprach- 
wis senschaftlichen Richtungen hin zu beherrschen.) 

In diesen von 1779 an regelmäßig erscheinenden Sammelschriften 
über „Böhmische Literatur zeigt sich schon das außerordentliche 
Interesse, das Dobrovsky gerade den Zuständen in Böhmen entgegen- 
brachte. In diesen Sammelschriften sollen, und werden auch, alle in 
Böhmen erscheinende Schriften besprochen, die böhmischen, deutschen, 
lateinischen und sogar hebräischen, für die Dobrovsky, wohl als Er- 


innerung an seine früheren Lieblingsstudien, ein besonderes Interesse 


14) Gemeint ist die „Böhmische Literatur auf das Jahr 1779“, s. S. 16 oben. 


15) Auch V, Jagić schreibt die „Umsattlung“ Dobrovskys dem Einfluß der 
tschechisch patriotischen Umgebung zu. Im Aufatz „Slovjensko jezikoslovje“ (in 
„Knjizevnik“, Časopis za jazik 1 poviest hrvatsku i srbsku, u Zagrebu 1865, 
S. 857—358) sagt er: „Borba plemenitih muževa, kakovi su bili Fr. Kinski, 
Fr. Pelcel, Karlo Tham i Alois Hanke iz HankeSteina, koji se digole, da brane 
najveću svetinju svakoga naroda, zatim podvostruéena revnost i nastojanje nekih 
književnika, kano ti su: Pelcel, Prochazka, Rulik, Tomsa itd. oko narodnoga 
jezika, kojemu je pogibelj prietila — to bijahu pojavi, koje ni su mogli ostati 
ba upliva na njihov (des Duryh und Dobrovský nämlich) naučnı pravac 
i znanstveno zanimanje. Tako se može protumačiti, zašto su, jeden i drugi, 
odustali od nauka bogoslovnih, kojimi su se od prije izključivo bevili, te se s 
većom pomnjom stavili na nauke slovjenske.“ (Der Kampf angesehener Männer, 
wie es Fr. Kinski, Fr. Pelcel, Karlo Tham und Alois Hanke aus Hankestein 
waren, die sich erhoben, um das größte Heiligtum eines jeden Volkes zu ver- 
teidigen, dann der Eifer und Standhaftigkeit einiger Schriftsteller, wie z. B. Pelcel, 
Prochazka, Rulik, Tomsa usw. für die Sprache des Volkes, der eine Gefahr drohte 
— das waren Erscheinungen, die nicht ohne Einfluß auf ihre (des Durich und 
Dobrovský nämlich) wissenschaftliche Richtung und bleiben konnten. So kann 
man es sich erklären, warum sich beide von der Theologie abgewendet haben, mit 
der sie sih ursprünglich beschäftigt haben, um sih mit einer um so größeren 
Aufmerksamkeit der slavishen Wissenschaft widmen zu können). 


218 


hatte. Aber nur seine außerordentliche Liebe für sein Volk und 
Land hat ihn die Zeitschrift so leiten lassen können, daß er sogar 
Verfolgungen seitens der Beamtenschaft ausgesetzt war. Der Genius 
hat endlich das Feld gefunden, auf dem er seine schier unerschöpf- 
baren Kräfte entfalten kann. Von nun an beschäftigte sich Dobrovsky 
sehr wenig mit den von ihm erst vor kurzem so geliebten semitischen 
Sprachen. Er arbeitet mit Peltzel, veröffentlicht mit ihm gemeinsam 
Werke, und wenn er 1783 doch noch sein übrigens vereinzeltes 
richtiges wissenschaftliches Werk auf dem Gebiete der Orientalistik 
veröffentlicht (Josephi Dobrovsky, De antiquis hebraeorum charac- 
teribus Dissertatio, Pragae 1783), so müssen wir darin nicht etwa 
(wie bei Durychs Arabischstudien, s. S. 12 Mitte) ein Zeichen eines 
noch immer bedeutenden Interesses für die Orientalistik sehen. Auf 
dringenden Rat seiner Freunde Peltzel und J. L. Von-Gay (des 
Bischofs von Königgrätz), die besonders nach einem Jagdunfall mit 
Dobrovskf'*) um ihn besorgt waren, hat Dobrovský nämlich ver- 
suchen wollen, doch zu einem festen Posten zu gelangen, indem er 
eine Professur aus Hebräisch und Hermeneutik (die allein bei den 
damaligen Zuständen auf den Universitäten für Dobrovsky in Be- 
tracht kamen) an einer Universität annehme. Um so einen Lehr- 
posten zu erreichen, hat Dobrovsky eben die oben angeführte Disser- 
tation schreiben müssen. Als aber auch tatsächlich dem Gelehrten 
eine Lehrkanzel an der Universität Lvov angeboten wurde, hat er 
sie kurz entschlossen abgelehnt und hat das weitere ruhige Leben 
im Hause Nostiz’ in Prag, wo er weiter Slavistik und tschechische 
Sprachwissenschaft betreiben konnte, vorgezogen. Die Orientalistik 
war nunmehr für Dobrovsky nur insofern von Wert, als sie seine 
slavistischen Studien bedeutend förderte und ihm das genaue und 
gründliche Verständnis der grammatischen Phänomene der slavischen 
Sprachen“) ermöglichte. Sonst aber war schon Dobrovský weit 
genug, um einzusehen, daß er nur mit seinem Volke und für sein 
Volk in dieser für die Tschechen so wichtigen Zeit arbeiten dürfe 
und daß kein Interesse der Wissenschaft oder der Theologie mehr 
berechtigte Ansprüche auf seine Fähigkeiten und Kräfte habe, als sein 
Volk und dessen Zukunft. Dobrovsky gehört nunmehr nur der 
Slavistik und der tchechischen Renaissance an: Das Interesse für sein 
Volk und Land hat endgültig das Interesse für seinen Gott und für 
die Religion verdrängt. 
VI. 


Und so hat Dobrovsky mit seiner Vergangenheit gebrochen. 
Weder seine Treue zur Theologie, noch seine Begeisterung für die 
semitischen Sprachen sind erhalten geblieben. Von allen Fesseln be- 
freit, hat sich der geniale Mann endlich frei und für immer einer 
heißgeliebten Wissenschaft widmen können. Aber auch Dobrovskys 


rise wurde nämlich bei einer Jagd durch einen Schuß verletzt. 
Siehe darüber Svétozor, 1880, čislo 16, p. 191. 
17) Siehe darüber Kap. VI. 


219 


18 NP 6 


Lehrjahre, die ersten Jahre seiner Entwicklung, die er, wie wir eben 
geschen haben, ganz ohne Zusammenhang mit seiner kü en 
Tätigkeit verbrachte, waren keine verlorene Zeit gewesen. e 
Araber waren die Ersten, die die Grammatik ihrer Sprache be- 
arbeiteten. Erst von ihnen lernte man diese Kunst in Europa. Und 
keine geringe Rolle bei der Anregung regelmäßiger Beschäftigung 
mit der jeweiligen Muttersprache haben überall die sprachwissen- 
schaftlichen Übungen der Gelehrten gespielt, die aus theologischen 
Gründen auf dem Gebiete der semitischen Sprachen tätig waren. 

Wir haben gesehen, es auch im Falle Dobrovsky die semi- 
tische Sprachwissenschaft war, die ihn zur Slavistik brachte. Aber 
nicht nur die Tatsache seiner „Bekehrung“ haben wir der Semitistik 
zu verdanken, sondern auch in einem sehr hohen Maße die Gründ- 
lichkeit und Kunst, mit der auf seinem neuen wissenschaftlichen Ge- 
biet, der Slavistik, arbeiten konnte. Sehr interessant ist, was wir bei 
V. Jagić (s. S. 15, Anm. 2 von diesem Einfluß von Dobrovskýs 
RE en Studien auf seine spätere slavistische Werke lesen 
(S. : 

„Dobrovsky posveti se već za rana s osobitom voljom dubljemu 
nauku istočnih jezika (tako se i upoznao s Durichom), Zeleéi zadobiti 
učiteljsku stolicu ovih jezika na nekojem bogoslovnom učilištu: to 
nebijaše bez velike važnosti za njegova ostala jezikoslovna izpitivanja 
u području slovjenskem. Ja barem držim zbilja u Dobrovskoga za 
neposredan upliv nauka evrejskih poznatu težnju, do koje je osobito 
mnogo držao i on sam i njegovi ini suvremenici, da u etimologiji 
(t. j u tvorenju rieči) svagda najprije razluči i izvadi korjenike 

wörter); jer baš o tom znali su slovjenski gramatici prije 
Dobrovskoga ili veoma malo, ili upravo ništa. Za dokaz navadjam, 
što se već njegov prvi strogo jezikoslovni spis bavio ovim predmetom: 
to je godine 1799 izdana razprava.“ „Die Bildsamkeit der slavischen 
Sprache, an der Bildung der Subst. und Adj. dargestellt.“ Istomu je 
predmetu razmjerno mnogo mjesta ustupio i u gramatici českoj 
(Lehrgebäude, 1809), a osobito u gramatici staroslovjenskoj - 
stitutiones, 1822); napose pako govori još o tom malena knjižica 
„Entwurf zu einem allgemeinen Etymologikon“ (1813), i jedan 
zastavak u „Slovanki“ (1814, str. 27—54).“ 

[Hat sich doch Dobrovský schon bald mit besonderem Eifer den 
tiefen Studien der orientalischen Sprachen gewidmet (so hat er auch 
den Durich kennen gelernt), beabsichtigend eine Lehrkanzel für diese 
Sprachen auf irgendeiner theologischen Schule zu erhalten: das war 
nicht ohne Wichtigkeit für seine spätere sprachwissenschaftliche 
Forschungen auf dem Gebiete der Slavistik. Ich zumindest glaube in 
jener Forschungsrichtung den unmittelbaren Einfluß der Hebräischen 
Wissenschaft zu erkennen, von der sowohl er, als auch seine anderen 
Zeitgenossen so viel hielten, u. zw. daß sie in der Etymologie (d. i. 
die Bildung der Sprache) erst immer die Wurzelwörter herausfinden. 
Davon wußten die slavischen Grammatiker vor Dobrovsky entweder 
sehr wenig, oder gar nichts. Zum Beweis erinnere ich, daß sich sein 


220 


erstes streng wissenschaftliches Werk mit diesem Gegenstand befaßt. 
Das ist die 1799 erschienene Abhandlung „Die Bildsamkeit“ etc. 
Außerdem wurde dem Gegenstand verhältnismäßig viel Raum in der 
tschechischen Grammatik (Lehrgebäude, 1809) überlassen und be- 
sonders in der alt-slavischen Grammatik; endlich handelt auch darüber 
ein kleines Büchlein „Entwurf“ etc. und ein Aufsatz in der „Slo- 


Dieser Aufsatz in der „Slovanka“ heißt: „Wie und mit welcher 
Vorsicht soll man die Wurzelwörter und Stammsylben aus den vor- 
handenen Wörterbüchern aufsuchen und sammeln,“ In der Rezension 
Kopitars (Kleinere Schriften, Wien 1857, S. 275) zu diesem Aufsatz 
lesen wir weiteres vom Zusammenhang dieser Wurzelwörterstudien 
Dobrovskys mit seinen früheren Studien auf dem Gebiete der Orien- 
talistik. Es heißt dort: 

„In Verbindung mit dem besonders gedruckten und bereits im 
vorigen Jahrgange dieser Blätter von einem anderen Rezensenten an- 
gezeigten „Entwurfe zu einem allgemeinen Etymologikon der slavi- 
schen Sprachen“, Prag 1813, ohne Vergleich der köstlidiste Aufsatz 
der ganzen „Slovanka“, “) und Rezensent fürchtet, keinem Slavisten 
zu nahe zu treten, wenn er behauptet, daß, wenn die übrigen mit ge- 
höriger Aufmerksamkeit auch eın anderer hätte machen können, 
dieser nur von einem so tiefen und umfassenden“) Sprach- 
forscher wie Dobrovsky erwartet werden konnte.“ 


Und dann noch weiter: 


„Adelung bemerkt in der Einleitung zu seinem „Mithridates“, 
daß nur die volle Einsicht in den Bau einer Sprache, d. i. die Auf- 
lösung derselben bis in ihre einfachen Wurzeln uns in den Stand 
setzt und berechtigt, über sie zu urteilen; daß aber diese Auflösung 
bisher nur an drei Sprachen sei versucht worden: an der hebräischen, 
wo aber unzeitige Ehrfurcht für rabbinischen Quersinn vom wahren 
Wege abgeleitet habe; an der griechischen, wo man aber, ungeachtet 
Hemsterhuis und seine Schüler das wahre geahnt, eben auch den 
Hebraisten zu Gefallen, auf halbem Wege stehen geblieben; und end- 
lich an der deutschen seit Wachter . . . Gewiß hätte Adelung, wenn 
er auch noch Slavist gewesen wire, nach Durchlesung des Entwurfes 
und dieses Artikels der „Slovanka“ ausgerufen: „Hier ist mehr als 
Hemsterhuis und Wachter“ .. .“ 

Wir sehen, Dobrovskfs gelehrte Zeitgenossen waren sich voll- 
ständig darüber klar, welch einen hohen Wert Dobrovskys Studien 
auf dem Gebiete der Orientalistik für seine slavistische wissenschaft- 
liche Tätigkeit hatten. Kopitar ist überzeugt, daß Dobrovsky „mehr 
als Hemsterhuis und Wachter“ ist. Er meint, daß diese Gelehrten 
eben nur in den Anfängen einer „Auflösung“ ihrer Sprachen in ihre 
einfachen Wurzeln waren, während „von einem so tiefen und 

18) Wir haben gesehen (S. 19, oben), daß auch V. Jagić diese zwei Werke zu- 
sammenstellt und als zusammenhängend betrachtet. 

10) Von mir gesperrt. 


221 


umfassenden”) Sprachforscher wie Dobrovsky (wobei er natür- 
lich an Dobrovskys frühere orientalistische Studien denkt) viel mehr 
„erwartet werden konnte“. So faßt auch Jagić (s. S. 15 Anm. 2) die 
Worte Kopitars auf (S. 358 Anm. 2 Schluß): 

„To su rieči Kopitarove od godine 1815; iz njih može čitatelj 
uvidjeti, kolika su vaZnost i drugi jezikoslovci onoga vremena 
stavljali u etimologiju Dobrovskovu, isto tako osvjedotiti se, da je u 
tom cielom pitanju zbilja bila glavna poluga — evrejltina. 

[Das sind Kopitars Worte vom Jahre 1815; der Leser kann 
daraus sehen, welch eine Wichtigkeit auch andere Sprachwissen- 
schaftler jener Zeit der Etymologie Dobrovskýs zuschrieben und 
sich auch überzeugen, ob in dieser ganzen Forschung der Haupthebel 
geblieben ist — das Hebräisch e.] 

Durch ihren Zusammenhang mit der Theologie haben die 
semitischen Sprachen Dobrovský zum Sprachwissenschaftler gemacht, 
aber auch auf den Slavisten Dobrovský haben sie anregend und be- 
fruchtend gewirkt. 


0 Von mir gesperrt. 


222 


DER MESSIANISMUS BEI DEN SLAVEN 


Von 
Prof. Dr. I. Mirtschuk. 


Unter Messianismus versteht man allgemein den Glauben an 
eine besondere, ungemein wichtige und vom Schicksal allein vorher- 
bestimmte Sendung eines auserwählten Volkes, welches als Träger 
einer neuen Idee seine Rolle in der Geschichte der Menschheit zu er- 
füllen hat. Die messianistische Idee, noch im essen wurzelnd, 
E erst im 19. Jahrhundert wieder an Bedeutung, in Deutsch- 
and zur Zeit der Befreiungskriege, in Frankreich um die Wende des 
Jahrhunderts unter dem unmittelbaren Einfluß der Revolution; die 
stärkste Entfaltung fand der Messianismus jedoch zweifellos unter 
den Slaven, deren tiefe Religiosität und der damit verbundene Mysti- 
zismus den geeigneten zur Aufnahme dieser Ideen bildete. 
Eine starke Förderung erfuhr diese Bewegung unter den Slaven seitens 
der deutschen historiosophischen Schulen, hauptsächlih durch 
Herder,') welcher auf. den Fleiß, die Friedensliebe und andere in der 
Psyche der Slaven schlummernden Vorzüge hinweisend, ihnen eine 
herrliche Zukunft versprach, sowie durch Hegel, dessen Idee der 
Wiederkehr, dessen Prinzip der wiederholten Offenbarung des 
Geistes der Geschichte in den einzelnen Völkern und Stämmen ganz 
unwillkürlich der Verbreitung des Glaubens an eine von der Vor- 
sehung bestimmte Mission der Slaven Vorschub leistete. Hegel selbst 
hat sich nur ein einziges Mal, und zwar eher negativ als positiv, über 
die Zukunft der slavischen Stämme ausgesprochen: „Es haben zwar 
diese Völkerschaften Königreiche gebildet und mutige Kämpfe mit 
den verschiedenen Nationen bestanden; sie haben bisweilen als Vor- 
truppen, als ein Mittelwesen in den Kampf des christlichen Europa 
und unchristlichen Asien eingegriffen, die Polen haben sogar das be- 
lagerte Wien von den Türken befreit, und ein Teil der Slaven ist der 
westlichen Vernunft erobert worden. Dennoch bleibt diese ganze 
Masse aus unserer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie bisher nicht 
als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Ver- 
nunft in der Welt aufgetreten ist. Ob dies in der Folge geschehen 
werde, geht uns hier nicht an; denn in der Geschichte haben wir es 


1) Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte, Sechzehntes Buch, V, S. 23. 
Berlin, Hempel. 


223 


mit der Vergangenheit zu tun.“) Diese eine Bemerkung Hegels, 
welche in Wirklichkeit die Frage der zukünftigen Rolle der Slaven 
offen läßt, genügte, um slavische, unter dem dominierenden Einfluß 
des deutschen Idealismus stehende Philosophen, hauptsächlich Polen 
und Russen, zu veranlassen, auf der Grundlage der Philosophie 
Hegels eigene slavophile Konstruktionen zu schaffen. Die Idee des 
slavischen Messianismus, welche slavischen Völkern in der Gestaltung 
der weiteren geschichtlichen Ereignisse eine prominente Rolle zu- 
weist, hängt natürlicherweise mit allen Prophezeihungen und 
Theorien über die zukünftigen Schicksale des menschlichen Ge- 
schlechtes eng zusammen. 

Die prägnantesten und charakteristischen Formen des Messianis- 
mus bietet uns die polnische Literatur des 19. Jahrhunderts. Eine 
konsequente, auf dem Hegelschen System a ute Konstruktion 
des Messianismus in Verbindung mit der Schilderung der nächsten 
Epoche der Weltgeschichte finden wir bei dem polnischen Philo- 
sophen August Cieszkowski.”) Als treuer Schüler Hegels übernimmt 
er von seinem Meister das trichotomische Prinzip, ‘cas Prinzip der 
These, der Antithese und der Synthese, trachtet aber gleichzeitig, 
über seinen Lehrer hinausgehend, seine Inkonsequenz in der prak- 
tischen Durchführung des dialektischen Gesetzes in der Geschichte 
aufzuzeigen und zu korrigieren. Während Hegel im Widerspruch 
mit seinem eigenen Prinzip die Weltgeschichte in vier Hauptperioden 
zerfallen läßt, und zwar in die orientalische, griechische, römische 
und germanische Welt, ohne sich über die Zukunft des menschlichen 
Geschlechtes den Kopf zu zerbrechen, teilt Cieszkowski, von messia- 
nistischen Erwägungen getrieben, die bisherige Geschichte in zwei 
große Epochen: in die Epoche des materiellen, sinnlichen Seins im 
Altertum, die Thesis, und in die Antithesis, das Christentum, als die 
Epoche des rein geistigen Lebens. Vor Christi Geburt fühlte der 
Mensch seine Einigkeit mit der Natur, es gab keinen Zwiespalt, keine 
Trennung von Subjekt und Objekt, infolgedessen nur einen schwach 
entwickelten individualistischen Zug; in der Religion herrschte der 
Pantheismus, im sozialen und im Staatsleben der Despotismus. 
Christus hat als erster den engen Zusammenhang des Menschen mit 
der Natur gesprengt, indem er auf seine höhere Bestimmung hinwies. 
Durch die Betonung des alleinigen Wertes des Lebens im Jenseits 
untergrub er die Bedeutung des diesseitigen Daseins, welches für die 
alten Griechen und Römer im Gegensatz zur schattenhaften Existenz 
nach dem Tode allein erstrebenswert war. Die heidnische Absorp- 
tion des Individuums durch die Gesellschaft wurde in der christlichen 
Epoche von der Absorption der Gesellschaft durch das Individuum 
ersetzt. Aber damit ist die Weltgeschichte nicht zu Ende, das tricho- 
tomische Prinzip Hegels verlangte außer der Thesis und Antithesis 


2) Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam-Ausgabe, 
3) „Prolegomena zur Historiosophie.“ „Ojcze nasz“, 4 Bde. „Gott und 


Palingenesie.“ 


224 


nach einer dritten Epoche, nach der Synthesis. Und in diesem 
Momente kommt die messianistische Einstellung des Philosophen zum 
Ausdruck. Indem er nachweist, daß die beiden bisherigen Perioden 
der menschlichen Geschichte eine starke Einseitigkeit an den Tag 
legten und einen bereits überwundenen Standpunkt darstellten, 
kiindet er in seinem Hauptwerke „Vater unser“ den Anbruch der 
dritten und letzten Epoche an, welche als Synthese die diesseitige 
5 des klassischen Altertums mit dem christlichen Streben 
nach dem allein wertvollen Leben im Jenseits zu einem harmonischen 
Ganzen vereinigt und auf diese Weise Gottes Reich auf Erden 
schafft. Im Zeichen dieser Epoche setzt die Mission der Slaven ein, 
welche die Führung der Menschheit auf dem Vege zu dieser glück- 
lichen Zukunft übernehmen sollen. 

Die Berechtigung zu dieser Auffassung sieht Cieszkowski in der 
besonderen Eignung der Slaven, diese Mission zu erfüllen, nadidem 
in ihrem Charakter, in ihrem ganzen Vesen jene Haupteigenschaften 
vertreten sind, welche den beiden früheren Perioden den Stempel 
ihrer Eigenart aufgedrückt haben. Der Weltanschauung des Alter- 
tums entnahmen die Slaven die Affirmation des diesseitigen Lebens, 
gleichzeitig aber und trotz dieser positiven Einstellung gingen sie 
einen tiefen, innigen Kontakt mit der christlichen Kultur ein. Diese 
im Verhältnis zu den beiden früheren Epochen keinesfalls negierende 
Position sichert den Slaven den Vorrang bei der Besetzung einer 
dominierenden Rolle in der dritten Epoche. 


Der Messianismus der Slaven drückt sich selbstverständlich auch 
in ihrem Verhiltnis zu anderen europäischen Stimmen aus, welches 
Problem von Krasiński in seinem Traktat: „Über die Stellung Polens 
aus menschlichen und göttlichen Riicksichten“ behandelt wurde. Die 
historische Eigenart der Slaven sucht Krasinski durch ihre Zu- 
sammenstellung mit dem romanischen Stamme und seinen Haupt- 
vertretern, den Franzosen, und den Germanen plastisch zu unter- 
streichen. Die Franzosen haben noch immer den lebendigen geistigen 
Zusammenhang mit der antiken Welt aufrechterhalten, indem sie 
ihren politischen und praktischen Sinn sowie eine Vorliebe für 
praktische Schönheit von ihr übernahmen. Die Germanen lehnen 
die sinnliche Mannigfaltigkeit in der Wirklichkeit ab und streben 
nur nach idealer Einheit. Den Ausdruck dieses Strebens bildet die 
„idealistischeste, die abstrakteste, die am feinsten ausgearbeitete 
Philosophie“ der Welt. Die Aufgabe der Slaven besteht nun darin, 
diese divergierenden Richtungen zu einer neuen und höheren Syn- 

ese zu vereinigen. Ohne in den einseitigen Realismus der Fran- 
zosen oder den ebenfalls einseitigen Idealismus der Deutschen 
Pas zu verfallen, wandten die Slaven ihre größte Aufmerksam- 

it der Pflege von zwei Haupteigenschaften ihrer Psyche zu, und 
zwar der tieten Religiosität, welche in dem Glauben an den fort- 
währenden Verkehr der überirdischen und der irdischen Kräfte 
wurzelt und des Gefühls der allgemeinmenschlichen Bruderschaft, 
welches nach außenhin sich in der uneingeschränkten Nächstenliebe 


225 


manifestiert. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Menschen kann 
man als den ewigen Sinn ihres Lebens betrachten. Im Vergleich mit 
dem politischen Stamm der Romanen und dem philosophischen 
Stamm der Germanen bilden die Slaven ım vollsten Sinne des 
Wortes den religiösen Stamm, welcher das Sein mit der Idee, das 
irdische Gesetz mit dem göttlichen Gesetz, die Politik mit der christ- 
lichen Liebe in einer vollkommenen Synthese vereinigt.“ 


Denselben Gedankenkomplex finden wir auch bei einer ganzen 
Reihe polnischer Schriftsteller, wie bei Alexander Tyszynski in 
seinem „Historischen Abriß der Bildung der Slaven“, weiter bei Karl 
Libelt und bei Trentowski. Eine gesonderte Stellung unter den 
polnischen Messianisten nimmt der große Theoretiker Hoene- 
Wronski’) ein, welchem das Verdienst gebührt, den Terminus 
„Messianismus“ eingeführt zu haben. In seiner Proklamation vom 
Jahre 1848 verkündet er der Velt, daß die Mission der Slaven in 
der endgültigen Erkenntnis der absoluten Vahrheit liege. Die ein- 
zige Möglichkeit der Erschließung dieser Wahrheit bildet die 
messianistische Doktrin, eine definitive Union der absoluten Philo- 
sophie mit der absoluten Religion oder die seit Jahrtausenden von 

ristus selbst angekündigte Ankunft des Paraklets oder des Geistes 
der Wahrheit. Die westeuropäische Welt, welche von dem Glauben 
an die Unmöglichkeit, die absolute Wahrheit zu erkennen, durch- 
drungen ıst, war nicht imstande, die messianistische Idee auf- 
zunehmen, zu ihrer Übernahme und weiteren Entwicklung sind nur 
urwüchsige Völker berufen, deren Gefühle, von dem alles zersetzenden 
Kritizismus noch nicht berührt, die Fähigkeit besitzen, das Wort 
Gottes zu erfassen. Diesen Bedingungen entsprechen aber am besten 
die mächtigen, dabei tief religiös veranlagten slavischen Völker, 
deren Aufgabe durch Erschließung des inneren Inhaltes (Wesens) des 
Absoluten (l’essence intime de l’Absolu) erfüllt werden wird. Diese 
Völker bewirken dann eine gänzliche Reform des menschlichen 
Wissens (la reforme absolue du savoir humain) und ermöglichen auf 
diese Weise die weitere Entwicklung der Menschheit, welche bis nun 
durch die destruktive Philosophie des Westens aufgehalten wurde. 
Die messianistische Doktrin, formuliert in den Werken Hoene- 
Wronskis, bildet für das Slaventum den sichersten Beweis seiner 
Mission, welche in der Realisierung messianistischer Prinzipien ihre 
Vollendung findet. Hier wurde der Messianismus der Slaven nicht 
aus dem ihnen eigenen Mystizismus abgeleitet, sondern vom Stand- 
punkte des philosophischen Systems Hoene-Wronskis als eine ge- 
schichtliche Notwendigkeit begründet. 

Von dem historiosophischen Messianismus Cieszkowskis, von 
dem philosophisch fundierten Messianismus Hoene-Wronskis gehen 


) Z. Klarneröwna: Stowianofilstwo w literaturze polskiej lat 1800 do 1848. 
Warszawa 1926. Rozdziat X. 

) Hoene-Wronski: 1. „Prodromme du Messianisme.“ 2. „Metapolityka 
messjaniczna.“ 3. ,Apodyktyka messjaniczne.“ 4. „Prolegomena do Messja- 
nizmu. 5. „Adresse aux nation slaves sur les destinées du monde.“ Paris 1848. 


226 


wir zu der rein religiösen Begründung der messianistischen Idee über, 
welche in der polnischen Literatur ihre stärkste Formulierung bei 
solchen Schriftstellern, wie Jahski,") Krélikowski,’) hauptsächlich aber 
bei Andreas Towianski®) und unter seinem unmittelbaren Einfluß bei 
dem großen Genius der polnischen Nation, bei Adam Mickiewicz 
gefunden hat. Im Lichte der Lehre Towianskis bildet den Grund 
der menschhchen Seele das religiöse Gefühl, welches als Quelle der 
inneren Glut den unmittelbaren Verkehr mit Gott vermittelt. Von 
allen europäischen Völkern haben bloß die Slaven diesen wahren 
Schatz der Seele in vollkommener Reinheit bewahrt, und zwar 
weniger ihre höheren intellektuellen Kreise, welche im Verkehr mit 
dem verdorbenen Europa ihre ursprüngliche Reinheit einbüßten, als 
das einfache, seit Jahrhunderten unterdrückte und verfolgte Volk. 
Dieses Volk ist natürlich nicht imstande, mit anderen europäischen, 
intellektuell höher stehenden Nationen auf dem Wege des Pro- 
gresses gleichen Schritt zu halten oder gar zu wetteifern, dafür aber 
ist es berufen, das wahre religiöse Leben hier in dieser Welt zu 
fördern. Inzwischen hat sich Gott der in jahrhundertelanger Knecht- 
schaft darbenden Völker erbarmt und ihnen eine neue religiöse 
Offenbarung zuteil werden lassen, welche die heilige Offenbarung 
von Christus vervollständigen soll. Mit dieser neuen Offenbarung 
steht eine neue Epoche der Geschichte der Menschheit im Zu- 
sammenhang, in welcher es dem Slaventum vergönnt sein wird, die 
in den Tiefen seiner Psyche verborgenen Qualitäten zur vollen Ent- 
faltung zu bringen. 

Unter dem ausgesprochenen Einfluß dieser Lehre stand Adam 
Mickiewicz zur Zeit, als er im „College de France“ seine Vor- 
lesungen über slavische Literaturen hielt. Der große Dichter, gänz- 
lich von der tiefen Reiigiositit durchdrungen, welche vom Meister 
Towianski auf ihn hinüberzuströmen schien, sieht die Bestimmung 
der Slaven in der Herbeiführung einer neuen höheren Phase des 
Christentums auf Erden, in der Überwindung der passiven Religio- 
sität des Mittelalters und in der Festigung der neuen Kirche des 
triumphierenden Christus. Ihre Befähigung zur Erfüllung dieser 
Aufgabe glaubt er auf ganz originelle Art und Weise begründen zu 
können, indem er die Geburtsstunde der Slaven zum historischen 
Dasein ziemlich spät ansetzt und behauptet, daß sie zu allerletzt das 
Land der Geister verließen und daher noch ganz frische Erinnerungen 
an dieses Dasein behielten. Ohne auf die Details dieser messia- 
nistischen Auffassung näher einzugehen, möchte ich nur kurz be- 
tonen, daß in dieser Gruppe polnischer Messianisten die religiösen 
Momente beinahe gänzlich das Feld beherrschen und andere Töne 
nur als Begleitung dieses einen mächtigen Grundtons ganz schwach 
mitklingen. 


) Bogdan Jański: „Polska w związku z powszechną pracą chrzescijanstwa.“ 
7) „Polska Chrystusowa“, pismo poświęcone zasadom społecznym. 


Paryż 1942. 
) List Chodźki do cesarza Mikołaja I, złożony przez Towianskiego. 
227 


Im Lichte der polnischen messianistischen Literatur erscheint die 
Mission der Slaven mittels der dialektischen Methode aus historio- 
sophischen und rein philosophischen Konstruktionen hergeleitet oder 
aber von einzelnen durch Gott selbst inspirierten Individuen mit 
prophetischer Überzeugungskraft a priori der Menschheit verkündet. 
Es muß aber schon jetzt mit vollem Nachdruck hervorgehoben 
werden, daß auch die philosophisch fundierte Richtung des lachen 
Messianismus nur vielleicht mit Ausnahme von Hoene-WroAski 
einen ausgesprochen religiösen Geist atmet. Wir können uns über- 
zeugen, daß z. B. bei Cieszkowskı trotz seiner dialektischen Aus- 
gestaltung der messianistischen Theorie die tieferen Wurzeln dieser 
philosophischen Spekulationen in seiner Religiosität liegen, was nach 
außenhin bis zu einem gewissen Grade in der Betitelung und Kon- 
struktion seines Hauptwerkes nach den Worten des Gebetes „Vater 
unser“ deutlich genug zum Ausdruck kommt. Die Genesis aller 
messianistischen Systeme der polnischen Romantiker wurzelte im tiefen 
religiösen Glauben, welcher den Unterbau für die erst darauf ruhende 
historiosophische Auffassung, für die Interpretation der geschicht- 
lichen Mission des Slaventums bildet; nur so ist es zu erklären, daß 
diese im Irrationalen des religiösen Pathos wurzelnde Auffassung im 
krassesten Widerspruche mit der Wirklichkeit stand und sich trotz- 
dem von den sonst zwingenden Argumenten dieser Wirklichkeit 
weder zur Aufgabe noch zur Anderung ihres Standpunktes ver- 
leiten ließ. 

Der Messianismus der Slaven tritt uns noch in einer ganz 
speziellen Form entgegen, welche bei den Polen im 19. Jahrhundert 
nach den schweren Schicksalsschlägen der Nation günstige Aufnahme 
fand und jetzt wieder in der neuesten russischen Literatur, auch durch 
eine nationale Katastrophe verursacht, eine gewisse Rolle zu spielen 
beginnt.) Nach dieser Auffasung war Polen nur das Opfer für die 
Sünden der Menschheit, welches gebracht werden mußte, um eine 
Erlösung derselben herbeizuführen. Mickiewicz behauptet nämlich 
in seinen „Ksiegi Narodu“, daß die Menschheit bereits zweimal sich 
zur Vergewaltigung des göttlichen Willens verstiegen hat, und zwar 
einmal, da sie Christus ans Kreuz schlug und ein anderes Mal, da sie 
die politische Selbständigkeit Polens vernichtete. Aber wie auf die 
Tragödie von Golgatha nicht nur die Auferstehung Christi, sondern 
auch die Auferstehung des menschlichen Geschlechtes fol wird 
auch der politische Tod Polens sowohl seine baldige Wiederaufrich- 
tung, wie auch die Erneuerung der Menschheit nach sich ziehen. 
Diese ausgeprägteste, wenn auch eng begrenzte Auffassung des 
Messianismus, nach welcher ein Volk die Rolle des Erlösers über- 
nimmt, entspringt beinahe ganz dem religiösen Vorstellungs- 
komplexe, obzwar sie in ihren praktischen Auswirkungen auch 
nationalen und staatlichen Interessen dient. Denn wie für das Volk 


2) „Eurasien“ — eine Wochenschrift über Fragen der Kultur und Politik. 
Paris. Nr. 1: Karsavin: Über den Sinn der Revolution. 


228 


Israel die Weissagungen über das Kommen des Erlösers Messias den 
mächtigen Antrieb zum Festhalten an dem theokratischen Prinzip 
und eine reiche Quelle des Trostes in den Jahren der Not und des 
Leidens bildeten, so war damals der Messianismus für die polnische 
Nation und jetzt teilweise für die Russen ebenfalls eine gewaltige 
Stütze in den Zeiten des nationalen Ungliicks. Diese in religiösen 
Gefühlen wurzelnde Idee bekommt unter dem Druck der konkreten 
Wirklichkeit eine andere, eine neue Färbung. 

Der russische Messianismus ist in der Literatur unter dem Namen 
des Slavophilentums bekannt, welches die uns schon bekannten Ideen 
einer besonderen Bestimmung der Slaven in der Entwicklungs- 
geschichte der Menschheit enthielt. Um die ganze Mannigfaltigkeit 
der mit diesen Konstruktionen zusammenhängenden Probleme besser 
verstehen zu können, müssen wir uns vor Augen halten, daß jede 
Form des Messianismus eine Art Revolution, eine Verkündung 
neuer Ideen sowie die Lösung der im Mittelpunkt des historischen 
Interesses stehenden Fragen mit sich brachte. Der Messianismus 
konnte daher keinesfalls in der Sphäre des rein abstrakten Denkens 
bleiben, sondern mußte notwendigerweise in engster Beziehung zum 
konkreten Leben stehen. Slavophile Konstruktionen sind daher eine 
in den Tiefen des religiösen Gefühls fußende Zusammenfassung der 
aktuellen Fragen des Tages, in welchen die nationalen Kontroversen, 
die sozialen Konflikte innerhalb des Slaventums sich wie in einem 
Spiegel abbilden. Die enge Beziehung dieser Spekulationen zum 
konkreten Leben des Augenblicks bilder auch einen der Gründe, 
weshalb der Messianismus vornehmlich unter den Slaven eine so 
starke Verbreitung fand, da die Umsetzung der Theorie in die 
Praxis, die Konkretisierung des Denkens zu den grundlegenden Eigen- 
schaften der slavischen Psyche gehört. 

Die slavophilen Ideen vertrat in Rußland hauptsächlich Chom- 
jakov, ein Mann von großer Bildung und Willenskraft, weicher an 
die providentielle Sendung seines Vaterlandes glaubte. Als offizieller 
Verkünder dieser Richtung klammerte er sich mit allen Kräften 
seiner starken Individualität an die Tradition und behütete mit 
schonender Sorgfalt das von der Vergangenheit überlieferte Erbe. 
Diese Gefühle bildeten die Grundlage seines ganzen Philosophierens 
und fanden in einer sich schrankenlos hingebenden Liebe zu der 
allein seligmachenden griechisch-orthodoxen Kirche seinen äußeren 
Ausdruk. Religion und Vaterland sind in seinem Bewußtsein so 
eng miteinander verflochten, seine Nationalgefühle wurzeln so tief 
in seinem religiösen Bewußtsein, daß eine Trennung dieser beiden 
Grundelemente seiner Weltanschauung ein Ding der Unmöglichkeit 
ist. Den Inhalt seiner Religiosität bildet die bereits erwähnte, 
schrankenlos hingebende Liebe zur Orthodoxie, die er wieder als 
sicheres Unterpfand der künftigen Größe seines Vaterlandes hielt. 

Die erste Darstellung der Lehre der Slavophilen finden wir in 
dem von Ivan Kirejevskii unter dem Ttiel: „Übersicht über den 
gegenwärtigen Zustand der Literatur“ veröffentlichten Artikel 


229 


(1845).*°) Der Verfasser übt scharfe Kritik an dem geistigen Inhalt 
des westeuropäischen Lebens, dem er Überzeugungsschwäche und 
innere Entzweiung vorwirft. Die Schuld daran trägt der in West- 
europa übermächtige Rationalismus, welcher alles für bedeurungslos 
und nichtig erklärt, was sich in den strengen Regeln der Vernunft 
nicht ausdrücken läßt. Nachdem die Herrschaft des Rationalismus 
im heutigen Moment ihren Höhepunkt überschritten hat und der 
Mensch zur Überzeugung gelangt ist, daß der Verstand allein nicht 
imstande ist, die tieferen Bedürfnisse seiner Seele zu befriedigen, 
sucht man nach neuen Prinzipien, welche die weitere Entwicklung 
der Menschheit ermöglichen würden. Der Weg der Rettung aus 
dieser aussichtslosen Situation führt aber nach dem Osten, nach Rug- 
land, welches nicht blindlings die westlichen Muster nachgeahmt, 
sondern auf Grund der Eigenheiten seiner psychischen Struktur sich 
eigene Prinzipien des Lebens geschaffen hat. Das Hauptproblem der 
Gegenwart, dem wir unsere ganze Aufmerksamkeit zuwenden sollen, 
da von seiner richtigen Lösung die Zukunft des menschlichen Ge- 
ner abhängt, ist deshalb das Verhältnis des Westens zum 
sten. 

Gerade diese Frage des Verhältnisses zwischen dem Osten und 
dem Westen behandelt Chomjakov nur in einer weiteren Form 
einer geschichtsphilosophischen Studie, in seinen nach dem Tode des 
Verfassers erst erschienenen „Bemerkungen über die Weltgeschichte“. 
Zur Bildung der neuzeitlichen Staaten Westeuropas trugen nach der 
Ansicht Chomjakovs drei Faktoren bei, deren strenge Analyse er 
durchzuführen sich bemüht, und zwar: Rom, das Christentum und die 
Barbaren. „Rom — der erste und wichtigste Faktor — hat dem 
Abendlande eine neue Religion, die Religion eines Sozialkontraktes 
gegeben, welcher für ein unantastbares Heiligtum, das keiner weiteren 
Bestätigung von draußen bedurfte, galt, eine Religion des Gesetzes, 
— und vor diesem Heiligtum, das aller höheren Aufgaben und Ziele 
bar war, aber das materielle Wohl sicherte, neigte die Welt ihr 
Haupt, nachdem sie einen anderen, edleren und ren Glauben 
verloren hatte. — Das Christentum, der zweite Faktor in der staat- 
lichen und kulturellen Entwicklung Westeuropas, konnte dem Westen 
keine neuen geistigen Werte bringen, nachdem es von dem letzteren 
falsch, im Sinne der römischen Staatsraison begriffen wurde. Dies 
hatte zur Folge, daß die Kirche unter der starken Abhängigkeit vom 
Staate litt; später strebte sie selbst eine Machtstellung an und wurde 
nach langen Kämpfen, welche ihre Organisationskraft auf die Probe 
stellten, zum selbständigen Staate mit einem uneingeschränkten Herr- 
scher an der Spitze und den Geistlichen als verläßlichen Organen in 
seiner Hand. Indessen liegt das Ideal der Menschheit nicht in der 
Verstaatlichung der Kirche, sondern in der Verkirchlichung des 
Staates, wenn man sich so ausdrücken darf, also in dem Zustande, in 


10) Auch im Briefe I. Kirejevskijs an Grafen E. Komarovskij „Ober den 
Charakter der Bildung Europas und ihr Verhältnis zur Bildung Rußlands“ (1862). 


230 


welchem der Staat die Prinzipien der Kirche zu seinen Grundpfeilern 
macht. — Die Barbaren schließlich als der dritte Faktor haben wohl 
mit physischer Gewalt das römische Imperium bezwungen, unterlagen 
aber selbst der kulturellen. und zivilisatorischen Macht des alten Rom 
und wurden von seinem Geiste ganz beherrscht. Sie haben zwar große 
Taten vollbracht, aber die Entzweiung zwischen Staat und Kirche, 
zwischen Staat und Volk konnten sie nicht aus der Welt schaffen. 

Den Gegensatz zum Westen, welcher durch die romanisch-ger- 
manischen Völker repräsentiert wird, bildet der slavische Osten. 
Ähnlich wie die polnischen Messianisten beruft sich auch Chomjakov 
auf das Zeugnis von Herder und wiederholt die schon von den alten 
Schriftstellern beglaubigte Tatsache, daß die Slaven ein arbeitsames, 
freiheitsliebendes, 1 und der Musik ergebenes Volk 
seien. Nachdem sie außerdem in erster Linie sich dem Ackerbau 
widmeten und widmen und das Kriegsge werbe wenig und nur im 
Notfalle ausübten, bildete sich bei hen eine demokratische Ge- 
sinnung aus, die ihnen für die Zukunft den Vorrang unter anderen 
europäischen Nationen garantiert. 

„Wenn die Verbindung der Völker, wenn das Wahre und Gute 
kein leerer Wahn sind, sondern eine lebendige, niemals absterbende 
Kraft, so sind die Keime der künftigen Kultur nicht bei dem aristo- 
kratischen und eroberungssüchtigen germanischen Stamme, sondern 
bei den Slaven zu suchen. Der Slave als Landmann und Demokrat 
hat ehrenvolle Aufgaben und eine glänzende Zukunft vor sich.“ Als 
konkrete Realisierung dieses demokratischen Prinzips wurde von den 
russischen Slavophilen auf die gemeinsame Bodenverwaltung im 
russischen Gemeindewesen hingewiesen. 

Aber geradeso, wie seinerzeit die polnischen Denker im Rahmen 
des polnischen Messianismus eine Sonderstellung für ihr Volk bean- 

ruchten, trachtete auch Chomjakov den ersten Platz innerhalb des 
Slaventums für die Russen zu reservieren. Denn die Westslaven waren 
viel zu lange dem unmittelbaren Einfluß der europäischen Kultur- 
sphäre ausgesetzt, weshalb sie die wesentlichen Eigenschaften ihrer 
Psyche aufgeben und sich den geistigen Strömungen des Westens an- 
sen mußten. Nur die Ostslaven, vor allem aber die Russen 
onnten mit Hilfe der griechisch-orthodoxen Kirche und der byzan- 
tinischen Kultur diesen Einflüssen einen entsprechenden Widerstand 
entgegensetzen und auf diese Weise ihr innerstes Wesen unverändert 
bewahren. Die Pflege dieser von der Zivilisation unverdorbenen 
Eigenheiten der slavischen Seele wurde den Russen durch die griechisch- 
orthodoxe Religion ermöglicht, welche im Vergleich mit dér katho- 
lischen oder protestantischen Konfession als die einzig wahre Religion 
und die östliche Kirche als die „Kirche schlechthin“ von Chomjakov 
bezeichnet wird. 

Diese, das ganze Problem unter dem Gesichtswinkel religiös- 
kirchlicher Interessen behandelnden Ausführungen Chomjakovs 
wurden in historischer Hinsicht von Konstantin Aksakov ergänzt, 
welcher die Geschichte Rußlands (inbegriffen auch die Geschichte des 


281 


Kiever Staates) als Realisierung jener Prinzipien darstellt, die von 
Herder und nach seinem Beispiel von allen Messianisten den Slaven 
zugeschrieben wurden. 

Auch die Kunst, hauptsächlich die schöne Literatur stellte sich 
in den Dienst der mit der Zeit populär gewordenen Ansichten Chom- 
jakovs, die in Dostojevskij einen würdigen Interpreten fanden. In 
seinem Roman „Brüder Karamazov“ treten uns der slavophilen 
Richtung ähnliche Tendenzen, nur mit der Genialität eines großen 
Meisters dargestellt, ganz deutlich entgegen. 

Auch eine Art Messianismus, nur revolutionären Charakters, 
schuf eine dem Slavophilentum entgegengesetzte Richtung der Westler 
mit Aleksander Herzen an der Spitze. Scheinbar jeglichen religiösen 
Gefühls bar, glaubte Herzen weder an Gott, noch an ein Jenseits und 
schien sogar nicht anzunehmen, daß andere aufrichtig daran glauben 
können. Aber Religiosität im Sinne einer GE Disposition, 
glauben zu wollen, fehlte ihm keinesfalls, was ihn unter anderem trotz 
seiner westlichen Orientierung zu einem echt russischen Denker 
stempelt. Nachdem er ohne Glauben nicht leben konnte, klammerte 
er sich daran, was ihm in Rußland besonders wertvoll erschien, fest 
und zwar an die russische Gemeinde mit ihren kommunistischen Prin- 
zipien, und redete sich selbst ein, daß darin die von seinem Vaterlande 
der Menschheit gebrachte Rettung liegen müsse. Er glaubt an die Ver- 
wirklichung sozialistischer Ideale, glaubt an die diesbezügliche Mission 
seines Volkes und dieser Glaube wurzelt in seiner von ihm selbst 
stark bekämpften Religiosität. Im Gegensatz zur Lehre der Slavo- 
philen, welche letzten Endes von der Orthodoxie als der russisch- 
nationalen Kirche und von ihrem Haupt und Repräsentanten, dem 
Zaren die Erlösung der Menschheit erhofften, setzt Herzen seine ganze 
Hoffnung auf die russische Revolution und ihren Hauptträger, den 
Bauer. In dieser messianistischen Anwandlung Herzens ist die Tat- 
sache interessant, daß Herzen anfangs vom Westen stark angezogen, 
mit Begeisterung den russischen Boden verließ, um jedoch später nach 
schweren Enttäuschungen und nach einer schonungslosen und ver- 
nichtenden Kritik Europas, die er in seinem Buche „Vom anderen 
Ufer“ gab, sein geistiges Auge wieder gegen Osten zu richten. Zu 
diesem Resultate gelangte Herzen auf dem Wege des gänzlichen 
Anarchismus und Nihilismus, welcher später in vielleicht nur noch 
krasserer Form bei Tolstoj tonangebend ist. Die Zusammenstellung 
dieser zwei großen Russen bringt uns dem Gedanken nahe, daß die 
tiefere Quelle der revolutionären Stimmung und des Messianismus 
Herzens das nach außen hin sich negativ offenbarende religiöse Pathos 
gewesen ist. 

Die slavophile Bewegung fand einen gefährlichen Gegner und 
einen rücksichtslosen Kritiker in der Person des bedeutendsten russi- 
schen Philosophen und Denkers des 19. Jahrhunderts, Vladimir 
Solovjev. Der frühere ziemlich scharfe Kampf zwischen Slavophilen 
und Westlern finder ın der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue 
Repräsentanten in den Personen des allgemein bekannten Denkers 


232 


Tolstoj und des weniger bekannten aber mindestens den gleichen 
Ruhm verdienenden Philosophen Solovjev. Wenn auch zwischen 
ihnen gewaltige Differenzen bestehen, so stimmen sie beide in einer 
Sache vollkommen überein, und zwar in der Überzeugung, daß die 
religiöse Frage, deren Beantwortung sie ihre Kräfte widmen, für den 
Menschen von der allergrößten Bedeutung sei. Und auf diesem all- 
gemeinen Hintergrunde der religiösen Interessen erscheint in ent- 
sprechender Beleuchtung der Messianismus Solovjevs, dessen Haupt- 
motive wir dem Vortrag über die „ russische Idee“) entnehmen. 
Die Frage, welche hier im Vordergrunde seiner scharfsinnigen Er- 
wägungen steht, ist die nach dem Sinn des historischen Daseins Ruß- 
lands. Trotz seiner kritischen Einstellung seinem Vaterlande gegen- 
über begcistert er sich doch für dieses Riesenreich, welches während 
der letzten zwei Jahrhunderte mit größerem oder geringerem Erfolg 
in die Schicksale Europas einzugreifen versuchte; er fragt nach dem 
idealen Prinzip, welches diesen Staatskörper beseelt, fragt nach dem 
neuen Vorte, welches das russische Volk der Menschheit zu ver- 
künden habe. Die Beantwortung dieser Frage sucht Solovjev in der 
ewigen Wahrheit der Religion. „Denn die Idee einer Nation ist nicht 
das, was sie selbst von sich denkt in der Zeit, sondern das, was Gott 
von ihr denkt in der Ewigkeit.“ Es ist hier ungemein wichtig, die 
Tatsache zu unterstreichen, daß gerade der Messianismus Solovjevs 
mit der Religion in engster Verbindung steht. Er interessiert sich nur 
dafür, was Rußland zu tun hat im Namen des christlichen 
Prinzips, welches es sein eigen nennt und was es der ganzen 
christlichen Welt bringen kann, der es angehört. Als letztes 
Ziel, welches im Einvernehmen mit anderen Nationen angestrebt 
werden soll, erachtet Solovjev die Einheit des menschlichen Ge- 
schlechtes, deren Grundlage die christliche Kirche bildet. Die russische 
Idee kann nach Solovjev nichts anderes sein, als eine bestimmte Form 
der christlichen Idee, welche erst dann mit voller Klarheit erfaßt wird, 
wenn man den wahren Sinn des Christentums begreift. Und dieser 
wahre Sinn des Christentums ist die Dreieinigkeit auf Erden, der 
harmonische Zusammenschluß der Kirche, des Staates und der Ge- 
sellschaft zu einer großen Einheit. Die russische Idee als ein Aspekt 
der allgemein christlichen Idee äußert sich nach außen hin ın dem 
Bestreben, das Bild der göttlichen Dreieinigkeit hier auf Erden zu 
realisieren. 

Nur der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, daß 
Solovjev einen Vorläufer und Gesinnungsgenossen in P. Tschaadajeff 
rt hatte, welcher seine Propaganda für die Union mit der römisch- 

atholischen Kirche damit begründete, daß Rußland nur nach An- 
eignung der Errungenschaften der westlich-katholischen Kultur im- 
stande sein wird, die unfaßbare geistige Tat, zu welcher es berufen 
ist, zu vollbringen und zwar die Lösung aller in Europa bestehenden 


11) „La Russie et l’Eglise Universelle“, Paris 1888; außerdem „Geschichte und 
Zukunft der Theokratie.“ 


233 


Streitfragen zu geben. Ein ausgesprochener Messianismus, welcher 
hier mit einem tiefen Mystizismus Hand in Hand geht. 

Nun bleiben diese Gedanken nicht auf einzelne Persönlichkeiten 
oder ihren größeren oder geringeren Anhang beschränkt; sowohl in 
Rußland wie auch in Polen greifen diese Ideen auf weitere Bevölke- 
rungsschichten, hauptsächlich die der Intelligenz über, erleiden da- 
durch eine Verflachung, werden aber auf diese Veise zum Gemein- 
gut der ganzen Nation. 

Auch bei anderen slavischen Völkern fand der Messianismus 
günstige Entwicklungsmöglichkeiten, wenn auch keine so originellen 
und bedeutenden Vertreter wie bei den Russen und Polen. Eine Er- 
scheinung mit messianistischem Unterton ist der sogenannte Illy- 
rismus, eine national- politische Bewegung unter den Südslaven, welche, 
durch den kroatischen Schriftsteller Ljudovit Gaj um die Mitte des 
vorigen Jahrhunderts (1835) hervorgerufen, dem ganzen siidslavischen 
Stamme des illyrischen Dreiecks eine gemeinsame Sprache zu geben 
versuchte. Viel weiter ausgreifende messianistische Tendenzen zei 
unter den Ukrainern mehr weniger um dieselbe Zeit (1846) die 
Cyrillo- Methodische Bruderschaft in Kiev, welche außer der nationalen 
Viedergeburt des ukrainischen Volkes, außer der Organisation des 
ganzen Slaventums auf föderativen Prinzipien allgemein- menschliche 
und soziale Ideale in ihre Statuten aufnahm. Der tschechische Messi- 
anismus mit Masaryk als seinem Repräsentanten an der Spitze ist nur 
der Erneuerer derjenigen Ideen, welche das tschechische Volk bereits 
vor Jahrhunderten beseelten und der Menschheit neue Horizonte 
eröffneten. In der Reformationsbe wegung, welche mit dem Ende des 
14. Jahrhunderts einsetzte, im Kample fi die Freiheit des Denkens 
und der Überzeugung übernimmt das tschechische Volk die Führer- 
stelle. Ihm gebührt der Ruhm, zum ersten Male für das neue Ideal 
des religiös und sozial freieren Menschen den Kampf gegen die bis 
nun unbezwungene Autorität der Kirche mit Erfolg aufgenommen 
zu haben. Dieser Kampf ist jedoch nicht gegen die Religion gerichtet, 
denn die religiöse Weltanschauung, die religiöse Gesinnung und Ge- 
fühlsweise bleiben auch weiter die eigentlichen Grundlagen der 
tschechischen literarischen Produktion. Matéj von Janov, Jan Žižka 
von Trocnov, Jan Hus, Jakübek von Mies, Peter Chelticky und viele 
andere — aus welchem Lager sie auch kommen mögen —, sie atmen 
alle tief religiösen Geist. Im Hussitismus nun und in den Gemeinde- 
organisationen der tschechischen Brüder lebt, wenn vielleicht nicht mit 
vollem Bewußtsein, die messianistische Idee, welche in dem festen 
Glauben ihren Ausdruck findet, daß das tschechische Volk, das oft für 
heilig erklärt wird, von Gott ausgewählt worden ist, um an der Ver- 
wirklichung eines neuen christlichen Lebensideals zu arbeiten. Diese 
Ideen waren im tschechischen Volke bis zur Hälfte des 17. Jahr- 
hunderts, d. i. bis zur Zeit der ärgsten Reaktion nach der Schlacht 
am Weißen Berge sehr lebendig, verstummten aber dann immer mehr, 
en 5 der neuesten Zeit in Masaryk und seiner Schule wieder auf- 
zuleben. 


284 


Die Zusammenstellung der Erfolge, welche der Messianismus 
unter den einzelnen slavischen Völkern sowie auch im übrigen Europa 
zu verzeichnen hatte, wirft ganz unwillkürlich grelles Licht auf einen 

enhang kausaler Natur, welcher zwischen der Idee der pro- 
videntiellen Send eines Volkes und seiner Staatsidee besteht. 
Messianismus als Glaube an eine besondere höhere Mission des 
eigenen Volkes tritt in erster Linie bei Nationen auf, welche sowohl 
in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart ihr eigenes Staats- 
leben führten, oder aber auch bei Nationen, welche vor kurzem zwar 
ihre staatliche Selbständigkeit einbüßten, aber den zur Wieder- 
herstellung des verlorenen Vaterlandes strebenden Geist in voller 
Kraft und Energie bewahrten. Der Messianismus der Deutschen 
während der Napoleonischen Kriege, der Italiener bis zum Jahre 1859, 
der Polen nach den Teilungen und zwischen den beiden Insur- 
rektionen, der jetzt einsetzende Messianismus in der sogenannten 
eurasischen Richtung der russischen Emigration, das Verstummen 
messianistischer Ideen bei den Tschechen nach der staatlichen Kata- 
strophe des Jahres 1621 — alle diese und noch andere Tatsachen 
bestätigen die frühere Behauptung in vollem Umfange. 

Mich interessiert aber eine andere Seite dieses Phänomens und 
zwar die ziemlich verbreitete Ansicht, daß der Messianismus im all- 
gemeinen und der slavische Messianismus im besonderen trotz seiner 
Vermengung mit religiösen Vorstellungen und Elementen einem 
anderen Gedankenkomplex entstammt und seine Quellen in erster 
Linie in der N des erwachenden National ins zu suchen 
sind. Der tiefere Grund der Verbannung der messianistischen Idee 


gewöhnlich als Produkt der polnischen Kultur angesprochen wird, 
Eefühl als Hauptelement der nationalen 


lehrtenwelt populär gemacht und fand ihre Anhänger nicht nur im 
Slaventum sondern auch im übrigen Europa, umsomehr, da dieser 
Ansichr sich der sonst so kritische und tiefe Denker Solovjev anschloß. 
Indem nu. Solovjev dieser Meinung beipflichtet, widerspricht er in 


erster Linie sich selbst, denn sein Messianismus ist keinesfalls politisch 
oder nationalistisch, sondern durch und durch religös fundiert. 

Im Gegensatz zu Solovjev und zu der allgemeinen Auffassung 
erlaube ich mir die Meinung auszusprechen, daß der Messianismus 
trotz des vielleicht Borger d äußeren Scheins in dem bei allen 
Slaven vorherrschenden religiösen Gefühl tief verankert ist, und nur 
in seinen Auswirkungen nicht so sehr mit dem Nationalismus, als eher 
mit der Staatsidee, mit dem Bewußtsein von der unumgänglichen 
Notwendigkeit der eigenen Staatlichkeit eine innige Verquickung 
eingeht, was seinen wirklichen Charakter in einem anderen Lichte 
erscheinen läßt. Was die Religiosität als Charaktereigenschaft der 
Ostslaven allein anbelangt, so muß mit vollem Nachdruck hervor- 
gehoben werden, daß das religiöse Gefühl und noch dazu in großer 
Potenz nicht nur bei den Russen und Ukrainern, also den Ostslaven, 
sondern nicht weniger stark bei den Westslaven, also den Polen und 
Tschechen, den Hauptbestandteil der national-psychischen Struktur 
bildet. Es ist überhaupt ganz zwecklos, von diesem Standpunkte aus 
eine Differenzierung der Slaven in eine westliche und östliche Gruppe 
vorzunehmen, nachdem die Grundlagen des psychischen Le 
aller Slaven gleiche Züge aufweisen. Man kann natürlich von ver- 
schiedenen Einflüssen sprechen, unter welchen die einzelnen slavischen 
Völker gestanden sind, aber in diesem Falle werden wir nicht nur 
zwei, sondern mehrere Gruppen bekommen. 

Diese Teilung in West- und Ostslaven ist seinerzeit aus politischen 
Gründen erfolgt, um auf diese Weise die nahe Verwandtschaft der 
Groß- und Kleinrussen zu beweisen und ihren Zusammenschluß zu 
einer großen russischen Nation organisch zu begründen. Heute ist 
der Traum der russischen Politiker aus den Zeiten vor dem Welt- 
kriege von den Ereignissen auf der Weltbühne weit überholt und die 
Wirklichkeit hat am besten seine Haltlosigkeit bewiesen. Auch die 
Arbeiten solcher Gelehrten, wie Smal-Stockyj auf dem Gebiete der 
Philologie, Scerbakivskyj in der Archäologie, Antonovyé in der Kunst- 
geschichte, soziologische Arbeiten von Starosolskyj u. a. lassen keinen 
Zweifel mehr zu, daß zwischen den Russen und Ukrainern (abgesehen 
von rein äußerlichen Ähnlichkeiten, welche durch das Zusammenleben 
innerhalb des russischen Imperiums bedingt wären) absolut keine 
tieferen geistigen Zusammenhänge bestehen, wie zwischen Ukrainern 
und anderen slavischen Völkern wie Tschechen, Polen, Jugoslaven 
usw. Was nun die Religiosität anbelangt, so ist sie zweifellos allen 
slavischen Nationen ohne Ausnahme eigen. Zur Zeit des stärksten 
Aufblühens des Messianismus im 19. Jahrhundert wurde nur von der 
slavischen Psychik im allgemeinen ohne jedwede Differienzierung ge- 
sprochen und die Religiosität als ihr Hauptelement angenommen. 
Die diesbezüglichen Arbeiten ın erster Linie polnischer Verfasser, 
wie Maciejowski, Tyszynski, Olszewski, Cieszkowski, Mickiewicz, 
Krasinski u. a., unterstreichen alle als einen Hauptzug in der Menta- 
lität nicht nur der jetzigen Slaven, sondern auch der Urslaven das 
Uberwiegen des Emotionellen und die große Rolle der religiösen 


236 


Gefühle in ihrem psychischen Leben. Die nähere Bekanntschaft mit 
der geistigen Produktion der Westslaven läßt uns auf den ersten 
Blick konstatieren, daß bei den Polen z. B., in ihrer Literatur, in 
ihrer Philosophie, ja sogar in ihrer Kunst das religiöse Moment 
domirierend wirkt. Die ganze polnische Nationalphilosophie trägt 
einen durch und durch religiösen Charakter. Nehmen wir als Bei- 
spiel die Philosophen Cieszkowski, Libelt, Hoene-Wroäski oder die 
großer Dichter Mickiewicz, Krasiński und Słowacki — bei jedem 
von diesen Denkern ist ein ausgesprochen religiöser Einschlag ganz 
unverkennbar. Und bei den Tschechen, welche arı stärksten den 
westlichen Einflüssen ausgesetzt waren, wiederholt sich dieselbe Er- 
scheinung. Die markantesten Gestalten des geistigen Lebens bei den 
Tschechen, wie Hus, Chellickf, Komenský in der Vergangenheit und 
Masaryk als Vertreter des modernen Tschechentums verraten alle 
gleiche Tendenzen. Wenn man die Grundlagen der philosophischen 
Weltanschauung Masaryks untersucht, muß man zur Überzeugung 
kommen, daß darin der Religion eine grundlegende Bedeutung zu- 
fällt. Seine ganze Philosophie erschöpft sich in dem Streben nach 
der wahren Religion. Das sind Momente, welche jedem in die 
Augen fallen, der sich mit dem Gegenstande vertraut macht. 

Auf die religiös-geistigen Quellen des Messianismus weisen auch 
jene Erscheinungsformen hin, in welchen er im Laufe der Geschichte 
aufgetreten ist. Der älteste Boden, welchem der Messianismus seinen 
Ursprung und seinen Namen verdankt, ist das Judentum, also die 
Traditionen jenes Volkes dessen ganzes Sein und Nichtsein auf der 
Religion aufgebaut war, dessen Hauptrolle in der Geschichte der 
Menschheit darin bestand, das bedeutendste religiöse System hervor- 
gebradit zu haben. Hier bei den Juden ist der Begriff des Messia- 
nismus mit religiösen Vorstellungen aufs engste verbunden. Wenn 
es in der Geschichtsphilosophie allgemein anerkannte Wahrheiten 
gibt, so muß man als solche die Behauptung betrachten, daß die ganze 
Bestimmung des jüdischen Volkes, der tiefere Sinn seines Daseins mit 
der messianistischen Idee, und in einer weiteren Bedeutung mit dem 
Christentum verbunden ist. In diesem Falle waren die Juden gegen 
ihren eigenen Willen Träger einer neuen Lehre, welche durch ihre 
Vermittlung mit der alten messianistischen Idee in Zusammenhang ge- 
bracht wurde. 

Den Völkern des klassischen Altertums war eine solche Idee 
fremd, sıe fand und konnte auch keinen Resonanzboden finden, aus 
dem einfachen Grunde, weil die antiken Völkerschaften ihre Nach- 
barn, die Barbaren viel zu wenig kannten und an ihrem Schicksal 
ein zu geringes Interesse zeigten, um ihnen gegenüber eine Führer- 
rolle übernehmen zu wollen. Erst die christliche Religion mit ihrem 
stark ausgeprägten Begriff der Nächstenliebe war in erster Linie ge- 
eignet und berufen, auch den Messianismus in dieser Fassung aus- 
zubilden, daß ein auserkorenes Volk nicht nur bereit ist die ganze 
Menschheit einer besseren Zukunft entgegenzuführen, sondern auch 
im Notfalle gewisse Opfer dafür zu bringen. Auf diese Weise er- 


237 


scheint uns der Messianismus als ein Phänomen der christlichen 
Nächstenliebe, übertragen auf die großen Komplexe der Nationen. 
Gerade so wie jeder Mensch verpflichtet ist für seinen Nächsten zu 
sorgen, ihn zu führen, wenn dies auch mit Opfern verbunden wäre, 
so besteht dieselbe Pflicht auch für ganze Völker. Also nicht das 
Gefühl der Überhebung, das Bewußtsein einer Ausnahmestellung 
anderen gegenüber, eine Form, welche infolge der menschlichen 
Schwächen historische Realität geworden ist, sondern die Liebe zum 
schwächeren, ärmeren Bruder und Filfsbereitschaft bis zum 
Aufersten sollte den Grundton für den Messianismus bilden. Daraus 
ist zu verstehen, daß dieser Gedankenkomplex nur mit der christ- 
lichen Religion im Zusammenhange steht, während andere religiöse 
Systeme keine ähnlichen Erscheinungen aufzuweisen haben. Daraus 
ist auch zu erklären, daß im Mittelalter trotz der starken Prä- 
ponderanz der christlichen Religion der Messianismus im vollen 
Sinne des Wortes nur schwer zu konstatieren ist, da in dieser Zeit 
die Nächstenliebe zur Pflicht eines jeden einzelnen Menschen gehörte 
und der Begriff der Nation als eines Kollektivs noch fehlte. Es gab 
nur eine Kirche mit den für sie geltenden Geboten. Spuren von 
Messianismus können wir wohl in der mittelalterlichen Philosophie 
konstatieren. Plotin aus der rgangszeit zum Mittelalter, 
Eriugena und der von ihm abhängige Meister Eckhardt weisen ähn- 
liche Gedanken auf. Auch während der Kreuzzüge findet die 
messianistische Idee im Sinne der Aufopferung für die Befreiung des 
heiligen Landes aus den Händen der Heiden ihre Realisierung. 
enge zum größten Aufschwung kommt der Messianismus eigent- 
ich erst im 19. Jahrhundert, also zur Zeit, da die Idee der Nation 
infolge der französischen Revolution lebendig wurde und die 
Nächstenliebe als religiöses Element sich vom Individuum auf ein 
ganzes Kollektiv übertrug. Jedoch nicht in ganz Europa konnte der 
Messianismus feste Wurzeln fassen; nur bei den Slaven mit ihrer 
Religiosität und ihrem Mystizismus erreichte er größere Verbreitung 
und wurde zu einer Art slavischer Religion, welche das geistige Leben 
dieser Völker bis zu den Träumen über die Weltrevolution in 
größerem oder geringerem Maße beherrscht. 


238 


II 
MISCELLEN 


SOPHIE KOVALEVSKIJ 
Von Helene Simon-Eckardt. 


Am 15. Januar 1880 wäre Sophie Kovalevskij 80 Jahre alt geworden. Die 
en wissenschaftliche Welt hätte sie an diesem Tage mit Ehrungen überhäuft, 
‚Frauen aller Länder sie als eine der ersten Vorkämpferinnen für Freiheit und 
Gleichberechtigung gepriesen, alle sozialistisch gesinnten Kreise Europas ihr für 
ihre Mitarbeit an der Verwirklichung der sozialistischen Idee gedankt. Sie selbst 
hätte alle Feierlichkeiten und Glückwünsche mit der schmerzlichen Resignation 
über sich ergehen lassen, mit der sie stets ihren äußeren Erfolgen gegenüberstand. 
Man begreift jene Frau nicht ganz, wenn man in ihr ein geistiges oder gar nur ein 
mathematisches Phänomen sieht — man verkennt ihr Wesen, wenn man sie für 
eine bewußte Vertreterin der Frauenemanzipation hält. Es ist endlich an der Zeit, 
die Legenden zu zerstören, die durch die einseitige, allzu subjektiv geschriebene 
Biographie von Charlotte Leffler-Edgren und durch die romanhafte Darstellung 
Klara Hofers entstanden sind und die das Bild Sophie Kovalevskijs zum Teil ent- 
stellt und verdunkelt haben. Es sei verstattet, ihr Gedächtnis durch einige bisher 
unveröffentlichte Briefe und Erinnerungen zu erneuern, die Sophie Kovalevskijs 
Tochter und ihre Freundin Therese Gyldén liebenswürdigerweise zur Verfügung 
gestellt haben. Einige kurze biographische Notizen mögen die mitgeteilten Briefe 


ie Kovalevskij hat in ihren leider nicht beendeten „Erinnerungen“ — der 
besten für ihr Leben und ihre Persönlichkeit — ihre Herkunft, Heimat und 
Kindheit eindringlich beschrieben. Ihr Vater, Ivan Sergeeviè Corvin-Krukovskij, 
war russischer Offizier und verheiratet mit Elena Pavlovna Baevskij, einer 
Enkelin des deutschen Astronomen v. Schubert. 

Bald nach Sonjas Geburt ziehen Krukovskijs aufs Land. Der General über- 
nimmt selbst die Verwaltung seines Gutes Palibino im Gouvernement Vitebsk. In 
den ersten Jahren ist das Kind fast ausschließlich der Dienerschaft anvertraut, 
wächst also in unmittelbarer Nähe der Gesindestuben auf. Selten kommt es zu 
den Eltern hinauf. Doch oft genug, um schon früh die unüberbrückbare Kluft 
zwischen Oben und Unten, zwischen herrschender und dienender Klasse zu emp- 
finden. In der Einsamkeit, zu der Sonja bereits in der Kindheit durch ihre tiefe 
Empfänglichkeit und Leidensfähigkeit früh verurteilt ist, gibt ihr nur das Ver- 
wen in einem Reich heimlicher Träume und Phantasien Trost. Fünfjährig 
macht sie zum erstenmal Verse, zwölfjährig bedichtet sie einen „Beduinen und 
sein Pferd“ und „die Gefühle eines Seemanns, der nach Perlen taucht“. Seitdem 
zweifelt sie nicht mehr daran, daß sie zur Dichterin geboren ist. 

Wer sind nun die ersten, die geliebten Vorbilder ihrer Jugend — außer Ler- 
montov und Pulkin, deren Dichtungen sie schon früh heimlich liest? Näher als 
der Vater, dem sie scheue Verehrung entgegenbringt, 'näher als Onkel Peter 
Sergeevié, der ihr zuerst die geheimnisvolle Wissenschaft der Mathematik aus der 
Ferne zeigt, steht ihr die sechs Jahre ältere Schwester: die schöne, vielgeliebte, 
begabte Anjuta. Diese, kaum siebzehnjährig, hat den Mut, ohne Wissen der 
Eltern eine selbstverfaßte Novelle an 3 zu schicken, mit dem Erfolg, 
daß sie in der „Epoka‘ veröffentlicht wird. Sonja berichtet in ihren Erinnerungen 
über den Sturm, den dieses Ereignis im Hause Krukovskij hervorrief und 
schildert ihre Begegnungen mit dem Dichter, für den sie vom ersten Augenblick 


an eine leidenschaftliche, wenngleich unerwrderte Neigung erfaßt: — „So wunderbar 
es klingen mag: ich, das 14 jährige Mädchen, verstand Dostoevskij wirklich. Ich 
ahnte ın seinem Herzen eine ganze Welt von zärtlichen warmen Gefühlen; er 
war für mich nicht nur der geniale Dichter, sondern mehr noch der Mensch, der 
so viele Leiden erfahren hatte. Hätte Dostoevskij in mein Herz sehen 
können, so hätte ihn sicher tiefe Rührung ergriffen; aber das ist eben das Unglück 
der sogenannten Flegeljahre, in denen auch ich mich jetzt befand, daß man tief 
fühlt, fast so tief wie die Erwachsenen und zugleich seine Gefühle auf so kindische, 
ja, lächerliche Weise äußert, daß es den Erwachsenen schwer wird, sich vorzu- 
stellen, was in dem Gemüt eines 14 jährigen Mädchens vorgeht.“ 

Anjutas kühner Schritt in die Welt bedeutet für die Schwestern den Anfang 
zur Befreiung vom Elternhaus, von den dort herrschenden politischen und gesell- 
schaftlichen Vorurteilen, die den Mädchen bisher jeden Verkehr mit Anders- 
denkenden und jede zielbewußte geistige Betätigung verwehrt hatten. Eines Tages 
erklären beide dem Vater ihre Absicht, im Ausland studieren zu wollen. Man 
muß gerecht sein: General Krukovskij war alles andere als ein engherziger Mann 
mit Standesvorurteilen: geistig vielseitig interessiert, widmete er sich in seiner freien 
Zeit fast ausschließlich naturwissen tlichen Studien, verfolgte mit seiner Gattin 
aufmerksam die politischen und literarischen Strömungen seiner Zeit. Der Schlag, 
mit einemmal beide Töchter verlieren zu sollen — an ein abenteuerliches Bohème- 
leben, wie ihm scheint — trifft ihn hart. Energisch widersetzt er sich. Da greifen 
die Mädchen zu einem damals in Rußland häufig geübten Mittel: sie erzwingen 
ihre Freiheit durch eine Scheinehe. Der Student der Geologie, Woldemar 
Kovalevskij, erklärt sich, vor die Wahl zwischen die ältere und jüngere Schwester 

estellt, bereit, Sonja zu heiraten. Als der General Erkundigungen einzieht, er- 
ährt er, daß dem jungen Mann von seinen Universititslehrern eine glänzende 
wissenschaftliche Zukunft prophezeit wird. 

Ein kneppes Jahr bleibt das Ehepaar Kovalevskij noch in Petersburg, 1869 
begeben sich beide nach Heidelberg. Und nun beginnt für Sonja das unstete 
Wanderleben, das sie seitdem mehr oder weniger bis zu ihrem Tode geführt hat 
— das Leben in Gasthöfen und Mietszimmern, zwischen fremden Möbelstücken, 
angewiesen auf bezahlte Freundlichkeit. Über ihr persönliches Ergehen in den 
ersten Studienjahren wissen wir nicht viel. Einer der wenigen aus dieser Zeit er- 
haltenen Briefe folgt hier. Er ist an Sonjas Jugendfreundin Julia Lermontov ge- 
richtet und ist für uns auch deshalb wertvoll, weil er die Stellung beleuchtet, die 
damals Universitäten und Dozenten dem Frauenstudium gegenüber einnahmen. 


Heidelberg, 28. April 1869. 
Liebe Julia! . 

Ich schreibe Ihnen meine Eindrücke, nachdem ich eben aus der ersten Vor- 
lesung, der ich in Heidelberg beigewohnt habe, zurückgekommen bin. Ich konnte 
nicht eher schreiben, da sich erst gestern mein Schicksal endgültig entschieden hat — 
gewiß waren Sie schon ungeduldig. 

Aus Petersburg fuhren wir direkt nach Wien, wo ich sofort zu Professor 
Lange (Physiker) ging, um ihn um Erlaubnis zu bitten, seine Vorlesungen zu be- 
suchen. Er ließ sich ziemlich leicht dazu bestimmen, aber nach einiger Über- 
legung entschieden wir uns, doch nicht in Wien zu bleiben. Erstens gibt es 
hier keine guten Mathematiker, zweitens ist das Leben hier sehr teuer, und so 
entschlossen wir uns, nach Heidelberg zu fahren, wovon ich immer geträumt habe 
und das mir immer als ein auserlesener Fleck Erde erschienen ist. Ich fuhr mit 
meiner Schwester dahin; mein Mann blieb in Wien, da wir die Absicht hatten, 
zurückzukehren, wenn uns die Verhältnisse in Heidelberg rt erscheinen 
sollten. Am ersten Tage verzweifelte ich beinahe, so unglücklich verlief alles. 
Professor Friedrich, den ich persönlich etwas kannte, war nıcht in der Stadt, so 
ging ich allein zu Professor Kirchhoff. Dieser, ein kleiner Greis auf Krücken, war 
sehr erstaunt, daß ich, eine Frau, seine Vorlesungen besuchen wollte und erklärte, 
mich ohne Einwilligung des Prorektors der Universität (Professor Kopp) nicht zu- 
lassen zu können. Indessen war Professor Friedrich zurückgekehrt, zum großen 
Glük für mich. Er war sehr liebenswürdig und gab mir eine Empfehlung an 
den Prorektor. Dieser erklärte mir wiederum, daß er in eine so ungewöhnliche 


240 


Bitte von sich aus nicht einwilligen könne ohne Zustimmung der einzelnen 
Professoren. So mußte ich noch einmal von vorne beginnen und mich zu Professor 
Er sagte mir, daß er nichts gegen meinen Wunsch habe und 
mit Professor Kopp sprechen wolle. Sie können sich denken, wie empört ich über 
alle diese Verzögerungen war. Am nächsten Tag teilte mir Kopp seinen Beschluß 
mit: er wollte een, nied einer besonderen Kommission vorlegen. Wieder 
war ich zu untätigem warten verurteilt, Indessen hatte ich gehört, daß man 
Auskünfte über mich einholte, und daß eine Dame, die mich gar nicht kannte, 
erzählt hatte, ich sei Witwe. Da der Professor sich über die Verschiedenheit 
meiner und ihrer Angaben wunderte, mußte ich meinen Mann, der inzwischen auch 
gekommen war, persönlich zu ihm schicken, um ihn von der Wahrheit meiner Aus- 
zu überzeugen. Endlich entschloß sich die Kommission, mich zu den physi- 
kalischen und mathematischen Vorlesungen zuzulassen. Damit war mein Wunsch 
erreicht. Heute habe ih nun mit meinen Studien begonnen. Ich werde 
18 Stunden in der Woche hören; das genügt vollständig, denn ich muß auch viel 
zu Hause arbeiten. Nur eins befriedigt mich nicht ganz: nämlich, daß ich die 
Erlaubnis nur ausnahmsweise erhalten habe, daß Sie „ wenn Sie kommen, die 
ganze ichte noch einmal selbst durchmachen müssen. Das zweitemal wird es 
aber wahrscheinlich leichter sein. 

Ih kann mir wohl vorstellen, mit welcher Ungeduld Sie, meine liebe Julia, 
den Herbst erwarten. Mögen nur Ihre Verwandten ihren Entschluß nicht 
ändern! Schreiben Sie mir bitte bald und erzählen Sie mir, womit Sie sich jetzt 
beschäftigen. Ich rate Ihnen nach den bitteren Erfahrungen, die ich gemacht 
habe, die deutsche Sprache möglichst gut zu lernen. Die wissenschaftliche SP 
ist leicht zu verstehen und die Vorlesungen machen mir keine Schwierigkeiten, 
aber in den Gesprächen mit den Professoren fühle ih mich immer sehr gehemmt. 

2. Mai. ich konnte den Brief neulich nicht beenden, so füge ich heute noch 
einiges hinzu. Ich bin sehr beschäftigt und besuche die Vorlesungen. Die 
Studenten benehmen sich ausgezeichnet. Sie lassen es sich nicht anmerken, daß sie 
die Anwesenheit einer Frau verwundert. Heidelberg selbst ist so entzückend, daß 
man es nie mehr verlassen möchte. Sie werden hier sehr gut studieren 


können. 

Leben Sie wohl. Ich umarme Sie herzlich und bitte Sie, Ihren Eltern meine 
Empfehlungen zu übermitteln. Meine Schwester ist noch hier, fährt aber schon 
morgen nach Paris und wird dort bis Anfang Juli bleiben. 

Ihre S. Kovalevskij. 


Mit einer unerhörten Energie und Ausschließlichkeit vertiefte sich die kaum 
Neunzehnjährige in mathematische Studien. Durch ihre Leistungen erregt sie bald 
die Aufmerksamkeit Kirchhoffs und Königsbergers. Diese erste Heidelberger 
Zeit ist die einzige, in der sich Sonja glücklich ganz erfüllt von ihrer Arbeit 
fühle. Noch wachsen der Begeisterung mit jeder neuen Aufgabe neue Flügel. 

1870 siedelt Sonja, auf den Rat ihrer Lehrer, nach Berlin über. Weierstraß 
erkennt sofort ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten und erteilt ihr — da Frauen 
damals als Hörerinnen an der Universität noch nicht zugelassen wurden — zwei- 
mal wöchentlich Privatunterricht. Damit ist ihre wissenschaftliche Laufbahn ent- 
schieden. Alle ihre in der Folgezeit entstandenen Untersuchungen gehen von An- 
regungen Weierstraß’ aus, bauen auf seinen Theorien auf. In Berlin lebt es sich 
nicht so leicht wie unter dem heiteren Himmel Heidelbergs, einsiedlerisch vergräbt 
sich Sonja in ihre Arbeit. Ihr Mann setzt seine Studien in München und Jena fort 
und promoviert, ein bevorzugter Schüler Haeckels, mit einer Dissertation, die ihm 
den Ruf eines bedeutenden Paläontologen einträgt. Anjuta schreibt begeisterte 
Briefe aus Paris, das ihrer anregungsbedürftigen Natur mehr zusagt als die süd- 
deutsche Kleinstadt. Im Quartier Latin, dem Sammelplatz freiheitlich gesinnter 
Jugend aus allen Teilen Europas, lerat sie ihren späteren Mann kennen: Victor 

aclard, Student der Medizin, Freund und Vermittler Blanquis, des Staatsver- 
rechers und Verschwörers, der damals im Gefängnis neue Wege „zu den Sternen 
durch die Ewigkeit“ ersann. 

1874 erwirbt Sonja den Doktorgrad der EE Fakultät Göttingen 
— in absentia, dank der hervorragenden Abhandlungen und der Empfehlungen 


241 


ihrer Lehrer. Ihre Dissertation „Zur Theorie der partiellen Differential- 
gleichungen“ gilt noch heute als eine der besten Arbeiten auf diesem Gebiet. 

Unruhige Jahre folgen. Zuerst in Petersburg, wo sich beide Kovalevskijs 
treffen. In der Novelle „Vera Voroncov“ (in Deutschland erschien sie unter dem 
Titel „Die Nihilistin“) schildert Sonja ihr damaliges Leben, das von Gesellschaften, 
Konzerten, Theatern, literarischen Tees ausgefüllt ist. Zu ernsthafter wissenschaft- 
licher Arbeit ist sie véier ee jahrelangen Oberanstrengungen nicht fihig. Wie 
fast immer in Zeiten des rgangs, drängt nun ihr durch die abstrakte Denktitig- 
keit allzulang zurückgehaltenes Gefühls- und Phantasieleben gewaltsam zum Aus- 
broch, Ein Roman „Der Privatdozent“ entsteht. Wie ernst es ihr mit diesem 
Versuch ist, beweist, daß sie noch zwei Jahre vor ihrem Tode an eine Um- 
arbeitung denkt. Daneben schreibt sie Gedichte, Zeitungsaufsätze, Rezensionen 
un ilft ihrem Manne bei der Übersetzung von Brehms „Tierleben“ ins Russi- 

e. 

1877 stirbt Sonjas Vater, dem sie in den letzten jahren besonders eng ver- 
bunden war. 1878 vird, in Petersburg, die kleine Sonja geboren. Kurz darauf er- 
hält Kovalevskij eine Professur an die Universität Moskau. Ober die Jahre dort, 
über die Konflikte, die nach einiger Zeit wieder zu einer Trennung der Ehe 
führen, sind wir nur andeutungsweise unterrichtet. Vielleicht wird der dem- 
nächst erscheinende Briefwechsel zwischen Sonja und Woldemar Kovalevskij hier 
Klarheit bringen. 

1881 verläßt Sonja zum zweitenmal Rußland; ihr Kind läßt sie bei Freunden 
zurück, Sie begiebt sich — fast flieht sie — ins Ausland. In Paris widmet sie sich 
den lange vernachlässigten mathematischen Studien wieder. Damals taucht zuerst, 
wenn auch nur als vage Hoffnung, die Möglichkeit ihrer Berufung an die Uni- 
versität Stockholm auf. Vorläufig arbeiter sie an einer Aufgabe, die ihr Weierstraß 
gestellt hat, lebt aber nicht ganz so einsiedlerisch wie seinerzeit in Berlin. Sie ist 
eng befreundet mit einem jungen Polen, einem Mathematiker und Dichter; sie 
sehen sich fast täglich, arbeiten, diskutieren und lesen Micievil zusammen. Im 
Cake verkehrt sie viel in sozialistischen Kreisen, vorwiegend mit Russen und 

olen. 

Maria Mendelssohn, cine polnische Sozialistin, berichtet in ihren (bisher un- 
veröffentlichten) Erinnerungen über ihre erste Begegnung mit Sonja Kovalevskij in 
Paris. Die beiden Frauen lernten sich bei dem bekannten russischen Revolutionär 
Lavrov kennen, dem Mittelpunkt eines Kreises sozialistisch gesinnter Intellek- 
tueller. „.. die schmutzige Straße St. Jacques, eine unsaubere Treppe führt nach 
dem zweiten Stok. Die Wohnung — zwei festlich hergerichtete Zimmer, in 
denen zwei russische Lampen brennen. Ein durchdringender Geruch von Feuchtig- 
keit und alten Büchern. Aber was hat das bei einem so liebenswürdigen Wirt zu 
bedeuten! Lavrov üßt mich mit der gewinnendsten Gastfreundlichkeit. 
Auf dem Sofa sitzen bereits zwei Damen, mir wird der einzige bequeme Sessel 
gegenüber angeboten. Lavrov geht im Zimmer auf und ab. Zwei Studenten sind 
mit dem Samovar beschäftigt. Den Herren werden Gläser mit angeschlagenen 
Rändern angeboten, den Damen Tassen. Dann öffnet der Wirt feierlich ein Fach 
in seinem Schreibtish. Zwischen allen möglichen beschriebenen Papieren kommt 
ein goldumrandeter Teller, der mit Gebäck und Pralinen 3 85 ist, zum Vorschein. 
Den Studenten wird bedeutet, daß die letzteren nur für die Damen bestimmt sind. 
Von den Damen ist die eine Frau Joudre, als Mitarbeiterin an der von Clemenceau 
herausgegebenen sozialistischen Zeitschrift „La Justice“ bekannt, eine kleine zarte 
Frau mit hübschen, aber verblühten Zügen. Sie wirkt wie eine Puppe aus 
Sasonishem Porzellan, ihre Stimme ist schwach und piepsig. Ihre ganze Art zu 
sprechen, erinnert an eine Parodie aus den französischen Précieuses. 

Die andere, Sophie Kovalevskij, gleichfalls von kleinem Wuchs, fällt durch 
den verhältnismäßig zu großen Kopf auf, der von Locken umrahmt ist. Ihre 
Augen — sie sind einmal mit eingemachten Stachelbeeren verglichen worden — 
wiken faszinierend. Ihre 1 sind ungemein lebhaft und temperament- 
voll, Sie interessiert und fesselt mich sofort. Ich fühle, daß ich einen außer- 
gewöhnlichen Menschen vor mir habe. Meine eigene Neugier findet ein Echo bei 
Sophie. Ich bin eben aus dem Posener Gefängnis entlassen, in allen Zeitungen ist 
unser Fall erörtert worden... .“ 


342 


In diesem Kreise geistiger, vorurteilsloser Menschen, denen die Idee alles, 
materielle Güter nichts bedeuten, fühlt sich Sonja wohl. Seit ihrer frühesten 
Jugend interessiert sie sich lebhaft für den Sozialismus, begeistert sie sich für eine 

die damals die Sache der gesamten studierenden russischen Jugend wer. 
Allerdings sind ihre eigenen Kräfte stets zu ausschließlich auf ihre wissenschaftliche 
Tätigkeit gerichtet, als daß sic selbst sie je der Allgemeinheit hätte widmen können 
und wollen. Doch ihre indirekte Anteilnahme ist nicht weniger wertvoll: ihr warm- 
i Verständnis, ihre impulsive Hilfsbereitschaft, die niemals Grenzen kennt. 
In allen Schwierigkeiten weiß sie Rat: sie schreibt Empfehlungen, gibt Geld, ver- 
mittelt Briefe, verleiht Pässe, bedenkenlos setzt sie Namen und Ruf aufs Spiel. 

1888 überrascht sie die verhängnisvolle Nachricht vom Tode ihres Mannes: 
Selbstmord auf Grund verfehlter Geldgeschäfte. Fünf Tage lang läßt Sonja keinen 
Menschen zu sich, verweigert sie jede Nahrungsaufnahme. Als sie am sechsten 
Tage aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht, setzt sie sich, ohne ein Wort zu sagen, 
im Bett auf und beginnt auf der Decke Zeichen zu malen. Dann bittet sie um 
Bleistift und Papier und ist bald darauf in eine mathematische Aufgabe vertieft — 
erstes Anzeichen des wieder in ihr erwachenden Lebensgefühls. Von diesem 
Schlag hat sich Sonja nie mehr erholt. Innerlich und äußerlich gealtert, tritt sie 
nach diesem Verlust den um sie besorgten Freunden wieder entgegen. 

Da erweist sich das Schicksal selten gütig: schon war sie fest entschlossen, 
durch Privatstunden für sich und ihre kleine Tochter eine Existenzmöglichkeit zu 
schaffen, als sie den Ruf als Dozentin der Mathematik an die Universität Stock- 
holm erhält. 

Noch einmal darf sie einen Aufschwung erleben, das Lockende einer neuen 
unbekannten Zukunft kosten: Glücklich reist sie nach Schweden ab. Damals ist 
sie vierunddreißig. Ein Bild aus jener Zeit und die Schilderung einer Freundin 
ergänzen sich: (Sie war) . . „von kleiner Gestalt, zart, das Gesicht jedoch voll, 
mit kastanienbreunem, lockigem Haar, die Züge ungewöhnlich lebhaft, besonders 
die Augen, deren Ausdruck fortwährend wechselte; sıe blickten zuweilen strahlend 
lebhaft, dann wieder träumerisch tief. in. 

Anfang des Jahres 1884 beginnt sie mit ihren ersten Vorlesungen: „Alge- 
braische Einleitung zur Theorie der Abelschen Funktionen.“ Sie liest in deutscher 
Sprache. Nebenher beendet sie eine Arbeit über „Die Brechung des Lichts in 
einem kristallinischen Medium“. 

Drei in mancher Hinsicht interessante Briefe an Maria Mendelssohn geben 
ihre ersten Stockholmer Eindrücke wieder: 


Meine Liebe! Den 26. Dezember 1888. 


Eine ganze Ewigkeit habe ich keinen Brief von Ihnen bekommen und die 
letzten Nachrichten, die ich durch unseren Freund Vollmar!) erhalten habe, lauten 
nicht sehr günstig. Anscheinend sind Sie noch immer krank und die Sache, die 
Sie am meisten erfüllt, hat sich zum Schlechten gewandt. 

„Die Morgenröte“ erscheint nicht mehr und Ihrem Freunde Mendelsohn 
droht Gefahr, nach Rußland ausgeliefert zu werden, sobald er seine Strafe in 
Deutschland abgebüßt har. Wüßten Sie nur, wie traurig ich darüber bin, denn 
obwohl ich Ihnen nicht schrieb, habe ich viel an Sie gedacht und hatte stets den 
sehnlichsten Wunsch, Sie wieder zu sehen und mit Ihnen so unbefangen zu 
plaudern, wie wir es so oft in diesem Sommer getan haben. Erinnern Sie sich 
noch daran? Aber wer weiß, ob sich unsere Wege jemals wieder kreuzen 
werden? 

Ich bin nun also in Stockholm. Meine mathematischen Vorlesungen fangen 
in knapp zwei Wochen an und ich denke mit Bangen an die Minute, wo ich zum 
erstenmal vor meinen Zuhörern erscheinen werde. 

Stockholm ist eine recht hübsche Stadt, Was die Gesellschaft anbelangt, so 
ist sie ein Gemisch von neuen freiheitlihen Ansichten und altmodischen echt 
deutschen Anschauungen. Es vill mir noch nicht gelingen, mich hineinzufinden. 
Ih habe viele Freunde, aber ebensoviele Feinde. Die letzten befinden sich 


1) Der Sozialist Georg v. Vollmar, den der bayrische Minister v. Müller ein- 
mal „Bayerns ungekrönten König“ nannte. 


248 


hauptsächlich an der Universität von Upsala. Sie wissen wahrscheinlich, daß die 
Send holier Universität erst vor kurzem gegründet worden ist, währena 
von Upsala schon seit Jahrhunderten existiert. Gegenwärtig repräsentieren di 
beiden Universitäten zwei entgegengesetzte Richtungen: Upsala ist das Zentrum 
des konservativen orthodoxen ehrtentums. Nach Stockholm zieht es die 
Jugend, alle freidenkenden und rührigen Schweden. Sie können sich wohl vor- 
stellen, daß diese beiden Universitäten einen erbitterten Konkurrenzka mit- 
einander führen. Doch obwohl Upsala den Studierenden größere materielle Vor- 
teile bietet, hat Stockholm die größere Hörerzahl aufzuweisen. Das ist wohl der 
Hauptgrund der Verbitterung der Nachbaruniversität. Als meine Vorlesungen in 
Stokholm offiziell angekündigt wurden, gaben die Mathematikstudierenden in 
Upsala dieselben Anschläge auch in ihrem Verein bekannt. Darüber brach bei den 
Professoren große Empörung aus. In einer Sitzung, die einen ganzen Abend lang 
dauerte, taten sie nichts, als mich verleumden. Sie sprachen mir jedes wissen- 
schaftliche Verdienst ab, und führten die lacherlichsten und er n 
Gründe für meine Ubersiedlung nach Stockholm an. Ein derartig lei š 
Temperament hatte ich bei den rechtschaffenen und friedliebenden Schweden 
ger nicht erwartet. Unglücklicher weise üben einige dieser Professoren aus 
Upsala einen sehr großen Einfluß in Schweden aus. Der König, der zuerst die 
Universität von Stockholm sehr protegierte, aber jetzt davon überzeugt ist, daß 
sie ein Zentrum freisinniger und radikaler Tendenzen werden kann, hat sich von 
ihr abgewandt, So stehen also hier die Sachen. 

Auf Wiedersehen, meine Liebe! Ich erwarte bald Nachrichten von Ihnen. 

Sophie Kovalevskij. 


Meine Liebet Stockholm, den 19. Januar 1884. 
eine Liebe! 


Ih bin sehr gerührt, daß Sie sich meines Aberglaubens erinnert und mir 
einen Kalender für das neue Jahr geschickt haben. Ich glaube fest daran, daß er 
mir Glück bringen wird. jedesmal, wenn ich ihn öffne, um mir eine Notiz 
darin zu machen, gedenke ich Ihrer, und das ist mir immer sehr angenehm. 

Wie traurig, daß die Angelegenheiten nicht gut stehen. Die Flucht des raten 
Kameraden?) hat mich tief beeindruckt, daß er Anarchist ist, stimmt mit seiner 
Individualität und seinem Charakter gut zusammen. Aber selbst wenn man den 
Anarchismus als die höchste uid ideellste Form betrachtet, die dem menschlichen 
Geschlecht ein friedliches Leben zu sichern vermag, so muß man doch in Anbetracht 
des heutigen Zustandes eine langsame Übergangsform für notwendig anerkennen. 
Ist das nicht selbstverstindlich? Organisation und strenge Disziplin sind unbe- 
dingt in jedem, auch in unserem Kampf die Hauptsache. Die nächste Generation 
wird schon einen Schritt weiter sein, sich von den traditionellen Fesseln befreit 
und in der Wahl der Regierungsform mit weniger Schwierigkeiten als vir zu 
kämpfen haben. 

Ich kann mir Dikstein ohne Ihre Hilfe nicht vorstellen. Wer besorgt dern 
jetzt die Redaktion der „Morgenröte“? Schreiben Sie mir bitte auch, ob das ge- 

nte Abkommen zwischen dem Russen und dem Polen zustandegekommen ist. 
Ich habe kürzlich an Lavrov geschrieben und ihn gebeten, mir mitzuteilen, ob neue 
Schriften der Narodnajo Volja erschienen sind und wo ich sie erhalten kann, ohne 
aber eine Antwort von ihm zu bekommen. Sollten Sie ihn treffen, meine Liebe, 
so fragen Sie ihn bitte, ob er meinen Brief erhalten hat, und mir Auskunft geben 
kann. Ich habe hier schon viele Menschen getroffen, die sich lebhaft für den 


2) Der „rote Kamerad“ ist Simon Dikstein, einer der ersten pol- 
nischen Sozialisten. Mit kaum 19 Jahren absolvierte er die Universitat Wa u. 
Bald darauf wanderte er aus und arbeitete als Drucker in Hamburg und Paris. 
In Paris widmete er sich später wieder naturwissenschaftlichen Studien. Daneben 
stand er stets mit anarchistischen Kreisen in Fühlung. Oberempfindlich von 
Natur, wurde er immer schwermütiger und nahm sich im Jahre 1884 das Leben. 
Sozialismus interessieren, und zwar in Kreisen, in denen man es am wenigsten 
hätte erwarten sollen. Vie mir scheint, ist ihre Zahl grof genug in Schweden, 
um eine starke sozialistische Partei zu bilden. Das wäre eine Aufgabe für die 


244 


Deutschen, denn die hiesigen Verhältnisse sind meiner Meinung nach den deutschen 
sehr ähnlich, nur daß hier größere Freiheit herrscht, und daß die Schweden, be- 
sonders aber die Norweger, edien Gedanken zugänglicher sind als die Deutschen. 


Wie sehr fügt sich die letzte Katastrophe, die Ihren Freund Varinskij be- 
troffen hat, in das Bild ein, das ich mir auf Grund Ihrer Erklärungen von ihm 
gemacht habe. Ich kann es gar nicht glauben — das sollte das Ende seines Schick- 
sals sein? Ein so energischer, gewandter und fähiger Mensch wie er, wird doch 
eine Möglichkeit finden, sich aus der Falle zu retten! Ich bitte Sie, mir auch über 
Mendelsohn zu berichten, sobald Sie etwas über ihn erfahren haben. Sein 
Schicksal interessiert mich sehr. 


Ich wußte gar nicht, daß die polnischen Zeitungen über mich geschrieben 
hatten. Ich freue mich, daß die Polen mich als eine der ihren ansehen, denn was 
mich selbst anbelangt, so fühle ich für kein Volk eine so große Vorliebe, wie für 
das polnische. In meiner Kindheit habe ich immer davon geträumt, mich an einem 

Inischen Aufstand zu beteiligen und — können Sie es mir wohl glauben? — je 
änger ich lebe, um so mehr überzeuge ich mich zu meinem eigenen großen Er- 
staunen davon, daß ich schon in meiner frühesten Jugend ahnte, was ich später er- 
a würde. Wer weiß, vielleicht gehen meine Kinderträume noch einmal in 
E ung. 


Augenblicklich habe ich sehr viel zu tun, und bin einzig von dem Wunsch 
beseelt, meine Song auf der Universität zu befestigen, um auf diese Weise auch 
anderen Frauen den Weg dahin zu ebnen. 


Die neue mathematische Arbeit, die ich kürzlich begonnen habe, fesselt mich 
außerordentlih. Ich möchte nicht cher sterben, als bis ich das Resultat, nach 
dem ich suche, gefunden habe. Sollte es mir wirklich gelingen, das Problem zu 
lösen, so wird meın Name einst zwischen den berühmtesten Mathematikern stehen. 
Nach meiner Berechnung brauche ich noch etwa fünf Jahre, um zum Ziel zu 
kommen, aber ich hoffe, daß nach fünf Jahren mehr als eine Frau imstande sein 
wird, mich hier zu ersetzen; dann kann ich endlich einer anderen Sehnsucht 
meiner Zigeunernatur folgen, und dann, meine Liebe, werden wir uns irgendwo 
ereffen. Sie haben jedenfalls versprochen, mich bald in Stockholm zu besuchen, 
und ich betrachte dieses Versprechen als ein unumstößliches und bindendes. 


Mein persönliches Leben ist so fade und uninteressant, wie Sie es sich gar 
nicht vorstellen können. Und was die „Vögel“ angeht, so kann ich mich höchstens 
einer Bekanntschaft mit der Eule rühmen. Im Grunde genommen ist ja auch die 
Eule ein edles und gutes Geschöpf, das man nicht verachten soll. Sie besitzt 
freilich nicht die Federn des „blauen Vogels“, aber man weiß wenigstens, woran 
man mit ihr ist, und läuft nicht Gefahr, nach einem Regenguß die Federn ent- 
färbt zu sehen, wie es bei dem armen weißen Star von Alfred Musset geschehen 
ist. Denken Sie sich eine Maschine, die rechnet und kalkuliert, dann werden Sie 
ein getreues Porträt von mir haben. Übrigens habe ich ja den größten Teil meines 

in einem solchen Zustand verbracht, bin also an ihn gewöhnt, und doch 
glaube ich noch an einen schönen glänzenden Sonnenuntergang in der Zukunft — 
gibt es wohl etwas in der Welt, das schöner ist, als ein herrlicher Sonnenunter- 
gang? Haben Sie darauf geachtet, wie schön in diesem dene die Sonnenuntergänge 
in Paris sind? Hier sind sie ganz prachtvoll. Sie haben wahrscheinlich davon 
gehört, daß sich die Laufbahn der Erde mit der eines großen Sternes kreuzt; ist 
es nicht sonderbar, sich vorzustellen, daß wir einem Körper ganz nahe sind, der 
beld in dem unendlichen Weltall verschwinden wird? 


., Wenn ich Ihnen schreibe, glaube ich fast, mit Ihnen zusammen zu sein und 
mich mit Ihnen zu unterhalten über dieses und jenes, in bloßen Andeutungen, mit 
denen wir uns schon verstehen. Dies um so mehr, als es schon ein Uhr nachts ist, 
also eine Stunde schlägt, die für Stockholm, wo alle mit den Hühnern zu Bett 
gchen und — leider — mit ihnen aufstehen, unerhört spät ist. So bin ich denn 
gez en, von Ihnen zu scheiden. Ich hoffe, Sie lassen mich nicht lange auf 
Nachricht warten. Meine aufrichtigsten Grüße an Suterland und Dikstein. Dem 
R. sagen Sie, cs sei nicht nett von ihm, sein Versprechen, mir zu schreiben, nıcht 
gehalten zu haben, doch kann ihm, wenn er bald schreibt, noch alles verziehen 


245 


werden. Bitte schreiben Sie mir auch über alle unsere Bekannten aus Paris, die 
Sie treffen, oder von denen Sie hören. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie 
schön die Erinnerungen an die damalige Zeit für mich sind, und wie teuer mir 
alles ist, was damit zusammenhängt. vee Herzen 
re 
Sonja Kovalevskij. 


Meine Liebe! Moskau, den 18. Juni 1884. 


Ich danke Dir für Deinen lieben Brief, den ich erst heute erhielt. Eigentlich 
war ich etwas böse auf Dich wegen Deines langen Schweigens. Ich dachte, Du 
hättest mich vergessen, Ich höre übrigens über Dich durch Julia K., die Braut, 
oder besser Frau von Vollmer. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie froh ich darüber 
wäre, wenn Du Deinen Plan, nach Stockholm zu kommen, ausführtest. Wie herr- 
ich wäre es, wenn wir uns hier alle wiederträfen. Mir scheint es, als hätte ich 
Dich eine Ewigkeit nicht gesehen. 

Ich selbst habe keinerlei Pläne für die Zukunft, mir fehlt jede Piene um 
welche zu schmieden. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mich über die 
guten Nachrichten von meinem kleinen Almanach-Talisman freue. Ich hoffe, Du 
verrätst meinen Aberglauben an niemanden weiter. Ich bin in der Tat sehr aber- 
gläubisch, der Verlust des Almanachs hat mich darin noch bestärkt. 

In meinem Berufsleben ist alles in Ordnung und so, wie es sein soll, aber ich 
muß Dir gestehen, daß es in meinem Privatleben trübe aussieht, und ich eine große 
Leere empfinde. Fordernd und selbstsüchtig hat sich mein kleines Ich in den 
letzten Monaten oft empört, es wollte die Minderwertigkeit und Vergänglichkeit 
alles persönlichen Glücks gar nicht einsehen lernen. Eıne große Apathie und 
Gleichgültigkeit mir selbst gegenüber ist geblieben. Ich wünsche nichts mehr für 
mich selbst. Es scheint mir, als hätte ich endlich das Ideal eines unpersönlichen 
Lebenszustandes erreicht. Ich bin jetzt so eine Art Krankenschwester: Ich lebe in 
Gesellschaft vieler Menschen, die mich eigentlich wenig interessieren, die aber in 
ihren größeren und kleineren Kiimmernissen meiner Hilfe bedürfen. Das 
Schlimmste ist, daß ich ihnen nicht wirklich helfen kann. Ich bringe aber nicht 
etwa ein Opfer, weil ich mit ihnen meine Kanikularzeit verbringe, denn ich sehne 
mich nirgends anders hin, Deine Begeisterung für Paris teile ich. Es ist schön 
dort zu wohnen, aber nicht nur auf einige Wochen dort zu sein. Wie glücklich 
wäre ich, wenn ich dort ein solches Arbeitsfeld wie in Stockholm ommen 
könnte, aber daran ist überhaupt nicht zu denken! Die Franzosen werden so 
bald keine Frau zum Professor ernennen, obgleich ich von niemandem so zahl- 
reiche Komplimente bekommen habe, wie gerade von den französischen Mathe- 
matikern. Sie finden das nur im Ausland, aber nicht bei sich selbst schön. 


Komme doch nach Stockholm, liebe Maria, um etwas Leben in mich zu 
bringen. Ich bin in großer Gefahr, in ein Lehrbuch der Mathematik verwandelt 
zu werden, das man nur öffnet, wenn man nach bestimmten Formeln sucht, das 
aber sofort aufhört zu interessieren, sobald es auf dem Bücherbrett zwischen 
anderen Werken steht. Ja, ich zweifle sogar, ob es selbst Dir trotz Deiner großen 
analytischen Fähigkeiten gelingen wird, den Kern zu verstehen, der sich zwischen 
den Zeilen dieses alten Lehrbuches versteckt. 

Ich lese jetzt Tolstois „Beichte“ und “Was sollen wir tun“. Du hast wahr- 
scheinlich auch schon von diesen Büchern gehört, die, obgleich sie in Rußland ver- 
boten sind, doch in tausenden von Exemplaren verbreitet werden und in aller 
Hände gelangen. Tolstoij sucht den Frieden und endet mit dem Sozialismus. Ver- 
zweiflung und Selbstmord, das sind für jeden denkenden Menschen die Folgen von 
Verhältnissen, in denen Reich und Arm hart auf einander stoßen. 

Genug für heute, liebe Maria. Antworte mir bald und erzähle mir ausführ- 
lich von Dir. Ich küsse Dich herzlichst Deine Sonja. 


[Berlin1884.] 
Meine Liebe! 
Vor einigen Tagen erhielt ich Deinen Brief, heute erfuhr ich die traurige 
Nachricht vom unerwarteten Tod des armen Dikstein. Vollmar ist sehr besorgt 


246 


um Dich und ich denke nicht weniger beunruhigt daran, wie Du dies Ungliick er- 
tragen wirst. Schreibe mir bald 5 ein paar Vorte, meine Liebe, um uns 
zu beruhigen. Du wirst begreifen, Deine Freunde, die Deinen lieben pol- 
nischen Hitzkopf kennen, in einer solchen Stunde besorgt um Dich sind. 

Was mag den armen Dikstein zu einem solchen Schritt veranlaßt haben? 
Es ist ja wahr, das Leben bedeutet kein allzu großes Glück; trotzdem wundern 
wir uns jedesmal, wenn es jemand frühzeitig von sich wirft. Hast Du „La joie du 
vivre“ von Zola gelesen? Erinnerst Du Dich noch an den Ausruf des armen gicht- 
brüchigen Greises, dessen Leben nur noch eine ununterbrochene Agonie war — 
seines Ausrufs, als er die Nachricht vom Tode seiner alten Dienerin empfing: 
„Wie dumm muß man sein, um sich das Leben zu nehmen.“ Es scheint im 
oft so zu sein: Diejenigen Menschen, die viel gelitten haben und nichts mehr vom 
Leben erwarten, hängen am stärksten daran und betrachten es als eine Torheit, 
sich freiwillig davon loszusagen. Wenn man es recht bedenkt, so ist das Leben 
eine recht\ hoffnungslose Angelegenheit; aber nun fange ich an, mich selbst in 
düstere Gedanken zu vertiefen, statt Dich zu ermuntern und zu beruhigen. 


lch muß leider zugeben, daß ich zur Zeit an einem „Spleen“ leide, ohne 
eigentlichen Grund, denn in meinem Leben scheint alles einen guten Verlauf zu 
nehmen. Du hast vielleicht aus den Zeitungen erfahren, daß ich zum Professor 
ernannt worden bin, und daß ich eine langjährige Arbeit abgeschlossen habe. Ich 
habe also allen Gund, mich zu freuen. Und trotzdem fühle ich, wie seit langem 
nicht, eine große Leere und Langeweile in meinem Leben. Bitte erwähne das nicht 
etwa in Deinem Brief an Vollmar. Ich fürchte, er wird meinen jetzigen Zustand 
doch nicht verstehen, und nur betrübt darüber sein. Wahrscheinlich ist es nur 
eine natürliche Reaktion. Ich habe übermäßig viel gearbeitet, um ein kleines 
Resultat zu erobern, und jetzt scheint es mir, als wäre daa Resultat der großen 
Anstrengungen nicht wert gewesen. Hoffentlich ist es nur eine vorübergehende 
Stimmung, unter der ich leide, hoffentlih kann ich bald mit neuer Freude an 
meine Arbeit gehen. Schreibe mir bald, meine Liebe! Ich bleibe noch ein paar 
Wochen in Berlin, dann kehre ich nach Schweden zurück. 

Auf Wiedersehen, meine Liebe! Ich erwarte mit großer Ungeduld und Un- 
ruhe ein paar Zeilen von Dir. Von ganzem Herzen er 

eine 8. 


Auf de Dauer kann sich Sonja in Stockholm nicht wohlfühlen. Obwohl 
ihre Tätigkeit an der Universität e DECH ist — sie wird noch im ersten Jahre 
zum Professor ernannt — obwohl sie von der sonst so konservativen Gesellschaft 
vom ersten Tag an gastlih aufgenommen wird. Gerade damals versorgt 
Schweden, wie nie mehr vor- oder nachher, Europa mit Vorkämpfern einer neuen 
Generation, — junge Kräfte, die das eigene Land stellt, und Flüchtlinge aus dem 
Osten, denen es Asyl bietet. Sonja steht mit den bedeutendsten Gelehrten und 
Schriftstellern in persönlicher Fühlung, tritt sozialistischen Kreisen nahe, ist eng 
befreundet mit Julie Kjellberg (der späteren Frau v. Vollmar), mit Therese Gyldèn 
und Ellen Key. Zu allen aktuellen Schul- und Bildungsfragen, zu den Problemen 
der Frauenbewegung nimmt sie Stellung, wenn sie selbst auch nie ostentativ hervor- 
tritt. Denn ihre Briefe, diese intimsten Selbstzeugnisse, beweisen, daß sie alles 
andere als eine emanzipierte Frau war. 

So schreibt sie nach der Rückkehr von einem mehrwöchentlichen Ferien- 
aufenthalt in Paris an Maria Mendelssohn: 


Liebe Maria! [Stockholm, wahrscheinlich 1885.] 
Heute früh hatte ich kaum Zeit, herzlich von Dir Abschied zu nehmen und 
Dir für alle Gastfreundschaft und Fürsorge, die Du mir in Paris erwiesen hast, zu 
danken. Ehe ich das liebe Frankreich verlasse, umarme ich Dich nochmals herzlich 
in Gedanken. i 
Wie stimmen diese immer neuen Trennungen traurig! Eben hat man sith 
warm und innig aneinander angeschlossen, schon naht die Abschiedsstunde wieder. 
Du, Marie, bist glücklich, da Du von wirklich treuen Freunden umgeben bist, von 
Freunden, die Dich nie verlassen, und mit denen Du so viele gemeinsame Inter- 


247 


essen hast. Ich selbst fühle, wie ich mit jedem Abschied älter werde. Ich bin ein 
armer, ewig umherirrender Jude, und doch wird behauptet, daß gerade der Mathe- 
matiker der Ruhe und des Gleichgewichts bedarf. Könnte ich mich doch wenigstens 
auf Dein Versprechen, mich in Stockholm zu besuchen, verlassen. Ich bin aber 
überzeugt, daß Du mich vergessen wirst, sobald ich mich aus Deiner Sehweite ent- 
fernt habe. Wehe Euch, wenn Ihr Euer Versprechen vergessen solltet! Es würde 
nur ein Beweis dafür sein, daß die Polinnen heuchlerisch und oberflächlich sind, 
und daß es sich nicht lohnt, sich an sie anzuschließen. Aber nein, Du wirst mir das 
nicht antun. Ich weiß, Du bist ein guter und aufrichtiger Freund. 

Ih drücke allen unseren Freunden herzlich die Hand, besonders dem Pan 
Heinrich. Pan Mendelsohn kannst Du sagen, daß er mich wahrscheinlich gern 
los sein wollte, und mir deshalb riet, mit dem Achtuhrzug zu fahren. 

Ich küsse Dich herzlich und innig. In den letzten Wochen habe ih Dich noch 
besser als früher kennen gelernt und liebe Dich noch mehr. Ich fühle, daß wir 
einander sehr nahe gekommen und verwandt geworden sind. Auch Du, Maria, 
wirst mich ein wenig vermissen; oder wird es den Franzosen gelingen, mich aus 
Deinem Herzen zu verdrängen? Schreibe mir bald nach Christiania. Auch Pan 
Heinrich muß mir schreiben. Ich küsse Dich viele Male. Von Herzen 

Deine Sophia. 


Meine Liebe! ` {Juli 1886.] 


Gestern Abend bin ich in Christiania angekommen, wo ich schon erwartet 
wurde. Ich kam gerade zur rechten Zeit, um noch an den letzten Feierlichkeiten 
teilzunehmen. Jedenfalls ist eine genügende Anzahl von Festessen, Reden und 
Toasten für mich vorgesehen, so daß ich zufrieden sein kann. Auch meine Freunde 
Mittag-Leffler und Frau Edgren sind hier. Wir waren gestern den ganzen Abend 
zusammen, um über die Ereignisse der letzten Monate zu plaudern. Hat es nicht 
in Deinen Ohren geklungen, liebe Maria? Eigentlich mußt Du sehr starkes Ohren- 
klingen gehabt haben. Ich habe überhaupt so viel an Dich gedacht, daß ich ständig 
das Bedürfnis habe, Dir zu schreiben. Diese weiten Entfernungen und ewigen 
Abschiede sind doch abscheulich, nicht wahr? Sobald ich Paris verlassen hatte, 
bemächtigte sich meiner tiefe Traurigkeit und ich denke nur daran, wieder dahin 
zurückzukehren. Wann wird endlich die glückliche Zeit der Luftschiffe kommen, 
die Zeit, in der räumliche Entfernungen nicht mehr existieren, denn noch sind sie 
unerträglich, das versichere ich Dir. Die Fahrt über das Meer war alles andere als 
angenehm. Frau Atlantis machte sich über mich lustig und in den ersten beiden 
Tagen habe ich mich recht elend gefühlt. Aber nachdem wir das Skagerak erreicht 
hatten, nahmen alle meine Leiden ein Ende und so verlief der dritte Tag recht 
angenehm. Die norwegische Küste ist malerisch und originell. Leider muß ich 
meine Schilderung unterbrechen. Ich werde erwartet und muß mich beeilen. 


Dienstag, den 18. Juli. 
Ich will den Bief schnell beenden, um ihn heute endlich abzusenden. Der 
gestrige Tag war sehr anstrengend, wenn auch erfreulich. Man brachte mir große 
Ovationen. Ih wurde zum Vorstand der mathematischen Sektion gewählt. 
Während des offiziellen Diners hielt Professor Björkes eine lange Rede mir zu 
Ehren, und alle Anwesenden, hauptsächlich Studenten sus Christiania, applaudierten 
so stark, daß die Wände zitterten — —“ 


Liebe Maria! 


Erst seit gestern bin ich wieder in einer zivilisierten Umgebung und im- 
stande Dir zu schreiben. Unsere Reise in die norwegischen Gebirge dauerte viel 
länger, als ich vermutet habe. Als ich in Dyfved ankam, fand ich zu meiner 
großen Freude zwei Briefe von Dir vor — der eine war nach Christiania, der 
andere nach Dyfved adressiert. Ich danke Dir, meine Liebe, daß Du mich noch 
nicht vergessen hast. Wie oft denke ich an Dich! Wie gern möchte ich in Deinem 
Salon oder richtiger in Deinem Zimmer sein, mich auf das blaue Sopha setzen und 
mit Dir plaudern. Was waren es für liebe Stunden in vertrauten Gesprächen. 
Wie gerne hätte ich Dir von meinen verschiedenen Reiseeindrücken erzählt. Es ist 
viel schwerer, darüber zu schreiben, obgleich meine Eindrücke keinerlei persön- 


248 


lichen Charakter haben. Ich verbrachte mehr als eine Woche in einer Landschule 
in Norwegen bei einem bekannten norwegischen Sozialisten. Es waren die inter- 
essantesten Tage der ganzen Reise. Ich nahm an allem, was ich sah und hörte, 
lebhaften Anteil. Ich werde Dir ausführlich darüber schreiben, sobald ich etwas 
mehr Zeit habe. Heute habe ich nur noch eine knappe Viertelstunde bis zum Ab- 
gang der Post und habe Dir doch noch 30 viel zu sagen. 

Ich las in den Zeitungen, daß in Warschau ein sozialistischer Geheimbund 
el gra worden ist, der in Beziehungen zu den Emigranten in Paris steht, und 

der Führer der Bewegung verhaftet wurde. Ist das wahr, meine Licbe? Mein 
Herz schnürte sich zusammen bei der bloßen Vorstellung, daß Deinen Freunden 
ein neues Unglück zugestoßen sein könnte. Was macht denn Janovié? 

Wie traurig, Vollmar und die anderen Sozialisten in Deutschland ver- 
urteilt worden sind, Schlimme Zeiten! Die schwedischen Zeitungen sind aus- 
schließlich von der Annäherung zwischen Deutschland und Schweden erfüllt. 
Sollte sie wahr werden, so haben wir schöne Aussichten vor uns. Meine Reise 
ist noch nicht zu Ende. In zehn Tagen fahre ich nach Rußland, um meine Tochter 
zu holen. Meine Freundin, auf die ich gerechnet hatte, kann sie nicht bringen, so 
muß ich selbst fahren. Ich werde aber ın den ersten Tagen des September wieder 
zurückkehren. Welche Freude wäre es für mich, wenn Du dann kommen könntest. 
Bitte schreibe mir gleich darüber und adressiere den Brief nach Stockholm. Ich 
küsse Dich innigst. Auf baldiges Wiedersehen von ganzem Herzen 

Deine Sophia. 


Meine teuerste liebe Marie! (1885.) 

Dein Brief hat mich wirklich auf das Tiefste betrübt, denn ich verstehe und 
fühle, was Du in diesem Augenblick empfindest. Vor zwei Jahren war ich in 
derselben Lage. Damals schien es mir, wie Dir heute, als hätten sich Menschen 
und Dinge verabredet, um meinen Kummer zu vermehren, mein Einsamkeitsgefühl 
zu verstärken und mir das Leben von der düstersten und verzweifeltsten Seite zu 
zeigen. Ist es nicht sonderbar im Leben, daß sich stets, wenn wir von einem 
Unglück betroffen sind, zehn andere zur gleichen Zeit bei uns einfinden, von allen 
Seiten her, als hätten sie nur auf den günstigen Augenblick gewartet, um auf uns 
herabzustürzen. Schon in meiner Kindheit habe ich diese Beobachtung gemacht 
und seitdem oft Gelegenheit gehabt, sie in meinem eigenen, wie in dem Leben 
meiner Freunde bestätigt zu sehen. Ich kenne alle lite eng mit denen 
man diese Tatsache zu erklären pflegt, aber ich muß gestehen, daß mich noch kein 
einziger je befriedigen konnte. Ich versichere Dir, ungeachtet aller meiner Kennt- 
nisse und Erfahrungen, trotz der philosophischen Weltanschauung, die ich mir zu 
bilden versucht habe, ich bin immer noch, wie ein unverbesserlicher Spieler, der 
resten Überzeugung, daß sich in jedem Menschenleben Glück und Unglück wie 
Flut und Ebbe ablösen. Wie weiß man aber in diesen Augenblicken jeden Freund- 

tsbeweis, den man von anderen erfährt, einzuschätzen. Ich werde nie ver- 
gessen, liebe Marie, wie gut und zart Du zu mir warst, in der Zeit, als ich so wenige 
Freunde hatte, Ich kann auch jetzt noch nicht behaupten, daß ich deren viele habe, 
und daß sie alle aufrichtig and, aber ich habe mich an diesen traurigen Gedanken 
gewöhnt und nehme ihn ruhiger als früher hin. Wenn Du nur wiiftest, wie 
traurig ich darüber bin, Dir meine Liebe durch nichts als durh Worte beweisen 
zu können — ja, sogar nur durch einen Brief! Ich weilte so gerne in Deiner Nähe, 
wollte, Du könntest fühlen wie ich Dich liebe, und wie teuer Du mir bist! Ein 
Glück, daß Du in Paris zwei Freunde hast, die Dir so treu zugetan sind, zwei 
Freunde, das ist schon viel, liebe Marie, und doch hast Du n einen Dritten, 
der Dir, obgleich er weit von Dir entfernt ist, nicht weniger die Treue hält. Be- 
denke nur, wie kalt und traurig das Leben wäre, wenn wir, die wir Dich lieben, 
Dich verlieren müßten. Ich hoffe, Du denkst ein wenig daran, und läßt Dich von 
diesem Gedanken vor unüberlegten Handlungen zurückhalten. Ich danke Stanislaus 
Mendelsohn noch einmal für die Nachrichten, die er mir über Dich gab. In seinem 
letzten Brief bittet er mich, auszukundschaften, wie Dein Ergehen in Rußland ist. 
Hier habe ich natürlich niemanden, der mir diese Frage beantworten könnte, aber 
ich werde einem meiner Freunde in Petersburg schreiben und ihn bitten, mir ganz 


ausführlich zu berichten. 
249 


Du weißt vielleicht, daß ich seinerzeit in derselben Lage wie Du war. Nach 
Kovalevskys Tod waren meine Vermögensverhältnisse so verwickelt, lasteten so 
hohe Schulden auf mir, daß ich auf keinerlei Rest von meinem Vermögen rechnen 
konnte. Das Schlimmste aber war, daß sich sofort Leute einfanden, die meine ver- 
zweifelte Lage und meine Gleichgiiltigkeit ausnutzten und meine Lage nach dem 
Tod meines Mannes noch verschlimmerten, natürlich zu ihren eigenen Gunsten. 


Noch heute bekomme ich keine Kopeke aus Rußland, ich lebe einzig von 
meinem Professorengehalt. Es war eine sehr glückliche Fügung, daß ich diese 
Stelle gerade in dem Augenblick bekam, als ich es am EE hatte. Es ist heute 
so schwer, Existenzmittel zu beschaffen, wenn der Me nicht von Jugend auf 
daran gewöhnt ist, ein Grund mehr, weshalb ich Dir materielle Unabhängigkeit 
von Deinem Vater wünschen möchte. Es würde Dir gewiß unangenehm sein, auf 
Kosten Deines Vaters zu leben. Ich werde versuchen, so rasch wie möglich die 
Auskünfte, die Stanislaus haben möchte, zu geben, und Dich sofort benachrichtigen. 
Es ist fast überflüssig, Dich zu bitten, mir nur zu nen, worin ich Dir irgenwie 
nützen kann. Mit Vollmar sprach ich bereits über Deinen Paß, aber ich hoffe, 
Du brauchst keinen. Der Paß von Julia (Kjellberg, spätere Frau v. Vollmar) steht 
immer zu Deiner Verfügung; allerdings hast Du so wenig Ähnlichkeit mit einer 
Schwedin, daß es nur ein Dummer nicht erraten müßte. Vielleicht wendest Du 
Dich wegen eines Passes doch lieber an meine Freundin Z, Ihr Paß ist in Ordnung, 
und sie wird ihn Dir gern geben, wenn sie Dir einen Gefallen damit tut. 
Telegraphiere mir, wenn Du den Paß brauchst. Ich küsse Dich von Herzen, 
liebe Marie. Immer Deine Sonja. 


Ich drücke Stanislaus die Hand, leider besitze ich keinen eigenen Paß. Ich 
an meinen nach Rußland geschickt, damit ich aus der Untertanenliste gestrichen 
werde. 


Meine Liebe! Stockholm, den 25. Januar 1886. 


Durch unseren Freund W. habe ich zu meinem Kummer erfahren, daf Dein 
Ertschluß unerschütterlih ist. Vollmar hat Dich wahrscheinlich benachrichtigt, 
daß der Erfüllung Deines schönes Planes keine Hindernisse im W stehen. 
Julia K. gibt Dir ihren Paß. Nach alledem wirst Du es wahrscheinlich kindisch 
empfinden (um mich gelinde auszudriicken), wenn ich Dich noch einmal frage: 
Liebe Maria, hast Du Dir Deinen Plan auch gut iiberlegt, ich kann nicht anders, 
als Dir sagen, daß Dich Dein lieber echt polnischer, heißer und entziickender Kopf 
wieder einmal den größten Gefahren aussetzt. Ich habe W. ganz ernst gefragt: 
‚Sagen Sie mir die Wahrheit, glauben Sie, daß diese Reise Marıas notwendig oder 
wenigstens dienlich für die Sache ist? Er hat es verneint. Er ist davon über- 
zeugt, daß Du zurzeit auf Deinem Platz notwendiger bist, aber das Gefühl der 
scheinbaren Untätigkeit, das Bedürfnis, Dich selbst zu vergessen, und Dich in Ge- 
fahren zu stürzen, veranlassen Dich wahrscheinlich zu dieser Reise. Weder ich noch 
et werden dazu imstande sein, Dich davon abzuhalten, Da in meinen Adern 
anch polnisch-zigeunerhaftes Blut fließt, verstehe ich Dich, liebe Maria. Du selbst 
bist Dir nicht klar darüber, welch große Rolle das Bedürfnis nach Selbstauf- 
opferung, nach Verklärung im Martyrium und die unauslöschlichen Spuren 
bie Ag Exaltationsdranges bei Deinem Entschluß mitspielen, Spuren, denen 
weder Verstand noch gesunder Realismus die Wage zu halten vermögen. Liebe 
Maria, ich kann es mir einfach nicht vorstellen, daß Du, die Du so nervös, zart und 
lebendig bist, zu einem jahrelangen Gefängnisdasein in Sibirien verurteilt werden 
könntest, daß Du die Qualen eines unvermeidlichen und langsamen Todes, dem 
die politischen Sträflinge in Rußland ausgesetzt sind, ertragen könntest. Ein 
solcher Tod ist schlimmer, als der Tod am Galgen, denn er ist viel qualvoller und 
eine Hoffnung auf Flucht ist fast aussichtslos. Die wenigen, die von Sibirien 
zurückkommen, sind körperlich und geistig vollständig zerbrochen, wie z. B. die 
arme Bardina. Ich habe richtige Sehnsucht nach Dir, liebe Maria, ich konnte mich 
lange nicht entschließen, Dir zu schreiben, denn alle Gedanken, die aufs Papier ge- 
bracht werden, erscheinen fade und leblos im Vergleich zu dem, was ich Dir sagen 
möchte. Das einzig Gute an Deinem Plan wäre, daß Du nach Stockholm kämst, 
ich hätte dann Gelegenheit Dich zu umarmen,, und mit Dir über Deine Pläne zu 


250 


sprechen. Schreibe mir bald, meine Liebe, ich erwarte mit Ungeduld Nachricht 
von Dir. Von Herzen 
Deine S. K. 


Ganz unmittelbar und persönlich wirkt trotz der sprachlichen Unbeholfen- 
heiten der folgende deutsche Originalbrief an Therese Gyldén über die kleine 
Sonja, die bis zum Jahr 1855 bei den Schwestern Lermontov, den Freundinnen der 
Mutter, in Rußland lebte. 


Liebe, theuere Therese! Moskau, 21. Mai 1884. 


Gestern habe ich Deinen Brief erhalten und ich danke Dir herzlich für die 
freundliche Teilnahme für mich und meine kleine Sonja, welche aus demselben so 
klar hervorgeht und die mir so unaussprechlich theuer ist, Ich muß Dir gestehen 
aber, daß Deinen Brief noch Etwas dazu beigetragen hat um diejenige Unent- 
schlossenheit in welcher ich mich jetzt befinde noch zu vermehren. Wenn ich 
Dir alle die Bewegungsgründe welche mich dazu neigen um Fufi noch für den 
nächsten Winter bei den Lermontoff zu lassen, auseinandersetze, wirst Du wahr- 
scheinlich auch zugeben müssen, daß dieselben von sehr wichtiger Natur sind. Der 
Hauptgrund ist der, daß sie hier so sehr gut, so wohl körperlich wie auch geistlich, 
zu gedeihen scheint. Über „großartige“ russische Verhältnisse kann hier zwar 
keine Rede sein. Der Wohlstand welcher sie hier genießt steht in keinem grellen 
Widerspruch mit dem welchen sie später bei mir in Stockholm finden wird; Du 
mußt nicht vergessen aber daß die beiden Schwestern Lermontoff sind zwei der 
intelligentesten und besten Mädchen, die man überhaupt finden kann. Meine 
Freundin Julia L. ist eine sehr bekannte Chemikerin (Sie hat fast gleichzeitig mit 
mir in Göttingen promoviert). Nach allen Anlagen Ihrer Natur scheint sie für 
das Familienleben geschaffen zu sein und auf meine kleine Sonja hat sie alle die- 
jenige Liebe concentriert, von welchen Ihr Herz fähig ist. Ihre Schwester Sonja 
Lermontoff hat von ihren zartesten Jugend eine besondere Neigung für die 
Pedagogie gehegt. Sie ist auch viel im Auslande gereist um das Schulwesen dort 
zu studiren und auch jetzt nimmt sie einem tätigen Antheil in eine der hiesigen 
Schulen. Durch einen sonderbaren Schicksal haben sich diese beiden Mädchen 
niemals verheiratet und auch unter ihren nächsten Verwandten finden sich keine 
Kinder. Du kannst Dir selbst denken daß die kleine Sonja es unter der Pflege 
dieser beiden Mädchen nicht schlecht hat. — Du mußt auch gedenken, wie einsam 
meine kleine Sonja und ich, wir in der Welt stehen. Ihr Geburt wurde durch eine 
ganze glückliche Familie geehrt worden; 5 Jahre sind bloß seit der Zeit vergangen 
und jetzt hat sie weder Vater, noch Großeltern, kurz keine natürliche Stütze außer 
mich. Unter solchen Verhältnissen ist es wohl sehr natürlich das den Band 
welche sie mit der Familie Lermontoff bindet, mir doppelt theuer ist und daß 
ich es nicht leichtsinnig wage denselben, wenn auch nicht zu zerreißen, doch jeden- 
falls löser zu machen. Julia Lermontoff wünscht es sehr Fufi noch für dieses Jahr 
zu behalten und hat mir versprochen im Anfange des Herbstes 1885 selbst sie nach 
Stockholm zu begleiten und wenigstens einen Theil des Winters dort mit uns zu 
verbringen. Den vorangehenden Sommer werde ich auch die Möglichkeit haben 
mit Fufi zusammen in den Lermontoffs Landgut zu verbringen und werde sie 
selbst in der schwedischen Sprache etwas unterrichten können, so daß sie nidit 
ganz unvorbereitet nach Schweden kommt, Denke Dir doch wie schrecklich 
würden für sie die zwei — drei ersten Monate sein, wenn sie in diesem Jahr schon 
mit mir nach Stockholm käme! Auf der andern Seit ist es von der größten 
Wichtigkeit für mich die Möglichkeit zu haben mich ungestört diesen Winter 
meinen Vorlesungen und meinen mathematischen Arbeiten widmen zu können. 
Wenn ich Fufi mit mir nehmen sollte würde ich gezwungen sein dieselbe den 
ponien Theile des Tages der Aufsicht einer Bonne zu überlassen, während sie hier 
ast beständig in der Gesellschaft einer der Frl. Lermontoff ist. Dazu kommt noch 
die Frage des Haushaltes, welche für eine so wenig erfahrene Hausfrau, wie ich 
es bin, und in ganz für mich fremden Verhältnissen auch große Schwierigkeiten 
darbietet. Alle dies Umstände, die Wichtigkeit von welchen Du wohl anerkennen 
wirst, zwingen mich zu dem Entschluß mich von meinem kleinen Mädchen noch 
für einen Winter zu trennen. So lange wird unsere Trennung auch nicht dauern, 


17 NF 6 261 


denn in December werde ich die Möglichkeit haben sie wieder in Moskau aufzu- 
suchen. Was nun die Berücksichtigung des „q'en dira-t-on?“ anbetrifft so muß 
ich gestehen, daß ich demselben ın der Entscheidung einer so wichtigen Frage 
keinen Platz anerkennen kann: Ich bin ganz bereit in allem, was die Kleinigkeiten 
des Lebens betrifft, mich nach der Meinung der Welt in Stockholm zu fügen und 
in meiner Kleidung, in meiner Lebensweise, in die Wahl meiner Bekannten etc. 
etc. alles auf das sorgfältigste zu vermeiden, was dem strengsten Richter, oder 
vielmehr der strengsten Richterin Anstoß geben könnte. Wenn aber so wichtige 
Interessen wie das Wohl meiner Tochter im Spiele sind, muß ich schon ganz nach 
meinem eigenen Verstande handeln und es wäre eine ganz unvergleichliche Schwäche 
von mir, andere Berücksichtigung hier beizumischen. — Ich bin überzeugt, daß 
Du, liebe theure Therese, welche wohl selbst bei der Erziehung Deiner Kinder 
gegen manche Vorurtheile zu kämpfen hast, wirst mir in dieser Beziehung Recht 
geben müssen. Ich habe meiner Freundin Julia den Inhalt Deines Briefes mit- 
getheilt und wir haben beide lange und ernsthaft darüber nachgedacht, was für die 
Kleine das beste sein kann. Wenn wir alle die pro und die contra zusammen- 
zichen, denke ich doch, daß das Beste wird das folgende sein: Die Kleine bleibt 
bei Julia noch ein Jahr; die beiden Monate Dec. und Jan. werde ich auch in Moskau 
verbringen. Den Sommer 1885 werde ich dazu anwenden, die kleine Sonia in der 
schwedischen Sprache zu unterrichten; im Herbst 1885 kommt sie nach Stockholm 
und Julia begleitet uns und bleibt bei uns den größten Theil des Winters. (In 
djesem Jahre würde es ihr, in Folge von verschiedenen Familienumständen un- 
möglich sein, für längere Zeit Moskau zu 5 Was mich betrifft, so werde 
ich für dieses Jahr eine kleinere Wohnung (von 8 Zimmern) miethen und eine 
Köchin nehmen, um etwas mich mit dem Haushalt vertraut zu machen und mich 
nicht vollständig in der Macht der Bedienung zu fühlen, wenn ich mich definitiv 
mit meiner Tochter zusammen in Stockholm niedersetze. — 
Du würdest mir einen sehr großen Dienst machen, theure gute Therese, wenn 
Du die Mühe nehmen wolltest, eine solche Wohnung für mich aufzusuchen irgend- 
wo zwischen Dir und den Lefflers, genauer kann ich die Ort nicht precisiren, denn 
Ihr beiden sind für mich die zwei Anziehungspunkten in Stockholm. Eine der 
Zimmern sollte groß, die beiden andern können auch kleiner sein. Wenn die 
Küche klein ist, so würde eine Mädchenkammer auch unentbehrlich sein. Für die 
Anzahl der Treppen bin ich recht gleichgültig, die Sonne ist aber recht wünschens- 
werth. Was den Preis angeht, so denke ich etwas omkring 700—800 kr. Findest 
Du Etwas was Dir passend erscheint, so sei so gut und nehme es für mich. Ich 
überlasse mich vollständig auf Deine Wahl. Recht bedenklich erscheint mir die 
Frage des Ameublement. Ich habe gar keine Ahnung, was eine einfache aber an- 
ständige Ameublement von drei Zimmern und Küchengeschirr kosten und wo man 
eine solche am besten sich anschaffen kann? Da kann Dir gar nicht denken, theure 
Therese, wie grenzenlos unerfahren ich in allen solchen Fragen bin! Bis dem Jahre 
1882 haben alle solche Sorgen mich niemals berührt und ich hatte auch niemals 
einen Begriff, was eine Sache kosten kann. Seit dem Jahre 1882 habe ich zwar 
selbständig und in viel reducirteren Umständen, aber dann immer in hotels 
oder in bres meublés gewohnt, so daß ich mit dem Haushalt doch nichts zu 
schaffen hatte. — Würde es sehr unbescheiden von mir sein, Dich zu bitten, Dich 
etwas über diese Frage zu erkundigen und mir Etwas darüber zu schreiben? Wie 
Dir vielleicht die Lefflers erzählt haben, stehen jetzt meine finanziellen Verhält- 
nisse so, daß ich cs selbst nicht gut wisse, ob ich einiges Vermögen besitze und 
wie viel. D. H. ıch besitze, gemeinschaftlich mit meinem Bruder, ein großes Haus 
in Petersbourg; dasselbe ist aber in den letzten Jahren so gut administrirt worden, 
aß ich es riskire, für vielen Jahre noch keine Rente davon zu bekommen. Jetzt 
hat einer meiner Bekannten in 3 es übergenommen, die Sache etwas 
genauer zu übersichtigen; ich weiß aber nicht, ob es ihm gelingen wird die schon 
gemachten Fehlern ın Ordnung zu bringen. Jedenfalls muß ich, vorläufig 
wenigstens, recht ekonomisch leben und keine unnöthige Ausgaben machen. — 
Entschuldige mich, liebe Therese, daß mein Brief so schlecht geschrieben ist. 
Die kleine Sonia sitzt neben mir während ich schreibe, und ich muß 
mit jedem Augenblick meinem Schreiben unterbrechen, um eine ihren Fragen zu 
antworten. 


252 


In wenigen Tagen werde ich jetzt Moskau verlassen und mich nach Berlin 
begeben. Ich bitte Dich so freundlich zu sein, Deinen nächsten Brief auf dic 
Ad Linkseraße 88 Professor Weierstraß für Fr. S. Kov. adressiren zu wollen. 
In Berlin werde ich mein Möglichstes machen um über die Verhältnissen in Göt- 
tingen etwas genaueres zu erfahren. 

Sei so gut und grüße herzlich von mir Deinen Mann. Ich habe hier meinen 
Manuskript über den Ring von Saturn gefunden und werde Prof. Gylden recht 
dankbar sein, wenn er es einmal durchblättern wird. Empfehle mich bitte Frau 
Lendaf Hageby und Hennes Mann. Meine Freundin Julia Lerm. bittet mich, auch 
Dir Ihren Empfhelung zu überreichen. Ich habe so viel von Dir erzählt, daß sie 
hat die Empfinden Dich persönlich zu kennen. Vor allem aber bewahre mir Deine 
mir so unaussprechlich theure Freundschaft. Deine Dir ganz ergebene 


Sonia Kov. 


In den letzten Jahren mehren sich in den Briefen an die Freundin in Paris die 
Klagen über ihr Leben in Stockholm. Es ist nicht allein die Abneigung gegen die 
wesensfremde Stadt, die sie quilt: je größer ihre wissenschaftlichen Erfolge sind, 
desto bitterer empfindet sie die eigene innere Leere und Einsamkeit. Immer 
häufiger daher ihre dichterischen Versuche, ihre Flucht in Bezirke, die außerhalb der 
rein geistigen Sphäre liegen, dem Menschlichen näher. In diese Zeit fällt die 
Herausgabe ihrer Jugenderinnerungen und der Plan zu einem mehr oder weniger 
autobiographischen, sozialistischen Roman. Alle ihre literarischen Arbeiten, 
niemals von irgendeinem igh oder einer Tendenz bestimmt, sind Zeugnisse 
einer reichen Menschlichkeit, die in Gleichnissen von sich sprechen möchte, die 
farbiger und blutgefüllter sind als mathematische Formeln, 

1886 wird Sonja eine neue Last zu den alten aufgebiirdet: ihre Schwester 
erkrankt hoffnungslos. Mehrmals muß sie ihre Arbeit im Stich lassen, um nach 
Rußland zu reisen. Einige Zeilen an Therese Gyldén aus dieser Zeit: 


Meine liebe gute Theresa! Ich danke Dir so herzlich für die ausführlichen 
Nachrichten, die Du mir über meine Sonja gibst und für Deine Fürsorge um sie. 
Meine Schwester ist leider in einem sehr traurigen Zustand. Es gibt wirklich 
nichts so Furchtbares wie diese langsam schleichenden Krankheiten. Sie leidet 
schr, die wichtigsten Organe ihres Körpers sind zerstört, sie selbst hat für nichts 
weiter Interesse als für ihre Krankheit. Die Ärzte würden es für ein Wunder 
halten, falls sie wieder gesund werden sollte. Und es ist wahrscheinlich, daß sie 
noch unbestimmte Zeit unaufhörlich so gequält wird — vielleicht noch Monate, 
vielleicht auch Jahre. 

Entschuldige, daß ich heute nicht mehr schreiben kann. Ich bin selbst in 
einer schr deprimierten Stimmung, ich komme eben von ihrer Seite, sie hat einen 
schweren Antall von Atemnot gehabt und sich den Tod gewünscht. Es ist furcht- 
bar, einen Menschen so viel leiden zu sehen und außerstande zu sein, nur im Ge- 
ringsten zu helfen. 

Nochmals Dank, meine liebe gute Theresa. Ein frohes und gutes Weih- 
nachtsfest Euch allen. 


Deine ergebene Sonja. 


‚In dieser Zeit beginnt sie eine Novelle „Vae Victis“ und faßt den Gedanken 
an einen Doppelroman „Wie es war — Und wie es hätte sein können“. 


Endlich, Anfang 1888, stirbt Aniuta. Nur schwer gelingt es Sonja, 
sch nach diesem Verlust wieder zu wissenschaftliher Tätigkeit aufzu- 
raffen. Tage und Wochen vergehen, ohne daß ihre Untersuchungen fort- 
schreiten. Dabei weiß alle Welt, daß sie sich um den „Prix Bordin 
ur les sciences mathématiques“ bewirbt, den die französische Akademie 
reits fünf Jahre lang vergeblich ausgeschricben hat. Kurz vor Ablauf des 
Termins beginnt sie plötzlich fieberhaft zu arbeiten und führt ihre Abhandlung 
zu Ende. Am 24. Dezember 1888 wird Frau Professor Kovalevskij in der feier- 
lichen ee der Akademie der Preis zugesprochen. Klein, blaß, völlig 
erschöpft steht sie inmitten der ihr zu Ehren enberufenen Versammlung, die 
erste von der Akademie preisgekrönte Frau, Europas erste Mathematikerin. 


253 


Persönlich geht es ihr in dieser Zeit so schlecht wie möglich. L’oiseau bleu 
— der „blaue Vogel der Liebe — entführt sie nicht auf leichten Schwingen in 
ein erträumtes Wunderland, mit schweren dunklen Flügeln rauscht er an ihr vor- 
über: ihre Freundschaft und Liebe zu Maxim Kovalevskij stürzt sie in Unruhe, 
Verzweiflung und Melancholie. Dieser Maxim Kovalevskij ist ein Verwandter 
ihres Mannes, ein revolutionär gesinnter Sozialpolitiker, von der russischen Ke- 
gierung, der er unbequem war, ausgewiesen, — Typ des russischen Bojaren, 
klug, gutherzig und großzügig, dabei aber starrsinnig und anspruchsvoll. Er und 
Sonja sehen sich in Stockholm eine Zeitlang täglıch, dann reisen sie zusammen — 
trennen sich — finden sich wieder. Sonja gesteht, daß ihr in den letzten Jahren 
niemand innerlich so nahe gekommen ist, wie dieser Mann. Zwei Jahre des unent- 
schlossenen Hin- und Her. Und für Sonja dabei immer angestrengteste Tätigkeit 
an der Universität. An Neujahr treffen sie sich an der französischen Riviera und 
beschließen, ım Frühjahr endlich zu heiraten. Über Paris und Berlin reist Sonja 
nach Stockholm zurück. Sie liest noch zwei Tage mit verzweifelter Anstrengung, 
am dritten Tag erkrankt sie an einer Lungenentzündung. Treue Freundinnen — 
Therese Gyldén und Ellen Key — pflegen sie. „Zu viel Glück“ hört man sie am 
letzten Abend noch murmeln. Gilt das Vergangenem — Zukiinftigem? Am 
10. Februar 1891, noch vor Tagesanbruch, stirbt sic. Niemand ist bei ihr außer 
einer fremden Schwester. 


Tiefe Trauer im Freundeskreis, Beileidsbezeugungen aus Berlin, Paris und 
London, von der Petersburger Akademie, von Mädchenschulen aus russischen 
Provinzstädten, von Frauen aus ganz Europa. Nachrufe in allen europäischen 
Zeitungen, in den Fachblättern. 


Ergreifend in ihrer Einfachheit sind die Worte, die L. Kronecker der Toten in 
Crelles Journal (in dem seinerzeit ihre Doktordissertation erschien) widmet. Er 
schreibt nach einer Würdigung ihrer wissenschaftlichen Verdienste: 


„„ . . Sophie von Kovalevskij verband mit einem außerordentlichen 
Talent sowohl für allgemeine mathematische Spekulation als auch für die bei 
der Ausführung spezieller Untersuchungen notwendige Technik gewissenhaften 
unermüdlichen Fleiß, hielt bei intensivster Fachtätigkeit stets ihren Sinn für 
andere geistige Interessen offen, bewahrte dabei immer ihre Weiblichkeit und 
erwarb und erhielt sich darum im Verkehr auch die Sympathie derjenigen, 
die außerhalb ihres fachwissenschaftlichen Kreises standen. Die Geschichte der 
Mathematik wird von ihr als einer der merkwürdigsten Erscheinungen unter 
den überhaupt seltenen Forscherinnen zu berichten haben. Ihr Gedächtnis wird 
durch die zwar nicht zahlreichen, aber wertvollen Arbeiten, welche sıc ver- 
öffentlicht hat, in der ganzen mathematischen Welt fortdauern, die Erinnerung 
an ihre bedeutende und dabei anmutsvolle Persönlichkeit wird in den Herzen 
aller derer fortleben, welche das Glück hatten, sie zu kennen.“ 


Dieser deutsche Gelehrte hatte — mehr als die meisten ihr Nahestehenden — 
begriffen, daß die Größe dieser Frau — weit über ihre wissenschaftlichen 
Leistungen hinaus — in der Unteilbarkeit ihres innersten Wesens, in ihrer tiefen 
Menschlichkeit lag. 


254 


CONFERENCE DES HISTORIENS. DES ETATS DE 
L’EUROPE ORIENTALE ET DU MONDE SLAVE 


Varsovie, le 26—29 juin 1927. Varsovie, Société Polonaise 
d'Histoire 1927, 1928. 2 Bde. 8°, unpaginiert bzw. 288 Seiten. 


Von 
Dr. Otto Forst-Battaglia. 


In einem ersten vorbereitenden Heft waren das Programm und die Inhalts- 
angaben der fiir den Warschauer Historikerkongreß der osteuropäischen Ge- 
schichtsforscher von 1927 geplanten Referate enthalten. Der Hauptband druckt 
die tatsächlich vorgelegten Mitteilungen ab. Es fehlen die angekündigten Bei- 
träge von Horvath (Projekt einer Geschichte der Balkanländer), Miljukov (Ruß- 
land und Europa), während der von Mansikka im vorbereitenden Band nicht 
resumiert worden war. Drei Referate sind deutsch (Hanisch, Strzygowski, 
Lukinich), sechs französisch (Wharton, Florovskij, Rozwadowski, Krypiakievy!, 
Mansikka, Balodis), acht in den eigenen Sprachen der Autoren abgefaßt (russische 
von Evreinov, Okunev, Sachanev, Smurlo, Taranovskij, polnisch von Kutrzeba, 
ukrainisch von Korduba, &echisch von Novotny). Fast ausnahmslos behandeln 
sie wichtige Fragen. Es sind zum Teil Berichte über die Organisation und den 
Stand der Forschung: Hanisch schildert die Wirksamkeit des Osteuropa-Instituts, 
Korduba die Notwendigkeit einer systematischen Sammlung der slavischen Orts- 
namen als Grundlage eines für zahlreiche Zweige der Geschichtswissenschaft 
fruchtbaren Inventars. Wharton zeichnet mit angelsächsischer Großzügigkeit das 
Programm einer Geschichte des Buchdrucks in Osteuropa. Balodis stellt die von 
ihm mit viel Erfolg geleiteten Ausgrabungen längst der lettisch-slavischen 
Sprachgrenze als ein Muster dar, wie durch die Archäologie wichtige Streitfragen 
der Völkergeschichte entschieden werden können. Krypiakievyés Gesamtbild der 
ukrainischen Historiographie von heute ist eine etwas trockene Titelaufzählung, 
die jedoch genügt, um die Stagnation der ukrainischen Geschichtsforschung zu 
enthüllen, die in noch stärkerem Grade als die polnische sich aufs Nationale be- 
schränkt und da wieder dem unmittelbar Aktuellen verhaftet bleibt, sich in 
wirtschafts- und ständegeschichtlichen Studien und in Motivenberichten zum 
Postulat der völkischen Selbständigkeit äußert. Kein Wunder, denn die ukrai- 
nischen Historiker sind über die Länder der Emigration (Berlin, Prag, Bratis- 
lava usw.), sowie die polnischen Ostprovinzen zerstreut, ohne eigentliches 
Zentrum und ohne genügende Mittel. In der Räte-Ukraina aber darf nichts 
als historischer Marxismus produziert werden: also Quellensammlungen zur ein- 
seitig gesehenen Sozialgeschichte und historische Propaganda. Immerhin ragt ein 
Gel r wie Hruševskyj über die Masse der Zeitgenossen empor. Ganz anders 
ist das Bild im kleinen, aber kulturell hochstehenden, wirtschaftlich konsoli- 
dierten Finnland. Drei Universitäten, mehrere gelehrte Gesellschaften mit 
international angesehenen Veröffentlichungen, vor allem aber — Prüfstein von 
entscheidendem Wert — das lebhafte Interesse der Nation für ihre Geschichte, 
der Geschichtsforscher für die Geschichte auch der anderen Nationen bekunden 
den hohen Stand der Vissenschaft, von der Mansikka in seinem Referat über 
den Stand der historischen Forschung in seiner Heimat ein ansprechendes, leider 
zu wenig um einzelne Persönlichkeiten und Probleme konkretisierendes Ge- 
mälde entworfen hat. 

Strzygowskis nur gedruckt vorliegender, nicht gehaltener Vortrag ist viel- 
leicht der bedeutsamste des Sammelbandes. Er bietet eine methodologische Aus- 
einandersetzung über „Geschichte, Vorgeschichte und Fachforschung“ und spinnt 
das in der „Krise der Geistes wissenschaften“ eingeschlagene Thema weiter aus. 
Er stellt zunächst die Geschichte der Vorgeschichte gegenüber. Revindiziert für 


255 


die zweitgenannte als ihr eigentümliche Methoden den Vergleich der Denk- 
mäler statt deren unmittelbare Bewertung; eine relative statt der historischen 
absoluten Chronologie. An diese nicht so ohne weiteres zutreffende Parallele 
(hat denn Strzygowski nichts von der vergleichenden Sprachforschung gehört, die 
eine historische Wissenschaft ist, und von relativen Datierungen in der Ur- 
kundenlehre, die sich doch zeitlich im geschichtsmäßigen Raum bewegt?), reiht 
der originelle und kampfesfrohe Wiener Gelehrte sein System der Kunst- 
geschichte. Über die von ihm so genannten Bestandtatsachen, deren Kunde uns 
die historischen Quellen vermitteln und denen wir mit einfacher Beschreibung 
gerecht werden, stellt er die Wesenstatsachen und die Entwicklungstatsachen, bei 
denen es sih um aus Betrachtung erschlossene Werte und um zu erklärende, 
wirksame Kräfte handel. Nach Strzygowskis Methoden, de — man kann es 
nicht oft genug wiederholen, im Grunde gar nicht so verschieden von denen der 
vergleichenden Sprachforschung sind, nur mit weit mehr draufgängerischem 
Mut aus zeitlich nur relativ, örtlich nur ungefähr zu enträtselnden Zusammen- 
hängen die „Wesenstatsachen“ ableiten, — erfährt die Kunstgeschichte und nicht 
nur sie, eine völlige Umgestaltung. Der Gegensatz von Barbaren und Kultur- 
menschen wird geleugnet. Es gibt nur Verschiedenheiten und keine Hierarchie 
der Kulturen, Verschiedenheiten, die geographisch nr sind und sich auf den 
Gegensatz der beiden Zonen, der heißen und der kalten zurückführen lassen, 
die sich in einer dritten, der Mittelzone mischen, in der man bisher alle wirk- 
liche Kultur beheimatet glaubte. Diese Zonen unterscheiden sich kraft des in 
ihnen bevorzugten Rohstoffes (der dann wieder für kleinere Sondergebiete jeweils 
verschieden ist. Holz ist im Norden, Stein am Mittelmeer, rstoff in Hoch- 
asien zur Hand). Sie unterscheiden sich durch den Zweck des Schaffens: Im 
Norden dient es der Erleichterung des Kampfes ums Dasein, den Schutz 4 
Kälte; es entsteht die Zweckkunst, bei der auch das Ornament nur sinnbil 
bleibt. Im Mittelmeer und im Süden bekundet sich die Freiheit vom unmittel- 
baren Naturzwang in der freien Darstellung. Unterschiede weiter in der Gestalt: 
Der Norden schmückt geometrisch, der Süden durch die Nachbildung von Mensch, 
Tier und der Natur überhau Unterschiede in der Form: Der Norden füllt 
Flächen im Sinn des Handwerks; der Süden geht von der Einzelfigur aus. Unter- 
schied vollends im Inhalt, im seelischen Gehalt: den Norden beherrscht das Sym- 
bol; im Süden dient die Kunst der Macht. 

Daß Strzygowskis Theorien, in denen eine Unmenge Erfahrung und geist- 
reicher Beobachtung steckt, in ihrer Verallgemeinerung unhaltbar sind, wird von 
allen Anhängern der klassischen Kunstgeschichte leidenschaftlich behauptet; daß 
sie bis ins kleinste zutreffen, werden auch die aufrichtigen Bewunderer dieses 
kühnen Bahnbrechers nicht beanspruchen. Zunächst berührt sich Serzygowskis 
Lehre stark mit der vom Anthropologischen herkommenden Geschichts- 
auffassung der Rassentheoretiker. Sie hehe nicht im leeren Raum, sondern 
sie ist untrennbar von einem Imponderabile, von einem rational nicht weiter 
erweisbaren Gefühl, daß der Norden nicht ursprünglich barbari - 
über den Mittelmeerrassen minderwertig gewesen sei. Strzygowskis Schema hat 
verzweifelte Ähnlichkeit mit einem wohlbekannten, das die kühnen, freien, 
heldischen Bekenner der in unendliche Weiten sich verlierenden pantheistischen 
Naturreligion den nüchternen, realistischen, erdgebundenen, unterwürfigen, dem 
Ritus 3 Theisten gegenüberstellt; nur daß hier nicht der Gegensatz 
blonde Arier gegen schwarze Südlinge, Westische e tutti quanti, sondern beim 
politisch nicht unmittelbar beeinflußten Strzygowski, Nordmenschen gegen Süd- 
menschen lautet. Merkwürdig, daß sich 3 ein paar gesichterte Ergeb- 
nisse der Sprach wissenschaft entgehen ließ, die er prächtig 5 könnte, 
nãmlich die sich aufschließende Verwandtschaft der N mit den 
indoeuropäischen Sprachen und die erstaunlichen Resultate, die einerseits die 
nähere Bekanntschaft mit Chetitern, dann mit den Tocharischen Ausgrabungen 
gezeitigt hat. Der ausgezeichnete Kunsthistoriker tite gut, das Interesse, 
welches er z. B. den zwar genialischen, doch ganz unwissenscheftlichen, nur in 
der Blickrichtung bedeutsamen Visionen von H. Wirth und den reichliche Dosis 
von Phantasie besitzenden sehr klugen Kombinationen der Etruskologie Mühle- 
steins entgegenbringt, auch für die vornehm zurückhaltende, nicht minder 


256 


pu Arbeit der Meillet und Grammont aufzuwenden, wie er ja schon von 
uchardt und Hrožny Notiz genommen hat. 

Ohne Zwcifel, und darin liegt die Bedeutung der Strzygowskischen Studien 
für uns slavische Historiker im rn, ganz abgesehen von der methodo- 
apean, die sie fiir die Geschichtsforschung überhaupt hat, wird sich die Aus- 

nung des Blickfelds von den Karpathen und von der Weichsel nicht nur bis 
in den europäischen Norden, sondern über die russischen, sibirischen, hoch- 
asiatischen Flächen bis an den Stillen Ozean zusammen mit den bahnbrechenden 
Entdeckungen der Prähistorie in Vorderasien und in Turkestan, in der Wüste 
Gobi und im Jünnan, zusammen mit der philologischen Ernte der beiden letzten 
Jahrzehnte und mic der fortschreitenden Vertiefung der anthropologischen 
Kenntnisse des Ostens zu einem neuen, zum ersten zutreffenden Gesamtbild von 
der aus den gemeinsamen indo-europäischen (weder indischen noch europäischen) 
Anfängen sich losschälenden, alsdann in ihren von Peisker mit richtigem Instinkt 
und hinkender Logik gewitterten Zusammenhängen mit dem turko-tartarischen 
Kulturkreis sichergestellten altslavischen Geschichte entwickeln. Kehren wir 
indes nochmals zu Strzygowskis bedeutenden Vortrag zurük. ... An die 
Wesenswissenschaft als zweite Stufe der Bestandtatsachenlehre reiht er die Ent- 
wicklungsgeschichte an. Beileibe nicht, was die Historiker sonst als genetische 
Geschichte bezeichnen. Die Entwicklung: nicht das Nacheinander-, sondern das 
Auseinanderhervorgehen der geschichtlichen Erscheinungen, wird durch die Be- 
harrung (die natürliche Tendenz, der Masse die ihr eigentiimliche Wesenheit zu 
erhalten), durch den Willen (fremder Eroberer oder der eigenen Herrscher, etwas 
Neues der Masse aufzuzwingen) und durch die Bewegung (die Veränderungen 
der Wohnsitze) bestimmt. Durch die Entwicklung entstehen erst die Varia- 
tionen des an sich zum Beharren geneigten Wesens. Nordische Völker kommen 
nach Süden, nehmen südliche Wesensbestandteile an, zwingen ihre eigenen Be- 
griffe den unterworfenen Südmenschen auf. Hier müssen wir wieder einschalten, 
daß Strzygowski, ohne es geradeaus zu wollen, von politischen Zeitströmungen 
beherrscht wird. Gehorcht seine Wesenswissenschaft der Rassenlehre, so die Ent- 
wicklungskunde dem historischen Materialismus in seiner marxistischen Form und 
in seiner Rousseauschen, das Volk vergottenden Variante: die Masse — Natur 
verkörpert das Gesunde und das Rechte. Von den verderbten, entarteten 
oberen Schichten wird durch. Gewalt, kraft materieller Ausbeutung das Natur- 
hafte, Wesenhafte beseitigt. 

Strzygowski schaltet dann konsequent die Einzelpersönlichkeit aus der Ge- 
schichte, zumal der Kunst, ebenso aus, wie das die Bol3eviken (in der Theorie) 
tun. Und die bollevikische Doktrin wird wieder ihre Freude daran haben, wie 
der Wiener Gelehrte vom Beschauer (der künftig allein vollkommenen Variation 
des historischen Forschers) fordert, er müsse sich in ein „Werkzeug der Sachen“ 
verwandeln, die er beschaut. Freilich, richtig verstanden, haben diese Objek- 
tivisierung schon die bösen Historiker alter Schule gepredigt, wenn sie zeigen 
wollten, wie „es“ (maa beachte das unpersönliche „es“!) eigentlich gewesen und 
geworden ist. bis zu dem Glauben, der Strzygowski eignet, diese Objek- 
tivität werde sich jemals in absolute Wahrheit verwandeln, sei es auch um den 
Preis des Verzichts auf Persönlichkeit beim Beschauer, zu diesem Glauben vermag 
ich nicht vorzudringen. Auch auf dem Umweg über Wesenskunde und Entwick- 
lungskunde wird es kaum gelingen, die Geschichte in eine zeitliche Aufeinander- 
folge von Experimenten zu verwandeln, aus deren Überbleibseln sich die ver- 
meinten Regeln der menschlihen Natur, also eine Naturgeschichte ergibt. 
Dennoch wird man dem Vortrag und dem großangelegten, in vielem Zukunfts- 
möglichkeiten erschlicßenden System Strzygowskis nicht die geziemende be- 
wundernde Teilnahme versagen. 

Von den konkreten Einzelfragen der Geschichte erörternden Themen steht 
Rozwadowskis knappe Betrachtung über die Urheimat der Slaven mit dem 
Strzygowskischen Aufsatz in engerem Zusammenhang. Die Resultate dieses sehr 
vorsichtigen und mit klarer Absicht sich den populären oder zur Popularität be- 
stimmten gelehrten Ansichten entgegenstemmenden Artikels sind wesentlich 
negativ: wir kennen nicht das Volk, das als Sprache das Gemeinslavische hatte; 
wir dürfen nur vermuten, daß diese Sprache ın einer Gegend östlich der von 


257 


der herrschenden Meinung wie z. B. Niederle angenommenen Urheimat zuhause 
war (wobei die Flußnamen wichtige Argumente liefern). Wir wissen nicht, ob 
das Gemeinslavische sich zur Zeit Christi oder 1000 Jahre früher vom indo- 
europäischen Stamm absonderte. Mit dieser bescheidenen Zurückhaltung knüpft 
Rozwadowski an Meillets Haltung gegenüber dem Indoeuropäischen an: ein 
Volk X hat zur Zeit X im Raum X eine Sprache X gesprochen, von der wir 
nur wissen, daß sie die gemeinsame Mutter der nachweisbar untereinander ver- 
wandten Tochtersprachen war. Sehr zu begrüßen ist die Ablehnung der ins 
Aktuell-Politische abschweifenden Theorien vom slavischen Ursprung der so- 
genannten Lausitzer Kultur (entre le subtil et le ridicule il n’y qu’un pas... 
Von den Lausitzer Slavenschwärmern zu den Žunkovič und Konsorten ist's nur 
ein Schritt). 

Kutrzeba beschäftigt sich mit den westlichen und östlichen Elementen im 
slavischen Recht. Er verzichtet darauf, Ähnlichkeiten zu schildern, die sich durch 
ähnliche Entwicklungsbedingungen erklären oder noch aus urindoeuropäischen 
Zeiten herrühren mögen (also auf die „Phonetik“ und „Morphologie“ des 
Rechts) und er beachtet nur den nachweisbaren Import, die den ethymologischen 
Entlehnungen vergleichbare Rezeption fremder Bestandteile. Bei den Südslaven 
überwiegt byzantinischer, östlicher Einfluß. Doch nur im serbischen und bulga- 
rischen Gebiet. Schon die Kroaten und erst recht die Slovenen gehören in die 
lateinische (und germanische) Kultursphäre, an deren Ausbreitung mittelbar auch 
Ungarn seinen Anteil hatte. Von den nördlichen Slaven haben die Ruthenen 
besonders auf kirchlichem Gebiet auf die Stimme von Byzanz gehorcht. Ost- 
liches Recht, mit sehr beschränkter Geltung waren auf polnischem Boden ferner 
der armenische Kodex des Datastanagirk und die. Vorschriften des Talmud. Im 
übrigen herrschten da fast allein die Einwirkungen des germanischen (fränkischen) 
und römischen Rechts. Des ersten in den Institutionen und in allem, was 
Städtewesen sowie die freibäuerlihe Kolonisation betrifft, das antike römische 
Recht im Privatrecht und im Prozeß, das Corpus iuris canonici, in dem natür- 
lichen Bereich seiner Geltung. Später kamen dann die französischen und engli- 
schen Einflüsse hinzu, die sich seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts leise, seit der 
Revolution stark bemerkbar machten. Im allgemeinen reichen die westlichen 
Institutionen auf slavischem Boden weiter nach Osten als die Grenzen der west- 
lichen Kultur. Allerdings müssen sie sich einer An ng an die örtlichen Ver- 
hältnisse unterziehen, und mit bodenständigen GE östlichen Elementen ver- 
quicken. In dem stoffreichen Aufsatz haben wir nur das Fehlen eines Hinweises 
auf die besonderen Einflüsse des Nordens zu beklagen (das Nordische dürfen 
wir nicht ohne weiteres mit dem Vestlichen gleichsetzen). Gerade bei dem von 
Kutrzeba gewählten Beispiel der Vappen als einer durch östliche bzw. heimische 
Modifikationen veränderten westlichen Institution ergibt sich durch die mangelnde 
Unterscheidung des Nordischen ein falsches Bild. Übrigens hätte der Vortrag 
auch dadurch gewonnen, venn die niederrheinischen, die sächsischen und die 
schwäbischen Elemente innerhalb des „Westlichen“ schärfer herausgehoben 
worden wären. 

Florovskij untersucht einen Sonderfall innerslavischer Vechselwirkung, der 
zwischen Russen und Cechen. Er findet diesen gegenseitigen Kontakt hauptsäch- 
lich auf kulturellem Gebiet, und nur selten auf politischem. Der geschätzte 
Autor verfällt mitunter in politische Rhetorik und übersieht im Interesse der 
slavischen Solidarität, daß sich die russisch-&echischen politischen Verbindungen 
fast stets gegen einen slavischen Dritten, nämlich Polen, kehrten. Prof. 
Novotny Beles e an der Hand der von ihm zu Prag im erzbischöflichen 
Archiv entdeckten Dokumente die näheren Umstände, die sich zur Hussitenzeit 
einer polnisch-litauisch-£echischen Kombination entgegenstellten. Wir erfahren, 
daß die Prager Machthaber, als sie im Jahre 1420 alternativ Władysław 
Jagiello und dem Großfürsten Witold die böhmische Krone antrugen, zugleich 
deren bedingungslosen Beitritt zur hussitischen Lehre verlangten und daß es diese 
Umstände waren, die damals eine Lösung verhinderten, wie sie später, unter 
veränderten Bedingnissen, durch die Berufung des braven Königs „Dobrze 
LAs:zlo“ Tatsache wurde. Lukinich berichtet von einer anderen denkwürdigen 
Berufung auf einen slavischen Herrscherthron: wie Stefan Bathory König von 


258 


Polen wurde und wie dann später andere Fürsten von Siebenbürgen seinen glor- 
reichen Spuren zu folgen begehrten. Der Aufsatz bringt nichts Neues. 

Maciejowski zeichnete das alte serbische Recht als eine Fundgrube für die 
ältesten gemeinslavischen Institutionen, als eine Mischung von demokratischen 
und aristokratischen Anschauungen und durchsetzt von orientalisch-byzantinischen 
Elementen. Prof. Taranovskij weist diese Auffassung zurück und stellt dagegen 
fest, im serbischen Recht seien die Spuren des ethnographischen Zusammen- 
fließens von zweierlei Bevölkerungsgruppen, der sprungweisen Entwicklung des 
altserbischen Staates und der tiefgreifenden Umwandlung des rezipierten byzan- 
tinischen Rechts zu sehen. Die Abhandlungen von Sahane und Okunev sind 
der russishen Kunstgeschichte gewidmet. Sachanev findet die Ornamentik der 
prähistorischen, vorslavishen Zeit in der russishen Volkskunst wieder. Strzy- 
gowski spendete hier Beifall, wäre nicht das Tierornament, das zu diesem nordi- 
schen Aspekt nicht gut paßt. Okunev aber bewegt sih mit seiner Charakte- 
ristik der russischen Gewölbebauten ganz in der von Strzygowski angedeuteten 
Richtung und zeigt die Novgoroder mittelalterliche Architektur als Import aus 
dem gothisch- romanischen Westen. Sogar die Glocken, die berühmten Glocken 
von Novgorod haben ein romanisches Geläute. Smurlos Mitteilung über ein 
Diplom Peters des Großen an die Kapuziner, das diesen den Bau einer Kirche 
in Moskau gestattete, gibt nach dem Original im Archiv der Propaganda zu 
Rom eine Analyse dieses von Theiner in einer tendenziösen Redaktion ver- 
öffentlichten Dokuments, mit dem Peter, wie später Katharina, dem Westen 
Sand in die Augen streuen wollte. Die russishen Methoden: daheim Unter- 
drückung der Gewissen, nach außen die Pose vornehmer Toleranz, sind sih durch 
die Jahrhunderte gleichgeblieben. Und dieser Methoden Zeugnisse füllen die 
Archive ... der Propaganda. Evreinov beschäftigt sich mit den Ergebnissen 
der Reformen Alexanders I. Unter dem Druck der Zeitverhältnisse, zum Teil 
unter der Nachwirkung seiner Erziehung durch Laharpe und vor allem dank 
der Haltung Speranskijs, endlich im Kontakt mit Czatoryski und dem Novosil’cov 
der liberalen Epoche hat der Car die Gewaltenteilung bei der obersten Be- 
hörde durchgeführt (nicht die Teilung seiner Gewalt mit anderen). Daß diese 
Reformen cbenso wie der theoretisch vortreffliche Instanzenzug auf dem Papier 
allein Wirkung hatten, läßt Evreinov zu wenig klar hervortreten. 

Außer den Referaten bringt der Sammelband noch den Extrakt der 
Sitzungsprotokolle des Warschauer Kongresses: Ansprachen, Fragmente der Dis- 
kussion, die gefaßten Beschlüsse, unter denen die über das geplante Lexikon 
slavischer Altertümer und die Herausgabe eines „Bulletin“ der Literatur zur 
osteuropäischen und slavischen Geschichte allgemeine Beachtung verdienen. Das 
Organisations-Comité hat uns durch den Druck des vorliegenden Buches eine er- 
freulihe Gabe beschert und der Tagung ein bleibendes Denkmal errichtet. 
Unsere Dankbarkeit darf freilich nicht verschweigen, daß die Korrektur der in 
so viel Sprachen gedruckten Aufsätze viel zu wünschen übrig läßt und daß, wo- 
ferne das Französisch als Sprache der „Résumés“ bestimmt wurde, eigentlich auch 
zu erwarten stand, diese würden französisch geschrieben sein. So sind sie zum 
großen Teil in einem Jargon abgefaßt, wie ihn etwa S. M. der König von 
Cerdagne geredet haben dürfte. Manches ıst nur komisch, so etwa der 
„etaint présentes les personnes dont les noms suivent: Doc... Dr... Prof. . ., 
Dir. . .“ (man denkt an das „prêtre docteur X. Y. der polnischen Radiosender- 
Programme). Anderes aber traurig. So wenn man nach Vergleich mit dem 
russischen Text herausbekommt, daß Smurlo mit dem Satz „Par ces diplômes .. . 
Pierre voulait... attenuer la mauvaise impression produite... par ce qu'il est 
convenu d'appeler „les massacres de Polotsk“ (juillet 1705)“ sagen will, Peter habe 
durch Diplome den schlechten Eindruck mindern wollen den die gemeinhin „Das 
Blutbad von Polock“ genannten Ereignisse hervorgerufen hatten. Man kann von 
keinem slavischen Historiker fordern, er müsse mit Paul Valéry in Wettbewerb 
treten. La plus belle fille du monde (und die höchste Gelehrsamkeit) ne peut 
donner que co qu’elle a, aber die Redaktion des Tagungsberichts hätte den Band 
durch einen des Französischen wirklich Kundigen durchsehen lassen müssen. 


259 


III 
LITERATUR BERICHTE 


NEUE AUSGABEN SODSLAVISCHER POETISCHER 
LITERATUR UND QUELLEN ZUR KULTUR- UND 
GEISTESGESCHICHTE 


Von 
Josef Matl. 
1. Naši pjesnici. 

Seit einigen Jahren erscheint in Zagreb unter dem Titel 
Nazi pjesnici im Verlag der Narodna Knjižnica eine Serie 
Anthologien jugoslavischer (slovenischer, kroatischer und serbischer) 
Lyriker, von der mir bisher 13 Bändchen vorliegen. Von den 
Slovenen sind bis jetzt F. Prešeren, St. Vraz und S. Gregorčič ver- 
treten, von den Kroaten P. Preradović, VI. Nazor, A. G. Matoš, 
Lj. Wiesner, August Həarambašić; von den Serben Br. Radičević, 
Gj. Jakšić, L. Kostić, Voj. Ilić, Zmaj. J. J. Wir sehen, daß von den 
Kroaten auch führende Lyriker der. Moderne in der Auswahl geboten 
werden (Nazor, Matoš, Wiesner), dagegen von den slovenischen und 
serbischen Lyrikern nur die bedeutendsten Lyriker des 19. Jahr- 
hunderts, vor allen des Romantismus, während O. Župančič und 
M. Rakić u. a. noch fehlen. Die Serie verfolgt einerseits den Zweck, 
in kleinen handlichen und billigen Ausgaben die Meisterwerke der 
jugoslavischen Lyrik weiteren Kreisen zugänglich zu machen, ander- 
seits das gegenseitige literarische Kennenlernen zwischen den 
Slovenen, Kroaten und Serben zu fördern, das ja bisher, wie ich ge- 
legentlich meiner Studienreisen in Jugoslavien wie auch an jugo- 
slavischen Studenten und Journalisten‘ wiederholt feststellen mußte, 
erschreckend gering ist. Ein weiterer Zweck der Sammlung ist der, 
für den Literaturunterricht an Mittelschulen geeignete Lektüre zu 
bieten. In dieser Hinsicht reiht sich diese Serie an die seinerzeitige, 
leider nur auf die kroatischen Erzähler beschränkte Anthologie 
kroatischer Erzähler: Hrvatski pripovjedaéi, die der Ver- 
band der kroatischen Mittelschulprofessoren (Društvo hrvatskih 
srednjeSkolskih profesora) herausgab. Die ältere Ausgabe redigierte 


260 


M. Ogrizovié (1917). In der Neuausgabe (1926), die der be- 
kannte Zagreber wissenschaftliche Kritiker und Literaturkritiker 
I. Esih mit Geschick besorgte und mit gründlichen literarhistorischen 
Einleitungen und Charakteristiken versah, sind auch die führenden 
Erzähler der Moderne wie Mato$, Krle2a, I. Andrié u. a. vertreten. 
Auch die durch D. Bogdanović, den Verfasser des kritisch um- 
strittenen Pregled knjiZevnosti hrvatske i srpske I—III, besorgte 
6. Auflage des bestbekannten literarhistorischen Lesebuches von 
Franjo Petraéié und Ferdo Z. Miler, Hrvatska 
čitanka za više razrede srednjih škola. Knjiga II: 
Povijest književnosti Hrvata, Srba i Slovenaca 
od početka XIX. vijeka do danas, wäre hier zu erwähnen. 
Sie umfaßt sowohl in den literarhistorischen Abschnitten als auch 
in dem dargebotenen literarischen Lesematerial neben der kroatischen 
auch die slovenische und serbische Literatur. Neue Gesichtspunkte 
sind nicht festzustellen weder in der grundsätzlichen Auffassung der 
Epochen oder der einzelnen Dichter noch in literaturpädagogischer 
Hinsicht. Die herkömmliche Einteilung und Charakteristik in 
Romantizam und Realizam, die, wie ich in meinem Vortrag über 
„Romantik und Realismus in den südslavischen Literaturen des 
19. Jahrhunderts“ auf dem ersten Slavistenkongreß (Prag, Oktober 
1929) darzulegen versuchte, bei einer etwas tiefer gehenden literatur- 
wissenschaftlichen geistes- und stilgeschichtlichen Betrachtungsweise 
wohl nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, wird unverändert bei- 
behalten. Gut ausgewähltes Lesematerial aus den Literaturen aller 
drei jugoslavischen Völker bringt auch die literaturpädagogisch sehr 
fortschrittliche und moderne Srpska Citanka I—IV (Beograd, 
1920) (für die Mittelschulen), 3 von V. M. Jova- 
no vi, ehemals Professor an der Universität Belgrad, und von 
M. Ivkovié, ehemals Professor an der Universität Skoplje. Ich 
verweise hier deshalb auf diese literarhistorischen Lesebiicher, weil 
sie bei dem Mangel an systematischen Gesamtdarstellungen der 
neueren südslavischen Literaturen und vor allem bei dem Mangel 
an Anthologien und Einzelausgaben für literaturwissenschaftliche 
seminaristisch Übungen an den Universitäten außerhalb Jugo- 
slaviens als Hilfsbücher in Betracht kommen. Für das slovenische und 
bulgarische Literaturgebiet sind wir ja etwas besser mit Anthologien 
versorgt. Es sei hier nur hingewiesen auf die: Noviji slovenski 
pisci. Životopisi i izbor tekstova. Priredio Dr Fran Ilešić. Zagreb 
1919; Matica Hrvatska, 274 S. (eine Fortsetzung der 1907 erschienenen 
„Slovenske novele i povesti“); ferner auf die bulgarischen: Bl garska 
beletristika. Antologija. Naredi Vel Jordanov, 826 S., und 
Blgarski poeti. Antologija. Pod redakcijata na Chr. Cankov. 
1922, 504 S., beide herausgegeben vom Ministerstvo na Nar. 
Prosvěštenie. 

Die Anthologien der Serie Naši pjesnici sind nicht nach 
einem einheitlichen ästhetischen Gesichtspunkt ausgewählt, wie die 
seinerzeitige, in ihrer Art vorbildliche Antologija novije 


261 


srpske lirike (Zagreb, 1911) des B. Popovic, sondern man 
will in erster Linie die charakteristischen Gedichte der einzelnen, nach 
dem derzeitigen literarhistorischen Urteil bedeutenden Lyriker geben 
und überläßt die Wahl dem einzelnen mit der Auswahl Betrauten. 
Immerhin wird das ästhetische Moment in dieser Auswahl sowohl in 
bezug auf die Dichter als auch auf die Gedichte bedeutend mehr be- 
rücksichtigt, als es in älteren ähnlichen Versuchen, bei denen national- 
und moralischpädagogische Momente noch eine viel wesentlichere Rolle 
spielten, der Fall war. Die Sammlung reiht sich an ähnliche Be- 
strebungen, die literarische Kunst dem nationalkulturellen Leben und 
der nationalkulturellen Bildung der weiteren Volksschichten nahe 
zu bringen und fruchtbar zu machen, wie sie bisher vorwiegend die 
einzelnen Matice (Matica Slovenska, Matica Hrvatska, Matica 
Srpska) und andere ähnliche nationale Bildungsinstitutionen wie die 
Srpska Književna Zadruga, Društvo Sv. Jeronima, vertraten. Neben- 
bei sei hier für das kroatische Gebiet auf die nach dem Weltkriege 
leider nicht fortgesetzte Sammlung bzw. Ausgabe moderner kroa- 
tischer Dichter und Schriftsteller Savremeni Hrvatski 
Pisci verwiesen, die der kroatische Schriftstellerverband Društvo 
Hrvatskih Knjizevnika herausgab. Ferner sei ergänzend zu den 
seinerzeit in diesen Jahrbüchern angezeigten (Band III S. 295/96) 
Nachkriegsausgaben der Matica Hrvatska auf folgende Neuausgaben 
bzw. neue Ausgaben kroatischer Literatur hingewiesen: August 
Cesarec, Za novim putem. Novele. 193 Seiten. Dragan Bublié, 
Atentat. 115 S. — Ilija Despot, Kidanje. Nove pjesme. 117 S. — 
Branko Ma$ié, Direktor Prokié. Karakteri i sudbine. 222 S. — 
Venceslav Novak, Izabrane pripovietke. 282 S. (1927) — alle 
übrigen Zagreb 1926. In den stark wirksamen, das jugoslavische 
Erlebnis und Geschehen der Nachkriegszeit gestaltenden Novellen 
von Cesarec, Bubli& und Mašić sind drei der bedeutend- 
sten von den jüngeren kroatischen Nachkriegserzähler gegeben, 
während mit der Ausgabe der bisher in Zeitschriften verstreuten 
Novellen des Vj. Novak einer der bedeutendsten kroatischen Er- 
zähler des Realismus der 80 er und 90 er Jahre neu dem Lesepublikum 
mit einer einführenden biographisch-literarischen Charakteristik zu- 
gänglich gemacht wird. Diese Neuausgabe Novaks rief eine gründ- 
lich fundierte literarisch kritische Neubewertung des Dichters hervor, 
die der berufene A. Barac im Savremenik XXI (1928), S. 297 ff. 
vor kurzem gab. Nebenbei sei hier ferner auf die neuen, vorzüglich 
redigierten slovenischen Anthologien slovenischer Lyriker hin- 
gewiesen in der Prešernova čitanka, Aškerčeva čitanka, Gregor- 
čičeva čitanka und Stritarjeva čitanka. 

Alle diese Ausgaben wären literarhistorish und für die Lite- 
raturwissenschaft von keiner besonderen Bedeutung, wenn wir soweit 
wären, daß wir von den wichtigsten jugoslavischen Dichtern kritische 
Gesamtausgaben hätten. Das ist aber nur bei einem verschwindend 
kleinen Prozentsatz der Fall, obwohl zugegeben werden muß, daß 
nach dem Kriege zunächst bei den Slovenen, seit kurzem auch bei den 


262 


Serben die systematische Arbeit in dieser Richtung eingesetzt hat. 
Es sei hier nur auf die kritische Gesamtausgabe der Werke von 
J. Jurčič und I. Tavčar hingewiesen, die I. Prijatelj be- 
sorgt, auf die Neuausgabe der gesammelten Schriften von F. Masel j- 
Podlimbarski, besorgt durch J. Slebinger, auf die Heraus- 
gabe S. Jenkos, die J. Glonar anvertraut war. Bei den Serben 
bringt die neue Biblioteka srpskih pisaca, von der bereits 
über zwei Dutzend auch schön ausgestatteter Bände erschienen 
sind, systematisch kritische Gesamtausgaben der führenden serbischen 
Dichter. In nächster Zeit soll in Beograd eine Biblioteka 
savremenih jugoslavenskih pisaca erscheinen, die die 
gesammelten Werke bedeutender lebender Schriftsteller bringen soll. 
Zunächst stehen im Programm J. Dučić, V. Nazor, O. Zu- 
pančič, M. Rakić, D. Domjanić, V. Petrović, 
M. Krleža. Im allgemeinen muß man immerhin feststellen, daß 
ein Großteil der Werke der neueren südslavishen Literatur des 
19. und 20. Jahrhunderts noch in allen möglichen Zeitschriften ver- 
graben und versteckt ist und damit jede systematische literatur- 
wissenschaftliche Forschung außerordentlich erschwert ist. Aus 
diesem Grunde ist jeder Versuch der systematischen Sammlung und 
kritishen Ausgabe der literarischen Werke der einzelnen Dichter 
auch im Interesse der Forschung zu begrüßen. 

Bändchen I der Sammlung Naši pjesnici bringt cine Aus- 
wahl aus den Gedichten von P. Preradović, besorgt und mit 
einer Einleitung versehen von Br. Vodnik, der seinerzeit eine 
gründliche Monographie über Preradović gegeben hat. (Vgl. darüber 
J. Matl, Br. Vodnik als Literarhistoriker. Slavia VII, S. 96). — 
Bd. II: Franjo Prešeren. Antologija. Uredio i predgovor 
napisao Dr. J. Glonar. 1922. 72 S. Da die Auswahl einem 
Publikum bestimmt ist, das sonst nicht slovenische Bücher in die Hand 
nimmt, ist der Text der besseren Verständlichkeit halber an ein- 
zelnen Stellen modernisiert. Ebenso ist die Akzentuierung Prešerens 
nicht beibehalten, sondern den Bedürfnissen der Kreise, für die die 
Ausgabe bestimmt ist, angepaßt; das soll praktish heißen, die Ver- 
schiedenheit gegenüber der serbokroatischen Betonung ist wenigstens 
in bezug auf die Tonstelle bezeichnet. Ferner soll ein kurzes Wörter- 
verzeichnis der im Serbokroatishen unbekannten oder in der slove- 
nishen Bedeutung nicht bekannten und gebräuchlichen Wörter die 
Verständlichkeit erleichtern. Das in der Einleitung (S. 6) gebrachte 
Verzeichnis der Ausgaben und der Literatur über Prešeren wäre heute 
dahin zu ergänzen, daß die tiefgriindige, besonders auf die ästhetische 
und formale Seite eingestellte monographische Untersuchung über 
Prešeren als Dichter und Künstler von August Žigon (Francé 
PreSéren poet in umetnik. Slovstvene knjižnice 1. zvezek. Celovec- 
Prevalje 1925 CXCI + 88 + 12 S.) noch zu erwähnen ist. Eine 
kritishe Gesamtausgabe bereitet der Laibacher Literaturhistoriker 
Kidrié vor. — Die literarhistorische Einleitung über das Leben, 
die literarische Tätigkeit und Bedeutung (S. 7—19) Prešerens bietet 


263 


nichts wesentlich Neues. Gut ist die Kunstauffassung Preferens und 
der literarischen Gruppe um die Kranjska Cebela und ihr Kampf 
gegen die ältere literarische Tradition herausgearbeitet. Die Aus- 
wahl selbst bringt die bekanntesten Gedichte, Balladen und das 
epische Gedicht Krst pri Savici. 

Bd. III: Gjura Jakšić, Antologija. Izabrao Branko Mašić. 
Uvod od Jovana Skerlića. 1924. 70 S. Der von dem Verfasser 
eines der interessantesten serbokroatischen Zeit- und Gesellschafts- 
romane der Nachkriegszeit (Deda Joksim), von Br. M a šić besorgten 
Ausgabe ist die von Skerlić übernommene literarhistorishe Wertung 
als Einleitung vorangestellt. Die Auswahl aus den Gedichten 
Jakšić, dieses typishen Vertreters der serbishen romantischen 
Omladina-Lyrik mit all ihrem nationalistischen Pathos, ihrer Rhetorik 
und ihrem Gefühlsübershwang, bringt neben lyrischen Gedichten 
auch einige episch lyrische Gedichte. 


Bd. IV: Vladimir Nazor, Carmen vitae. Anto- 
logija. Uredio i pogovor napisao M. Marjanovié, 1922, 261 + 7 S. 
Die lyrische und epische Versdichtung dieses kroatischen Modernisten, 
des Dichters des Lebens und der Kraft, des Dichters des jungen 
kroatischen Nationalismus der Generation, die zu Beginn unseres 
Jahrhunderts in der kroatischen Offentlichkeit hervortrat (über Nazor 
vgl. J. Matl, Hauptströmungen in der modernen südslavischen Lite- 
ratur, in diesen Jahrbüchern, Neue Folge Bd. I S. 28), war uns in 
der von Br. Vodnik besorgten Gesamtausgabe Djela Vladimira 
Nazora, Zagreb 1917—18 Knj. 1—V, zugänglih. Auch die Kritik 
hat sich viel mit ihm beschäftigt und es liegen über ihn und sein 
dichterisches Schaffen, abgesehen von einer Reihe von Aufsätzen, 
zwei monographische Studien vor, die eine von A. Barac, die das 
Gesamtschaffen Nazors, die Grundeinstellung und Entwicklung klar- 
legt; die zweite von M. Marjanović (Jugoslavenska Njiva 1923 II, 
S. 190ff. und als Sonderpublikation), die die Entwicklung des 
dichterischen Schaffens Nazors im Zusammenhang mit dem nationalen 
Stimmungen untersucht. Marjanović, der kroatische Publizist, 
Kritiker und nationaler Kämpfer (dzt. Chef des Zentralpreßbureaus 
der jugoslavischen Regierung), besorgte auch diese Auswahl mit einem 
kurzen biobibliographischen Anhang. 


Bd. V: A. G. Matoš, Pjesme, 1923, 108 Diese Auswahl 
der Lyrik eines der als Persönlichkeit und als Künstler interessantesten 
Dichter der neueren kroatischen Literatur, ist besonders zu begrüßen, 
weil weder die Gedichte noch seine Prosaarbeiten bisher gesammelt 
vorlagen und weil Mato$ literarhistorisch kritisch noch nicht mit der 
nötigen Distanz untersucht und gewertet ist. Leider ist auch diese 
Ausgabe nicht vollständig, da die Epigramme fehlen. Neben Ge- 
dichten, die als künstlerisch reiner Ausdruck unmittelbarsten, tiefsten 
persönlichen und nationalen Erlebens zu werten sind (vgl. S. 6, 14, 
15, 51, 52), stehen andere bizarre, marinistische, überladen mit Sym- 
bolen und Vergleichen, die wie geistreiche poetische Spielereien an- 


264 


muten. Charakteristisch die außerordentliche Bereicherung in den 
Motiven und Symbolen, charakteristisch der plastische Stil gegenüber 
dem pathetischrhetorischen Stil 4 la Preradovié; charakteristisch die 
ironisch skeptische kritische Lebenseinstellung als Ausdruck der 
inneren Zerrissenheit der kroatischen Vorkriegsmoderne gegenüber 
dem bisherigen naiven, romantisch-patriotischen Patriotismus.*) 


Bd. VI: Lazar Kostić, Antologija. Uredio i predgovor 
napisao Dr. Svet. Stefanović, 1923, 168 S. Kostić gehört als Per- 
sonlichkeit an und für sich wie auch durch den explosivdynamischen 
Charakter seiner Poesie zu den interessantesten und originellsten 
Erscheinungen der serbischen romantischen Omladinadichtung. Svet. 
Stefanović, der serbische Dichter und Kritiker und bekannte Über- 
setzer aus der englischen Literatur, der Kostić noch persönlich kannte, 
gibt in den 44 Seiten Einleitung auf breiter Basis eine in vieler Hin- 
sicht neue kritische Charakteristik und Bewertung der geistig künst- 
lerischen Persönlichkeit des Dichters, des weltanschaulichen Gehaltes, 
der literarischen Einflüsse und der literarhistorischen und national- 
kulturellen Stellung und Bedeutung im Rahmen der Omladina- 
Bewegung und der neueren serbischen literarischgeistigen Entwick- 
lung. Willkommen sind auch die sprachlichen, textkritischen Er- 
örterungen und Erklärungen in der Einleitung und im Anhange, 
ohne die eine Reihe von Stellen des auch im Stil und lexikalisch viel- 
fach eigenwilligen Dichters schwer verständlich wären. 


Bd. VII: Simon Gregorčič, Antologija. Uredio, pred- 
govor i rječnik napisao Dr. A. Barac, 1924, 87 S. Gregorčič, der 
neben Prešeren, Simon Jenko, Simon Kette, I. Cankar und O. Zu- 
pančič zweifellos zu den besten slovenischen Lyrikern gehört, hat 
wiederholt das Interesse auch nichtslovenischer literarischer Kreise 
erregt. Es sei hier nur auf die breitangelegte, in der generalisierenden 
Charakteristik der allgemeinen Entwicklung der slovenischen Lyrik 
zwar kritish angreifbare monographische Analyse hingewiesen, die 
der čechische Mittelschulprofessor D. Stříbrný im Časopis musea 
království Českého 1918 (und im Sonderabdruck) veröffentlichte und 
die J. Glonar in der Sammlung Pota in cilji. Zbirka poljudno-znanst- 
venih spisov, 10. zv. Ljubljana 1922, 152 S., ins Slovenische über- 
setzte; ferner auf die Studien der kroatischen Kritiker F. Marković 
und A. Petravić. Barac, der kroatische Literarhistoriker, brachte 
aus seiner gründlichen Kenntnis und aus seinen vorbildlichen Studien 
über die ee Lyriker Harambasié, Nazor, Wiesner, die 
Kenntnis des notwendigen Vergleichsmaterials für eine gründliche 
vergleichende Charakteristik der Lyrik des Gregorčič in bezug auf 
Motive, Intensität und Charakter des Erlebnisgehaltes, künstlerische 
Qualität des dichterischen Ausdruckes mit, die er uns in der Ein- 


*) Neues Material über Mato$ werde ich demnächst auf Grund von bisher 
unbekannten und unveröffentlichten Briefen des Dichters, die sich in meiner Hand 
befinden, vorbringen. 


265 


leitung zu dieser Auswahl gibt. Im Anhang ist ein slovenisch-serbo- 
kroatisches Differenzialwörterverzeichnis beigegeben. 

Bd. VIII: Stanko Vraz, Izabrane pjesme. Uredio i 
predgovor napisao Dr. D. Grdenié, 1924, 212 S. Das Leben und 
Schaffen dieses aufopferndsten jugoslavischen preporoditelj, der der 
slovenischen und kroatischen Literaturgeschichte angehört, ist ver- 
hältnismäßig gut erforscht, da sich sowohl die slovenische wie auch 
die kroatische Forschung, ganz abgesehen von den polnischen und 
russischen Studien zum kroatischen preporod, mit ihm beschäftigten 
und Branko Vodnik ihm eine große monographische Spezialunter- 
suchung widmete. (Zagreb 1909, Matica Hrvatska.) Daher ist auch 
Grdenic in seiner die wichtigsten biographischen, literarhistorischen 
und ästhetischen Tatsachen gut zusammenfassenden Einleitung nicht 
in der Lage, etwas wesentlich Neues zu sagen. Der Auswahl liegt die 
von Fr. Markovié besorgte Ausgabe der Matica Hrvatska 1880 zu 
Grunde. Die ursprüngliche Rechtschreibung ist in der vorliegenden 
Auswahl der modernen phonetischen entsprechend abgeändert (srce 
und nicht srdce, slatka statt sladka), ebenso sind die alten Dekla- 
nationsformen soweit als möglich durch die Formen der heutigen 
Literatursprache ersetzt. 

Bd. IX: Vojislav J. Ilić, Antologija. Izabrao M. Be- 
govic. Uvod od Jovana Skerli¢éa, 1925, 198 S. Mit der formal außer- 
ordentlich durchgebildeten und gegenüber der romantischen Lyrik ın 
den Motiven erweiterten und vertieften Lyrik des Vojislav D tritt 
die neue serbische Lyrik in eine neue Phase der Entwicklung, die zur 
objektiven plastischen Lyrik der Moderne, eines M. Rakié und eines 
I Dučić hinüber führt. M. Begović, der kroatische Dichter, dessen 
etzte dramatische Werke (Božji čovjek, und Pustolov pred vratima) 
sich in den letzten Jahren mit Erfolg die europäischen und amerika- 
nischen Bühnen eroberten, besorgte mit kultiviertem ästhetischen 
Geschmack die Auswahl der wertvollsten lyrischen und epischen Ge- 
dichte, ohne jedoch selbst eine literarische ästhetische Neubewertung 
zu versuchen. Diese wird der Studie von Skerlić entnommen. 


Bd. X: Ljubo Wiesner, Pjesme, 1926, 59 S. Der noch 
lebende kroatische Lyriker Wiesner gehört zu den unmittelbarsten 
und in der Formgebung kultiviertesten Lyriker der kroatischen 
Moderne. Einzelne seiner Gedichte wie Moja majka (S. 49) gehören 
zu den schönsten Gedichten, die uns die kroatische Lyrik gab. Eine 
eingehende kritische und literarhistorische Bewertung der Lyrik des 
Dichters hat nach dem Erscheinen dieser Auswahl A. Barac in der 
Jugoslavenska Njiva gegeben (vgl. mein Referat in diesen Jahr- 
büchern, neue Folge Bd. III S. 418). 

Bd. XI: Branko Radičević, Antologija. Uredio i 
predgovor napisao Dr. V. Corovi¢, 1926, 125 S. Nach 15 Einzel- 
ausgaben der Gedichte des Begriinders der modernen serbischen 
Lyrik erschien eine definitive kritische Ausgabe 1924 anläßlich der 
Feier der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages des Dichters, 


266 


eine Ausgabe in der Redaktion des B. Miljkovié und M. Pav- 
lovié im Verlag der Srpska Književna Zadruga und der Matica 
Srpska. Vladimir Corovié gibt in der kurzen Einleitung zu dieser 
Anthologie neben biographischen und nicht vollständigen biblio- 
graphischen Daten (vgl. die Studie von Branko Vodnik in der Jugo- 
slavenska Njiva) eine Charakteristik der geistig-literarischen Phy- 
siognomie des Dichters, seiner Bedeutung und der äthetischen Qua- 
lität seiner Kunst. 

Bd. XII: August Haramba$i¢é, Antologija. Uredio 
i predgovor napisao Dr. A. Barac, 1926, 150 S. Die ausführliche Ein- 
leitung von Barac, die auch als eigene Studie in der Jugoslavenska 
Njiva erschienen war (vgl. mein ausführliches Referat in der Zeit- 
schriftenschau in diesen Jahrbüchern Neue Folge Bd. III) gibt eine 
gut motivierte Neubewertung der literarischen Persönlichkeit. des 
dichterischen Schaffens und der literarhistorischen und geistesgeschicht- 
lichen Bedeutung dieses durch Jahrzehnte vielgelobten und dann viel 
gelasterten Barden des kroatischen Nationalismus Startevié-Kva- 
ternikscher Prägung der 70 er, 80 er und 90 er Jahre im Rahmen der 
nationalideengeschichtlichen Entwicklung des kroatischen Volkes in 
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die hier gebrachte Auswahl 
enthält Gedichte, die für den Dichter charakteristisch sind und heute 
noch literarischen Vert haben. | 

Bd. XIII: Zmaj J. Jovanović, Djuliéi i Djuliéi 
uveoci. Uredio u peeoporor napisao Dr. V. Corovié, 1926, 167 S. 
Corovié gibt unter kritischer Heranziehung der bisherigen kritischen 
und literarhistorischen Literatur über den Dichter in der Einleitung 
ein abgerundetes Bild der literarischgeistigen Entwicklung und des 
literarishen Charakters seiner Dichtungen in bezug auf Erlebnis, 
Ideengehalt und Versifikation. 


2. Biblioteka „Bigarska Knižnina“. 
Izdanie na Ministerstvoto na Narodno Prosvěštnie. 


Auf den Wert dieser in ihrer Art für das südslavishe Gebiet 
besten und billigsten, von wissenschaftlichen Fachleuten und quellen- 
kritisch mit wissenschaftlichem Apparat gearbeiteten Sammlung bzw. 
Neuausgabe literarischen und kulturhistorischen Quellenmaterials habe 
ich seinerzeit gelegentlich der Anzeige der ersten 9 Bändchen (in 
diesen Jahrbüchern N. F. III, S. 294) hingewiesen.“) 

Für uns Slavisten, die wir in nichtslavischen Ländern arbeiten 
und die neueren literarischen und kulturellen Zeitschriften in den 
Seminar- und Universitätsbibliotheken nur zum geringen Teile zur 
Verfügung haben und daher bei literargeschichtlichen Seminar- 
arbeiten, vor allem bei stil- und geistesgeschichtlichen Untersuchungen 


1) In meiner seinerzeitigen Anzeige sind eine Reihe Druckfehler in der 
Wiede der bulgarischen Namen und Titel stehen geblieben, da durch ein Ver- 
zehen der Ausdruck ohne meine Korrektur erfolgte. 


267 


18 NF 6 


zur neueren slavischen Literaturgeschichte, vielfach mit dem Mangel 
an den nötigen Grundlagen zu kämpfen haben, sind derartige Samm- 
lungen, ebenso wie die vorhin besprochenen, besonders wichtig. 


Nr. 10: Periodikeski pečat? predi osvobo2de- 
nie to. Prva čast: Spisanija. Sofija 1927, 176 S. 


Das Zeitschriften- und Zeitungswesen spielt in der politisch- 
nationalideologischen, geistig- literarischen Entwicklung der Slaven des 
19. und 20. Jahrhunderts, vor allem der kleinen slavischen Völker, 
infolge der durch die geringe allgemeine Kulturhöhe bedingten 
mangelhaften Scheidung der einzelnen kulturellen Arbeitsgebiete eine 
ganz andere, viel wichtigere Rolle als in mittel- und westeuropäischen 
Ländern. Die Zeitschriften und periodischen Publikationen bilden 
nicht nur die wichtigste Stoffquelle für die literatur- und kultur- 

eschichtliche Forschung — daß es hier bei den kleinräumigen Ver- 

Bältnissen an Memoiren und Korrespondenzen und ähnlichem 
Quellenmaterial sehr mangelt, ist ja bekannt —, sie sind selbst Fak- 
toren der politisch-nationalkulturellen Wiedergeburt, des Aufbaues 
und Umbaues; sie bilden die Plattform, von der aus sowohl die 
nationalen wie auch die literarisch-künstlerischen Ideologien und kon- 
ventionellen Werturteile geformt wurden. Daß der Großteil der 

tischen literarischen Werke der Südslaven bis in die Gegenwart 

inein in Zeitschriften und anderen periodischen Organen erschienen 

ist, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Literaturgeschichtlich 
viel wichtiger ist das Moment, daß die Zeitschriften bzw. die je- 
weiligen Redaktionen die entscheidenden auswählenden Faktoren 
dafür waren und sind, was gedruckt werden konnte, also Literatur 
wurde. Ein verwandtes Beispiel aus der Gegenwart: Wenn heute ein 
junger Dichter in Beograd oder Zagreb einen Band Gedichte heraus- 
bringen will, muß er meistens mehrere 1000 Dinar zahlen. Wer also 
zahlen kann, kann alles, auch die schlechtesten Gedichte, drucken 
lassen. Von dem oben gekennzeichneten Gesichtspunkt der Be- 
deutung der periodischen Publikationen aus habe ich wiederholt 
programmatisch darauf hingewiesen,?) daß man systematische Unter- 
suchungen unter Heranziehung und Anwendung der Erkenntnisse der 
philosophischen Soziologie (vgl. z. B. Vierkan dt, Gesellschaftslehre, 
Stuttgart 1923, ferner W. Jerusalem, Einführung in die Sozio- 
logie, Wien, Schriften der soziologischen Gesellschaft in Wien I) zur 
äußeren und inneren Geschichte der einzelnen südslavischen Zeit- 
schriften und Zeitungen sowie der wichtigsten Kulturinstitutionen 
machen müsse, Untersuchungen, die über das Biobibliographische 


2) Vgl. J. Matl, Vodnik als Literarhistoriker. Ein Beitrag zur Methode 
und Geschichte der südslavischen Literaturwissenschaft. Slavia VII (1928) S. 854; 
J. Matl, Dva njemačka časopisa iz šezdesetih godina. Njihov značaj za kul- 
turnu i političku historiju Južnih Slavena. Nastavni Vjesnik XXXVI (1928) 
sv. 5—6; J. Matl, Die „Grenzboten“ und die Slavenfrage. I. Teil: Die Grenz- 
boten und die Südslaven. Sišić-Festschrift. 1980. 


268 


hinausgehen. Dann erst wird man sich an eine systematische Dar- 
stellung der neuzeitlichen Literatur- und Geistesgeschichte der Süd- 
slaven wagen können. Systematische Untersuchungen in dieser Rich- 
tung wurden bisher eigentlich nur auf dem Gebiete der slovenischen 
Literatur- und Geistesgeschichte durch I. Prijatelj unternommen 
(vgl. I. Prijatelj, Levstikov politični list „Naprej“, Razprave II, 
S. 121—220; derselbe Ustanovitev „Ljubljanskega Zvona“ in celov- 
škega „Kresa“, Razprave III, S. 175—253). 

Aus einer ähnlichen Erkenntnis ist sicherlich auch dieses Bändchen 
über die bulgarische periodische Presse vor der Befreiung entstanden. 
Der vorliegende erste Teil ist den Zeitschriften gewidmet. Die Aus- 
wahl der charakteristishen und programmatischen Aufsätze aus den 
einzelnen Zeitschriften besorgte der Herausgeber V. Pundev, der 
auch eine prägnante Einleitung über die nationalkulturelle Bedeutung 
der bulgarischen periodischen Presse, ferner kurze Erläuterungen zur 
Entstehungsgeschichte und dem Charakter der einzelnen Zeitschriften, 
sowie fortlaufende sprachliche Erläuterungen formaler, stilistischer 
und lexikalischer Art beisteuerte und damit die Verständlichkeit und 
Lesbarkeit der Texte erleichterte. Im Anhang sind biobibliogra- 
phische Angaben über die Literatur zur Geschichte des bulgarischen 
Zeitungswesens und über die bedeutendsten Redakteure und Heraus- 
geber beigegeben. Warum Pundev die wichtigste, leider auch unvoll- 
ständige zusammenfassende südslavische bibliographische Arbeit über 
die südslavische Presse, die anläßlich des 10. slavischen Journalisten- 
kongresses in Beograd 1911 unter dem Titel Jugoslovenska 
Štampa. Referati i bibliografija (Beograd 1911, 293 S.), heraus- 
gegeben wurde und in der neben dem slovenischen, kroatischen und 
serbischen Teil auch ein Abschnitt über die bulgarische Presse zu 
finden ist es Referat über die Geschichte der bulgarischen Presse 
von V. Veléev, Bibliographie von St. N. Koledarov und VI. Stani- 
mirovid), nicht erwähnt, verstehe ich nicht. In der Auswahl sind 
folgende Zeitschriften vertreten: Ljuboslovie (1842, 1844—1846), 
Mirozrenie (1850, 1870), Blgarski kniZici (1858—61), Bratski trud 
(1860—62), Citalisèe (1870). Znanie (1875), Periodi¢esko spisanie na 
Blgarskoto Knizovno DruzZestvo (1870). — Warum die ebenso wich- 
tigen Carigradski Véstnik und Dunavski Lebed hier in diesem 
Rahmen nicht vertreten sind, verstehe ich nicht recht. Ich glaube, es 
wäre für die geistes- und kulturgeschichtliche Erkenntnis der ein- 
zelnen Epochen und Strömungen besser gewesen, nach einzelnen 
Epochen vorzugehen und auch die wichtigsten allgemeinen Zeitungen 
heranzuziehen und nicht die Scheidungen in Zeitungen und Zeit- 
schriften, die hier nicht berechtigt ist, oder wenigstens für die 
damalige Zeit nicht berechtigt ist, durchzuführen. Immerhin 
kann man bei der Lektüre dieses Bändchen sehen, daß man aus 
diesen ausgewählten programmatischen Aufsätzen ein unmittelbar 
anschaulicheres Bild von dem geistigen Charakter der einzelnen 
Epochen der bulgarischen Entwicklung bekommen kann, als aus 
mancher großen Literaturgeschichte. 


269 


Nr. 11 der Blgarska KniZnina konnte ich nicht in die Hände be- 
kommen. — Nr. 12 bringt eine Neuausgabe der ersten Original- 
erzahlung der neubulgarischen Literatur der NeSéastna fami- 
lija. Blgarska narodna povest’ von V. Drumev (1860), 
Sofija 1927, 99 S. Dieses erschiitternde Bild der Leiden des bulga- 
rischen Volkes vor der Befreiung kann zwar in bezug auf ästhetische 
Qualität keinen Vergleich aufnehmen mit anderen späteren. lite- 
rarischen Gestaltungen dieser Epoche wie z. B. mit den Novellen und 
Romanen Vazovs, ist aber literargeschichtlich nicht nur deshalb von 
großer Bedeutung, weil es die erste literarische Leistung dieser Art dar- 
stellt; es ist auch durch die bekannt außerordentlich große Wirkung 
auf das damalige bulgarische Publikum wichtig als Dokument des Zeit- 
geschmackes, des literarischen Niveaus, sowie für die Erkenntnis des 
Einflusses der Literatur auf das nationale Leben. Die älteren sprach- 
lichen Formen und Ausdrücke sowie Russizismen, die heute außer 
Gebrauch gekommen sind, sind unter dem Text durch den Heraus- 
geber, den Dozenten G. S. PaSev erläutert, der 1927 im Sbornik 
Mitropolit Kliment eine Studie über die moralischen Ideen und die 
Prinzipien im künstlerischen Schaffen Drumevs gegeben hat. Pabev 
zeichnet auch in der Einleitung den literarischen Charakter und die 
literarhistorische Bedeutung der Erzählung und gibt im Anhang die 
Literatur über Drumev. 


Nr. 13. Dobri P. Vojnikov, Izbrani salinenia, 
Sofija 1928, 95 S. Der Name Vojnikov ist eng mit der Geschichte 
des bulgarischen Theaters, dessen Anfänge in die 50er Jahre des 
vorigen Jahrhunderts fallen, verknüpft. Er ist der Begründer des 
bulgarischen Theaters, der Begründer des bulgarischen Dramas und 
der erste bulgarische Dramaturg. Bei allen literarästhetischen 
Mängeln seiner dramatischen Originalwerke ist er national- und 
literargeschichtlich ebenso von Bedeutung wie der vorhin genannt 
Drumev. Der Herausgeber T. Atanasov gibt in der Ein- 
leitung I—XI eine kurze Übersicht über die Entwicklung des bulga- 
rischen Theaters und skizziert die Bedeutung Vojnikovs in dieser 
Entwicklung sowie den Charakter und den literarischen Wert seiner 
Dialoge und Dramen. In der Auswahl selbst wird uns ein drama- 
tischer Dialog sowie das Hauptwerk des Dichters, das historische 
Drama Rajna knjaginja (1866) gegeben. 

Nr. 14. Enthält V. Drumevs bedeutendstes literarisches Werk, 
das 1872 zum ersten Male erschienene historische Drama „Ivanko, 
Ubiecat na Asénja I. Drama v pet’ dejstvija. Sofija 1928. 
200 S. G. St. Pa$ev legt in der Vorrede (I—XII) die Entstehung 
des Dramas, die Geschichte der Aufführungen, die Aufnahme in der 
Kritik sowie den literarhistorischen Charakter und die Mängel dar. 

Biblioteka ,BeleZiti BIgari“. Izdanje na Minister- 
stvoto na narodnoto prosvéStenie. 

Nr. 1 dieser neuen Bibliothek, die einen ähnlichen Zweck wie die 
Biblioteka: Blgarska Knjıznina verfolgt, jedoch für das allgemein 


270 


historische Gebiet berechnet ist und die Kenntnis der wichtigsten 
Persönlichkeiten der nationalen Geschichte weiteren Kreisen ver- 
mitteln will, enthält: Car’ Boris-Mihail (Vreme, Caruvane 1 
velidie) von Ju. Trifonov, Sofija 1927, 67 S. Der bulgarische 
Historiker Trifonov schildert dem Stande der derzeitigen Forschung 
entsprechend zunächst kurz zusammenfassend die allgemeine Lage 
Bulgariens in der Mitte des 9. Jahrhunderts in politischer, ethnischer, 
sozialer, kultureller und zivilisatorischer Hinsicht und gibt dann eine 
übersichtliche Darstellung der Regierung des Zaren Boris Mihail, der 
Christianisierung und der dagegen einsetzenden Gegenbewegung, des 
Verhältnisses Boris’ zum Papst sowie der Gründung der selbstän- 
digen bulgarischen Kirche. Der Darstellung sind Reproduktionen 
Boris’ sowie der ältesten Kirchenbauten (Pliskov), ferner ein biblio- 
graphischer Anhang beigegeben. 


271 


DIE QUELLEN ZUR CECHOSLOVAKISCHEN 
GESCHICHTE IN DEN ERSTEN ZEHN JAHREN 


DER CECHOSLOVAKISCHEN REPUBLIK 
Von 
Vaclav Hruby. 


Ich beabsichtige hier keine Bibliographie, kein kritisches Kommentar zu 
den einzelnen Arbeiten, die den Quellen zur £echoslovakischen Geschichte in den 
ersten zehn Jahren der Cechoslovakischen Republik gewidmet wurden, sondern ich 
möchte vielmehr nur kurz die Aufgaben und Ziele, das Streben und dessen Er- 
gebnisse in ihren Grundideen hervorheben. Es gab auf diesem Forschungsgebiete 
dreierlei Aufgaben: die archivalischen, die heuristischen und die damit eng ver- 
bundenen quelleneditorischen. 

I. Die archivalischen Aufgaben. Die techoslovakischen Archivare wurden in 
dem neuen Staate vor zwei große Aufgaben gestellt: a) die Archivorganisation 
samt der Schriftdenkmalpflege und b) die Revindikation der lechoslovakischen 
no aus den österreichischen und ungarischen Zentralarchiven in Wien und 

udapest. 

a) In Osterreich bestand vor dem großen Kriege seit langer Zeit her eine 
drückende Rivalität zwischen der Staatsverwaltung in Böhmen einerseits und der 
Landesverwaltung daselbst andererseits, die auch auf das Archivwesen in 
böhmischen Ländern eine nachteilige Wirkung ausübte. Das staatliche Statthalterei- 
archiv in Prag hatte zwar die Staatsautorität auf seiner Seite, es kümmerte sich 
jedoh um die Archivorganisation und die Schriftdenkmalpflege gerade so wie 

ar nicht. Das Landesarchiv in Prag demgegenüber konnte mit seinem ernst- 
ihen Bemühen um einen zweckmäßigen Schutz der Archivalien wenig aus- 
richten, solange es keine exekutive Macht hatte, die ihm natürlich die Landes- 
verwaltung ohne die Einwilligung des Staates, also gegen den Willen des rivali- 
sierenden Statthaltereiarchivs zu verleihen nicht imstande war. Daher kam es, 
daß es in böhmischen Ländern noch am Beginn des 20. Jahrhunderts keine 
Archivorganisation gab und die Archivalien gingen hier schneller als sonst wo 
zugrunde, soweit sie nicht zufälligerweise durch persönliches Eingreifen eines 
Archivalien- oder Geschichtsfreundes gerettet wurden. Mit dem Umsturze vom 
28. Oktober 1918 ist die österreichische Staatsverwaltung aus den böhmischen 
Ländern verschwunden und es schien, daß nun der Weg zur längst gewünschten 
Archivorganisation in diesen Ländern frei sei. Über die Archivorganisation und 
die damit zusammenhängenden Fragen dachten die Cechischen Archivare schon 
früher recht viel nach. Schon vor dem Umsturze verfaßte der Direktor des 
böhmischen Landesarchivs in Prag, J. B. Novák, einen Programmartikel 
„Další úkoly zemského archivu“ (Weitere Aufgaben des Landes- 
archivs), i) worin er im Rahmen des Arbeitsplanes des genannten Archivs alle 
modernen Anforderungen der Geschichtsquellenpflege von dem Schutze der Archi- 
valien an über die Archivinventare und Archiv kataloge bis zum Herausgeben der 
Geschichtsquellen gründlich besprach. Es kam ihm daher nicht schwer, schon am 
20. November 1918 einer Versammlung der dechischen Archivare ein Memo- 
randum vorzulegen, in dem er die Grundsätze der Organisation der Archivpflege 
im neuen Staate auseinandersetzte. Er forderte hauptsächlich ein Zentralarchiv 
in Prag mit Namen Národní archiv československý (Cechoslova- 


1) Zprávy zemského archivu království českého V (1918), 271—812. 


212 


kisches Nationalarchiv), worin einerseits die Archivalien des Prager Statthalterel- 
archivs und des Prager Landesarchivs nebst kleineren Archivdepots, andererseits 
die aus Wien zurückgebrachten Archivalien, soweit sie die Geschichte des alten 
böhmischen Staates und des Königreichs Böhmen betreffen, aufzubewahren wären. 
Die Staatsarchive in Brünn und in der Hauptstadt der Slovakei sollten dic Archi- 
valien zur Geschichte dieser Länder aufheben. Zum Schutze der Schriftdenkmiler 
in den Stadt-, Gemeinde- und anderen Archiven auf dem platten Lande sollten 
einige Kreisarchive gebildet werden und das ganze Archivwesen dem Ministerium 
des Schulwesens und der Volkskultur unterstellt, welches dasselbe mit Hilfe eines 
Archivrates zu leiten hätte. Für Fachausbildung der jungen Archivare forderte 
Noväk eine Archivschule. Diese Forderungen, die, kann man sagen, in der Luft 

en, wurden fast von allen Cechischen Archivaren als Programm aufgenommen, 
wie sich das auch in dem Artikel „ v českém státě (Archive in 
dem čechischen Staate)?) von J. Borovička widerspiegelt. Borovička be- 
gründet die Errichtung des Cechoslovakischen Nationalarchivs durch die Tatsache, 
daß alle Schriften, die aus der Amtstätigkeit der für die böhmischen Länder und 
die Slowakei gebildeten Kanzleien und Amter während der Zeit der böhmischen 
Selbständigkeit und der Unterwerfung zur Zeit der habsburgischen Herrschaft 
hervorgegangen sind, durch die Erneuerung des čechischen Staates zu einem histo- 
risch een und vollendeten Material geworden seien, welches in einem 
historischen Zentralarchive des ganzen Staates aufzubewahren sei. Zu ähnlichem 
Zwecke solle ein Staatsarchiv in Brünn für Mähren, ein Staatsarchiv in Troppau 
für Schlesien und ein Staatsarchiv in der Hauptstadt der Slovakei errichtet 
werden, welches das Archivmaterial der slovakischen Komitatämter und die 
Slovenica aus den Budapester Zentralämtern in sich vereinigen solle. Diese vier 
Staatsarchive würden wohl genügen, um das ganze historische Material zur 
&echoslovakischen Geschichte zusammenzufassen und technisch und wissenschaft- 
lich zu verarbeiten, so daß für etwaige selbständige Facharchive der einzelnen 
Ministerien vorläufig kein Platz mehr übrig bliebe. 


Der Gedanke des Nationalarchivs, welcher den Cechischen Archivaren nach 
dem Umsturze ganz klar und selbstverständlich war, verlor kurze Zeit danach 
bei einem Teile derselben Ardiivare recht viel an seiner Selbstverständlichkeit. 
Es half wenig, daß er verteidigt wurde von V. Hruby, der in dem Artikel 
Národní archiv Eeskoslovensky (Cechoslovakisches Nationalarchiv)*) 
eine Reihe von technischen, administrativen und finanziellen Vorteilen des zu er- 
richtenden Nationalarchivs aufzähle und betont, wie unzweckmäßig jetzt viele 
organisch zusammenhängende Archivfonds unter drei Prager Archive geteilt sind, 
und besonders von B. Jensovsky, der in seinem Aufsatze Archivy a 
edice (Archive und Editionen)*) den ursprünglichen Programmgedanken dem 
damals schon fertigen Verwaltungsrahmen des neuen Staates schon anpassen und 
dadurch konkretisieren konnte. Der vernünftige Gedanke wurde am Ende doch 
nicht durchgeführt, wobei die &echischen Archivare nicht ohne Schuld waren, wenn 
auch die lange Unsicherheit, ob man das Nationalarchiv dem Ministerium des 
Schulwesens und der Volkskultur oder dem des Innern unterstellen soll, sehr ‚viel 
dazu beigetragen hat. Diese Unsicherheit aber hing wieder mit einer noch tiefer 
liegenden Unentschiedenheit, ob das &echoslovakische Archivwesen das eine oder 
das andere Ministerium leiten soll, zusammen. Anfänglich, wie gesagt, waren die 
Lechischen Archivare darin einig, daß es die Aufgabe des Ministeriums des Schul- 
wesens sei, eine allgemeine Archivorganisation auszuarbeiten und durchzuführen, 
in der nicht nur die großen Staatsarchive, sondern auch die Kreisarchive, welche 
J. B. Novák und B. JenSovsky, oder die Gemeindearchive, wie solche J. 
Borovička, zum Schutze der Archivalien auf dem platten Lande vorschlugen, 
mitaufgenommen wären. Das Ministerium des Schulwesens sollte das Archivwesen 
mit Hilfe eines Staats archivrates leiten, der aus den Direktoren der 
Staatsarchive, der Archivschule und des Historischen Instituts in Prag und aus 


2) Cesky časopis historický 24 (1918), 244—254. 


3) Národ III (1919), 160 ff. 
4) Cesky časopis historický 26 (1920), Beilage Archivnictví“, 4 ff. 


278 


den von dem Ministerium ernannten Fachleuten zusammengesetzt wire, und das 
Nationalarchiv sollte in allen Organisationssachen und besonders in den Sachen 
der Schriftdenkmalpflege zu einem Exekutivorgan des Ministeriums werden. 
Die anfängliche Einmütigkeit der &echischen Archivare in dieser Grundfrage der 
ganzen Archivorganisation ist im Laufe der Zeit durch langes Säumen ver- 
schwunden und trotz der Bereitwilligkeit eines Teiles der Archivare zu einem 
Kompromisse: die Archivorganisation dem Ministerpräsidium unterzuordnen, 
konnte nicht einmal das zustande gebracht werden. Und als Ergebnis aller Mühe 
erscheint die unerfreuliche Tatsache, daß das Cechoslovakische Archivwesen noch 
heute jedweder Organisation und damit auch jeder Schriftdenkmalpflege entbehrt, 
sicher nicht zum Nutzen dieser Schriftdenkmäler, der Geschichtsquellen. Die drei 
Staatsinspektore der nichtstaatlichen Archive: für Böhmen, 
Mähren samt Schlesien und Slovakei, die von dem Ministerium des Schulwesens 
und der Volkskultur zur Schutzpflege der am meisten bedrohten Schriftdenk- 
mäler ernannt wurden, sind das einzige, was bisher in der Cechoslovakei zum 
systematischen Schutze der Archivalien einzurichten gelang, abgesehen natürlich 
von zahlreichen Sicherstellungen derselben vor Verschleppung nach dem Auslande 
in der ersten Zeit nach dem Umsturze. Das ist etwas zu wenig von dem, was in 
diam Sache den čechishen Archivaren nach dem Umsturze in den Sinn ge- 
ommen ist. 


Sonst aber vermehrten die Zechoslovakischen großen öffentlichen Archive 
ihre Tätigkeit im neuen Staate vielfach und wesentlich, und zu den alten Archiven 
und Instituten sind einige neue hinzugetreten, von denen ein jedes in seinem 
Bereiche für die Cechoslovakische Geschichtsforschung einen großen Gewinn be- 
deutet. Von den alten Archiven ist in der ersten Linie zu nennen das Landes- 
archiv in Prag, welches seinen rühmlichen traditionellen Dienst der Ge- 
schichtsforschung wie durch heuristische, so auch editorische Arbeiten fortsetzte. In 
den Zprávy českého zemského archivu (Berichte des böhm. Landes- 
archivs), redigiert von dem Direktor des Archivs J. B. Novák finder man teils 
die Berichte über die Tätigkeit des Archivs als eines Ganzen, teils auch die Ab- 
handlungen von einzelnen Beamten, die darin die Ergebnisse ihrer archivalischen 
und heuristischen amtlichen Aufgaben veröffentlichen. Im Jahre 1925 erschien 
der sechste Band der „Berichte“, worin neben einigen Aufsätzen, die unten be- 
sprochen werden, auch ein lehrreicher Bericht Noväks über die Tätigkeit des 
Archivs in den Jahren 1918—1922 zu lesen ist. Zu diesem Archive hat sich neuer- 
dings in ehrenvollem Wettbewerb das Archiv des Ministeriums des 
Innern in Prag (Direktor L. Klicman) gesellt, welches im Jahre 1919 aus 
dem ehemaligen Statthaltereiarchiv in Prag entstanden ist. Über dessen steigende 
Tätigkeit wird zeitweise wenigstens in groben Zügen in dem Casopis 
a a ivnf školy (Zeitschrift der Archivschule) berichtet. Auch dieses Archiv 

schon die Arbeiten seiner Beamten, welche aus ihren ämtlichen Aufgaben 
hervorgegangen sind, in dem Sborník archivu ministerstva vnitra 
(Revue des Archivs des Ministeriums des Innern) zu veröffentlichen.“) Diese zwei 
Archive samt dem mährischen Landesarchive in Brünn (Direktor 
F. Hruby), dem Archive der Sëch Ae Prag (Direktor V. Vojtſſek), 
welches ebenfalls schon auf einer älteren Tradition zweckmäßig weiter baut und in 
seinem Sbornik pAfsp&kü k déjindm hlavnfhomésta a Pra hy 
(Sammlung von Beiträgen zur Geschichte der Hauptstadt Prag) ein wichtiges 
Publikationsorgan hat, und dem Archive des Nationalmuseums in 
Prag (Direktor K. Stloukal) bilden eine verläßliche Grundlage der ganzen 
heuristischen Forschung der lechoslovakischen Geschichtswissenschatt. 

Von den neuerrichteten Archiven versammelte das Ceskoslovensky 
státní archiv zemédélsky v Praze (Cechoslovakisches staatl. Agrar- 
archiv in P., Direktor A. L. Krejčík) zwar viele Patrimonialregistraturen der 
Staats- und Stiftungsgüter, sowie auch einige der Privatgüter, trotzdem aber wurde 
es eher zu einem Forschungsinstitute auf dem Gebiete der Agrargeschichte, als 


5) Im Jahre 1926 ist der I. Band erschienen, redigiert von dem Direktor des 
Archivs L. Klicman. 


274 


zu einem wirklichen Agrararchive, weil ihm manche wichtige Quellen zur Agrar- 
geschichte, ja vielleicht gerade der Grundstock derselben abgeht und in dem 
böhmischen Landesarchive aufbewahrt wird. Nichtsdestoweniger ist die Errich- 
tung dieses Archivs in dem angedeuteten Sinne von großer Bedeutung für die 
Cechoslovakische Geschichts forschung. Durch das Archiv ministerstva 
wéic{ zahraniénf{ch (Archiv des Ministeriums des Äußeren, Direktor J. SE 
&ensky) wurde einerseits die Bürgschaft gegeben, daß die diplomatischen Doku- 
mente und Akten des &echoslovakischen Staates auch für die Geschichte wohl auf- 
bewahrt werden, andererseits auch die Möglichkeit gewonnen, in der zweiten Reihe 
der Publikace arhivu ministerstva zahraniénich věcí (Publi- 
kationen des Archivs des Ministeriums der Aueren), die unter dem Titel Soupis 
bohemik (Verzeichnis der Bohemica, d. h. der er zur böhmischen Ge- 
schichte im Auslande) erscheint, wichtige heuristische Vorarbeiten zur decho- 
slovakischen Geschichte zu veröffentlichen. Ahnlicherweise werden eher zu Fach- 
archiven iste nicht historischen Archiven) das archiv ministerstva 
národní obrany (Archiv des Ministeriums der Nationalverteidigung) und 
das archiv Národního shromáždění (Archiv der Nationalversamm- 
lung), wenn auch das erste viele historische Schriften aus den Wiener Archiven 
ind Amtern aufhebt. Zu einem besonderen Zwecke wurde das archiv 
Národního osvobození (Archiv der Nationalbefreiung, Direktor J. Wer- 
stadt) errichtet, das alle geschriebenen und gedruckten Dokumente, welche zur 
Beleuchtung der Befreiung der Cechoslovakischen Nation aus der Habsburger 
Herrschaft dienen könnten, folglich auch jene große Literatur von Memoiren, 
politischen, wirtschaftlichen und geschichtlichen iften und Werken, die in der 
Zeit des großen Krieges entstanden oder über dessen Geschichte geschrieben werden, 
zu sammeln hat. Es ist zu erinnern, daß auch die berühmten böhmischen 
Landtafeln, eine der schönsten Quellen zur Cechoslovakischen Geschichte, 
endlich zweckmäßig und würdig in dem Archive des Ministeriums des Innern 
niedergelegt worden sind. Auch um die Stadtarchive®) und die Archive auf dem 
großen Grundbesitze sorgte man viel mehr als früher, 7) wenn auch die aufgewandte 
Sorge lange noch nicht ausreichte. Sehr viel haben für ihre Archive einige deutsche 

te in Böhmen geleistet. Eine gute Tradition von musterhaft besorgten und 
der Wissenschaft zugänglichen Privatarchiven in Böhmen haben schon längst die 
Schwarzenbergischen Archive. Den Stadt- und Gemeindearchiven leisteten sehr 
gute Dienste die oben erwähnten Archivinspektoren, von welchen V. Vojtíšek 
in seinem Büchlein O arhiveh městských a obecních a jejích 
správě (Ober die Stadt- und Gemeindearchive und über ihre Leitung)®) den 
Stadt- und Gemeindearchivaren manch guten Anlaß und Rat niederlegte. Von den 
geistlichen Archiven sind besonders drei zu erwähnen, deren Archivare ein gutes 
Stück Arbeit geleistet haben: das Archiv des St. Veits Ripia in Prag, und das erz- 
bischöfliche Archiv in Prag, welche beide von A. Podlaha neu geordnet und 
katalogisiert worden sind, und das erzbischöfliche Archiv in Kroměříž in Mähren, 
welches von A. Breitenbacher von Grund aus geordnet wird.) 

Der unermüdliche Bibliothekar und Archivar des Prager Metropolitan- 
kapitels A. Po dla ha hat im Jahre 1922 mit einem umfangreichen zweiten Band 
sein mustergültiges Werk Soupis rukopisü knihovny 5 
kapituly Pražské (Verzeichnis der Handschriften der Bibliothek des Prager 
Metropolitankapitels)!*) abgeschlossen, um im Jahre 1928 einen nicht minder 
wichtigen Cataloguscodicum manu scriptorum, qui in archivio 


€) Vgl. die periodischen Berichte in Časopis archivní školy. 
7) Vgl. A. Markus. 
8) Knihovna Časopisu československých knihovníků, &. 2 (1924). 
©) Vgl. seinen Bericht, Archivy a regisbratury na zabraném velkém majetku 
zemkovém (Archive und Registraturen auf dem eingenommenen Grofgrund- 
besitze) in Časopis archivní školy III (1926). 


10) Sammlung von Handschriftenverzeichnissen der Cechischen Akademie der 
Wissenschaften, Nr. 4; einige Nachträge sind im Jahre 1928 erschienen. 


275 


capituli metropol. Pragensis asservantur!) und im Jahre 1926 
einen Catalogus collectionis operum artis musicae, quae 
in bibliotheca capituli metr. Pragensisi?) samt einem Cata- 
logusincunabulorum,quaeinbibliothecacap. metr. Prag. 
asservantur?) herauszugeben. Durch Podlahas Verdienst wurden die Biblio- 
thek und das Archiv des Prager Kapitels zu den mit Katalogen am besten ver- 
sehenen Instituten der Cechoslovakei. Außerdem erschien im Jahre 1925 von A. 
Podlaha auch ein Povlechny katalog arcibiskupského ardhivu 
v Praze (Allgemeinen Katalog des erzbischöflichen Archivs in Prag), welchen, 
zur ersten Information bestimmt, seine Aufgabe gut erfüllt. Auch die kostbare 
Handschriftensammlung der Bibliochek des Nationalmuseums in Prag ist endlich 
durch ein Verzeichnis, das F. M. Bartoš unter dem Titel Soupis rukopisů 
Národního Musea v Praze (Verzeichnis der Handschriften des National- 
museums in Prag) in zwei Bänden im Jahre 1926 und 1927 herausgab, der Ge- 
schichtsforschung zugänglicher geworden. Diese Katalogisierungs werke, welche dem 
bewährten von der Cechischen Akademie der Wissenschaften und der Kunst 
herausgegebenen Handschriftenverzeichnisse nachgebildet werden, entdeckten der 
Wissenschaft ein neues weites Forschungsgebiet. Es ist desto mehr zu bedauern, 
daß die übrigen lechoslovakischen Archive und eben die wichtigsten durch andere 
dringenderen Aufgaben, besonders aber durch einen schlimmen Mangel an ge- 
eigneten Arbeitskräften — nicht daß dieselben überhaupt nicht vorhanden wären, 
sondern daß man sie nicht entsprechend belohnen kann — verhindert wurden, die 
Geschichtsforschung mit ihren wahren Schätzen mittels gedruckten Katalogen und 
Inventaren gründlicher bekannt zu machen. Bloß das böhmische Landesarchiv 
konnte den ersten Band eines gründlichen Katalogs des Archivs der böhmischen 
Krone veröffentlichen, um welches Archiv des alten böhmischen Staates R. Koss 
bis zu seinem letzten Augenblicke eine unermüdliche Sorge trug. Schade um alles 
das weite Wissen, das der junge Forscher, der auch die Geschichte des genannten 
Archivs schreiben wollte, mit sich ins Grab genommen hat! Auf dessen Veranlassung 
wurde in die Sammlung von Katalogen, Verzeichnissen und Regestenarbeiten, 
welche das böhmische Landesarchiv unter dem Titel Cesky zemský ardiv. 
Katalogy, soupisy, regestäfe a rozbory jeho fondü (Das 
böhmische Landesarchiv. Kataloge, Verzeichnisse, Regestensammlungen und Ana- 
lysen dessen Fonds) herausgibt, als deren erste Nummer ein Werk eingereiht, das 
Archiv koruny české (Archiv der böhmischen Krone) benannt, in einigen 
Bänden des Katalogs, die Beschreibung und die Geschichte des Archivs umfassen 
sollte. Leider ist das groß angelegte Werk durch Koss’ frühzeitigen Tod ein 
Torso geblieben, und nur der erste Band unter dem Titel Katalog listin z 
let 1158 — 1346 (Katalog der Urkunden von J. 1158—1346) im Jahre 1928 
erschienen, bezeugt, wie wissenhaft und sorgfältig Koss sein Werk auszuführen 
dachte. Eine kleinere Inventarisationsarbeit veröffentlichte F. Roubik in dem 
Aufsatze Registratura Ceského Närodniho vyboru 2 r. 1848 
(Registratur des böhmischen Nationalausschusses aus d. J. 1848).1*) Schließlich ist 
hier auch ein Werk von J. Celakovsky zu erwähnen, welches zwar schon 
vor dem großen Kriege fertig war, jedoch erst im Jahre 1920 erschienen ist. Ich 
meine das Soupisrukopishovanyhvardivuhlavnihomästa 
Prahy I (Verzeichnis der in dem Archive der Hauptstadt Prag aufbewahrten 
Handschriften),15) durch welches ein neuer Nachweis erbracht wird, was für ein 
wertvolles heuristisches Hilfsmittel entsteht, wenn man den Katalog auf einer aus- 
führlichen, wissenschaftlihen Analyse der katalogisierten Quellen begründet. 
Leider nicht nur die großen &echoslovakischen Archive sind mit ihren Katalogen 
und Inventaren . sondern man brachte auch die so wichtige, dringende 
und schon öfters berührte Frage einer systematischen Inventarisierung der 


11) Editiones archivii et bibliothecae capituli metropol. Pragensis XVII. 

12) Editiones XIX. 

13) Editiones XX. 

14) Časopis archivní školy VI (1928), 126—153, vgl. diese Zeitschrift (1929), 
580—581. 

18) Sborník prispévk& k dějinám hlav. mésta Prahy, I. T. H. 2 (1920). 


276 


kleineren Archive auf dem platten Lande in der Cechoslovakei immer noch nicht 
auf die Bahn. Auch daran war die Saumseligkeit in der Durchführung einer 
Archivorganisation schuldig. 


Dafür gelang es in Prag eine Archivschule zu errichten, von der schon 
. BB Novák in seinem oben erwähnten Programmartikel spricht. Novák 
selbst verfaßte auch gleich nach dem Umsturze einen Entwurf von Statuten und 
Lehrplane der Schule, welche den Fehler des alten zu viel kathederartigen Wiener 
Instituts für Österreichische Geschichtsforschung im Auge behielten und die Fach- 
ausbildung der neuen £echoslovakischen Archivare mehr auf einer womöglich 
konkreten Kenntnis der Archivdenkmäler, auf größter Archivpraxis zu gründen 
suchten. Noväks Entwurf, etwas zugerichtet, wurde zur Grundlage der neuen 
Schule, welche, wenn man auch darin nicht immer von einer praktischen Be- 
lehrung ausging, unter der Leitung G. Friedrichs für die Ausbildung der 
aen Archivare und Herausgeber der Geschichtsquellen recht viel be- 

eutet.! 

b) Die zweite große Aufgabe der techoslovakischen Archivare in dem neuen 
Staate, war, wie gesagt, die Revindikation einer großen Menge von Archivalien 
aus den Wiener und Budapester Zentralämtern und Zentralarchiven. Die Zentral- 
ämter des alten böhmischen Staates blieben zwar auch nach 1620 bis tief in das 
18. Jahrhundert in ihrer ein wenig veränderten Funktion weiterhin bestehen, 
e die wichtigsten von ihnen, die böhmische königliche Kanzlei, später 

hmische Hofkanzlei, und die böhmische königliche Kammer siedelten schon seit 
Ferdinand II. ununterbrochen in Wien, wo also auch ihre Registraturen nach 
Aufhebung der Ämter zurückgeblieben sind, um schließlich in den österreichischen 
Zentralarchiven aufbewahrt zu werden. Außerdem sind im Laufe der Zeit auch 
viele böhmischen Archivalien zum Amtsbedarf der österreichischen Zentral- 
ämter aus böhmischen Landen nach Wien überführt worden, z. B. unter 
Maria Theresia das Archiv der böhmischen Krone, welches die Staatsverträge, die 
Verfassungsurkunden und andere wichtigen Dokumente des alten böhmischen 
Staates vom Jahre 1158 an enthielt. Mit der Auflösung des alten Osterreichs er- 
schien auf einmal die Möglichkeit, diese altertümlichen, grundwichtigen böhmischen 
Archivalien, die als ein Eigentum des erneuerten böhmischen Staates, des Nach- 
folgers und Erben des alten Staates, anzusehen waren, in Wien zu erheben und 
in den lechoslovakischen Staatsarchiven niederzulegen. Zu diesem Probleme ist 
noch ein anderes hinzugerreten: wie die Archivfonds der österreichischen für 
die ganze Monarchie, also auch für die böhmischen Länder bestehenden Zentral- 
ämter aus der Zeit nach Maria Theresia, soweit dieselbe die böhmischen Länder 
betreffen, zu behandeln seien. Die mit diesen Problemen zusammenhängenden 
Arbeiten, welche die techischen Archivare zu leisten hatten, waren groß und die 
Art und Weise, wie sich jene Gelehrten ihrer Aufgabe entledigren, zeugt vollends 
von ihrer Tüchtigkeit. Schon die Prager Archivabrede zwischen der čecho- 
slovakischen und der österreichischen Republik vom 18. Mai 1920 war eine große 
Tat, welche besonders durch mühsame heuristische Arbeit der &echischen Archivare 
ermöglicht wurde. Und eine nicht minder große Tat war die Art und Weise, wic 
dieselben Archivare die Abrede durch ihre opferwillige Tätigkeit in Wien durch- 
geführt haben, wodurch ein wahrer Schatz von Geschichtsquellen in die &echo- 
slovakischen Archive ausgegeben oder zurückgestellt wurde. 


Ober diese Arbeiten berichtet * Opočenský in seinem Aufsatze 
Archivniimluvarepubliky Ces koslovenskésrepublikou 
Rakousku (Archivabrede zwischen der £echoslovakishen und der öster- 
reichischen Republik), ic) wo auch zunächst die Prager Abrede selbst, dann die Ab- 
rede zwischen denselben Staaten über das Schriftenmaterial, das die niederöster- 
reichischen, der &echoslovakischen Republik abgetretenen Urter betrifft, welche den 
Nachtrag zu der Prager Abrede bildet, und schließlich ein Auszug aus der lecho- 
slovakisch- deutschen Abrede über die Übertragung der Gerichtsbarkeit im Hult- 
16) Vgl. Cesky časopis historický 25 (1919) 278 und die Berichte über die Tätig- 


keit der Schule in Časopis archivní školy. 
102) Časopis archivní školy I (1923), 51—141. 


277 


schiner Kreise, soweit dieselbe die Prozeßakten der Straffälle und der unstreitigen 
Gerichtsbarkeit behandelte, in Beilage abgedruckt werden. Von besonderem Werte 
sind die Angaben Opotenskys, welche von den Wiener Schriftdenkmälern schon 
nach Prag überführt und in welchen echoslovakischen Archiven sie aufbewahrt 
worden sind. Die Breite und Tiefe der damaligen heuristischen Studien der techo- 
slovakischen Archivare in Wien kommt in einigen ihren Aufsätzen zum Vor- 
schein. Es sind zu erwähnen die Arbeiten R. Koss’s: Listiny zarchivu 
markrabatmoravskfchvevideäsk&mstätnimarchivi (Die 
Urkunden aus dem Archive der Markgrafen von Mähren im Wiener Staats- 
archive)!T) und Provenience českých archiválií ve státním 
archivě vídeňském (Die Provenienz der böhmishen Archivalien im 
Wiener Staatsarchive), 16) die Arbeiten K. Kazbunda’s: Organisace a 
archiv nejvyššého policeprího úřadu a ministerstva 
policie (Die Organisation und das Archiv der obersten Polizeistelle un 
Polizeiministeriums)1%) Archiv rakouského ústavodárného Fils- 
kého sněmu (1848—1849), rakouské říšské rady (1851—1861) a 
rozmnožené rady říšskě (1800—1861) (Das Archiv des österreichischen 
Konstitutionsreichstages, des österreichischen Reichsrates und des vermehrten 
Reichsrates)**) und Archiv c. k. státní rady 1861—1868 a seznam 
poradních předmětů týkajících se zemi českých a Slo- 
venska (Das Archiv des k.k. Staatsrates und das Verzeichnis der die böhmischen 
Länder und die Slovakei betreffenden Beratungsgegenstände)?1) und schließlich 
der Artikel J. Proke3’s unter dem Titel O vídeňské likvidaci. 
Aktalesk&edvorsk&kanceläte (Über die Wiener Liquidation. Akten 
der böhmischen Hofkanzlei). n) Von diesen Arbeiten sind es besonders die 
Arbeiten Kazbundas, welche ihre richtig aufgefaßte Aufgabe: das umfang- 
reiche Archivmaterial zur modernen Geschichte dem Geschichtsforscher näher- 
zubringen zweckmäßig erfüllen, indem sie einzelne selbständige Archivfonds der 
prone Zentralarchive in Form von Archivmonographien behandeln. Kazbunda 

richt zunächst die Geschichte des Amtes, seine Organisation, Registratur und 
Ardıie um zum Schlusse ein ausführliches Verzeichnis von Bohemica und Slovenica 
beizulegen. 

II. Die heuristischen Aufgaben. Venn auch laut der Prager Archivabrede 
eine große Menge des Archivmaterials von Wien nach Prag gelangte, so ist doch 
immer noch weit mehr davon in Wien zurückgeblieben, denn man konnte natür- 
lich nicht alles, was die böhmischen Länder betrifft, überführen ohne das Grund- 
prinzip der ganzen „Liquidationsarbeit“, das archivalische Provenienzprinzip, zu 
verletzen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als das zurückgebliebene Material 
durch systematische heuristische Arbeit zu erforschen und d planmäßige Ver- 
öffentlichung von Verzeichnissen der Wiener Bohemica der lechoslovakischen Ge- 
ee zugänglich zu machen. Leider ist es der &echoslovakischen Ge- 
schichtsforschung trotz einigen Anläufen bisher nicht gelungen, in Wien aus der 
dortigen £echoslovakischen historischen Auskunftsstelle ein historisches Institut 
auszubilden, welches alle die obenerwähnten heuristischen Aufgaben auf sich 


nehmen würde. 


Inzwischen ist ein ähnliches historisches Institut mit Namen Istituto 
Cecoslovacco in Rom errichtet eorden 29) Allerdings die Cechische histo- 
rische Forschung in Rom fußte schon vor dem Umsturze auf einer festen Grund- 
lage, welche die Arbeit der „Böhmischen Expedition“ geschaffen hat, deren Kosten 
der böhmische Landesausschuß trug. Die Böhmische Expedition, größtenteils aus 
den Beamten des böhmischen Landesarchivs zusammengesetzt, verrichtete während 


17) Časopis archivní školy I (1928), 1—12. 

18) Zprávy českého zemského archivu VI (1925). 

19) Časopis archivní školy I (1928), 18—50. 

2°) Časopis archivní školy II (1924), 44—111. S 

21) Publikace archivu ministerstva zahraničních věci, Rada II, &. 1. 
22) Nové Cechy V. 1 

23) Über dessen Tätigkeit vgl. die Berichte in Časopis archivní školy. 


278 


ihrer etwa zwanzigjährigen Tätigkeit eine schöne Arbeit, wie einige Publikationen 
(s. unten) und eine stroke Amal von Abschriften von den Bohemicis der römi- 
schen Archive und Bibliotheken, die in dem böhmischen Vfg. 
zeugen. Es ist kaum zu leugnen, daß die große Tradition dieser Böhmi 

Expedition zur Errichtung des oslovakischen Instituts in Rom am meisten bei- 
getragen hat. Grundsätzlich wurde dem Institute zur Aufgabe gestellt die all- 
gemeine Unterstützung der wisse tlichen, vor allem historischen Cecho- 
slovakischen Forschung in Italien, hauptsächlich in Rom und zunächst drei 
konkreten Aufgaben: 1. Systematisches Verzeichnis der Bohemica und Slovenica 
der römischen und italienischen Archive; 2. Herausgabe der Berichte der päpst- 
lichen Nunzien auf dem Prager Kaiserhofe seit 1598 an; 8. Herausgabe der 
Slovenica der römischen Archive. Hat man mit dem Verzeichnen der Bohemica 
in Rom schon lange vor dem großen Kriege begonnen, durch die Herausgabe der 
Nunziatur und der Slovenica wurde wesentlich erweitert der ursprüngliche Arbeits- 
plan der Böhmischen Expedition, der zwei großangelegte Publikationen: Monu- 
menta’Vaticana res gestas Bohemicas illustrantia (d. h. die 
Bohemica aus den E Registern des 14. und 15. Jahrhunderts seit 1842; 
neuerdings wurde die Publikation auf den Zeitraum 1816—1842 erweitert) und 
Acta sacrae congregationis de propaganda fide res gestas 
Bohemicas illustrantia (s. unten) aßt. Leider wegen schwieriger 
heuristischen Vorarbeiten konnte bisher nichts von den geplanten Werken aus- 
gegeben werden, wenn man auch schon angefangen hat, schr viel davon zu drucken. 
Von den Arbeiten, die die erste Aufgabe betreffen, ist inzwischen doch eine sehr 
wichtige Arbeit B. Jenlovskys unter dem Titel Knihovna Barbe- 
rinia český vyzkum v Rimé (Bibliothek Barberini und die böhmische 
Forschung in Rom) erschienen, welche über die Fülle der Bohemica in einer der 
vielen römischen Bibliotheken gut informiert.?*) Sonst wird man auf die Publi- 
kation der systematischen heuristischen Arbeit des &echoslovakischen Instituts in 
Rom, sowie auch des Historischen Instituts in Prag (s. unten) noch lange warten 
müssen, denn der Mangel an tüchtigen Arbeitskräften bedrängt sehr stark alle 
techoslovakischen wissenschaftlichen Institute. Außerhalb des Arbeitsplanes dieser 
Institute ist natürlich auch manche heuristische Arbeit erschienen. J. Macürek 
veröffentlichte ein ausführliches Verzeichnis der Bohemica, welche er in den sieben- 
bürgischen Archiven und Bibliotheken gefunden hat, unter dem Titel „Pra- 
meny k ee fee československým v archivech a kni- 
hovnách sedmihradských (Quellen zur čechoslovakishen Geschichte in 
den siebenbürgischen Archiven und Bibliotheken)?5) und Nové příspěvky 
k dějinám československým z archivů a knihoven sed- 
mihradskych (Neue Beiträge zur čechoslovakischen Geschichte aus den 
siebenbürgischen Archiven und Bibliotheken). ) J. Prokeš versuchte in seiner 
Abhandlung Husitika Vatikänsk&knihovny v Rimé (Hussitica der 
Vatikaner Bibliothek in Rom)?”) über die Akten und Traktate zur Geschichte 
des Hussitentums in Jahren 1420—1440, die sich in einigen Handschriften der ge- 
nannten Bibliothek befinden, womöglich vollständig zu informieren und F. Cada 
verzeichnete die für die Geschichte des Rechtes in böhmischen Ländern wichtigsten 
Handschriften, welche in der Wiener Nationalbibliothek aufbewahrt werden, ın 
dem Aufsatze České rukopisy právnické v Národní knihovně 
ve Vidni?) Noch schwieriger ist die heuristishe Vorarbeit zur Geschichte 
der Slovakei, weil in der Sache beinahe alles erst zu tun ist. Den Anfang auf 
diesem Forschungsgebiete versuchte M. Opolenskä4 in ihrem Verzeichnisse 
Slovenika uherských listen v dom, dvor. a stát. archivu 
ve Vídni v období let 1248—1490 (Slovenica in den ungarischen 


ee 20) Zprávy českého zemského archivu VI (1924), vgl. Cas. arch. školy III. 
` 98) Věstník královské české společnosti nauk 1924, VI. 
26) Věstník královské české společnosti nauk 1926, II. 
37) Publikace archivu ministerstva zahraničních věcí II, 8. 
20) Viehrd VII (1925). 


219 


Urkunden des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchives im Zeitraume von 1248 bis 
1490).°) Außer diesen größeren erschienen auch mehrere kleinere, mehr ge- 
legentliche Arbeiten, welche über einzelne Geschichtsquellen berichten. 


III. Die quelleneditorischen Aufgaben. In dem neuen Staate wurde der 
Cechoslovakischen Geschichtsforshung noch eine andere grundsätzliche Auf 
gestellt, nämlich das zweckmäßigste Herausgeben von umfangreichen Geschichts- 
quellensammlungen, welche lange, kostspielige heuristische Vorarbeiten erfordern. 
Vor dem Umsturze war es in böhmischen Ländern das böhmische Landesarchiv 
in Prag, welches sih im Sinne der Wünsche seines großen ründers, 
F. Palacky, mehr dem Sammeln von Abschriften der Quellen zur böhmischen 
Geschichte und deren Herausgeben als den eigentlichen archivalischen Aufgaben: 
dem Ordnen, Inventarisieren und Katalogisieren seiner Fonds widmete. Es hat 
sich aber im Laufe der Zeit in diesem Archive soviel ungemein wichtigen Archiv- 
materials angesammelt, welches geordnet, besonders aber inventarisiert und in ge- 
druckten Katalogen publiziert werden sollte, daß der Gedanke, die quellen- 
editorische Tätigkeit des böhmischen Landesarchivs von seiner archivalischen 
Tätigkeit zu sondern, diese letztere samt den Archivfonds dem Archive zurück- 
zulassen und die erstere samt der überreichen Abschriftensammlung in ein neues 
Institut überzutragen, ganz selbstverständlich war. Dieser Gedanke lag auch zu- 
runde dem Entwurfe V. Hrubys, in Prag ein Staatsinstitut für Geschichts- 
orschung zu errichten, in welches man die quelleneditorishe Tätigkeit des 
böhmischen Landesarchivs samt dessen Abschriftensammlung und womöglich auch 
mit dessen Beamten, soweit sie an den editorischen Arbeiten teilnahmen, über- 
führen und seinen Arbeitsplan um einige neue dringende Aufgaben erweitern 
sollte, so daß das neue Institut zum Mittelpunkte und Grundlage aller čecho- 
slovakischen Geschichtsforschung werden sollte. Die Archivfonds des böhmischen 
Landesarchivs sollten dem neu zu errichtenden éechoslovakischen Nationalarchive 
übergeben werden. Der Plan ist jedoch mißlungen, weil das éechoslovakische 
Nationalarchiv, wie oben gesagt, ausgeblieben und das böhmische Landesarchiv, 
selbst eigentlich ein „historisches Institut“, neben dem inzwischen im Herbste 1920 
errichteten staatlichen historischen Editionsinstitut, Ceskoslavensky státní 
historický ústav vydavatelský v Praze, und als dessen Rival 
weiterhin stehen geblieben ist. Damit ist dem neuen Institute die einzig richtige 
Grundlage seiner Existenz gleich von allem Anfange an genommen und dasselbe 
ist ein Torso geblieben, denn seine Arbeitsgrundlage ist dadurch ungemein stark 
beschränkt worden. Hoffentlich wird es in absehbarer Zeit doch gelingen, die 
quelleneditorische Tätigkeit beider genannten Institute in einem Institute zu ver- 
einigen, was einerseits als eine Grundforderung der Cechoslovakischen Geschichts- 
forschung, andererseits als eine Pflicht zu derselben erscheint. 


Zur ersten Aufgabe stellte man dem neuen historischen Institute die Heraus- 
gabe des Urkundenmaterials zur böhmischen Geschichte im Zeitraume 1846 bis 
1487, wozu manches schon vor dem großen Kriege vorbereitet wurde. Die Auf- 
gabe war um so schwieriger, als für die zweckmäßige Ausgabe des Materials wegen 
seiner Zunahme seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eine neue entsprechende 
Editionsform zu suchen war. V. Hruby schlug vor das umfangreiche Material 
in vier Abteilungen: 1. der königlichen, 2. der bischöflichen, 8. der städtischen 
Urkunden und 4. der Urkunden der Adeligen (um die päpstlichen Urkunden 
handelte es sich nicht, denn jene sind schon in die Urkundensammlung der Monu- 
menta Vaticana aufgenommen) herauszugeben, von denen jede inhaltlich ver- 
wandte und aus bestimmten gut organisierten Kanzleien gen hae Urkunden 
umfassend einen historisch, besonders aber diplomatisch selbständigen Arbeits- 
abschnitt bedeuten würde. Diese Einteilung des Urkundenmaterials, meinte 
Hruby, würde nicht nur eine gründlichere, weil logischere Vorbereitung desselben 
zur Herausgabe, sondern auch ein gründliches diplomatisches Erkennen der könig- 
lichen böhmischen und markgräflich mährischen, sowie auch der böhmischen und 
mährischen bischöflihen und städtischen Kanzleien im 14. und 15. Jahrhundert 
und eine zweckmäßigere Einrichtung der Ausgabe selbst zur Folge haben. Schließ- 


20) Publikace archivu ministerstva zahraničních věcí II, 2. 


280 


lich und besonders würde die erwähnte Einteilung des zu edierenden Materials 
} von den anteilnehmenden Editoren ermöglichen, einen sachlich und forme 
durch das Material selbst, also logisch abgeschlossenen Arbeitsabschnitt zu be- 
arbeiten, wodurch sich jeder der Teilnehmer viel mehr wissenschaftlich für seine 
Arbeit einnehmen könnte, als wenn man die bisher übliche Weise der Ausgabe, 
wie dieselbe in dem bekannten Werke J. Emlers Regesta diplomatica nec non 
epistolaria Bohemiae et Moraviae erscheint, beibehalten würde. Diese Regesta 
häufen das herauszugebende Urkundenmaterial mechanisch in eine chronologische 
Reihe zusammen, also die königlichen, bischöflichen, städtischen und alle übrigen 
Urkunden in ein unorganisches Gemisch. Durch dieses mechanische Reihen so 
verschiedenartigen Materials wäre den Bearbeitern verunmöglicht, dasselbe wissen- 
schaftlich zu durchdringen, und es würde die Gefahr einer mechanischen Arbeit ent- 
stehen, welche der neuen Ausgabe eben so verhängnisvoll wäre, wie sie schon den 
Emlerschen Regesta geworden ist. Trotzdem hat man den Vorschlag Hrubfs nicht 
angenommen, und es wurde beschlossen, die Ausgabe des böhmischen Urkunden- 
materials seit 1846, mit welchem Jahre, dem Todesjahre König Johanns, die 
Emlerschen Regesta abgebrochen wurden, als Fortsetzung derselben Regesta an- 
zusehen. V. Hrubý sollte bearbeiten den Zeitraum seit der Thronbesteigun 
Karls bis zu seiner Kaiserkrönung (1346 Aug. 26 bis 1855 Apr. 5) un 
B. Mend! den folgenden Abschnitt bis zur Krönung Wenzels (1868 Jun. 15). 
Der erste, als er auf die Masarykuniversität in Brünn berufen war, gab seine 
Teilnahme an dem Werke auf und B. Mendl gab schon zwei Hefte seines 
Werkes Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohe- 
miae et Moraviae, pars VI (1855—1868) heraus, welche den Zeit- 
raum 1855 Apr. 5 — 1857 Dez. 7 umfaßt.) V. Hruby widmete sich in- 
zwischen einer anderen Aufgabe, die ebenfalls in den Arbeitsplan des Prager 
Historischen Instituts aufgenommen wurde, der Herausgabe des Archivs der 
böhmischen Krone und konnte zunächst den zweiten Band seines Werkes 
Ärchivum coronae regni Bohcmiae veröffentlichen, welcher die Ur- 
kunden aus den Jahren 1846 — 1855 Apr. 5 bringt. 41) 


Zur zweiten Aufgabe hat das Prager Historische Institut das böhmische 
urkundliche Material des späteren 15. Jahrhunderts herauszugeben. Das ist viel- 
leicht eine noch schwierigere Aufgabe als die erste, denn seit der Mitte des 
15. Jahrhunderts nimmt nicht nur die Anzahl der zu edierenden Schriftstücke 
ungemein zu, sondern auch das Briefmaterial nimmt unter ihnen immer mehr die 
Oberhand, so daß eine 3 Frage auftaucht, wie das ganze umfang- 
reiche Schriftenmaterial durch zweckmäßige Edition der Geschichts forschung zu- 
änglih zu machen sei. Als erste versuchte B. Ry ne lo vi die Aufgabe zu 
ösen, welche in ihrem Werke List ä a fistin It Oldficha 2 Roim- 
berka,1418—1462 (Brief- und Urkundensammlung des Ulrichs von Rosen- 
berg), die richtige Weise gefunden zu haben scheint. Ihre sorgfältige Edition, ge- 
widmet einer der wichtigsten Persönlichkeiten der böhmischen Geschichte ım 
15. Jahrhundert, es Sek zweckmäßig um dieselbe eine große Anzahl von 

litisch bedeutsamen kumenten, welche durch diese neue Zusammenstellung 
ins neue Licht gestellt werden. Ahnlicherweise wird wohl auch das übrige 
böhmische Brief- und Urkundenmaterial des 15. Jahrhunderts in kleinere Gruppen 
einzuteilen sein, von welchen jeder ein bestimmt gefaßter historischer Gedanke 
zugrunde liegen wird. Für das Hauptmaterial aber, d. h. für die Königsurkunden 
und -briefe werden wohl die Regestenwerke doch die entsprechendste Form der 
Edition bleiben, weil bei dem Umfange des Materials die Einrichtung der Edition 
um viel einfacher und dadurch übersichtlicher sein muß und kann als etwa in dem 
Werke von Rynebovi. 

Unter den Publikationen des Prager Historischen Instituts erscheint auch eine 
Serie des groß angelegten Werkes Desky dvorské království českého 
(Hoftafeln des Königreichs Böhmen), in welchem der bekannte Geschichtsforscher 


20) Vgl. Naše věda X, 98—110 und 210—289. 
31) Vg. Cesky časopis historicky 85 (1929), 402—412 und 86 (1930) 
222—281; Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 08 (1929) 879—380. 


281 


G. Friedrich die erhaltenen Quaterne der Hoftafeln aus dem 14. und 15. Jahr- 
hundert in zwei Abteilungen auszugeben beabsichtigt. Eine Abteilung, und zwar 
fünf libri proclamationum, soll im Rahmen der bekannten schon von Palacky be- 
griindeten 5 Archiv Cesky (Cechisches Archiv), deren Redak- 
teur Friedrich ist, und die andere Abteilung: zwei libri citationum, liber 
venditionum, liber inductionum und: liber obligationum im Rahmen der Publika- 
tionen des Historischen Instituts veröffentlicht werden. Von beiden Abteilungen ist 
bisher je der erste Band erschienen: První kniha provolaci z let 1880 
bis 81 (Erstes Ausrufungsbuch aus den Jahren 1 1)22) und Prvnikniha 

ühonnd z let 1883 — 1407 (Erstes Vorladungsbuch aus den Jahren 1888 
Bis 1407). 

Ober den Arbeitsplan des Historischen Instituts, wie sich denselben das 
Institut in den ersten fünf Jahren unter der Leitung V. Hrubys gebildet hat, 
berichtet Hrubys Nachfolger J. B. Novák in seinem Artikel O programu 
státního historického ústavu vydavatelského v Praze 
das Programm des staatl. historischen Editionsinstituts in Prag), ) wo außerdem 
als weitere Aufgaben des Instituts die Regesten des böhmischen Königs Johann 
(1810—1846) und die Ausgabe der böhmischen Landtafeln hingestellt werden. Diese 
letztere Aufgabe erscheint aber als ungemein schwierig und vorläufig wenig 
konkret. Auf Anlaß des Historischen Instituts wurde im Jahre 1928 die Zeit- 
schrift Casopisarcivnf!tkoly (Zeitschrift der 355 BER oa die 
als gemeinsames Organ des Instituts und der Archivschule über das decho- 
slovakische Archivwesen und heuristischen Arbeiten zu berichten hat. 


Neben dem Historischen Institute setzten natürlich auch die älteren Institute 
in Prag und Brünn ihre quelleneditorische Tätigkeit nach festem Arbeitsplane fort. 
Das böhmische Landesarchiv veröffentlichte im Jahre 1928 den ersten 
Band des großen Werkes Acta sacrae ö de propa- 
ganda fide res gestas Bohemicas illustrantia,®®) cliches die 
Bohemica aus dem Archive der zur Abwehr der katholischen Religion im Jahre 
1622 errichteten Kongregation umfassen soll. H. Kolman hat dieses Archiv bis 
zum Jahre 1800 hinauf durch langjährige mühsame Arbeit durchforscht, konnte 
jedoch in dem genannten Bande erst ein unbedeutendes Bruchstük von den 
18000 Abschriften, die er heimgebracht hat, abdrucken, denn seine Edition ist 
musterhaft vorbereitet. J. B. Novák gab im Jahre 1929 heraus den zweiten 
umfangreichen Band (741 Textseiten + 125 S. Einleitung in 4°) seiner großen 
Edition Sn&my roku 1611 (Landtage vom Jahre 1611), die den 15. Band der 
Hauptpublikaton des böhmischen Landesarchivs der Sn E my české od léta 
1526 a% po na li doba (Böhmische Landtage vom Jahre 1526 bis auf unsere 
Zeit) bildet. Eine ungewöhnliche Fülle von wichtigem Quellenmaterial wurde hier 
mit gleich ungewöhnlicher Sorgfalt bearbeitet, so daß die Werke Kolmans und 
Noviks als zwei der besten Cechoslovakischen Quelleneditionen anzusehen sind. 
Auch die Cehishe Akademie der Wissenschaften und der 
Kunst hat das ihrige beigesteuert. In ihrer Sbírka pramenů českého 
hnutí náboženského ve 14 a 15. století (Quellensammlung der 
böhmischen Religionsbewegung im 14. und 15. Jahrhundert) veröffentlichten V. 
Novotny im Jahre 1920 seine Arbeit Mistra Jana Husi korespon- 
dence a dokumenty (Magister Johann Hus’ Korrespondenz und Dokumente) 
und V. Kybal mit O. Odložilík im Jahre 1926 den fünften Band der 
Publikation Matéje z Janova mistra Pařížského Regulae Ve- 
teris et Novi testamenti (Mathias’ von Janov des Pariser Meisters Re- 
gulae V. et N. t.), worin schon betont wird, daß die Grundlage der Edition, die 
Kybal ursprünglich unbekannte Handschrift Nr. 211 der Olmützer Kapitel- 
bibliothek bilden sollte. Neue Quellen zur Geschichte der volkstümlichen Re- 
ligionsbewegung im 18. Jahrhundert brachten der zweite abschließende Band der 


32) Archiv Český, B. 81, 1921. 

33) Desky dvorské království českého, B. VII, 1929. 

34) Časopis archivní školy III, 120—185. RECH 

33) Vgl. Časopis archivní školy III, 158, Cesky časopis historický 30 (1924). 


282 


Sammlung Listiny k dějinám lidového hnutí náboženského na 
českém východě v XVIII a XIX. věku (Urkunden zur Geschichte der 
volkstümlichen Religionsbewegung in böhmishem Osten im 18. und 19. Jahr- 
hundert) s) von K. V. Adámek und der erste Band der Sammlung Listář 
k dé jin am náboženských blouznivců deskfch v století 
XVIII. a XIX. (Dokumentensammlung zur Geschichte der böhmischen Reli- 
gionsschwärmer im 18. und 19. Jahrhundert)?”) von J. V. Šimák. Die Histo- 
rishe Kommission der Matice Moravská in Brünn gab im Jahre 
1928 den zweiten Band der von J. Bidlo sehr schön besorgten Publikation 
Akty Jednoty Bratrské (Akten der Brüderunität) aus, welcher den ersten 
Band der Blahoslausschen Sammlung umfaßt. Historický spolek v Praze 
(Historischer Verein in Prag) besorgte weitere Bände der Edition Zpov&dni 
seznamy arcidiecése Prazké z let 1671—1725 (Beichteverzeichnissc 
der Prager Erzdiözese aus den Jahren 1671—1725), so daß im Jahre 1918 ein den 
Chrudimer und Cäslauer Kreis und im Jahre 1928 ein den Bechiner Kreis be- 
treffender Band erscheinen konnte, beide von J. V. Šim ák bearbeitet, und einen 
weiteren Band der Edition Dopisy kons is tote podobojſz let 1609 
bis 1619 (Briefe des utraquistischen Konsistoriums aus den Jahren 1609—1619) 
von F. Tischer. Besonders zu erwähnen ist die unermüdliche bs cay A. 
Podlahas, der außer seinen oben schon erwähnten Katalogen im Jahre 1927 
die Aus des sechsten Erectionsbuches der Prager Erzdiözese (— Registerband 
von Stiftungsurkunden der Kirchen, Kapellen und Altäre) unter dem Titel Libri 
erectionumarchidioecesis PragensissaeculoXIV.et X V., 
tomus VI, abgeschlossen hat. 

Außer diesen großen Quellenpublikationen hat man gelegentlich auch manche 
kleinere Quelle veröffentlicht, was unsere rsicht, die nur die Grundideen der 
Entwicklung der Cechoslovakischen heuristischen Arbeit vor Augen hat, beiseite 
läßt. Aus demselben Grunde sind in dem vorangehenden Absatze fast nur die 
Namen angeführt, denn darin handelt es sich um Arbeiten, deren Ursprung schon 
vor dem großen Kriege zu suchen ist, nicht erst in dem ersten Dezennium der 


éechoslovakischen Republik, 


26) Historicky archiv Ceské akademie, nr A8. 
37) Historický archiv České akademie, nr 46. 


283 


19 NP 6 


NEUERE LITERATUR ZUR KIRCHENGESCHICHTE 
POLENS 


Von 
Karl Volker. 
Die von dem Schreiber dieser Zeilen in seinem letzten Literatur- 


bericht (N.F. Bd. IV, Heft 2, 1928, S. 233—276) 5 Vor- 
bedingungen für den Aufschwung der polnischen Geschichtsforschung 
bestehen weiter fort. Die Neubelebung des historischen Studiums in 
Polen kommt nach wie vor nicht minder der Kirchengeschichts- 
schreibung zustatten. Bei dem erhöhten Interesse für die Ostfragen 
ergibt es sich von selbst, daß auch außerhalb Polens dieses Forschungs- 
gebiet Beachtung findet, wenn auch begreiflicherweise der Schwer- 
punkt der wissenschaftlichen Arbeit in Polen selbst liegt. Eine wich- 
tige Voraussetzung für die Zuverlässigkeit der historischen Forschung 
bildet das geordnete Archivwesen. Die Aufforderung des 
Kardinal- Staatssekretärs vom 15. April 1923 an die italienischen 
Bischöfe, bei ihren Visitationen auf die Erhaltung aller kirchlichen 
Altertümer Bedacht zu nehmen, fand bei dem Archivar der Prze- 
mysler röm.-kath. Diözese, Jan Kwolek, williges Gehör. Der- 
selbe begnügte sich nicht damit, in dem ihm anvertrauten Virkungs- 
kreis Ordnung zu schaffen. Durch seine Studie über „Die Archive 
der Przemysler Diözese des lateinischen Ritus“, ) worin er im Rahmen 
einer historischen Skizze über die einstigen und derzeitigen archi- 
valischen Bestände des bischöflichen Sprengels berichtet, möchte er 
das kirchliche Archivwesen in Polen überhaupt in Schwung bringen, 
wie seine Programmschrift über „Die wissenschaftliche Organisation 
der Diözesanarchive“?) zeigt. Die Aufbewahrung historischer Nach- 
richten soll aber nach K. nicht Selbstzweck sein, sondern historische 
Darstellungen, die sich in Przemysl tatsächlich aus erhöhter archi- 
valischer Sorgfalt wiederholt ergeben haben, in die Vege leiten. Die 
umsichtige Arbeit K.s spiegelt zugleich die wechselvolle Geschichte 
der Przemysler Diözese wider. Aus den gedruckt vorliegenden 
Tätigkeitsberichten des Archivars über die Zeit von 1927 bis 1929 
mit seinem Ausweis über die Neuerwerbungen geht hervor, daß es 
sich hier um ein ernstes wissenschaftliches Unternehmen, dem allge- 
meine Nachahmung zu wünschen wäre, handelt. — Mit der Er- 


1) Archiwa diecezji przemyskiej ob. lad. Im Anhang: Statut i regulamin 
archiwum diecezjalnego. Przemyśl. Verlag des Archivs, 1927. 

2) „Naukowa organizacja archiwów diecezjalnych“. Sonderabdruck aus 
Nr. 4. Warschau 1928. S. 21. 


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schließung der Archive ist nur eine „der Bedingungen der Arbeit an 
der Kirchengeschichte Polens“, ) über die sih Josef Uminski 
im Blick auf die allseitige Erfassung des Gegenstandes ausläßt, erfüllt. 

Für die Anfänge der Kirche in Polen sind Unter- 
suchungen über den Ursprung der polnischen Staatlichkeit und Kultur 
von Wichtigkeit. In dieser Hinsicht enthält die Festschrift‘) anläß- 
lich des 70. Geburtstages des Altmeisters der Slavistik, Alexander 
Brückners, beachtenswerte Beitrige. Kazimierz Tymie- 
niecki entscheidet die Frage „Geschlecht und Staat im ursprüng- 
lichen Polen?) dahin, es hätten sich zwei Hauptgruppen, eine 
kleinere, das Geschlecht, und eine größere, der Stamm, nebeneinander 
herausgebildet, aus deren Wechselwirkung sich die weiteren Ver- 
bindungen ergeben haben. Mit dieser Auffassung tritt er der üb- 
ichen Schematisierung der einzelnen Entwicklungsstufen entgegen. 
Zur Zeit der Christianisierung Polens war zwar der Staatsbegriff 
daselbst bereits ausgeprägt, für die Gestaltung der vorchristlichen 
Stammesreligion wurde jedoch das gegenseitige Verhältnis der slavi- 
schen Verbände mit bestimmend. — Eugen Kucharski sucht 
dem „Rätsel der polnischen Stämme“) näherzukommen, indem er 
in den Praedenecenti der fränkischen Jahrbücher (824) „das ursprüng- 
liche Masovien“ vermutet. Zu diesem Ergebnis gelangt er einerseits 
mit Hilfe der Sprachvergleichung, andererseits unter Berücksichtigung 
der wirtschaftlichen und geographischen Begleitumstände des be- 
treffenden Landstriches. Die Bezeichnung iudex im Dokument 
„Dagome iudex“ erklärt er dabei als Latinisierung des slavischen 
Fürstentitels „Sadek“, der Mieszko I. beigelegt wurde. — Auf dieses 
rätselhafte Schriftstück greift auch Mikolaj Rudnicki zurück, 
dessen Untersuchung „F Dagome iudex und die wagrische Podaga“) 
wir hier gleich erwähnen. Den Namen „Dagome“ leitet er von der 
obotritischen Gottheit Podaga, die in der Familie der Piasten ver- 
ehrt wurde, ab. Indem Mieszko sich in dem Schreiben an den Papst 
mit diesem Namen, den er von seiner Mutter her hatte, einführte, 
habe er zugleich Anspruch auf das Land erhoben. In den fränkischen 
Jahrbüchern heißt es: „Abodriti, qui vulgo Praedenecenti vocantur.“ 
K. und R. stimmen also darin überein, daß sie zur Erschließung der 
Anfänge der polnischen Staatlichkeit auf die Beziehungen der ost- 
elbischen Slavenstämme in der vorchristlichen Zeit zurückgreifen. Die 
in diesem Zusammenhang unternommenen Erklärungsversuche beider 
hinsichtlich des kirchenhistorisch wichtigen Dokumentes „Dagome 
iudex“ sind unbefriedigend. Ganz abgesehen davon, daß es nicht von 
der Hand zu weisen ist, ob unter Dagome nicht doch Boleslaw 


2) O warunkach p nad historyq kościoła w Polsce. Sonderabdruck aus 
„Archaion“. Nr. 4. Wa u 1928. S. 21. 

) Studja Staropolskie. Krakau 1928. 

8) Ród i państwo w Polsce pierwotnej. S. 3—9. 

e) Mazowsze pierwotne i zagadnienie szczepów polskich. S. 27—68. 

7) Pols. Dagome iudex i wagryjska Podaga. In: Slavia occidentalis. 
VII, 1928. S. 185—165. 


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Chrobry zu verstehen sei, erscheint die Verbindung von Dagome und 
Podaga ebenso zweifelhaft wie die Erklärung des iudex aus einem 
angeblichen Titel des Polenherzogs. Gegeniiber solchen geistreichen 
Kombinationen ist, auch wenn sie mit so viel Scharfsinn, wie in diesen 
beiden Fällen angestellt werden, die Vorsiht am Platze, zu der 
Marceli Handelsmann in seinen „Randbemerkungen zu 
unserer neuesten Literatur über die älteste Geschichte Polens“) er- 
mahnt. Es muß andererseits der Forschung unbenommen bleiben, 
jeden ihr gangbar erscheinenden Weg zu betreten, um die Wahrheit 
zu ergründen. 

Auf sichererem Boden bewegt sich die Wissenschaft bei der Be- 
handlung der Anfänge der polnischen Kultur; umstritten ist aber ihr 
Ausgangspunkt. Entgegen der s. g. großpolnischen Hypothese, 
die das polnische Geistesleben von Gnesen, dem Mittelpunkt des 
Kirchentums, ausgehen läßt, sucht Johann Dabrowski die Frage 
„Um die Wiege der polnischen Kultur“) dahin zu beantworten, daß 
man mehrere Zentren, worunter Krakau eine hervorragende Rolle 
zukomme, annehmen müsse. Dabei macht er auch auf kirchen- 
politische Begleitumstände aufmerksam, besonders die Erneuerung des 
Kirchenwesens in Polen unter Kasimir, dem Restaurator, nach dem 
heidnischen Rückschlag von Krakau aus — Erzbischof Aron —, was 
unerklärlich sei, wenn nicht die kleinpolnische Kirche gewisse Vor- 
bedingungen hierzu von Haus aus aufgewiesen hätte. Die Bedeutung 
von Posen-Gnesen für das Reichsganze dürfe man auch unter Boleslaw 
Chrobry nicht überschätzen, da der Hof seinen Aufenthalt dauernd 
wechselte; ebenso sei es unangebracht, auf den polnisch- nationalen 
Einfluß des hohen Klerus, vor allem des Gnesener Metropoliten, vor 
dem 13. Jahrhundert den Nachdruck zu legen, da die hohen geist- 
lichen Würdenträger mit ganz geringen Ausnahmen vorher Aus- 
lander waren. Es ginge nicht an, Verhältnisse, die sich im 13. Jahr- 
hundert vorübergehend zugunsten Großpolens gestalteten, bereits 
zwei Jahrhunderte vorher als gegeben anzunehmen. Die Aus- 
führungen sind sicherlich geeignet, einseitigen Ubertreibungen vorzu- 
beugen; zugunsten Krakaus müßte er allerdings ein konkreteres Tat- 
sachenmaterial erbringen, da Kasimirs I. kleinpolnische Einstellung 
in erster Linie durch die politische und nicht die kulturelle Gesamt- 
lage bedingt war. In Anbetracht der nahezu ausschließlichen kirch- 
lichen Bindungen des polnischen Kulturlebens wird man doch an der 
Tatsache nicht vorbeigehen dürfen, daß der Gnesener Metropolitan- 
stuhl trotz der Katastrophe nach dem Tode Boleslaw Chrobrys seine 
Vormachtstellung bald wieder zu behaupten vermochte. Und in 
Krakau macht sich nicht minder ausländischer Kultureinfluß — Aron 
kam von Köln — bemerkbar. Immerhin führte bei Untersuchungen 
dieser Art das sowohl als auch D.s weiter als der Entweder-oder- 
Standpunkt. 


®) Na marginesie naszej najnowszej literatury o najdawnicjszych dziejach 
Polski. Brücner-Festschrift S. 64—70 


) O kolebkę kultury polskiej. Ebd. S. 10—26. 
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Mit Hilfe der von D. abgelehnten philologischen Methode sucht 
Eduard Klich die Auswirkung des Christentums im polnischen 
Geistesleben in anderer Weise durch die Klarstellung der „Polnischen 
christlichen Terminologie“) darzutun. Durch die 1876 erschienene 
Untersuchung von Miklosich über „die christliche Terminologie der 
slavischen Sprachen“ angeregt, stellt er in alphabetischer Reihenfolge 
siebzig der gebräuchlichsten Ausdrücke aus dem polnischen religiösen 
Sprachgebrauch mit ihren Abwandlungen zusammen, um alsdann ihre 
Entstehung zu erklären. Das Wörterbüclein erhält durch den 
Stellennachweis aus dem bis 1500 in Polen entstandenen Schrifttum, 
das der Verfasser unter eingehender Berücksichtigung der ein- 
schlägigen Literatur daraufhin geprüft hat, einen erhöhten Wert. 
Bei der näheren sprachwissenschaftlichen Untersuchung der einzelnen 
Wortbildungen ne: K. zu dem Ergebnis, daß Polen seine christ- 
liche Terminologie in der Hauptsache aus dem Tschechischen her- 
übergenommen habe; von den 70 Termini nimmt er bei 56 unmittel- 
bare tschechische Herkunft an und nur bei 16 anderweitige Ent- 
lehnung; in erster Linie aus dem Lateinischen, und zwar in einem 
späteren Zeitpunkt, als das polnische Christentum bereits einen aus- 
gesprochenen römisch katholischen Grundcharakter angenommen 
hatte. Die deutschen, besonders hochdeutschen, orientalischen und 
romanischen Wortbildungen läßt K. auf dem Umwege über das 
Tschechische in den Sprachgebrauch Polens eindringen. Letzten Endes 
erscheint aber auch die tschechische Kirchensprache nicht als ein selb- 
ständiges Gebilde, sondern in unmittelbarer Abhängigkeit von der 
durch die Slavenapostel Cyrill und Methodius geschaffenen alt- 
slavischen Ausdrucksweise. Wenn man auch in Einzelheiten anderer 
Meinung sein kann, so wird man doch K. im großen und ganzen zu- 
stimmen dürfen, zumal er gewagten voreiligen Rückschlüssen auf die 
allgemeine Gestaltung des polnischen Kirchentums ausweicht. Er läßt 
selbst die vielfach bejahte Frage offen, ob in Polen vor dem Über- 
tritt Mieszkos zum Christentum eine altslavische Kirchenbildung be- 
standen hätte. Es leuchtet durchaus ein, daß sich die Missionare, auch 
wenn sie von Deutschland kamen, der Begriffsbestimmungen der be- 
nachbarten christlichen Tschechen, aus ae Reihen übrigens die 
christliche Gemahlin Mieszkos stammte, bedienten. 

K.s Untersuchung stellt uns auf den Boden der Missions- 
geschichte. Sie geht auch der Frage nach, wie bei den Slaven die 
heidnische Vorstellungswelt durch die der neuen Religion angepaßten 
Wortbildungen zurückgedrängt wurde. Das christianisierte Polen 
empfand die Bekehrung der heidnischen stammesverwandten Nach- 
barn ebenfalls als pflichtmäßige Aufgabe. Da es aber aus sich her- 
aus die hierzu erforderlichen Kräfte nicht hervorzubringen ver- 
mochte, mußte es sich darauf beschränken, auswärtige Missionsunter- 
nehmungen zu unterstützen. Pommern und Preußen wurden auf 
diese Weise dem Christentum zugeführt. 


10) Polska ER Ap chrzefciahska. Posen 1927. Verlag des Towarzystwo 
Poznańskie przyjaciół? nauk. 


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„Das Leben des Bischofs Otto von Bamberg von einem 
Prüfeninger Mönch“, ) übersetzt und eingeleitet von A. Hof- 
meister, vermittelt von der Pommern-Mission einen un- 
mittelbaren Eindruck. Es handelt sich hier um eine Biographie, die 
in dem bei Regensburg von Otto selbst begründeten Kloster Prü- 
fening von einem mit seinem Helden wohl persönlich bekannten 
Mönd in der Zeit von 1140—1146 zum Zwecke der Vorbereitung 
seiner Heiligsprechung niedergeschrieben wurde. Ungeachtet der 
Wundergläubigkeit des Biographen, die derselbe übrigens mit seiner 
Zeit teilt, und einzelner von H. aufgedeckten Ungenauigkeiten ent- 
hält die erst in der letzten Zeit in ihrem Wert richtig erkannte 
Lebensgeschichte gerade über das Verhältnis Ottos zum polnischen 
Hof sowie über die beiden Pommernfahrten desselben gut beglaubigte 
Nachrichten. Die Missionstätigkeit des Bischofs beherrscht entchieden 
die ganze Darstellung, die sich zweifelsohne auf Berichte von Augen- 
zeugen stützt. H. legt seiner Übersetzung die von ihm selbst auf 
Grund von drei Handschriften in kritischer Sichtung der Über- 
lieferung 1924 besorgte Ausgabe anläßlich der 800 jährıgen Gedenk- 
feier der Einführung des Christentums in Pommern zugrunde. 

Auf diese Lebensgeschichte Ottos von Bamberg nimmt auch die 
Schrift von Pierre David „La Pologne et l’evangelisation de la 
Pomeranie aux XIe et XIIe siècles“) Bezug. Die Arbeit verfolgt auch 
eine ee Abzweckung: die Begriindung des moralischen An- 
spruchs Polens auf den Korridor und Pommerellen. Die Christiani- 
sierung des Landes wird als eine Angelegenheit der polnischen Krone, 
wenn auch mit Zuhilfenahme ausländischer Missionare, um deren 
Friichte sie Kaiser Lothar gebracht habe, hingestellt. Unter voller 
Anerkennung der Missionserfolge Ottos von Bamberg, dessen gute 
Beziehungen zu Boleslaw Schiefmund und dem polnischen Klerus 
unterstrichen werden, ist der Verf. sichtlich bemüht, auch den Anteil 
Frankreichs an der Gewinnung Pommerns für das Christentum 
hervorzukehren. In der Person des bei Gallus als „eines episcopus 
Poloniensis“ erwähnten Franco, auf dessen Rat Wladyslaw Hermann 
und seine Gemahlin Judith zum hl. Agidius an die Rhone gewall- 
fahrt sind, erblickt er die Persönlichkeit romanischer Herkunft, die 
vor dem Auftreten des Bamberger Bischofs die Bekehrung Pommerns 
ins Auge gefaßt habe. Die Aufhellung der Personalien desselben 
bildet das eigentliche Kernstück der Untersuchung. Seinen Ausgangs- 
punkt nimmt er von der Feststellung, daß der bei Gallus namhaft 
gemachte Franco identisch sei mit dem in der Chronik des Klosters 
von St. Hubert in den Ardennen im Jahre 1064 hervorgehobenen 
„episcopus Bellagradensis“ gleichen Namens. Unter dieser Stadt- 
bezeichnung vermutet er Belgard in Pommern. Die Bezeichnung 
„episcopus Poloniensis“ bei Gallus erklärt er unter Heranziehung von 


11) In „Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit“. Bd. 96, Leipzig. ksche 
Buchhandlung. 1928. er 


12) Etudes historiques et littéraires sur la Palogne médiévale. Paris. 
Gebethner & Wolff. 1928. 


288 


Analogien dahin, es handele sich um einen Misstonsbischof ohne einen 
festen Bischofssitz. Franco habe sich als fiir die Glaubensarbeit in 
Pommern bestimmter Missionar den Bischofstitel nach der Haupt- 
stadt seines Missionsgebietes beigelegt. Selbst wenn die von dem Verf. 
aufgestellten Behauptungen den Tatsachen entsprechen, so ist damit 
für die Missionsgeschichte Pommerns nicht viel gewonnen, da der 
Verf. über die Bekehrungsarbeit des Franco in Pommern: keine 
näheren Angaben zu machen vermag. Immerhin besteht die Mög- 
lichkeit, daß die französischen Benediktiner Missionsfäden über Polen 
nach Pommern gesponnen haben. Es scheint aber nicht viel dabei 
herausgekommen zu sein, da Boleslaw Schiefmund den deutschen 
Bischof Otto von Bamberg heranzog, um mit Erfolg durch- 
zugreifen. 

Die Preußenmission hat Polen mit dem Deutschen 
Ritterorden in Konflikt gebracht, wodurch die Kirchengeschichte 
dieser Gebiete auf Jahrhunderte bestimmt wurde. Erich 
Maschkes Studie „Der Deutsche Orden und die Preußen“) 
schildert die äußeren Umstände, unter denen sich der Orden an der 
Ostsee festgesetzt hat. Es ergab sich dabei von selbst, daß er die 
von demselben angewandte Missionsmethode in den Vordergrund 
seiner Erörterung rückte. Gewaltsame Heidenbekehrung mit dem 
Schwert, wie sie aus Augustins de civitate Dei, wonach die Heiden- 
welt als Teufelsmasse unwirksam gemacht werden sollte, abgeleitet 
wurde, oder friedliche Gewinnung der Heiden für die Religion Jesu 
Christi? Die päpstliche Missionspolitik neigte immer mehr der 
letzteren Auffassung zu, wobei sie seit Innozenz III. darauf Bedacht 
nahm, das gesamte Missionsgebiet zu einem dem päpstlichen Stuhle 
unmittelbar unterstellten Missionsstaat auszugestalten, während der 
Ritterorden es von vornherein auf die Eroberung des Preußenlandes 
abgesehen hatte, welches Ziel sich am besten auf Grund der Idee einer 
gewaltsamen FHeidenmission mit dem Schwert erreichen ließ. 
Spannungen zwischen den beiden Machtkreisen waren unter diesen 
Umständen unvermeidlich. Der Verf. veranschaulicht die Schwierig- 
keiten, in die der Orden infolgedessen geraten war, durch den Ver- 
gleich mit der Bekehrungsarbeit im benachbarten Wirkungskreis des 
Bischofs von Riga und der Schwertbrüder. An der Sendung des 
pästlichen Legaten Wilhelm von Modena, der den Streit zwischen 
den deutschen und dänischen Missionaren daselbst im Sinne der 
päpstlichen Missionspolitik zu schlichten suchte, sowie an den Be- 
mühungen des flandrischen Mönchs Balduin von Alma, der die 
Hemmungen in der estnischen und livischen Mission zugunsten des 
pästlichen Stuhles auszunutzen trachtete, verdeutlicht M. den Unter- 
schied zwischen der beiderseitigen Missionstaktik, der auch in die 
Augen springt, wenn man die Abmachungen Balduins in Kurland 
mit dem Christburger Vertrag, den der Orden am 7. Februar 1245 
mit den Preußen schloß, vergleicht: Dort die unmittelbare Unter- 


13) In: Historische Studien. Heft 176. Berlin, E. Ebering, 1928. 


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werfung der Getauften unter den päpstlichen Stuhl, hier ein aus- 
gesprochenes Untertanenverhältnis, das allerdings infolge der Auf- 
stände im Laufe der Zeit stark zuungunsten der Niedergeworfenen 
verschoben wurde. Die Begünstigung der an den Erhebungen un- 
beteiligten Preußen sowie die ec deutscher Kolonisten im 
Ordensland erscheint, wie der Verf. zeigt, ebenfalls als Ausfluß der 
Missionsidee des Ordens. Mit der Christianisierung des Landes 
war derselben allerdings der Boden entzogen, was Polen- 
Litauen im Zeitalter der Reformkonzile gegen die Daseinsberech- 
tigung der Deutschen Ritter auch geltend machte. Die historische 
Gestaltung der Dinge brachte demnach den Orden mit den Voraus- 
setzungen seiner Staatsgründung in Widerspruh. Das Verhältnis 
des Ordens zu Polen streift der Verf. nur beiläufig. Zum Ver- 
ständnis der Ordenspolitik der Jagiellonen tragen aber seine Fest- 
stellungen nicht wenig bei. Der Verf. hätte noch hinzufügen 
können, daß der Anschluß des Ordenslandes an die lutherische Refor- 
mation unter den von ihm geltend gemachten Umständen als ein ge- 
glückter Versuch zu bewerten sei, aus dem Viderspruch, in den der 
Orden zu seiner Ursprungsidee geraten war, herauszukommen. 
Verf. bemerkt, daß noch der alte Sigismund die Verwendung des 
Ordens zur Türkenbekehrung in Erwägung gezogen habe. — Eine 
Episode, die Verf. „wie ein Vorspiel zu Er geistigen und diplo- 
matischen Sieg Jagiellos anmutet“, nämlich „Die Bekehrung Gedi- 
mins“, “) macht V. Forstreuter zum Gegenstand einer be- 
sonderen Untersuchung. Der litauische Großfürst trat bekanntlich 
zum Schein zum Christentum über, um sich mit Hilfe der Kurie der 
Bedrängung durch den Ritterorden zu erwehren. Es wurde die in 
der Folgezeit erörterte Frage aufgeworfen, ob der Orden überhaupt 
berechtigt sei, gegen ein christliches Litauen anzukämpfen. 

Die Missionsgeschichte ist eng verknüpft mit der Geschichte 
der Diözesen, insofern bei der Gewinnung von Neuland für das 
Christentum die Frage der hierarchischen Einordnung desselben sich 
von selbst aufwarf. Bron is law Włodarski verweist darauf 
in der Untersuchung des nach seiner Meinung allerdings gefälschten 
„Angeblichen Dokuments des Pommernherzogs Swieropelk a. d. Jahre 
1180) woselbst Rechtsansprüche des Gnesener Metropolitan- 
stuhles auf Gebiete des Bistums Kammin erhoben werden. V. ver- 
mutet wohl mit Recht, daß die Fälschung 1236 in der erzbischöf- 
lichen Kanzlei zu Gnesen begangen worden sei. Uber „Die Zu- 
gehörigkeit der Breslauer Diözese zur Provinz Gnesen?) handelt 
M. Vojt as. Rechtlich habe dieses Verhältnis erst durch die Bulle 
De Salute animarum v. 16. VI. 1821 zu bestehen aufgehört; jedoch 


18) „Die Bekehrung Gedimins und der Deutsche Orden.“ In: Altpreuß. 
Forschungen. 5, 1928. S. 289—61. 

18) Rzekomy dokument Świętopełka pomorskiego z 1180 r. In: Roczniki 
historyczne V, 1929, S. 1—16. 

16) Bulletin internat. de l’academie polonaise des sciences et des lettres. 


Nr. 1—8, 1928, S. 35—41 (Deutscher Bericht). 
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seien die Beziehungen. zwischen Breslau und Gnesen mit der fort- 
schreitenden Eindeutschung Schlesiens seit dem Tode des letzten 
polnischen Bischofs Nanker (1341) immer losere geworden; nur im 
Reformationszeitalter sei unter dem Eindruck der vom Luthertum 
drohenden Gefahr eine vorübergehende Annäherung erfolgt. An 
einer Reihe von Beispielen zeigt W., daß die Verbindung dennoch 
nie ganz aufgehört habe. Den angeblichen Verzicht Sigismund II. 
vom 25. Mai 1624 auf die Einmischung in die Breslauer Diözese hält 
er für historisch nicht erwiesen. In diesem Zusammenhang sei an 
Franz Seppelts Vortrag über „Die Epochen der Breslauer Bis- 
tumsgeschichte im Mittelalter) mit dem Hinweis auf den Aufstieg 
des Bischofsstuhles in der Zeit der deutschen Besiedlung des Landes 
erinnert. 

Von den Diözesen Polens hat in der letzten Zeit die von 
Culm (Chetmo) die ausgiebigste literarische Behandlung er- 
fahren. Der von der bischöflichen Kurie herausgegebene umfassende 
„historisch-statistische Grundriß über „Die Culmer Diözese“, “) ein 
Sammelwerk, bietet im allgemeinen Teil eine Ubersicht über die Ge- 
staltung des Bistums in der Vergangenheit nach den verschiedensten 
Richtungen, im besonderen ein Bild von seiner derzeitigen Lage, wo- 
bei auch hier 2. B. bei der Kathedralkirche, dem Priesterseminar, 
den einzelnen Dekanaten usf. historische Notizen eingestreut 
werden. Die Namen Glemmas, Czaplewskis und Mahkowskis unter 
den Mitarbeitern verbürgen einen guten Unterbau der historischen 
Partien des Buches, das der Geschichtsforschung ebenso wie der kirch- 
lichen Praxis einen Dienst erweisen möchte. Über die äußere Ge- 
schichte des 1243 begründeten und 1824 von Culm nach Pelplin ver- 
legten Bistums, über seine kirchenregimentliche Zugehörigkeit, über die 
einzelnen zur Diözese gehörenden Landstriche, darunter Pomesamien 
und Pommerellen, über das Zustandekommen des Kirchenvermögens, 
über die 55 Bischöfe, die Suffraganbischöfe, das Domkapitel, die 
Synoden, das Ordens- und Schulwesen, über die Heiligen des bischöf- 
lichen Sprengels, die Bruderschaften u. dgl. m. werden historisch zu- 
verlässige Angaben mitgeteilt. In einem besonderen Abschnitt wird 
der Verlauf der Reformation und Gegenreformation erzählt. Biblio- 
graphische Zusammenstellungen erhöhen den wissenschaftlichen Wert 
des Buches, das auch in andern Diözesen, nicht zuletzt im Inter- 
csse der Förderung historischer Kenntnisse, Nachahmung finden 
sollte. — Eine Begebenheit aus der Geschichte eines heute zur 
Culmer Diözese gehörenden Teilgebietes, „Den Kampf des Deutschen 
Ritterordens um die kirchliche Zugehörigkeit des Archidiakonates 
Pommerellen“, “) schildert in einer besonderen Studie Kazimierz 


17) In: Zeitschrift für Geschichte Schlesiens 61, S. 1—11. 
Š on Diecezja chelminska. Zarys historyczno—statystyczny. Pelplin 1928, 
l i9) Walka zakonu krzyżackiego z Polską o przynależność archidiakonatu 
on jego. In: Roczniki towarzystwa naukowego w Toruniu. 84, 1927, 
. 1 . 


291 


Bieszk. Es sei vorausgeschickt, daß der hier in Frage kommende 
Landstrich damals zur Dibzese Wioclawek gehörte und erst 1818 
Culm angegliedert wurde. B. legt folgenden Sachverhalt dar: Nach 
der Eroberung des östlichen Pommern im Jahre 1309 war der Ordens- 
en rebt, daselbst in kirchlicher Hinsicht die landes- 

errlichen Rechte, die er im übrigen Ordensland ausübte, gegen die 
Rechtsansprüche des zuständigen Bischofs von Wioclawek sich an- 
zueignen; durch die Errichtung eines selbständigen Bistums in 
Pommerellen hätte er dieses Ziel am sichersten erreicht. Der 1343 
zustandegekommene Friedensschluß mit Kasimir d. Gr., der das 
strittige Gebiet dem Orden endgültig überließ, schien diesen Plan 
der Verwirklichung näherzubringen. Aus politischen Gründen war 
aber die Kurie dafür nicht er sondern e sich lediglich 
damit, daß sie den 1421 zum Bischof von Wioclawek gewählten 
Johann Pella, einen erklärten Gegner des Ordens, auf den Bischofs- 
stuhl von Plock versetzte, welche Maßnahme jedoch an dem Wider- 
stand Jagiellos scheiterte. Im weiteren Verlauf der Ereignisse wurde 
die Angelegenheit der kirchlichen Verselbstindigung des Archi- 
diakonates von Pommerellen eine Teilfrage bei den scharfen und 
langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Polen-Litauen und 
dem Orden, in die das Baseler Konzil, die Kurie, Kaiser Sigismund 
und die Tschechen eingegriffen. Durch den Thorner Frieden im 
Jahre 1466, auf Grund dessen Pommerellen an Polen fiel, wurde die 
Streitfrage zuungunsten des Ordens entschieden. „Die Bemühungen 
des Groß meisters Küchmeister um die Ausscheidung des Pom- 
merschen Archidiakonates aus der Wloclawer Diözese im Jahre 
1421“, ) stellt derselbe in einem besonderen Aufsatz dar. — Zu 
der neuzeitlichen Geschichte der Diözese Culm hat Alfons 
Mankowski in den Veröffentlichungen des „Wissenschaftlichen 
Vereins in Thorn“ einige quellenmäßige Beiträge geliefert. Der von 
uns 1928 erwähnten?!) Geschichte des Kathedralkapitels daselbst 
schließt er Untersuchungen über die vermögensrechtliche Lage des 
Bistums an. Aus dem bischöflichen Archiv veröffentlicht er „Das 
Inventar der Landgüter des Culmer Bistums aus dem Jahre 1614, ) 
wobei er in der Einleitung einerseits das Zustandekommen der Liegen- 
schaften bis zu diesem Zeitpunkt darlegt und andrerseits aus den 
Inventuraufnahmen in den Jahren 1666, 1676, 1723 und 1759 — 
im ganzen liegen ihm 15 vor — Ergänzungen aufnimmt. Auf diese 
Weise erhält man einen Eindruck von dem Anwachsen des bischöf- 
lichen Besitzes ın der Zeit von 1243 bis 1759. Die Vermögens- 
aufstellung des Jahres 1614 ist die älteste erhaltene, ohne daß man 
aber daraus den Rückschluß ziehen darf, daß vorher keine der- 


20) Wielkiego mistrza Michala Kiichmeistera zabiegi z r. 1421 o unieza- 
leznienie archidiakonatu pomorskiego od diecezyi włocławskiej. In: Zapiski 
towarz. nauk. w Toruniu. VII, 1928, S. 291—296, 808—820. 

21) In: „Jahrbücher“ IV, S. 249. 

22) Inventarz dóbr biskupstwa Chelmifskiego z r. 1614. In: Fontes XXII, 
Towarzystwo naukowe w Toruniu, 1927. 


292 


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artigen Aufnahmen vorgenommen worden seien. Die einzelnen An- 
gaben über Dörfer, Gutshöfe, Mühlen, Seen u. dgl. m. haben in der 
Hauptsache lokalhistorischen Wert, wenn man aber bedenkt, daß 
z. B. um den Besitz von Lubaw zwischen dem Bischof und den 
Ordensritter im 13. Jahrhundert heftige Streitigkeiten ausgetragen 
wurden, so rücken doch diese Angaben in den Umkreis größeren 
historischen Geschehens. — In analoger Weise bringt derselbe 
zur Kenntnis „Die Inventare der Güter des Kulmer Kathedralkapitels 
im 17. und 18. | Zur Grundlage nimmt er das 
regestum oeconomiae aus dem Jahre 1605, das er durch die späteren 
Vermögensaufnahmen aus den Jahren 1616, 1651 und 1666 ergänzt. 
Von den Einnahmen und Ausgaben bringt er dabei nur Auszüge, 
soweit ihnen eine kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung zu- 
kommt. Ferner druckt er die conscriptio et revisio status bonorum 
raestimonialium, d. i. ein Verzeichnis der Allodialgiiter, die einzelne 
Mitglieder des Kapitels durch einige Zeit nutznießen durften, aus 
dem Jahre 1757 ab; die Beschreibung der Häuser in Abkürzung. 
Schließlich veröffentlicht er die auf die Vermögensgebahrung des 
Kapitels sich beziehenden Dokumente aus der Zeit von 1402 bis 
1755. Aus dem Ganzen erhält man einen Eindruck von dem Be- 
sıtzstand des Kapitels in diesem Zeitraum. In Anbetracht der viel- 
fachen Unstimmigkeiten zwischen den Bischöfen und ihren Dom- 
kapiteln sind die Schenkungen jener an diese bemerkenswert. — 
Arnold handelt über „Die Anfänge des Plocker Bistums‘.**) 
Einen interessanten Beitrag zur Geschichte des Krakauer 
Bischofsstuhles bietet Jan Fıjalek, indem er von den im 
Inventar des Kapitelarchivs verzeichneten „liturgischen Büchern“, 
das bischöfliche Benediktionale, das am Wawel „zu Beginn des 
12. Jahrhunderts“ in Verwendung stand, vornimmt und daraus „Die 
Feste und Heiligen der Krakauer Kathedrale”) nach den Kalender- 
tagen fortlaufend verzeichnet sowie einige Beispiele von Gebeten 
und Segenssprüchen mitteilt. Da Gebete zum hl. Wenzel darin nicht 
vorkommen, erscheint Krakau als Entstehungsort ausgeschlossen. 


Die wirtschaftliche Seite der kirchlichen Grundherrschaften in 
Polen beschäftigt auch sonst die Forschung. So behandelt Ja n 
Warezak vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus „Die Ent- 
wicklung der Ausstattung des Gnesener Erzbistums im Mittel- 
alter, “) während Stanislaw Orsini-Rosenberg unter be- 
sonderer Berücksichtigung der neu aufkommenden Zinshufen- 
verfassung „Die Entwicklung und den Ursprung des Vorwerk- 


.. 38) Inwentarze dóbr kapituly katedralnej Chełmińskiej z XVII i XVIII 
wieku. Ebd. Fontes XXIII, 1928. 

20) Początki biskupstwa plockiego, Kwart. Histor. 48, 1929, Heft 3. 

Wi Księgi liturgiczne oraz święta i fwieci katedry krakowskiej z poczgtku 
XII go. In: Nova Polonia Sacra, 1, 1928, S. 851—864. 

29) Rozwój uposażenia arcybiskupstwa gniew. znieńskiego w średniowieczu. 
In: „Badania z dziejów społecznych i gospodarczych“, Heft 5, Lemberg 1929. 


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Frondienstes auf den Gütern des Erzstiftes Gnesen“) beleuchtet. 
Stefan Inglot schildert „Die sozial-wirtschaftlichen Verhältnisse 
der Bevölkerung auf den Gütern des Bistums Włocławek in der ersten 
Hälfte des 16. Jahrhunderts“. ) Seine Untersuchung stützt er 
hauptsächlich auf das Inventar der Güter und Einnahmen des Bis- 
tums aus dem Jahre 1534 unter Heranziehung anderweitiger Auf- 
zeichnungen, wie der Kapitelakten aus der Zeit 1435—1518 und 
1519—1578, woraus er unter Anwendung der, wie er sie bezeich- 
nete, historisch-statistisch-geographischen Methode einerseits den Be- 
sitzstand des Bistums und anderereits die Leistungen der Grund- 
hörigen zu erfassen sucht. Die Einzelheiten gehören zwar mehr in 
die Wirtschafts- als in die Kirchengeschichte, aber die Endergebnisse 
beleuchten doch auch die kirchliche Lage, so wenn der Vert. z. B. 
die Zahl der zum bischöflichen Besitz gehörenden Dörfer, Wiesen, 
Wirtshäuser, Mühlen, Bauden u. dgl. m. errechnet oder das Aus- 
maß der Abgaben an Gerste, Hafer, Stroh, Eiern, an Naturalien und 
Bargeld feststellt. Es hat auch einen gewissen Reiz, zu erfahren, was 
die Wirtshausbesitzer, die Müller, die Häusler u. a., aber auch die 
5 zu zahlen hatten und was die Glas- und Eisenhütten jährlich 
abwarfen. — 


Die Bischofsstühle kamen als Wirtschaftsfaktoren im öffent- 
lichen Leben Polens nicht in so entscheidender Veise zur Geltung 
als wie in geistig- moralischer Hinsicht. Die geistliche Gerichtsbarkeit 
bildete zwar je länger je mehr für den Adel einen schweren Stein 
des Anstoßes, die betreffenden Gerichtsakten spiegeln aber doch 
den weitreichenden Einfluß der Kirche auf das Rechtsempfinden des 
Volkes wider. Infolgedessen ist die Veröffentlichung der ältesten 
Lemberger Konsistorialakten“) durch Wilhelm Rolny will- 
kommen zu heißen. Der auf einer vor 20 Jahren zufällig entdeckten 
Handschrift von 568 Blättern fußende stattliche (S. IX + 674) Band, 
der die von 1482 bis 1498 reichenden Akten bis 1489 bringt, reiht 
sich würdig den zahlreichen Publikationen B. Ulanowskis, des Bahn- 
brechers auf diesem Gebiet, an. Diesen Aufzeichnungen kommt eine 
um so größere Bedeutung zu, als weder für die Zeit vorher noch für 
die nächsten 20 Jahre Gerichtsprotokolle sich erhalten haben. Der 
Umkreis der Agenden wurde durch den Umstand erweitert, daß das 
Lemberger geistliche Gericht für Przemysl und Kamieniec als zweite 
Appellationsinstanz zu fungieren hatte. Die größeren historischen 
Ereignisse, wie der Besuch des Königs in Lemberg, leuchten wohl 
gelegentlich in den Verhandlungsniederschriften auf, im großen und 


27) Rozwój i geneza folwarku pahszczyznianego w dobrah ka 
gnieznienskiej. In: Prace komisji historyccnej. Bd. IV, 1927, S. 127—284. V 
die Anzeige von E. Salkind in „Jahrbücher“ N. F. IV, 1928 S. 700. 

28) Stosunki spoleczno-gospodarcze ludności w dobrach biskupstwa wioclaw- 
skiego w pierwszej polowie XVI wieku. In: Archiwum towarz. naukowego we 
Lwowie, Teil 2, Bd. 8, Heft 4, 1927. 

3) Acta officii consistorialis Leopoliensis antiquissima. Bd. I (1482—89). 
In: Zabytki dziejowe Bd. II. Ebd. 1927. 


294 


ganzen drehen sich aber die Prozesse um kleinliches Gezink der 
Geistlichen untereinander wegen Ungehorsam, Übervorteilung, Ein- 
E in die Rechtsbefugnisse anderer, unbefugte Aneignung von 
remdem Einkommen u. dgl. m. und andererseits um Rechtshändel 
zwischen Geistlihen und Laien, hauptsächlich wegen Ehrenbeleidi- 
gungen, die meist durch einen Vergleich beigelegt wurden; über 
Roheitsakte und Ausschreitungen des Klerus ım 15 Zu- 
stand wird ebenfalls zu Gericht gesessen. Aus den Mosaiksteinen 
läßt sich ein Kulturbild zusammensetzen, wobei man allerdings nicht 
in den Fehler verfallen darf, die Entgleisungen einzelner auf den 
ganzen Stand zu verallgemeinern. — Karl Koranyi behandelt 
eine kulturgeschichtlich besonders interessante Gruppe von Straf- 
sachen, die meist vor den bischöflichen Gerichtshöten verhandelt 
wurden, nämlich das Prozeß verfahren wegen „Zauberei und Be- 
schwörungen im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahr 
hunderts.) Im Unterschied von Westen stellt er fest, daß Prozesse 
dieser Art in Polen bis ins 17. Jahrhundert zu den Seltenheiten ge- 
hören und auch da die Schädigung der Mitmenschen an Gesundheit 
und Besitz auf Anwendung von Zaubereimitteln und nicht auf Ver- 
bindung mit dem Teufel zurückgeführt wird. In den meisten Fällen 
gab sich der Gerichtshof mit einem Versprechen der Angeklagten, 
der schwarzen Kunst abzusagen, zufrieden; und dies sogar in den 
beiden ersten Fällen, da das geistliche Gericht zunächst sogar die 
Todesstrafe verhängt hatte (1476 und 1535). Die erste Verbrennung 
in Polen wegen Zauberei erfolgte 1511, und zwar auf Grund eines 
Rechtsspruches des Posener Stadtgerichts. Unter den wegen Zauberei 
Angeklagten überwog bei weitem das weibliche Element. — 

Für die Höhenlage einer jeden Institution sind die Persönlich- 
keiten, in deren Hände ihr Schicksal gelegt wird, maßgebend. 
Karl Maleczynski weist in seinen Ausführungen „Über die 
polnischen Kanzler im 12. Jahrhundert“) darauf hin. Kazimierz 
Hartleb beleuchtet „die kulturelle Wirksamkeit des Bischofs und 
Diplomaten Erasmus Ciotek“,**) des vertrauten Sekretärs des Köni 
Alexander und erklärten Gegners des Erzbischofs Laski, eines groß- 
zügigen Förderers der Renaissance und des Humanismus, mit welcher 
Geistesrichtung er auf seinen wiederholten Romfahrten sowie durch 
zahlreiche auswärtige Freunde in Berührung kam. le 
Karwiftska greift zurück auf „die politische Rolle des Bischofs 
von Wloclawek Wolimir (1259—1278)“,*) der als unentwegter Vor- 
kämpfer der Freiheit der Kirche im Streit zwischen den piastischen 


20) Czary i gusla przed sedami koécielnemi w Polsce w XV i w pierwszej 
m XVI wieku. Lemberg 1928. Sonderdruck a. d. Kwart. etnogr. „Luc 


31) Vgl. Anzeige von Forst-Battaglia in „Jahrbücher“ N. F. IV, 1928, S. 609. 
= 32) Działalność kulturalna biskupa-dyplomaty Erazma Ciołka. Lemberg 


. ss) Polityczna rola biskupa Wolimira. Abdr. a. d. „Ateneum kapłańskie“, 
Heft 140, 1929. 


296 


Teilfürsten Leszek dem Schwarzen und seinem Bruder Ziemomyslaw 
um Kujawien gemäß den Interessen des Episkopates handelte. — 
Kurnatowski würdigt die Wirksamkeit des Erzbischofs Johann 
Laskı,?*) der den ersten Ansturm des Luthertums abzuwehren suchte, 
während Kazimierz Miaskowski aus „der Geschichte der 
Familie der Laskis“ ) das verwandtschaftliche Verhältnis des Primas 
zu dem als Bankier einflußreichen Stefan Fiszel-Pawidzki, einem ge- 
tauften Juden, der in zweiter Ehe eine Schwester des Erzbischofs 
heiratete, aufhellt. 

Neben dem Episkopat spielte im mittelalterlichen Polen das 
Domkapitel, bei dem die Fäden der Verwaltung der Diözese zu- 
sammenliefen, eine bedeutsame Rolle. Darüber gibt Aufschluß die 
Studie von Tadeusz Silnick i über „die Organisation des Archi- 
diakonates in Polen“.**) Ungeachtet des Fehlens quellenmäßiger Be- 
lege aus der Frühzeit nimmt der Verf. das Vorhandensein dieser Ein- 
richtung in Polen von allem Anfang an, und zwar nach dem ursprüng- 
lichen Typus, der den Archidiakon nicht, wie später, als Leiter des 
Archidiakonats eines Teilgebiets der Diözese, sondern als Gehilfen des 
Bischofs, besonders in der Vermögensverwaltung und Rechtsprechung 
erscheinen läßt. In der Folgezeit kamen auch in Polen Archi- 
diakonate allmählih auf. Wiewohl die älteste erhaltene Urkunde 
über die Errichtung von Archidiakonaten erst aus dem Jahre 1298 und 
zwar für Posen stammt, nimmt der Verf. an, daß die Gebietsteilung de 
bischöflichen Sprengel in Wirklichkeit bereits vorher erfolgt sei, da in 
den Diözesen Wioclawek und Breslau um die Wende des 13. Jahr- 
hunderts gleichzeitig zwei bis drei Archidiakone erwähnt werden und 
in der Gnesener und Krakauer Diözese um dieselbe Zeit ebenfalls 
Archidiakonate nachweisbar sind. Den weiteren Ausbau der Archi- 
diakonate, auch durch Anlehnung an die gleichzeitig in den Bezirks- 
hauptstädten aufgekommenen Kollegiatkapitel, verlegt S. in die erste 
Half te des 13. Jahrhunderts. Als spezifisch polnische Ursachen der 
Einführung des neuen Typus des Archidiakonates bezeichnet der Verf. 
die immer mehr überhand nehmende politische Tätigkeit der Bischöfe, 
die deutsche Kolonisation und die östliche Mission. Es hängt, wie S. 
ferner zeigt, mit dem Niedergang des Archidiakonates zusammen, 
daß in den seit dem 14. Jahrhundert entstandenen Diözesen in der 
Regel die Einteilung des Sprengels in Archidiakonate wegfiel und an 
deren Stelle die Diakonate traten. Erst im 17. und 18. Jahrhundert 
wurde in den östlichen Diözesen, wie Lemberg, Przemysl, Wilna eine 
Gebietseinteilung wieder nach Archidiakonaten vorgenommen. Eine 
Sonderstellung nahm das zu Posen gehörende Archidiakonat Czersk- 


320) L’archevéque Jean Laski. Monde Slave Nr. 8, S. 3869—94, 1928. 

38) Z dziejów rodziny Laskich. In: Roczniki historyczne. V, 1929, S. 88 
bis 89, Posen. 

38) Organizacya archidiakonatu w Polsce. In: Studya nad historyą prawa 
polskiego. Herausgeg. von Oswald Balzer, X, Heft 2, Lemberg 1927. Dazu den 
Bericht über denselben Gegenstand in: Sprawozdania towarzystwa naukowego we 
Lwowie, VII, 1927, Heft 1, S. 28—29. 


Warschau, das später zu einer selbständigen Diözese ausgebaut wurde, 
ein. Aus der gesonderten Behandlung der einzelnen Archidiakonate 
ersieht man, daß bei ihrer Einrichtung sowohl hinsichtlich des Um- 
fanges als auch hinsichtlich des Verhältnisses zu der politischen Kreis- 
einteilung keine einheitlichen Grundsätze beobachtet wurden. Durch 
das Archidiakonat wurde in der Diözesanverwaltung das Prinzip der 
Dezentralisation in bezug auf das Gerichtswesen, die Finanzgebarung 
und das Synodalwesen festgelegt. S. hat eine 1 Verfassungs- 
frage der katholischen Kirche Polens gründlich und sachlich erfaßt. 

Im Laufe seiner Ausführungen verweist S. auf die Verbindung 
zwischen Archidiakonat und Pfarrorganisation. Über „die Grund- 
lagen der Pfarrorganisation im Bereich der polnischen Kirche“) be- 
sitzen wir nun eine ausgezeichnete Studie aus der Feder von Hein- 
rich Felix Shmid, der auch sonst, nicht zuletzt durch seine 
kenntnisreichen Literaturberichte, ) der deutschen Geschichtsforschung 
die kirchenrechtlichen Probleme des slavischen Ostens näher rückt. 
Die Untersuchung bildet das dritte Kapitel einer groß angelegten 
Arbeit über „die rechtlichen Grundlagen der Pfarrorganisation auf 
westslavischem Boden und ihre Entwicklung während des Mittel- 
alters.) Mit souveräner Beherrschung des Stoffes, die sich be- 
sonders in den Fußnoten bekundet, rollt der Verf. nicht nur das 
gesamte durch die Themastellung gegebene Problem auf, sondern geht 
auch verschiedenen damit mittelbar zusammenhängenden Frage- 
stellungen mit gewohnter Sachkenntnis auf den Grund. Dabei wägt 
er alles Für und Wider vorsichtig ab und hütet sich vor gewagten 
Konstruktionen, wozu die vielfach unzulängliche und unsichere r- 
lieferung leicht verführen könnte. Seinen Ausgang nimmt er von den 
Anfängen der kirchlichen Organisation in Polen überhaupt. Die Ent- 
wicklung Bing, wie Sch. zeigt, von oben nach unten; erst erhielt die 
junge polnische Kirche Bischofsstühle und sodann lange hernach eine 
Pfarrorganisation. Im 10. Jahrhundert waren die Kathedralkirchen 
die einzigen Pfarrkirchen ihrer Sprengel, worauf im 11. Niederkirchen 
als landesherrliche Gründungen aber ohne eine wirkliche Pfarrorgani- 
sation zustande kamen. Diese wurde erst durch die Kirchgründungs- 
tätigkeit des Magnatentums auf seinen Grund und Boden in die Wege 
geleitet, aber erst durch die Ansiedlung deutscher Kolonisten, die 
Einrichtungen aus ihrer alten Heimat in die neue verpflanzten, zur 
vollen Entfaltung gebracht. Die Entstehung von Pfarrgemeinden war 
aber andererseits erst durch die wirtschaftliche Sicherstellung ermög- 
licht. Es ist nun besonders verdienstlich, daß der Verf. zur Klar- 
stellung des Tatbestandes sich nicht damit begnügt, die finanziellen 


37) In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte XLVII, Kan. 
Abt. XVII, 1928, S. 264-858 und XLIX Kan. Abt. XVIII, 1920, S. 235—562; 
auch als Sonderdruck. 

20) Beitr. in „Jahresberichte für deutsche Geschichte“ II, 1928, S. 142 bis 
150, 601 bis 788, III. 1929, 8. bis 688. 

0) „Jahrbücher N. F. IV, 1928, S. 240 f. 


297 


Grundlagen der Pfarreien aufzudecken, sondern bei dieser Gelegen- 
heit den ganzen verschlungenen Fragenkomplex der kirchlichen Ein- 
nahmen in Polen, selbstverständlih im Hinblick auf das Nieder- 
kirchenwesen aufrollt. In diesem Zusammenhang geht er mit ge- 
wohnter Griindlichkeit auf das Problem des Zehntwesens ein. Von 
den Erträgnissen des Zehnts, auf den sowohl der Bischof als auch 
der Grundherr Anspruch erhoben, sollte nämlich die Dotation der 
Niederkirchen bestritten werden. Durch das Aufkommen des Dorf- 
wesens ergab sich der Dorfzehnt, der durch die Erweiterung der 
Siedlungen infolge Neubruches ebenfalls eine Steigerung erfuhr. Da 
die Gründer der Pfarrkirchen diese als ihr Eigentum ansahen, gingen 
sie auch in der Verwendung dieses Zehnts nach eigenem Belieben vor. 
Allmählich vollzog sich aber der Übergang der Pfarrgemeinde zu einem 
selbständigen Rechtskörper, wodurch auch die Voraussetzungen fü 
das Zehntwesen sich verschoben. Die Verselbständigung der Pfarr- 
inhaber gegenüber den Grundherren vollzog sich auch in dem Maße, 
als ihnen noch andere Zuwendungen, wie z. B. das Meßkorn, un- 
mittelbar von den Dorfinsassen zuflossen. Die Dinge nahmen aber 
nicht überall den gleichen Verlauf. Sch. fördert die Klärung des 
Sachverhalts wesentlich, indem er auf die Mannigfaltigkeit der sich 
ergebenden Gestaltungen, deren Vereinheitlichung erst Kasimir d. Gr. 
in Angriff nahm, verweist. Auch die Seitenlinien, die der Verf. 
zieht, wie z. B. über die Kastellaneiorganisation in ihrer Bedeurung 
für das Niederkirchenwesen, über das Schulzenamt, über das Patro- 
nat u. a. m., vervollständigen das Gesamtbild dieser gründlichen, die 
polnische Kirchengeschichtsschreibung erheblich fördernden Unter- 
suchung. 

Einen weiteren Schritt auf dem Wege der inneren Festigung des 
mittelalterlichen Kirchenwesens in Polen bedeutete der Ausbau des 
Synodalwesens. In dieser Hinsicht dienen zur Klärung Zbigniew 
Soc.as „Einige Worte über die Gesetzgebung der Diözesansynoden 
in Polen im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Lichte der 
damaligen sozialen Strémungen“.”) Aus drei voneinander abhängigen 
Statutensammlungen — Włocławek 1402 und Gnesen 1408 und 1512 
— sucht der Verf. an der Hand der Bestimmungen über das Ver- 
pea a des Klerus zur Laienwelt die sozialen Hintergründe näher zu 
erfassen. 


Neben dem geordneten Amt bildete einen wichtigen Machtfaktor 
der inietelalterlichen Kirche in Polen das Klosterwesen, das 
aus dem Westen dorthin verpflanzt, im Laufe der Zeit mit dem 
polnischen Volksleben zusammenwuchs. In der Forschung der letzten 
Zeit überwiegen Einzeluntersuchungen über Ordensniederlassungen 
und -Personen. 


0 Kielka dée o ustawodawstwie synodéw diecezjalnych w. Polsce w XV 
i pocz. XVI w. na tle ówczesnych pradéw społecznych. In: Pamiętnik 80 lecia 
pracy naukowej P. Dabkowskiego. Lemberg 1927, S. 205—219. 


298 


Die 9 „Studien und Skizzen“ über „den heiligen Franz von 
Assisi“, 1) eine Sammlung von Vorträgen, die im Jahre 1927 durch das 
katholische wissenschaftliche Institut und den Dante-Verein in 
Krakau veranstaltet wurden, greifen aber doch größere Zusammen- 
hänge auf, wie auch G. K. Chesterton, der englische Biograph des 
Heiligen, in dem Vorwort hervorhebt. Auf Polen selbst nehmen drei 
Beiträge Bezug: Johann Dabrowski geht dem Zusammenhang 
nach zwischen „der franziszeischen Bewegung und der Wiedergeburt 
Polens im 13. und 14. Jahrhundert.“) — Die Piasten, denen Polen 
seine Erstarkung verdankt, wie Wladislaw Łokietek und Kazimierz 
d. Gr., wurden bei ihren östlichen Erwerbungen von den ihnen eng 
befreundeten Franziskanern, die auch das nationale Schrifttum be- 
fruchteten, unterstützt; an der Heiligsprechung des polnischen Natio- 
nalheiligen Stanistaw, ebenfalls einer der Vorbedingungen des Auf- 
stieges Polens, nahmen sie einen hervorragenden Anteil. — Franz 
Bielak stellt fest, daß „Franziszeische Motive in der polnischen 
Literatur“) erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts unter 
dem Einfluß des Werkes von Sabatier nachweisbar sind, während man 
vorher das fromme Leben des heiligen Franziskus, wie es z. B. bei 
Skarga der Fall ist, lediglich vom Standpunkt der üblichen Hagio- 
graphie behandelt hat. — Tadeusz Szydlows k i zeigt, wie „die 
Architektur der franziskanischen Kirchen im Piastischen Polen“) ent- 
sprechend den durch die Bewegung hervorgerufenen religiösen Be- 

ürfnissen dem Gotischen Baustil zum Durchbruch verholfen hat. 
Bei der Einfachheit ihrer Klöster verwandten die Franziskaner um 
so mehr Sorgfalt auf die Kirchenbauten, von denen man durch die 
von $z. in guter Auswahl gebotenen Abbildungen einen unmittel- 
baren Eindruck erhält. Der Versuch des Verf., die ältesten franzis- 
kanischen Bauten in Polen in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit zu 
erfassen, verdient Beachtung. — Im übrigen enthält das Buch noch 
zwei Arbeiten von Konstantin Michalski über Dante, eine 
von Mieczystaw Bramer über die französische Literatur der 
Gegenwart, eine von Wtadystaw Folkierski über Rousscau, 
jedesmal in deren Verhältnis zu Franziskus. Roman Dyboski 
würdigt das Buch von Chesterton über den Heiligen von Assısi und 
Stanistaw Wadkiewicz bespricht „die franziskanischen Ideale 
und die Krise der sog. westlichen Kultur“. Polnische Verhältnisse 
werden in diesen Ausführungen gelegentlich gestreift. 

Auf einen größeren Umkreis der Wirksamkeit von Ordensleuten 
verweisen drei Aufsätze von Kamil Kantak, der auch sonst der 
Geschichte des Monchtums in Polen seine besondere Aufmerksamkeit 
schenkt: „Die Ostmission der polnischen Franziskaner-Observanten 


/ 4) E Franciszek z Assyzu. Krakowska spółka wydawnicza. Krakau 
1928 (18 Abbi dungen). 
) S. 178—189. Als Sonderdruck: Ruch franciszkański a odrodzenie Polski 
w XIII i XIV wieku, 1928. 

43) S. 79—98. 

“) S. 158—171. 


20 NP 6 299 


und die litauische Observanten-Provinz (1453—1570)“,*) „Das Leben 
in den Klöstern der polnischen Bernhardiner vor der Reformation“, 
und „Übersicht über die Bettelorden in Polen vor der Teilung“) 

Einige Angaben über Klostergründungen verdienen Er- 
wähnung: Karl MaleczyäAski untersucht „das Dokument des 
päpstlichen Kardinallegaten Humbald für das Kloster Trzemeszno“**) 
mit dem Ergebnis, diese älteste in der Urschrift erhaltene Urkunde, 
die Polen besitzt, stamme von dem Titularkardinal von St. Johann 
und Paul, der im Jahre 1145 sich in Polen aufhielt, weshalb das auf 
dem Diplom angegebene Datum vom 2. März 1146 als späterer Zu- 
satz angesehen werden müsse. — Potkanski handelt von „der 
Gründung und Ausstattung des Klosters in Mogilno“.“) WIadys- 
ław Szoldrski erzählt kurz die wichtigsten Begebenheiten aus 
der Geschichte der Dominikaner in Thorn“, ') um alsdann die 1821 
niedergerissene Dominikanerkirche daselbst auf Grund einer im 
Archiv der St. Jakobskirche aufbewahrten Handschrift aus dem Jahre 
1795 ausführlich zu beschreiben. Adam Wolff stellt aus sechs 
späteren Abschriften den mutmaßlichen Wortlaut des im Original 
verloren gegangenen „unbekannten Dokuments des Ziemowit 
Trojdenowicz für das Kloster Czerwińsk vom 31. I. 1342“) 
wieder her. 

Von Darstellungen aus der Geschichte einzelner Klöster sei 
verwiesen auf „Die Geschichte des Klosters zu Czarnowanz in 
Schlesien im Mittelalter“) von Stefanie Pierzchalenka- 
Jeskowa, die diese Prämonstratenserniederlassung in der Zeit 
zwischen 1202 und 1211 durch Ludmilla, die Gemahlin des Herzogs 
Mießko von Ratibor - Oppeln, in Rybnik, von wo sie deren Sohn 
Kasimir 1228 nach Czarnowanz verlegt habe, ins Leben gerufen 
sein läßt. Im weiteren Verlauf ihrer Darstellung wendet sie insbe- 
sondere der wirtschaftlichen Entwicklung des Klosters ihr Augen- 
merk zu. — Karl Thomas Brausmiiller erzählt die wechsel- 
vollen Geschicke des „Dominikanerinnen-Klosters St. Katharina in 
Posen“, ) einer Gründung des großpolnischen Herzogs Przemysław II. 
im Jahre 1283, die durch Kriegswirren vielfach heimgesucht, 1822 für 


45) Franziskan. Studien Bd. 14, Heft 1/2, S. 185—168. 
40) Przglad teologiczny X, Nr. 2/8. 
47) Ebd. IX, S. 867—879. 
18) Dokumentum Humbalda kardynała legata papieskiego upatrzonym 
datą z marca 1146 dla klasztoru w Trzemesznie. In: Roczniki historyczne IV, 
Heft 2, S. 1—29, Posen 1928. Dazu: Sprawozdania towartystwa naukowego we 
Lworie VIII, 1928, S. 15 f. 
= “) O założeniu i uposazaniu klasztoru w Mogilnie. In: Kwartaln. histor. 48. 


se) Z dziejöw dominikanów w Toruniu. In: Zapiski tow. nauk. w Tor. VIII, 
1929, S. 48—86. Nieznany dokument Ziemowita Trojdenowicza dla klasztoru 
w Czerwińsku z 81. I 1842 r. Ebd. 42, 1928, S. 67 ff. 

51) Dzieje klasztoru w Czarnowgsie na Slasku w wiekach frednich. In: 
Rocz. histor. IV, 1928, S. 30—84. 
a 53) $. Katarzyna, klasztor Dominikanek w Poznaniu 1288—1822. Posen 
1928. 


300 


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Militärzwecke eingezogen, 1826 den Selesianerinnen übergeben wurde. 
Die bauliche Beschaffenheit des Klosters verdeutlichen mehrere Ab- 
bildungen. — Czestav Bogdalski verzeichnet „Die Denk- 
würdigkeiten der Kirche und des Klosters der Bernhardiner in 
Lezajsk“.®) In diesem Zusammenhang sei Stefan Rosiaks 
„Skizze aus der Geschichte der sozialen Hilfstätigkeit“, „Die Boni- 
fratren in Wilna“, “) erwähnt, wiewohl die Wirksamkeit der Jünger 
des Joannes de Deo in Polen erst ins 17. Jahrhundert fällt. Das 
Wilnaer Kloster, 1635 durch den Bischof Abraham Woyna gestiftet, 
wurde 1843 durch die russische Regierung eingezogen, um 1924 von 
neuem zu erstehen. Die Geschichte dieses der Spitalspflege dienenden 
Konvents stellt d. V. ım Rahmen der Gesamtgeschichte des Ordens, 
der sich der besonderen Huld des Königs Johann Sobieski erfreute, 
dar. Die statistische Tabelle über die Kranken und Verstorbenen in 
der Zeit von 1709 bis 1805 sind von allgemeinem Interesse. — Für 
die Geschichte der Klöster in den Diözesen Luck, Zytomierz und 
Kamieniec fallen wichtige Notizen ab von der gründlichen Arbeit von 
Wotlyniak über „Die durch die russische Regierung im 19. Jahr- 
hundert aufgehobenen kath. Kirchen und Kléster“.**) 


Zur Geschichte der Ordenspersonen liefert der früher 
erwähnte Kamil Kantak cine Reihe von über das Mittelalter 
hinausgreifenden Einzelzeichnungen in der „Chronik der Stadt 
Posen“. In der Form von „Silhouetten“ führt er folgende Posener 
Bernhardiner vor: Klemens aus Radymno,") den ersten 
polnischen katholischen Polemiker gegen den Protestantismus auf der 
Kanzel auch in Lemberg und Warschau, dessen in fünf handschrift- 
lichen Bänden erhaltenen Predigten aus der Zeit von 1527 bis 1553 
eine tiefgehende Abneigung gegen die Gegner der römischen Kirchen- 
einheit erkennen lassen; Innozenz aus Czerniejew,”) den 
Fortsetzer der Bernhardinerchronik Komorowskis für den Zeitraum 
1551—81, der auch seine Kanzelberedsamkeit in den Dienst der 
katholischen Kirche stellte; Fabian Orzeszkowski,™) den 
ehemaligen Guardian des 1558 niedergebrannten Klosters zu 
Fraustadt, der durch seine frommen Lieder den Katholızismus zu 
stützen suchte; Bonaventura Krzeciek, “) den nach- 
maligen Generalkommissär und Provinzial der polnischen Ordens- 
provinz, der auf dem Generalkapitel zu Toledo 1606 die polnischen 
Reformwiinsche vertrat; Peter aus Posen (Piotr Poz- 


ss) Pamiętnik kościoła i klasztoru O. O. Bernardynów w Leżajsku, 

Krakau 1929. 
„% Bonifratrzy w Wilnie (1635—1843), Wilna 1928, Verl. des Konvents der 

Bonifratren. S 

DI Zniesione kościoły i klasztory rzymsko-kat. przez d rosyjski w 
wieku XIX. In: „Nova Polonia sacra“, I, 1928, S. 1-812. = á 

56) Kronika miasta Poznania. Hrsg. v. Zygmunt Zaleski. Sylwelki 
Bernardynów Poznańskich V, 1927, S. 80—9%, 248—247. 

87) Ebd. S. 247—255. 

) Ebd. VI, S. 88—94. 

s) Ebd. S. 160—178. 


301 


nanski),%) den viel gereisten und gelehrten polnischen Provinzial 
in den Jahren 1614—1617 und kleinpolnischen Definitor 1634—1637, 
der durch seine wissenschaftlichen Arbeiten, besonders die Er- 
klärungen zu Duns Skotus, das geistige Niveau seines Ordens zu heben 
sich bemühte; Jan Szklarek, ) den kanonistisch gebildeten 
Ordensprovinzial 1493/4 und 1499/1500, der sich die Gewinnung der 
ruthenischen Schismatiker für die Union angelegen sein ließ; Inno- 
zenz aus Ko$cian,") den Ordensprovinzial 1534/8 und 1540, 
der der Lockerung der Klostersitten, vor allem durch sein Handbuch 
für die Novizen, entgegenarbeitete; Jakob Dziaduski,*) den 
Weihbischof der Posener Diözese, mit dessen Bischof Izdbienski er 
nicht zuletzt wegen seines unmönchischen Lebenswandels scharfe Kon- 
flikte auszutragen hatte; Mathias Marjan Kurski,“) den 
Johann Kasımir 1649 zum Bischof von Bakow, einer außerhalb 
Polens inmitten einer schismatischen Bevölkerung gelegenen Diözese, 
ernannte, und der infolge der politischen Schwierigkeiten, die sich aus 
dem Anspruch des Wiener Hofes auf die Besetzung dieses Bischofs- 
stuhles ergaben, die ihm 1659 beim Posener Domkapitel angebotene 
Prälatur als letzter Suffraganbischof aus dem Mönchsstand antrat. — 
Christoph aus Posen (Krzysztof Poznahczyk),*) 
der Ordensprovinzial 1665, der sich die bauliche Erweiterung des 
Posener Konvents besonders angelegen sein ließ und im Streit mit 
den Franziskanern die Gegensätze ohne viel Erfolg zu mildern sich 
Mühe gab. Ferner bringt Kantak aus den handschriftlichen Be- 
stinden des Lemberger Ossolineums „Beiträge zur Geschichte der 
Posener Dominikaner“) für die Zeit 1509—14 und 1552—99, in der 
Hauptsache biographische Notizen über einzelne Ordenspersonen, die 
meist nicht weiter hervorragen. Im Jahre 1570 verfügte das 
Posener Konvent nicht einmal über die zur Wahl eines Priors not- 
wendige Zahl von Ordensmitgliedern. — Ks. Skizzen stützen sich 
auf quellenmäßigen, meist bisher noch nicht verwerteten Stoff, so daß 
sie zusammengenommen als Bausteine für eine noch ausstehende um- 
5 Geschichte des Ordenswesens in Polen Beachtung ver- 
ienen. 

Das Ordenswesen hat auch für die kulturelle Entwick- 
lung Polens eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erlangt, wie 
das Land überhaupt kirchlichen Einflüssen die stärksten geistes- 
geschichtlichen Anregungen verdankt. Die Anfänge des polnischen 
Schrifttums sind durch kirchlich-religiöse Bedürfnisse beanie 
„Die Herkunft und Geschichte des Psalters in St. Florian“) 


60) Ebd. 240—260. 


s6) Ebd. V, S. 867—874. 
7) Geneza i historya Psalterza Floryahskiego. In: Spraw. tow. nauk. we 
Lwowie, VIII, 1928, S. 6f. 


302 


(bei Linz in Österreich), der ältesten bisher bekannten Übertragung 
biblischer Stücke ins Polnische, der auch einen deutschen und lateini- 
schen Text enthält, bestimmt Ludwig Bernacki in folgender 
Weise: Der größte Teil des für die Königin Hedwig bestimmten 
Psalters wurde im Kloster der regulierten Chorherren in Glatz um 
1399 niedergeschrieben; nach dem Tode der Königin wurde er 1405 
in Krakau zum Abschluß gebracht, worauf er 1556, bis zu welchem 
Zeitpunkt er sich in der Fronleichnamskirche am Kasımir befand, in 
Privatbesitz überging. Bemerkenswert ist auch die Feststellung von 
dem Vorhandensein einer vollständigen, aus dem letzten Viertel des 
14. Jahrhunderts stammenden Psalmiibersetzung in der Fronleichnams- 
kirche zu Krakau. — „Die Miniaturen des Psalters von St. Florian“) 
untersucht Wtadyslaw Podlaha mit dem Ergebnis, daß in 
denselben deutsch-tschechische mit italienischen und französischen 
Einflüssen sich kreuzen, was am besten auf Schlesien als Entstehungs- 
gebiet schließen lasse. Bei den Randverzierungen unterscheidet er 
zwei verschiedene Stilgattungen, die auch sonst in den Handschriften 
des XIV. und XV. Jahrhunderts nachweisbar sind, die Nachwirkung 
der italienischen Pflanzenornamentik und den provinziellen Stil der 
tschechisch-mährischen, schlesischen und polnischen Handschriften um 
die Wende des 15. Jahrhunderts. — „Die deutsche Sprache des 
Florianer Psalters“ macht Stefan Kubica”) zum Gegenstand 
einer philologischen Arbeit. Er behandelt zunächst in eingehender 
Untersuchung der Wortbildungen gesondert den Vokalismus — 
kurze und lange Vokale, Diphthonge, Präfixe, Suffixe, Synkope und 
Apokope — und Konsonantismus — Halbvokale, Liquidae, Nasale, 
Labiale, Dentale und Gutturale —, um von hier aus eine Grundlage 
zum Vergleich des Florianer Psalters mit dem schlesischen Psalter des 
Peter von Patschkau, der 1340 vollendet wurde, zu gewinnen. Er 
gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß die von Bernacki verfochtene 
These über die Entstehung des Florianer Psalters in Glatz um 1399 
vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt sich durchaus vertreten lasse. 
Während nämlich in der älteren Vorlage die bayerisch-österreichische 
Diphthongierung fehlt, tauchen Diphthonge im Florianer Psalter 
immer SIE auf, wie auch die im Peter von Patschkau-Psalter 
noch nicht völlig durchgedrungene Monophthongierung im Florianer 
vollendet erscheint, woraus hervorgehe, daß beide auf einer Linie 
liegen, aber der Florianer Psalter als jüngeres Denkmal anzusehen sei. 
Einer besonderen Untersuchung unterzieht er die beiden den 
Florianer Psalter einleitenden, sprachlich aber vom Patschkauer Psalter 
unabhängigen Prologe; darin weist er dialektische Besonderheiten 
nach, die in der heutigen schlesischen Mundart im Glätzischen durch- 
aus üblich seien. Einige Textproben und ein Wörterverzeichnis er- 
höhen die wissenschaftliche Brauchbarkeit der fleißigen Arbeit. — 
Johann Janéw stellt auf Grund eines textlichen Vergleichs 


6) Miniatury Psalterza Florianskiego, ebd. 7 f. 
39) Posen 1929. 


803 


der Handschriften Nr. 3336 der Jagiellonischen und Nr. 1116 der 
Zamojskischen Bibliothek mit der Inkunabel Nr. 60, 682 der Ossolins- 
kischen Bibliothek fest, daß dieser „altpolnische Übersetzungen des 
Neuen Testaments) enthaltende Wiegendruck, zugleich nach seiner 
Meinung die älteste Druckschrift in polnischer Sprache, auf Vor- 
lagen um die Mitte des 15. Jahrhunderts zuriickgehe. Danach sei 
das Neue Testament nicht erst im 16. Jahrhundert, wie vielfach an- 
genommen wird, erstmalig ins Polnische übertragen worden. 

Aus den Reihen der Geistlichkeit sind literarische Charakterköpfe 
hervorgegangen. Dem „Vater der 55 Geschichtsschreibung“, 
dem Sekretär des Kardinals Ole$nicki und Krakauer Domherrn Jan 
Długosz’) widmet Władysław Kucharski eine gemeinver- 
ständliche anschauliche Studie. Er erzählt zunächst den äußeren 
Lebensverlauf desselben unter besonderer Hervorhebung seines 
diplomatischen Geschicks, das er z. B. bei den Verhandlungen mit der 
Kurie wegen der Kardinalswürde Zbigiew OleSnickis wie nicht 
minder bei dem Thorner Friedensschluß 1466 bekundet hat. Sodann 
bespricht er die einzelnen Schriften von Długosz, die durchwegs 
wichtigen kirchenhistorischen Stoff vermitteln, so das Leben des hl. 
Stanislaus und der hl. Kinga, die Kataloge der polnischen Bischöfe, 
den liber beneficiorum dioecesis Cracoviensis; am längsten verweilt 
er bei der historia Polonica, der ersten Geschichte Polens, an der Dl. 
fünfundzwanzig Jahre gearbeitet hat. 

Auch in der bildenden K uns t hat die Kirche befruchtend 
gewirkt. Stanisława Sawicka behandelt das in der Sammlung 
des Bayerischen Nationalmuseums befindliche „Polnische illuminierte 
Gebetbuch aus dem 16. Jahrhundert“, ) eines der vier bisher be- 
kannten, dessen 16 Miniaturen nach ihrer Feststellung wahrscheinlich 
Adalbert Gosztold, 1522 Kanzler von Litauen, in der Miniaturschule 
von Mogilna hat herstellen lassen. — Der letzte „Rocznik krakowski“ 
enthält einige beachtenswerte Arbeiten über Krakauer Kirchenbauten. 
Marian Friedberg behandelt „Die Gründung und die An- 
fänge der Kirche der allerheiligsten Jungfrau in Krakau“.”) Ent- 
gegen der bisherigen Auffassung hält er daran fest, daß diese Haupt- 
pfarrkirche der chemal en polnischen Krönungsstadt bereits um die 
Mitte des 13. Jahrhunderts als Ziegel- und nicht als Holzbau: und 
zwar teilweise bereits mit Türmen aufgeführt worden sei; der 
Umbau zu der heutigen Gestalt ist, wie die zahlreichen Stiftungen 
für diesen Zweck erkennen lassen, im 14. Jahrhundert vom Presb - 
terium aus erfolgt; wie der Verf. aus Aufzeichnungen in den Stadt- 
büchern zeigt, wurde während des ganzen Jahrhunderts an der Voll- 
endung des Monumentalbaues, der 1365 den durch das Meisterwerk 


70) Przeklady staropolskie Nowego Testamentu. In: Spraw. tow. nauk. we 
Lwowie, VII, 1927, S. 6—11. 
71) Bibl. powsz. Nr. 1187/9. Złoczów. Zuckerkandel 1928. 
= a Bull. intern. d. Krak. Ak. Viss. 1928, Nr. 4—6, S. 164—169 (deutscher 
richt). 
73) XXII, 1929, S. 1—31. 


804 


von Veit Stoß im 15. Jahrhundert wieder verdrängten Hauptaltar er- 
hielt, gearbeitet. Über die Gründung der Kirche — altspunkt 
hierfür nur die mit Vorsicht zu behandelnde Notiz bei Diugosz über 
die Errichtung einer Pfarrkirche durch den Bischof Iwo ım Jahre 
1222, hingegen -nicht das gefälschte Erektionsdokument aus dem 
Jahre 1226 —, über die Ausstattung der Pfarrei —, die wichtigste, 
aber nicht die einzige in Krakau —, sowie über ihre Rechtslage — 
1415 ging das Patronat vom Bischof auf die zum guten Teil deutsche 
Bürgerschaft, für die in ihrer Muttersprache gepredigt wurde, über 
— gibt der Verf. quellenmäßig begründeten Aufschluß. — 
Stanislaw Tomkowicz schildert das Schicksal „des Spital- 
klosters zur hl. Hedwig“, ) das, 1375 ins Leben gerufen, mitsamt der 
dazu gehörenden Kirche im Jahre 1800 für Staatszwecke — heute 
befindet sich darin das Korpskommando — eingezogen wurde. Das 
Kernstück der Arbeit bildet die Darlegung des Bauplanes. — Georg 
Szablowski faßt „die St. Markuskirche in Krakau", die 1263 
von Bolestaw dem Schamhaften für die Fratres de poenitentia ge- 
stiftet und um 1411 ausgebaut, wiederholt (1495, 1589, 1724) ein 
Opfer der Flammen geworden war, bis es sein jetziges Aussehen er- 
hielt, ins Auge. Im „architektonischen Teil“ seiner Studie beschreibt 
er die Kirche in ihrem jetzigen Aussehen, greift aber gelegentlich auf 
ihre Baugeschichte zurück. — Auf die kirchliche Innendekoration 
nimmt Bezug die Untersuchung von Tadeusz Dobrowolski 
über „die Darstellungen aus dem Leben und Leiden des Herrn in der 
St. Katharinenkirche zu Krakau" "9 Auf Grund einer eingehenden 
Analyse der zwölf Bilder, die er in lithographischen Reproduktionen 
bringt, spricht er die Vermutung aus, der Bilderzyklus sei am Ende 
des 15. Jahrhunderts in der Krakauer Werkstatt eines weitgereisten 
Meisters, etwa Johann Gorayczyks, von wenigstens zwei Malern aus- 
geführt worden. — Hingegen erweist Josef Muczkowski „den 
Totentanz in der Krakauer Bernhardinerkirche“, “) die einzige Dar- 
stellung dieses im Mittelalter so volkstiimlichen Motivs, als ein Er- 
zeugnis aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. — Über „die 
St. Martinskirche in Posen“,”) ihre äußere Geschichte und innere 
55 handeln Stanisław Karwowski und Wacław 
ayer. 


In diesem Zusammenhang sei wegen ihres archäologischen Hinter- 
grundes auf die Arbeit von Mieczysław Gebarowicz über 
„Die Anfänge der Verehrung des hl. Stanislaus und seinen mittelalter- 
lichen Fund in Schweden”) verwiesen. Auch er bringt die Darstel- 
lungen auf dem Taufbecken zu Tryde mit der Stanislaus-Legende in 


74) S. 59—79. 

78) $. 80—96. 

76) S. 32—58. 

17) S. 120—185. 

18) Kronika, miasta Poznania VII, 190, $. 1—86, 101—112. ` 

79) Poczgtki kultu fe. Stanislaws i jego Sredniowieczny zabytek w Szwecyi, 
Lemberg 1927. | 


806 


Verbindung; von der Auffassung Semkowiczs weicht er aber in der 
Ausdeutung der einzelnen Bilder, die er im dritten Viertel des 13. 
und nicht wie jener um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden 
sein läßt, erheblich ab. Dadurch verschiebt sich aber die Bedeutung 
des Fundes von einer Quelle der Legende zu einem Dokument des 
Kultus in der Zeit des Kanonisationsverfahrens des Heiligen. 

Im Kulturleben Polens spielte das kirchliche Bildungs- 
wesen eine bedeutende Rolle. Von Emil Waschinskis groß 
angelegtem Werk über „Das kirchliche Bildungswesen in Ermland, 
Westpreußen und Posen?) fällt auch für die polnischen Gebiete 
außerhalb dieses Umkreises manche Notiz ab, wie auh Josef 
Skoczeks „Geschichte der Lemberger Kathedralschule“**) nicht 
nur eine lokale Bedeutung zukommt. 

Aus ihrer geistigen Beweglichkeit heraus griff die Kirche Polens 
über ihre engeren Grenzlinien ins Weite, um sih in der abend- 
ländischen Christenheit zur Geltung zu bringen. 
„Der Prozeß gegen einen polnischen Geistlichen wegen Beleidigung 
des Papstes Urban VI.“,®) über den Władysław Abraham 
eine handschriftliche Eintragung aus dem letzten Jahrzehnt des 
XIV. Jahrhunderts aufgefunden hat, zeigt, daß, wie bedeutungslos 
der Fall auch gewesen sein mag, man bei der Kurie Außerungen des 
ständigen Agenten des Gnesener Erzbischofs daselbst — diese Stellung 
wird wohl der Geistliche Laurentius dort bekleidet haben — mit 
Rücksicht auf das Schisma Beachtung schenkte. Diese Nachricht ent- 
nimmt Abraham Archivalien, die aus der ehemaligen St. Petersburger 
kaiserlichen Bibliochek an Polen zurückgestellt wurden. Daraus holt 
er weitere „Beiträge zur Geschichte der Kirche und des Kirchenrechts 
in Polen“,®) die zum Teil in der eben angedeuteten Linie sich be- 
wegen. Bei der engen Verbindung von Staat und Kirche wirkten 
beide zusammen suk das gemeinsame Ziel der Machtentfaltung hin. 
„Die Kirchenpolitik der Jagiellonen‘**) in ihrem Streben nach Be- 
festigung der Reichsgeltung nach außen wie Stärkung der Staats- 
gewalt nach innen beleuchtet Karl Völker an dem Verhältnis 
der polnischen Krone zum Papsttum, zur Kirchenspaltung und zur 
Unionsfrage. — Vaélav Novotny veröffentlicht einen wichtigen 
Beitrag „Zur polnischen Kandidatur auf den tschechischen Thron in 
der Hussitenzeit“,®) nämlich die von ihm im Prager erzbischöflichen 
Archiv aufgefundenen für Jagiello allerdings unannehmbaren „Be- 
dingungen“ der Hussiten an den Polenkönig bei dem Angebot der 
Krone. — Wie die Jagiellonen es verstanden haben. die Hussitenfrage 


se) Jahrb. N. F. V, S. 104 ff. (Haase). 

81) Dzieje Iwowskiej szkoły katedralnej. Lemberg 1928. 

82) Proces przeciw księdzu polskiemu o obrazę papieża Urbana VI. In: 
Brückner-Festschr. S. 106—111. 

83) Przyczynki do dziejów kościoła i prawa kościelnego w Polsce. In: Spraw. 
tow. nauk. we Lwowie VIII, 1928, S. 18 d 

8) ZfK G. N. F. X, 1928, S. 3857—3868. 

85) K polské kanditure na česky trun v dobè husitské. In: Conférence des 
historiens des états de l'Europe orientale et du monde Slave II, 1928, S. 187—145. 


306 


ungeachtet aller Ablehnung des Hussitismus für ihre dynastischen 
Zwecke auszunutzen, so zogen sieauch ausden Unionsverhand- 
lungen Vorteile. Von welcher Tragweite „das Problem der Kirchen- 
union“) für das Jagiellonenreich geworden war, ersieht man aus der 
großzügigen Erörterung der Fragestellung durch O. Halecki, der 
die verschlungenen Zusammenhänge zwischen der ostslavischen und 
griechisch-lateinischen Seite der Einigungsbestrebungen im Spiegel der 
heutigen Forschung klar und anregend auseinandersetzt. Die 
Stellungnahme der jagiellonischen Herrscher in dieser Angelegenheit 
wird durch die Verbindungslinien, die H. im Blick auf den Gesamt- 
komplex des Problems zieht, erst eigentlich verständlich. — Kirchen- 
historishe Fragen des Ostens, wie das Verhältnis Polens zum 
deutschen Ritterorden und zum schismatischen Rußland, streift der- 
selbe auch in seinem Vortrag über „Die skandinavische Politik der 
Jagiellonen“.“) Nach dem kirchlichen Osten weist ferner Leon 
Białkowski mit seinen Aufsätzen „Aus Ost und West“.®) Aus 
östlichen Arichvalien sucht er den Einschlag des polnischen Elementes, 
als dessen festeste Stütze der römische Katholizismus gilt, ın den 
Grenzgebieten, Rotrußland, Wolhynien und Podolien, zu erhärten. 
Mitteilungen zur Geschichte des römisch-katholischen Bistums in 
Kamieniec Podolski, Aktenregesten zur Geschichte des Dominikaner- 
klosters daselbst wie nicht minder ein Verzeichnis lateinischer 
Priester in Podolien ım 17. Jahrhundert verdeutlichen den Drang 
Polens nach dem Osten. In umgekehrter Richtung trug die Kirchen- 
union zu der auch durch wirtschaftlich-politischa Umstände ge- 
förderten Polonisierung der in Polen angesiedelten Armenier bei. 
Der historische Abriß „Die armenische Kirche in Polen“) Czesław 
Lechickis’, der diesen Zusammenhängen nachgeht, füllt als erste 
umfassendere Darstellung der Gestaltung dieses im ganzen nur über 
4000 Seelen umfassenden Kirchenkörpers eine Lücke aus. Schon der 
Umstand, daß das armenische Bistum in Lemberg älter ist als das 
daselbst 1370 begründete römisch-katholische, von dem griechisch- 
katholischen (1539) gar nicht zu reden, läßt die Besonderheit des 
Gegenstandes erkennen. Der Verf. stellt die Geschichte der armeni- 
schen Erzdiözese in Polen im Rahmen der Geschicke des armenischen 
Volks sowie der armenischen Monophysiten dar, wodurch seine 
Schrift eine allgemeinere Bedeutung erlangt. Im Mittelpunkt seiner 
Ausführungen steht die Annahme der Union durch die polnischen 
Armenier, die im Anschluß an die Wirksamkeit des mit dem 
Katholikos zerfallenen Erzbischofs Nikolaus Torosowicz (1630 bis 
1681) unter unmittelbarer Einflußnahme der Kurie sowie unter 


6) Le problème de l’Union des Eglises. In: Pologne au II. Congrès intern. 
des sciences histor. Oslo 1928, Warschau 1980. Dazu: Przelom w dziejach unji 
kość. w XIV w. (Wendepunkt in der Gesch. der kirchl. Union im XIV. Jahrh.) 
In: Przegl. powsz. 182, 1929, S, 276—297. 

97) Derselbe: La politique scandinave des Jagellons. In: Poloque au 
VI. Congr. intern. des sciences hist. Oslo 1928. 

e8) Ze wschodu i zachodu, Lublin 1929. Sonderdr. aus: Pamiętnik lubelski. 

239) Kościół Ormianski w Polsce. Lemberg 1928 (10 Abbildungen u. 1 Karte). 


307 


einem deutlichen Druck der polnischen Regierung nach harten 
Kämpfen allmählich erfolgte. Den Anteil des Theatinerordens an 
den Einigungsbestrebungen, vor allem hinsichtlich der Heranbildung 
des Klerus im Geiste der Union mit Rom, hebt er dabei besonders 
hervor. Die armenische Liturgie sowie die orientalische Architek- 
tonik der Lemberger Kath e erscheinen heute als die einzigen 
Erinnerungszeichen an die östliche Herkunft der armenischen Kirche 
in Polen, deren Mitglieder völlig im polnischen Geistesleben aufgehen. 
Den Gang der Ereignisse von den Anfängen bis auf die Gegenwart 
läßt der Verf. nach der Chronologie der einzelnen Träger des 
Bischofsamtes sich abwickeln. 


Bei der Behandlung der Armenier sind die Grundzüge der 
jagiellonischen Kirchenpolitik insofern unverkennbar, als die Krone 
sie bei ihrer religiösen Eigenart im Unterschied von der späteren Zeit 
nach Tunlichkeit beließ. Diese Spannweite der Bewegungsfreiheit 
ermöglichte auh der Reformation die Ausbreitung. Einen 
Überblik über die Arbeiten aus dem Forschungsbereih der 
Reformationsgeschichte in Polen“) bietet Kazimierz Kolbu- 
szewski, auf dessen eigenen Beiträge, die er nicht erwähnt, hier er- 
gänzend hingewiesen werden soll, soweit es nicht bereits geschehen 
a Die von Stanislaw Kot herausgegebene Zeitschrift 
„Reformacya w Polsce“,®) von der seit unserem letzten Bericht zwei 
weitere Hefte“) erschienen sind, bildet nach wie vor den Sammel- 
punkt der Forschungsarbeit auf diesem Gebiet. 


Die beiden in französischer Sprache erschienenen und sich er- 
EE den Gang der Ereignisse zusammenfassenden Darstel- 
ungen, die von G. David: „Der Protestantismus in Polen bis 
1570“) und die von Oskar Heinrich Prentki: 
„Historischer Essai über den Niedergang der Reformation in 
Polen“) fördern zwar nicht die Forschung um neue Erkenntnisse, 
ziehen aber im einzelnen die Linie schärfer, so z. B. Prentki in dem 
Abschnitt über die Rolle der Jesuiten. — Im Rahmen einer Gesamt- 
würdigung „des Protestantismus bei den Slaven“) kommt Hans 
Koch auch auf die evangelische Bewegung unter den Polen zu 
sprechen, wobei er in beachtenswerter Weise als eine der Ursachen 
des Erfolges der Gegenreformation bei den Slaven die innere Ver- 
wandtschaft zwishen der an dramatishen Spannungen reichen 
katholischen Rechtfertigungslehre und dem ,,Bunten, Wechselvollen, 
mus auf und ab Wogenden“ in dem slavischen Volkscharakter 

zeichnet. 


20) Przegląd prac z zakresu dziejów reformacyi w Polsce. In: Pamiętnik 
literacki XXV, 1928, Lemberg. 

91) „Jahrbücher“ N. F. 1928, S. 257 u. 26t. 

92) Abgekürzt: R w P. 

es) V, Nr. 19 u. 20. 

94) Le protestantisme en Pologne jus quam 1570. Montpellier 1927. 

98) Essai historique sur le dècline de la rèforme en Pologne. Ebd. 1927. 

%) Sonderdr. aus „Deutsche Blätter“ VI, 1929, Nr. 12, Posen. 


308 


Sos" H se RS RM R n- 


Von Einzelfragen, die in der Forschung der letzten Zeit erdrtert 
wurden, verdient besondere Erwahnung der Streit um die Auslegung 
des Satzes in der Warschauer Konföderation vom 28. Januar 1573, 
daß die Grundherren berechtigt seien, die unter dem Vorwand der 
Religion ungehorsamen Hörigen tam in spiritualibus quam in 
secularibus nach eigenem Gutdünken zu bestrafen. Soll „rebus‘ oder 
„bonis ergänzt werden? Die Frage der Gewissensfreiheit der ein- 
zelnen Untertanen hängt davon ab, denn im ersteren Falle wäre der 
Grundsatz „cuius regio, eius religio“ den Grundherren zugestanden. 
Dagegen spricht sih Josef SiemieAski in seiner Studie: 
„Rebus‘ in der Warschauer Konföderation“) aus, indem er für 
„bonis“ eintritt, wohingegen Stanislaw Ptaszycki durch seine 
„archäologisch-sprachlichen Erwägungen“ über „die Warschauer 
Konföderation) zu dem Ergebnis gelangt, die Verfasser hätten an 
„rebus“ gedacht, während Wacław Sobieski in der Abhand- 
lung „Aber nicht um den Glauben“) die Ansicht vertritt, der be- 
treffende Artikel sei absichtlich so unbestimmt abgefaßt worden, da 
bei den beteiligten Kreisen eine einheitliche Auffassung nicht zu er- 
zielen war, wiewohl, wie aus einer französischen, litauischen und 
zwei deutschen Textüberlieferungen hervorgeht, die Mehrheit der 
Anschauung im Sinne der Ergänzung von „rebus“ zuneigte. 
Sie mies ki, dem die Auffindung der Urschrift der Konfödera- 
tion gelungen ist, sucht daraufhin „zur Verteidigung der ‚Güter‘ in 
der Warschauer Konföderation“) die Einwürfe von Sobieski 
für sich geltend zu machen, worauf dieser in „einigen Be- 
merkungen zur Geschichte der Gewissensfreiheit‘“*) seine früheren 
Ausführungen unter besonderer Hervorkehrung des Toleranz- 
momentes noch schärfer zusammenfaßt. Siemienski muß man es zu- 
gute halten, daß er das in Verhandlung stehende Problem nach allen 
Seiten hin reiflich erwogen und sowohl für „rebus“ als auch für 
„bonis die Für und Wider ernstlich erwogen hat; dadurch bietet 
seine Schrift zugleich eine sichere Einführung in das Problem. Dabei 
strebt er in richtiger Erwägung des Tatbestandes eine Lösung nicht 
so sehr auf philologischem Wege als aus den historischen Begleit- 
umständen heraus an. Der unklare Wortlaut läßt doch klar er- 
kennen, daß es sich bei den Konföderierten in erster Linie darum ge- 
handelt hat, eine Lockerung des Untertanenverhältnisses der Hörigen 
gegenüber den Grundherren, sowohl den weltlichen als auch den 

geistlichen, von vornherein zu verhindern. Es sollte also in dieser 
Hinsiht auch durch die gegenseitige konfessionelle Duldung alles 
beim Alten bleiben. Demnach wäre das ,,tam in spiritualibus quam 


07) Rebus w konfederacyi warszawskiej r. 1578. In: Rozprawy z polskiego 
prawa politycznego. Bd. I, Heft 1, Warschau 1927. 

33) Konfederacja warszawska r. 1578. RwP. V, S. 90—97. 

d) „A nie o wiarę. Ebd. S. 60—67. 

0 W obronie „dóbr“ konfederacyi 1573 r. Ebd. S. 98—108. 

a) 5 remarques sur l'histoire de la liberté de conscience. In: 
Resumés des communications présentées au congrés Oslo 1928, S. 201 f. 


809 


in saecularibus“ nicht anders zu verstehen als das einige Zeilen vorher 
stehende „tak panów duchownych jako i świeckich“ („sowohl den 
geistlichen als auch der weltlichen Herren“); sohin sollte man fo 
55 im Sinne von Grundbesitz ergänzen. Es muß r 
doch bedenklich stimmen, daß man in maßgebenden Kreisen, wie die 
oben angedeutete Textiiberliefe beweist, diese Wendung im 
Sinne von „rebus“ d. i. Angelegenheiten verstanden wissen wollte. 
Das „spiritualia“ scheint au darauf hinzudeuten, da das 
passendere Adjektiv zu bona wohl „ecclesiactica gewesen wäre, wenn 
auch das polnische „duchowne“ durch spiritualia unmittelbarer 
wiedergegeben wird. Aber man wird die „res“ von vornherein auf 
die mit der äußeren Gehorsamsverweigerung, insbesondere bezüg- 
lich der pflichtmäßigen Abgaben zusammenhängenden Strafmittel be- 
schränken müssen, da sonst der Grundsatz cius regio eius religio 
gutgeheißen worden wäre, den doch Katholiken wie Protestanten 
sich gegenseitig nicht zubilligen wollten. Im übrigen wird man gut 
tun, in die umstrittenen Worte nicht allzuviel hineinzulegen. Durch 
den Zusatz „nach eigenem Gutdünken“ hat man den Grundherren 
ohnehin freie Hand gelassen. Die Grundrichtung ging jedenfalls 
dahin, die Gewissen zu schonen, wie Sobieski aus den Verhandlungen 
des Sandomirer Sejmik richtig geschlossen hat. — Mit den Bestim- 
mungen der Warschauer Konföderation setzt sich Josef 
Siemienski auch in seinem Aufsatz über den Begriff „Dissidenten 
in der Gesetzgebung) auseinander. Nach seiner Auffassung sei 
es den Konföderierten nicht um eine grundsätzliche, sondern um eine 
rein praktische Regelung des Verhältnisses von Katholiken und 
Protestanten mit Ausschluß der Schismatiker zu tun gewesen, wes- 
halb aus dem Doppelsinn „Dissidenten“ ebenso die Gleichberechti- 

ung wie die bloße Duldung der Evangelischen abgeleitet werden 

onnte. Diese Auslegung wurde sehr bald der Warschauer 
Konföderation, die von Polen den Religionskrieg, von welcher Seite 
er drohen mochte, fernhalten sollte, unterschoben. 

Für die Verbreitung der Reformation in Polen wurden die 
Auslandsbeziehungen von weitgehender Bedeutung. 
Theodor Votsckke vermittelt hievon einen unmittelbaren Ein- 
druck, indem er aus den Matriken der Universitäten Vittenberg,. 
Heidelberg,) Leiden,“ Altdorf und Frankfurt a. O. die 
Namen der daselbst studierenden Polen unter gleichzeitiger Vürdi- 
gung ihrer späteren Haltung in der religiösen Bewegung hervorholt. 
Diese Studien enthalten zugleich wichtiges Material zur Personal- 
geschichte des Reformationszeitalters. Uber die Beziehungen zwischen 
„Helmstedt und Zamość“) handelt Stanisław Kot. In 


103) Dysydenci w ustawodawstwie. RwP. V, Nr. 20, S. 81—89. 
103) „Jahrbücher“ N. F. 2, 1925, S. 169—200. 

104) Ebd. 8, S. 46—07. 

108) Ebd. S. 461—486. 

108) Ebd. 4, S. 216—252. 

107) Ebd. 5, S. 228—244. 

100) Helmstedt i Zamość, Zamość 1929. 


810 


SREP ERS S Re 


dieser Studie ,,aus der Geschichte der humanistischen Kultur“ steht 
im Mittelpunkt ,,der letzte deutsche Humanist“ Caselius, ,,dessen 
Beziehungen zu Polen“) auch Theodor Wotschke auf Grund 
desselben era nämlich hauptsächlich der in der Wolfen- 
biitteler Bibliothek befindlichen Briefe desselben beleuchtet. Bei der 
Gründung der ZamoSéer Akademie (1594), deren „Publikation“ ) 
Kot zusammen mit der Ankündigung der Errichtung der Königs- 
berger Albertina (1544) nach einem im Staatsarchiv zu Venedig er- 
haltenen Exemplar veröffentlicht, holt der Hetmann Jan Zamojski 
den Rat des Helmstedter Professors, der auch sonstige Verbindungen 
mit Polen unterhielt, ein. Die von K. in Faksimile abgedruckten 
Titelblätter der Kundgebungen des Helmstedter Kreises für Zamojski 
erhöhen den bibliophilen Wert seiner Schrift. Kein geringerer als 
Melanchthon lenkte die Aufmerksamkeit der Polen auf Caselius. 
„Die Melanchthon - Probleme“) hinsichtlich Polens erörtert 
Kazimierz Kolbuszewski als Auftakt einer größeren Arbeit 
über „Melanchthon und Polen“. Die systematische Erfassung des 
Briefwechsels desselben mit Polen — die bisher bekannten und zer- 
streut veröffentlichten 45 Briefe unvollständig — liegt ihm besonders 
am Herzen, als Voraussetzung für die richtige Beurteilung der Trag- 
weite der Studienfahrten von Polen nach Wittenberg und zur Ab- 
schätzung des Einflusses des Praeceptor Germaniae auf das polnische 
Schulwesen. 

Die Beziehungen zum protestantischen Westen haben das 
polnische Schrifttum befruchtet. Aus dem Lebenslauf von 
Nikolaus Re j, dem Vater der polnischen Nationalliteratur, zu- 
gleich einem eifrigen Vorkämpfer Protestantismus, beantwortet 
W. Bud ka die Frage: „Wann derselbe zum Protestantismus über- 
getragen sei!) dahin, er habe den Schritt zwischen 1540, in welchem 
Jahre er um die Bewilligung zum Bau einer katholischen Kirche für 
seinen Schwiegervater bei d geistlichen Stellen eingekommen sei 
und 1543 — die damals erschienenen Schriften lassen die Abkehr vom 
Papsttum bereits erkennen —, vollzogen. Stanislaw Bodniak 

t fest, daß „N. Rej auf den Reichstagen ) in der Zeit 1556—1564 
wiederholt mit konfessionellen Forderungen, besonders im Kampf 
um das Interim, gemäßigt und erfolgreich aufgetreten sei. — „Die 
Chronik des Lebens, der Lehre und Taten Jesu Christi des Erasmus 
Gliczner“,*"*) eines der fruchtbarsten protestantischen Schriftsteller in 
Polen, druckt Kazimierz Miaskowski nad einem Unikum 


108) Arch. f. Ref. gesch. Texte u. Unters. XXVI, Heft 1/2. 

110) Publikacya nowych uniwersytetów w XVI. w., Królewiec i Zamośé, 
Krakau 1929. 

111) Problemy Melanchtonowe. In: Sprawozd. z pos. tow. nauk. w. Warsz. 
XXI, 1928, I S. 27—41. 

118) Kiedy M. Rej. zostal protestantem? In: Ruch literacki, 1928. 

118) M. R. na sejmach. In: Pam. liter. 1928. 

114) Erazma Glicznera kronika żywota, nauk i spraw Jezusa Chrystusa. In: 
Zap. tow. nauk. w Tor. VII, 1927/8, S. 206—225, 257—268. 


Sil 


der Kopernikus-Bibliothek in Thorn ab; in der Einleitung macht er 
die Abfassun dieser lutherisches Gepräge, wenn auch ohne polemische 
Note, deutlich zur Schau tragenden Evangelienharmonie (1579) durch 
den großpolnischen Superintendenten im hohen Maße wahrscheinlich. 
Stanisiaw Tync nimmt „Die beiden protestantischen Pre- 
digten“, ) die er im Thorner städtischen Archiv aufgefunden, für den 
Thorner Pastor Martin Murzynski, einen ehemaligen Dominikaner, 
in Anspruch. Stanistaw Kot veröffentlicht den dem Wid- 
mungsexemplar eingelegten, eigenhändig geschriebenen „Brief des 
Andress Frycz Modrzewski an den König Sigismund August bei der 
Übergabe des Werkes über die Staatsreform“, ) worin die allerdings 
unerfüllte Bitte um Verleihung einer kirchlichen Pfründe zur Sicher- 
stellung ungestörter wissenschaftlicher Arbeit auffällt. — Auch die 
Flauptstücke der protestantischen Erbauungs- und Erziehungsliteratur 
haben Beachtung gefunden. Johann Janów zeigt, 
„Johann Sandeckı - Malecki?!”) als Übersetzer des Neuen Testaments 
(1582) völlig von tschechischen Vorlagen abhängig sei; dem von ihm 
hart befehdeten Seklucyan gebühre infolgedessen der Vortritt. — 
Stanistaw Lempicki läßt sich über „ein unbekanntes Gesang- 

aus Pitschen in Schlesien aus dem 17. Jahrhundert“) auf Grund 
einer Abschrift des im Weltkrieg verlorengegangenen handschrift- 
ichen Originals aus. Unter den 310 Liedern, die den Bedürfnissen 
der polnischen Lutheraner Oberschlesiens angepaßt seien, findet er 
u. a. interessante Varianten von religiösen Dichtungen der protestan- 
tischen Frühzeit, woraus sich auch für die altpolnische kei 
neue Erkenntnisse ergeben. — Das protestantische Schrifttum sollte 
auch der Abwehr dienen. Marie Czapska stellt „Die reli- 
giöse Polemik im ersten Zeitabschnitt der Reformation in Polen“ ““) 
(bis 1572) dar. Sie sucht die Stellungnahme der 5 Bekämpfer 
des römischen Katholizismus aus der Haltung der Väter des Protes- 
tantismus verständlich zu machen, Rej, Modrzewski, Seklucyan, 
Krowicki u. a. werden auf diese Weise hinsichtlich ihrer Abhängigkeit 
wie Selbständigkeit in die richtige Beleuchtung gerückt. D. V. be- 
handelt die einzelnen Streitpunkte, wie Kirchenbegriff, päpstlichen 
Primat, Bilder- und Heiligendienst gesondert, wobei sie zugleich die 
Grundgedanken der katholischen Verteidigung hervorhebt. Die 
Arbeit bedeutet in sachlicher wie De ee e Hinsicht einen Fort- 
schritt in der Forschung. 


$ re Dwa polskie kazania protestanckie Marcina MurzyAkiego. Ebd. S. 150 
is 156. 
118) A. Frycza Modrzewskiego list do kröla Zygmunta Agusta przy wreczeniu 
dziela o poprawie Rxltej. Rw. P. V, S. 115—119. 

117) Jan Sandecki-Malecki jako redaktor najstarszego lekcjonarza polskiego i 
jako tlumace Nowego Testamentu 2 r. 1552. In: Bull. intern. der Krak. Akad. 
Wissensch., 1928, Heft 2. 

118) Nieznany kancyonal z Byczyny na Śląsku z XVII w. In: Spraw. tow. 
nauk. we Swowie VII, 1927, S. 7782. 

g ER Polemika religijna pierwszego okresu reformacyi w Polsce. RwP. V, 


312 


Aus dem Kampf fordert zum Frieden auf dér kleinpolnische 
Senior Bartholomäus Bythner in einer 1612 herausgegebenen Schrift, 
die Wilhelm Bickeric als „ein Programm des en 
lichen Universalismus) im Anschluß an die gleichbetitelte pol- 
nische Abhandlung E. Bursches’**) würdigt. In Ergänzung der Aus- 
führungen desselben verweist er auf die Bedeutung der Friedensschrift 
Bythners für die irenische Literatur — besonders Panäus und 
Comenius — und erklärt die Bezeichnung des Seniors als „Polonus“ 
im Sinne von Staats- und nicht von Volkszugehörigkeit, wie es 
Bursche haben möchte. — In den Rahmen d protestantischen 
Literaturgeschihte gehört auch die Mitteilung Theodor 
Wotschkes über die nicht genannt sein wollenden ,,Mitarbeiter 
an den Acta historico - ecclesiastica in Polen“, “) deren 56 Briefe aus 
der Zeit von 1736 bis 1752 an die Herausgeber er in der Gothaer 
Landesbibliothek gefunden hat. 

Diese Briefe spiegeln die mißliche Lage, in der sich die Evan- 
gelischen Polens in der späteren Zeit befanden, wider — 

über erfahren wir nähere Einzelheiten auh aus Theodor 
Wotschkes Studie „Der Pietismus im alten Polen“, “) worin er 
aus dem Briefwechsel des Wengrower Pastors Joh. Friedr. Bachstrom 
und des Warschauer Militärgeistlichen Adelung mit Halle das Vor- 
handensein dieser Frömmigkeitsrichtung in Polen erweist. — Des- 
selben „Hilferufe nach der Schweiz‘) umfassen 33 Briefe, die 
ın der Zeit von 1720 bis 1746 von Lissa aus nach der Schweiz in An- 
gelegenheit der schwer bedrängten reformierten Kirche in Polen 
gerichtet wurden. Im Anhang folgen sieben an die maßgebenden 
Berliner Stellen, auch an Friedrich den Großen, in der gleichen Sache 
von 1747—1763 verfaßten Berichte. — „Ein Lebensbild aus stürmisch 
bewegter Zeit“, das „des Thorner Pfarrers Simon Weiß, 1623—1688“ 
entwirft Heuer, vor allem an der Hand von archivalischen Auf- 
zeichnungen in der Thorner Coppernikus-Bibliothek. Die Wirk- 
samkeit desselben in Lissa und Thorn fällt in die Zeit des 30 jährigen 
Krieges, als protestantische Exulanten aus Böhmen und Schlesien in 
Polen Aufnahme fanden, so daß Lissas Einwohnerzahl auf 12 000 
stieg. Andererseits wurden viele Ortschaften 1655/6 durch Feuers- 
brunst und Pest schwer geschädigt, woraus sich auch für Weiß schwere 
Rückschläge ergaben. 

Der Protestantismus in Polen wurde in seiner Viderstandskraft 
durch den sogenannten Arianis mus geschwächt. Oskar 
Bartel kennzeichnet „Die dogmatischen Kämpfe in den Jahren 
1559— 1562“, 0 die den Auftakt zur Bewegung bildeten. — Żanna 
Kozmanowa möchte durch ihre Studie über „Die polnischen 


180) Deutsche wiss. Zschf. Polen, Heft 16, S. 1—20, 1929. 

121) „Jahrbücher“ N. E. IV, S. 267. | 

122) Deutsche wiss. Zschf. Polen, Heft 16. 

138) Ebd. Heft 15 f., 1929, Sonderdr. 

134) Mitt. d. Coppernikusver. zu Thorn, 35, S. 1—28. 

128) Walka rel. dogmatyczna w latach 1559 — 1562. In: Glos Ewang., 1928. 


318 


Brüder, 1560— 1570.0)“ den ersten Baustein zu der noch 
fehlenden Monographie dieser unbeugsamen Vorkämpfer „einer neuen 
Weltanschauung“ beisteuern. Den durch den Tod Laskis und die 
Sendomirer Verständigung abgegrenzten Zeitraum bezeichnet sie 
als die Periode „der Entstehung und Befestigung der arianischen Ge- 
meinschaft“. Unter fleißiger Verwertung der vorhandenen Literatur 
schildert sie in anschaulicher Darstellung die Absonderung der Gegner 
des kirchlichen Dogmas vom Calvinismus und deren Verselbständi- 
gung. Wenn auch der äußere Verlauf durch anderweitige Dar- 
stellungen bekannt ist, so gelingt es doch K., durch straffere Linien- 
ührung die Zusammenhänge besonders hinsichtlich der handelnden 
Personen im einzelnen schärfer zu erfassen. Das gilt vor allem von 
dem letzten Abschnitt, worin sie „die erste Generation der polni- 
schen Arianer“, die Menschen und ihre Ideologie, auch die sozial- 
politische, zu kennzeichnen sucht. — Über die Anfangszeit des polni- 
schen Antitrinitarismus führt die Monographie Konrad Görs- 
kis „Gregor Paul aus Brzezin“*") hinaus. Auf dem Hintergrund 
der polnischen Reformationsgeschichte kennzeichnet er seinen Helden, 
der vom Luthertum über den Calvinismus, dem Tritheismus und 
das Täufertum zum Unitarismus übergegangen ist, als den eigent- 
lichen Begründer der Sekte „der polnischen Brüder“ trotz seines 
theologischen Dilettantismus, der ihn seinen dogmatischen Standort 
dauernd wechseln ließ, dank seiner agitatorischen Begabung und per- 
sönlichen Anspruchslosigkeit, ungeachtet brennenden Ehrgeizes. G. 
legt den Hauptnachdruck auf die literarhistorische Bedeutung des- 
selben, weshalb er auch seine schriftstellerishe Tätigkeit eingehend 
untersucht. Fausto Sozzinis Anteil an dem Aufbau der nach ihm be- 
nannten religiösen Gemeinschaft muß fortab nach den Vorarbeiten 
Gregors, die G. aufzeigt, bewertet werden. — Uber den Aufenthalt 
des „Fausto Sozzini in Krakau“) bringt Włodzimierz Budka 
neue Einzelheiten, Alexander Kossowski, desgleichen 
„aus dem Leben der polnischen Arianer in Lublin“, * besonders über 
das Schicksal ihres Hauses. — „Die Angelegenheit der Vertreibung der 
Arianer im Jahre 1566) klärt Stanislaw Bodniak in 
auf, die geplante Ausweisung derselben sei auf dem Lubliner 
Reichstag hauptsächlich an dem Widerstand der Bischöfe gescheitert, 
die befürchteten, es könnte die Exilierung der einen Gruppe der 
Ketzer als Duldung der anderen gedeutet werden. Die calvinischen 
Senatoren waren nicht abgeneigt, dieser Maßregelung der Leugner der 
Trinität zuzustimmen. Den ensatz zwischen den Vertretern der 
Rechtgläubigkeit und diesen beleuchtet auch der Vortrag Johann 
Kvacalas über „Den Kampf des Comenius mit den polnischen 


130) Bracia polscy 1560—1570. In: Rozpr. hist, tow. nauk. w Warsz., VII, 
Heft 2, 1929. 

127) Grzegorz Pawel z Brzezin, Krakau 1929. 

128) Faust Socyn w Krakowie. RwP. V, Nr. 20, S. 120—128. 

120) Z życia Arjan polskich w Lublinie. Ebd. Nr. 19, S. 77—80. 

130) Sprawa wygnania arjan w r. 1506. Ebd. S. 52—59. 


314 


Brüdern“) unter Heranziehung der betreffenden Schriften desselben, 
dem die beiden Schlichtings, Wiszowaty und Ruar, vergeblich eine 
bessere Meinung vom Glaubensstand ihrer Religionsgemeinschaft bei- 
zubringen sich bemühten. 

Der römische Katholizismus setzte sich gegenüber 
dem Ansturm des Protestantismus zur Wehr. Im Mittelpunkt der 
jüngsten Forschung über die Gegenreformation steht die 

t des Ermländischen Bischofs Stanislaus Hosius. Eine 
volkstümliche Lebensgeschichte desselben“) bietet Josef Umins- 
ki, der auch „einen Bericht über römische Nachforschungen zu einer 
Monographie über den Kardinal Stanislaus Hosius ) erstattet. 
Das Schriftchen will zugleich die Bemühungen des polnischen Epis- 
kopates um die Seligsprechung dieser Säule des römischen Katholizis- 
mus im Reformationszeitalter unterstützen. Damit ist seine Grund- 
richtung vorgezeichnet. Das Hauptverdienst Hosius’ erblickt d. V. 
darin, „daß er ganz Polen und Ermland vor dem Protestantismus 
gerettet hat“ (S. 103). Darüber hinaus kennzeichnet er ihn als eine 
Führerpersönlichkeit des europäischen Katholizismus, weshalb er auf 
seine Auslandsbeziehungen besonderen Nachdruck legt. Gerade 
wegen der streng katholischen Einstellung des Vs. erhält man von 
Hosius’ Wirksamkeit, die sich in der gleichen Richtung bewegte, 
einen unmittelbaren Eindruck. Einzelheiten aus dem Leben des 
Kardinals beleuchten ergänzend einige Aufsätze, so der von Josef 
Bielowski „Aus der politischen Wirksamkeit des St. H.“, “) der 
von H. Cihowski „Über die Polemik des Kardinals H. mit 

ohann Laski‘,’**) der von A. Kossowski „H. und Orzechowski 
im letzten Jahr des Tridentinischen Konzils“.’**) 


Nach den beiden preußischen Bistümern, die Hosius innegehabt, 
weisen drei weitere Arbeiten: M. Gumowski faßt die zerstreuten 
Nachrichten über den Vorgänger des Hosius auf dem Culmer Bischofs- 
sitz „Johann Dantiscus und seine Medaillen“) zusammen. Diese 
kunsthistorische Untersuchung der vier bisher bekannt gewordenen 
Medaillen zeigt den Bischof im Verkehr mit ausländischen, vor allem 
deutschen Humanisten. — Tadeusz Glemma kennzeichnet 
„Die preußischen Stände und den Culmer Bischof Peter Kostka 
während des zweiten Interregnums“."*) — Georg Lühr ver- 
öffentlicht „Die Matrikel des päpstlichen Seminars zu Braunsberg 


131) Walka Komenskiego z braémi polskimi. In: Glos Ewang., 1928, War- 
schau; Sonderdr. 
a St. H. In: Zywoty Polakéw i Polek dobrze zastuzonych ojczyznie, Nr. 1, 
138) Sprawozd. z poszukiwah rzymskich do monografji o kardynale Stanis- 
ławie Hozjuszu. In: Aten. kaplahsk. XX, S. 176—1883. 
134) Z dzialalonoſci publicznej St. Ha. Ebd. XXI u. XXII, 1928. 
138) Przegl. teolog. IX, Nr. 8. 
138) „Jahrbücher“ N. F. IV, S. 154 (Forst-Battaglia). 
: 1 Jan Dantyszek i jego medale. In: Zapiski tow. nauk. w Tor. VIII, 1929, 
: 19. 
138) „Jahrbücher“ V, S. 104 (Tyszkowski). 


21 NF 6 315 


1578—1798*."**) Diese im Anschluß an die nordische Missions- 
arbeit des Jesuiten Possevino nach dem Vorbild des Collegium ger- 
manicum in Rom von Gregor XIII 1578 errichtete und 1798 infolge 
der Besetzung Roms durch die Franzosen eingegangene Lehranstalt 
wurde ein Stützpunkt für die auf die Katholisierung des protestanti- 
schen und schismatischen Nordens gerichteten Bestrebungen. Die 
1580 Eintragungen der jetzt im Eigentum der Bibliothek des erm- 
ländischen Diözesanseminars befindlichen Matrikel, einem echten 
Pergamentband in Bogenformat, umfassen zwar nur 16 als „Polen“ 
bezeichnete Studierende, in Anbetracht des kirchenpolitischen Inter- 
esses der polnischen Krone an den von Braunsberg aus geförderten 
Unternehmungen — man denke nur an die Bemühungen der pol- 
nischen Wasas um die schwedische Krone und an ihre Unions- 
bestrebungen bei den Ruthenen — lassen sich von hier aus starke 
Verbindungsfäden mit der Kirchengeschichte Polens ziehen. Diese 
Zusammenhänge würden erst deutlich hervortreten, wenn man der 
äteren, in einigen Fällen in der Matrikel angedeuteten Wirksamkeit 
er einzelnen Zöglinge nachgehen würde. 

In dieselbe geistesgeschichtliche Umwelt führt ein die Arbeit 
von Ernst Sittig „Der polnische Katechismus des Ledezma und 
die litauischen Katechismen des Daugsza und des Anonymus vom 
ahre 16057.“ Zur Stärkung des Katholizismus im Abwehr- 

ampf gegen den Protestantismus übersetzte der litauische Kanonikus 
Nikaloius Daugsza 1595 den Katechismus des Spaniers Jakob Ledesma 
(t 1570) ins Litauische, aber nicht nach dem spanischen Original, 
sondern nach einer anonymen polnischen Übertragung; wegen zu 
starker dialektischer Färbung veranstaltete 1605 ein ungenannter 
Jesuit, der nicht mit Konstantin Szyrwid, dem Herausgeber der 
ersten litauischen Grammatik, identisch sein kann, eine abermalige 
Übersetzung dieses Katechismus ins Hochlitauische, ebenfalls nach der 

Inischen Vorlage. S. bietet nun eine interlineare Textausgabe 

ider litauischen Katechismen unter Voranstellung des polnischen 
Textes. Dadurch ermöglicht er den sprachwissenschaftlichen Ver- 
gleich der beiden Textformen in ihrer Abhängigkeit von der polni- 
schen Urschrift, was auch für den Kirchenhistoriker von Wert ist. 

Zur Geschichte der konfessionellen Polemik sei auf die Studie 
von Stanislaw Bodniak über „Hieronymus Baliński, einen 
unbekannten katholischen Polemiker am Ausgang des 16. Jahr- 
hunderts“,'*!) einen ehemaligen Protestanten, dessen nur handschrift- 
lich erhaltene Streitschriften sich nicht über den Durchschnitt erheben, 
und auf die Arbeit von Marian Heitzman über „Stanislaw 
Krzystanowicz und seine Polemik mit Baco von Verulam“ “) wegen 


13°) In: Monumenta Histor. Warmiensis, Bd. XI, 1 u. 2. Königsberg 1925/26. 

140) In: Ergänzungshefte zur Zeitschr. f. Vergl. Sprachforsch. a. d. Gebiet 
d. indogerm. Sprachen, Nr. 6. Göttingen 1929. 

141) H. B., nieznany polemista katolicki ze schylku XVI w. RwP. V, Nr. 20, 
S. 104—114. 

102) St. K. i jego polemika z Baconem Werulamskim. Ebd. Nr. 19, S. 68—76. 


316 


der englischen Katholikenverfolgungen unter Elisabeth und Jakob I. 
hingewiesen. — Aus dem Aufsatz des Tadeusz Sinko ,,iiber die 
Nazianz-Studien in Polen?) verdient hervorgehoben zu werden, 
daß Skarga, der auch eine Lebensgeschichte Gregors von Nazianz 
kompiliert hat, bei der Bekimpfung der Protestanten diesen griechi- 
schen Kirchenvater ins Treffen fiihrt, woraus zugleich hervorgeht, 


end die Jesuiten in Polen auch die griechische Patrologie gepflegt 
aben. 


Einige in den „Jahrbüchern“ bereits angezeigten Beiträge zur 
Geschichte des römischen Katholizismus in der Neuzeit seien hier 
noch einmal erwähnt: H. Cichowski: „Eine ungenannte Jesuiten- 
polemik des 17. Jahrhunderts“;!*) Stanislaw Bednarski: 
„Die Beziehungen des Kardinals Bellarmin zu Polen“;*) M. Loret: 
„Rom und Polen zu Beginn der Regierung Stanisław Augusts“;'**) 
M. Godlewski: „Der Erzbischof Siestrzencewicz und Stanistaw 
August in Petersburg.“) 


Zum Schluß sei noch die Erwähnung „der Kirchengeschichte 
Polens“ ) aus der Feder des Berichterstatters gestattet. 


143) Z historji studjéw nazjanzenskich w Polsce. In: Nova Polonia sacra, hrsg. 
v. Jan Fijalek, I 1928, S. 81 „Krakau. 

144) N. F. IV, 1928, S. 702. 

168) Ebd. 

148) Ebd. S. 156. 

147) Ebd. S. 848 (Forst- Battaglia). 

188) In: Grundriß der slavischen Philologie u. Kulturgesch., Bd. 7, Berlin 1930. 


317 


ARCHEION 
Czasopismo naukowe poświęcone sprawom archiwalnym. 


(Archeion. Wissenschaftliche Zeitschrift für Archivwesen.) 
H. V—VII. Warschau 1929/30. 


Von 
St. Zajączkowski. 


H. V. 1929 — Maleczyński K. Ober italienische Archive. (Archiwa włoskie.) Beschrei- 
bung der Organisation der Staatsarchive, dann der unter der Aufsicht des Staates 
stehenden Provinzialarchive und endlich der Notariatsarchive; die letztgenannten 
umfassen Archive sowohl! der öffentlichen wie auch der städtischen Notare. 
Anhang kurze Nachricht über die gegenwärtige Organisation des Vatikanischen 
Archivs. — groma S. Das Capıtulararchiv in Lemberg. Archiwum kapitulne 
we Lwowie.) rstellung der Geschichte und der Bestände des Archivs des röm. 
lat. Domkapitels in Lemberg. — Żebrowski T. Entstehung und Verfall des 
Generalarchivs der Stadt Warshau im Zusammenhang mit der Reform vom 
3. Mai. (Powstanie i upadek Archiwum generalnego m. Warszawy w zwigzku 
z ustrojem 8go maja.) Das von dem Großen Reichstage im April 1791 be- 
schlossene Städtegesetz vereinigte die Stadt Alt-Warschau mit den umherliegenden 
Ortschaften zu einer Einheit. Im Zusammenhang damit wurde ein neues Archiv 
für die neugebildete Stadt geschaffen. Dasselbe wurde aber bald samt allen Ein- 
richtungen des Großen Reichstages aufgehoben. — Manteuffel T. Die Anfänge des 
gegenwärtigen Burcauarbeitssystems der polnischen Staatsbehörden. (orca 
współczesnej państwowej biurowości polskiej.) Verf. stellt die Entwickelung des 
Bureauarbeitssystems in den Behörden des während des Weltkrieges entstehenden 
olnischen Staates dar, weist auf die dabei auftauchenden Schwierigkeiten hin und 
spricht die ersten diesbezüglichen Instruktionen und Reglements bis Ende 1920. 
— Siemieński J. Terminologishe Betrachtungen. III. Repertorien. (Roztrząsania 
terminologiczne. III. Skorowidze.) Verf. stellt den Begriff des archivalischen Reper- 
toriums fest und unterscheidet verschiedene Kathegorien desselben. — Wdowi- 
szewski Z. Bericht über das Ostrowski’sche Archiv in Maluszyn. (Wiadomość 
o archiwum Ostrowskich w Maluszynic.) Beschreibung der von der Familie 
Ostrowski in Maluszyn gegründeten archivalishen Sammlung, welche jetzt dem 
Grafen St. Potocki gehört. — Tyszkowski K. Polonica in den Beständen des 
Staatsarchivs in Wien. (Polonica w zbiorah Archiwum Państwowego we Wiedniu.) 
Zusammenstellung der auf Polen bezugnehmenden Akten des Wiener Staats- 
archivs. — Łopaciáski W. und Rybarski A. Die Gebäude der Staatsarchive der 
Republik Polen. (Gmachy archiwów państwowych Rzeczypospolitej polskiej.) 
Besprechung der brennenden Frage der Unterbringung der Staatsarchive. 
Im Anhang Beschreibung der Unterkünfte der einzelnen Archive und Text 
des Konkurses auf einen Entwurf des Gebäudes des Centralarchivs in 
Warschau. — Ptaszycki St. Inventar des Kronarchivs vom J. 1618. (Inwentarz 
Archiwum koronnego z r. 1613.) Als Ergänzung des im Archeion, Bd. IV, 
publizierten Aufsatzes über diese Thema fügt Verf. eine Beschreibung der zwei 
Handschriften des genannten Inventars, die sich in der Universitäts-Bibliothek 
in Gießen und Kornik befinden, hinzu. — Bibliographie der zugesendeten 
Publikationen, welche die Archivkunde betreffen oder sich auf das archivalische 


318 


VL : 
über die Wirksamkeit der Archive. im J. 1927. 8. Präliminar des Budgets für 
1928/8 und 1929/80, die Staatsarchive betreffend. 4. Personalangelegenheiten. 


Ptaszyck i, St. und Konarski, K., Staatsarchive auf der 
allgemeinen Landesausstellung in Posen. (Archiwa panstwowe na 
Powszechnej Wystawie Krajowej w Poznaniu.) Geschichte der Ein- 
richtung und Beschreibung der Archivalgruppe auf der Posener Aus- 
stellung; dieselbe umfaßte Pläne des zu errichtenden Gebäudes des 
Centralarchivs in Warschau, statistische Tabellen und Skizzen, welche 
den Zustand der Staatsarchive und deren Wirkungskreis illustrierten, 
dann 5 der wichtigeren Archivalien, Publikationen der 
Staatsarchivleitung und der einzelnen Archivalbeamten, endlich 
photographische Aufnahmen der Gebäude, in welchen einzelne 
Staatsarchive untergebracht sind. — Iwaszkiewicz, J., Über 
das Archiv der Kanzleien des Groffiirsten Konstantin und Nowosil- 
cow's. (Losy archiwum kancelaryj w. ks. Konstantego i Nowosilcowa.) 
Der Groffiirst Konstantin, Brader des Zaren Alexander I., wurde mit 
vielen Militär- und Zivilfunktionen auf dem Gebiete Kongreßpolens 
und der fünf enannten westlichen Gouvernements betraut und 
aus diesem Grunde besaß er mehrere Kanzleien. Akten derselben 
wurden, samt den Akten des russishen Kommissärs bei der Regierung 
Kongreßpolens, Nowosilcow, während des Aufstandes im Jahre 
1830/31 von den Polen beschlagnahmt und einem speziellen Komitee 
zur Überprüfung angewiesen. Mit dem Verfalle des Aufstandes 
wurden diese Akten zerstreut. Zwar wurde bald eine russische Kom- 
mission mit der Bestimmung, sie wieder zu sammeln und in Ordnung 
zu bringen, gebildet, dieselbe konnte aber ihre Aufgabe nur teilweise 
erfüllen. Ein kleiner Teil dieser Akten wurde in Warschau zurück- 
gelassen, der Rest dagegen wurde nach verschiedenen Städten, meisten- 
teils nach Petersburg, wo sie im Archiv der ehemaligen kaiserlichen 
Kanzlei sich befinden, abgeschoben. — Moraczewski, A., Akten 
aus der Zeit des November-Aufstandes im Stadtarchiv zu Warschau. 
(Akta z czasów powstania listopadowego przechowywane w Archiwum 
miejskiem w Warszawie.) Der November-Aufstand in Kongreßpolen 
im Jahre 1830/31 gab Veranlassung zu vielen Veränderungen in der 
Verwaltung der Stadt Warschau, indem die Zahl der städtischen Be- 
hörden bedeutend vergrößert wurde. Nach der Unterdrückung des 
Aufstandes wurden die Akten dieser Behörden als ein abgeschlossener 
Fonds unter der Benennung ,,Revolutionsperiode 1831“ aufbewahrt. 
Da der Zutritt zu diesen Akten sehr erschwert wurde, so sind sie 
bis jetzt vollständig erhalten und bilden nun eine wertvolle und 
nicht ausgenützte Quelle zur Geschichte Warschaus während des Auf- 
standes. — Lutman, T., Uber das Archiv der Familie Borch in 
Warklany. (Archiwum Borchéw 2 Warklan.) Beschreibung der 
früher in Warklany (Polnisch-Livland), jetzt. im Ossolinskischen 
Institut in Lemberg aufbewahrten und hauptsächlich aus dem 
XVIII. Jahrh. stammenden archivalischen Sammlung der Familie 


319 


Borh. — Ajzen, M., Das Szczuczyn’er Archiv der fürstlichen 
Familie Drucki-Lubecki. (Archiwum szczuczyhskie książąt Druckich- 
Lubeckich.) Beschreibung der Bestände der srchivalischen Sammlung 
der Fürsten Drucki-Lubecki, welche früher in Szczuczyn in Litauen 
war, jetzt aber im Czartoryskischen Museum in Krakau aufbewahrt 
wird; den wichtigsten Teil dieser Sammlung bilden die Papiere des 
Fürsten Xaver Lubeck, welcher mehrere Jahre Finanzminister in 
Regierung Kongreßpolens war. — Lopacifiski, V., Ober un- 
garische Archive. (Archiwa wegierskie.) Kurze Beschreibung der 
5 der Archive in Ungarn und des königl. ung. Staats- 
archivs in Budapest. — Wdowiszewski, Z., Ober schweizerische 
Archive. (Archiwa szwajcarskie.) Darstellung der Organisation der 
Archive in der Schweiz) — Kolankowski, L., Aus dem 
Königsberger Archiv. Polnische Korrespondenten des Herzogs 
Albrecht 1525—1568. (Z Archiwum krölewieckiego. Polscy kores- 
ndenci ks. Albrechta 1525—1568.) Bannan der Korrespondenz 
erzog Albrechts von Preußen mit seinen Agenten und Konfidenten 
sowie mit den bedeutenderen Personen in Polen und im 
daran Aufstellung mancher Editionspostulate. — Warezak, J. 
Tschechoslovakisches Staatsarchiv für Bodenkultur in Prag. (Czecho- 
słowackie państwowe Archiwum rolnicze w Pradze.) Bericht über 
Entstehung, Bestände und Wirksamkeit dieses Archivs. — 
Konarski, K. und Iwaszkiewicz, J., Aus den Rappers- 
wiler Sammlungen. (Ze zbiorów rapperswilskich.) Kritishe Be- 
sprechung des von A. Lewak verfaßten Katalogs der Handschriften, 
welche aus der ehemaligen Bibliothek in Rapperswil stammen, jetzt 
aber in der Nationalbibliothek in Warschau sich befinden (Konarski) 
und summarische Beschreibung dieser Handschriften auf Grund des 
genannten Katalogs (Iwaszkiewicz). — Kaczmarczyk, K. Das 
Pauliner-Archiv auf Jasna Góra in Tschenstochau. (Archiwum O. O. 
Paulinów na Jasnej Górze w Częstochowie.) Geschichte und Be- 
schreibung der Bestände dieses Archivdepots, worin neben dem 
Archiv des berühmten Tschenstochauer Convents, Archive anderer 
Inischer Paulinerklöster und der polnischen Paulinerprovinz ent- 
Kalten snd. — Paczkowski, J., Eugen Casanova, sein Werk 
und die Archive Italiens. (Eugenio Casanova, jego dzielo i archiwa 
Italji.) Besprechung der Arbeit Casanovas, Direktors des Haupt- 
archivs des Königreichs Italien in Rom u. d. T. Archivistica (Siena 
1928) und im Anschluß daran Betrachtungen über den Zustand der 
Staats- und Kirchen-Archive in Italien..— Offizieller Teil um- 
faßt: 1. Bericht über die Wirksamkeit der Staatsarchivverwaltung 
im Jahre 1929. 2. Bericht über die Wirksamkeit einzelner Staats- 
archive im Jahre 1928 und 1929. 3. Auszeichnungen. 4. Personal- 
angelegenheiten. 


820 


PRZEGLAD BIBLJOTECZNY 


Wydawnictwo Zwigzku Bibljotekarzy Polskich. 
Redaktor: Edward Kuntze. Rocznik I. II. — Kraków: Wydano 
z zasilku Ministerstwa V. R. i. O. P. 1927, 1928. 8°. 


Von 
E. Koschmieder. 


Die beiden ersten Jahrgänge einer polnischen bibliochekarischen Fachzeit- 
schrift liegen abgeschlossen vor uns, die gegenüber den mehr bibliophil gerich- 
teten Zeitschriften „Exlibris“ und „Silva rerum“ mit den rein bibliothekarischen 
Fachorganen anderer Länder, wie dem „Zentralblatt für Bibliothekswesen“, dem 
„Časopis československých knihovniki“, dem „Krasnyj Bibliotekat“ u. a. als 
0 für die im „Związek Bibljotekarzy Polskich“ vertretene Gemeinschaft der 
Bibliothekare ganz Polens in eine Reihe tritt. In ihrem Titel knüpft sie an 
den „Przegląd Bibljoteczny an, der 1908—1911 vom „Towarzystwo Bibljo- 
teki Publicznej w Warszawie“ herausgegeben wurde und dann einging. Neben 
Artikeln über Bibliothekstechnik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen, über Ge- 
schichte und Organisation besonders der wissenschaftlichen Bibliotheken, sowie 
über Berufs- und Standesfragen der Bibliothekare sollen Arbeiten aus dem Ge- 
biet der ar aaa Bücherkunde (mit Ausnahme der Technologie des modernen 
Buches) Aufnahme finden. Rezensionen, Referate und Chroniken sollen laufend 
aber das Bibliothekswesen und die diesbezüglichen Publikationen berichten sowie 
die einschlägigen amtlichen Verfügungen der polnischen Behörden zur Kenntnis 
bringen, und eine Bibliographie soll laufend alle polnischen Arbeiten über Biblio- 
thekswesen, Bücherkunde, Bibliographie und Bibliophilie registrieren: — ein 
Unternehmen, das von einem rüstigen Fortschreiten der Organisation der Wissen- 
schaft in Polen zeugt und überall freudige Anerkennung finden wird. 


Im Jahrgang 1927 behandelt Stefan Rygiel die Frage der Organisation der 
obersten Bibliotheksbehörden, indem er zunächst den heutigen Stand der Dinge 
in Polen charakterisiert, wo die Fachbehörde beim Ministerium lediglich in 
bibliothekstechnischen Angelegenheiten eine entscheidende Stimme hat, während 
Personal-, Finanz-, Bau- und Rechtsfragen von der Abteilung des höheren 
Schulwesens auf Antrag der Bibliotheksdirektionen unter Vermittelung der Uni- 
versitätsrektorate geregelt werden. Er zieht dann die ausländischen Verhältnisse 
zum Vergleich heran und schlägt die Schaffung einer Generaldirektion der Biblio- 
theken als Ministerialdepartement und eines Beirates vor; deren Kompetenzen 
teils der französischen, teils der deutschen Organisation entnommen sind, und 
die Universitätsbibliocheken der Selbstverwaltung der Universitäten zu entziehen 
und diesen Fachbehörden zu unterstellen. — Im folgenden Artikel bespricht 
Aleksander Birkenmajer die Frage der in Organisation befindlichen „Bibljoteka 
Narodowa“ in Warschau, deren baldiges In-Funktion-Treten der 11000 rewindi- 
zieren Handschriften, der Registration der Pflichtexemplare und der Rappers- 
wilschen Bibliothek wegen dringend nötig ist. Birkenmajer erhebt u. a. die 
Forderung einer sofortigen Festlegung ihres Programms im Anschluß an den 
Meinungsaustausch hierüber im „Exlibris“ und in „Silva rerum“. Weiter emp- 
fiehlt er, die Vorbereitungsarbeiten einer Person oder einem Komitee zu über- 
tragen, und unverzüglich an die Katalogisierung der rewindizierten Handschriften 
und Drucke und der sonstigen für die Bibliothek bereits bestimmten Samm- 
lungen heranzugehen. — In einer höchst interessanten Arbeit läßt sich dann 


321 


Jan Muszkowski über das polnische Pflichtexemplar-Gesetz aus, das den 
Verleger im allgemeinen mit einer Abgabe von 7 Exemplaren nichtperiodischer 
Drucke und 9 Exemplaren von Zeitschriften über 4 Druckbogen belastet. In 
minutiöser Analyse der polnischen Druckstatistik für 1926 wird mit einwand- 
freier Methode nachgewiesen, daß der Erhalt der Pflichtexemplare kein Motiv 
für Beschneidung der Bibliotheksetats abgeben darf, daß das Pflichtexemplar 
nicht eine kostenlose Wohltat für alle Bibliotheken darstellt. Während die 
„Bibljoteka Narodowa“ ohne Pflichtexemplar kaum denkbar ist, bedeutet es 
für die Universitatsbibliotheken zu 50 Prozent einen unnötigen Ballast, und für 
die im ganzen vom Staat aufgewandten Mittel in diesen Bibliotheken eine 
Schädigung. Der Ankauf und die Verarbeitung der für die Universitäts- 
bibliotheken wirklich begehrens werten Drucke in einem Exemplar hätte 1926 bei 
großzügiger Anschaffung etwa 12 800 zł. gekostet, allein die Verarbeitung 
aber des gesamten Pflichtexemplars aber 25300 zł. Muszkowski fordert die 
einzelnen Bibliotheken zu genaueren Berechnungen auf, damit dann einem 
Abänderungs vorschlag zum Pflichtexemplarges etz nähergetreten werden kann. 
Eine Arbeit von Kazimierz Dobrowolski gilt schließlich der Bc- 
schreibung und inhaltlichen Analyse einer im Britishen Museum unter Add. 38 603 
aufbewahrten Hs., eines lateinishen Gebetbuches des Prinzen und nachmaligen Königs 
von Polen Alexander vom Jahre 1491. — Die „Miscellanea“ bringen von Adam Bar 
6 Seiten Beiträge zu einem Pseudonym- und Kryptonymenverzeichnis von Polen. 
Von den Rezensionen sind etwa zu nennen Ad(am) B(ar) über Meier, A. V.: 
Slovarnyj ukazatel’ po knigovedeniju. Leningr. 1924, von Z. Ciechanowska über 
Hessel, Alfr.: Geschichte der Bibliotheken. Göttingen 1925, von Karol 
Piotrowicz über Kuhnert, E.: Geschichte der Staats- und Universitäts- 
bibliothek zu Königsberg. Leipzig 1926. — In der Zeitschriftenschau sind be- 
sprochen: Przewodnik Bi 10 ve 1927, 1—9; Revue des bibliothèques 1927, 
Nr. 1—9; Zentralblatt für Bibliothekswesen 1927, Heft 1/2; Revista de archivos, 
bibliotecas y museos 1927, Nr. 1—6; Jahrbuch der deutschen Bibliotheken 1927. 
— Die „Kronika“ gibt die Ministerislerlässe von 1927 über das Pflichtexemplar 
und Berichte über die Jag. Biblioth. 1918—27, die Univ.-Bibliocheken von 
Lemberg 1918—27, Posen, Lublin, die Bibl. des Ossolineum’s 1918—27, die 
Zentral-Heeres-Bibliothek 1917—27, die Rapperswiler Bibliothek 1919—26 und iiber 
einige kleinere Bibliotheken, Ausstellungen, den Bibliothekarskursus in Wilna, den 
Gesamtzeitschriftenkatalog aller Institute der Universität Krakau, die Tätigkeit des 
Poln. Bibliothekars-Verbandes u. a. m. 

Im 2. Jahrgang unterzieht Marjan Lodynski das Problem der 
Warschauer Nationalbibliochek und ihrer festzulegenden Aufgaben im Hinblick 
auf die Tätigkeit der Jag. Bibliothek in Krakau einer erneuten Untersuchung, 
wobei er wiederum die Forderung aufstellt, daß der Jag. Bibliothek ihre Stellung 
als „Bibliotheca patria“ zu belassen sei, während die Warschauer als „Staats- 
bibliothek“ mit ihrer Sammeltätigkeit in diesem Umkreis von 1918 einzusetzen 
und eine Vollständigkeit für die zurückliegende Zeit nicht anzustreben hätte. — 
Ein Aufsatz von M. Dzikowski beschäftigt sich mit der Definition des Be- 
riffes Zeitschrift vom Standpunkte des Bibliothekars. Interessante Richtlinien 
für die Berechnung bibliothekarischer Arbeitszeit gibt Adam Lysakowski. Unter 
der Feder Ludwik Finkels ersteht vor uns in ca. 40 Seiten ein lebendiges 
Bild der bibliothekarischen Tätigkeit Karol Szajnochas im Ossolineum, in 
welchem reiches Brief- und Aktenmaterial, sowie die Tagebuchaufzeichnungen 
Szajnochas über seine Arbeiten im Ossolineum besonders am Realkatalog aus- 
enutzt werden. Über. die Beratungen . und Ergebnisse des Bibliothekars- 
ongresses Pfingsten 1928 in Lemberg berichtet Aleksander Birken- 
majer, wobei es sich um Themen handelt wie z. B.: Ausscheidung des „toten“ 
Buchmaterials in besonderen Bibliotheksarchiven, Realkatalog, Nationalbibliothek 
in Warschau u. a. Die wichtigsten Aufgaben der polnischen Bibliographie setzt 
Stefan Vrtel-Wierczynski auseinander. Zur Besprechung kommen 
hier Fragen wie die Ergänzung und Neubearbeitung des Estreiher für das 
19. Jahrhundert und seine Fortsetzung für das 20. Jahrhundert, die bereits vom 
Tow. Naukowe Warszawskie unter der Leitung von St. Demby, Gabr. Korbut 
und J. Muszkowski in Angriff genommen ist, — die Registrierung der laufen- 


322 


den Bücherproduktion Polens durch das Bibliographische Institut an der National- 
bibliothek und die damit zusammenhängende Umgestaltung des Przewodnik 
Bibljograficzny, — die Ergänzung und Neubearbeitung der Spezialbibliographien 
wie Finkels „Bibljografja historji polskiej“, an der M. Handelsman im Gabinet 
Nauk Historycznych des Tow. Nauk. Warsz. bereits arbeitet — wie Korbuts 
„Literatura polska“ —, wofür Vrtel-Wierczynski an der Universität Lemberg 
Materialien zusammengetragen hat, die durch andere Universitätsinstitute in 
Arbeitsteilung zu vervollständigen wären — wie Gaweleks „Bibljografja 
ludoznawstwa polskiego“, deren Fortsetzung J. Bystroń vorbereitet usw. — weiter 
die laufende Woerialbio raphie in Zeitschriften und die Bibliographie der Zeit- 
schriftenartikel sowie schließlich die Aufgaben des Bibliographischen Instituts an 
der Nationalbibliothek. — Die historische Entwicklung der Gesetzgebung über 
das öffentliche Bibliothekswesen aller zivilisierten Länder verfolgt Wanda 
Dąbrowska. Schließlih gibt Jadwiga Bornsteinowa eine inter- 
cssante Übersiht über die 451 wissenschaftlichen Bibliotheken Polens in 
statistischer Beleuchtung, was die Zahl und Zusammensetzung der Bestände, die 
geographische Verteilung in Polen, die Gründungsjahre u. a. anlangt, mit über- 
sichtlichen Tabellen. Einige kürzere Artikel in den Miszellen, zahlreiche Rezen- 
sionen, eine Zeitschriftenschau und eine Chronik aus dem Bibliotheksleben wie 
im 1. Jahrgang geben ein beredtes Bild von der Rührigkeit der Bibliothekare 
in Polen. Es tritt dem 1. Jahrgang gegenüber im 2. Jahrgang die sorgfältige 
„Bibljografja bibljografji, bibljotekarstwa i bibljofilstwa“ Wislocki’s für 1928 (bis 
September, im ersten Heft 1929 bis Dezember 1928, insgesamt 1530 Nummern) 
mit eigener Paginierung und eigenem Titelblatt hinzu. 


323 


DREI POLNISCHE FESTSCHRIFTEN 


Von 
Dr. Otto Forst-Battaglia. 


I. 


Ksiega pamiatkowa ku uczczeniu trzydziestoletniej pracy naukowej 
i nauczycielskiej Stanisława Dobrzyckiego. Wydali uczniowie, 
koledzy, przyjaciele. Poznań 1928. Czcionkami drukarni Uni- 
wersytetu Poznańskiego. 8°. XV und 408 Seiten. 


Dem ehemaligen Professor der polnischen Literatur an der Universität zu 
Freiburg in der Schweiz, dem nunmehrigen Vertreter dieses Faches an der Univer- 
sität in Posen Stanisław Dobrzycki haben Freunde und Schüler zur Er- 
innerung an das vollendete dritte Jahrzehnt wissenschaftlicher Arbeit eine statt- 
liche Anzahl von Abhandlungen idmet. Es sind zumeist Beiträge zur pol- 
nischen Literaturgeschichte, zur Philologie oder zur Methodik der Schrifttums- 
forshung. Zwei Arbeiten betreffen die polnische Geschichte: eine ungemein 
interessante, für die Haltung Napoleons gegenüber den Polen charakteristische 
Mitteilung Prof. Adam Skatkowskis über die Audienz der Warschauer 
Abordnung beim Franzosenkaiser vom 11. Dezember 1806 — wir lesen hier die 
Aufzeichnungen des Führers dieser Delegation Feliks Lubiehski, die zwischen der 
offiziellen Wortkargheit der amtlichen Kommunikate und der Lubiehskis Tage- 
buch anvertrauten beredten Enttäuschung eine diplomatische Mitte bewahren —; 
dann eine wertvolle Erörterung der Grundlagen ständischer Differenzierung im 
mittelalterlichen Polen, bei der Prof. Kazimierz Tymieniecki die älteren 
Ansichten von Piekosifski, BobrzyAski, Smolka, Balzer sowie die, teils zustimmend, 
teils polemisch an den Autor der „Genealogja Piastów“ anknüpfenden jüngeren 
Theorien von Semkowicz, Arnold und Bujak bespricht. Balzer hat bekanntlich 
die Meinung Piekosinskis, der Adel sei durch den Einfall einer fremden Herren- 
schichte entstanden, ebenso wie dessen Hypothese vom dynastischen Ursprung 
der urpolnischen Adelsgeschlechter, verworfen und die Ständegliederung in der 
älteren Zeit, bis etwa ins 18. Jahrh. auf die wirtschaftliche Ungleichheit zuriick- 
geführt. Tymieniecki hat selbst in seinen Forschungen stets die entscheidende 
Bedeutung des Besitzes, zumal des von Grund und Boden, für die soziale und 
rechtliche Stellung betont, dabei jedoch den Widerspruch von Arnold gefunden. 
Arnolds Hinweis auf die Rolle der Nützlichkeit für den Staat, durch den die 
Rangordnung der Staatsangehörigen bestimmit worden sei (daher die Bevorzugung 
der Kämpfer bzw. der fürstlichen Beamten), wird von Tymieniecki akzeptiert, 
doch mit der Einschränkung, daß diese Verschiedenheit des Wertes für den Staat 
durch die vorhergehende Verschiedenheit der Wirtschaftslage ermöglicht und ver- 
ursacht worden sei. Der Gegensatz zwischen Tymienieki und Arnold kehrt in 
der Ständegeschichtsforschung der. westlichen Länder wieder. Es handel: sich 
darum, ob die wirtschaftliche Differenzierung‘ oder die politische das Primäre 
waren, mit anderen Worten, ob man emporstieg, weil man reich war oder reich 
wurde, weil man emporgestiegen ist. Der Streit ist fast so unlösbar wie der 
über die Priorität von Ei oder Henne. Faktisch wird: man überall eine Ver- 
mengung der beiden Elemente annehmen müssen. Allerdings spricht bei den 
Indoeuropäischen Völkern, je weiter sie von der Mittelmeerkultur entfernt sind, 
also bei Germanen, Slaven und Balten, und zumal bevor diese ihre Gesellschaft 
den kirchlichen und antiken Einflüssen ausgesetzt sahen, ein dritter Faktor, den 
weder Arnold noch Tymieniecki genug beachten, und der mit dem ursprüng- 


324 


EAN F N A 


Re 


lichen religiösen-weltanschaulichen Prinzipien der Arier zusammenhängt, erheb- 
lich mit: da Blut. Damit aber hat Tymieniecki wieder recht, daß er eigentliche 
ständische Differenzierung erst dann eintreten läßt, wo die Sippenverfassung 
überwunden und durch die Zusammenfassung in Stämme und Staaten verdrängt 
wird: denn Unterschiede kraft verschiedenen Bluts als Hauptmoment der Stände- 
bildung können erst wirksam sein, wenn Nachkommen verschiedenen Bluts zu 
einem Gemeinwesen gehören. 


Zwei Beiträge beschäftigen sih mit allgemeinen Problemen der Literar- 
geschichte. Eugenjusz Kucharski stellt zur Diskussion, inwieweit die 
Komposition eines Dichtwerks zum Technischen und inwieweit sie zur Kunst 
gehört. Die Grundauffassung des Autors, eine Dichtung sei nicht ein fertiges 
und absolute Gültigkeit besitzendes Produkt, sondern sie sei nur ein Mittel ihres 
Schöpfers, bei denen, die mit der Dichtung vertraut werden, von ihm beab- 
zichtigte Eindrücke hervorzurufen; das Kunstwerk vollende sich also erst, und bei 
jedem verschieden, im Empfänger, der es genießt: diese sehr geistreiche, aber 
m. E. unhaltbare Konzeption bewirkt es, daß Kucharski die Form des Kunstwerks 
als eine Art des Vorgehens hinstellt, durch die jene Eindrücke beim Empfänger 
hervorgerufen werden sollen, nicht als etwas unverändert Gegebenes, der dichte- 
rishen Schöpfung Inhärentes. Diese Form müsse ästhetisch danach bewertet, und 
wissenschaftlich dahin untersucht werden, ob sie als Funktion ihren Zweck erfülle 
(also geeignet sei, die beabsichtigten Eindrücke auszulösen) und mit welhem Auf- 
wand an Energie sie erreicht worden sei. Die Komposition als Inbegriff der 
Mittel die zur Schaffung der Form cines Kunstwerks verwendet wurden, ist 
somit nicht Technik, sondern Kunst: ein integrierender Bestandteil des Komplexes, 
der im Empfänger Eindrücke bewirken soll. Die Einwendung gegen diesen Stand- 
punkt Kucharskis ist prinzipieller Art. Ich glaube nicht an die Irrealität des 
Kunstwerks, das sich erst nachklingend in der Seele des Lesers, Zuhörers usw. 
vollendet, bei jedem nach seiner Art; sondern ich unterscheide das Kunstwerk, 
das einmal da ist, wie jeder historische, soziologishe usw. Fakt vom Eindruck, 
den es nach der Absicht des Dichters erzielen sollte, und von den xEindrücken, 
die es in der Folge bei anderen hervorbringt. Die Komposition ist, was der 
Sprachgebrauch wie so oft nicht unterscheidet, eine doppelte: im subjektiven Sinn 
das Bemühen des Autors den von ihm beabsichtigten Zweck, also Fertigstellung 
des Werks, zu erreichen; im objektiven Sinn der Inbegriff der erkennbaren 
Mittel, durch die das Werk aus den seelishen Regungen seines Schöpfers zum 
objektiv vorhandenen Faktum geworden ist. Beide Mal unterliegt die Komposition 
der ästhetischen, ethischen, soziologischen und noch mancher anderen Beurteilung; 
und beide Mal sowohl als künstlerishe Leistung, die einen unverlierbaren Bc- 
standteil des künstlerishen Ganzen einer Dichtung ausmacht, als auch für ihre 
technische Vollkommenheit. 


Stanisław Kolbuszewski drückt in einer kurzen französischen 
Studie „Le poète et son oeuvre“ in subtiler Form seine feinsinnige Auffassung 
des Wesens der dichterischen Schöpfung aus. Wie Gott in der Welt. wohnt der 
Dichter: Schöpfer seines Werks, in seinem Werk. Als Mensch erhebt er sich nicht 
zugleich über seine Kreaturen. Er gerät in Abhängigkeit von ihnen, kämpft mit 
ihnen und wenn er nach vollbrachter Kreation zu sehen glaubt, daß sein Werk 
nicht gut ist, dann beseitigt er die mißratene Kreatur, um neu, um Neues zu 
schaffen. Befreit er sich ja, indem er seine eigenen Leiden und Freuden in seine 
Gestalten bannt, vom lastenden Alpdruck der nach Manifestation drängenden 
Ideen. Und, unvollkommener Schöp er, sterbliche Kreatur er selbst, !äßt er die 
Ideen sterben, sobald sie sich von ihm getrennt, im Dichtwerk konkrete Gestalt 
nme haben. Zu Kolbuszewskis sehr schönem Aufsatz wäre zu bemerken, 

hier die Psychoanalyse wirklich wichtige Ergänzungen zu bieten vermédhtc. 
Die Dichtung ist ja Abreaktion eines überwertigen Komplexes; fruchtbar solange 
dieser Komplex überwertig ist und erlahmend, wenn sich die Abreaktion voll- 
zogen hat. Und noch eine bescheidene Notiz: linconscience heißt im Fran- 
zösischen „die Gewissenlosigkeit“, dagegen „l'inconscient“ das Unbewufte. Ein 
pore andere Versehen, die nicht so kraß sind, mögen bei dem durchaus annchm- 

ren Französisch des Autors, hier übergangen werden. 


325 


Der Nichtpolnischen Literaturgeschichte gehören außer dem Artikel von 
Alphonse Bronarski „Quelques réflexions sur la littérature frangaise (in 
dem als Repräsentanten des französischen Schrifttums die „Chanson de Roland“, 
Moliére und Victor Hugo bezeichnet werden, während der Autor weder Bossuet 
noch Chateaubriand, weder Lafontaine noch .Voltaire erwähnt, die doch ebenso 
gut als die größten oder als die am meisten typischen Vertreter der französischen 
Literatur erscheinen) drei Studien über die Siidslaven, eine zur éechischen und 
eine zur litauischen Literatur an. Zofja Kawecka vergleicht die historische 
Gestalt des Marko Mrnjavéevic mit dem Kraljević Marko der jugoslavischen 
Volkspoesie. Zdenka Marković, eine Kroatin, die in Posen bei Dobrzycki 
studiert und eine bedeutende Arbeit über Wyspiahski geschrieben hat, schildert 
den Geist der südslavischen Literatur unter stetem Vergleich mit der polnischen, 
wobei die zutreffende und naheliegende Parallele zwischen dem Kosovo-Motiv 
und dem Messianismus gezogen und damit der romantische Charakter auch des 
Jugosla vicien Schrifttums erhärtet wird. Edward Klich bietet eine polnische 
Übertragung des kroatischen Heldensangs „Prokleti Duka Setkovié“, die reich an 
poetischen Qualitäten ist. W. M. Kozłowski widmet dem éechischen Dichter 
und Publizisten František Kvapil (1855—1925) Worte freundschaftlichen Gedenkens 
und eine ansprechende Biographie dieses um die polnische Literatur bei den 
Gechen sehr verdienten Obersetzers. 


Nicht ohne Befremden habe ich den Aufsatz des ausgezeichneten Philologen 
Mikołaj Rudnicki über Litauen, Land und Geschichte gelesen. Wem soll 
diese flüchtige in billige Aktualität mündende Überschau der litauischen Geschichte 
etwas bieten? Wen die ebenso flüchtige Skizze der litauischen Literatur belehren? 
Unter den zitierten Namen fehlen Männer wie Guzutis, Kudirka Maironis, 
Vidunas, Sophie Ciurlionis. Was aber berichtet wird, findet sich beinahe in jeder 
populären Enzyklopädie. Dieses Thema ist, so will mir scheinen, von Nowaczyński 
in seinem geistvollen Feuilleton in den „Wiadomości Literackie“ besser behandelt 
worden, als hier in der einem Gelehrten von einem anderen Gelehrten zugeeig- 
neten Abhandlung. 

Die noch verbleibenden 24 Aufsätze, zwei Drittel der Gesamtzahl, schlagen 
in Dobrzyckis engeres Fah. Bronisław Gladysz zeigt, daß die polnishen 
Hymnologen des Mittelalters ihr Latein nicht besser und nicht schlechter hand- 
habten als ihre Zeitgenossen im Westen. Der interessanteren Frage nach den 
Polonismen in diesem Zweig der polono-lateinischen Literatur ist der Autor nicht 
nachgegangen. Szczęsny Dettloffs kunsthistorische Miszelle über das 
Mausoleum des Hl. Adalbert im Dom zu Gnesen, ein Werk des Hans Brandt, 
berührt sich insofern mit der Literaturgeschichte als wir da ein wichtiges Zeugnis 
für das Vordringen allgemeiner Renaissancekultur nach Polen in jener Epoche 
(1476/1480) erhalten. Jacques Langlade endet „Quelques observations sur 
la mythologie dans les Pieśni‘: de Kochanowski“ mit diesem Urteil: Kochanowski, 
quand il composait les PieSni a pris à l'égard des mythes une attitude définie 
et originale. Il a renoncé presque complètement A l’erudition et à cette mytho- 
logie qu'on peut appeler „de style“... Il a recherché avant tout la clarté er la 
simplicité, faisant preuve ainsi d'un rare bon goût... Il se montre vraiment 
humaniste, vraiment classique, disciple, non point servile mais intelligent et fin, 
des maitres antiques.“ Die echte Menschlichkeit, den poetischen Realismus und 
immerhin die Beschränkung dieses Meisters, der in manchem doch nur Schüler 
war, tritt auh in Marian Doermanns zartfühlender Studie über die Liebes- 
lyrik Kochanowskis hervor. 


Bolestaw Erzepki leugnet mit großer Suada die Autorschaft Kocha- 
nowskis bei dem „Carmen Macaronicum de Eligendo Vitae Genere“, das im 
Jahre 1580 zuerst mit anderen Schriften des Dichters im Nachlaß durch Jan 
Januszowski, den Freund des Fürsten der polnischen Poeten, herausgegeben 
worden war. Wir sind Erzepki für die neue Ausgabe des lustigen Spottgedichts 
dankbar und erfahren gerne die auffallenden Obereinstimmungen mit cinem 1587 
veröffentlichten Poem des Klonowicz. Allein von des Zweitgenannten Autor- 
schaft beim „Carmen Macaronicum“ vermag ich mich nicht zu überzeugen. Die 
Entlehnung der in der Tat durch bloßen Zufall nicht erklärbaren Wendungen, 


326 


die Erzepki S. 888 abdruckt, läßt sich durch die Möglichkeit deuten, Klonowicz 
habe in eine Kopie des Kochanowskischen Gedichts vor deren Publikation Ein- 
sicht genommen. Roman Pollak beschreibt ein Manuskript des ,,Gofred“ Piotr 
Kochanowskis in der Bibliothek der Grafen Baworowski (N. 788), das offenbar 
in usum delphini eines polnischen Magnatenhauses angefertigt worden ist und 
die heiklen Stellen des umbearbeiteten Tasso noch einmal umbearbeitet hat. 


Dem polnischen La Rochefoucauld und La Bruyére, Andrzej Maksymiljan 
Fredro, gilt die vortreftliche Charakteristik durch Ludwig Kos is ki. 
ist durchaus zutreffend, wenn die Sprache des Autors der „Przyslowia“ als die 
beste, wenn auch wenig farbige und plastische, so zum mindesten reine und 
würdige Prosa des 17. Jahrh. gerühmt wird, wenn Kosiński danach mit einer 
Fedro geziemenden weisen Bescheidenheit, diesen als Schriftsteller mittleren 
Ranges bezeichnet, aber als Menschen, als weiterfahrenen Denker sehr hoch stellt. 
Die Arbeit Waclaw Kosihskis über den Barokk-Prediger Tomasz Mlodzianowski als 
Feind des weiblichen Kleiderluxus ist kulturhistorisch von Belang, nicht wegen 
der kaum vorhandenen Bedeutung des Eifernden, sondern als Beweis, wie manches, 
das als zeitgebunden sich ansieht, zeitlos ist wie die menschlihe Dummheit. 
Mutatis non mutandis könnten die Philippiken des wenig demosthenischen Redners 
noch heute von der Kanzel klingen. 


Durch den Aufsatz von Jan Sajdak lernen wir Franciszek Zablocki, den 
Komödiendichter, in seinem verheißungsvollen Anfängen als Übersetzer Horazens 
näher kennen und schätzen. 


Mehrere Artikel handeln von Mickiewicz. Während Wilhelm Bruch- 
nalski als Resultat einer nicht sehr fruchtbaren Untersuchung behauptet, daß 
im „Wallenrod“ das Morgenlied auf Anklänge an „Romeo und Julia‘ zurückgehe 
und wir, abgesehen von der Frage, was damit gewonnen sei, nach wie vor uns 
damit begnügen werden, ein seit dem Mittelalter allbekanntes Motiv, das eben 
auch bei Shakespeare wiederkehrt, im „Wallenrod“ anzutreffen; während Wiktor 
Steffen die klassischen Einflüsse auf die Erzählung des Wajdelota in Inhalt und 
Form aufzeigt, und damit die „Wplywologen“ auf ihre Rechnung kommen, sind 
drei Versuche über die „Dziady“ von größerem Format. Juljusz Kleiner 
preist die harmonische Architektur der Dresdener „Dziady“, die er regelmäßig 
aufgebaut, um drei Personen konstruiert, in dreimal drei Szenen nach dem Prolog 
gegliedert als die Frucht einer zweckbewußten Komposition betrachtet. Sehr 
schön ist der Vergleich mit einer gothischen Kathedrale, deren drei Pfeiler Konrad, 
Peter und der Senator sind. Henryk Zyczhski findet auch in den Wilnaer 
„Dziady“ klassizistisdie Kompositionselemente wieder. Er weiß uns glaubhaft 
darzutun, daß sich die Handlung des Dramas in 24 Stunden und mit relativer 
Einheit des Orts abspielen sollte. Die Vermutung, der fehlende, verloren ge- 
gangene oder nie geschriebene Teil (der ursprüngliche dritte) habe im Hause der 
Putkamer eweg ist als Gewißheit zu nehmen. Dagegen scheint mir aus 
sychologischen Gründen, trotz aller Tintenströme, mit denen man das zu wider- 
Wii getrachtet hat, die Existenz dieses dritten Teils und seine spätere Ver- 
nichtung wahrscheinlich. (Wie ja auch Gleiches für die Fortsetzung des „Pan 
Tadeusz nunmehr einwandfrei bekundet ist). Mickiewicz war ebenso rasch bereit, 
nennen wir das Kind beim rechten Namen, poetische Indiskretionen, „Indeli- 
catesses zu begehen, als auch sie durch Zerstörung von Manuskripten radikal zu 
beseitigen. Was dann Zyczynski über die Verknüpfung der Wilnaer mit den 
Dresdener ,,Dziady“ sagt, trifft wieder ohne Zweifel das Richtige. Gustav, das 
Gespenst, hat nach seinem Gastspiel bei versammelter Volksgemeinde und im 
Schloß der ungetreuen Geliebten, sich zehn Jahre später in den lebenden Konrad 
verwandelt, und war also kein richtiges Gespenst, nur eine in des Wortes un- 
mittelbarem Verstand „irrende“ Seele gewesen, die vom Körper getrennt, durchs 
Land und zwei vollständige Teile der „Dziady“ schweifte. Beide, Gustav und 
Konrad, beide, die Wilnaer und die Dresdener Tragödie, verknüpft die gemein- 
same Grundidee, daß zwischen Himmel und Erde es nicht nur mehr Dinge sondern 
auch engere Bande gibt, als der Menschengeist wähnt. Diese Grundidee hat 
Mickiewicz selbst klar formuliert (in einer Vorrede zur französischen Übertragung 
der ,,Dziady"), Piotr Grebiennikow aber hält es mit den Examinatoren 


827 


in Egon Friedells „Goethe“, die den Weimarer Dichterfiirsten bei der Matura 
durchfallen lassen, weil er über sich selbst falsche Ansichten äußert. Ach, mit 
dem die Welt der Geister mit der des Körperlichen verkniipfenden als des roten 
Faden des „Dziady“ ist es nichts, sondern das L: 'tmotiv haben wir in der Ver- 
herrlichung des seelischen Leidens, also in einem auf das für Millionen leidende 
Ich des Poeten lokalisierten Messianismus zu erblicken: eines messianischen Leidens, 
das den Messias reinigt und adelt, weil es ihn der Ichsucht entkleidet und — 
razem, razem, młodzi przyjaciele — ganz dem Dienst der Gemeinschaft weiht. 
In diesem Sinn hat Grebiennikow das „missing link“ der ,,Dziady“ entdeckt: in 
einem zwar ungeschriebenen, doch darum nicht verlorenen fünften Teil, der da 
heißt: Adam Mickie wiczs Leben in der und für die Emigration... Sehr poetisch 
und erhebend, allein wir ziehen es vor, uns an die Vorte des Dichters zu halten, 
natürlich auch nur mit der Einschränkung, daß Mickiewicz, da er den Dresdener 
„Dritten Teil“ schrieb, seiner Absicht nach die durch das beherrschende Motiv 
des Glaubens an die Verschwisterung von Diesseitigem und Jenseitigem des 
Wilnaer Jugendwerks schaffen wollte und nicht etwa in der rzeugung, es 
hätten bereits dem jungen Poeten die späteren Gestaltungen seines ursprünglich 
nur als Schmerzenschrei des verratenen Liebenden gedachten Ich-Dramas vor- 
geschwebt. 

Witold Klinger hat eine Aumerkung Mickiewiczs über den arabischen 
Poeten Almotenabby entdeckt und vermutet, daß Słowacki den Ausdruck „skwierne 
miaso“ im „Beniowski“ (VII 817) aus dem von Insurgenten gesungenen Lied 
Tymko Padurras „Hej kozacze, w mis Boze“ entlehnt habe. Jöset Dziech 
vergleicht den „Beduin“ des russischen Lyrikers Nadson mit Stowackis „Ojciec 
zadzumionyh“. Józef Kallenbach druckt eine heißglühende Widmung 
Zygmunt Krasihskis an Frau Bobrowa aus dem Jahre 1885 ab. Es ist ein wahres 

einod polnischer romantischer Prosa, das Kallenbach da mit feinem Takt „statt 
einer flüchtigen und fragmentarischen Abhandlung“ als Gabe darbot; ein Kleinod 
der Prosa und ein kostbarer Baustein zu Krasihskis endlich die widerspruchs- 
vollen Züge des genialen Mannes getreu darstellendem Denkmal. Ignacy 
Chrzanowskis „Psychologische Genesis des Glaubens an Polens ristus- 
tum“ hält nicht ganz, was der Titel verspricht. Es ist eine das Problem nur 
streifende Skizze zur Kernfrage der Psychologie und Psychiatrie des polnischen 
Nationalgeistes. Gewiß, aus den Thesen, Polen müsse, weil es sich für die hehre 
Idee der Unabhängigkeit erhoben habe, allen Nationen zum Ideal werden, und 
es sei, da es unterlag, ein Martyrer dieser Idee, hat sich die dritte ergeben: Polen 
wird dereinst dennoch triumphieren und zwar, da der äußere Sieg ausblieb, nicht 
trotz, sondern vermöge seines Untergangs. Und es kam dazu, wie Chrzanowski 
richtig darlegt, daß die Polen wie jedermann, an ihre Demütigung nicht glauben, 
also diese nicht als endgültig hinnehmen; daß sie ferner das Vertrauen auf die 
Göttliche Gerechtigkeit nur durch die Hoffnung auf den künftigen Erfolg der 
en Sache und inzwischen durch die Überzeugung vom erlösenden Opfer 
r Leiden retten konnten. Indessen damit ist nur eine Deutung von Tat- 
sachen gegeben, die der Autor nicht weiter untersucht: auf welchem Weg sind 
diese Argumente zum Dogma der Emigration geworden. Fs ist die viel wichtigere 
Seite des Problems, das nach der allgemeinen Seite hin mit dem des Messianismus 
als einer der Begleiterscheinungen des Patriotismus zusammenfällt; es ist der Zu- 
sammenhang mit der positiven, mit Namen zu bezeichnenden Tätigkeit cinzelner 
Lehrer und die wiederum mit Namen zu nennenden Lehren, welche den latenten 
Messianismus zu seiner historisch konkreten polnischen Form gebildet haben. 
Ohne Martinismus und Towianismus kein Christustum Polens, aber auch ohne 
die besondere Struktur der Seele polnischer Romantiker kein empfänglicher Boden 
für diese Mystik. Da nun ist ein unbetretenes (oder erst von Boy durdi ogan 
Land der Seele zu entdecken, an dessen Grenzen die Literarhistoriker die Taf 
errichtet haben: „Hier Beschäftigten ist der Eintritt verboten.“ Das Problem 
lautet in wissenschaftlich unbarmherziger Fassung: die Sexualpsyche der polnischen 
un oder Abreaktion von Masochismus und Sadismus aufs politisch-religiöse 
ebiet. 

Jan Piechocki berührt, leider nur recht oberflächlich, das Problem der 

durch Vergeistigung zu adelnden Arbeit in Norwids „Promethidion“ und das Ver- 


328 


hältnis der Ansichten dieses Poeten und sozialen Schwärmers zu den Lehren von 
Fourier und Louis Blanc. Aus dem hübschen Beitrag Tadeusz Gra- 
bowskis lernen wir Libelt als das Zentrum der Posener ligerarischen Bewegung 
in den vierziger Jahren kennen: den Demokraten und Schüler der deutschen 
Philosophen, den glühenden Patrioten und geschmackvollen Asthetiker. 


Von Józef Morawskis Abhandlung „Polono-Romanica“, die eine Menge 
von onomato-poetischem Material aus fast allen europäischen Sprachen zusammen- 
stellt, und von Ignacy Steins ausführlich begründetem System der polnischen 
Lautgruppicrung, endlich von Henryk Ulaszyns Notiz über das Sprichwort 
„Jaka mać, taka nać“ muß ich mich beschränken, das Vorhandensein zu melden, 
das Urteil aber kompetenten Philologen überlassen. Auf ein Urteil über Lud- 
wik . Plaidoyer für eine streng nationale Erziehung aber verzichte 
ich, weil mir Stoff, Form und Bewertung dieses Aufsatzes ganz aufs politische 
Gebiet zu gehören scheinen. 


II. 
Księga pamiątkowa ku uczczeniu dwudziestopięcioletniej działalności 
naukowej prof. Marcel Handelsmana. Wydana staraniem 
uczniów. Warszawa. Nakład uczniów 1929. Gr. 8°. 511 Seiten. 


Profesor Handelsman hat als Theoretiker und Organisator der Ge- 
schichtswissenschaft seinen führenden Platz unter den Inischen Historikern 
unserer Zeit. Er gehört außerdem zu den wenigen Fachgenossen, deren Blick 
über den polnishen Gesichtskreis weit hinausragt und er hat als Lehrer die Gabe 
besessen, hoffnungsvolle Schüler heranzubilden. In dieser Gabe zum 25. Jahr 
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit überwiegt allerdings der Anteil des Lehrers, der 

abte jüngere Kräfte für die von ihm besonders gepflegten Sondergebiete der 
pe ischen chichte zu interessieren vermochte, gegenüber dem Anteil des bahn- 
rechenden Theoretikers und des aufs Universale abzielenden Forschers, dem 
offenbar die Werbung frischen Nachwuchses schwerer fällt. Von 27 Beiträgen 
gelten drei, recht unbedeutende, methodischen Fragen, zwei der Zeit des Unter- 
gangs der Antike, alle anderen der polnischen Geschichte; hier aber vorzüglich 
dem Abschnitt seit Stanislaw August bis zum Jänneraufstand von 1868. Unter 
den Beiträgen rühren einige von bereits anerkannten Forschern her, auf die 
Handelsman allen Grund hat, stolz zu sein (Arnold, O. Battel, Wieckowska, 
andere von jungen Gelchrten, die seit einigen: Jahren die Aufmerksamkeit auf sich 
lenken wie R. Przelaskowski, manche Arbeiten überschreiten nicht das Niveau 
anständiger Seminaraufsätze. 


In ihrem Referat über die „Offentliche Meinung als Geschichtsquelle“ streift 
Anna Minkowska das Thema zu flüchtig, um den richtigen Grundgedanken, 
es sei die öffentliche Meinung von der Stimmung zu unterscheiden, fruchtbar aus- 
zuwerten. Übrigens ist dieser Stoff inzwischen von Wilhelm Bauer in seinem Buch 
über die öffentliche Meinung vorbildlich gestaltet und erörtert worden. Auch die 
Bemerkungen von Hanna Pohoska zur Forschungsmethode der Geschichte der 
staatsbürgerlichen Idee in der Erziehung bringen nichts Neues. Tadeusz Man- 
teuffel beschränkt sich darauf, Bekanntes über den Begriff und die Art der 
Grenzen unter dem irreführenden Titel „Die Methode der Grenzbezeichnung in 
der historischen Geographie“ zu wiederholen. 


Wenn Marjan Henryk Serejski, wieder unter einem etwas an- 
E Titel, „Das Problem des Endes der antiken Welt“ sich fiir das 
. und 6. Jahrhundert als Einschnitt zwischen Altertum und neuerer Zeit aus- 
spricht und damit für eine Scheidung durch das, was wir in der historischen Geo- 
graphie Grenzstreifen heißen, nicht etwa durch eine strikte Grenzlinie, hier durch 
ein Jg wie das überlieferte 476, so vermag er uns nicht zu überzeugen. Zu 
deutlich sind die Spuren des antiken Staates, der antiken Kultur, der antiken 
Kunst und Denkensweise noch bis weit in die Karolingerzeit, als daß wir den 
Einschnitt des 5./6. Jahrhunderts gar für die südlichen drei Mittelmeer-Halbinseln 
annehmen könnten. Wir haben vielmehr — im Rahmen einer Rezension sind 


329 


natürlich diese Dinge nicht zu begründen — nach dem durch seine Zerreißung in 
Einzelstaaten, einander prinzipiell als Feind gegenüberstehenden Nationen charak- 
terisierten Altertum, das mit dem Römischen Weltreich endet, eine Periode der 
europäischen Einheit, die — seit dem 4. Jahrhundert immer stärker erschüttert — 
erst im 10. Jahrhundert endgültig dahinschwindet und der durch den erneuten 
Zerfall in nationale Sondergebiete gekennzeichnete Neueren Zeit Platz macht. 


Wanda Moszczenska handelt von den merovingischen Antrustionen. 
Auf Grund sehr ungenügender Kenntnis der neuesten Literatur zur fränkischen 
Verfassungsgeschichte. (Brunner ist in der ersten Auflage benutzt, Heusler, 
Schröder, Dopsch, die 1 neueste deutsche und französische Literatur fehlen.) 
Stanisław Arnold erörtert mit ganz anderem Rüstzeug ein ähnliches 
ständegeschichtliches Problem der frühmittelalterlichen polnischen Geschichte: die 
„ascripticii“. Das waren nach der älteren Meinung Unfreie und erst Grodecki, 
Tymieniecki unterschieden sie als in ihrer Bewegungsfreiheit Beschränkte von den 
eigentlichen Sklaven der früheren Epoche. Arnold definiert das näher als ehe- 
malige Freie, die durch Tradition an die Kirche oder einen weltlichen Großgrund- 
herren gelangt sind. Ohne Zweifel mit Recht. Die Analogie zu deutschen Ver- 
hältnissen springt in die Augen. Überall in Europa, wo sich der freie Bauer vor 
dem um sich greifenden Großbesitz nicht halten konnte, suchte er die Abhängig- 
keit und damit die Möglichkeit zur wirtschaftlichen Existenz: auf dem damals 
üblichen Weg der Übereignung an die Mächtigen und um den Preis einer formalen, 
nun wertlos gewordenen Freiheit. 


Ober die Gründung des regulierten Chorherrenstiftes in Czerwinsk 
(Masovien) handelt Aleksy Bachuls k i. Die Fundationsurkunde ist nicht er- 
halten, das je 1055, Cé e von einer späten Quelle für die Gründung an- 
gegeben wird, ist falsch. Bachulski erschließt durch vergleichende Nebeneinander- 
stellung von an sich verbürgten Daten die Zeit von etwa 1140 und als Stifter 
den Bischof Alexander von Plock, die Herzöge Boleslaw Krzywousty, Boleslaw 
Kedzierzawy und Heinrich von Sandomierz. Eine Übersicht der ursprünglichen 
Besitzungen des Stiftes schließt die kleine Studie, die ein Kapitel aus einem um- 
fassenderen Werk über Czerwinsk darstellt. 


Franciszek SkibiAskis Abhandlung über den polnischen Salzhandel 
im frühen Mittelalter zeigt die beherrschende Wichtigkeit der reussischen Salinen 
für den polnischen Markt, die relativ geringe Produktion der später so geschätzten 
kleinpolnischen Salzbergwerke. Von weitergehenderen Betrachtungen, etwa über 
die Bedeutung dieser Tatsachen als Motive für die polnische Expansion nach dem 
Osten, hat der Autor abgesehen. Als Material dienten ihm die bekannten Ur- 
kundensammlungen. Józef Kwapiszewski berührt auf ähnliche Weise ein 
anderes Thema altpolnischer Wirtschaftsgeschichte: das Imkerwesen und die diesen 
obliegenden Abgaben. 

Die bisher erwähnten Beiträge überragt eine anregende Studie Oskar 
Bartels über die dogmatischen Kämpfe um die Deutung der Lehre von der 
Dreifaltigkeit. In den Jahren 1559—1562 haben Nestorianer, Socinianer, ortho- 
doxe Kalvinisten, Schwarmgeister, die den Weg zum Antitrinitariertum oder zum 
Tritheismus wandelten, einander in Polen erbitterte Schlachten geliefert. Auf 
Synoden und von den Kanzeln herab. Es waren zumeist Italiener, wie Stankar, 
die sich auf fremdem Boden herumzankten. 

Die Protokolle der Kommission von 1674, die ursprünglich den gesamten 
Komplex der nach dem befristeten Frieden (Waffenstillstand) von 1667 unent- 
schiedenen Fragen zwischen Rußland und Polen erörtern sollte, aber durch die 
türkische Offensive ihre Verhandlungen auf die Waffenhilfe der beiden christlichen 
Staaten gegen den Halbmond einschränkte, sind das Substrat einer Arbeit von 
Janusz Woliński, der die weiteren Perspektiven fehlen, um hinter der er: 
schlagenen Hinterlist der Moskowiter einen sehr vernünftigen Kerngedanken zu 
entdecken: daß Rußlands Interesse gebot, Polen nicht zu stärken. 

Arnold Kirszbraun gedenkt der Wirksamkeit Stanislaw Leszczynskis 
in Lothringen, speziell der Errichtung der noch heute bestehenden ,,Académie de 
Stanislas“ und der Stadtbibliothek (Bibliothèque Publique) zu Nancy. Die recht 
unbescheidene Anmerkung des Autors, er habe sich fast ganz auf die handschrift- 


330 


lichen Quellen stützen müssen, denn die Literatur habe ihm nur unwesentliche 
Dienste geleistet, beweist mir vor allem, daß Kirszbraun die grundlegenden Publi- 
kationen der „Mémoires de la Société Royale de Nancy“ und der „Mémoires de 
Académie de Stanislas“, sowie die Veröffentlichungen der „Société de l’Arch£- 
ologie Lorraine“ nicht benutzte. Dort hätta er gefunden, was er vermißte, z. B. 
die Gründungsgeschichte der Académie des Sciences et Belles Lettres im Jahr- 
gang 1754 der „Mémoires“ dieser Akademie, ferner eine Studie von Druon 
„Stanislas et la Société royale des Sciences et Belles-Lettres“ (Mémoires de 
l’Académie de Stanislas 1892). Von Pierre Boyé gibt es eine Menge kleinerer 
Arbeiten über LeszczyAski, in denen manche einschlägige Notiz vorhanden ist. 
Auch die Memoirenliteratur und der Briefwechsel der Zeit ergäben Ausbeute. 
Jedenfalls sollten junge Historiker mit dem Aburteilen vorsichtiger verfahren, als 
es Kirszbraun tat. 


Was Jan Giergielewicz über das Ingenieurkorps und die kriegstech- 
nische Literatur unter Stanislaw August mitteilt, hat den Vorzug, sich durchaus 
auf Akten aufzubauen. Er erschöpft freilich nicht den Stoff. Neben den Daten 
über Entstehung und Organisation der staatlichen Ingenieurschulen wäre die 
ceded era Literatur weit ausführlicher zu untersuchen und anzuführen als es 
geschah. Vom Einfluß der zahlreichen fremden Fachleute, die in Polen damals 
„gastierten“ bis zu Warneri, dem Korrespondenten und Freund der Czartoryski, 
hätten wir gerne einiges vernommen. 


Für seinen „Streit um die Vereidigung des Heeres im Jahre 1775/1776" be- 
nutzt Jan Bilek als Unterlagen das bekannte Manuskript „Entretiens du Roi 
avec Stackelberg“ aus dem Krakauer Archiv der Akademie der Wissenschaften 
(Nr. 1649), dann die Protokolle der Rada Nieustajgca im Warschauer Archiwum 
Glówne und die dort befindlichen Protokolle der Kriegskommission. Es handelte 
sich um den Konflikt zwischen Stanislaw August und Branicki (dem Mann der 
„Targowica“), wer durch die Eidesformel als tatsächlicher Befehlshaber der polni- 
schen Wehrmacht anzusehen sei. Dieser Konflikt war nur eine Episode des damals 
heftigen Ringens der Magnaten mit dem Herrscher, den Stackelberg gegenüber 
dem russischen Gönner der Branicki, Czartoryskı und Potocki, gegenüber 
Potemkin stützte. In meinem Buch über Stanislaw August habe ich diese Dinge 
kurz berührt. Bilek übersicht die Rolle, welche auch österreichische und 
preußische Einflüsse in dieser sehr wichtigen Frage spielten. Das Thema ist ohne 
die Bezugnahme auf die preußischen Gesandtschaftsberichte (wenigstens soweit sie 
in der „Politischen Correspondenz Friedrichs des Großen“ vorliegen), ohne die 
Wiener Akten nicht befriedigend zu erörtern. Ich habe mir seinerzeit audı aus 
dem Pariser Archives du Ministére des Affaires Etrangéres sehr merkwürdige Auf- 
schlüsse geholt. Bilek bereichert unsere Kenntnisse nur durch ein paar Notizen 
aus den schon erwähnten polnischen Archivalien. 


Die Zusammenstellung Jan Nieczuja-Urbahkıs über Freimaurer- 
logen auf polnischem Gebiet im 18. Jahrhundert wird man jetzt mit der aus- 
gezeichneten Publikation von Stanislaw Malachowski-Lempicki, des besten Kenners 
der Materie vergleichen müssen („Wykaz polskich lóż wolnomularskich“, Kraków 
1929), um die Angaben des verstorbenen Autors zu kontrollieren und zu er- 
ganzen. Allerdings bietet auch Nieczuja-Urbahski ein per Nachträge zu der 
gleichzeitig mit seinem Artikel erschienenen Schrift Malachowskis. 


Wanda Nagérska-Rudzka haben wir bereits im Przeglad Histo- 
ryczny mit zwei Kapiteln ihres Buches über die polnischen Unabhängigkeits- 
bestrebungen in der Zeit zwischen dem russischen Feldzug Napoleons und dem 
Ende des Wiener Kongresses kennengelernt. Der in der Festschrift für Handels- 
man veröffentlichte Abshaitt berichtet von den diplomatischen Schritten polni- 
scher Aristokraten wie Adam Czartoryski d. J. und Antoni Radziwill, durch 
ihre höfischen Verbindungen für Polen zu retten, was zu retten war. Das archi- 
vale Material, in erster Linie aus dem Czartoryski-Archiv, gestattete der Ver- 
fasserin ein vollständiges Bild der Tätigkeit beider Fürsten zu entwerfen. Dieses 
Bild bleibt freilich einseitig, da es nicht durch eine Schilderung der Gegen- 
strömungen ergänzt wird, denen die Polen zu begegnen hatten. Eine derartige Er- 
weiterung ihrer Aufgabe hätte wohl von Frau Nagörska-Rudzka zuviel, nämli 


22 NF 6 331 


die Vertiefung in die Literatur und in die über ein Dutzend Archive verstreuten 
Akten zur Polenfrage während der Jahre 1818—1815 gefordert. 

Als die Perle des Sammelbandes erscheint mir Ryszard Prze- 
laskowskis Bericht über den Stand der Forschung zur Geschichte von 
Kongreß - Polen unter konstitutionellem Regime (1815—1830). Klug und maßvoll 
bewertet der Autor die bisherigen Darstellungen der Gesamtgeschichte dieses Zeit- 
raumes und ihre Ergebnisse. Er läßt seine Bibliographie raisonnée in eine sehr 
raisonnable Übersicht der nächsten Forschungsziele ausklingen, die auf noch 
klaffende Lücken, zumal auf dem Gebiete der Kirchengeschichte jener Epoche 
hindeutet. Zwei Stellen der Umschau befriedigen nicht ganz: die über literar- 
geschichtliches (wo noch manche wesentliche Arbeit zu erwähnen wäre) und die 
über nichtpolnische Werke, von denen Przelaskowski nur ein paar russische Mono- 
graphien nennt. Bücher wie Theodor Schiemanns „Nikolaus I.“ wären doch zu 
verzeichnen gewesen. 

Wenn Stefanja Koelichendédwna ihre Abhandlung betitelt: „Reak- 
tionäre Erscheinungen in der Tätigkeit der Gesellschaft für Elementarschulbücher“, 
so ahnen wir schon, daß es den Obskuranten zuleibe gehen wird. Natürlich 
steht auch schon in der zweiten Zeile, daß nach dem Scheiden des „verdienten“ 
Stanislaw Potocki (des Großmeisters der Freimaurer und Autors der Reise nach 
„Finsterburg“), mit dem Amtsantritt Grabowskis eine „Ara der schärfsten Reak- 
tion“ begann, eine „Politik der Verfinsterung“. Als deren Symptome rechnet die 
Verfasserin u. a. (S. 160), daß „auf Befehl der Gesellschaft in den Schulbibliocheken 
sich die Werke des von unserer Reaktion bewunderten Bossuet, Chateaubriand 
und Massillon befinden“, Bücher, die m. E. auch so aufgeklärte und freie Geister 
wie unsere junge Freiheitskämpferin nicht ohne einigen Nutzen und ohne einiges 
Vergnügen lesen könnten. Daß die Kommission eine diskutable, meinetwegen 
undiskutable, aber immerhin bestehende Weltanschauung und eine mit ihr ver- 
knüpfte politische Konzeption einmal als Grundlage annehmend, folgerichtig und 
richtig handelte, dafür fehlt der Autorin offenbar das Verständnis. So bleibt ihr 
Artikel nur eine nützliche Aneinanderreihung von als vernichtend gemeinten und 
dem objektiven Historiker nur als Tatsachen wertvollen Einzelfakten aus der 
Tätigkeit der verschrienen Kommission. 

Czesław Leśniewski hat es insofern besser, als er vom Tod des 
Stanislaw Staszic berichten darf, eines der Helden der älteren und der neueren 
polnischen Demokratie; eines Helden, den die Rechte als eifrigen Nationalen und 
sowohl Deutschen- als Judenfeind, die Linke als Demokraten und Aufklärer 
schätzt. Eines achtunggebietenden, wenn auch nicht zur in Polen üblichen Ver- 
bronzung geeigneten Charakters, eines klugen Staatsmannes und großen Schrift- 
stellers. Über dieses aus dem 18. Jahrhundert in die Zeit Kongreß-Polens hinein- 
ragenden weltlichen Abbés letzte Jahre, Krankheit, Tod, Testament und Nachlaß 
empfangen wir eine Menge archivalischer Nachrichten. Die Erzählung Lesniewskis 
ist abgesehen von ihrem Wert für die Biographie Staszics auch reich an kultur- 
historischen Einzelheiten, wie z. B. den Angaben über die Kosten der ärztlichen 
Behandlung. Was mit dem stattlichen Nachlaß des Mannes, der mit in Polen 
seltener, eiserner Konsequenz sich ein Vermögen von eineinhalb Millionen Gulden 
5 erspart und erhalten hat, später geschah, nachdem es zunächst einer 
Stiftung zugewiesen worden war, das gehört in ein anderes Kapitel, über das wir 
in der Staszic-Festschrift (vgl. dieses Jb. N. F. 4 ff.) genug lesen können. 

Galt das Vermächtnis des „Vaters der polnischen Demokratie“ vor allem der 
Landwirtschaft, so trachtete auch das Projekt einer landwirtschaftlichen Kredit- 
genossenschaft, das im Frühjahr 1830 von litauischen Großgrundbesitzern aus- 
gearbeitet wurde und das in einer Skizze von Halina Mrozowska analysıert 
wird, der Hebung des Wohlstandes bei der Szlachta und mittelbar bei den Bauern. 
Die angebahnte Entschuldung der Güter hätte sich auch als politisches Instrument 
erwiesen. Einer Verwirklichung dieses Planes und einer sich mit ihm begegnenden 

Initiative des Großfürsten-Statthalters Konstantin stand die alsbald ausgebrochene 
Erhebung Polens entgegen. Die hier geschilderte Episode zeigt den Bruder Niko- 
laus’ I. wieder in seiner bekannten und verkannten Sympathie für die Polen, die 
ihn bekämpfen und die er bekämpfen mußte. 


332 


— — we 


Mit den kriegerischen Ereignissen des Jahres 1880 beschäftigen sich die Bei- 
E von Helena Więckowska, und Oppman, Stanisław Płoski. Die nun nach 
Polen heimgebrachten Archivalien des ehemaligen Polenmuseums in Rapperswil 
enthalten, wie uns Helene Więckowska mitteilt, sehr viel zumeist aus Privat- 
besitz von Emigrierten stammendes Material zur Geschichte der Novemberrevo- 
lution und des ihr folgenden Feldzugs. Denkwürdigkeiten wie die des General 
Samuel Rózycki, des Obersten Łagowski, des Präsidenten der Wojewodschafts- 
Kommission Sandomierz Teofil Januszewicz, von zwei Frauen: Benigna Mala- 
chowska, Kunegunda Biallopiotrowiczowa und vieler anderer Teilnehmer; Brief- 
sammlungen und Personalakten hervorragender Offiziere und Politiker; Akten 
von Gese ten der polnischen Emigration und des Polnisch-Französischen, von 
Lafayette präsidierten Komitee; der gesamte Nachlaß des in Paris einflußreichen 
Publizisten und Schriftstellers Ch o; Akten der Polnischen Gesandtschaft in 
Frankreich (1881/1888). Der von Adam Lewak, dem aus der Schweiz nach Polen 
mitgekommenen Hüter und vorzüglichen Kenner der Rapperswiler Schätze in An- 
grift genommene und zum Teil schon veröffentlichte Katalog wird erst den ganzen 
Reichtum der im einstigen Polenmuseum zusammengetragenen Archivalien der 
Forschung erschließen. 


Ohne deren Verwertung, doch auf Grund der sehr reichen gedruckten Denk- 
würdigkeiten, von Zeitungsnachrichten, Broschüren und der beim Warschauer 
Towarzystwo Naukowe verwahrten Papiere des Generals Krukowieki weiß 
Edmund Oppman ein fesselndes und erschütterndes Gemälde des Partei- 
haders während der letzten Zeiten des erliegenden Aufstandes zu geben. Man 
glaubt die Prosaerzählung eines Wyspiahskischen Dramas zu lesen, blickt man auf 
die Darstellung der revolutionären Zuckungen Warschaus im Angesicht der Kata- 
strophe. Wie sich die blutigen Akte des Terrors von 1794 wiederholten und 
Krukowiecki in der Hauptstadt die Rolle Kollztajs spielte: die Geister des roten 
Schreckens heraufbeschwörend und jederzeit bereit, diese, sei es, sobald er an der 
Macht war, sei es, sobald andere des Schreckens Herr wurden, zu verleugnen. 
Oppmans lebendige Schilderung umspannt die zwei Monate von Mitte Juni bis 
Mitte August 1881. Über diesen Zeitpunkt hinaus greifen die lesenswerten Seiten, 
auf denen Stanisław Płoski von der militärischen und politischen Laufbahn 
des später zu noch a zu tragischer Berühmtheit gelangten Józef Zaliwski 
erzählt. Reichliche Fundierung auf den Warschauer Akten ermöglichte Ploski die 
Wirksamkeit seines Helden genau zu verfolgen. Zaliwski, seit Jahren einer der 

litischen Matadore des Offizierkorps, ein Virrkopf mit unverdauten demo- 
ratischen Ideen, wird in den ersten Tagen der Revolution wegen aufdringlicher 
Selbstreklame verhaftet, freigelassen, mit einer geglückten Mission zu besonderen 
Zwecken, also mit ee betraut. Er versucht vergeblih, das Kommando 
einer Freischar zu erhalten, wird aber schließlich doch zum Befehlshaber einer 
Partisantenabteilung ernannt, mit der er die Russen im Gebiet längst der ost- 
preußischen Grenze bekriegt. Für seine Tüchtigkeit zum Oberstleutnant befördert, 
wurde er indessen des Krieges im offenen Felde überdrüssig und er trachtete aufs 
Schlachtfeld der Parteien zurückzukehren. Beschuldigte Skrzynecki des Hoch- 
verrats, knüpfte mit Mochnacki und den Linksradikalen an, trotzte den Generalen 
ins Antlitz, wiegelte das Volk auf und schickte sich an, in der Hauptstadt die 
Diktatur zu übernehmen. Diese politischen Heldentaten wurden durch recht 
problematische militärische Unternehmungen abgelöst, bei denen Zaliwski regel- 
mäßig im kritischen Moment fehlte. Nach dem Fall Warschaus geriet er in 
russische Gefangenschaft, aus der ihn ein Zufall rettete. Ploski verläßt den un- 
sympathischen Freiheitsmann im Augenblik, wo Zaliwski mit erbetteltem Geld 
aus Galizien über Deutschland sich nach Frankreich begibt, das er später wieder ver- 
ließ, um den unseligen Streifzug zu leiten, der seinem Namen zu trauriger 
Notorietät verholfen hat. 


Ein ganz anderer Mensch und ein ganzer Mann war der Priester Piotr 
Senay kein Szlachcic mit ochlokratischen Gelüsten, sondern ein Bauernsohn 
mit glühender Liebe zu seinem unterdrückten Volk, ein polnischer Lamennais 
ohne die dichterische Genialität seines französischen Vorbilds. Scigienny, den die 
polnischen Sozialisten für sich als cinen ihrer Ahnen reklamieren, predigte den 


333 


Bauern die Solidarität aller Arbeitenden gegenüber den besitzenden Klassen der 
Unterdrücker. Er verquickte nationale, religiöse und soziale Beschwerden. Den 
Ausbruch einer bewaffneten, allerdings auch so zum raschen Scheitern verdammten 
Erhebung Scigiennys und seiner Anhänger, verhinderte der Verrat eines Bauern. 
Scigiennys wurde verhaftet, zum Verlust der Priesterwürde verurteilt (wofür die 
nach dem Muster des „Goldenen Ukaz“ von Melchizedek Javorskij abgefaßte 
angebliche Papstbulle gegen Russen und Herren den Anlaß bot). Fünfundvierzig- 
jährig mußte er den Weg nach Sibirien antreten. Ungebrochen an Geist und 
Körper kehrte er im Alter von 71 Jahren wieder nach Polen zurück. Der Vier- 
undachtzigjährige durfte wieder seinen priesterlichen Funktionen nachgehen und 
er übte noch sechs Jahre das Amt eines Spitalgeistlichen aus. Neunzigjährig ist 
Scigienny 1890 gestorben. In völliger apostolischer Armut und noch bei Lebzeiten 
von der Gloriole des Heiligen umstrahlt. Z of ja Balicka hat dieses Merk- 
würdigen Lebensschicksal zum Gegenstand ihrer Doktorarbeit gewählt und aus 
dieser einen Extrakt in der Festschrift für Handelsman abgedruckt. Wir hegen 
den aufrichtigen Wunsch, die Biographie Scigiennys ungekürzt nochmals zu emp- 
fangen. Vielleicht läßt sie sich durch Materialien über dessen Aufenthalt in Sibirien 
ergänzen. 


Wieder einen anderen Typus des polnischen „Aufrührers“ verkörpert der 
unglückliche Diktator von 1868, Romuald Traugutt. Wir besitzen seine Bio- 
graphie aus der Feder des unlängst verstorbenen Verteranen (und seines Gefährten) 
Marjan Dubieki. Stefan Pomarahski hat die fragmentarischen Nach- 
richten dieses Buches um die sehr lehrreiche Feststellung der dienstlichen Lauf- 
bahn des Insurgentenführers während seiner Zugehörigkeit zum russischen Heere 
vermehrt. Traugutt ist im Jahre 1845, damals neunzehnjährig, zur russischen 
Armee gekommen, hat in dieser an fünf Feldzügen teilgenommen, darunter an 
dem gegen das Ungarn Kossuths und somit indirekt gegen dessen polnische Ver- 
biindete; er hat zwei Orden empfangen und ist im Jahre 1862, erst sechsund- 
dreißigjährig, als Oberstleutnant aus der Aktivität geschieden. Soviel melden die 
in Warschau verwahrten Militärakten. Was in der Seele des verschlossenen Mannes 
während dieser Zeit vorging: wir wissen es nicht, vermögen nur die Wallenrod- 
Tragödie zu ahnen. Traugott ist wohl vom ersten Augenblick an nur darum ins 
russische Herr eingetreten, um beim Feind die Kunst zu erlernen, ihn zu be- 
kämpfen. Oder täuschen wir uns; war Traugutt wirklich nur der Offizier, als 
der er seinen Kameraden erschien und wandelten ihn später erst binnen weniger 
Monate die Eindrücke des Zivillebens zum polnischen Patrioten? Traugutts Bio- 
graphie ist sowohl nach Dubiecki als auch nach den dankenswerten Nachrichten 
Pomaranskis noch zu schreiben. 


Eugeniusz Przybyszewski breiter vor uns die seelische Landschaft 
aus, in der sich Traugutts gescheiterte Erhebung vollziehen sollte. Wir vernehmen 
von den eifrigen Bemühungen des geheimen Central-National-Ausschusses, der 
sich als Regierung des illegalen Polnischen Staates fühlte; von den mit unzu- 
reichenden Mitteln getanen Versuchen der Szlachta mit demokratischen Schlag- 
worten und oft sehr demagogischen Versprechungen (keine Steuern, Gleichheit 
von Herr und Bauer, Verkürzung der Militärdienstpflicht!) die polnischen und 
sogar die litauischen, weißrussischen, ukrainischen Bauern für den kommenden 
Aufstand zu gewinnen. Przybyszewski stellt mit Recht fest, daß angesichts der 
elementaren Feindschaft der sozial und national ihren polnischen Gutsherren 
gegnerischen Volksmassen die am grünen Tisch entworfenen Agitationspläne nicht 
nur ohne die beabsichtigte Wirkung bleiben, sondern auch, indem sie die dumpfe 
Menge in Bewegung brachten, von anderer, verhängnisvoller Wirkung werden 
mußten. Der Bauer war bereit sich zu erheben, indes gegen und nicht für die 
polnischen Herren, mochten sie sich auch noch so unverständlich und unverständig 
demokratisch gebärden. 


In Jerzy Niemojewskis juridischer Untersuchung über die Rechts- 
rundlagen der russischen Kriegsgerichtsurteile zur Zeit des Aufstandes von 1868 
finden wir sehr begrüßenswerte konkrete Angaben über die Organisation der 
russischen Kriegsgerichte, über dieser Tribunale damalige Kompetenz und Prozeß- 
verfahren. Eine kaiserliche Verordnung vom 25. Januar 1868 überwies die mit 


334 


den Waffen in der Hand gefangenen Aufrührer an Standgerichte, die sofort zu 
urteilen und nur auf Freispruch oder Tod zu erkennen hatten, wobei iiber die 
Ausführung der Urteile die Militärgouverneure in Warschau, Lublin, Radom, 
Kalisch, Plock und Augustowo entschieden. Dieser Erlaß wurde später dabin 
gen daß Urteile auf andere als die Todesstrafe an den Großfürsten-Statt- 
halter Konstantin geschickt werden sollten. Man trennte alsbald die Empörer in 
vier Kategorien und nur die erste: Anführer, Emissäre und desertierte russische 
Offiziere, verfiel dem Tod. Die Strafen wurden, je länger der Rebellion an- 
dauerte, umso härter. Seit dem Mai 1868 hängten die Russen, Ausnahmen ab- 
gerechnet, alle Gefangenen aus Adel und Bürgerschaft, die als Anführer galten, 
und die übrigen Teilnehmer am Kampf wurden nach Sibirien oder in entlegene 
europäische Gouvernements verschickt oder unter die Soldaten gesteckt. Seit 
Dezember 1868 überwachte ein General-Polizeimeister die Urteile der etwa 60 
Gerichtskommissionen. Güterkonfiskationen traten zu den persönlichen Strafen 
hinzu. Erst im Jahre 1867 hat die russische Themis ihre letzten Opfer gefunden. 
Niemojewski benutzte für seine Arbeit außer der Literatur noch zahlreiche Akten 
des Archiwum akt dawnych und des Centralne Archiwum wojskowe. Leider ist 
die vom Einzelfall zum Einzelfall fortschreitende, doch wieder zur Synthese noch 
zu einer statistischen Veranschaulichung gelangte Abhandlung nicht bis zur ab- 
gerundeten Darstellung gediehen. Es müßte doch möglich sein, irgendwie das 
Vorgehen der russischen Behörden durch den Vergleich der Zahlen gefangener 
Aufständischer, der gefällten Urteile, ihrer Ausführung und ihres Inhalts ob- 
jektiver als durch eine stets national-politisch gefärbte Entrüstung gegen den Be- 
drücker Polens zu charakterisieren. 


Ein Wort zum Schluß über die von Halina Bachulska angelegte Biblio- 
graphie der Arbeiten Prof. Handelsmans. Unter den 231 Nummern überwiegen 
die Buchbesprechungen und kleineren Artikel. Als die wesentlichen Leistungen 
des Gelehrten dürfen wir in Erinnerung rufen: „Die Strafe im polnischen Recht“ 
(1905), „Trzy Konstytucje“ (1905, 4. Aufl. als „Konstytucje Polski“ 1926), „Kara 
w najdawniejszem prawie polskiem“ (1908), „Napoleon et la Pologne“ (1909, 
poln. 1914), die gesammelten Aufsätze der „Studja historyczne“ (1911) und von 
„Pod znakiem Napoleona“ (1918), die diplomatische Korrespondenz der Napoleo- 
nischen Diplomaten in Warschau und dieser französischen Bevollmächtigten Por- 
traits „Instrukcje i depesze Rezydentöw Francuskih W Warszawie 1807/1813" 
(1914), „Rezydenci Napoleonscy w Warszawie 1807/1818“ (1915), „Anglja-Polska 
1814—1864" (1917), „Z metodyki badań feodalizmu“ (1917), „Die mittelalter- 
liche polnische Sozialgeschichte“ (1919), „Zagadnienie teoretyczne historji“ (1919), 
„Historyka“ (1921, 2. erweiterte Auflage 1928), „Ksiega Ziemska Plonska 1400 
—1417“ (1920), „Pomiędzy Prusami i Rosją“ (1922) „Rozwój narodowości nowo- 
czesnej“ ee „Francja-Polska 1795—1845“ (1926, französisch 1927), „Le soi- 
disant précepte de 614“ (auch polnisch 1926). 


In der Bibliographie der Schriften des Jubilars hätten wir auch gerne Ver- 
weise auf über ihn erschienene Artikel und Rezensionen gefunden. 


III. 


Pamietnik trzydziestolecia pracy naukowej prof. dr. Przemyslawa 
Dabkowskiego. Wydany staraniem Kölka Historyczno. prawnego 
Stuchacz6w Uniwersytetu Jana Kazimierza. 1897—1927. Lwów, 
Gubrynowicz i Syn 1927 (handschriftlicher Vermerk auf dem 
mir gesandten Exemplar: druk skończony w październiku 1928). 
8. 589 Seiten. 


Wieder ein Gedenkbuch zum Jubiläum eines bedeutenden Historikers. Von 
Dabkowski, nach Balzer dem ersten polnischen Forscher auf dem Gebiete der 
Rechtsgeschichte unter denen, die heute leben, ist wohl in jedem Jahrgang dieser 
Jahrbücher rühmend die Rede gewesen. Seme segensreiche Wirksamkeit als Lehrer 
tritt in den Heften des Pamietnik Historyczno-Prawnyczy zutage, die er heraus- 


335 


gibt und mit zum Teil vorzüglichen Arbeiten seiner Schüler anfüllt. Als Autor 
ist der Verfasser des „Prawo prywatne polskie“ keiner weiteren Vorstellung be- 
dürftig. Die von Karol Korányi auf S. 519—581 des vorliegenden Bandes ge- 
gebene Bibliographie von Dabkowskis Schriften gewährt uns ein vollständiges und 
imponierendes Bild der Tätigkeit des Gelehrten. Reicht die Zahl von 281 
Nummern auch nicht an Brückner oder Balzer heran, sie darf sih immerhin 
sehen lassen. Obrigens ist diese Bibliographie, was die Rezensionen betrifft, nicht 
vollständig und in ihrem Teil, der die Notizen und Anzeigen über Dąbkowski 
enthält, unzureichend. Ich weiß z. B. aus dem Gedächtnis, daß Dutzende von 
Erwähnungen des Jubilars in deutschen Fachorganen (darunter mehrere Rezensionen 
aus meiner Feder) hier fehlen. 


Die Abhandlungen von Schülern und Freunden sind von sehr ungleichem 
Wert. Sieben „Freunde und Bewunderer“ haben sich eingestellt. Die meisten 
mit einem Beitrag, der gutes Niveau hält. Maier Bataban veröffentlicht da 
wieder einige seiner Bausteine zur Rechtsgeschichte der Juden in Polen. Er stellt 
fest, daß den Wojewoden als Judenrichter in Reußen (Lemberg, Przemyśl! usw.) 
und Posen der Podwojewodzi vertrat, während in Krakau neben dem Podwo- 
jewodzi ein besonderer Judenrichter erscheint. Er schildert die Kompetenz der 
ollegialen 5 erster Instanz, die über Klagen von Christen gegen 
Juden urteilten. Das Material reicht nicht zu genauer Definition aus.) Sehr 
unterhaltsam ist die Erzählung einer „Doppelwahl“ zum Krakauer Rabbiner- 
posten, die sich mit einer doppelten Besetzung des adligen Judenrichteramts 
possierlich verquickte; in welchen Streit sogar der König August III. eingreifen 


mußte. 


Prof. Ehrenkreutz befaßt sich mit der Appellinstanz für die Städte 
der Wojwodschaft Sandomierz. Auf diese etwas magere Gabe folgt die sehr an- 
regende Studie Bolesław Gruzewskis über eine Episode aus Krasickis 
Wirksamkeit als Präsident des Tribunals von Kleinpolen (1765). Man kennt die 
Erinnerungen an seine richterlichen Funktionen, die der Fürstbischof von Ermland 
in seinem Roman „Pan Do$wiadczyhski“ zu einem amüsanten Sittenbild um- 
gestaltet hat. Man erinnert sich der Schilderungen bei Kitowicz, an die „Pamigtki 
p. Soplicy“ und steht sofort mitten in den Ereignissen, die Gruzewski erzählt. 
Kurz und bündig: ein betrunkener Szlachcic trat Krasicki mit Schimpfworten in 
den Weg und schlug ihn ohne Grund. Der Übeltäter wurde mit einem Ja 
Arrest und Geldstrafe belegt, aber schon nach zwei Monaten freigelassen. Seine 
beiden Diener aber empfingen, der eine hundert Rutenstreiche, der andere harte 
Züchtigung durch Abhacken der rechten Hand. So urteilte die Gerechtigkeit noch 
im Zeitalter der Aufklärung. Konsul Namystowski, dessen Arbeiten auf 
dem Gebiet des serbischen Rechts sich begründeten Rufs erfreuen, hat sich die 
völkerrechtlichen Beziehungen der Balkanstaaten im Mittelalter, speziell aber (der 
Titel ist zu weit gefaßt) das Konsularwesen der Republik Ragusa zum Gegen- 
stand seiner Ausführungen erkoren. Mit großem Interesse habe ich den Abschnitt 
aus einer mir bis jetzt noch nicht vorliegenden Arbeit von Adam Vetulani 
„L'Evêque et le Grand Chapitre de Strasbourg“ gelesen: „Zur Geschichte des 
Straßburger Domkapitels.“ Leider kann ich mich mit den hier vorgetragenen An- 
sichten nicht befreunden. Vetulani, den zunächst die Frage nach den Gründen 
der im 12. Jahrhundert schnell wachsenden Macht der Domkapitel und ihres in 
Straßburg zu Beginn des 18. Jahrhunderts offenbar gewordenen Obergewichts über 
den Bischof beschäftigt, erblickt die Ursache dieses Fakts darin, daß sich der höhere 
Adel, die Freiherren der Kanonikate bemächtigt hätten. Er sucht deshalb den 
Zeitpunkt festzustellen, zu dem der hohe Adel die alleinige Herrschaft im Straß- 
burger Kapitel erlangte. Der bekannte Protest des Kapitels gegen einen ıhm vom 
Papst aufgedrungenen niedriger geborenen Kandidaten (über den Schulte in seinem 
Buch „Adel und deutsche Kirche im MA.“ eingehend handelt) bildet für Vetulani 
den terminus ad quem (1231). Den terminus a quo genau zu errechnen, untersucht 
Verulani die Zeugenliste der gedruckten Straßburger Urkunden, um aus der Rang- 
stellung der Zeugnis ablegenden Domherren deren ständische Zugehörigkeit zu 
erschließen. Er motiviert die Wahl dieser Methode damit, daß eine zweite Art 
des Vorgehens, nämlich die Frage nach den Familien der Kanoniker nicht zu 


336 


beantworten sei, weil bis zum 12. Jahrh. nur die Vornamen der Domherren an- 
gegeben werden. Nun seien bis zum 10. Jahrh. die Domherren nach Laien und 
sogar nach den Ministerialen genannt, seit dem 11. Jahrh. aber vor den Leen, 
Deshalb müsse inzwischen die alleinige Besitzergreifung der Kapitel durch die Hoch- 
adeligen erfolgt sein. Schultes Ansicht vom ursprünglichen hochadeligen Charakter 
der Kapitel sei verfehlt.. Nun denn, Vetulani argumentiert mit ganz unzu- 
länglichen Behelfen. Zunächst besitzen wir eine reiche Literatur für fast sämt- 
lidte deutsche Domkapitel, in denen wir den Personalbestand der deutschen 
Kanoniker des Mittelalters zum großen Teil, und mit Anführung der Familien- 
namen aufgezeichnet haben. peal für Straßburg ist zwar kein Gesamtkatolog 
vorhanden, indes der Vergleich mit den Katalogen benachbarter Kapitel (z. B. 
den von Kisky gegebenen Listen), mit den Urkundenbüchern des oberrheinischen 
Gebiets, das aufmerksame Studium von 5 Sammelwerken wie Kindler 
v. Knoblochs Oberbadischem Geschlechterbuch, es Schweizer genealogischen Hand- 
buchs, das Studium der zahlreichen ausgezeichneten Monographien von großen 
Geschlechtern der umliegenden Gegenden: dies alles hätte zu einem recht statt- 
lichen Verzeichnis der aus den Zeugenlisten bekannten und zu identifizierenden 
Domherrn die Möglichkeit geboten. Ich kann Vetulani aus zureichender Kenntnis 
der Seraßburger Kapitelsgeschichte versichern, daß bis weit zurück der hochadelige 
Charakter des Kapitels keinem Zweifel unterliegt. Indes die ganze Argumentation 
wird unnötig, wenn man von der allgemeinen Entwicklung eine bessere Kenntnis 
hat als sie Vetulani zu eignen scheint. Nicht nur von meinem verehrten Lehrer 
Schulte, sondern auch von Dungern, Stutz, Kisky, in meinem Buch „Vom Herren- 
stand“ und in zahlreichen anderen ständegeschichtlichen, kirchengeschichtlichen, 
rechtshistorischen Werken ist der einheitliche Weg der deutschen Domstifter im 
Einklang mit allgemein bekannten soziologischen Gesetzen von einer Allein- 
herrschaft der Edelfreien zum Eindringen der Ministerialen, des Adels überhaupt 
und zuletzt erst zur ständischen Promiskuität auf Grund sorgfältiger ur 
des Personalbestands der Stifter, und der sozialen Tendenzen der Epochen sicher- 
gestellt. Die Beherrschung des Straßburger Domkapitels durch die Freiherren ist 
nicht „via facti“, sondern im Einklang mit dem auf die Urzeit, auf die Eigen- 
kirche zurückgehenden Grundcharakter der deutschen Hochstifter geschehen. 


Zygmunt Wojciechowskis Abhandlung über die ältesten Märkte 
in Polen ist eine erweiterte Rezension der Studie von Karol Maleczyhski 
„Najstarsze targi w Polsce“ (Lwów 1926). Die kritischen Einwendungen des 
Rezensenten richten sich vor allem gegen Maleczyhskis Deutung der „hospites“ 
als Handwerker, gegen die Datierung des herzoglichen Marktregals — das 
Wojciechowski von den Marktabgaben herleitet und im 11. Jahrh. entstehen 
läßt — und methodologisch gegen die unzulässige Verallgemeinerung von aus 
einzelnen Quellen erschlossenen Zuständen. 


Die sehr sorgfältige Abhandlung Marjan Zygmunt Jedlickis, 
dessen Arbeiten auf dem Gebiet des deutschen Rechts längst die Aufmerksamkeit 
auch der deutschen Fachgenossen auf sich gelenkt haben, stellt das dem Autor 
zugängliche Material über die „Schilderhebung bei den alten Germanen“ zu- 
sammen. Als grundsätzlicher Mangel dieser zu sehr aufs Formal- Juristische be- 
schränkten Studie ist die Vernschlässigung der völkerkundlichen Seite dieser 
symbolischen Zeremonie und der Verzicht auf deren psychologische Durchdringung 
zu bezeichnen. Jedlicki begnügt sich die Schilderhebung zu deuten und sie 
irgendwie als eine dem kriegerischen Charakter der alten Germanen gemäße Sitte 
hinzunehmen. Er hebt weiters seine Darstellung mit der bekannten Notiz in 
den Historiae des Tacitus (IV cap. 15) an, die sich auf die Schilderhebung des 
Brinno bei den batavischen Canninefates bezieht (ad annum 60 p. Ch.). ade, 
daß Jedlicki nicht seinen Blick weiter in der Welt umherschweifen ließ. Rechts- 
institutionen sind heute nur bei Anwendung der vergleichenden Methode be- 
friedigend zu erklären. Und da hätten Notizen vie die über den Emir von 
Buchara die Aufmerksamkeit des Autors hinüber nach der asiatischen Völker- 
heimat lenken sollen, von woher den Indoeuropäern, und im speziellen den Ger- 
manen so viele Bestandteile ihrer urtümlichen Rechtsbrãuche gekommen sind. 
Des weiteren hätte er seinen Gegenstand auch als Schild erhebung betrachten 


38 — Jehrbüch, f. Kult. u. Gesch. d. Slav, Bd. VI H I u. I 1930 337 


sollen. Kurz: die Schilderhebung ist nur ein Sonderfall der Erhebung, also der 
durch die Hände der ,,Niedrigeren“ geschehenden Aktion, durch die ein alsdann 
„Höherer“ über die Häupter derer, die „vordem seinesgleichen waren“ erhoben 
wird. Das Symbol ist allgemein-menshlih. Wir erinnern an die aus der 
Kunstgeschichte allbekannte Tatsache, daß die Herrscher von primitiven Künstlern 
als größer abgebildet werden, denn ihre Untertanen. Das größere Abbild soll 
die metaphorisch größere Wesenheit des Herrschers darstellen. Im Leben wird 
nun auch der Herrscher „größer“ sein und da dies nicht anders geht, durch „Er- 
heben“ größer gemacht werden. Im Kulturkreis der Kmervölker, im chinesischen 
und in den mittelmeerischen Zivilisationen des Altertums haben wir nicht nur 
das „Erheben“ sondern auch das „Erhobensein“, das „Erhabensein“ als Attribut 
der in Sänften, auf dem Thron, auf dem Schild getragenen Herrscher. Inwieweit 
bei den Germanen diese Sitte indoeuropäisches Erbe ıst, vermögen wir nicht zu 
entscheiden. Daß sie dem ganzen Norden, wie ihn die neuere Forschung als 
rähistorische Einheit zusammenfaßt; daß sie Mongolen, Ugrotartaren gemeinsam 
ist, steht fest. Ob dieses Erheben nun mit Hilfe des Schildes also eines kriege- 
rischen Symbols geschieht, das gehört erst in zweite Linie. 


als symbolische, dem unmittelbar rechtsetzenden Akt nachfolgende Zeremonie, 
ungestraft durch eine andere Zeremonie verdrängt werden, zumal durch eine, 
die — vie die Inthronisation — dem unbe wußten Grundgedanken der Erhöhung 
entspricht. — Unter den Abhandlungen der Schüler Prof. Dabkowskis möchte ich 
zunächst die Beiträge verzeichnen, die m. E. keinen größeren Wert besitzen: 
Dicker; „Testament im polnischen Dorfrecht“ (eine mäßige Seminararbeit auf 
Grund der Ulanowskischen „Księgi wiejskie“), Marceli Hescheles’ „Besitz- 
einweisung nach dem dritten Litauischen Statut“ (fußt völlig auf Dabkowskis 
„Prawo prywatne“, Makarewiczs „Prawo karne“, Adamus „Zastaw“), Se I. 
Huberts „Rechtsstellung der Minderjährigen im Armenischen Statut von 1519", 
Adam Lomnickis „Symbol der grünen Rute im polnischen Dorfrecht“, 
Ignacy Nedzowskis „Musterungen der Hufmannen im Lichte der Reichs- 

üsse", Jakób Stachels „Mitgift als Institution des Erbrechts“. 
Der Druck dieser gutgemeinten Versuche erscheint mir keine zwingende Nort- 
wendigkeit. 

Eine Stufe höher stehen die Untersuchungen von Jan Adamus, der als 
Forscher seinen Namen hat, hier die rechtliche Natur der Ladung im mittelalter- 
lichen polnishen Recht erörtert, speziell der Wiederladung {a „prz ). 
Das Ergebnis: es bestehe zweifelsohne ein näherer Zusammenhang der 
Ladung und der durch sie bewirkten Haftung des Geladenen, ist sehr allgemein 
und bleibt hypothetisch in den Einzelheiten. Jan Gerlach schildert nach 
Akten im Archiwum Główne zu Warschau die Schicksale der auf Grund des 
Reichstagsbeschlusses vom 8. März 1578 ausgehobenen Rekruten, die am Zug n 
Pskov teilnahmen. Wir erfahren Genaues über die Organisation, den Kamptwert 
und die Verluste dieser Truppe. Die genauen Ziffern sind sehr lehrreich: 1867 
marschierten ins Feld. 119 fielen, 295 starben an Krankheiten oder Unfällen, 
18 wurden gefangen, 45 blieben verschollen, 897 desertierten und 968 kamen 
heim. So sah (und so sieht) die Kehrseite auch siegreicher Kriege im späten Licht 
der nüchternen Zahlen aus. Recht interessant und auf ec age Forschung 

ruhend ist, wie der Artikel Gerlachs die Skizze Jan Kamifskis über die 
Schreinerzunft in Lublin. Sowohl die wirtschaftliche als die juristische Seite des 
Problems werden vortrefflich dargestellt. In der rasch anwachsenden polnischen 
Literatur zur Geschichte der Handwerke nimmt dieser gutgeschriebene Vortrag 
einen achtenswerten Platz ein. Der Beitrag des Rechtshörer: Marjan Kar- 
pins ki über „Gerichte auf den reußischen Landtagen des 15. Jahrh.“ bezeigt 


338 


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viel historischen und kritisch-juridischen Sinn des jugendlichen Autors, dem ich 
nach dieser erstaunlich reifen Probe eine schöne wissenschaftlihe Zukunft zu 
rophezeien wage. Er hat den richtigen Blick fürs Wesentliche, keine falsche. 
Scheu vor den Autorités établies und die Fähigkeit, selbständige Meinung über- 
zeugend aus den Quellen zu belegen. 


Mit viel Beifall habe ich die fesselnde Skizze Karof Koränyis über 
die beiden im Jahre 1689 erschienenen Schriften, Daniel Wisners „Tractatus 
brevis de extramagis lamiis, veneficis“ und die „Czarownica powolana“, gelesen; 
zwei Büchlein, die sich als schüchterne Stimmen gegen die Ausschreitungen des 
Hexenwahns erhoben, ohne dessen Grundlagen zu 5 oder anzugreifen. 
Ich halte beide für Bearbeitungen fremder Originale, die ausfindig zu machen 
eine lohnende Aufgabe für einen Spezialforscher wire. Die Ausführungen 
Koränyis über die durch diese Broschüren bekundete freie Gesinnung des da- 
maligen Polen haben danach nur bedingten Wert. Wactaw Osuchowski 
geht den Spuren Homers in den Digesten nach: ein zweiter Rechtshörer, dessen 
Leistung den Meister lobt, der sie offenbar angeregt hatte. Prof. Rudolf 
Rauscher stellt die Bedeutung der Urteile des Ee im dechischen 
Privatrecht dar. Zbigniew Socha gibt einige Bemerkungen zur Synodal- 
5 in polnischen Diözesen zu Ende des Mittelalters. Sie erläutern 

uptsächlich die Sittengeschichte (Eheschließung). Eine methodisch gute Abhand- 
lung des Rechtshörers Zenon Wachlowski über den Souveränitätsbegriff in 
der polnischen politischen Literatur erfüllt ihren Zweck: zu zeigen, welche west- 
lichen Theorien über diesen Rech riff im damaligen Polen bekannt waren, 
soweit es sich um die wichtigsten politischen Autoren jener Zeit handelt. Zur 
Erschöpfung des Themas wäre freilich eine mühsame Durchforschung der Reichs- 
tagsverhandlungen und vor allem der Großakten nötig. 


Zusammenfassend dürfen wir die drei Festgaben an Dobrzycki, Handelsman 
und Dabkowski, wenn auch in einigem Abstand von den überreichen Bänden, 
die Balzer und Brückner gewidmet worden waren (vgl. diese Jb. NF. 8. ff.; 
4 ff.) mit aufrichtiger Freude begrüßen. In einer Zeit, die der wissenschaft- 
lichen Einzeluntersuchung nur wenig Raum vergönnt und den Abdruck besonders 
den Arbeiten von beginnenden Forschern erschwert, sind Sammelbände wie die 
vorliegenden, oft die einzige Zufluchtsstätte der jungen Historiker. 


Das müssen wir uns vor Augen halten und darum nicht zu streng darüber 
urteilen, daß die Festschriften für Handelsman und Dabkowski nicht ganz der 
Männer würdig sind, die es zu ehren galt; daß auch bei Dobrzyckis Ehrengabe 
sich manche besser gemeinte als ausgeführte Abhandlung eingestellt hat. Ander- 
seits durfte den Rezensenten die Rücksicht auf die drei hochverdienten Jubilare 
und auf die Absicht der sie ehrenden Beitrag-Spender nicht dazu verleiten, über 
offenbare Unzulänglichkeiten hinwegzugehen. Die Worte der Kritik mögen nicht 
den herzlichen Klang der Worte aufrichtigen Glückwunsches übertönen, die ich, 
etwas verspätet, doch nicht minder für viele Bereicherung dankbar, an Dobrzycki, 
1 Dabkowski, die in der Vollkraft ihres Wirkens stehenden Jubilare, 
richte. 


339 


IV 
BUCHERBESPRECHUNGEN 


Georg Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilder- 
streites. — Breslau 1929. Verlag M. H. Markus. 113 S. (Histo- 
rische Untersuchungen, herausg. von E. Kornemann und 
S. Kaehler, H. 6.) 


Die Erforschung des Bilderstreites bietet große Schwierigkeiten, weil sämt- 
liche bilderfeindliche Schriften verbrannt worden sind; wir haben allerdings in den 
bilderfeindlichen Denkmälern der orthodoxen Schriftsteller eine beträchtliche Zahl 
größerer und kleinerer Fragmente aus den bilderfeindlichen Schriften erhalten. 
Wenn eine Rekonstruktion der verlorenen Originale möglich wäre, so hätten wır 
damit die Grundlage für die objektive Darstellung des Bilderstreites gewonnen. 
In den Antirrhetici I und II des Patriarchen Nikephoros und seiner bisher 
unedierten Apologie liegt viel Material aus den bilderstürmenden Schriften. 

O. sucht zunächst die Schrift Kaiser Konstantins V. gegen die Verehrung der 
Bilder Christi aus den Schriften des Nikephoros zu rekonstruieren. Er zeigt, daß 
das erste ikonoklastische Konzil seinem Ideengehalt nach sich mit der Schrift des 
Kaisers deckt, im Wortlaute aber sehr stark abweicht. Die Leistung Konstantins 
bestand vor allem darin, daß er das Bilderproblem in den Rahmen der christo- 
logisch-dogmatischen Fragen stellte. Er weist ferner nach, daß der Kaiser auch 
den Marien- und Heiligenkult, nicht bloß die Verehrung ihrer Bilder ablehnte. 
Endlich gibt die konstantinische Schrift eine genaue Definition des Wortes eikon. 

O. gibt ferner aus dem unedierten Werke des Nikephoros die Bestimmungen 
des zweiten ikonoklastischen Konzils und behandelt die angeblichen Schriften des 
hl. Epiphanius gegen die Bilderverehrung. Karl Holl hat unter Zustimmung von 
Lietzmann und Koch die Echtheit dieser Schriften behauptet, O. erklärt ste für 
unecht. Schon Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur 3, 801 hatte 
übrigens die Schrift für unecht erklärt; dies scheint O. entgangen zu sein. Auch 
hätte er auf die Stellungnahme von Wilpert Hist. Jahrb. 1917, 582/5 und Neuß 
Theol. Rev. 1918, 157/62, welche die Frage vom kunsthistorischen Standpunkte 
erörtern, eingehen sollen. Bei der Frage nach der Echtheit spielen ja subjektive 
Beweisgründe oft eine große Rolle. Ich gebe zu, daß die Beweisführung 
gorskys sehr scharfsinnig ist; endgültig entschieden wird die Frage erst dann sein, 
wenn tatsächlich der Nachweis ne wird, daß in der älteren Bestreitung der 
Bilderverehrung die Christologie nicht behandelt worden ist. Das ist m. E. der 
Kernpunkt des Problems. Denn wenn schon Eusebius von Caesarea sich scharf 
gegen die Bilderverehrung ausgesprochen hat, so wäre an sich eine bilderfeindliche 
Stellungnahme des Epiphanius nicht unmöglich. Überhaupt wird es nötig sein, 
die Vorgeschichte der Bilderstreitigkeiten noch eingehender zu bearbeiten, che wir 
eine neue Darstellung des Bilderstreites durchführen können. 

Die Schrift O.s ist auch deshalb besonders verdienstlich, weil er die russische 
Literatur verwenden konnte; die stets sachliche Beurteilung und vornehme Behand- 
lung der Gegner verstärken den guten Eindruck. Das Problem der Bilderstreitig- 
keiten ist durch O. erheblich gefördert und seine Lösung um cin gutes Stück 


vorgeschoben worden. 
Breslau. Felix Haase. 


340 


Georg Sacke: W. L. Solowjews Geschichtsphilosophie. — Ein Beitrag 
zur Charakteristik der russischen Weltanschauung. — Berlin und 
Königsberg, Osteuropa-Verlag. 1929. 138 S. (Quellen und 
9 9 zur russischen Geschichte. Herausg. von K. Stählin. 
9. Bd.) 


Solov’ev und Dostoevskij haben in den Jahren nach der russischen Revolution 
die besondere Liebe und Bevorzugung des Abendlandes erhalten. Instinktiv er- 
kannte man wohl, daß diese das Wesen der russischen Weltanschauung in ganz 
besonderer Weise repräsentierten. Leider fehlt uns immer noch eine Monographie 
Solov’evs, welche diesen auch in Rußland nicht genügend gewürdigten Philosophen 
und seine nicht leicht verständliche Lehre dem Abendlande bekannt macht. Auch 
die geplante deutsche Ausgabe der Biographie d’Herbignys kann diesen Mangel 
nicht ersetzen. Es war deshalb eine dankbare Aufgabe, zunächst einmal die fast 
völlig vernachlässigte Geschichtsphilosophie S. zu untersuchen. Ich konnte in 
meinem Aufsatz: „Grundprobleme der russischen Geschichtsphilosophie“ (Ver- 
gangenheit und Gegenwart, 6. Ergänzungsheft) nur ganz kurz die Bedeutung S.s 
in dieser Hinsicht charakterisieren. 


S. gibt zunächst eine Einleitung: Geschichte als das Hauptproblem der russi- 
schen Philosophie, um den Begriff der Geschichte bei $. und seine Stellung zu den 
slavophilen und westlichen Vorgängern zu erläutern. Solov’ev gibt nirgends eine 
einheitliche Darstellung seiner Geschichtsphilosophie und es scheint, daß er sich auch 
niemals über die Begriffsbestimmung ganz klar geworden ist. Er spricht von 
einem kosmischen, theogonischen und historischen Prozeß, von denen jeder ein 
selbständiges Ganzes bildet; gleichzeitig gebraucht er den Ausdruck „historischer 
Weltprozeß“. Natur und Geschichte sind für ihn keine absoluten Gegensätze, 
sondern erklären sich gegenseitig. Die Geschichtsphilosophie ist auch mit der Natur- 
philosophie und Theologie aufs engste Serbunden. S. ist in erster Linie Moral- 
philosoph und sein Werk „Die Rechtfertigung des Guten“ ist auch sein Haupt- 
werk. Aber das geschichtsphilosophische Problem des Guten und seine historische 
Verwirklichung bildet in allen seinen Werken den ständigen Hintergrund. S. 
machte eine Entwicklung durch. In der ersten Periode, die man die abstrakt-philo- 
sophische nennen kann, ist er vorwiegend reiner Philosoph. Die zweite Periode 
läßt sich als die kirchlich-theologische, die dritte als apokalyptische bezeichnen. 
Diese drei Entwicklungsstufen kommen auch in seiner Geschichtsphilosophie zum 
Ausdruck. Bei dem jüngeren $. werden die Probleme Gott und Welt, Mensch und 
Menschheit im historischen Prozeß behandelt. Die Perioden der historischen Ent- 
wicklung hat eben die Geschichtsphilosophie aufzudecken. Er nimmt drei Ent- 
wicklungsstufen an, die durch die einzelnen Kulturkreise vertreten werden. Die 
dritte Stufe, welche den Ausweg aus der trostlosen Lage der Vergangenheit und 
Gegenwart bringen soll, muß ein neues Volk hervorbringen, das als Vermittler 
zwischen der göttlichen Offenbarung und der Menschheit auftritt. Dieses Volk 
wird das russische sein. In der zweiten Periode spielt der Begriff der Weltsecle eine 
große Rolle. Diese löst sich freiwillig von Gott und so entsteht die nicht- 
göttliche Welt, die Welt der Geschichte. Der Weltprozeß beginnt deshalb mit dem 
Sündenfall. Der neue Prozeß hat die Aufgabe, die verlorene Einheit wieder- 
zuge winnen. Der Mensch ist der Gipfel der organischen Entwicklung. Der histo- 
rische Prozeß ist ein Werdegang vom Tiermenschen zum Gottmenschen. Die ein- 
zelnen Völker werden durch das unmittelbare Eingreifen Gottes geleitet, und so 
wird der historische Prozeß eine Offenbarungsgeschichte. Als Wendepunkt in dem 
gottmenschlichen Prozeß erscheint die Persönlichkeit Christi, das ewige Zentrum 
der Veltgeschichte. Er findet seine Fortsetzung in der Kirche, die deshalb den 
Hauptinhalt der Geschichte der Menschheit nach Christus bildet. Der Osten und 
der Westen, die griechisch- und die römisch-katholische Kirche haben eine ver- 
schiedene Entwicklung durchgemacht. Die Verwirklichung der Theokratie kann 
nur durch die Wiedervereinigung der Kirchen kommen. 


In der dritten Entwicklungsperiode ist S. sehr pessimistisch geworden. Die 
alten europaischen Monarchien werden durch die Mongolenherrschaft gestürzt, im 
21. Jahrhundert stellt Europa einen Bund mehr oder weniger demokratischer 


341 


Vereinigter Staaten dar. In diesem letzten Jahrhundert der Geschichte erscheint 
der Antichrist. Er wird zum lebenslänglichen Präsidenten der europäischen Ver- 
einigten Staaten und zum römischen Kaiser gewählt. Er erobert die ze Erde 
und geht dann zu sozialen Reformen über. Weltende steht nahe bevor. Die 
Menschheit hat sich der Verkörperung des Bösen, dem Antichrist unterworfen 
und wird erst am Ende der ichte durch Christus erlöst werden. . 
Dies ist im Wesentlichen das Ergebnis der Untersuchung Sackes, die mit 
völliger Beherrschung der gesamten Literatur ae ist. Auch methodisch 
erscheint mir die Einteilung in die drei Entwicklungsperioden einwandsfrei. Die 
philosophische Abhängigkeit von den westeuropäischen Denkern ist richtig gesehen, 
allerdings scheint es mir, daß S. nicht genügend den Einfluß Platons hervorgehoben 
hat. Auch hat wohl S. nicht die nötige theologische Vorbildung, um die tief dog- 
matischen und spekulativen Grundlagen be: S. richtig erkennen und würdigen zu 
können. So hat er die Sophialehre, die immer noch nicht hinreichend geklärt ist, 
in ihrer Bedeutung für dıe ganze E nur gestreift. In Einzel- 
heiten finden sich geradezu schwere Fehler. behauptet er $ 7, daß bei Chom- 
paor auch nicht die leiseste Spur von Mystik zu finden ist, während in Wirklich- 
eit das Verhältnis von Glauben und Wissen, der Kirchenbegriff Chomjakovs nur 
durch mystisches Verstehen zu erklären ist. Caadaev ist durchaus nicht einseitig 
römisch-katholish (S. 122); er hat in seinen letzten Lebensjahren sich vielmehr 
ganz von Rom abgewendet. Schon seine „Apologie“ gibt cin ganz anderes Bild 
von seiner VVV Die Behauptung (S. 28), daß S. im Jahre 1896 
auch formell der katholischen Kirche beigetreten sei, ist nicht erwiesen. An offi- 
zieller Stelle ist nichts davon bekannt geworden und der beste katholische Kenner 
der neueren russischen Kirchengeschichte, A. Palmieri, wie auch ein Jesuit, der 
über S. sehr gut informiert war, haben dies in Abrede gestellt. Das Zeugnis des 
unierten Priesters, auf den sich d’Herbigny beruft, SE deshalb kaum ein- 
wandsfrei. Ganz unverständlich ist der Satz (S. 80): Dadurch, daß. er die Weihe 
von einem unierten Priester empfing.... Es gibt in der katholischen Kirche nur 
eine Weihe, die in Betracht kommen könnte, die Priesterweihe. Ich kann auch 
nicht zustimmen, daß es durchaus verfehlt sei (S. 81), die katholische Tendenz 
Solov’evs auf seine mütterliche polnische Abstammung zurückzuführen. Ich bin 
im Gegenteil davon überzeugt, daß seine Stellung zum Katholizismus und zu den 
Polen durch seine Mutter beeinflußt worden ist. Wenn S. die Geschichte von 
Konvertiten lesen und praktische Erfahrungen auf diesem Gebiete 5 
würde, wäre sein Urteil wohl anders geworden. Für unrichtig halte ich auch 
Ausdruck „von dem Zusammenbruch der Ideenwelt am Ende seines Lebens“, nicht 
einmal von Pessimismus wird man reden dürfen. Sacke hat selbst richtig die letzte 
Periode als die apokalyptische, prophetische bezeichnet; S. kann tatsächlich mit den 
alt jüdischen und altchristlichen Apokalyptikern verglichen werden. Die Pro- 
pes vom nahen Weltende und vom Kommen des Messias sind aber noch 
ein Pessimusmus. Abgesehen von diesen Einzelheiten kann die Arbeit Sackes als 
ein wesentlicher Fortschritt in der Solov’evforschung bezeichnet werden. 
Breslau. Felix Haase. 


Hildegard Schaeder: Moskau das dritte Rom. Studien zur Geschichte 
er politischen Theorien in der slavischen Welt. — Hamburg, 

Friederichsen, de Gruyters & Co. 1929. 140 S. 

Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß byzantinische Ideen nicht unmittel- 
bar von Konstantinopel aus nach Rußland gekommen sind, sondern auf dem Um- 
wege über Bulgarien und Serbien. Die alte russische Literatur Ka zahlreiche 
Beweise hierfür. Jetzt erhalten wir den interessanten Nachweis, auch poli- 
tische Ideen diesen Umweg gemacht haben. Johann I. von Bulgarien nannte sich 
rechtgläubiger Car und Selbstherrscher über alle Bulgaren und Romiäer, der Serbe 
Stephan Dulan nannte sich „Kaiser aller serbischen und griechischen Länder und 
der Küstenländer, Albaniens und des großen Abendlandes“. Beiden wird der Plan 
zugeschrieben, eine Balkanmonarchie mit der Residenz in Konstantinopel zu er- 
Sa Wir sehen also, daß schon vor dem Falle von Byzanz unter den slavischen 
Königen Ansprüche auf die politische Erbschaft auftreten. Parallel damit geht 


342 


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die Entwicklung der Lehre von der ewigen Stadt. Schon auf der Synode von 
Konstantinopel wird diese Stadt das Neue Rom genannt. Dieser Titel geht von 
den byzantinischen Chronisten in die bulgarische Literatur über: Asén Alexander, 
der Bulgarenfiirst ist der Car „unseres neuen Carigrad“. In Rußland erwachte 
das nationale Bewußtsein mit dem Ende des byzantinischen Staates und dem 
Unionskonzil von Florenz. Die russischen Erzählungen über diese Ereignisse 
gipfeln in der Tendenz: Das zweite Rom ist gefallen, weil es den rechten ortho- 
doxen Glauben verlassen hat. In Rußland lebt dieser wahre Glaube wieder auf, 
es gibt nur eine wahre orthodoxe Kirche auf Erden, die russische. Der Metro- 
polit Zosima (1491/94), erklärte Moskau als die neue Konstantinstadt. 


Um dieselbe Zeit beginnen die Moskauer Fürsten sich Caren zu nennen. 
Eine neue geistliche Literatur, besonders die Schule des Pafnutij von Borovsk, 
spricht klar den Gedanken aus, daß den russischen Caren das Reich von Gott ge- 
geben ist. Der Chronograph von 1513 spricht besonders scharf den Gedanken 
aus, daß nach dem Ende der christlichen Kaiserstadt Konstantinopel die Mission 
auf das neue Rußland übergegangen ist: „Unser russisches Land . . . wächst und 
ist jung und wird erhöht.“ Dieser Chronist hat als Vorlage die bulgarische Ober- 
setzung der Chronik des Konstantin Manasses benutzt. Philoteus von Pskov 
schreibt an Munechin: „Zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein 
en SE es nicht geben. Und dieses dritte Rom, das ist das Neue große 
Ruf land.“ 


Das älteste russische Krönungsstatut v. J. 1498 und eine Anzahl russischer 
Geschichtslegenden verfolgen nur den Zweck, zu erweisen, daß im dritten Rom, 
in Rußland, die Gnade des heiligen Geistes aufleuchtet.“ Die „Geschichte der 
weißen Mitra“ behauptet sogar, daß die Kaiserkrone in alten Zeiten dem russischen 
Kaiser aus der Kaiserstadt geschickt worden sei, auf Geheiß des Kaisers Kon- 
stantin. Alle göttliche Gnade wird, wie von Rom, auch von Konstantinopel ge- 
nommen und dem großen Rußland gegeben werden. Gott wird den russischen 
Caren erheben über viele Völker. Das Land wird das lichte Rußland heißen. 
Von da aus ist nur ein Schritt zu dem heiligen Rußland. Fürst Kurbskij spricht 
von dem heiligen russischen Land, dem heiligen russischen Imperium. Mit der 
Gründung des russischen Patriarchates werden auch die ehemaligen kirchlichen An- 
sprüche Konstantinopels auf Moskau übertragen. 


Als Verehrer, aber zugleich auch als Kritiker des dritten Roms tritt im 
17. Jahrhundert der Kroat Juraj Križanić auf. Trotz aller Schwärmerei für die 
Slaven und ihre Einheit verwirft er den Anspruch Rußlands, sich als das dritte 
Rom zu bezeichnen. Nach den Nikonschen Reformen lebten die Ideen von dem 
dem heiligen Rußland anvertrauten Pfunde nur noch im Kreise der Altgläubigen 
weiter, die Neuordnung der russischen Kirchenverwaltung und die Absetzung des 
Patriarchen durch Peter I. machten der geistlichen Macht ein Ende. Die Herrschaft 
des dritten Roms war dem kirchenfeindlichen Militärstaat gewichen. Nur noch ein- 
mal erscheint die Lehre von Moskau aus dem dritten Rom bei K. Leont’ev 
(1881/91). (Das ist nicht richtig, vgl. VI. Solov’ev.) 

Auch wenn man berücksichtigt, daß die Lehre von Moskau als dem dritten 
Rom schon von mehreren russischen Gelehrten bearbeitet worden ist, wird man 
anerkennen müssen, daß es sich hier um eine wertvolle, reife Gelehrtenarbeit 
handelt. Sch. ist allen auftauchenden Fragen mit größter Gewissenhaftigkeit nach- 
gegangen; die ausführliche Wiedergabe der russischen Erzählungen über das 
Konzil von Florenz und die Darstellung des Lebens und des Wirkens KriZaniés 
ehören str enommen nicht zum Thema. Die Beurteilung erscheint mir fast 
dev ich wohl begründet und einwandfrei. Nur in einigen Punkten bin 
ich anderer Meinung. Den Bericht des Syropulos über die Bestechung des Markos 
Eugenikos hält S. für . „obwohl sie selbst zugibt, daß S. stark parteiisch 
war. S. 40 hält sie die Nachricht, daß Rußland schon früher vom Papste die 
Königskrone erbeten habe, für eine Fiktion. Vielleicht bezieht sich aber der Be- 
richt auf die Vorte des Legaten des Papstes Innocenz III. an den Großfürsten 
Roman: „Der Papst, der die Fürsten von Bulgarien, Armenien und Böhmen zu 
Königen erhoben hat, kann und vird auch dich mit der Königskrone schmücken.“ 
Zu Herberstein wäre zu bemerken, daß er in geschichtlichen Dingen nicht zuver- 


343 


eg ist. Auch Herders Beurteilung der Slaven hätte cine kritische Stellungnahme 
estordert. 


Sch. besitzt eine ganz außerordentliche Belesenheit. Wenn ich auch nicht be- 
zweifle, daß sie die in dem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis an- 
ührten Bücher und Aufsätze sämtlich gelesen hat, so möchte ich doch meine Be- 
egen eine solche umfangreiche Angabe der Literatur nicht unterdrücken. Es 
werden hier Bücher genannt, die mit dem Thema in gar keiner oder nur sehr 
loser Beziehung stehen. Ich möchte nur nennen Burckhardt, Die Kultur der Re- 
naissance in Italien, Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation, Döllinger, Der 
Weissagungsglaube... Duhr, Geschichte der deutschen Jesuiten... Gierke, Das 
deutsche Genossenschaftsrecht, und viele andere. Um so auffallender ist das Fehlen 
der Werke von Strahl, Hergenröther, Palmieri, Michel u. a. Die von diesen ver- 
faßten Werke über Byzanz und Rußland bringen zwar nichts Neues zu dem von 
$. behandelten Thema, stehen aber doch in engerem Zusammenhang zu diesem 
als viele der von S. angeführten Bücher. Auch die Angabe von Literaturgeschichten 
wäre eher angebracht gewesen. Selbstverständlich können diese „Schönheitsfehler“ 
die verdienstliche Arbeit Schaeders in keiner Weise beeinträchtigen. 
Ob übrigens das Lexikonformat der „Osteuropäischen Studien“ bei den Lesern 
Beifall finden wird, möchte ich bezweifeln. 
Breslau. Felix Haase. 


Prof. Dr. J. Miréuk: Tolstoj und Skovoroda, zwei nationale 
Typen. (Eine geistesgeschichtliche Parallele.) Sonderabdruck 
aus „Abhandlungen des Ukrainischen Wissenschaftlichen Insti- 


tutes. Berlin, II. Bd., 1929, S. 24—51. 

„Ohne die Größe und den Vert der beiden Individualitäten in künstlerischer 
und philosophischer Hinsicht abzuschätzen und zu vergleichen, ohne die Positionen 
der beiden Denker einer Kritik zu unterziehen“, — will sich der Verfasser ledig- 
lich darauf beschränken, „die vermeintliche äußerliche Ahnlichkeit und die innere 
Verschiedenheit der psychischen Struktur der beiden Typen darzustellen“ (S. 51). 
Mit Benutzung einer ziemlich großen Literatur, — unter welcher wir aber die sehr 
lehrreichen kritischen Bemerkungen A. Potebnias über Tolstoj (Voprosy teoriji i 
psichologiji tvordestva V. S. 268 ff.) nicht finden, — kommt der vert. zu folgenden 
Ergebnissen: „ Tolstoj und Skovoroda sind beide Wahrheitssucher. Der russische 
Philosoph ist radikaler Idealist, Revolutionär, beinahe Nihilist, dabei subjektiv, 
einseitig orthodox und intolerant, Skovoroda konservativ, real denkend, mit 
offenem Blick für Geschichte und Tradition, dabei allumfassend, nicht engherzig, 
Gegner jedweden Aberglaubens. Bei der Umsetzung der Theorie in die Praxis ist 
der ukrainische Denker unübertroffen, während Tolstoj sich auf Kompromisse 
einlassen muß. — Die Philosophie des Fatalismus, der Determinismus des Willens 
und infolgedessen der Pessimismus, das sind die Hauptzüge in dem geistigen 
Antlitz des großen Russen, die Erlangung des persönlichen Glückes durch den aus- 
gesprochenen Voluntarismus und daher die Lebensfreudigkeit charakterisieren das 
Denken des Ukrainers Skovoroda. — Der eine, eine Grüblernatur par excellence, 
ein ewiger Zweifler, der andere das Bild der göttlichen Ruhe und Ausgeglichen- 
heit“ (S. 50). Auf dem Gebiete der Moralphilosophie wird auch der große Gegen- 
satz zwischen dem russischen und dem ukrainischen Denker festgestellt. „Die Ethik 
Tolstojs basiert auf Religion‘ und führt zu einem utopistischen Altruismus, welcher 
die Rechte und das Glück des Individuums vernachlässigt und nur das einzige Ziel, 
das „Reich Gottes auf Erden“ vor Augen hat. „Skovorodas persönliches Glück, 
seine enge Beziehung zu antiken Mustern, besonders zu Epikur, die erkenntnis- 
theoretische Begründung seiner Ethik unabhängig von der Religion, stehen in 
krassem Gegensatz zur ultraradikalen Lehre Tolstojs. . . Die Pädagogik des 
russischen Reformators zeichnet sich durch denselben Radikalismus ind dieselbe 
Weltfremdheit aus, obzwar sie im Grunde genommen einen gesunden Kern hat. 
Die Erziehungslehre des ukrainischen Philosophen ist entsprechend seiner ganzen 
Geistesrichtung auf dem Boden der Wirklichkeit aufgebaut. — Das Verhältnis zur 
Wissenschaft im allgemeinen und zum westeuropäischen Denken im besonderen ist 
bei beiden Philosophen grundverschieden“ (S. 51). 


344 


Bei aller Klarheit der Darlegung ist cs noch nicht ganz erwiesen, daß alle diese 
Verschiedenheiten und Gegensätze in den Ansichten der beiden Denker als typisch 
für beide hier in Betracht kommenden Nationen angeschen werden müssen. 
Einige Zitate aus den Werken der russischen Verfasser, Jie als Zeugnisse für den 
„national-russischen Charakter der ganzen Persönlichkeit Tolstojs“ (S. 25) ange- 
führt werden, verlieren ihre Beweiskraft, wenn man sich nur daran erinnert, 
daß das Wort „russisch“ bei den russischen Autoren in ganz anderem Sinne ge- 
braucht wird, und daß von ihnen auch die Ukrainer als „Russen“ bezeichnet 
werden. — Dasselbe gilt auch von A. Brückner. 


Das Ganze gibt uns eine klare Obersicht der Grundgedanken beider Philo- 
sophen und zwar in einer Zusammenstellung, welche ihre Kritik und die noch 
nicht durchgeführte Wertschätzung fördern kann. Die Literatur über Tolstoj 
und Skovoroda hat durch diese synthetische Arbeit eine sehr wünschenswerte Er- 
ganzung erhalten. K. Ce di o vy. 


Joseph Strzygowski: Die Altslavische Kunst. Ein Versuch 
ihres Nachweises. Augsburg 1929. Verlag Dr. Benno Filser. 
296 Seiten. 


Das vorliegende Buch besteht aus einer Reihe von Aufsätzen des Autors, die 
teilweise bereits erschienen sind und hier eine erweiterte Bearbeitung erfahren 


Den Kern der Untersuchung bildet der Versuch, ein selbständiges Kunst- 
schaffen bei den Kroaten nachzuweisen, woran sich Betrachtungen über ein selb- 
ständiges Kunstschaffen bei den Ost- und Westslaven und über die Vermittler- 
rolle von Nord- und Osteuropa in diesem Prozeß anschließen. l 

Gegen die humanistische Auffassung der historischen Schulen tritt S. gleich 
in der Einleitung mit aller Entschiedenheit auf. S. lehnt vor allem die Be- 
deutung der Mittelmeerkunst für die Entstehung der von ihm neu entdeckten 
slavishen Kunst ab. Weder Rom noch Byzanz ist für die Formung der Kunst 
bei den Süd-, West- und Ostslaven von irgendeiner Bedeutung gewesen — sondern 
der slavishe Boden hat unabhängig von diesen universalen Mächten seine eigene 
urwüchsige Kunst besessen. 

Dem Nachweis einer selbständigen, also in erster Linie vorbyzantinischen 
und vorromanischen slavischen Kunst ist dieses Werk gewidmet, das als eine Art 
von programmatischer Kampfschrift gegen alle bisherigen Forschungsresultate der 
historish wertenden Kunstgeschichte aufzufassen ist. 

Der Nachweis wird vor allem auf zwei Gebieten geführt: auf dem der 
Architektur und der Ornamentik. Zu den Hauptproblemen gehören: 1. der 
Holzbau und die Entstehung der Kuppel auf einem quadratischen Grundriß, 
2. der Rundbau, 3. die Dekoration, vor allem das Bandgeflecht. 

Wir können hier nur einige Hauptbeispiele heranziehen und sie auf ihre 
Haltbarkeit hin prüfen, da sih um diese Hauptprobleme alles dreht und von 
ihrer Beweisbarkeit das Schicksal der hier neu entdeckten slavischen Kunst ab- 
hängig ist. 

1. Das Problem der Holzkirchenbaukunst bei den 
Slaven. 


Der Holzbau im Blockverband ist für die Ostslaven charakteristisch, wobei 
ein quadratischer Grundriß mit oder ohne Mittelstützen, auf dem eine Kuppel 
rubt, hier am a e auftritt. In ihm erblickt S. nicht den Einfluß der 
byzantinischen Kuppelkirche, sondern den Ausgangspunkt bildet hier der alt- 
slavische heidnische Holztempel resp. auch der nordische Holzbau, der in Nor- 
wegen in den Stabwerkkirchen vertreten ist. Nach der Auffassung von S. geht 
dieser Holzbau, dessen Oberreste wir in den ukrainischen Kirchen des 17. bis 
18. Jahrhunderts vorfinden, auf den altslavischen Holztempel, den Schuchhard 
neulich in Arcona ausgegraben hat, zurück. Auch das Quadrat mit Mittelstützen, 
das in Armenien und den Mittelmeergebieten (Bagaran, Rusapha, Mysmyeh) auf- 
tritt, geht auf den Holzbau zurück, der sich sowohl in Nordeuropa als auch im 
Iran (Feuertempel) nachweisen läßt. 


845 


Nun betrachten wir den Ausgangspunkt dieser altslawischen Baukunst, den 
Tempel in Arcona. Weder die Nen noch die Beschreibung bei Sexo 
Grammaticus geben uns eine Vorstellung vom Aufbau des Tempels. ir wissen 
nur, wie der Grundriß beschaffen war: ein Quadrat mit vier Innenstützen. 
Ke e stellt jedoch Schuchhard selbst fest. Der Tempel ist erst nach der 
ischen Eroberung vom Jahre 1186 errichtet worden (vgl. K. Schuchhard: 
Arcona, Rethra, Vineta, Berlin 1926, S. 20: „Die Dänen hatten ja schon 1136 
unter Erik Arcona zerstört und die Eroberung im Jahre 1168 traf also auf einen 
ziemlich neuen Tempel.“). Wir haben es folglich mit einem Bau zu tun, der im 
12. Jahrhundert entstanden ist, und aus dem wir also unmöglich Bauten mit 
Innenstützen und einer Kuppel, die im 6. Jahrhundert im Mittelmeerkreis auf- 
treten und dann in die byzantinische Kunst übergegangen sind (Bauten mit Innen- 
stützen begegnen wir in der römischen Kunst z. B. in Trier, dann in Zeich- 
nungen bei Bramantino), erklären können. $. merkt selbst nicht, wie er sich in 
Widersprüche verwickelt und seine Hypothesen selbst zu Fall brin Auf diese 
Weise muß dieses Beispiel, das in der Beweisführung von S. die Rolle eines Kron- 
zeugen übernimmt, gänzlich ausscheiden und der altslavische Tempel darf nicht 
als Ahne der osteuropäischen Holzkirchen des 17. bis 18. Jahrhunderts aufgefaßt 
werden. Eine jede weitere Beweisführung erübrigt sich hier. Zugleich fällt auch 
die Hypothese von irgendeiner Beeinflussung der kroatischen Steinarchitektur durch 
die norwegischen Stabkirchen. Auch hier sind die Beispiele unglücklich gewählt. 
Eine norwegische Zwölfmastenkirche in Borgund wird mit der Anlage in Gradina 
bei Salona Wei ers Abgesehen von allen historischen Widersprüchen, wie kann 
ein Bau, der früher entstanden ist (Gradina) durch Bauten, die später entstanden 
sind (Borgund) beeinflußt worden sein? Und übrigens ist Gradina ein Adhteck 
ın der Säulendisposition mit antikem Charakter, während Borgund überhaupt 
keine zentrale, sondern eine ausgesprochene Langhauskirche darstellt. Für den 
Einfluß des Nordens auf die dalmatinischen (kroatischen) Kreuzkirchen, z. B. die 
Kirchen in Nona (hl. Kreuz- und Nikolauskirche), sollen finnische Kreuzkuppel- 
kirchen sprechen (vgl. S. 188). Der Wunsch, die Priorität einer nordischen Holz- 
baukunst gegenüber der mittelmeerländischen Stein- und Ziegelbaukunst fest- 
zustellen, ist bei S. so groß, daß er alle Beweise außer acht läßt, um auch die 
zeitliche Priorität dieser Holzbauten im Norden festzustellen. Er zeigt nur Bei- 
spiele aus dem 17. und 18. Jahrhundert aus Finnland z. B., und sucht aus einer 
bloßen, ganz unbewiesenen Voraussetzung, daß eine Holzbaukunst in Nord- 
curopa bereits in heidnischer Zeit bestanden hat, aus dieser die dalmatinischen 
Bauten des 8. und 9. Jahrhunderts genetisch zu erklären. Daß sich diese Form 
der kreuzförmigen Anlagen in Dalmatien an die mittelmeerländishe Kunst 
(römische Grabdenkmäler [vgl. Bramantino: Le rovine di Roma, Taf. XXXII], 
altchristliche und byzantinische Bauten [Galla Placidia]), organisch anschließt und 
die letzte ihre historische und chronologische Voraussetzung bildet — übersieht S. 
ganz, wahrscheinlich, weil es das nächstliegendste ist. Dieselbe zwangsmäßige Vor- 
stellung beherrscht seine Ableitung der dalmatinischen Rundbauten mit 
(Spalato Dreifaltigkeitskirche, Baptisterium und S. Orsola in Zara) von Holz- 
kirchen oder von Bauten, die viel später im Norden entstanden sind. Als Be- 
weise gelten wiederum Bauten, die um 500 oder 800 Jahre später im Norden ent- 
standen sind, z. B. die Achteckkirche in Treppeln (Brandenburg) 1670 oder die 
gotische Kirche in Ludorf in Mecklenburg 1846. Auch diese Kirchen sollen auf 
altslavische Uberlieferungen zurückgehen, obwohl jede Beweisführung ebenso wie 
bei der Marienkirche auf dem Harlungerberge in Brandenburg (die einen aus- 
gesprochen romanischen Übergangsbau bildet) fehlt. Daß die dalmatinischen 
Bauten durch chronologisch erst nach ihnen entstandene Bauten nicht erklärt 
werden können, ist klar, ebenso wie es klar sein muß, daß die zeitlich älteren und 
formal ihnen ähnlichen römischen und altchristlichen Bauten ihre Vorbilder sind, 
wie z. B. die an die Minerva Medica sich anschließenden Rundbauten, die wir 
aus späteren Zeichnungen kennen, wie z. B. das römische Hypogeum bei Serlio 
Opere di architettura nach Rivoira Le Origini del architettura Lombarda Bd. I 
Fig. 114 oder das Sepolcro dei Calventii im Cod. Vat. 8480 bei Rivoira Archit. 
Romana S. 229. 


346 


— — — — 


H . bi AN SR e N HHNE Ro Boa HA 


eB A K. A DR A A Wu r SB 


Dasselbe gilt auch von den lechischen frühromanischen Bauten, die S. von 
der ,,altslavischen“ Quadratform ableitet. Wir haben bereits die Unhaltbarkeit der 
Hypothese von dem quadratischen Ursprung einer altslavischen zeitlich vor- 
romanischen Tempelform erwiesen (Arcona 12. Jahrh.). Es kommt aber noch 
dazu, daß die ischen Bauten weder vier Stützen noch eine Kuppel besitzen. 
Und vor allem sind sie längsgerichtete axiale, durch eine Apsis und ein Dach 
betonte Langhauskirchen (Typus II—V nach Lehner) und besitzen ausgesprochene 
romanische Formen. Man kann auch nicht die Form des Grundrisses, wie 
sie im romanischen Bau aus Vinoves auftritt, mit der Holzbaukirche von Velké 
Karlovice aus dem 17. Jahrhundert in Zusammenhang bringen, weil das wiederum 
ein circulus vitiosus wäre wie bei den oben erwähnten Beispielen. Es steht nicht 
fest, daß sich diese Form in der Holzarchitektur der vorromanischen Zeit erhalten 
und daß die Kirche in Velké Karlovice diese alte Form bewahrt hat. Vielmehr 
muß bei der letzten mit einem starken Einfluß der Steinarchitektur gerechnet werden. 
Nichts kann uns darüber besser belehren als die Scheidung in Holzkirchen mit 
basilikalen Tendenzen (Vesteuropa) und Holzkirchen mit zentralen Kuppelanlagen 
(Osteuropa). Hier hat sich die Langhauskirche, dort die Kuppelarchitektur stärker 
durchgesetzt, obwohl wir in der Barockzeit auch im Vesten zentralen Stein- und 
Holzkirchenanlagen begegnen, weil auch die monumentale barocke Stein- 
architektur sich zentralen Bauaufgaben zugewendet hat. (Ausführlich behandelt 
diese Fragen V. Birnbaum, „Novy nazor na potatky kfest’anske česke architek- 
tury“, Niederlüv Sbornik 1925, und V. Zaloziecky, „Gotische und barocke Holz- 
kirchen in den Karpathenländern, Vien 1926.) 


Auch in der Donatuskirche in Zara erblickt S. eine altslavische Bauart; er 
sieht darin eine Form, die im nordischen Vehrturm vorgebildet war und sich 
auf altslavische Traditionen zurückführen läßt. Aber auch hier fehlen die Voraus- 
setzungen für eine solche Annahme sowohl in zeitlicher als auch in baukünst- 
lerischer Beziehung. S. übersieht wiederum die zeitliche Priorität der Mittel- 
meergebiete, welche die Form eines Rundbaus mit Umgang in folgerichtig ver- 
laufender Entwicklung hervorgebracht haben. Die Anlage in Zara kann am 
ehesten von San Vitale in Ravenna und ihr verwandten Anlagen abgeleitet 
werden. Dafür sprechen ähnliche Baumotive wie z. B. der Umgang, die 
Emporen, die vorspringenden Apsiden, der quergestellte Nartex und die Mauer- 
gliederung durch Blendarkaden. Der Unterschied zu San Vitale besteht in der 
viel massiveren, gedrungeneren Formensprache, die bereits auf neuere romanische 
Tendenzen schließen läßt. Da wir Bauten wie San Vitale in Ravenna vor ihrer 
Entstehung in Nordeuropa nicht vorfinden, kann eine andere Ableitung von 
S. Donato nicht in Erwägung gezogen werden. 


Auch die Trichternischen, die S. an der hl. Kreuzkirche in Nona konstatiert, 
gehören seiner Auffassung nach zur nationalen Eigenart der kroatischen Archi- 
tektur. Daß dies nicht der Fall sein kann, beweisen die Beispiele der römischen 
und altchristlichen Kirchen (San Giovanni in Fonte in Neapel, San Vitale in 
Ravenna, Sta Fosca in Torcello usw.); sie finden auch im Osten Verbreitung, 
von der altchristlichen Architektur gehen sie in die romanische über (vgl. San 
Ambroggio, San Lorenzo in Mailand und viele andere). 


Und zum Schluß noch über das Völben. S. behauptet, die Kroaten hätten 
200 Jahre früher als die Langobarden gewölbt. Beweise für diese Behauptung 
werden nicht gebracht, weil sie auch nicht erbracht werden können. Vor allem 
müßte aber statt des ziemlich fluktuierenden völkischen Begriffes Kroaten und 
Langobarden der Begriff: Lombardei und Dalmatien belassen werden, weil die be- 
harrenden (stationär- historischen) Kräfte, um mit den von S. geprägten Begriffen, 
die sich aber in diesem Fall gegen ihn selbst wenden, zu operieren, hier primär 
einge wirkt haben müssen. Beide Provinzen gehören auf das engste zum römi- 
schen (west- und 6:trömisch- byzantinischen) Kreis. Es kann nur die Frage ge- 
stellt werden, welcher Kreis sich im frühen Mittelalter enger an das spätantıke 
Erbe angeschlossen hat. Daß es die Lombardei war, wird wohl kaum jemand be- 
zweifeln. Von diesem Standpunkt betrachtet müssen die Probleme der lombar- 
dischen Wölbungskunst entwicklungsgeschichtlich wichtiger sein als die peri- 
pherischer gelegenen dalmatinischen. Und noch ein allgemeinen Trugschluß. Zur 


23 NF 6 347 


Bekräftigung der slavishen Herkunft der dalmatinischen Architektur werden 
nordische (skandinavische) Beipiele 5 Die Kroaten kamen nach 8. 
aus diesem Norden und brachten diese Formen nach dem Süden. Aber warum 
werden Bauten nordgermanischer Völker zur Stützung einer davischen Hypothese 
der kroatischen Baukunst he en? Es ist eine Sackgasse voller Wider- 
sprüche, in die sich $. scheinbar Ët begibt. 


Ein Beispiel: ornamentierte Platten mit slavischen Fürstennamen (latei- 
nische Inschriften) werden als slavisches Kunstgut bezeichnet. So z. B. der so- 
E Pozzo des Viteslav. Ahnlich ornamentierte Pozzos besitzen wir in 
Oberitalien aus dem 8, bis 9. Jahrhundert (vgl. Ongania Raccolta delle Vere da 
Pozzo in Venezia). Der Stil, der uns hier entgegentritt, ist der enannte 
langobardische, der die Erbschaft der Spätantike und des altchristlichen Stils an- 
getreten hat: als Hauptmotiv finden wir das Flechtband und eine Reihe von 
christlichen symbolischen Motiven (Tiere, Kreuze, Lebensbäume, Palmetten usw.). 
Die Kunstabsicht ist auf die Fläche eingestellt, die bis zum Sieg der romanischen 
Kunst hier vorherrschend ist als Kontinuierung der letzten Phase der spätantiken 
Kunst (vor allem Ravenna ist hier von Bedeutung als eine der letzten Etappen 
dieser Stilentwicklung). Dieser ornamentale Stil, der in Dalmatien später als in 
Oberitalien auftritt, wird von S. ebenfalls als altslavisches Kunstgut bezeichnet, 
wobei als Voraussetzung die Ornamentik des Osebergschiffes in erster Linie in 
Frage käme. S. setzt sich mit dieser Behauptung wiederum über alle zeitlichen 
Voraussetzungen hinweg. Die Ornamentik Grebe rgschiffes fällt ins 9. Jahr- 
hundert. Venn wir eine Beeinfl der altkroatischen Ornamentik durch die 
des Osebergschiffes annehmen, so muß sich diese Beeinflussung ipso facto auch 
auf die ganze enannte langobardische Ornamentik erstrecken, dieselbe cine 
stilistisch ganz homogene Gruppe mit der altkroatischen bildet. Diese Be- 
einflussung setzt also voraus, daß die altkroatische und die langobardische Orna- 
mentik später entstanden ist als die des Osebergschiffes. Ein viel früheres, be- 
reits im 7. Jahrhundert nachweisbares Auftreten der sogenannten langobardischen 
Ornamentik beweist eindeutig die Unmöglichkeit ihrer Ableitung von der 
nordischen Ornamentik des Osebergschiffes. Dazu kommen noch zwei Faktoren, 
welche gegen einen Einfluß der skandinavischen Ornamentik auf die altkroatische 
sprechen: 1. der Nachweis, daß die sogenannte langobardische Ornamentik aus dem 
spätantiken Ornamentschatz stammt, 2. eine verschiedene Art der Verwendung 
von ornamentalen Motiven im Süden (Mittelmeerkreis) und im Norden. 

Bandgeflecht, das zu den charakteristischen Merkmalen der sogenannten 
langobardischen Ornamentik gehört, finden vir in allen hier auftretenden Kombi- 
nationen bereits in der römischen und spätrömischen Kunst. Das Motiv der 
Schlinge begegnet 2. B. in den römischen Mosaiken des, Theodorichpalastes in 
Ravenna. Geflechtsornamente (Zweiriemengeflecht) ebenfalls in römischen 
Mosaiken (Aquileia, Silchester, Gladiatorenmosaik in Rom, in afrikanischen 
Mosaiken usw.). Gesäumte Vierecknetze, ein sehr beliebtes langobardisches Motiv 
(vgl. Spalato Cancelli) sind in den Chorschranken von San Vitale in Ravenna 
vorgebildet. Netzornamente kommen an ravenatischen Kapitellen vor, vgl. San 
Vitale in Ravenna, auch im Osten (Kasr Ibn Wardan, Ägypten usw.). Diese 
Beispiele genügen, um eine motivische eg An: der sogenannten langobardi- 
schen SI der aus ihr hervorgegangenen dalmatinischen Ornamentik von der 
spätantiken zu beweisen. Aber vor allem müssen wir feststellen, daß in der 
Ornamentik des Osebergschiffes Motive vorkommen (es sind allerdings konstitutive 
Hauptmotive), die wir ganz umsonst sowohl in der altkroatischen als auch in der 
langobardischen Ornamentik suchen würden. Es sind dies Tiere, welche in die 
Kreisgeflechte zoomorph einbezogen werden und somit die ganze Ornamentik mit 
organischem Leben erfüllen. Die Tiere besitzen meist einen phantastischen 
Charakter (vgl. Wagenkasten und Schmuck des Schiffes). Diese phantastisch- 
verschlungene, asymmetrische irrational-organisch geführte Ornamentik des Ose- 
bergschiffes bilder einen Gegensatz zu der formal durchdachten, trocken natura- 


348 


AnnE Re FEF 


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"2 D RBS eg ANN J. Hr RW A RR "e BOK 


listischen, Motiv und Tier isolierenden Ornamentik des altkroatischen und laago- 
bardischen Dekors. Eine Beeinflussung von Norden her muß aus diesem Grunde 
auch entschieden abgelehnt werden. S. meint, die Kroaten wären aus dem Norden 
ausgewandert, bevor das nordische Ornament sih zum Tierornament entwickelt 
hätte. Welche Beweise werden angeführt? Eben keine — es ist bloß eine Flucht 
ins Unbekannte, mit der für die Wissenschaft nichts gewonnen wird. 

Ebenso kann der Versuch von S. als unbewiesen gelten, die skandinavische 
Tierornamentik aus Sibirien und China abzuleiten. Das Rolltier der Petersburger 
Eremitage und zahlreiche andere sibirische Funde beweisen, daß derartige nature- 
listische Tierdarstellungen, wie sie hier auftreten, die phantastisch zoomorphen 
Motive der nordgermanischen Ornamentik nicht zu beeinflussen imstande waren. 


Der Versuch des Nachweises einer altslavischen Kunst mit Methoden, die S. 
in dem vorliegenden Buch anwendet, muß als gescheitert betrachtet werden. 
Kein einziger Beweis ist haltbar, alles zerrinnt in Nichts, wenn man die Fragen, 
die er anregt, näher prüft. 

Man hat das Empfinden, daß S. sich von gewissen modernen völkisch- 
nationalen Vorstellungen nicht befreien kann und dieselben in die Vergangen- 
heit projeziert. Es ist ein Stück längst überwundener Romantik, die uns da ent- 
gegentritt, einer Romantik, die zu schön ist, um wahr zu sein. 

Berlin. V. Zaloziecky. 


Dr. Panov, Petur: Die altslavische Volks- und Kirchenmusik. 
— Wildpark - Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athe- 
naion (1930). 31 S. II Taf. 4°. (= Handbuch der Musikwissen- 
schaft, herausgegeben von Dr. Ernst Bücken. Lieferung 38.) 


Nachdem das Guido Adlersche Handbuch der Musikgeschichte, das erst kürz- 
lih in 2. Aufl. erschien, einen in der 2. Aufl. vermehrten Abschnitt über die 
russ. Kirchenmusik aus der bewährten Feder O. v. Riesemanns gebracht hat, 
widmet das Bückensche Werk der altslavischen Volks- und Kirchenmusik eine 
ganze Lieferung. Dieses Bestreben, in deutschen enzyklopädischen Werken das 
slawische Leben zu berücksichtigen, ist mit der größten Freude zu SEN zu- 
mal da die Kenner dieses Gebietes in Deutschland noch recht spärlich vertreten 
sind, und wir müssen Herausgeber und Verleger dankbar sein, daß sie für die 
Bearbeitung dieses Themas in ihrem Werk Sorge getragen haben. Besonders auch 
die kostspieligen Beilagen und reichen Notenbeispiele sind des Dankes wert. Die 
beigefügte Tafel I mic der großen „Zastavka“ und der Überschrift in „V ja?: 
Knigaglagolemaja Irmosy in den schönen bunten Originalfarben der 
Hs. ist wohl überhaupt die erste derartige Reproduktion in einem deutschen 
Werke. Die deutsche wissenschaftliche Literatur ist recht arm an Werken über 
das hier behandelte Gebiet, und die slavischen Werke sind in Deutschland so 
schwer zugänglich, daß man jeden Beitrag hierüber freudig begrüßen muß. Um 
so schmerzlicher ist es mir, daß ich die Darstellung Panovs in vielen Punkten nicht 
als gelungen bezeichnen kann, und man wird seiner fleißigen Arbeit da gerade 
diese schwierigen Arbeitsverhältnisse in Deutschland zu gute halten müssen. 

Jeder Vortragende muß sich allemal zuerst darüber klar werden, wo und 
vor wem er spricht, denn das entscheidet im wesentlichen über das Wie und das 
Was seiner Darbietung; und man wird Herrn Dr. Panov den Vorwurf nicht er- 
sparen können, daß er diese Überlegung nicht angestellt hat. Es war seine Auf- 
gabe, in allgemeinverständlicher Form auf gediegener wissenschaftlicher Basis eine 
Darstellung der „altslavischen Volks- und Kirchenmusik“ zu geben, die ihre 
wesentlichsten Merkmale womöglich mit Beispielen charakterisierte, ihre Ge- 
schichte kurz entwickelte, über den Stand der Forschung zusammenfassend be- 
richtete, in allen Dingen den Weg zu eingehenderer Orientierung wiese und die 
große wis senschaftliche Literatur sowie bibliographische Hilfsmittel aufführte. Was 
aber bietet Panov? Zwei Untersuchungen, die in einer musikwissen- 
schaftlichen Zeitschrift am Platze gewesen wären und von denen die erste hätte 
betitelt werden müssen: „Die Volksmusik der Bulgaren, Serben und Russen, an 
phonographischen Aufnahmen des Staatlichen Phonogramm-Archivs in Berlin er- 


349 


läutert“, die zweite: „Theorie und Praxis der russischen Krjuki-Notation.“ Was 
darüber hinaus in Einleitungen geboten wird, sind meist ganz unzulängliche und 
dazu noch oft genug unklare und unrichtig formulierte Allgemeinheiten. 

Der Verf. beschränkt sich in seiner ersten Abhandlung auf die Volksmusik 
der Bulgaren, Russen und Serben. Er begründet dieses Verfahren gleih zu An- 
fang mit folgenden Worten: „Die Hauptvertreter der altslavischen Volks- und 
Kirchenmusik im Sinne einer stilistischen Einheit sind die Bulgaren, Russen und 
die Serben. Während die anderen südslavischen (!) Stämme, Kroaten, Slovenen, 
Böhmen (!) usw. mehr oder minder eine westliche Orientierung erfahren haben, 
standen diese jahrhundertelang abseits des Flusses westlicher Zivilisation, genug, 
um die Möglichkeit einer eigenartigen Kulturentwicklung zu schaffen. Andererseits 
wirkte die einheitliche Religion, Schrift und Sprache (!) als ein mächtiges Binde- 
glied, als Hüter und Träger der altslavischen Geisteskultur. . . .“ Um es kurz 
zu sagen: der orthodoxe Osten hat nach Panov allein den Anspruch, seine Volks- 
weisen „altslavisch“ zu nennen, während der Westen unter den Einfluß der curo- 
päischen Zivilisation geriet und daher nach Ansicht des Verfassers hier nicht be- 
rücksichtigt zu werden braucht. Einer solchen Auffassung des Begriffes „alt- 
slavish“ vermag ich nicht beizustimmen. Will man nämlich darunter das Gut an 
Volksweisen verstehen, das den Slaven eigentümlich war, als sie noch eine völkisch 
wenig differenzierte Einheit bildeten, so wird der orthodoxe Osten bei den 
starken, fremden Einflüssen von Byzanz und dem Orient kaum slavischer sein 
als der Westen mit seinen europäischen Einflüssen. Panov selbst zählt ja 
(Zeitschrift für Musik wissenschaft X, S. 166) eine Fülle fremder Einflüsse auf die 
Volksmusik der „Ostslaven“ (d. i. Bulgaren und Russen) auf, so daß es ihm 
„überhaupt fast unmöglich erscheint, nachzuweisen, wie die altslavische Musik 
beschaffen war“ (ebenda). Er betont ferner selbst den engen Zusammenhang 
dieser Volksmusik mit der Kirchenmusik, und gerade die Kirchenmusik hat nach 
den letzten Forschungen Preobratenskijs (in „De Musica“ II 1926) wesenclich 
mehr von Byzanz übernommen, als man früher geglaubt hat. Venn der Verf. 
meint, die kultischen Gesänge der Sonnenwendfeiern usw. hätten sich trotz des 
Widerstandes der Kirche aus heidnischer Zeit erhalten, so gibt es doch zunächst mal 
derartige Gesänge auch bei den Westslaven, und so müßte man ferner erwarten, 
daß Panov hier gerade viel Wert auf die Behandlung dieser Gesänge legen 
würde. Aber gerade einen Gesang zur Sonnenwendfeier hat er nicht behandelt, 
und ob die hier untersuchten Hochzeits- und Liebeslieder usw. eben zu jenen aus 
heidnischer Zeit erhaltenen Weisen gehören, ist doch wohl zweifelhaft. Kurz, die 
Umgrenzung des Gebietes ist recht unglücklich ausgefallen. 

In dieser ersten Abhandlung werden nun weiter die Skalen der bulgarischen, 
serbischen und russischen Volksmusik behandelt und an Hand von 38 Beispielen 
nach Berliner Phonogrammen erläutert. Die dabei gemachten musikwissenschaft- 
lichen Bemerkungen verdienen auch an sich meist vollste Beachtung und nur 
weniges erscheint willkürlich oder schief. So bietet Panov in Beispiel 7 ein 
„Familienlied“: 


J. 1% Mm 


und bemerkt: 


Dazu wird als Leiter aufgestellt: 


350 


Ch Ge 
Wie. , 


EsAN 


nah a L 
© A Pf 


8. 4 


E 


: N re 
GE 


Rea Se vd oes! 


12 1 


„Wenn man bedenkt, daß die Töne f und h hier eigentlich Durchgangscharakter 
haben und deshalb nicht ins Gewicht fallen, so ist das Ergebnis eine hal bt on 
os-fiinfstufige Leiter, deren Tonmaterial aus den typischen Quint- 


Quartschritten e—a, d—a; d—g, c—g besteht: —..” 


Offenbar meint Panov, f und h hätten Durchgangscharakter in der Skala. Aber 
hier kommt es doch darauf an, ob sie Durchgangscharakter im Liede haben, das 
aber ist nicht der Fall; in cl jedenfalls liegt h sowohl auf dem guten Taktteil im 
Anfang des Motivs als auch auf dem Schluf, ja, der Verf. selbst bezeichnet (S. 5 
oben) die Großterz h—g als gewichtiger. So ist m. E. hier die halbtonlose Penta- 
tonik eine recht willkürliche Konstruktion. 


Von den gebotenen Beispielen ist leider ein Teil nicht mit Text versehen, wie 
überhaupt den Texten wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Schwer enttäuscht 
jedoch wird man, was die Hinweise auf Hilfsmittel zur weiteren Vertief des 
Studiums anlangt. Innerhalb der Darstellung wird Literatur gar nicht angeführt, 
und in der Literaturübersicht zur Volksmusik finden wir nur — mirabile dictu — 
4 Zeitschriftenaufsitze des Verfassers! — die übrigens auch nur sehr wenige 
Litersturangaben enthalten. Das ist recht befremdlich. Ist denn wirklich die ge- 
samte Arbeitsleistung der Romantik aus der Mitte des ve enen Jahrhurderts, 
als etwa die Sammlungen und Arbeiten eines Kirtevskij, eines Sejn, eines Vuk usw. 
usw. und das auf ihnen aufgebaute neuere Standardwerk eines Sobolevskij über 
die Texte des großrussischen Volksliedes, die Arbeit der Evgenija Lineva über die 
Melodien und so vieles andere diesen 4 Aufsätzen Panovs gegenüber so ganz 
bedeucungslos? 


Erwas besser ist es der Literatur über den russischen „ angen. 
Jedoch fehlen hier leider auch wichtigste Werke. Metallovs Azbuka d E 
ije, Smolenskijs meisterhafte Ausgabe der Azbuka des Mezenec, die Grundlage 

r jede wissenschaftliche Arbeit über das Krjuki-System, Preobra‘enskijs Kul’tovaja 
muzyka v Rossii von 1924, Metallovs Oterk ist. pravosl. cerk. płnija hätten z. B. 
doch wohl genannt werden müssen. In diesem zweiten Abschnitt seiner Dar- 
t sih Panov auf den Znamennyj Rospév. Wenn man 

diese Einschränkung vielleicht auch nicht von jedem Gesichtspunkt aus gutheißen 
kann, so wird man sie doch hinnehmen müssen. Nach einigen kurzen einleitenden 
Worten über das Krjuki-System in seiner Entwicklung bis zum Auftreten der 
5 - Liniennotation, gibt P. eine kurze Darstellung der tonalen Beschaffenheit des 
osmoglasie“, die im allgem. mit der Tradition in Einklang steht. Darauf folgt auf 
6 Seiten eine Wi der Krjuki-Notationskunde auf Grund von Smolenskijs 
„O drevnerusskich pévéeskich notacijach“ und von Razumovskijs Einleitung in den 
„Krug cerkovnago drevnjago znamennago pénija“ und seines „Cerkovnoe Be v 
Rossii“ mit Abdruck einiger Übertragungstabellen von ebendaher. Es folgt auf 
weiteren 6 Seiten ein Vergleich von einzelnen Gesängen nach den Krjuki des 
„Krug“ mit entsprechenden Berliner Phonogrammen, % Seite „Melodie und Form 
der Kirchengesinge“ und 5 Seiten Musterbeispiele einer Übertragung von Gesängen 
Krug unter Berücksichtigung der Phonogramme. Hierzu ist zunächst zu 
bemerken, daß, wie schon gesagt, dieser Teil ganz einfach als Untersuchung in 
Gestalt eines Zeitschriftenaufsatzes dem größten Interesse begegnen müßte. Als 
Darstellung des Znamennyj Rospév enttäuscht er aufs ärgste. Die ganze 
Notationskunde konnte auf die charakteristischen Merkmale des Systems be- 
schränkt und mit einem Hinweis auf das hier ja leicht erhältlihe und vortreff- 
liche Buh O. v. Riesemanns erledigt werden, und die Auseinandersetzung über 
Theorie und Praxis der Krjuki-Übertragung war ganz wesentlich kürzer zu be- 
handeln, zumal da sie, wie wir noch sehen werden, absolut anfechtbar ist. Da- 
gegen vermißt man aufs empfindlichste ein Eingehen auf die Übernahme des 
Kirchengesanges durch die Russen von Byzanz, wozu ganz wesentliches Material 
erst vor 4 Jahren der voriges Jahr verstorbene Antonin Viktoroviè Preobraženskij 
geliefert hat (De musica II). Man vermißt weiter einige Worte über die 


351 


» 


Kondakariennotation über die äußere Geschichte des Znamennyj Rospěv, über die 
Quellen für seine Kenntnis, über die Hirurgische Seite dieses Gesanges, über de 


ype 
Entwicklung gespielt hat, über Chomonie, i oe pknie, und partesnoe 
p@nie, in musiktheoretischer Hinsicht über das säuberlich von Voznesenskij ge- 
sammelte und analysierte Motivmaterial und seine Bedeutung für die Modalsedc, 
die schon seit sehr langer Zeit weit über den tonalen Aufbau der Skalen 
dominiert u. a. m. 

Mit ein paar Worten aber muß ich auf Panovs Untersuchung über Theorie 
und Praxis der Tonschrift eingehen. Diese Auseinandersetzung fußt auf folgender 
Methode: Verf. überträgt nach Razumovskij und nach Smolenskij den Oster- 
tropar: „Voskresenie christovo“ in 5-Liniennotation und setzt in gleicher Notation 
darüber das Phonogramm (Berliner Staatl. Phon. Archiv Nr. 22) und zieht 
aus dem Vergleich dieser beiden Notierungen Schlüsse. So folgert er aus Ab- 
weichungen, daß der Sänger oft unter gewissen Umständen die Krjuki-Notation 
anders sänge als die Theorie der Übertragung verlangt. Dagegen ist von vorn- 
herein einzuwenden, daß doch die Aufnahme des Phonogramms nur dann in 
diesem Sinne mit einer niedergeschriebenen Notierung verglichen werden kann, 
wenn diese Nonereng eben auch den Sängern bei der phonographischen Aufnahme 
vorgelegen hat. aber diese Sänger gerade nach der Notierung des Kru 
gesungen haben, ist durchaus unwahrscheinlich, da die Altgläubigen meist 
nach Handschriften singen. Nun weisen diese Handschriften untereinander 
viele Abweichungen auf, je nachdem welcher Tradition der sehr vielfältig ge- 
spaltenen Altgläubigen sie folgen. So fußt der Se: der vicina noch 
immer auf der Gestalt der Gesänge mit Chomononie aus dem XVII. Jahrh., während 
die übrigen die Reformen des Mezenec angenommen haben, die auch im Krug 
mit berücksichtigt worden sind. Und so ist denn dieser ganze Vergleich metho- 
disch unzulässig, wenn man aus ihm Schlüsse über die tatsächliche Auflösung der 
Notation ziehen will. Hier war nur möglich entweder ein verpa des 
gramms mit der Fassung der Vorlage, nach der die Sänger bei der phonogr. 
Aufnahme sangen, oder aber ein Vergleich der Notierung „Krug mit einer 
Aufnahme einer Aufführung des Gesanges nach dem „Krug“. Die bei der Methode 
Panóv’s gs ee Unterschiede können ja doch zum Teil auf Notierungs- 
differenzen des „Krug“ und der Vorlage des Phonogramms beruhen. Und so Bt 
auch Verf. hier manchen Irrtümern nicht entgangen. Zunächst konstatiert er 
Abweichungen hinsichtlich der Tondauer und des freien Rhythmus bei den Zeichen 
„skamejca“ und „čaška“. Daß hier die moderne Tonschrift schwer eine ganz 

enaue Wiedergabe der russischen Kirchengesänge ermöglicht, wissen wir ja 

nge, und alle Notationskunden betonen ja prinzipiell, daß die in ihnen - 
gebenen Übertragungen nur eine ungefähre Gültigkeit beanspruchen können. 
Gedanke Panöv’s aber, daß die Verlegung des Schwerpunktes auf eines der beiden 
Viertel sowohl bei der skamejca als auch bei der ča ška von der Tonalicät 
und von der Stärke der Betonung der Silbe abhängig sei, ist sehr interessant, nur 
müßte er an einem etwas umfangreicheren Material mit einwandfreier Methode 
nachgewiesen werden. Wenn Verf. aber fortfährt: „Noch schwieriger ist die 
positive Tonlage dieser Zeichen zu erraten, wenn die Buchstaben Schajdärows 
oder die Merkstriche Mesenez fehlen“ und in diesem Zusammenhang auf die 
Zeichenfolge ,,krjuk, Catka, skamicjca, stat’ja zakrytaja malaja, stat“ ja prostaje” 


lr D #TZın? in Zeile II und HI und VI seines Beispiels eingeht, 


so ist dazu zu bemerken, daß er hier die in dieser Zeichenfolge vorliegende 
„Popèvka“ nicht erkannt hat. Diese heißt ,mereZa polnaja“ und hat hier 


folgende Auflösung: (vgl. Metaltov: 
Azbuka krjukovago pénija. Moskva 1999. S. 81—64). Die Übertragung, = 


Panov „laut Theorie“ dafür gibt, ist nicht richtig (vgl. Mezenec: Azbuka S. 
und 102, sowie die Beispiele in den strok i), also kann auch sein Vergleich dieser 


352 


„Theorie“ mit der Praxis nicht das Richtige treffen. Interessant wäre es dagegen 
ewesen zu untersuchen, warum beim zweiten Sema dieser poptvka aa’ alles 

Ben im Phonogramm d—e gesungen wird anstatt wie sonst c—e. Sollte in 
den Krjuki der Singer de MereZa polnaja so zmijceju gestanden 


A 
haben: ( Tanne ? In der Strophe V weist auch der Krug diese 


Variante der „mereža“ auf (über dem Text vsemu mir u) und daß die Hand- 
schriften in solchen Fällen oft variieren, ist je hinlänglich bekannt. Eine mir vor- 
liegende Chomoniehandschrift des 17. Jahrh. notiert an dieser Stelle z. B. mit 
Čaška und skamejca, anstatt mit z mi jca. — Noch irreführender sind die 
Bemerkungen auf S. 28.zur Zmijca. Die erste der Tonfolgen der „Praxis“ 


E ist auch der „Theorie“ sehr wohl bekannt (vgl. Mezenec: Azbuka 


S. 88 und Metallov: Azbuka S. 20), und die ganze Note in Strophe IV 


ist wohl sicher in der Vorlage der Sänger keine zmijca, sondern eine 
prostaja str&la gewesen. Ohne die Kenntnis der Vorlage, läßt sich ben 
über die „Praxis“ der Sänger in der deere der ihnen vorliegenden Zeichen 
kein Urteil fällen. Ja selbst, wenn uns die Notation der Vorlage bekannt wire, 
könnten wir nur die Praxis eben gerade dieser Singer charakterisieren, nicht aber 
die Praxis schlechthin, denn hier gibt es viele Unterschiede, ganz besonders bei 
den Popovcy und den Bezpopovcy. Ganz ähnlich ist es mit den folgenden Be- 
merkungen zu dem Stück „voskresenie tvoe“. Die hier vorliegenden Unterschiede 
dürften bestimmt auf die Verschiedenheit der Vorlagen zurückgehen; auch die 
vorhin genannte Hs. des 17. Jahrhunderts notiert hier abweichend: 


be Le „url rb : Stopica s očkom, golublik borzyj, krjuk, 


stopica (viermal hintereinander) — vielleicht noch „einförmiger“. 
Warum die Zeichen m mì krjuk und palka „von Natur aus tonlich und 


rhythmisch veränderlich“ sein sollen, bleibtein Geheimnis des Verfassers. — Es 
ist leicht verständlich, daß die Berücksichti gung solcher „Ergebnisse der Unter- 
suchung über die Funktion der Zeichen und über die Beziehungen zwischen 
Phonogramm und“ — wie hinzugefügt werden muß: einer gar nicht dazu- 
gebörigen „Notation“ in den am Schluß folgenden „Musterbeispielen“ manche 
Willkürlichkeiten zeitigen. 

Ganz abgesehen von diesen methodischen Fehlern wimmelt es in dem ganzen 
Abschnitt von allerhand Schönheitsfehlern: Eine „Synodalkirche“ hat die alten 
Gesänge nicht herausgegeben, sondern der Svjat&j3ij Synod, die oberste 
Kirchenbehörde Rußlands, Es geht kaum an, die Staroobrjadcy als 
„Landbevölkerung“ zu bezeichnen. Die Originalität der ischen Kird 
gesänge wird S. 14 stark überschätzt, woran natürlich die romantisch-patriotische 
Einstellung Razumovskij’s und Smolenskij’s hauptsächlich die Schuld trägt. 
Preobraženskij hat hier engste Beziehungen zu Byzanz aufgewiesen, die noch 
nicht ausgebeutet sind. — Die Stilisierung der „Krj ki“ ist ganz verunglückt. 
Panov hätte den Duktus des „Krug“ oder aber Metallovs (bzw. Riesemanns) 
wählen, oder sich den Hss. anschließen sollen; das gilt besonders von den 
strély und der zmijca. Befremdlich ist die Art und Weise, wie die Ge- 
sänge des „Krug“ zitiert werden. Beim Ostertropar: „Voskresenie christovo“ 
heißt es: „Krjukı Notation — Band II, S. 110 Modus 7.“ Diese Seitenzählung 
hat Panov sich selbst zurechtgelegt; im „Krug“ ist, wie in Hss., eine Blattzählung 
mit durchlaufenden kirchenslavischen Zahlen-Buchstaben durchgeführt, die hätte 


T’ 
benutzt werden sollen. Der fragliche Gesang steht auf Blatt 167r ( f 23) 
353 


Wenn dem Verf. eine ganze Reibe stilistischer Entgleisungen unterlaufen ist, 
so ist das natürlich bei einem Ausländer nicht verwunderlich. Doch manchmal 
ist infolge eines gewissen Strebens nach blumiger Ausdrucksweise und eines 
Mangels an Logik der Zusammenhang nicht ohne weiteres zu erraten. Hier ver- 
mißt man mitu iter die Einwirkung des Hrsg. 

Im ganzen also muß leider gesagt werden, daß diese Lieferung des Bücken- 
schen Handbuches der Musikwissenschaft den Leser kaum befriedigen dürfte. 

Breslau. E. Koschmieder. 


Jachimecki, Zdzislaw: Muzyka polska. Cz. 1: Epoka Piastöw 
i Jagiellonów. — (Warszawa: Trzaska, Ewert i Michalski) 
[um 1929]. 27 S. 4° [Kopft.]. (Polska, jej dzieje i kultura. 
Zesz 23. 24.) 

Im Doppelheft 28/24 bringt das verdienstvolle enzyklopädische Werk „Polska, 
jej dzieje i kultura“ den ersten Teil einer vorzüglich geschriebenen Darstellung 
der Musikgeschichte Polens aus der berufenen Feder des bekannten Vertreters 
der Musikwissenschaft a. d. Univ. Krakau, Zdzislaw Jachimecki. Diese vortreff- 
liche Zusammenfassung der ältesten polnischen Musikgeschichte in der Piasten- 
und Jagiellonen-Epoche, mit ihrer feinsinnigen Analyse einer ganzen Reihe musi- 
kalischer Denkmäler aus der Frühzeit polnischer Kultur, die auf der breiten Basis 
einer umfassenden Kenntnis der gesamten europäischen Musik und ihrer Probleme 
die polnische Musik in den Zusammenhang der gesamten Entwicklung einordnet, 
sollte in musikalisch interessierten Kreisen größte Beachtung finden. Bei aller durch 
den Charakter des ganzen Werkes bedingten Kürze gewährt sie mit ihren zahl- 
reichen Notenbeispielen und vortrefflichen Reproduktionen aus Tabulaturen usw. 
auch dem Unkundigen durch gewissenhaft gearbeitete Literaturnachweise in zweck- 
mäßiger Auswahl die Möglichkeit leichten Eindringens in dieses Gebiet und weiterer 
Vertiefung der Studien. 

Nach einer Beleuchtung der ältesten Denkmäler liturgisch-religöser Tonkunst 
wird da auf die Tätigkeit und das Schaffen des Mikolaj z Radomia mit seinem noch 
ungefügen Kontrapunkt eingegangen, in dem noch Sekundenparallelen und ähn- 
liche Dinge auftreten, wie wir sie aus der zeitgenössischen Musik von Josquin des 
Près bis Palestrina gewöhnt sind. An Beispielen gibt Jachimecki u. a. einige Takte 
aus einer monodischen Komposition zu dem panegyrischen Text auf die Geburt 
Kazimierz’s, des 2. Sohnes Jagiellos (16. 5. 1426) „Hymnographi aciem mentis 
lustratae faciem...“ mit einer zweistimmigen Instrumentalbegleitung, ein inter- 
essantes längeres Stück aus einer dreistimmigen Instrumentalkomposition, ein Stück 
aus einem Credo, einem Gloria u. a. Weiter geht Jachimecki auf die leider 
nur trümmerhaft erhaltenen Reste polnischer Musik aus der 2. Hälfte des 15. Jahr- 
hunderts und auf Heinrich Fincks Krakauer Tätigkeit ein, um nach kurzer Wiirdi- 
gung der theoretischen und praktischen Betätigung des Sebastjan 2 Felsztyna in 
der 1. Hälfte des 16. Jahrh. mehr Raum den noch vor 30 Jahren unbekannten 
Kompositionen des begabten Mikolaj z Krakowa zu widmen, die uns in 2 Tabu- 
Jaturen aus der 1. Hälfte des 16. Jahrh. erhalten sind. Neben Motetten werden 
hier auch Tänze in den Beispielen geboten, — die ältesten der polnischen Musik, 
die uns bekannt sind. Auch des Mikolaj 2 Chrzanowa und des Georg Liban aus 
Liegnitz aus dieser Zeit wird gedacht. Nach einem kurzen Seitenblick auf die 
Kapela Rorantystöw und die Königl. Hofkapelle in Krakau folgt eine Würdigung 
des imposanten Schaffens des Wacław z Szamotuł (1529—1572), und ein treffliches 
Literaturverzeichnis bildet den Beschluß dieses ersten Teiles. 


Ohne auf die vielen Einzelheiten dieser interessanten Darstellung weiter 
einzugehen, möchte ich hier nur mit einigen Zeilen der musikwissenschaftlichen 
Analyse der „Bogurodzica“ gedenken, die Jachimecki hier vornimmt. Schon lange 
hat ja dieses Lied, als eines der ältesten Denkmäler der polnischen Sprache, die 
Aufmerksamkeit der Philologen und Musikwissenschaftler auf sich gezogen. Jagić 
Nehring, Pilat, Brückner u. viele andere haben es vom philologischen, Chybinski, 
Polinski und zuletzt Swierczek (1928) vom musikalischen Standpunkt bearbeitet, 
und Los’ hat in seinem Werk „Poczatki pismiennictwa polskiego“ 1922, den Stand 


354 


der Forschung zusammenfassend mit höchst beachtenswerten eigenen Bemerkungen 
di lit A 848 ff.). Als älteste Teile dieses aus vielen Strophen bestehenden 
ee schon längst die beiden Strophen „Bogurodzica dziewica ...“ und 
„Twego dziela krzciciela . . .“ angesehen. Während viele Philologen der Ansicht sind, 
daß diese beiden ältesten Strophen einem Autor angehören, vertritt Jachimecki den 
Standpunkt, daß die uns erhaltene Melodie beider Strophen unmöglich von einem 
Komponisten stammen könne. Und in der Tat wirken die ästhetischen, Gründe, 
die er anführt, so überzeugend, daß man sich seinem Urteil wird anschließen müssen. 
Die älteste uns überkommene Abschrift des Liedes in der Hs. Nr. 1619 (v. J. 1407) 
der Krakauer Jag. Bibliothek dürfte in ihrer melismatisch reicheren Form der 
Melodie wohl kaum auch die älteste musikalische Gestalt darstellen. Die Melodie 
war vielmehr, wie Jachimecki annimmt, ursprünglich syllabisch — so wie sie die 
späteren Hss. aus dem 15., 17. u. 18. Jahrh. geben. In dieser Form, so meint J, 
weist die erste Strophe eine meisterhafte Beherrschung der Prinzipien des Gregori- 
anischen Chorals durch den Komponisten auf, die sich in der symmetrischen An- 
ordnung der Motive, in dem geschmackvollen Wechsel der Kadenzen (Finalis, 
Dominante, Mediante) hinsichtlich der Eigenarten des Textes ausspricht. Der 
Gesamteindruck dieser ersten Strophe ist auch tatsächlich ein vollkommener. In 
der zweiten Strophe dagegen sei ein mechanisches Decken des an sich schon im 
Versmaß viel unebeneren Textes durch Motive aus der ersten Strophe, und z. T. 
durch neue musikalische Gedanken zu konstatieren, deren Komposition gar sehr 
von der Symmetrie der ersten Strophe absteche. Der Abstand sei so groß, daß 
die Musik beider Strophen unmöglich von ein und demselben Komponisten 
stammen könne. Los’, der a. a. O. den Versbau des Liedes eingehend untersucht, 
kommt nun, (S. 369) zu dem Schluß, daß die beiden Strophen bei der über- 
r nden Gemeinsamkeit so vieler Züge in der Verstechnik sicher von einem 
Autor und aus einer Zeit stammen. Man müßte ja sonst, so meint Los’, an- 
nehmen, daß in jener Zeit zwei Meister gelebt hätten, die iM Stande gewesen 
wären, für die damalige Zeit so kunstvolle Lieder zu bauen, und weiter, daß man 
es hier eben mit zwei voneinander unabhängigen Liedern zu tun habe. Gewiß 
wohnt diesen Folgerungen eine er innere Unwahrscheinlichkeit inne, aber 
einen Beweis geben sie m. E. d nicht ab. Man wird abwägen müssen. ob die 
musikalisch-asthetische Analyse oder die philologische Keane Gründe bei- 
zubringen hat. Dabei wird man freilich auch immerhin die Möglichkeit in Betracht 
ziehen müssen, daß mit der Frage der Autorschaft ja nicht notwendig die der 
Komposition identisch ist. Auf jeden Fall wird der Philologe bei der Beurteilung 
dieser Frage künftig nicht übersehen dürfen, daß die Musikwissenschaft schwer- 
wiegende Gründe geltend macht, den zweiten Teil einem anderen Komponisten 
zuzuschreiben als den ersten und so haben ja auch viele Philologen, u. a. Jagić, 
die Ansicht vertreten, der Text der 2. Strophe sei später entstanden, als der der 
ersten. Man wird aber über ein non liquet wohl nicht recht hinauskommen. 
Vielleicht spricht die Sievers’sche Schallanalyse hier mal das letzte Wort. — Auf 
Grund der Gleichheit im Strophenbau und in der Melodie sieht Jachimecki als 
nächsten Teil der Bogurodzica im Verfolg ihres weiteren Anwachsens durch spätere 
Zutaten die 4 Strophen an: 1. Dla nas wstal zmartwych; 2. Przydat nam zdrowia; 
8. Jene trudy cierpiał; 4. Adamie, ty boży kmieciu. Während der älteste und 
dieser zweite Teil noch ganz und gar als von der liturgischen Musik der katho- 
lischen Kirche abhängig erscheinen, ist im dritten Teil bereits deutlich der Einfluß 
der Volksmusik zu spüren, und im 4. Teil (Tam radość, tam miłość...) haben 
wir eine reine Volksmelodie vor uns; ja beschleunigt man das Tempo entsprechend, 
so erkennt man nach Jachimecki leicht ihren ee Tanzcharakter. Wenn 
das auch auf den ersten Blick befremdlich erscheint, so weiß Jachimecki jedoch 
solche Bedenken mit einem Hinweis auf das Auftreten von Tanzmelodien und 
Tanzrhythmen in religiösen Gesängen primitiver Völker zu zerstreuen, nachdem 
er eben dieselben charakteristischen Züge eines Volkstanzes auch in der Melodie 
des „Zoltarz Jezusow des Ladystaw 2 Gielniowa aufgewiesen hat (S. 6/7). Ich 
möchte mir jedoch hier den zweifelnden Einwand gestatten, daß die Fassung „Tam 
radość, tam miłość...“ doch der Überlieferung nach eine jüngere ist als die uns 
geläufige: „Była radość, była miłość...“. Diese Rhythmisierung könnte ganz gut 
jüngeren Datums sein. Auf jeden Fall zeigt aber die ganze Analyse J.s, wieder 


355 


deutlich, daß die Bearbeitung aller solcher alten Denkmäler lediglich vom philo- 
logischen Standpunkt aus einseitig ist und daß die sachliche, hier in diesem Falle 
die musikalische, Seite stets weitgehender Berücksichtigung bedarf. 

Breslau. Dr. E. Koschmieder. 


Sembritzki, Emil: Slawen-Spuren auf deutschen Huren. Er- 
klärung slawisch - deutscher und litauisch - deutscher Orts- und 
Flurnamen, mit besonderer Berücksichtigung Berlins und seiner 
Umgebung. — Deutung slawisch- und litauisch- deutscher 
Familiennamen. — Berlin- Charlottenburg (ohne Jahr), Walter 
Göritz. 48 S. 

Verf. gibt nach einer kurzen Vorbemerkung seine Deutung von zirka 1500 
ala vischen und litauischen Orts- und Flurnamen, wobei gelegentlich historische 
Daten hinzugefügt werden. S. 44 erfolgt eine sehr spärliche Zusammenstellun 
deutscher Lehnwörter aus dem Slavischen, wobei nicht streng zwischen Lehn- and 
Fremdwörtern geschieden wird; ebenda, ganz unbegründet, ein litauisches Volks- 
lied und ein von ihm verfaßtes recht geschmackloses Gedicht, das gleichfalls nichts 
mit dem Thema zu tun hat, und schließlich als Anhang die Erklärung von zirka 
800 slavischen und litauischen Familiennamen. 

Wer glaubt, daß die Ortsnamenforschung, früher das Tummelfeld vieler 
Dilettanten, von dieser Art von „Forschern“ befreit sei, wird hier eines anderen 
belehrt. Obwohl Verf. anscheinend Kenntnis des Polnischen und Litauischen be- 
sitzt, mangelt ihm doch das für die Behandlung dieser Aufgabe nötige wissen- 
schaftliche Rüstzeug. Bei Überprüfung der esischen Ortsnamen ergibt sich, 
daß er, wie es die Wissenschaft doch verlangen muß, weder urkundliche Belege 
herangezogen noch die darüber vorhandene Literatur benutzt hat. Die von ihm 
beigefügten slavischen Namen sind meist willkürlich angenommen und urkund- 
lich falsch. Daher muß er, einige wenige ausgenommen, von vornherein zu 
falschen Deutungen kommen. Verwunderlich ist auch, um nur einiges uszu- 
greifen, die Erklärung von „Iser als „Eisfluß“ (kelt. Isara — die Schnelle), oder 
wenn er „Königshütte“ als „Krola Huta“, als slavischen Ortsnamen, annimmt. 

Bei allen, auch den nichtschlesischen, Ortsnamen begeht Verf. den Fehler, 
daß er die Suffixe überhaupt nicht beachtet. Stutzig macht ferner, daß er fast alle 
Ortsnamen aus Appellativen erklärt. Eine Nachprüfung der urkundlichen Belege 
hätte ihm sicher gezeigt, daß, wie überall, so auch hier, zirka 60% aller Ortsnamen 
auf Personennamen zurückgehen (trotz G. Boerner, Deutsche Geschichtsblätter, 
XVI, 219 ff. XVII, 251 ff.). Daher kommt er, um nur eini ispi 
herauszugreifen, zu so unsinnigen Erklärungen wie „Lietzegöricke“ = „zähle dic 
Berge“, „Ostrometzko“ = „scharfes Schwertlein“, „Zielasken“ von „zelasko“ 
= „Plätteisen“ () usw. Dem Verf. ist es zum Verhängnis geworden, daß er sich 
die Grenzen seiner Arbeit zu weit gesteckt hat. Der besonnene Ortsnamen- 
forscher wird immer nur ein kleines Gebiet genau beherrschen können, das er 
persönlich, nach urkundlichem Material und lokaler Beschaffenheit, kennt. 

Breslau. Dr. K. Eistert. 


A. V. Florovskij. Sostav zakonodatel’noj kommissii 1767—74 
gg. — Zapiski Imperatorskago Novorossijskago Universiteta 
istoriko - filologiceskago fakul’teta. Vypusk X. Odessa 1915. 
609 Seiten. 

In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts tritt in der historischen 
Beurteilung der Gesetzgebenden Kommission Katharinas II. issermaßen 
eine Wendung ein. Die in dieser Zeit begonnenen und bis zum Jahre 1915 
fortgesetzten Veröffentlichungen der Russischen Historischen Gese 
haben der Wissenschaft einen außerordentlich reichen Schatz an historischen 
Quellen zugänglich gemacht. Vor diesen Veröffentlihungen benutzte man für die 
Beurteilung der Kommission vor allen Dingen die „Zapiski“ von Bibikov, die Be- 
richte der englischen und französischen Gesandten, soweit sie durch die Veröffent- 


356 


155 en von F. v. Raumer bekannt waren und schließlich die Werke von Masson 
un 

Die wertvollen aber bei weitem nicht genügenden älteren Quellen werden 
nun durch eine Fülle neuer Angaben fast vollständig verdrängt und in der 
historischen Literatur so gut wie gar nicht mehr benutzt. Im Zusammenhang 
mit diesen Veröffentlichungen ist eine ausgedehnte Literatur über die Kommission 
entstanden. (Ausführliches Verzeichnis bei Florofskij. Iz istorii Ekaterininskoj 
zakonodatel’noj kommissii 1767 g. Zapiski Imp. Novoros. Univ. Vyp. III. 
Odessa 1910.) Von den neueren Arbeiten sind noch folgende zu erwähnen: 

1. Bolkarev. Kul’turnye zaprosy russkago obščestva nalala carstvovnija 
Ekateriny II po materialam zakonodatel’noj kommissii 1767 g. Russkaja Starina. 
dé 1915. 2. P&elin. N. Ekaterininskaja kommissija o solinenii prockta novago 
uloZenija i sovremennoe russkoe zakonodatel’stvo. Utenyja zapiski Moskovskago 
Universiteta. Otdel Juriditeskij. Bd. 45. Moskau 1916 8. Plehanov. G. 
Kommissija ob Ulofenii. Sotinenija. Bd. XXII, Kap. VIII. Moskau-Leningrad 
1922—27. 4. Titlinov. B. Prof. Gavriil Petrov, Mitropolit novgorodskij i 
sankepeterburgskij. Petrograd 1916 (S. 127—250). 5. Tobien. A. v. Die Livländer 
im ersten russischen Parlament (1767—60). Mitteilungen aus der livlindischen 
Geschichte. Bd. XXIII. Riga 1924—26. Knorring. Ekateriosinskaja zakonodatel’naja 
Kommissija 1767 goda v osveščenii inostrannych rezidentov pri russkom dvore. 
Sbornik statej, posrjaitennych P. N. en paca Prag 1929, und andere. Es 
handelt sich um eine Reihe von Spezialforschungen, die unsere Kenntnis der cigen- 
tümlichen Institution Katharinas wesentlich erweitert haben. Die vielen Bände 
des „Sbornik“ werden hier so gut wie erschöpfend durchgearbeitet. Aber auch 
sie erwiesen sich sehr bald als ungenügend. Man ist nämlich im Laufe der 
Forschung auf neue Probleme gekommen, die mit Hilfe des veröffentlichten 
Quellenmaterials nicht gelöst werden konnten. Die neuere Forschung stand nun 
vor der Aufgabe, neues Quellenmaterial beizubringen. Der Lösung dieser Auf- 
gabe widmete sich in neuerer Zeit der Odessaer Historiker (jetzt in Prag) A. Flo- 
rovskij. Schon in seiner bereits erwähnten erweiterten Studentenarbeit begnügt 
er sich nicht damit, das veröffentlichte Quellenmaterial zu verarbeiten, sondern 
ergänzt es noch durch eigene Nachforschungen in verschiedensten Archiven. Das- 
selbe gilt auch von seinen späteren Arbeiten wie: Deputaty Vojska Zaporo2skago 
v Zakonodatel’noj Kommissii 1767 g. Zapiski Odesskago ObStestva Istorii i 
Drevnostej. Bd. XXX. Odessa 1912 und K. 150-letiju Manifesta 14 dekabrja 
1766 g. Zurnal Ministerstva justicii. Jg. 1916, Bd. 10. Dva proizvedenija 
Imperatricy Ekateriny II dn ak onodatel noj Kommissii 1767—74 gg. Russkij 
Archiv. Jg. 1917. H. 2—8. Akademija Nauk i zakonodatel’naja Kommissija 
1767—74 gg. Ulenyja zapiski, osnovannja russkoj udebnoj kollegiej v Prage. 
Bd. I. H. II. Prag 1924. K charakteristike imperatricy Ekateriny II — zako- 
nodatel’nicy. Sbornik russkago instituta v Prage. 1929. Dve polititeskija doktriny 
(„Nakaz“ i Didro) Trudy IV s’ezda Russkich Akedemileskich Organixacij 
za icej. Bd. I. Belgrad 1929. Un légiste francais au service de la tzarine 
Catherine II. Revue historique de droit francais et étranger. Jg. 1924. K 
istorii ekonomileskich idej v Rossii v XVIII veke. Nauènye Trudy Russkago 
Narodnago Universiteta v Prage. Bd. I. Prag 1928. Insbesondere ist die Be- 
nutzung ganz neuer Quellen an seinem großen Werk — Sostav Ekaterininskoj 
zakonodatel’noj Kommussii — hervorzuheben. Eine Fülle von bisher unbekanntem 
archivalischem Quellenmaterial ist hier von Florovskij verarbeitet und es ist kaum 
eine Übertreibung, wenn man mit diesem Werk eine neue Epoche der Historio- 
graphie unserer Spezialfrage ansetzt. Erst nach diesem Werk wird vielleicht eine 
neue Gesamtdarstellung der Kommission möglich sein, wie sie seit den Arbeiten 
von Sergeevit (1878), Brückner (1888) und Latkin (1887) nicht gewagt wurde. 
Auch Florovskij t die Absicht, ein Gesamtbild der Kommission zu geben, 
ganz fern. Er ist vielmehr bestrebt, seinen Aufgabenkreis nach Möglichkeit ein- 
zuschränken. Trotzdem sein Werk unter den bisher erschienenen Arbeiten über 
die Kommission das umfangreichste ist, wendet er sich hier nur einzelnen Pro- 
blemen zu. Er verzichtet bewußt auf eine allgemeine Deutung der Ergebnisse 
seiner Arbeit. In dieser Eigenschaft liegt der Vorteil und zugleich der Nachteil 
seines Werkes beschlossen. Sein Werk ist somit nicht Selbstzweck. Es ist viel- 


367 


MM 


mehr eine sehr griindliche Vorarbeit, die eine tiefere Erfasssung des Wesens der 
Kommission ermöglicht. 


Das Buch Florovskijs zerfällt in zwei ungleiche Teile. Der erste Teil (S. 8—218) 
ist der Entstehungsgeschichte des Manifests vom 14. Dezember 1766 und des mit ihm 
verbundenen Wahlgesetzes, der zweite dagegen (S. 219—589) dem Verlauf der Wahlen 
und den Veränderungen in der Zusammensetzung der Kommission gewidmet. 
Die Bedeutung einer solchen Untersuchung braucht nicht besonders hervor- 
gehoben zu werden. Von besonderer Bedeutung scheint mir dabei die Ent- 
stehungsgeschichte des Wahlgesetzes zu sein. Man kann wohl dieses Gesetz trotz 
seiner vielen Mängel zu den best ausgearbeiteten Produkten der russischen Gesetz- 
gebung des 18. Jahrhunderts zählen, auf das die spätere Gesetzgebung immer 
wieder zurückkommt. i) 


Die Untersuchung Florovskijs ergibt nun, daß es mindestens 7 verschiedene 
Fassungen des Wahlgesetzes gibt, deren Reihenfolge er auf Grund von genausten 
Nachforschungen festsetzt. Zum größten Teil wurden sie entweder von Katharina 
selbst entworfen oder von ihr genau nachgeprüft. Es handelt sich also um ein 
Gesetz, das von Katharina aufs sorgfältigste vorbereitet wurde. Das Gegenteil 
wurde ihr aber von der bisherigen Forschung immer wieder vorgeworfen. So oft 
wurde es bemängelt, daß sie das große Werk der Gesetzgebung gedankenlos einer 
vielköpfigen Kommission anvertraut hätte, worauf auch ihr Mißerfolg zum großen 
Teil zurückgeführt wurde. Aus der Untersuchung Florovskijs geht nun hervor, 
daß diese Einwände Katharina gegenüber kaum berechtigt sind. Der legislativ- 
technische Grundsatz, daß ein Gesetzbuch zunächst durch einen Spezialausschuß 
ausgearbeitet und erst dann einer Volksvertretung vorgelegt werden muß, war 
Katharina zweifellos bekannt. In ihrem ersten Wahlgesetzentwurf sieht sie näm- 
lich die Bildung eines 5 köpfigen Ausschusses vor, der das neue Gesetzbuch auch 
ausarbeiten soll . Erst dieses sollte später der Kommission vorgelegt werden. 
Auf die Frage, warum Katharina diesen ursprünglichen Plan aufgegeben hat, geht 
Florovkij nicht ein. Mir scheint die Sachlage ziemlich klar zu sein. Katharina 
hat nämlich gegen besseres Wissen die Kommission so organisiert, wie sie zum 
Zweck einer produktiven gesetzgeberischen Arbeit nicht hätte schlechter organi- 
siert werden können. Die Gründe, die sie dazu bewogen haben, liegen natiirlich 
außerhalb des Werkes der Gesetzgebung, worauf hier nicht näher 1 
werden kann. Ausführlicher gehe ich darauf in meinem demnächst erscheinenden 
Aufsatze: Zur Charakteristik der gesetzgebenden Kommission Katharinas II. 
von Rußland, Archiv für Kultur- und Universalgeschichte, Bd. XXI, ein. Leider 
hat Florovskij nicht einmal versucht, diese Gesetzesentwürfe, wenn auch nur un- 
gefahr, zu datieren. Die Datierung 2. B. des ersten Entwurfs hätte einen Anhalts- 
punkt gegeben festzustellen, wann Katharina den Gedanken gefaßt hat, eine Kom- 
mission zu berufen. Auf diese Weise könnte vielleicht das in meinem Aufsatze 
kurz gestreifte Problem gelöst werden, in welchem Zusammenhang die Kommission 
zu der angeblich für sie verfaßten Instruktion steht. Nach den Arbeiten von 
Taranovskij?) scheint es nämlich außer jedem Zweifel zu sein, daß die Kommission 
Katharinas ın keinem Zusammenhang zu ihrer Instruktion steht, in der eine 
repräsentative Körperschaft keinen Platz finder. 


Auch für die Lösung eines anderen Problems findet man in dem Buche 
Florovskijs sehr interessante Angaben. Schon oft wurde nämlich in der Literatur 
darauf hingewiesen, daß die in der Kommission anwesenden Vertreter der Zentral- 
behörden sowie überhaupt die in die Kommission gewählten beamteten Personen 
sich durch äußerste Zurückhaltung auszeichneten. Dies geht so weit, daß ver- 
schiedene Fachvertreter, wie z. B. der Vertreter des Bergkollegiums, in die mit 
ihrem Ressort in Berührung stehenden Spezialausschüsse weder gewählt noch er- 
nannt wurden. Und nun findet man in den von Florovskijs veröffentlichten 


1) Polnoe sobranie zakohov Rossijskoj Imperii. Petersburg 1880. XVIII, 
13119. XIX. 13600. XXII. 15220, 15590. XXIII, 16187, usw. 


2) Taranovskij. Politiéeskaja doktrina Nakaza. Sbornik statej, posvjaßlennyj 
Vladimirskomu-Budanovu. Kiev 1904 und andere. 


358 


— — — Run U ee, i ee i ee eee 


Materialien eine äußerst interessante Erklärung für diese Tatsache. In dem 
Direktionsausschuß der Kommission wurde nämlich die Frage der Besetzung des 
sogenannten geistlich-bürgerlichen Ausschusses behandelt. Hier gab es eine Ge- 
legenheit, die Abgeordneten der Zentralbehörden, in diesem Falle den Abgeord- 
neten des Synods Metropolit Demetrius, zur Mitarbeit heranzuziehen. Doch hielt 
dies der eigentliche Leiter der Kommission Fürst Vjazemskij für überflüssig. Die 
Entwürfe der Ausschüsse, meinte er, kämen doch so wie so in den Direktions- 
ausschuß, „und der Metropolit Demetrius könne sie dann zusammen mit anderen 
Mitgliedern desselben nachprüfen“ (S. 74). Man brauchte offenbar die Vertreter 
der Behörden weder für die Arbeit in den Ausschüssen noch in der Kommission 
selbst. Allein der Direktionsausschuß scheint also für die legislative Tätigkeit 
geschaffen zu sein. Unwillkürlich wird man sich die Frage stellen müssen: Wozu 
sind denn die Vertreter der Zentralbehörden, wozu die Ausschüsse, wozu ist über- 
haupt die Kommission da, wenn die berufensten Fachvertreter zur Arbeit nicht 
herangezogen werden, und wenn alles vom Direktionsausschuß gemacht werden soll. 


Aus Raummangel kann ich nicht auf die Frage nach der Rolle der Vertreter 
der Zentralbehörden eingehen, die Florovskij meines Erachtens nicht ganz richtig 
beantwortet. Einige dieser Abgeordneten vertraten nämlich nach F. gleichzeitig 
auch diejenigen Schichten der Bevölkerung, die der jeweiligen Behörde unterstellt 
waren (S. 73). Z. B. vertraten nach seiner Meinung der Synod, das Okonomic- 
kollegium usw. die Geistlichkeit, bzw. die sogenannten Okonomiebauern. Diese 
Auffassung, die übrigens auch Kljucevskij*) in den 80 er Jahren vertreten hat, 
läßt sich aus dem Wortlaut der oftiziellen Akten nicht ableiten. Und wenn einige 
Entwürfe diese Auffassung zu unterstützen scheinen, so ist darauf hinzuweisen, 
daß Katharina diese Vorschläge ihrer Mitarbeiter in der endgültigen von ihr selbst 
ausgearbeiteten Fassung nicht berücksichtigt hat. Die 28 Vertreter der Behörden 
außerdem noch eine größere Anzahl der Vertreter der höheren Bureaukratie, 
die von verschiedenen Adelskorporationen gewählt wurden, bildeten vielmehr eine 
Gruppe von Abgeordneten, auf die Katharina sich durchaus verlassen und durch 
die sie die Kommission beherrschen konnte. Um dieser rein politischen Funktion 
willen scheint eigentlich diese Gruppe von Abgeordneten berufen zu sein. 


Auch in bezug auf das Ende der Kommission findet man in dem Buch von 
Florovskij sehr interessantes Material. Wenn Katharına den Ausbruch des russisch- 
türkischen Krieges als Grund ihrer Auflösung angibt, so sieht Florovskijt) 
darin nur einen Vorwand. Die Zahl der Abegeordneten, die in den Krieg gehen 
mußten, erweist sich nach den Untersuchungen von Florovskij und Lipinskij als 
sehr gering, so daß man jetzt noch mehr, als es bisher schon geschah, nach anderen 
Gründen der Auflösung suchen muß. In diesem Zusammenhang möchte ich auf 
einen Bericht von Chrapovickij hinweisen, wonach ein auswärtiger Krieg für 
Katharina als ein bewährtes Mittel gegen die lästige Volksvertretung pik Bhd 
„Ein Gespräch über Angelegenheiten in Frankreich“, notiert er im Januar 1788 
in seinem Tagebuch.“) „Frankreich, soll Katharina gesagt haben, müsse sich an 
dem Krieg beteiligen, um das von dem König gemachte Versprechen, die Reichs- 
stände (Etats) zu berufen, zu vermeiden.“ 


Auf diese aus dem Buche Florofskijs herausgegriffenen Einzelheiten möchte 
ich mich hier beschränken. Es ist unmöglich, die Fülle neuer Erkenntnisse, die 
aus seinem Buche geschöpft werden können, in dieser kurzen Besprechung auch 
nur annähernd zu berücksichtigen. Ich habe nur Einiges hervorgehoben, was 
mir besonders wichtig erschien. Im Übrigen muß ich auf dieses für jeden 
Historiker unentbehrliche Werk verweisen. Georg Sadke. 


) Kljulevskij. Litografirovannye lekcii. 1882/88. Moskau II, 42. 


) Auch Lipinskij. Novyja dannyja dlja istorii ekaterininskoj kommissti o 
socinenii proekta novago uloZenija. Žurnal ministerstva Narod. Prosv. Jg. 1887. VI. 


es > Dnevnik A. V. Chrapovickago. Herausg. v. H. Barsukov. Moskau 1901, 
ite 85. 


359 


Akad. D. I. Bahalij: N istoriji Ukrajiny na socijalno-ckono- 
mitnomu grunti. — (Abriß der Geschichte der Ukraine auf der 
sozialökonomischen a a I. Ukrainische Akad. d. 
W. Sammelband Nr. 72. in. Staatsverlag, 1928, 390 Seiten 
und (4). 8°. 

Nach der Festigung des Räteregimes wurde in der Ukraine im Bereiche der 
Geschichtswissenschaft als einzige vom Staate anerkannte und im öffentlichen 
Bildungswesen obligate Einstellung die Theorie des historischen Materialismus ım 
Sinne von Marx und in der Interpretation Lenins eingeführt. Der gesamte histo- 
rische Prozeß sollte ausschließlich unter dem Gesichtspunkte der wirtschaftlichen 
Entwicklung und des Klassenkampfes behandelt werden, die Erforschung der 
sozialökonomischen Erscheinungen den einzigen Mittelpunkt des wissenschaftlichen 
Interesses bilden. Die ukrainische Geschidheswissenschat t mußte sich diesen Forde- 
rungen anpassen. Anfangs verursachte dies in der ukr. Historiographie cine ge- 
wisse Krisis: die Gelehrten vermochten es nicht, sich auf einmal den neuen Postu- 
laten, welche bei vielen von ihnen den inneren Widerstand erweckt haben, an- 
zupassen. Die Mehrheit setzte — freilich nur in den Momenten, in welchen die 
Verhältnisse die Arbeit überhaupt möglich machten — ihre wissenschaftliche 
Forschungsarbeit in den schon früher auserwählten Gebieten der Geschichte fort. 
Aber fast bei allen bemerken wir eine ganz deutliche Neigung zum Studium ge- 
rade der sozialökonomischen Erscheinungen und der revolutionären Epochen. Die 
durch die bewegten Kriegs- und Revolutionsjahre unterbrochene Erforschung und 
Bearbeitung der Quellen wurde erneuert und fortgesetzt. Die ukrainischen 
Forscher skabtes mit Recht, daß die synthetischen Versuche im Sinne der neuen 
Theorie nur durch die Vorbereitungsarbeit und Umwertung der Anschauungen auf 
dem ganzen Gebiete der wissenschaftlichen Forschung ermöglicht werden. Wäh- 
rend aber die älteren Historiker, welche wissenschaftliche Verdienste hinter sich 
hatten und in der Fachwelt bekannt waren, keine Arbeiten allgemeinen 
Charakters veröffentlichten, erschien auf einmal eine Reihe neuer, bis jetzt gänz- 
lich unbekannter Geschichtsschreiber, die mit der Entschlossenheit der durch keine 
Tradition gefesselten und mit der die Fachgelehrten charakterisierenden Vorsich- 
tigkeit nicht belasteten Menschen voreilig die Bearbeitung der allgemeinen Leit- 
faden der ukrainischen Geschichte „auf dem Hintergrunde des historischen Mate- 
rialismus unternahmen. Sie schufen zwar an sich interessante Versuche, man 
vermißte aber darin die, die auf selbständiger Quellenforschung und überhaupt 
auf längerer Vorbereitungsarbeit beruhende Arbeiten kennzeichnende autoritative 
Beweiskraft. Diese Versuche blieben also, trotz der Kanonisierung durch offi- 
zielle Faktoren und trotz ihrer Rolle als Lehrbücher im Sinne der herrschenden, 
obligaten Doktrin (weshalb auch nur wenige es wagten, sie zu kriuisieren), e ec 
= außerhalb des Rahmens der Geschichtswissenschaft im strengen Sinne dieses 

ortes. 


Gerade deshalb aber erweckt unser Interesse der vom Professor an d. ehem. 
Charkover Univ. und Mitglied d. Ukr. Ak. d. W. D. Bahalij verfaßte „Abriß 
der Geschichte der Ukraine auf sozialökonomischer Grundlage“. Bahalij der 1927 
das 50 jährige Jubiläum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gefeiert hatte, wurde 

erster der älteren ukrainischen Historiker zum dezidierten Anhänger der 
herrschenden Doktrin und bekannte sich zum Marxismus. Im J. 1925, im 
II. Bande seines wertvollen „Abrisses der ukrainischen Histori ie“ kündigt 
Behalij eine dreibändige „Kurze Geschichte der Ukraine auf sozialökonomischer, 
marxistischer Grundlage“ an. Das vorliegende, im Auftrage der Ukr. Ak. d. W. 
erschienene Buch ist also der I. Band dieser Arbeit. Wir müssen diesem Werke 
eines hervorragenden Kenners und verdienstvollen Erforschers der ukrainischen 
Geschichte besondere Aufmerksamkeit schenken. 

Der Arbeit von Prof. Bahalij geht eine umfangreiche „Historiographische 
Einleitung“ voraus (S. 1—124), welche in zwei Teile zerfällt, und zwar in einen 
kleineren unter dem Titel „Die Schule des historischen Materialismus (S. 1—19) 
und einen größeren über die „Ukrainische e ie (S. 20—120). Im 
ersten Teile gibt Verf. eine kurze Übersicht der alten historischen Schulen, ver- 


860 


weilt etwas länger bei der Betrachtung des historischen Materialismus von K. Marx 
und Fr. Engels und ihrer Schule, und bestimmt „die Auf, der ukrainischen 
Geschichte auf dem Hin des historischen Materialismus“. Als Grund- 
lage soll, seiner er ag Zo keinesfalls die bis jetzt beachtete politische, sondern 
die sozialökonomische Seite der Geschichte, m. a. W. „die Anderung der sozial- 
ökonomischen Basis, und nicht des politischen Überbaus“ dienen. In den alten 
Standesunterschieden der ukrainischen Gesellschaft will der Verfasser „den Klassen- 
charakter bemerken“, er will „den Klassenkampf und die Gegensätzlichkeit der 
Klasseninteressen in diesen historischen i in denen sie bis jetzt un- 


schen Beleuchtung lassen müssen; sonst wären sie gan, Kë oberflichliche, un- 
begründete, einseitige Erklärungen zu geben, durch welche das marxistische 
System kompromittiert würde“ (S. 19). Er anerkennt auch die Notwendigkeit 
der „vorsichtigen Einstellung“ und der gerechten Wertschätzung der früheren 
ukr. Historiographie, welche, wie er selbst zugibt, „auch jetzt dem Historiker sowie 
dem Leser viel Nutzen bringen kann, freilich nach der notwendigen Korrigierung 
der Schlüsse, zu welchen die alten Autoren gelangen“ 5 
Ganz im Einklang mit dieser weisen Erkenntnis ijs ist die folgende 
vorzügliche Übersicht der ukr. Historiographie vom Anfang d. 19. Jahrh. bis 
zur neuesten Zeit; diese Übersicht ist nders wertvoll: ihre Klarheit und 
Obersichtlichkeit, weiter die präzise Ausdrucksweise, der Reichtum an faktischen 
Daten und genauen Literaturangaben — dies alles erhebt die „Einleitung“ zum 
Range einer wissenschaftlichen Arbeit von selbstindiger Bedeutung. inige 
Details sind zwar anfechtbar (z. B. die Unklarheit in der Benennung „Die Sch 
der polnisch- ukrainischen Historiker“ und in deren Definition, S. 44—47, dort 
auch die Polemik mit dem Verf. dieser Besprechung; die besonders milde und 
nachsichtige Beurteilung der- diese schonende Behandlung miß verstehenden und 
ablehnenden Verf. „marxistischer Arbeiten aus der Geschichte der Ukraine“, 
S. 99—106 usw.), die = diesbgl. Untersuch kann aber hier wegen 
Raummangels nicht gege werden. Übrigens spielen diese Einzelheiten, im 
Vergleih mit dem emeinen großen Werte der Übersicht selbst, keine Rolle. 
Der im I. Bande veröffentlichte Teil der Geschichtsdarstellung führt den all- 
gemeinen Titel „Die Geschichte der Ukraine-Rus in der Epoche der Natural- 
wirtschaft“. Wir schen hier zunächst die Geschichte des Territoriums, wobei Verf. 
mit der Paläolitperiode anfängt. Er hat auch persönlich vieles auf dem Gebiete 
der praktischen Archäologie geleistet. Als ein wahrer Schüler des bekannten 
ukr. Gelehrten V. Antonovy£ legt Verf. ßen Wert auf die archäologischen 
Studien; seine Darstellung verschiedener vorhist. Perioden in der Ukraine zeichnet 
sich daher durch besondere Lebendigkeit und Anschaulichkeit aus; diesen Ein- 
druck verstärken zahlreiche, sehr sorgfältig ausgewählte Illustationen. Sehr leben- 
dig ist auch die Schilderung der griechischen Kolonisation der nördlichen Schwarz- 
meerküste und von deren Einfluß auf die einheimische Bevölkerung. Die weiteren 
Kapitel sind den skyto-sarmatischen Völkern, dem Einzuge der Slaven in Ost- 
europa und der Ansiedlung ukrainischer Stämme Meier Weiter arbeitet Prof. 
Bahalij nach folgendem ma: die materielle Kuleur, die Evolution der Natural- 
wi t und der sozialen Verhältnisse, der „Glaube“ (das Christentum soll aus 
unbekannten Gründen erst im nächsten Bande berücksichtigt werden)!) der Ober- 
pane von der Stammes- zur Territorislorganisation und die Anfänge des Feuda- 
ismus. Verf. schließt aus seiner Darstellung die politische Geschichte in ihrer 
chronologischen Reihenfolge fast gänzlich aus, und deshalb kommt die historische 
Perspektive ziemlich undeutlich zum Vorschein; ein Leser, welcher die Geschichte 
der Ukraine zum ersten Male gerade aus dem Buche Bahalijs studieren würde, 
könnte schwerlich daraus einen klaren Begriff schöpfen, für welche Zeit, für 
welches Jahrh. dieses oder jenes Stadium der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen 
icklung gilt. Einige Hauptfragen der altukrainischen Geschichte werden be- 


1) Dieses Kapitel wurde unter Mitarbeit des jungen Forschers A. Kovalivsky) 
geschrieben. 


861 


wußt gemieden. Verf. erwähnt z. B., nur mit wenigen Worten die Frage der 
Berufung normannischer Fürsten („der Varjagen“) und des Ursprungs des Wortes 
„Ruf (S. 800), indem er auf die eingehende Bearbeitung dieser Probleme in dem 
entsprechenden Kapitel seines 1912 erschienenen Steed russischer Geschichte 
hinweist. Solche Vereinfachung ist auch vom Standpunkte der marxistischen Ge- 
schichtsauffassung kaum zu eg ZE es wäre notwendig, wenigstens eine An- 
merkung über diese in der großen speziellen Literatur auch noch jetzt viel- 
umstrittenen Fragen zu geben. 

Den Abschluß des I. Bandes bildet die Übersicht sozialökonomischer Verhalt- 
nisse in der Kiever Ukraine-Rus, der Zeit bis zum 18. Jahrh., d. i. bis zur 
Tatareninvasion und im Galizisch-Wolhynischen Königreiche des 18.—14. Jahrh., 
wobei B. bei der Charakteristik der sozialen Verhältnisse im letzteren Falle die 
Grenzen der Existenz des Staates selbst überschreitet und auch über die Zeiten 
der Polenherrschaft im 15. Jahrh. berichtet. M. E. wäre aber dies letztere erst 
bei der Darstellung der sog. polnisch- litauischen Periode am Platze. 

Bei der Obersicht des Geschichtsprozesses in der Ukraine der feudal-fürst- 
lichen Zeiten hatte B. mit den am besten in der russischen, ukrainischen und 
polnischen Historiographie erforschten Perioden zu tun. Das geschichtliche Leben 
dieser Zeit ist von verschiedensten Seiten sehr vollständig bearbeitet, Prof. Bahalij 
verfügte also über großes Material, aus welchem man wirklich gewisse synthetische 
Schlüsse ziehen kann. Verschiedene Streitfragen und vissenschaftliche Kontro- 
versen werden vom Verf., wie wir es gesehen haben, soweit sie mit dem sozial- 
ökonomischen Prozesse nicht eng zusammenhängen, bewußt gemieden. Im 
ganzen gelang es Prof. Bahalij, einen interessanten Versuch der Darstellung det 
Anfangsperioden ukrainischer Geschichte „auf der sozialökonomischen Grundlage“, 
im Sinne des ökonomischen Materialismus zu geben. Das große Material wurde 
meisterhaft zusammengefaßt und es wurden daraus Bilder der wirtschaftlichen und 
sozialen Evolution der Ukraine konstruiert, welche auch von den die marxistische 
Theorie ablehnenden Lesern mit Interesse verfolgt werden können. Die reich- 
haltigen, jedem Kapitel beigefügten Literaturangaben sowie die sehr gut aus- 
gewählten Abbildungen erhöhen das Interesse am Buche. 

Merkwürdig ist der Umstand, daß die Arbeit Bahalijs gerade von Kreisen, 
für welche das Erscheinen eines Leitfadens ukrainischer Geschichte in 
marxistischer Auffassung besonders wünschenswert sein zollte, abgelehnt wurde. 
In der Zeitschrift des Charkover „Ukrainischen Institutes für Marxismus und 
Leninismus“, welche den Titel „Prapor marksyzmu“ (1929, I., S. 167—176) trägt 
wurde die Arbeit Bahalijs einer vernichtenden Kritik durch einen gewissen 
F. Jastrebov unterzogen; der Kritiker gelangt zu dem für Prof. Bahalij fatalen 
Schlusse, daß derselbe „keinesfalls für einen Marxisten, für einen proletarischen 
Theoretiker gehalten werden könne, welcher schonungslos alle Abweichungen vom 
Marxismus und Feindseligkeit gegen denselben bekämpft und, die scharfen Waffen 
der dialektischen Methode zielbewußt benutzend, das Wesen der Vergangenheit 
erschließt, wobei er die Tatsache begreift, daß der Klassenkampf die mensch- 
liche Gesellschaft notwendig zur Diktatur des Proletariates führt“. Was ließ aber 
eigentlich den strengen Kritiker unbefriedigt? Um den Charakter der Vorwürfe 
des jungen Adepten des Marxismus auf die Adresse des ehrbaren Professors und 
Mitgliedes der Akademie zu begreifen, müssen wir die Anforderungen, ve 
jener an den marxistischen Historiker stellt und die Kriterien, mittels deren er 
seine Arbeit bewertet, kennen lernen. Nach der Ansicht des Herrn Jastrebov 
„kann der marxistische Historiker unmöglich ein Gelehrter sein, welcher aus- 
schließlich die objektive Darstellung des Geschichtsprozesses dieses oder jenes 
Landes anstrebt, weil die Geschichte der Menschheit Geschichte des Klassenkampfes 
ist ... es genügt nicht, wenn ein Marxist die Existenz des Klassenkampfes in 
der Gesellschaft Free der marxistische Historiker ist ein Ideolog der Prole- 
tarierklasse, er ist nicht nur ein Theoretiker, sondern auch ein Kimpfer fiir die 
Interessen dieser Klasse . . einem jeden auf der marxistisch- leninistischen Grund- 
lage stehenden Historiker wird es zur Pflicht, nicht nur die Diktatur des Prole- 
tariates anzuerkennen, sondern auch in seinen Werken alle Feinde derselben 
schonungslos zu bekämpfen ... Solche Aufgaben stellt dem marxistischen Histo- 
riker unsere Zeit“ (S. 167—168). Prof. Bahalij entspricht, nach der Ansicht des 


362 


Kritikers, diesen Anforderungen nicht. Er bewertet, erstens, in seiner Übersicht 
der inischen Historiographie, viel zu objektiv all das, was bis jetzt ganze 
Generationen von Gelehrten geleistet haben; bei der Beurteilung ihrer Arbeit 
„tritt er keinesfalls als Vertreter des bourgeoisiefeindlichen Proletarierlagers, 
sondern als Repräsentant einer neuen, objektiv der alten überlegenen Theorie 
auf“ & 169). Zweitens behandelt er die ganze Periode der Naturalwirtschaft in 
der Ukraine, ohne bei jedem Schritt den Klassenkampf zu unterstreichen, z. B. 
bei der Schilderung der griechischen Kolonien auf der Nordküste des Schwarzen 
Meeres „gibt Prof. Bahalij keine klare Analyse des Klassenkampfes in denselben“ 
(S. 174). Am Schluß seiner weitläufigen Belehrungen an Prof. Bahalij, wie man 
die Geschichte im Sinne des wirklichen Marxismus schreiben soll, gibt Herr 
Jastrebov unserem Gelchrten folgenden Rat: er solle „die Umarbeitung seines 
Abrisses auf Grund der wirklichen, ungefälschten proletarischen Theorie unter- 
nehmen“ (S. 176). 

Wir wissen es zwar nicht, auf welche Weise Bahalij auf diesen, bei heutigen 
Lebensverhältnissen in der Ukraine maßgebenden Rat reagieren, ob er wirklich 
eine Umarbeitung unternehmen, oder aber seine bisherige Arbeit weiterführen 
wird; dies allein glauben wir zu wissen, daß die Kritik seiner „Geschichte“ im 
„Praper marksyzmu“ ziemlich deutlich die Verhältnisse charakterisiert, unter 
welchen heutzutage die Historiker in der Ukraine arbeiten sollen. Bei der Be- 
urteilung ihrer jetzt erscheinenden Werke muß man gerade diesen Umstand be- 
sonders stark berücksichtigen. 


Berlin. D. Doroschenko. 


Pylyp Klymenko: Cechy na Ukrajini. 

Philipp Klymenko: Das Zunftwesen in der Ukraine. Bd. I., 
1. Folge. — Allukrainische Akademie der Wissenschaften. 
Sammelschrift der historisch-philologischen Abteilung Nr. 81. 
Kiev 1929. S. XC + 199 + VIII. 8°. 


Prof. Klymenko ist schon seit !ängerer Zeit in der ukrainischen Historio- 
graphie bekannt als Verfasser einer Arbeit über die Zünfte in Litauen, Weiß- 

and und in der nordwestlichen Ukraine im XVI.— XVIII. Jahrh. (Kiev 1914). 
Die Geschichte der Zünfte und des Zunftwesens in der Ukraine gehörte im Allge- 
meinen zu den vernachläßigten Gebieten der Geschichtsforschung, so daß Prof. 
Klymenko hier die Vorkämpferarbeit leistete. Schon nach dem Erscheinen seines 
Buches wurden viele sehr wichtige Aktenmaterialien über die Zünfte in der 
Ukraine entdeckt und zum Teil herausgegeben. Die Erforschung dieses Materials, 
die Systematisierung desselben und die Schaffung einer synthetischen Skizze auf 
dieser Grundlage — dies alles wurde zu einer der nächsten Aufgaben der ukraini- 
schen Geschichtswissenschaft. Es ist eine erfreuliche Tatsache, daß die Lösung 
dieser Aufgabe gerade von Prof. Klymenko, welcher schon früher auf dem Gebiete 
der 3 der ukrainischen Zünfte viel gearbeitet hat, übernommen 
wurde. 

Nach dem Plan des Verfassers soll seine Arbeit aus vier ig tise bestehen, 
und zwar: 1. Die Organisation der Handwerkerziinfte in der Ukraine; 2. Die 
Zusammensetzung und die Entwicklung der Zunfthandwerkerschaft; 8. Die 
sozialökonomische Entwicklung der Zunfthandwerkerschaft; 4. Die kulturelle und 
technische Entwicklung der Zunfthandwerkerschaft. Besondere Kapitel des 8. und 
4. Teiles sollen die zünftlich-bruderschaftlihen Handwerkerorganisationen, ver- 
schiedene nationale (jüdische, armenische, tatarische) Handwerkerorganisationen in 
der Ukraine, die Verbindungen der ukrainischen Handwerkerorganisationen mit 
den ländischen Organisationen, und endlich das Hauptproblem des Ursprungs 
des Zunftwesens behandeln. Einige von diesen Fragen wurden vom Verfasser schon 
früher bearbeitet und er hält es für möglich, sie sofort drucken zu lassen, andere 
wiederum müssen mit Rücksicht auf das neuentdeckte Material revidiert und ver- 
vollständigt werden. Es war daher dem Verfasser unmöglich, die genetische Reihen- 
folge völlig einzuhalten; er mußte seiner Arbeit den Charakter einzelner abge- 
en pr monographischer Studien verleihen. Er begründet dies einigermaßen 


4 NF 6 363 


auch methodologisch; da er seiner ersten Band mit der Übersicht der letzten 
Periode der Existenz der Zünfte in der Ukraine (von zweiter Hälfte des 
XVIII. Jahrh. bis zur zweiten Hälfte des XIX. Jahrh.) eröffnet, sagt er z. B., daß 
dies das Bestreben nach Erfassung des Wesens und des Charakters des Ziinfte- 
wesens nur fördern kann, da „die letzte Periode der Existenz der ukrainischen 
Zünfte, welche reichhaltiges und sicheres Material aufweist, die Grundeigenschaften 
der Zunftorganisation besser, als die Mittelperiode, zu erklären vermag“ (S. 1). 
Um also die allgemeinen Schlüsse des Autors und die Vollständigkeit des Bildes 
der geschichtlichen Entwicklung der Zünfte beurteilen zu können, müssen wir 
den Abschluß des ganzen Werkes von Prof. Klymenko abwarten. 


Nichtdestoweniger erweckt auch der soeben erschienene erste Band betracht - 
liches wissenschaftliches Interesse, hauptsächlich wegen der umfangreichen Einleitung 
(S. I—XC), in welcher der Verfasser die genaue Historiographie der Zünfte und 
der mit denselben eng verbundenen Handwerker- und Kirchenbruderschaften gibt. 
Über die letzteren existiert eine besonders reichhaltige Literatur aus dem Grunde, 
daß diese Bruderschaften im XVI.—XVII. Jahrh. im kirchlichen Kampfe zwischen 
der Orthodoxie und der Union eine schr große Rolle gespielt haben. Im Vergleich 
mit den Bruderschaften weisen die Zünfte selbst eine viel knappere Literatur auf; 
diesbezügliche Spezialstudien begannen ziemlich spät. Bei der Übersicht der Studien 
über Bruderschaften und Zünfte verbindet Prof. Klymenko jede Phase dieser 
Studien mit der sozialen Evolution der ukrainischen sellschaft: er konstatiert 
einen engen Zusammenhang zwischen dem bestimmten Charakter dieser Studien 
sowie den Anschauungen über das Zunftwesen — und der Klassenangehörigkeit, 
Profession und dem Aufenthaltsorte des Autors. Wir leugnen die große Be- 
deutung des Klassenmomentes keinesfalls — dabei müssen wir aber doch feststellen, 
daß der verehrte Autor manchmal die Sache zu weit treibt; er stellt zwecks Er- 
klärung des Erscheinens einzelner Arbeiten verschiedene Hypothesen auf, welche 
unhaltbar sind, da sehr oft die ganze Angelegenheit viel einfacher vor sich ging: 
z. B. das Erscheinen der Arbeiten Prof. Ohijenkos über die kirchlich-handwerk- 
schaftlichen Bruderschaften des Städtchens Brusyliv, welche in „Jahrbüchern der 
Katerynoslaver Archivalkommission“ 1918 veröffentlicht wurden, braucht gar 
nicht mittels der Dienststellung des Autors erklärt zu werden; die Sache verhielt 
sich nämlich so, daß ich als damaliger Redakteur der „Jahrbücher“ Prof. Ohijenko 
um diese Arbeit für meine Zeitschrift gebeten habe, da diese Studie dem Charakter 
der „Jahrbücher“ entsprach. Nichtdestoweniger gibt aber die „Einleitung“ Prof. 
Klymenkos die erste wissenschaftliche, erschöpfende Obersicht dieser Frage bis zu 
den neuesten Zeiten. Darin besteht der Vert dieser Einleitung. 


Nach der Ansicht Prof. Klymenkos erschienen die Zunftorganisationen in 
der Ukraine erst gegen Ende des XIII. Jahrh. unter dem Einfluß deutscher Zunft - 
organisationen. Die Forschungen Prof. Klymenkos über die Geschichte ukrainischer 
Zünfte beruhen nicht nur auf dem Studium des ukrainischen Materials, sondern 
arch auf gründlicher Kenntnis der deutschen (sowie auch französischen, polnischen 
und russischen) Literatur über die Zünfte Westeuropas. Dieser Umstand wirkt 
sich sehr vorteilhaft in der ganzen Arbeit, und zwar in methodologischer sowie 
auch faktischer Hinsicht, aus. Die gewissenhafte Ausnützung des Aktenmaterials 
(die Geschäftsbücher der Zünfte XVI. - XIX. Jahrh., Gerichtsakte usw.), sowie 
die Bearbeitung des umfangreichen statistischen Materials verschaffen den 
Forschungen Prof. Klymenkos eine solide wissenschaftliche Grundlage. Im ersten 
Bande finden wir die Übersicht des Organisatiosstandes der Zünfte in der Ukraine 
von der Hälfte des XVIII. Jahrh. bis zum Ende des XIX. Jahrh. Die Zustände 
waren in verschiedenen Teilen der Ukraine verschieden. In der linksufrigen 
Ukraine, und zwar in dem sogenannten Hetmanslande, deklarierte die russische 
Regierung im Jahre 1785 die einheitliche, obligate Zunftordnung für das ganze 
Reich. In der rechtsufrigen Ukraine dagegen wurden die hier gültigen Formen 
des polnischen und litauischen Rechtes erst im Jove 1840 abgeschafft und durch 
die allgemein im ganzen Reiche bestehenden Rechtsnormen ersetzt. Nach der all- 
gemeinen Übersicht des Organisationsstandes der Zünfte (S. 8—12) illustriert der 
Verfasser denselben mit den Kapiteln, welche die Arbeitsorganisation in der Kiever 
Weberzunft, die Organisation der Lehrlingsarbeit in einigen Zünften Kievs und 


364 


Kamjanec Podilskyjs und die Organisation der Gesellenarbeit behandeln. Als 
Material dazu dienen dem Autor die erhaltenen und vor kurzer Zeit entdeckten 
Geschäftsbücher betreffender Zünfte aus den Jahren 1764—1888. Spezielle Kapitel 
behandeln die Organisation des Zunftamtswesens (dieses Kapitel vom allge 
meinen Charakter ist besonders interessant) und das „Zunftfinanz- und Budget- 
wesen“. Auf Grund dieser einzelnen Erforschungen verschiedener Seiten der Zunft- 
ordnung gelangt der Autor zu bestimmten „Schlüssen“ (S. 160—166). Dabei ver- 
fährt er aber sehr vorsichtig und stellt nur eine hypothetische Behauptung auf, 
daß „der Genesis des Zunftwesens die Veränderung in der Handwerksproduktion 
der Ukraine, und zwar die Abtrennung der Familie vom Produktionskollektiv 
zugrunde lag. Die Hauptaufgabe der Zunftorganisation am Ende sowie auch am 
Anfang der Existenz derselben lag in der Verstärkung des räumlich und zum Teil 
auch wirtschaftlich der Familie des Meisters untergeordneten Produktionskollcktivs. 
In der Mittelperiode ihrer Entwicklung bestanden die Funktionen der Zunft- 
organisation ebenfalls in dem Schutze der Werkstätte vor den destruktiven wirt- 
schaftlich-differentiativen Familientendenzen“ (S. 161). Die Vorsichtigkeit des 
Autors ist ganz berechtigt, da die wissenschaftliche Erforschung des organisatorisch- 
ökonomischen Lebens der ukrainischen Zünfte und deren Produktion erst im An- 
fangsstadium sich befindet, und da außerdem, wie es Prof. Klymenko hervorhebt, 
in der sehr reichhaltigen deutschen Literatur über die Zünfte das innere Organi- 
sationswesen der deutschen Zünfte nur mangelhaft erforscht ist; die Aufstellung 
anz sicherer wissenschaftlicher Schlüsse wird aber erst durch die allseitige Er- 
orschung des ukrainischen Materials und durch den Vergleich desselben mit dem 
deutschen (da die ukrainischen Zünfte unter dem deutschen Einfluß entstanden 
sind) ermöglicht. 

Im „Anhang“ finden wir ferner 50 Dokumente aus den Jahren 1601—1849 
(merkwürdigerweise nicht in 555 Reihenfolge geordnet), und zum Ab- 
schluß des Buches ein sehr genau bearbeitetes „Programm der Materialiensammlung 
zur Geschichte des Zunftwesens in der Ukraine“ (S. I- VI). 

Berlin. D. Doroschenko. 


Prof. Dr. A. Petrov: Karpatoruské pomístní názvy z pol. XIX a 
2 pot. XX. st. (Die karpathen-ruthenischen Flurnamen der 
Hälfte des XIX. und des Anfangs des XX. Jahrh.) — Prag. 
Verlag der Cechischen Akademie der Wissenschaften und Kiinste. 
1929. S. 34 + IV + 219. 8. 


Dr. Petrov, ehem. Prof. a d. Petersburger Univ., ist heut der beste Kenner 

der sog. Podkarpatská Rus, d. i. des westlichsten Ausläufers des ukrainischen ethno- 
hischen Territoriums, welches vor dem Weltkriege Ungarn angehörte und 
eute einen Bestandteil der Cechoslovakischen Republik bildet. In der langen Reihe 
sehr wertvoller Arbeiten des Verf. aus dem Bereiche der Geschichte, Geographic 
und Ethnographie der Podkarpatskä Rus erschien als letztes Werk das vorliegende, 
den Flurnamen der Karpathenukraine in der Hälfte des XIX. und am Anfang des 
XX. Jahrh. gewidmete Buch. Obzwar in der ukrainischen wissenschaftlichen 
Literatur schon seit langer Zeit die große Bedeutung der geographischen Namen 
für die Geschichte und Philologie anerkannt wird (als erster berührte dieses 
Thema Prof. M. Maksymovyé i. J. 1887), verfügten wir bis jetzt eigentlich über 
keine speziellen Veröffentlichungen des toponomastischen Materials; die Arbeit 
Petrovs ist also als erstes Werk seiner Art zu betrachten. Sie behandelt zwar, wie 
ersichtlich, nur einen sehr kleinen Teil des ukrainischen Territoriums, dabei kann 
sie aber, was die wissenschaftliche Methode und die Verwertung des Materials an- 
betrifft, als vorbildlich bezeichnet werden. Das vom Verf. benutzte Material ist 
seiner Herkunft nach nicht einheitlich. Es besteht aus den Antworten auf die von 
Fr. Pesty 1868 veranstaltete Enquete, weiter aus den Materialien Dr. H. Strypskyjs 
und seiner Enquete v. J. 1928 und endlich aus verschiedenen anderen Autzeich- 
nungen. Das wertvollste Material liefert Dr. Strypskyj, ein Autochthone und ver- 
dienstvoller Erforscher der Karpathenukraine. Bei den Aufzeichnungen wurden 
verschiedenartigste Orthographien benutzt; Petrov läßt dieselben in origineller 


865 


Form, was fiir die philologischen Studien von besonderer Wichtigkeit ist. Die 
Veröffentlichung Petrovs umfaßt im n ungefähr 15 000 Namen, welche aus 
471 Siedlungen stammen; bei der Gesam der karpathenukrainischen Sied- 
lungen 780 bedeutet dies 60%. Die Arbeit Petrovs wurde bereits in den Fach- 
kreisen sehr günstig beurteilt; einen hohen Wert schreibt ihr auch Prof. M. Kor- 
duba zu, welcher cbenfalls auf dem Gebiete der Erforschung der ukrainischen 
Toponomastik viel gearbeitet hat. 
Berlin. D. Doroschenko. 


M. A. Aldanov: Zeitgenossen. — Aus dem Russischen übertragen 
von R. Frhr. v. Campenhausen. Berlin, Schlieffen-Verlag 1929. 


Gr. 8°. 364 Seiten. 

Aldanov ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der russischen Emigration 

und ihr glänzendster Essayist. In seiner Trilogie aus der Zeit des Direktoriuins 
und des Konsulats hat er sich als Meister des historischen Romans und besonders 
des historischen Portraits erwiesen. Waren dort die Gestalten Suvorovs, 
Kaiser Pauls I. von übertrefflicher Lebendigkeit, so bewährt Aldanov nun seine 
Kunst an Modellen aus der enwart: Clemenceau, Lloyd-George, Briand, Chur- 
chill, Ludendorff, Stalin, Lunalarskij und (sollen wir sagen Ulrickij oder Kanne- 
gießer, dessen Mörder) an den einander haßverzehrt zugekehrten Antlitzen des 
sozialrevolutionären und des bolSevikischen Rußland. 

Aldanovs Manier erinnert an einen anderen Russen, der ganz dem fran- 
zösischen Schrifttum zugehört, an André Levinson, in dem, o Ironie des Schick- 
sals und o Schicksal der Ironie, Anatole France allein fortdauert, dessen Tradition 
sonst beinahe und dessen kenntnisreicher, feiner Witz nirgends einen anderen 
Nachfolger fand. Russen? Sind Aldanov und Levinson mit ihrem funkelnden 
Esprit je Russen gewesen? Auch ohne sich in Bartelsschen Extremitismus zu ver- 
lieren, mag man es bezweifeln. Für beide war die russische Kultur auf dem Weg 
des Juden zur westlichen Zivilisation nur Nährboden und Durchgangsstation. 
(Daß Aldanov nur ein Pseudonym für Landau ist, weiß wohl jeder mit russischer 
Literatur nur oberflächlich Vertraute, dem deutschnationalen Verlag dürfte es 
sicher unbekannt geblieben sein.) Die deutsche Veröffentlichung der an originellen 
Einfällen reichen und von tiefster historischer, psychologischer Einsicht zeugenden 
„Zeitgenossen“ ist sehr zu begrüßen. Trotz der in russischen Dingen nie ver- 
leugneten Parteilichkeit des Autors haben wir es durchweg mit Portraitsaufnahmen 
zu tun, die von einer höheren Varte aus und stets mit künstlerischem Geschmack 
geschahen. 

Die deutsche Veröffentlichung des Buches ist zu begrüßen, obwohl die vom 
Waschzettel in den schrillsten Tönen gepriesene Übersetzung den stilistischen Vor- 
zügen des Originals nicht gerecht wird und durch zahllose sachliche Irrtümer 
sündigt, die, weil sie sonst dem Verfasser angekreidet würden und da sie bei der 
Lektüre des Werks empfindlich stören, hier wenigstens in kleiner Auswahl den 
hoffentlich vielen Lesern zu nutz angemerkt seien. Falsche Namensschreibungen, 
Andrieux statt Andrieu, Deroulède statt Dérouléde, Dreyfuss statt Dreyfus, de La 
Barrat statt de La Barre, Duclo statt Duclos, Lakori statt Labori, Barres statt 
Barrés, Dechanel statt Deschanel, Aisex statt Isaacs, Biberbrook statt Beaverbrook, 
Northcliff statt Northcliffe, Morois statt Maurois, Tardieux statt Tardieu, 
Mirabeau statt Mirbeau, Jeffroy statt Geffroy, Guède statt Guesde, Liautey statt 
Lyautey, Leibnitz statt Leibniz, Childiz-Kiosk statt Jildiz-Kiosk, Lord Crue statt 
Crewe, Ernest Renand statt Renan, Admiral Bitty statt geek 

Campenhausen hält den Attorney General für einen Offizier, spricht von 
einem Vermögen der „big five“, das „einige Milliarden“ beträgt. (Pfunde? Oder 
was sonst?), beklagt die Unkenntnis in „transsylvanıschen“ en) An- 
gelegenheiten, rühmt „vereidigte Politiker“ (des politiciens assermentés), schreibt 
den Titel von Huysmans Roman „Arebourg“. 

Stilblüten: „Die offiziellen Berichte taten nichts wie abschwächen.“ „Nur 
Clemenceau, nachdem er die Berichte zur Kenntnis genommen, fand nichts.“ 
„Bucharins Vorstellungen gingen hinsichtlich ihrer Tiefgründlichkeit mit den- 
jenigen der zionistischen Philosophie nicht auseinander“, „drei Kandidaten in der 


366 


(statt „für die“) Rolle Alexanders“, „Der Chef der deutschen Abteilung sollte sich 
gedanklich voll und ganz in den Oberkommandierenden der feindlichen Armee 
umstellen“. „Der Schuß Conradis kann nicht anders als eine sinnlose Tat be- 
zeichnet werden.“ 

Ich glaube, nach den getanen Proben kann man des Frh. v. Campenhausen 
Übertragung auch nur als eine sinnlose Tat bezeichnen. Deren Wiederholung, 
das heift Verdeutschen fremder po aoet Literatur durch einen Mann, dem 
französische Politiker wie Deschanel, Tardieu, englishe Größen wie Beatty, Isaacs, 
Crewe und französishe Schriftsteller wie Renan, Mirbeau, Maurois spanische 
Dörfer sind, müßte fortzeugend Böses nur gebären. Und Aldanovs Buch ist doch 
wahrlich, wir wiederholen es, ein gutes Werk, dem viele nachfolgen mögen. 

Vien. Dr. Otto Forst- Battaglia. 


Wsewolod Iwanov: „Der Buchstabe G“. — Berlin, Malik- 
Verlag 1930. 8°. 435 Seiten. 

Weralnber: Der Platz an der Sonne. — Ebenda. 8°. 268 Seiten. 

P. N. Krasnow: Der weiße Kittel. — Stuttgart, Union Deutsche 
Verlagsgesellschaft. 1930. 8°. 349 Seiten. 


Anatolıj Mariengof: Zyniker. — Berlin, S. Fischer. 1930. 
8. 173 Seiten. 


Die Hochflut von Übersetzungen aus dem Russischen wird langsam, aber 
sicher zur Katastrophe. Neun Zehntel der dem deutschen Leser dargebotenen 
russischen Werke hätten ohne Schaden für die Weltliteratur im bescheideneren 
Bereich ihrer ursprünglichen Sprache verbleiben können. Trotzdem regnet es noch 
immer, aus politischen, keineswegs aus künstlerischen, nicht einmal aus rein ge- 
schäftlichen Motiven, russische Romane. Die Bolschewiken gehen mit dem bösen 
Beispiel voran und die Weißen bemühen sich, so gut oder schlecht es eben geht, 
die Todfeinde nachzuahmen. Und die deutschen Verleger werden zu Mitschuldigen 
an dieser neuen Russen-Invasion. 


Vor kurzem erst habe ich ein übles Erzeugnis der „Weißen“ angeprangert, 
das auf ritselhaftem Wege in einen der ersten katholischen Verlage geraten ist. 
Der Roman des Generals Krasnow verdient noch schärfere Ablehnung als 
Sacharows „Nina Grigorewna“. War jenes Buch bloß ein unbeholfen-naives, aber 
in seinen Absichten reines Konglomerat aus von literarischen Herrschaften abge- 

Stoffen, so haben wir im „Weißen Kittel“ einen grobgezimmerten, jeder 
ethischen oder künstlerischen Rechtfertigung entbehrenden Sensationsschmöker, 
fürwahr den Komparativ eines Sensationsschmoks, vor uns. Peinlich berührt uns 
die verlogene Lüsternheit des so fromm und penoa tuenden Autors, der die 
Laster der Bolschewiken mit behaglichster Austührlichkeit schildert: natürlich nur, 
damit wir uns dariiber entriisten, beileibe nicht, um das Publikum anzulocken. 
Die Fabel des Buchs, das in der Manier des seligen, unseligen „Seestern“ die 
glorreiche Zukunft der russischen Gegenrevolution, den Sieg des zarentreuen 
„Weißen Kittel“ schildert, ist abscheuliche Kolportage. Über das Deutsch dcs 

bersetzers werden wir auch dadurch nicht getröstet, daß offenbar schon der 
Verfasser des Originals, wie aus den paar der Eleganz und des Lokalkolorits halber 
eingestreuten Brocken hervorgeht, miserabel französisch (,,Suretée Generale“) und 
polnisch („Prosce, pane“) kann. 


Auf dem Weg vom Zarenadler zur noch flatternden roten Fahne begegnen 
wir dem Zyniker, dem resignierten Skeptiker Mariengof. Seine Geschichte 
ciner bürgerlichen Ehe im proletarischen Rußland steht literarisch unvergleichlich 
höher als das Machwerk Krasnows. Dennoch ist auch hier das Klischee stärker als 
die von ihm verdeckten Bilder aus trauriger Wirklichkeit. Olga: cine neue Nora, 
die den Tod der Hedda Gabler stirbt: die Heldin der Tragikomödie. Ihr Gatte, 
ihre Liebhaber, erscheinen als Episodenfiguren, um die Stufen alt- und ncu- 
bourgeoiser Erotik zu verkörpern, der Erotik, die sich sonderbar als Uberbleibsel 
aus dem Ancien-Régime inmitten der revolutionären Stimmung ausnimmt. 
Während die Waffen des Klassenkampfes sprechen, schweigen nicht nur die Musen, 


367 


sondern auch Eros und Psyche und nur das wollüstige Grunzen des Sexus mag 
in den Pausen zwischen Gewehrsalven und Agitationsreden sich hören lassen. Um 
diesen Gegensatz von Liebe und Leben darzustellen, mangelt es dem Buche von 
Mariengof sowohl an der entschiedenen Parteinahme für die Revolution als an 
der für das Eros. Sein hämischer Zynismus vermag uns auch nicht den echten 
objektiven Realismus zu ersetzen. Es bleibt nach der Lektüre dieses anardhischen 
Exzentrikfilms ein schaler Geschmack, der sich alsbald verflüchtigt und dem be- 
freienden Nichterinnern weicht. Auch hier war die Übertragung unnötig. 


Wera Inbers zum großen Teil autobiographischer Roman „Der Platz 
an der Sonne“ entschädigt uns für manche Schwächen in der Komposition. Da 
Ende, ein vom Leben ersonnenes für bolschewikische Begritte happy end, ist kein 
rechter Abschluß. Wozu wir mit einer Figur aus manns Metternich" be- 
merken wollen: „Lieber gar kein Ende, als ein Ende, das gar kein Ende ist“.) 
Durch die Frische und Urspriinglichkeit, durch die Anmut und kluge Resignation, 
mit der die Wechselfälle eines vom Umsturz aus den vorgezeichneten Bahnen ge- 
schleuderten Damendaseins geschildert werden. Im übrigen sind es wieder die 
bekannten Dinge: der Zusammenbruch, das Abblättern der Bürgerlichkeit, der 
Kampf mit Hunger und Klassenfeindschaft, von denen uns schon so viele Uber. 
läufer aus Not oder freiwilliger Gesinnung, von denen uns hunderte von Russen 
auf mehr oder weniger fesselnde Weise erzählt haben. Wie sehr doch diese Bücher 
des Erinnerns einander ähneln. Bei so verschiedenen Autoren, wie bei Mariengof 
und Inber, kehren z. B. zwei Motive wieder, die Feuerung mit den Resten der 
Bibliothek und die Gewohnheit der Bolschewiken, inmitten der ärgsten Kalamitäten 
sich um Denkmäler für die Heroen des Umsturzes zu sorgen. Ein anderes Motiv 
ist ein ewig-Russisches. Es kribbelt und krabbelt und erfüllt den Realismus mit 
fast symbolischer, „beißender‘ Satire: die Laus. Ein viertes: das Verlangen der 
neuen Männer nach den alten Damen, natürlich sofern diese jung sind... Doch bei 
Wera Inber ist zum Glück jenseits des Typischen noch genug Persönliches sichtbar. 
Ihr Roman, und mit ihm alle ihre Werke, atmet dazu eine von keiner revolutio- 
nären Sturmflut hinweggespülte literarische Kultur. Wir können ihn als einen 
willkommenen Gast im deutschen Schrifttum begrüßen, ohne ihn als einen not- 
wendigen zu betrachten. 


Am günstigsten wird unser Urteil über Wsewolod Iwanow lauten. 
Der gehört wirklich in die Weltliteratur und an einen der ersten Plätze. Vielleicht 
haben wir in ihm neben Babel und Pilniak das größte narrative Talent des neuen 
Rußland zu erblicken. Ich weiß nicht, wie es um die bolschewikische Recht- 
gläubigkeit des Dichters bestellt ist, wage an ihr zu zweifeln; jedenfalls hat sie bei 
der künstlerischen Würdigung seines nur zufällig mit der Revolution verknüpften 
Werkes nichts zu bedeuten. Iwanow ist zweierlei: ein großer Lyriker der exoti- 
schen Landschaft und ein hinreißender Epiker des Kampfes. Tierische Wildheit 
des Asiaten und träumende Schwermut des Slaven vereinigen sich zu einer macht- 
vollen Individualität, die jede kollektivistische Kette sprengt. Wir haben die 
Mischung konträrer Eigenschaften in Iwanow wohl aus seiner Herkunft zu er- 
klären. Sein väterlicher Großvater war der zaristische Generalgouverneur von 
Turkestan Kaufmann (deutscher Abstammung), seine beiden Großmütter hatten 
russisches und kirgisisches Blut, der mütterliche Großvater war ein polnischer Ver- 
bannter adeliger Familie. Romantisch und grauenhaft verlief die Jugend des 
Knaben. Im russischen Asien, nahe der chinesischen Grenze. Sein Vater 
von des Bruders Hand. Iwanow eg vie Jahre als Artist die Welt, stürzte 
sich in den Strudel der Revolution und begann hernach, wie Panait Istrati, 
mit ungleich größerer Vehemenz, die Eindrücke seiner Wanderschaft zu erzählen. 
Im „Buchstaben G“ finden wir die schauerlihe Kindheit und die Ermordung des 
alten Iwanow geschildert. Dann Novellen aus Mittglasien unter dem Gluthauch 
der Revolution. Zwei davon sind hohe Meisterwerke. Die „Ehrenschuld“, in 
denen das Pathos der Kämpfer um ein neues Ideal den Gipfel erreicht, und die 
„Rückehr des Buddha“, in den Dimensionen fast schon allein einen Band füllend, 
mit deutlicher Abkehr von der Unrast und Bewegtheit, der die von Stiirmen un- 
erschütterte Ewigkeit, symbolisiert in der Statue des aus Moskau heimgebrackten 
Buddha, gegeniibertritt. Am schwächsten aber ist die Titelgeschichte vom „Buch- 


368 


staben G“, die aus schwer reiflichen und nur aus politischer Absicht if- 
baren Gründen in die Auswahl aufgenommen wurde, eine moralische-unmoralische 
Propagandaangelegenheit aus und fürs rote Kriegs-Pressequartier. Wenigstens das 
hätte man dem reichen Sammelband ersparen Können, daß er nach dieser Un- 


beträchtlichkeit den Namen führe. 
ien. Otto Forst- Battaglia. 


Ettore Lo Gatto: Storia della letteratura russa. — Vol. 1 „Dalle 
origini a tutto il secolo XVI“. Vol. 2 „Le origini della lette- 
ratura moderna“. Vol. 3 „La letteratura moderna“. 1. — Roma, 


Istituto per I Europa Orientale. 1928—29. (Publicazioni. Serie 1, 

14, 1—8.) &. 

Zehn Jahre nach der Gründung des römischen Instituto per l'Europa 
Orientale, dessen überraschend schnelle Aufwärtsbewegung Schritt gehalten hat mit 
dem Aufblühen der Slavistik in Italien, erscheint als Veröffentlichung dieses 
Instituts eine vielbändige Geschichte der russischen Literatur, welche alle Ver- 
EE gleiher Art in den westeuropäischen Ländern, in denen die 
Slavistik bald Hundertjahrfeiern begehen kann, in Schatten stellt. Ihr Verf., der 
Slavist der Universitäten Rom und Neapel, hat, von 1921 an, neben umfänglichen 
und wertvollen Aufsätzen in den periodischen Veröffentlichungen des Institutes, 
mit erstaunlicher Vielseitigkeit auch in Buchform aus Literatur- und Geistcs- 
geschichte Rußlands Studien veröffentlicht. Das vorliegende Werk würde 
vielleicht, wenn ihm auch die außerordentliche Reichhaltigkeit seines Inhalts stets 
eine Vorzugsstellung sichern müßte, nicht in dem Maße fesselnd und anziehend 
wirken, wie es tatsächlich wirkt, wenn nicht das warme persönliche Verhältnis 
seines Verf. zu dem Gegenstand sich im Laufe der Darstellung auf Schritt und 
Tritt fühlbar machte. Die feine Einfühlung in die Sache selbst, vereint mit dem 
echt italienischen brio des Vortrags, gestalten die Lektüre dieses Werkes zu einem 
asthetischen Genuß, ohne daß dabei sein Zweck, Wissen in weite Kreise zu tragen, 
den Verf. zu Konzessionen an den Geschmack des fachlich nicht Eingeweihten ver- 
leitet und den vissenschaftlichen Vert herabgedrückt hätte. 


Lo G. teilt den Stoff derart ein, daß die gesamte russische Literatur sich in 
2 Hauptperioden gliedert, eine alte und eine neue, die moskovitische Periode also 
ihrerseits in 2 Perioden auseinanderfällt: die Zeit von der Gründung des moskoviti- 
schen Staates bis zum Briefwechsel Ivans IV. mit Fürst Kurbskij und das 17. Jahrh., 
das Lo Gatto, als bereits von europäisierenden Strömungen ergriffen und erfüllt, 
mit zur neueren Literatur rechnet. Diese Einteilung wird vielleicht vielfach auf 
Ablehnung stoßen, in der Art aber, wie Verf. den ganzen geistigen Verlauf 
schildert, erscheint sie ganz natürlich, um so mehr, als er in der ältesten Zeit auf 
die geographische Ausbreitung vom Süden zum Norden als trennendes Element 
kein großes Gewicht legt, und auch hier schon den Hauptwert auf das Gemeinsame 
legt. Er geht auf diese Weise einer Behandlung der ja noch ganz im Fluß be- 
griffenen ultraukrainischen Frage aus dem Wege und nügt sich mit ihrer Er- 
wähnung. Wie aus der obigen 1 ersichtlich, ist das Werk noch nicht abge- 
schlossen, die moderne Literatur (Bd. 3, 1) ist erst bis zu Puškin einschließlich ge- 
führt, und ein weiterer Band soll den Abschluß bringen. Da diesem Band, der die 
gesamte Literatur bis zum Anbruch der Sovetherrschaft enthalten müßte, auch noch 
ein Gesamtverzeichnis der einschlägigen Literatur und ein Namensverzeichnis bei- 
gegeben werden soll, werden wohl noch mehrere Bande die Fortsetzung bilden. In 
einem kurzen Vorwort legt Lo Gatto die Gründe dafür dar, warum er der älteren 
und mittleren Literaturperiode einen so breiten Raum zugewiesen hat, die älteste 
Epoche bis zum Igorlied umfaßt 210 S., die folgende bis zum Briefwechsel Ivan IV. 
mit Fürst Kurbskij weitere 77 S. In Italien fehlt es zurzeit noch an irgend- 
einer Darstellung des geistigen Lebens im alten Rußland, bei der Vichtigkeit dieser 
periode für die gesamte spätere Entwicklung, namentlich in Hinsicht auf die miind- 
liche Überlieferung des alten Sagenschatzes, durfte deshalb die vorliegende Lite- 
raturgeschichte die älteste Zeit nicht so flüchtig behandeln, wie das z. B. bei 


Brückner der Fall ist. G. bemängelt das, er hebt aber besonders hervor, daß 


869 


Deutschland hinsichtlich guter und gediegener Literatur über das geistige Rußland 
in alter und neuer Zeit eine Vorzugsstellung den anderen westeuropäi 
Ländern gegenüber einnimmt. 


Bei Darstellung der ältesten Periode holt Lo G. sehr weit aus, streift die F 
nach dem Urslavischen, gibt eine kurze Charakteristik des urgeschichtlichen R 
land an der Hand von Niederle und Speranskij und wendet im weiteren der münd- 
lichen Überlieferung große Aufmerksamkeit zu, dem eigentlichen i 
Schaffen im Volke, das zum Erhalter vieler heidnischer Traditionen in 
Zeit wurde. 

Das Hauptinteresse fällt hierbei dem Volksepos zu. Lo G. behandelt die 
einzelnen Phasen der Bylinenforschung und gibt von den Bylinen selbst und ihren 
Helden ein sehr gutes Bild. Wenig ist gesagt über ihre Entdeckung durch Rybnikov, 
über Art ihres Vortrags und die Bylinensänger; auch die Frage nach den näheren 
Umständen ihrer Wanderung nach dem hohen Norden tritt zurück. Ein be- 
sonderes Kapitel ist der Gestalt des Ilja Muromec gewidmet. Es ist zu bedauern, 
daß gelegentlich der un der späteren Volksdichtungen historischen Inhalts 
nicht auch der in der klei Tradition erhalten gebliebenen koljadki (aus 
der Sammlung von Antonovič und Dragomanov) Erwähnung geschehen ist, in 
denen die Erinnerungen an die ältesten geschichtlichen Zustände aus der Kiever 
Zeit fortleben. Ganz unberücksichtigt geblieben ist auch ein Eingehen auf die 
musikalische Seite des Volksgesanges, sowohl im Epos wie in der Lyrik; aber bei 
der Fülle des Gebotenen wäre es ungerecht, dem Verf. aus solchen Lücken einen 
Vorwurf machen zu wollen. 


Bei Behandlung der mündlich überlieferten Literatur beruft sih Lo G. 
zumeist auf Speranskij, in der ältesten schriftlich erhalten gebliebenen auf Istrin 
und dessen tiefgründige Forschungen auf diesem Gebiet. Die einzelnen Denkmäler 
sind eingehend besprochen und aus den prägnantesten unter ihnen größere Stellen 
in Übersetzung ge Kar Wie eingehend sich Verf. mit dem Originaltext des 
Igorliedes, dem hier alleın 18 S. gewidmet sind, beschäftigt haben muß, geht aus 
der Gegenüberstellung von Lesungen Millers und Abichts hervor, zu denen er die 
eigene von ihnen abweichende stellt. Bei der Einschätzung der Tatarenzeit in ihrer 
Auswirkung auf den russ. Volkscharakter schließt sich Lo G. der von Nötzel aus- 
gesprochenen Anschauung an. Immer wieder wird ersichtlich, wie gut orientiert 
Lo G. in der deutschen slavistischen Literatur ist, auch aus neuester Zeit, nur selten 
vermißt man die eine oder andere Veröffentlichung in den Literaturangaben, so 
z. B. bei Besprechung der russ. Märchen und ihrer rsetzungen, die von Loewis 
of Menar r Stähling, Übersetzung des Briefwechsels Ivans IV. mit Kurbskij. 


Lo G. hatte den ersten Band mit dem zutreffenden Bilde geschlossen, daß 
das ganze 17. Jh., zu dem er nun übergeht, nichts anderes gewesen sei als eine 
Aufeinanderfolge von Konzessionen an die Windstöße aus dem Westen, die immer 
stärker werden sollten, um schließlich unter der Regierung Peters d. Gr. zum 

turme zu werden. In diesem Sinne rollt das Bild des 17. Jahrhs. mit seinen west- 
réit me Einflüssen auf die Unterhaltungsliteratur, auf das geistliche Schauspiel, 
die kirchlichen Spaltungen, das weltliche Theater, auf das Erwachen des Sinnes 
für den Realismus und das Zurücktreten des Moralisch-Didaktischen an dem Leser 
vorüber, voll Leben und Anschaulichkeit. Die Zeit Peters d. Gr. und seiner 
Reformen gibt Lo G. Anlaß zu Bemerkungen über das Andauern des Für und 
Wider in der Einschätzung dieser Zeit in der Nachwelt und in den eurasistischen 
Strömungen der Gegenwart, welche im Brennpunkt der Interessen des Verf. stehen. 
Die der Moderne sich nähernde Zeit mit ihren individuellen literarischen 
Schöpfungen bringt eingehendste Studien der einzelnen Persönlichkeiten, wobei 
Lo G., der Übersichtlichkeit wegen, das rein Biographische in Anmerkungen ver- 
weist, um im Text immer wieder, ungestört durch eine zu breite Ausgestaltung 
dieses Persönlichen, den geistigen Bewegungen im großen und ganzen gerecht 
werden zu können. Nur bei Puškin wird das Lebensbild zum selbständigen 
Kapitel, dem die einzelnen Lebensphasen im Zusammenhang mit dem dichterischen 
Schaffen dargestellt, folgen. Der bibliographische Anhang für Puškin umfaßt allein 
8 S., denn auch hier, wie bei voraufgegangenen bibliographischen Notizen zu den 
früheren Dichtern oder Denkern, sind Übersetzungen ihrer Werke in fremde 


370 


Sprachen mit beriicksichtigt. Politisch vorurteilslos beurteilt Lo G. die Dekabristen- 
zeit, mit ungetrübtem Urteil sucht er aber auch den späteren Puäkin zu verstehen. 
Dieser rein — menschliche Zug spricht auch aus der Darstellung gleich welcher 
Kultureinflüsse aus dem Westen auf das geistige Rußland und verleiht dem ganzen 
Werk, im Gegensatz zu der Einseitigkeit so vieler in Sovetru8land oder in den 
anderen Ententeländern geschriebener Bücher über Literatur, Kunst oder Musik 
Rußlands eine sehr sympathische Note. Möchte diese groß angelegte Geschichte 
der russischen Literatur bald einen glücklichen Abschluß finden. 
Breslau. Emmy Haertel. 


Giovanni Maver: „Meditazione“ di Lermontov. — Roma, 
Istituto per l’Europa Orientale. 1929. 25 S. 8. (Piccola 
Biblioteca slava. 6.) 7 
M. versucht es, die .komplizierten Gedankengänge der 1888 geschriebenen 

„Duma“ zu entwirren und kommt dabei zu einem wesentlich anderen Schluß als 

Kotljarevskij. Ihn interessiert, mehr als die Frage, wieweit Lermontov zu dem 

vernichtenden Urteil über seine Zeitgenossen durch den ersten der philosophischen 

Briefe Caadevs angeregt worden sein kann, das Auftreten ähnlicher ankengänge 

in anderen Schriften Lermontovs, und zwar geht M. hierbei ganz methodisch vor, 

unter 5 der einzelnen Gedanken und poetischen Bilder der „Duma“. 

So untersucht er die Vechselbeziehungen zwischen Individuellem und Kollektivem, 

das was Lermontov selbst eigen war und was er in der Gesellschaft seiner Zeit 

und Umgebung beobachten konnte; ferner die Metapher von der frühreifen Frucht, 
die M. in einem Briefe und einer anderen Dichtung Lermontovs wiederfindet. 

Nebenbei und in einer Anmerkung untergebracht ist die Beobachtung, daß es sich 

bei den vielen Autoplagiaten Lermontovs überhaupt immer nur um das Auf- 

treten ein und desselben Bildes in vom Verf. veröffentlichten oder unveröffent- 
licht gelassenen Dichtungen handelt, nie aber um bloße Nachahmung. Ein inter- 
essantes Streiflicht auf die Art, wie L. die einzelnen poetischen Eingebungen auf- 
zeichnete und später verwertete, wird durch eine von M. zitierte Stelle aus einem 
wenig bekannten Memoirenwerk (J. G. Oksman, aterina Suskova“ 1928) er- 
tichtlich. Auch zu der Frage was die Anspielung Lermontovs auf die Vorfahren 
in „Duma“ zu bedeuten habe, steuert M. neues kritisches Material bei. Ein Ober- 
blick über die bisherigen kritischen Stimmen, in chronologischer Reihenfolge, zeigt, 
wie ungleich, je nach der Zeit der Niederschrift, die Urteile der russischen Kritiker 
über Lermontovs Auffassung vom Unwert der russischen Gesellschaft seiner 

Zeit waren. 

Breslau. Emmy Haertel. 


Anton Navina (Anton Luckevit): „Adbitae zyz’ze“. Vorträge und 
Abhandlungen über die weißrussische Renaissanceliteratur. Bd. 1. 


Verlag: Belaruskaje vydavetzkaje tavarystvo. Vilna. 1929. 

145 8. 

Der erste Band der literaturkritischen Studien des Verf. enthält 14 Abhand- 
lungen. Verf. erklärt, daß bei der Herausgabe des ersten Bandes semer Abhand- 
lungen er sich von keinem Plan leiten ließ: vielmehr fanden in dem ersten Band 
jene Abhandlungen Aufnahme, die gerade unter der Hand waren. 

Der 1. Band der literaturkritischen Abhandlungen des Verf. enthält zwei 
allgemein-theoretische Beiträge: „Das Wesen der Literatur und deren gesellschaft- 
liche Bedeutung“ und „Die Evolution der weißrussischen Renaissanceideologie und 
deren Wiederspiegelung in der Literatur“. Die übrigen Beiträge sind dem Schaffen 
der einzelnen weißrussischen Dichter (Ljavicki, Jakob Kolas, Janko Kupala, Maxim 
Bogdanovič, Natalija Arsen’eva) gewidmet und den Lesern der Jahrbücher z. T. 
bereits aus der Zeitschriftenschau (Band IV Heft III, Band V Heft D bekannt. 

Vier weitere Abhandlungen haben einen allgemeineren Charakter: „Die 
Rebellion gegen Gott“ (Motive des Gotteskampfes in der weißrussichen Lite- 
ratur), „Der Widerhall des Veltkrieges in der weißrussischen Literatur“, „Vilna 
in der weißrussischen Literatur“ und „Die Judenfrage in unserer Literatur“. Ein 
Artikel „Auf neuen Wegen“ behandelt die jüngste weißrussische Lyrik (Dubouk, 
M. Carota und Ulads. Zylka). 


371 


Freilich muß man hinzufügen, daß sich dies mehr auf die 5 
denn auf die Gegenwart der weißrussischen Literatur bezieht. In den letzten 
zehn Jahren ist Verf. durch den Gang der politischen Entwicklung, die zwischen 
Wilna, wo er seinen ständigen Wohnsitz hat, und Minsk, dem neuen Zentrum 
weißrussischen geistigen Lebens, eine sehr fühlbare Grenze aufgerichtet hat, der 
persönlichen Fühlungnahme mit den maßgebenden weißrussischen Dichtern beraubt 
worden. Das ist natürlich nicht seine Schuld, sondern sein Unglück, doch macht 
sich dieser Tatbestand insofern unangenehm bemerkbar, als Verf. in seinem 
Sammelwerk viel Publikationen, die jenseits der Grenze erschienen sind, über- 
sieht und bei manchen Irrtümern verharrt, die durch die spätere Forschung 
jenseits der Grenze längst berichtigt sind. 

Ich verweise an dieser Stelle auf die falschen biographischen Angaben über 
den weißrussischen Novellisten Ljavicki, die durch Prof. Pjatuchovič in „Zapiski 
adds. guman. navuk“, Bd. 2, 1928 korrigiert worden sind, was vom Verf. un- 
beachtet geblieben ist. 

Einen weiteren Mangel der literaturkritischen Abhandlungen des Verf. bildet 
ein gewisser „nationaler Provinzialismus“: alle seine Vergleiche entnimmt er der 
weißrussischen Literatur und geht auf die Zusammenhänge mit den Literaturen 
anderer Völker fast nie ein. Die weißrussische Literatur betritt gegenwärtig das 
weite Feld des internationalen literarischen Austausches, sie tritt in den Gesichts- 
kreis anderer Völker. Daher müßte auch die weißrussische Literaturkritik bei der 
Erörterung der Werke der weißrussischen schönen Literatur sich mehr von 
allgemein-menschlichen Gesichtspunkten leiten lassen und die Zusammenhänge mit 
der Entwicklung der Weltliteratur beachten. 

Die Tatsache, daß das vorliegende Buch als Leitfaden für die studierende 
weißrussische Jugend dienen soli, dürfte wohl kaum als Entschuldigung dienen, 
denn, obwohl es den Grundsätzen der Pädagogik entspricht, vom Bekannten zum 
Unbekannten weiter fortzuschreiten, muß man dennoch die Jugend lehren, sich 
im Weltgeschehen und nicht nur in vaterländischen Dingen zu orientieren, da man 
sie sonst der schlimmsten Krankheit unserer Zeit — dem „nationalen Provin- 
zialismus“ in die Arme führt, der auch der weißrussischen Jugend nicht un- 
bekannt ist 

Alle diese Mängel entwerten indessen keineswegs das vorliegende Sammel- 
werk, das nicht nur den Weißrussen, sondern auch dem Auslande manches zu 
bieten hat. Verf. zieht in seinen Abhandlungen die historisch-soziologische 
Methode der Würdigung nach den Gesichtspunkten poetischer Schönheit vor. Es 
sind vor allem die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Leben, die ihn 
interessieren und auf die er eingeht. Die künstlerischen Formen interessieren ihn 
wenig. Der Hauptheld seiner Darstellung und seiner Würdigung ist und bleibt 
das zum nationalen Bewußtsein erwachende weißrussische Volk. 

In den weißrussischen Dichtern sucht und sieht er vor allem die Träger der 
Idee der nationalen Renaissance, die Künder der kollektiven Volksseele, die den 
Weg „Vom Dunkel zum Licht, von der Knechtschaft zur Freiheit und zum 
Glük“ sucht. 

Dieser publizistische Charakter der literaturkritischen Abhandlungen des 
Verf. gehört zu den Eigentümlichkeiten seines literarischen Schaffens. 

Die gute Kenntnis des Gegenstandes der Darstellung vereinigt mit der Liebe 
zum Gegenstand, die Exaktheit und Abgeklärtheit des Urteils, die Einfachheit und 
Klarheit der präzisen Sprache — dies alles macht das Buch des Verf. zu einem 
wertvollen Beitrag zur weißrussischen Literaturkritik. 


Wilna. Vladimir Samojlo. 


372 


Anton Luckevit: „Za dvadzat’ P etc (1908—1928). Wilna. 
Verlag: Belaruskaje Vydavetzkaje Tavarystvo. 1928. 
Verf. ist bekanntlich eine der führenden Persönlichkeiten der weißrussischen 


nationalen Renaissancebewegung. Dieses Memoirenwerk des bekannten weiß- 
russischen politishen Führers ist unter recht eigenartigen Bedingungen ent- 
standen: er schrieb es als Untersuchungsgefangener und Angeklagter im Prozeß 
der weißrussischen Arbeiter- und 8 im Gefängnis. Im Vorwort zu 
diesem eigenartigen Memoiren werk erklärt Verf., daß er damit das 25 jährige 
Jubiläum der weißrussischen revolutionären Gramada, zu deren Mitbegründern 
er gehörte, verzeichnen wollte. Er schrieb seine Memoiren ohne jegliche schrift- 
liche oder gedruckte Unterlagen, lediglich auf Grund seiner persönlichen Erinne- 
rungen. Verf. gibt selbst zu, daß sein Gedächtnis die Ereignisse dieser 25 Jahre 
(1908/28) keineswegs ideel behalten hat. Das Buch enthält freilich Hinweise auf 
Dokumente, Zeitungsartikel, Parteitagsbeschliisse, Photographien führender poli- 
tischer Persönlichkeiten u. a. m. Dies alles deutet darauf hin, daß Verf. nach 
dem Verlassen des Gefängnisses an dem ursprünglichen Manuskript auf Grund 
objektiver Materialien manche Korrektur resp. Ergänzung vorgenommen hat. 
Allerdings wird nur eine genaue Sichtung des vorliegenden Materials und ein Ver- 
gleich mit anderen Quellen die Feststellung ermöglichen, wo es sich bei den Aus- 

ngen des Verf. um wirkliche Tatsachen oder nur um persönliche Annahmen 
handelt. Es ist ja auch ohne weiteres verständlih, daß ein aktiver Teil- 
nehmer der Ereignisse der letzten 25 Jahre bei deren Schilderung zu einem ge- 
wissen Egozentrismus nei 

Auf Grund persönlicher Erinnerungen kann ich jedenfalls bezeugen, daß 
Verf. zu einer Übertreibung des Umfanges und des Einflusses der weißrussischen 
revolutionären Bewegung in der Vergangenheit neigt und die Rolle einzelner 
führender Persönlichkeiten dieser Bewegung nach höchst subjektiven Gesichts- 
punkten herabsetzt resp. übertreibt. 

An zolchen unkritischen Auslassungen eines temperamentvollen Publizisten 
sind die Memoiren von Luckeviè reich genug. Auch die chronologischen Angaben 
des Verf. sind nicht immer zuverlässig. Von allen diesen Mängeln abgesehen 
bieten indessen die Memoiren des bekannten Politikers auch reichlich inter- 
essantes Material. Verf. erblickt die Wurzeln der revolutionären Bestrebungen 
in Weißrußland einerseits in den polnisch- weißrussischen Auf; tandsbewegungen, 
N in den revolutionär- föderalistischen Organisationen russischer Intellek- 
tueller. 

Mithin gelten als Vorläufer der weißrussischen revolutionären Organi- 
sationen: auf der einen Seite Kastus’ Kalinouski — der Führer des Aufstandes von 
1868 (?), der, wie Verf. behauptet, als erster das Problem der nationalen Wieder- 
geburt und Unabhängigkeit Litauens und Weißrußlands (des Großfürstentums 
Litauens) aufrollte (getrennt von der Aufgabe der Wiederherstellung Polens?); auf 
der anderen Seite eine Gruppe Weißrussen-Narodovol’zy, die bereits 1884 zwei 
Nummern der illegalen Zeitschrift „Gomon“ in russischer Sprache veröffentlichte, 
in der die theoretische Rechtfertigung der weißrussischen Eigenstaatlichkeit inner- 

der russischen Föderation gegeben wurde. Als Bindeglied zwischen diesen 
Bestrebungen kleiner Intellektuellengruppen und der späteren Volksbewegung des 
20 ten Jahrh. erscheinen die weißrussischen Studentenzirkel, in denen die revolu- 
tionären Traditionen der Vergangenheit gewahrt wurden. 


Ein Zirkel dieser Art bestand z. B. 1890 an der Moskauer Universität, wo- 
bei ihm der große weißrussihe Novellist Ljavicki angehörte. Erst 1908 ent- 
steht die erste selbständige weißrussische politische Organisation — „Belaruskaja 
revaljucyjnaja gramada“. 

Mit ihr beginnt die ununterbrochene politische Massenbewegung, die durch 
den Staatsakt vom 25. März 1918 zu der Grundsteinlegung der weißrussischen 
Eigenstaatlichkeit innerhalb der Föderation der Sovetrepubliken führte — der 
Verwirklichung des Programms der Weißrussen-Narodovol’zy von 1884. 


Die „Belaruskaja revaljucyjnaja gramada“ wurde 1908 in Petersburg ge- 
gründet. Den Kern der Vereinigung bildeten laut Verf. die beiden Brüder 
Luckevité (Anton und Ivan), damals Studenten der Universität Petersburg, Vaclav 


873 


Ivanouski (Student der Technischen Hochschule) und eine Reihe weiterer Persön- 
rschiedenen Gründen nicht erwähnt. In Minsk 


Das ursprüngliche P der Partei ist nicht erhalten. Das P 
enthielt die Forderung . Rußlands auf den Grundlagen der Auto 
nomie und Föderation, nationale Freiheit für alle Rußland bevölkernden Nationen, 

ndere nationale Schulen für die Weißrussen. Das Programm wandte sich 
gegen den Absolutismus und forderte eine demokratische Verfassung, Land für 
die Bauern, Fabriken für die Arbeiter (?) u. a. m. 

1006 ‘nach der Rechen der” Program In vBelaruskaja — 
von n r Revision in ja ja 

“ umbenannt wurde, zugleich erfo eine deutliche Umorientierung der 
artei von den Sozial-Revolutioniren zu den Sozial-Demokraten hin. 

Interessant sind die Angaben des Verf. über das Verhältnis der Partei zu 
anderen revolutionären Parteien Rußlands, sowie die Schilderung ihrer Stellung 
zum Terror. Man erfährt daraus, daß z. B. die Idee der Ermordung des be- 
kannten Gouverneurs Kurlov, der am 17. Oktober 1905 in Minsk neben dem 
Wilnaer Bahnhof das Militär auf die unbewaffnete Menge Salven abgeben ließ, so 
populär war, daß selbst polnische Großgrundbesitzer (so Ljuban’ski aus Loschizy) 
sich mit Geldspenden an der Organisation des Attentats betsiligten: Das Buch 
enthält 28 Photographien der führenden Persönlichkeiten der Partei. 


Verf. bittet selbst, seine Memoiren lediglich als Material für den rc a 
Historiker der Geschichte der weißrussischen nationalen Wi urt zu 
trachten, jedoch als Material, das von einem „zuverlässigen Zeugen“ t 
worden ist. 

Vi Vladimir Sa mojlo. 


K. Nos ovsk a V. Pražák: Soupis československé literatury 
za léta 1901—1925. Sei 1—4. — Prag, Svaz knihkupciv a 
nakladatelü CSR 1929—30. | 
Die Bibliographie der tschechoslowakischen Literatur ließ bisher noch viele 

Wünsche unerfüllt, wenn auch zugegeben werden muß, daß sie manches hervor- 
ragende Werk, wie etwa Zibrts „Bibliografie české historie“ aufzuweisen hat. Für 
die Literatur des innenden 20. Jahrhunderts war man bisher im wesentlichen 
auf Schmitts „Příruční seznam české literatury“, Prag 1016, angewiesen. Seit 
das tschechische Volk seine Selbstständigkeit erlangt hat, ist auch auf diesem Ge- 
biet eine gesteigerte Tätigkeit zu beobachten. So gibt es jetzt ein Verzeichnis 
von Zeitschriften, die auf dem Gebiet der tschechoslowakischen Republik er- 
scheinen, ergänzt noch durch den 1929 veröffentlichten „Soupis 

periodik“, eine Bibliographie von ausländischen Zeitschriften, die sih in den 

tschechoslowakischen Bibliotheken vorfinden. Auch ein Verzeichnis der tchechi- 

schen Belletristik, soweit sie in der Prager Stadtbibliothek vorhanden ist, steht 
uns seit 1929 zur Verfügung. Für die laufende EE des tschechischen 

Schrifttums ist durch den seit 1922 erscheinenden „Bibliografický katalog“ gleich- 

falls gesorgt. Zudem soll eine zusammenfassende Bibliographie der Literatur des 

19. Jahrhunderts im Verlag des Ministeriums für Schulwesen und Volkskultur 

veröffentlicht werden, wodurch eine mens für den vorliegenden „Soupis 

československé literatury“, der sich auf erste Viertel des 20. Jahrhunderts 

beschränkt, geschaffen würde. Die letztgenannte Bibliographie soll das im 

gleichen Verlage erschienene Schmittsche Verzeichnis ersetzen, das abgesehen von 

der zeitlichen Beschränkung nur tschechische, nicht slowakische Werke nennt und 
auch tschechische Bücher nur dann anführt, wenn sie von Mitgliedern des Buch- 
händlerverbandes herausgegeben wurden. Diesen Mängeln will das vorliegende 

Verzeichnis abhelfen. Auf die slowakische Literatur, für die es eine wertvolle 

Ergänzung von Rizners „Bibliografie slovenské literatury” bedeutet, soll, wie im 

Vorwort hervorgehoben wird, diesmal ein besonderes Gewicht gelegt werden. Das 

Werk gliedert sich in drei Teile (gegenwärtig ist der erste im Erscheinen be- 

griffen), in welchen jeweils das gleiche Material 1. alphabetisch nach Verfessern 


374 


und Stichworten, 2. nach Schlagworten und 8. systematisch in 87 Abteilungen, 
denen die Dezimalklassifizierung zugrunde gelegt ist, zu finden sein wird. Sehr 
angenehm berührt es, daß neben selbständig erschienenen Werken auch die Samm- 
lungen mit sämtlichen Einzeltiteln angeführt sind. Die Titel sind nach Möglich- 
keit gekürzt, lassen aber trotzdem nichts, was irgendwie von Wichtigkeit ist, ver- 
missen. Die Frage der Type ist meines Erachtens sehr glücklich gelöst. Es ist 
vollkommen gelungen, bei äußerster Gedrängtheit Klarheit und Übersichtlichkeit 
zu erreichen. Das Werk ist zweifellos eine wichtige Neuerscheinung auf dem Ge- 
biete der tschechischen Bibliographie. 
Leipzig. Heinrich Jilek. 


Volf, Josef: Geschichte des Buchdrucks in Böhmen und Mähren 
bis 1848. Mit 41 Abbildungen. — Weimar, Straubing & Müller, 
1928. 262 S. 8°. 

Das vorliegende Buch ist die deutsche Obersetzung des Werkes: Déjiny 
českého knihtisku do roku 1848, das 1926 als Bd. 8 der Serie: 
Knihy o knihách in Prag bei A. Novák erschien und eine erweiterte Neu- 
auflage einer Arbeit darstellte, die 1925 anläßlich der Internationalen Ausstellung 
der dekorativen Künste in Paris erschienen war. Die Übersetzung ist verschiedent- 
lich eine Erweiterung und Neubearbeitung des Originals und — rgt von Fach- 
leuten — gut lesbar. Seiner großen Bedeutung entsprechend hat das vorzügliche 
Buch schon in zahlreichen Besprechungen Würdigung gefunden, und wir müssen 
Verlag und Verfasser dankbar sein, daß sie dieses zusammenfassende Werk über 
die Geschichte des Buchdrucks in Böhmen und Mähren dem deutschen Publikum 
in einer Übersetzung zugänglich gemacht haben, die dem Neuling dieses bisher 
shwer zuginglidie Gebiet erschließt und jedem Interessenten rasche Orientierung 
ermöglicht. 

Wie es sich bei dem durch seine zahlreichen Arbeiten über die böhmische 
Druckgeschichte im Časopis Národního Musea, Cesky Časopis 
Historicky, Bibliofil, in der Cesk 4 Revue und anderen Zeitschriften 
längst als Kenner bekannten Verfasser von selbst versteht, ist das Buch aus den 
EE gearbeitet. Eine Erweiterung des Nachworts der &echischen go ae gibt 
als Vorwort der Übersetzung Auskunft über Entstehung, Ziel und Stellung des 
Buches in der Fachliteratur. Es folgt darauf die Geschichte des Buchdrucks in 
Böhmen und Mähren, gefaßt als Geschichte der Druckereien in geographischer 
Gliederung und erläutert durch reichhaltiges und gutes Bildmaterial, wobei der 
Verf. nach einem Kapitel über die Wiegendruke in Böhmen, gesondert die 
Druckereien Prags, der böhmischen Provinzstädte und Mährens behandelt. Darauf 
folgt ein Kapitel über die Schriftgießkunst in Böhmen seit dem 17. Jahrh. und, 
wieder geographisch nach Böhmen, Mähren und Schlesien gegliedert, eine erläuternde 
Übersicht er Fachliteratur, in der leider bei selbständigen Büchern Seitenzahl und 
Verlagsangabe fehlen, und schließlich ein Namens- und Ortsverzeichnis. 

Was die Fachkritik an sachlichen Versehen auszustellen hatte — es war 
übrigens schr wenig: verschiedene Unstimmigkeiten in der Bestimmung alter Drucke 
und Obergehung eines Druckers — darauf hat Tobolko im Casopis &sl. Knihovnikü 
1927 und Crous im Zentralblatt für Bibliothekswesen Bd. 45 hingewiesen. Es wird 
das Buch darüber hinaus kaum noch wesentlich zu ergänzen oder zu berichtigen 
sein. Leider aber hat der Verf. sich aus Raummangel in der Darstellung schr ein- 
schränken müssen, so daß sie oft in einer manchmal erwas schablonenhaften Be- 
handlung der einzelnen Drucker verrinnt, ohne näher auf die wechselseitigen Ein- 
flüsse etwa der Geistesgeschichte, der Politik und der Druckgeschichte aufeinander 
einzugehen. Wer es etwa unternimmt, als Neuling auf dem Gebiet der Drucker- 
eschichte das Buch zu seiner Orientierung hintereinander durchzulesen, der wird 

im fünften oder sechsten Drucker das Gefühl haben, er hätte das alles schon in 
den vorigen Seiten gelesen. Auch macht es sich ohne Zweifel sehr fühlbar, daß 
die Behandlung der Geschichte des Druckverfahrens, der T orm usw. sehr 
stark gegenüber der Auswertung archivalischen Materials über die Drucker zurück- 
tritt, wie Tobolka schon gelegentlich der &echischen Ausgabe betont hat. Dafür 
aber weist das Buch dem Leser bei richtiger Benutzung der bibliographischen Über- 


875 


sicht den Weg zur langsamen Erarbeitung des ganzen Stoffgebietes, so wie es durch 
das umfangreiche Regıster und das darın verarbeitete vielseitige Material jedem 
die Möglichkeit guter und rascher Orientierung bietet. So ist das Werk Volfs 
trotz seiner sein wollenden Form eher ein fachwissenschaftliches Handbuch, 
das fortan Grundlage für alle Studien auf dem Gebiete der Sechischen Druck- 
geschichte bilden wird und in keiner größeren Bibliothek fehlen darf. 

Breslau. E. Koschmieder. 


Kukiel Marjan: an: historji wojskowości w Polsce. — Kra- 
ków 1929. Krakowska Spółka Wydawnicza. (Grundriß der 
Gester e Kriegsgeschichte.) III., vermehrte Ausgabe, S. VIII 
un 00. 

Die neue Ausgabe des kriegsgeschichtlichen Handbuches von Marjan Kukiel 
wurde stark vermehrt und den breiteren Kreisen des lesenden Publikums zugänglich 
gemacht, denn vorher war es nur für das Militär berechnet. Der Verfasser, der 
ein geschulter Historiker, nämlich ein Schüler des Lemberger Professors Simon 
Aszkenazy ist, und später als Offizier der polnischen Legionen und General in der 
polnischen Armee tätig war, vereinigt in einer Person die für den Kriegshistoriker 
nötigen Eigenschaften und konnte uns deshalb ein gutes Buch geben, das uns in 
beiden Hinsichten betreffend Kriegswesen und historische Methode befriedigt. 

Das Kriegswesen steht im Vordergrunde des Grundrisses. Die Kriegs- 
geschichte ist nur beispielsweise angeführt, mehrere Skizzen und Karten ergänzen 
und erläutern das eigentliche Material. Chronologisch wurde das Thema in vier 
Epochen geteilt. Die erste Epoche der herzoglichen Garde („drużyna“) und des 
Landsturms (, pospolite ruszenie“) reicht bis in das XVI. Jhdt. Die drei nächsten 
Jahrhunderte sind durch die Formation der Soldtruppen charakterisiert; erst am 
Anfang des XVIII. Den wurde eine ständige Armee gebildet. Der Aufstand 
Kolciuszkos ist eine rgangsepoche zum letzten Evolutionsstadium, d. h. zur 
Epoche des Nationalheeres, welche bis auf den heutigen Tag dauert. Diese Ein- 
teilung hat freilich keinen festen Rahmen, so wie dies in einem lebendigen Or- 
ganismus kaum möglich ist. 

Das Buch ist stilistisch vortrefflich geschrieben und wird deshalb von allen 
Historikern gerne gelesen und für sie von großem Interesse sein, denn der Autor 
versteht es ausgezeichnet, die Aufmerksamkeit des Lesers an das besprochene 
Thema zu fesseln. 

Lemberg. K. Tyszkowski. 


Dr. Charcwiczowa Luc ja: Dzieje miasta Zloczowa. (Ge- 
schichte der Stadt Złoczów.) — Złoczów, Wydawnictwo Pow. 


Towarzystwa Tur. Krajoznawczego 1929, 220 S. 8°. 

Die Geschichte des Städte wesens in Polen, begründet durch Professor Ptaſnik, 
erhält durch obiges Buch einen weiteren Ausbau, der um so wertvoller ist, als es 
zich um die Geschichte einer privaten Stadt handelt, deren Erforschung, insbe- 
sondere was den Osten betrifft, erst in letzter Zeit vor sich schreitet und bis 
nun in der historischen Literatur kaum gestreift wurde. 

oczów, schon am Anfang des XV. Jhdts. als Dorf bekannt, entwickelt sich 
bald zur Stadt empor, im Jahre 1528 wiederholt mit deutschem Recht ausgestattet, 
wird es Muster für die Anlage perce in ihrer Umgebung entstehenden Schwester- 
gemeinden. Gegründet auf staatlichem Boden, gelangt Złoczów noch in der ersten 
Hälfte des XV. Jhdts. im Versatzwege in Privathände, bis es im XIX. Jhdt., 
während der Auflösung der Großgrundherrschaft, aufgeht. Unter den zahlreichen 
Besitzern, die alle zu den mächtigen Magnatenfamilien gehörten, haben sich die 
Sobieskis die größten Verdienste um die Stadt erworben. 

Wenn die natürliche Lage, am Handelswege nach dem Osten, einesteils sehr 
günstig auf das wirtschaftliche Emporblühen, be ründet durch den Handel und 
die Jahrmärkte, cinwirkte, so war diese Lage andernteils auch wieder die Ursache 
seines Verfalls, den die Einfälle der östlichen Nachbarn im Laufe der Jahrhunderte 
heraufbeschworen haben. Die Sicherung seiner Befestigungen ise ständige Sorge 


376 


der Stadtverwaltung und der Besitzer. Während dieser zahlreichen Überfälle der 
Tataren, Kosaken und Türken, erwarb sich Zloczéw mit Recht den Namen eines 
Bollwerkes und wichtigen Vorpostens im Osten. Und darin.liegt neben der wirt- 
schaftlichen seine Bedeutung. 

Mit meisterhaften Zügen zeichnet uns die Verf. das bunte Bild des iancren 
Stadtlebens, in welchem der Einschlag des Ostens, die Tataren- und Armenier- 
gemeinde, nicht ohne Einfluß verblieben ist. 

Die Geschichte einer Stadt niederzuschreiben auf Grund so fragmentarisch er- 
haltenen Quellenmaterials, über das die Verf. nur verfügen konnte, ist ein Meiscer- 
werk: so muß die Geschichte der Stadt Złoczów, von diesem Punkte aus be- 
trachtet, angesehen werden. 

Die Illustrationen und vor allem der außerordentlich reihe Anhang mit 
seinen 88 in extenso wiedergegebenen Urkunden und Dokumenten vergrößert den 
Vert des Buches und bietet jedem Städteforscher manch kostbares Quellen- 
material. 

Lemberg. A. Vagner. 


Dr. Charewiczowa Lucja: Lwowskie organizacje zawodowe 
za czasów Polski Przedrozbiorowej, z 17 rycinami. (Lemberger 
Berufsinnungen bis zur Teilung Polens mit 17 Abbildungen.) — 
Lwów, Wydawnictwo Zakładu Narodowego im. Ossolińskich, 
1929, 194 S. 8°. 

Die Verf., Frau Dr. Charewiczowa, eine der wenigen Fachgelehrten auf dem 
Gebiete der Erforschung des Stidcewesens in Polen, liefert uns durch obiges Buch 
eine sehr wertvolle Arbeit aus der Vergangenheit Lembergs, dessen Lebensbild vom 
3 der alltäglichen Handwerkerarbeitsgemeinschaft aus betrachtet wird. 
Seine Zunftinnungen hat Lem nach dem Krakauer Muster eingerichtet, 
kleineren Einfluß hatten Posen und Thorn, selbst wird es in kurzer Zeit Vorbild 
für alle Städte im Osten, erhält die Bezeichnung seminarium mechani- 
corum. Die äußere Form der Lemberger Zünfte, deren Ordnungen, Arbeits- 
methode, Gerichtsbarkeit und dergl. werden von anderen Städten übernommen; 
Lemberger Werkstätten liefern die tüchtigsten Meister und Gesellen, more 
civitatis Leopoliens is organisieren sich die Arbeiterschaften der öst- 
lichen Gebiete. Den Höhepunkt erreichen in ihrer Entwicklung, Macht und Be- 
deutung die Innungen zu Lemberg im XVI. und XVII. Jahrh., 30 verschiedene 
Zünfte umfassen über 50 Berufsarten, zählen wir noch die starke Einwanderung 
vom Westen hinzu, die zumeist Handwerker ausmachten, so darf es uns nicht 
wundern, wenn im Jahre 1679 nur ein Teil der mit dem Stadtrat im Kampf 
stehenden Innungen auf Tausende geschätzt wird, also eine Macht, mit der die 
Stadtbehörden rechnen mußten. Der Kampf mit den Adeligen, die stufenweise Ein- 
sickerung des Bürgertums in das Adelsgeschlecht, endlich die politischen und 
kriegerischen Auswirkungen der Epoche von den Kosaken angefangen bis zu den 
Schwedenkriegen am Anfang des XVIII. Jahrh. mußten Handel und Gewerbe zu- 
grunde richten, das Leben in den Zünften stirbt ab, sie sehen ihrem Untergang 
entgegen, zumal die Auswanderungen infolge von immer größer werdender 
Arbeitslosigkeit mit jedem Jahr zunahm. Mit Recht kann Frau Dr. Charewiczs 
Buch als ein weiterer Eckstein im Aufbau der ponian Wirtschaftsgeschichte be- 
trachtet werden und verdient als Untersuchung über die Erforschung der so 
reichen Vergangenheit Lembergs vollste Anerkennung. 


Lemberg. A. Wagner. 
Einige Bemerkungen über das sog. Gebetbuch des Ladislaus 
Warneficzyk. 


[Modlitewnik Wiadyslawa Warneńczyka w zbiorach biblioteki Bodle 
janskiej z uwzględnieniem zapisek Jösefa Korzeniowskiego 
opracowali Ludwik Bernacki, Ryszard Ganszyniec, Wladyslaw 
Podlacha. Kolo Zwigzku Bibliotekarzy Polskich we Lwowie 


877 


Druk L. Anczyca i Spółki w Krakowie MCXXVIII. — 8°, 
p. 141 + 3 + 76 + 2 tab. + XIV + 2] 


Die Teilnehmer des I. penaa Bibliothekaren-Kongresses in Lemberg und 
zugleich des III. Bibliophilen - Kongresses haben vom Lemberger polnischen 
Bibliothekarenkreise im Geschenk die Edition eines Gebetbuches, der dem Könige 
von Polen und Ungarn, Wladyslaw Warnehczyk (ft eg Zeie eschrieben wird, und 
eben der Bodleyana in Oxford gehört. Die Edition ebe aus einem palio- 
graphisch treuen, mit 5 Erhaltung der Graphik, Abdruck des Textes auf 
Grund des Originals (durchgeführt musterzültig von Prof. R. Ganszyniec), aus 
mehreren Tafeln, die (in schwarzer Manier) Miniaturen und Initialen wiedergeben 
und einer 141 Seiten starken Einleitung, wo die paläographische, literarische und 
kunsthistorische, sowohl auch kulturelle Seite eingehend besprochen wird. Das 
Wichtigste ist, was darüber Prof. R. Ganszyniec und Prof. W. Podlacha sprechen. 
Vom ersteren ist die genau Textanalyse, vom anderen die kunsthistorische verfaßt. 
Die Ergebnisse aber der beiden Forscher, was die Chronologie des Werkes anbe- 
langt, sind nicht einheitlich. Bisher herrschte die Meinung, daß der Besitzer des 
Gebetbuches, beziehungsweise auch Verfasser (in bezug an persönliche Initiative) 
der oben genannte König Wladyslaw Warnehczyk war. Diese Meinung war vom 
J. Korzeniowski vertreten. Die eingehende Analyse hat aber den neuen Forschern 
andere Möglichkeiten geboten. Die höchst interessanten Angaben des Prof. 
R. Ganszyniec stellen fest, daß dieses Gebetbuch paläographisch auf die Zeit zirka 
1400 hinweist, ferner, daß der Schreiber (Ropar?) die deutsche Graphik angewandt 
hatte, schließlih, daß literarische Quellen einzelner Gebete ihren französisch- 
benediktinischen Ursprung nicht verschleiern -können. Da die Persönlichkeit den 
Namen Ladislaus trägt und die Miniaturen auf ein Mitglied der Piasten-Dynastie 
hinweisen, meint Prof. Ganszyniec, daß dieser rätselhafte Ladislaus — Ladislaus 
von Oppeln sei. Das interessanteste aber ist, was über die Krystalomantie des 
Geberbuches geschrieben wird, worüber Prof. Ganszyniec breite, vergleichende 
Basis genommen hat. Die kunsthistorische Anal des Werkes (von Prof. 
W. Podlacha) steht zu diesen Ergebnissen im Widerspruch. Die genaue Über- 
prüfung der Miniaturen, Initialen und graphischer Ornamentik führt den Forscher 
ın die Zeit zirka J. 1500, also es gibt einen Unterschied von zirka einem Jahr- 
hundert. Darum neigt er sich zur Annahme, daß der rätselhafte Ladislaus — 
Ladislaus König von Ungarn und Böhmen, der bekannte „Rex bene“ ( 1516) sei. 
Anders gesagt stehen wir wieder vor einer Rätselserie, desto wichtiger, da das an- 
ne Ladislaus Warnehczyksche Gebetbuch eine wichtige kulturgeschichtliche 
rage bietet: es handelt sich um weiße Magie im mittelalterlichen Polen. Nun- 
mehr ist eine wissenschaftliche Diskussion geöffnet, die dieses Rätsel, welches die 
bodleyanische Handschrift umsponnen hat, entziffern soll. 

Den oben kürzlich skizzierten Behauptungen habe ich ın eınem Aufsatz 
u. d. T.: Bemerkungen über das so genannte Gebetbuch des Ladislaus Warnehczyk 
meine Meinung in Form einer Hypothese dargestellt. Ich habe diesen Aufsatz auf 
der philolo chen Klasse der Lemberger wissenschaftlichen Gesellschaft am 25. Juni 
1928 vorgelegt und die von mir dargelegten Behauptungen haben in der Diskussion 
Beifall gefunden. i) 

Mein Standpunkt hat ihre Stütze in der Provenienz. Ich meine auf Grund 
der äußeren Kriterien, daß die Handschrift bis zum Jahre 1680 den ursprünglichen 
Besitzer (Bibliothek) nicht gewechselt hat und seit dem jahre 1690 streng mit 
Besancon verbunden ist. Es ist leicht daraus zu schließen, daß auch vor dem Jahre 
1680 dies Gebetbuch auf irgendwelche territoriale Bündnisse mit Burgund hinweist. 
Die analytische Seite der jetzigen Forschungen (von Prof. R. Ganszyniec) stellt fest, 
daß trotz Benützung der deutschen Graphik durch den Schreiber, literarisch 
das Gebetbuch französisch-benediktinischen Ursprungs ist, was mit burgundischer 
Provenienz in keinem Widerspruche steht, da Burgundien ein Kreuzweg fiir 
deutsche und französische Einflüsse tatsächlich bietet. Ich nehme 2 dad der 
rätselhafte Ladislaus, dessen Namen wir im Gebetbuche finden, ein literarischer 


1) Cfr. Sochaniewicz K., Uwagi o t. zw. Modlitewniku Wladyslawa War- 
nehczyka. Sprawozd. Tow. nauk. VIII p. 67. 


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Redakteur des Werkes sei, welches also rein individuell zu betrachten ist. Die 
Charakteristik der Persönlichkeit des Redakteurs finde ich in der „Beichte“, welche 
von einem Fürsten — aber keineswegs von cinem König — spricht, der zugleich ein 
hoher Geistlicher ist. Da die Charakterzüge keineswegs den bisher herangezogenen 
Persönlichkeiten entsprechen, muß man unter den Piasten (der in Miniaturen vor- 
handene polnische Adler darauf weist) eine Persönlichkeit herausfinden, der diesen 
sämtlichen Bedingungen entspricht: diese kann nur der Fürst von Gniew Ladislaus 
der Weiße sein. (Ende des 14. Jahrh.) Er war nicht nur ein Fürst, sondern auch 
Abt und sein abenteuerliches Leben war mit den burgundischen Benediktinern 
innigst verbunden. Diese Ergebnisse stimmen auch mit den Ergebnissen der 
paläographischen Analyse des Prof. R. Ganszyniec, stehen aber trotzdem im Wider- 
See mit den der kunsthistorischen des Prof. W. Podlacha. K, Sochaniewicz. 


Prof. Dr. Benedykt Dybowsky: Pamietnik. (Tagebuch vom J. 1862 
bis 1878.) — Verlag des Ossolinski'schen Nationalinstitutes, 
Lwöw, 1930, S. XVI + 627. 


Dieses Werk bildet in der memoaristischen Literatur Polens eine Ausnahme, 
denn es ist von einem großen Patrioten geschrieben, der zugleich einer der hervor- 
ragendsten Zoologen ist. Der Autor beschreibt einerseits viele Begebenheiten an- 
ap? der Vorbereitungen zum Aufstande des Jahres 1868, charakterisiert die teil- 
nehmenden wichtigeren Gestalten, stellt ihre ganze Martyrologie im Gefängnis, 
und in der Verbannung in Sibirien dar, andererseits schildert er mit der 
exakten Genauigkeit eines Forschers seine Beobachtungen über die Menschen 
und die Fauna der mannigfaltigen Gegenden Sibiriens, welche er während seines 
vieljährigen Wanderlebens geschen und erforscht hatte. 

Durch die Gewalt der politischen Ereignisse aus dem Arbeitszimmer des 
Professors der Warschauer Hochschule herausgerissen, führt der Autor den Leser 
durch das Gefängnis des Pawiak und des X. Pavillons und während einer oft unter 
den schrecklichsten Bedingungen geführten, fast ein Jahr langer Reise zuerst nach 
Siwakowa bei Cyta an der Ingoda, dann nach Darasunia an der Tura, weiter nach 
Kultuk am Baikalsee, zu verschiedenen Gegenden an den Flüssen Sielenga und 
Burguzin, Amur, Argunia und Ussuri, bis nach Vladivostok und zu den Inseln 
Sachalin und Askolda. 

Die nationale Tragödie wie auch schwere persönliche Erlebnisse im Ge- 
fängnis und in der Verbannung veranlaßten den Autor zur Hilfeleistung an 
Mitverbannte wie auch zum wissenschaftlichen Studium während seines vieljährigen 
Verweilens im Exil. Er tritt überall nicht nur seinen Mitgefangenen sondern au 
der einheimischen Bevölkerung mit ärztlichem Beistand zur Seite und macht zu- 
5 3 Forschungen, in welchen ihm seine Leidensgenossen behilf- 
ich sind. 

Seine humanitäre ärztliche Tätigkeit ermöglicht ihm die Ausführung der 
vorgenommenen wissenschaftlichen Aufgaben, und es gelingt ıhm trotz ausnahms- 
weiser Schwierigkeiten, trotz des Mangels an Geldmitteln, sowie an entsprechenden 
Einrichtungen, oft auch trotz des Widerwillens der Landesbehörden, in den bis- 
herigen Meinungen der wissenschaftlihen Welt über die Fauna Ostsibiriens eine 
formelle Umwälzung durchzuführen. 

Beeinflußt durch seine Beobachtungen und wissenschaftlichen Sammlungen, 
die er teils persönlich bearbeitet, teils zur Bearbeitung an polnische und aus- 
landische Spezialisten versendet, faßt die vorher in der Wissenschaft verneinte 
Anschauung über die Verschiedenheit der Zoologie Sibiriens, festen Fuß. Die 
besonderen Verdienste des Autors in dieser Richtung betreffen seine Forschungen 
über die Fauna des Baikalsees, eines der interessantesten der Welt, dessen Namen 
in der Wissenschaft mit dem des Prof. Dybowski als Entdecker auf ewige Zeiten 
verflochten ist. 

Trotzdem die im Tagebuche geschilderten Zeiten und Begebenheiten von 
den jetzigen durch fast sieben Jahrzehnte getrennt sind, bestimmen nichtsdesto- 
weniger die Vielseitigkeit und Exaktheit der Beobachtungen, sowohl aus dem 
wissenschaftlichen, als auch aus dem sozialen Gebiete, durch eine besonders leb- 
hafte und zugängliche Form dem Leser dargeboten, den unvergänglichen Wert 
dieses Werkes. K. Tyszkowski. 

Lemberg. 

25 NF 6 879 


Dr. Konarski Kazimierz: Nowożytna Archiwistyka Polska i jej 
zadania. (Die moderne polnische Archivistik und ihre Aufgaben.) 
Warschau 1929. Im Verlage der Staatsarchive. VII und 160 S. 


Die moderne polnische Archivistik hat mit vielen und großen 
Schwierigkeiten zu kämpfen. Obwohl in Polen die einheitliche 
Leitung der Staatsarchive schon seit 1919 besteht, ist die innere Ein- 
richtung der einzelnen Archive, deren wichtigste mit ihren Anfängen 
noch in die Zeit der Fremdenherrschaft hineinreichen, nicht überall 
gleichförmig. Infolgedessen war es schwer, die einheitlichen, für alle 
Archive gültigen Grundsätze der archivalischen Praxis festzustellen 
und eine den polnischen Verhältnissen entsprechende, archivalische 
Terminologie auszuarbeiten. Trotzdem aber war in Polen das 
Interesse für das Archivwesen immer mehr und mehr rege. Besten 
Beweis dafür liefert der vierte Historikertag in Posen im Jahre 1925, 
wo eine spezielle archivalische Sektion mit bedeutender Zahl der 
Referate gebildet wurde. Um allen diesen Mißständen auf dem Ge- 
biete der polnischen Archivistik abzuhelfen, wurde noch 1919 eine 
archivalische Sektion im Rahmen des Warschauer historischen Vereines 
ins Leben gerufen, welche seit 1926 unter der Leitung des General- 
direktors der polnischen Staatsarchive, Prof. St. Ptaszycki, eine rege 
Tätigkeit zu entwickeln begann. Im nächstfolgenden Jahre wurde 
endlih von dem Letztgenannten die archivalische Fachzeitschrift 
„Archeion“ gegründet, in welcher verschiedene Aufsätze und Ab- 
handlungen über archivalische Theorie und Methodik veröffentlicht 
werden. All das entsprach zwar den aktuellen Bedürfnissen aber nur 
teilweise, denn das Verlangen, eine systematische Darstellung der 
polnischen Archivistik zu haben, bestand noch immer. Darum soll 
man mit größter Freude das Erscheinen des oben genannten Werkes 
begrüßen, um so mehr, daß dessen Verfasser, Direktor des Archivs 
der alten Akten in Warschau, sowohl auf dem Gebiete der archivali- 
schen Theorie sich schon bekannt gemacht hatte, wie auch in dein 
ihm unterstellten Archiv, in welchem die Akten der polnischen und 
russischen Behörden in Kongreßpolen aufbewahrt werden, eine um- 
fängliche Praxis zu erwerben imstande war. 

Die Arbeit ist als Nr. X. der Publikationen der Verwaltung der 
Staatsarchive erschienen und eröffnet eine neue Serie derselben, 
nämlich „Die Bibliothek der Zeitschrift „Archeion“. Sie bietet ein 
System der polnischen Archivistik, aber nicht im ganzen Umfange 
und Inhalte derselben; sie ist nämlich, wie der Titel selbst und dann 
die Vorrede S. II ankündigt, zeitlich und räumlich sehr begrenzt. 
Verf. erörtert fast ausschließlich Probleme, welche die aus dem 
XIX. Jahrh. stammenden und in den Staatsarchiven auf dem Gebiete 
des ehemaligen Kongreßpolens, hauptsächlich aber im Archiv der alten 
Akten in Warschau aufbewahrten Archivalien betreffen. Diesen 


380 


Moment muß man beim Lesen des genannten Werkes im Auge be- 
halten. Aus dieser Begrenzung des Themas ergibt es sich, daß die 
vom Verfasser aufgestellten Grundsätze und terminologische Be- 
nennungen nicht immer auf die Bestände und Praxis anderer Staats- 
archive Anwendung finden können. 


Der Stoff der Arbeit ist in sieben Kapitel eingeteilt. Zuerst gibt 
Verfasser die Definition des Begriffes „Archiv“ und im Anschluß 
daran spricht er über die Aufgaben und Zweck der Archive, sowie 
über die Einteilung derselben. Mit Rücksicht auf das Eigentumsrecht 
unterscheidet er Staats- und nichtstaatliche Archive, mit Rücksicht 
dagegen auf den inneren Zusammenhang der Bestandteile der ein- 
zelnen Archive teilt er sie in Fonds (zespół) und archivalische Samm- 
lungen (Kollektion, zasób) ein. In den zwei nächstfolgenden Kapiteln 
wird dann der archivalische Fonds als Produkt der Virksamkeit einer 
Behörde (II.) und als Objekt der Archivalpraxis (III.) eingehend be- 
sprochen. Knapp daran schließt sich ein Kapitel über Klassifikation 
und Ordnen der Akten (IV.). Darauf folgen Ausführungen über 
Inventare und Repertorien (Indices), wobei Verfasser das Problem 
der Herstellung und verschiedene Kategorien derselben erörtert 
(V. VI.). Das letzte Kapitel ist endlich der Konservierung der Archi- 
valien gewidmet (VII.). Im Anhang finden wir drei aus der Praxis 
des Archivs der alten Akten in Warschau geschöpften Beispiele, der 
Rekonstruktion eines zerstreuten Fonds, dann der Konstruktion einer 
künstlichen archivalischen Kollektion und schließlich der Ergänzung 
eines Fonds. Ein kleines Wörterbuch der archivalischen Fachaus- 
drücke, worauf ein Namens- und Sachverzeichnis folgt, bildet den 
Schluß der ganzen Arbeit. 


Die Ausführungen des Verfassers sind im dogmatischen Tone 
gehalten; er führt ganz neue Fachausdrücke ein, stellt neue Grund- 
sätze und Regeln auf. Dabei ist aber Verfasser völlig bewußt, daß 
er auf einem ganz neuen Gebiete arbeitet, das vielleicht nicht alle 
Ergebnisse seiner Arbeit überall Beifall finden werden. Darum nennt 
er sein Werk nur einen Versuch, dessen Wert sich erst im Feuer der 
Kritik bewähren wird (S. I). Diese Stellungnahme des Autors ist ganz 
richtig. Sein Buch enthält, wie schon oben angezeigt worden ist, nicht 
ein allgemeines, sondern ein partielles System der polnischen Archi- 
vistik, welches nur eine begrenzte Zahl polnischer Archiyalbestände 
und Archive berücksichtigt. Darum müssen die Ergebnisse der vor- 
liegenden Arbeit zuerst vom Standpunkte der Bedürfnisse anderer 
Archive ergänzt werden und erst dann wird es möglich sein, an den 
Bau des allgemeinen Systems der polnischen Archivistik heranzu- 
treten. 

St. Zajaczkowski. 


381 


Gebarowicz Mieczystaw: Katalog rekopiséw Bibljoteki im. 
Gwalberta Pawlikowskiego. (Handschriftenkatalog der Pawlı- 
kowskischen Bibliothek in Lemberg.) — Lwów, Ossolineum, 


> 159. S.A. aus „Rocznik Zakładu Nar. im. Ossolińskich“, 
III. 

Die Pawlikowski’sche Bibliothek entstand im Zeitalter der Generation der 
großen Sammler in der ersten Hälfte des XIX. Jahrh. Gwalbert Pawlikowski, 
der Freund und Testamentsvollstrecker des J. M. Ossoliński hat während seines 
ganzen Lebens mit großer Mühe, unzähligen Kosten, aber auch mit Fachkennmis 
gesammelt und eine schöne Bibliothek, sowie ein Münz- und Kupferstichkabinett 
geschaffen. Die Sammlungstitigkeit des Pawlikowski begann in Wien, wo er seine 
jugendlichen Jahre als Österreichisch er Beamter verbrachte. Im Jahre 1830 wurden 
die Sammlungen auf sein Landgut in Medyka (unweit Przemyśl), welches er nach 
dem Tode seines Vaters geerbt hatte, gebracht. Im Sturmjahre 1848 wurden die 
Sammlungen nach Lemberg überführt und veröffentlicht. Nach dem Weltkri 
wurde die Bibliothek dem Ossoliäskischen Nationalinstitute als selbständige 
teilung einverleibt. Der heutige Zustand der Kollektion weist 22 382 Druckwerke, 
290 Handschriften, 4270 Autographen, 24 827 Kupferstiche und Zeichnungen (be- 
en EEN Sammlung), 678 Karten, 8688 Münz- und Medaillensamm- 
ung auf. 

Die Geschichte der Bibliothek ist innig mit der der Familie Pawlikowski, 
welche in allen Generationen literarische und wissenschaftliche Neigungen und 
Fähigkeiten aufweist, gebunden. Der jetzt lebende Eigentümer ist der hochge- 
schätzte Slowacki-Forscher, Jan Gwalbert Pawlikowski. Freunde und Mitarbeiter, 
unter ihnen die Historiker Przylecki, Zegota Pauli, H. Schmitt und Kubala müssen 
hier auch erwähnt werden, somit ist es nicht wunderlich, daß eine, berühmte in 
Polonicis, Sammlung entstanden ist. 

Den wichtigsten Teil der Kollektion bilden alte Drucke und Kupferstiche, 
doch können auch in der Handschriftenabteilung, von welcher Dr. Gebarowicz 
einen wissenschaftlichen Katalog bearbeitet hat, mehrere wertvolle, sogar erst- 
klassige Objekte aufgezählt werden. Der Inhalt derselben sieht wie in jeder privaten 
Sammlung sehr bunt aus. Von dem XIV. Jndt. bis in das XIX. Jhdt. sind Theo- 
logie, Geschichte, Literatur, Recht, Philosophie (Rhetorik) hier nebeneinander zu 
treffen. Wir können hier natürlich nicht alles erwähnen, doch wire es nicht ohne 
Nutzen, einige Handschriften aufzuzählen, welche für den Leser der „Jahrbücher“ 
von Wert sein können. 

In erster Linie stehen „Polonica“, welchen der Gründer dem Patriotismus 
der romantischen Epoche gemäß, größeres Interesse zuwandte. Hier gehören vor 
allem die Rechnungsbücher des königlichen Hofes ın Krakau vom XIV. Jhdt. (publ. 
v. Piekosinski in Mon. medii aevi Hist. Bd. XV). Dem Kreise der Krakauer 
Universität gehören wahrscheinlich die latein. Rechtsbücher des XV. Ihdts. 
(Nr. 193) an. Wichtiges Material für die Kultur der polnischen Renaissance bilden 
die Hofrechnungen des letzten Jagellonen (Nr. 192, 194). Es folgt für die Zeiten 
Sigismund III. „Liber cancellariae“ des Groß kanzlers Jakob Zadzik (Nr. 201, 208). 
Die Regierung Sobieskis und August II. repräsentiert eine Korrespondenzsammlung 
des Kardinals Radziejowski und Stanislaus Rzewuski (Nr. 210). Im allgemeinen 
bieten die Handschriften für die II. Hälfte des XVIII. Jhdts. mehrere wichtige 
Quellen, in erster Linie für die Konföderation von Bar (Nr. 94, 224, 6, 9, 287), 
darunter die französischen Memoiren Murrays. 

Besondere Wichtigkeit besitzen Teatralia, speziell jesuitische Aufführungen, 
die von Dr. Bernacki bearbeitet wurden. Zum luß nennen wir noch den im 
Album Tödwens eingetragenen Autograph der „Reduta Ordona“ von Mickiewicz. 

Mit der polnischen Gruppe inhaltlich verbunden, aber der Provenienz nach 
unbekannt, sind mehrere Dantiscana mit dem Tagebuche Chodowieckis an der 
Spitze (Nr. 31 „Journal einer von Berlin nach Dresden stattgefundenen Lustreise, 
Leipzig, Halle, Dessau usw. A. 1789“ Autograph). Prof. Zeißberg und nach ihm 
Perlbah und Kętrzyński haben aus der Pawlikowskischen Handschrift Nr. 128 
„Cronica de Prussia“ und „Fontes Olivenses“ publiziert. Dann wären auch die 


382 


kirchenslavischen Handschriften zu notieren, darunter ein rhetorisches, lateinisches 
Handbuch für die schismatische Akademie zu Kiew, mit vielen Beispielen in pol- 
nischer und lateinischer Sprache. So können wir im allgemeinen die lung der 
290 Handschriften charakterisieren, ohne natürlich genau über das Bunte berichten 
zu vermögen. 

Die Beschreibungsmethode ist sehr genau und mit reichvollem Apparat von 
bibliographischen und meritorischen Angaben und Informationen versehen. Dabei 
folgt ein gutes Sach- und Personenregister von M. Chmielowska. 

Lemberg. K. Tyszkowski. 


„Rzeczpospolita Polska, Atlas Statystyczny“, herausgegeben vom 
Statistischen Hauptamt der Republik Polen. Warszawa 1930 
(polnisch und französisch; Folioform., 42 Tafeln, 8 Seiten Text). 


Der Atlas stellt eine offizielle Publikation des statistischen Hauptamts in 
Warschau dar. Unter Zugrundelegung der durch die bisher einzige polnische 
Volkszählung vom 80. 9. 1921 gewonnenen Ergebnisse, werden die verschiedensten 
Fragen der Bevölkerungsbewegung, der nationalen Zusammensetzung und der 
wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse Polens auf insgesamt 42 Tafeln be- 
handelt. Die technische Ausführung der zahlreichen Karten, Kartogramme, Dia- 
gramme und Kurven ist gut. Zwei Karten (Administrative Einteilung und 
Nationalitätendarstellung) sind im Maßstab 1: 2 000 000, die anderen Karten und 
Kärtchen, die nur Übersichten geben sollen, sind in den Maßstäben 1 : 4 000 000, 
1: 500 000, 1: 10 000 000 und 1 :15 000 000 gezeichnet. 

Der Vergleich der einzelnen kartographischen und statistischen Darstellungen 
zeigt deutlich, wie stark sich die einzelnen Teilgebiete Polens voneinander unter- 
scheiden. Besonders markant heben sich die ehemals preußischen Gebiete aus dem 
Rahmen der neupolnischen Länder in wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht 
heraus; zum Beleg sei 2. B. verwiesen auf die kartographischen Darstellungen über 
den Gebäudebauzustand, die Zimmerzahl der Häuser und die Zimmerwohndichte 
(Tafel 4 und 5), die Bodennutzung und Größe der Virtschaften (Tafel 18), den 
Anbau von Feldfriichten (besonders den Zuckerrübenbau) (Tafel 18), die Ernte- 
erträge pro ha (Tafel 19), die Schweinezucht (Tafel 21), das Eisenbahnwesen 
(T afel 200 „die finanziellen Einnahmen und Ausgaben (Tafel 87 und 38), die 
Intensität des Schulbesuches und die Zahl der Schulkinder pro 1000 Einwohner 
(Tafel 40), das Analphabetentum (Tafel 41) und das Gesundheitswesen (Tafel 42). 

Den deutschen Betrachter interessiert aus der Reihe der kartographischen 
Darstellungen die Bevölkerungsdichtekarte und die Nationalitätenkarte von Neu- 
Polen in besonderem Maße. Auf sie sei daher im folgenden näher eingegangen. 


Die Karte der Bevölkerungsdichte von Polen. 


Diese, im Maßstab 1: 5 000 000 gezeichnete Karte stellt die Bevölkerungs- 
dichte kreisweise dar. Die Dichtewerte der einzelnen Kreise wurden nach sieben 
Gruppen (bis 25, 25—50, 50—75, 75—100, 100—125, 125—150, über 150) ge- 
geordnet. Die Karte zeigt deutlich, wie sich im Südwesten des Landes die Be- 
völkerungsdichte gegen die hochindustriealisierten Gebietsteile von Poln. Ober- 
schlesien, Dąbrowa und Krakau hin verstärkt, wie dicht besiedelt (z. T. über 
100 Einwohner pro qkm) aber auch die fruchtbaren, lößbedeckten Landstriche der 
subkarpatishen Senke und der Pododischen Platte im Süden Polens sind und wie 
sich die industriereichen Wojewodschaften Lodz, Kielce und Teile der Wojewod- 
schaften Warschau und Posen mit ihren teilweise fruchtbaren Diluvialplatten durch 
eine recht hohe Bevölkerungsdichte auszeichnen. In allen diesen Gebieten ist die 
Dichte durchweg größer als die durchschnittliche Dichte Gesamtpolens von 70 Ein- 
wohnern pro qkm. 

Jenseits der Weichsel-Wieprz-Linie sinken die Bevölkerungsdichteziffern teil- 
weise weit unter diesen Landesdurchschnittswert, in dem wald- und sumpfreichen 
Polesie sogar unter 25 Einwohner pro qkm. 

Daß sich in der Karte die Kreise Warszawa, Lwów, Bialystock, Wilno, Lublin, 
Thorn, Bromberg, Posen und Hohensalza als sehr dicht besiedelte Gebiete heraus- 
heben, obwohl sie in Wirklichkeit nur mittelstark oder schwach bevölkert sind 


383 


behan i 

ider nicht ausgeschieden, sondern mit auf die entsprechenden Landkreise ver- 
rechnet hat. Dadurch kamen auf der Karte in den genannten Gegenden Polens 
Bevölke ichteverhältnisse zustande, die ein mißverständliches Bild der Be- 
völkerungsdichte des flachen Landes ergeben. Die Karte hätte eine bevölkerungs- 
geographisch brauchbare Darstellung ergeben, wenn — wie sonst üblich — die 
Bevölkerung aller größeren Städte bei der Darstellung der Bevölkerungsdichte 
in den einzelnen Kreisen in Abzug gebracht und die Städte besonders signiert 
worden wären. In jedem Falle aber dürften Stadtkreise und Landkreise auf einer 
modernen Bevölkerungsdichtekarte nicht zusammengezogen werden. 


Wünschenswert wäre es gewesen, die Karte in größerem Maßstab zu zeichnen 
und — der besseren Orientierung wegen — das Flußnetz einzutragen. Auch sei 
erwähnt, daß der Kreis Włoszczowa hinsichtlich seiner Bevölkerungsdichte in die 
Gruppe „75-100 eingeordnet worden ist, obwohl sich — nach „Roczn. Stat.“ 
Bd. 1928, S. 7 — nur 648 Einwohner pro qkm errechnen lassen. Allerdings gibt 
der genannte Band des „Roczn. Stat.“ die Bevölkerungsdichte dieses Kreises (wohl 
auf Grund eines Rechenfehlers) irrtümlich mit 79,2 an. 


Die Karte der Nationalitäten in Polen. 
(Narodowości w Polsce.) 


Die im Maßstab 1 : 2000000 gezeichnete Karte soll ein Bild von der natio- 
nalen Struktur der Bevölkerung Polens geben und zwar auf Grund der Ergebnisse 
der polnischen Nationalitätenzählung vom 80. 9. 21., 1) (veröffentlicht im „Roczn. 
Stat.“, Bd. 1924, S. 12 ff.). Für den damals von dieser Zählung nicht erfaßten 
Teil der Wojewodschaft Wilna wurden die Ergebnisse der Zählung von 1919 
verwandt; in dem polnisch gewordenen Teil Oberschlesiens kamen nicht die offi- 
ziellen Zahlen der Fählun von 1910, auch nicht die Abstimmungsergebnisse von 
1921 zur Darstellung, sondern die in mancherlei Hinsicht anfechtbaren Schätzungen 
von Z. Stolihski („Liczba Niemców w Polsce“, in „Sprawy Narodowosciowe“, 
Warszawa 1927 — Die Deutschen in Polen —), welche seinerzeit schon durch 
Heidelck (in „Deutsche Blätter in Polen“, Februar 1929, Heft 2) einer eingehenden 
Kritik unterzogen worden sind. 

Die Karte ist in der Methode der Punktmanier ausgeführt worden; je 
5000 Personen einer Nationalität wurden durch einen Punkt von 1 mm Durch- 
messer, in Städten mit über 50000 Einwohnern je 10000 Personen durch ein 
Quadrat von 1 mm Seitenlänge symbolisiert. 


Im allgemeinen hat eine nach der Punktmanier gezeichnete Karte, gegen- 
über einer relativ darstellenden, den großen Vorzug, daß sie die in einem Ge- 
biet lebenden Menschen nach ihrer Zahl und Verbreitung wirklichkeitsgetreu 
zu lokalisieren vermag, vorausgesetzt freilich, daß die durch je ein Symbol dar- 
gestellte Einheit nicht zu Zusammenfassungen zwingt, die die wirkliche Verteilung 
der Bevölkerung nicht mehr erkennen lassen. Im Idealfall also kann eine solche 
Karte zur Siedlungskarte werden. Aber kartographische Arbeiten auf diesem Ge- 
biete in Deutschland und Schweden haben gezeigt, daß eine solche Karte nur dann 
Sen richtig sein kann, wenn ihr ein möglichst großer Maßstab zugrunde 


elegt wird, der es erlaubt, auch die kleinsten Siedlungen im Kartenbilde wirklich 
Protein zu lassen. 


Da der Bearbeiter der hier besprochenen Karte einerseits einen für die Dar- 
stellung in Punktmanier viel zu kleinen Maßstab (1: 2 000 000) und andererseits 
eine für die Erfassung der wirklichen Verhältnisse zu große Einheit (5000 Ein- 
wohner) gewählt hat, so kann es nicht wunder nehmen, wenn diese Karte kein 
allseitig befriedigendes Bild der Nationalitätenverteilung und Siedlungsdichte Polens 
zu geben vermag. So sind 2. B. in obiger Karte die 91 größtenteils rein deutschen 
Kolonien des Cholmer Landes (K. Lück, „Die Deutschen im Cholmerlande“, in 
„Nation und Staat“, März 1980, Heft 6, S. 878) nur mit einem einzigen Punkt 


1) Vgl. Anmerkung zu Tafel 6, S. XIII des Atlaswerkes. 
384 


vermerkt worden, wobei noch darauf hingewiesen werden muß, daß dieser Punkt 
auch der einzige in der ganzen Wojewodschaft Lublin ist, in der nach Ausweis 
der polnischen Nationalitätenzählung rund 12 000, nach Schätzungen von Z. Sto- 
linski („Die Deutschen in Polen“) 18 056 und nach Berechnungen von K. Lück 
(siehe die genannte Arbeit) allein im Cholmgebiet 16000 Deutsche vorhanden sind. 


Trotzdem muß bei einer objektiven Beurteilung obiger Karte hervorgehoben 
werden, daß es dem Bearbeiter im wesentlichen gelungen ist, die Eigenart der 
Lage und Verteilung der Siedlungen, vor allem in dem schwach bevölkerten Osten 
Polens richtig zum Ausdruck zu bringen. Seine Karte zeigt — was einer solchen 
in Flächenmanier kleinen Maßstabes, wie es die in Tafel 2 des Atlaswerkes ist, 
nicht vermag —, wie sehr die Lage der Siedlungen von der Natur der Landschaft 
abhängig ist. Es tritt z. B. deutlich hervor, wie sich in den Wald- und Sumpf- 
gebieten der Wojewodschaften Polesie und Bialystok die Siedlungen an den höher 
gelegenen und trockenen Stellen (z. B. an der Jasiotda, am Styr und am Horyá) 
und auf den Randgebieten konzentrieren und diese Landstriche dann auch als 
teilweise sehr dicht bevölkerte Gebiete erscheinen lassen. Dagegen liegen auch in 
der Karte die geschlossenen, siedlungs- und verkehrsfeindlichen Wald- und Sumpf- 

ebiete fast unbewohnt da. In den Urstromtallandschaften Kongreßpolens meiden 
ie Siedlungen die Nähe der versandeten und versumpften Flußniederungen und 

häufen sih an den Rändern und auf den Diluvialplatten. 

Da es sich aber bei der vorliegenden Karte in der Hauptsache nicht um eine 
Siedlungskarte, sondern um eine Nationalitätenkarte handelt, müssen vor allem 
der 35 der Nationalitäten auf dieser Karte noch einige Vorte gewidmet 
werden. 

Es hat einen besonderen Reiz, die Bevölkerung eines Landes, wenn sie, 
wie in Polen, aus mehreren Nationalitäten zusammengesetzt ist, auf einer Karte 
in Punktmanier darzustellen; denn eine solche Karte vermag, sofern sie methodisch 
und sachlich einwandfrei ist, nicht nur die absolute Mitgliederzahl der in einem 
Gebiet vorhandenen nationalen Bevölkerungsgruppen bildlich genau wiederzugeben, 
sondern sie kann KEE auch das Nebeneinander und Ineinander der national 
verschiedenen Wohngebiete gut charakterisieren. 


Sie ist also besser als jede andere Kartendarstellung zum Studium nationaler 
Grenzverhältnisse in einem Lande mit völkisch gemischter Bevölkerung geeignet. 
Es ist daher an und für sich zu begrüßen, daß mit obiger Karte ein Versu 
in dieser Hinsicht gemacht worden ist. 


Leider entspricht diese Karte nur in beschrinktem Maße den Ansprüchen, 
die man an eine in Punktmanier ausgeführte Karte stellt. Die als Einheit 
für die Darstellung gewählte Zahl von 5000 Personen ist, wie schon eingangs 
erwähnt, zu hoch!! Der Bearbeiter war mithin gezwungen, eine in einem Kreise 
vorhandene nationale Gruppe nur dann vermittels eines bzw. mehrerer Punkte 
darzustellen, wenn diese eine durch 5000 teilbare Zahl von Mitgliedern wirklich 
oder annähernd erreichte. Zahlen die unter 2500 liegen, hat er, soweit wenigstens 
die Verhältnisse bei den Minderheiten nachgeprüft werden konnten, meist nicht 
berücksichtigt, was deswegen bedauerlich ist, weil es in vielen Kreisen, besonders 
in dem schwach besiedelten Ostpolen, nur selten nationale Minderheiten von mehr 
als 2500 Personen gibt. Unter diesen Umständen werden solche zahlenmäßig 
kleine Bevölkerungsteile, die aber in Gebieten schwacher Bevölkerungsdichte pro- 
he doch eine wichtige Rolle spielen konnen?), auf der Karte außer acht 
elassen. 
: Die vorliegende Karte kann unter diesen Umständen nicht als ein treues 
Abbild der durch die polnische Nationalitätenzählung festgestellten Nationalitäten- 
verhältnisse Polens bezeichnet werden. Dem Bearbeiter ist es nicht gelungen, die 
feineren Unterschiede in der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung ein- 
wandfrei herauszuarbeiten. Diese Unterschiede, auf die es beim Studium nationaler 
Grenzverhältnisse völkisch inhomogener Siedlungsgebiete, wie z. B. in Wolhynien, 


2) Hier sei nur auf Wolhynien verwiesen, das bei einer Bevölkerungsdichte 


von 47,5 Einw. pro qkm national überaus 1 ist; neben einer Mehrzahl 
von Ukrainern wohnen dort Polen, Deutsche, Tschechen, Juden und Russen. 


385 


so sehr ankommt, wurden verwischt. Bei der Benutzung der Karte ist daher 
Vorsicht geboten. 

Die Gesamtzahl der so in den einzelnen Wojewodschaften auf der Karte 
nicht dargestellten Deutschen ist z. T. recht erheblich. Das läßt die folgende nach 
Wojewodschaften geordnete Tabelle deutlich erkennen: 


Zahl der Deutschen 


Wojewodschaft: nach der Karte: nach „Roczn. Stat.“: (Bd. 1924, S. 12 ff.) 
Warschau . . . . . 40000 48 208 
Lodz .... 95 000 108 456 
Kielce — 3 655 
Lublin 5 000 10 933 
rea dig — 4117 
Krakau . 5 000 9 295 
Lemberg 5 000 12 486 
Tarnopol . . . — 2 484 
Teschen-Schlesien 25 000 29 010 


Aber auch hinsichtlich der Verhältnisse bei den anderen Minoritäten sind 
dem Bearbeiter der Nationalititenkarte ganz offenbare Fehler unterlaufen, die 
besonders im Osten Polens das durch die Nationalitätenzählung von 1921 fest- 
gestellte Bild in vielen Kreisen sehr verändern, — und zwar zu ungunsten der 
Nichtpolen. 

So ergab die Nachprüfung der Karte hinsichtlich ihrer Eintragungen von 
Weißrussen und Ukrainern gegenüber den Angaben des „Roczn. Stat.“ ein Zu- 
wenig (—) z. B. in folgenden Kreisen:?) 


Kreis: Weiß russen Kreis: Ukrainer 
Dunilowice (Wojew. Wilna) — 20000 Zbaraż (Wojew. Tarnopol) . — 5500 
Dzisna j 5 — 9200 Skalat S = . — 2500 
Swi¢ciany K 12 — 8700 Brzezany „, = . — 1270 
Nowogródek . . . . . . — 5000 KamiehKoszyr.(Wojew.Polesiec) — 6500 
Pinsk (Wojew. Polesie) . — 7000 Zdolbundw Sp „ — 6000 
Kossów „. e d — 6000 + 

Bielsk (Wojew. Bilaystok) — 4900 


Dafür einige Beispiele aus deutschen Minderheitsgebieten: Es wurden, 
um nur einige Kreise herauszugreifen, auf der Karte nicht beriicksichtigt: 


in Wolhynien. Lödz 8808 Deutsche 
im Kreise: Turek 1 067 = 
Keren 2599 Deutsche’) Bialystok 2 048 Se 
Kowel . . 1139 nm in Galizien: 
Wlodzimierz . 1 723 e im Kreise: 
in Kongreßpolen: Bala . . 1937 i 
im Kreise: Lwów (Lemberg) . 3548 15 
Wegréw 1091 0 Rawa Ruska. . . 1298 S 
Wlodawa 1 313 » Zydaczöw . . . 1791 Ge 
Lipno 1311 ge Skole 1 765 5 
Nieszawa 1101 e Stanıslawöw 1118 K 
Ciechanów . 1 388 = Kalusz ... . 1023 A 
Warszawa. 1981 d in Teshen-Schlesien: 
Rawa 1144 » im Kreise: 
Kolo 1226 „ Cieszyn (Teschen). 1000 „ 
Piotrköw 1335 „, Bielsko (Bielitz). 2300 „ 
Sieradz . 2 383 ve 


3) In der Tabelle sind nur einige Kreise aufgeführt, in denen die Unstimmig- 
keiten zwischen Karte und „Rocznik“ besonders groß erscheinen. 
%) Die Gesamtzahl der in den einzelnen Wojewodschaften auf der Karte 


zuwenig dargestellten Nichtpolen ist z. T. recht erheblih; so ergab die Aus- 
zählung der hellbraunen Punkte auf der Karte, daß z. B. in der Wojewodschaft 


386 


Ganz auffallende Eintragungen sind von dem Bearbeiter der Karte im Kreise 
Kamień Koszyrski (Wojew. Polesie) vorgnommen worden: einerseits hat er dort 
6600 Ukrainer zuwenig berücksichtigt, andererseits aber 10000 Weißrussen ein- 
gezeichnet, obwohl ihrer daselbst — nach „Roczn. Stat.“ — im ganzen nur „6“ 
vorhanden sind. 

Welche Gründe können den Bearbeiter veranlaßt haben, die Ergebnisse der 
Volkszählung so zu verändern? 

Wenn die Verschiebung der Verwaltungsgrenzen der Kreise eine so wesent- 
liche Anderung der Bevölkerungszahl in den betreffenden Kreisen nach sich ge- 
zogen hätte (was durchaus denkbar wäre, da eine Verschiebung der administra- 
tiven Grenzen in den Ostwojewodschaften tatsächlich erfolgt ist e)), dann müßte 
doch eine entsprechende Berichtigung im „Roczn. Stat.“ ertolgt sein, was bislang 
nicht geschehen ist. Auch hinsichtlich der Repatriation, die in vielen Teilen 
Ostpolens sowohl die Zahl als auch die nationale Zusammensetzung der Be- 
völkerung z. T. sehr stark verändert hat7), ist die im „Roczn. Stat.“ (Bd. 1924, 
S. 12 ff.) wiedergegebene Nationalitätenstatistik Polens vom Stat. Haupamt in 
Warschau noch ich berichtigt worden. Man muß also annehmen, daß sich der 
Stand der Nationalitätenverteilung in den einzelnen Kreisen Polens seit dem Er- 
scheinen des Bd. 1924 des „Roczn. Stat.“ (auf dessen Angaben ja nach den An- 
merkungen des Atlaswerkes S. XIII die obige Karte beruht) nicht wesentlich ge- 
ändert hat. Es muß also vermutet werden, daß der Bearbeiter der Karte mit 
den Angaben der Nationalitätenstatistik ziemlich willkürlich verfahren ist. 


Neben diesen Einwänden gegen die Darstellungsweise muß aber auch das der 
Karte zugrunde gelegte Material und seine Auswertung zur Kritik herausfordern. 
Denn die Karte dürfte kaum die wirkliche Nationalitätenverteilung Polens dar- 
stellen, sondern bestenfalls die Ergebnisse der polnischen Zählung vom 80. 9. 1921. 
Dieser Zählung gegenüber muß aber darauf hingewiesen werden, daß sachlich 
gehaltene Arbeiten über polnische Nationalitätenverhältnisse, selbst solche aus der 
Feder polnischer Gelehrter®), die Angaben des „Roczn. Stat.“ anzweifeln und 
lieber aus anderen Quellen schöpfen, z. B. aus der polnischen Konfessionszählung. 


Bezüglich der Zahl und Verbreitung der Deutschen in Polen haben beispiels- 
weise V. Winkler?) und A. Mückler!2) die Unzuverlässigkeit der polnischen 
Zählung von 1921 erwiesen. 

Es wäre daher wünschenswert gewesen, wenn der Bearbeiter neben der 
nationalen auch die konfessionelle Zusammensetzung der Be- 
völkerung Polens auf Karten dargestellt hätte. Derartige Karten fehlen 
im obigen Atlas ganz! Tafel 7 des Atlaswerkes bringt nur einige Diagramm- 
darstellungen der Konfessionen Polens, die das zahlenmäßige Verhältnis der ein- 
zelnen konfessionellen Gruppen zueinander und den Anteil der Nationalitäten 
an ihnen demonstrieren sollen. 


Noc auf eins sei bei der Besprechung obiger Karte hingewiesen: Die Ka- 
schuben im Weichselkorridor werden als echte Polen dargestellt. Angesichts der 


Tarnopol entgegen den Angaben des „Roczn. Stat.“ insgesamt 29000 Ukrainer 
zuwenig, andererseits aber 12500 Polen zuviel eingetragen worden sind. 

5) Vergleiche die Zahlenangaben im „Roczn. Stat.“ (Bd. 1924, S. 12 ff.) mit 
den Ergebnissen einer Punktauszählung, wie sie Verfasser auf der Karte vor- 
genommen hat. 

e) Vgl. „Czasopismo Geograficzne“, Bd. 7, S. 233, Lwów und Warszawa 
1929: „Ostatnie zmiany administracyjne w Polsce. — Die letzten administra- 
tiven Veränderungen in Polen. — 

7) Nach „Roczn. Stat.“ (Bd. 1928, S. 69) betrug die Zahl der Repatrianten 
für die Zeit von 1921—1924: 809 392. 

8) Vgl. die in „Czasopismo Geogr.“ (Bd. 7, Heft 4, S. 284) unter „Narodo- 
wości w Polsce“ genannten Arbeiten. 

e Gr „Statistisches Handbuch für das gesamte Deutschtum“, Berlin 1927, 
1 ; 

10) „Das Deutshtum Kongreßpolens. — Eine statistisch-kritishe Studie.“ 

Leipzig-Wien 1927, S. 27 ff. 


887 


jetzt als erwiesen zu betrachtenden Tatsache, daß die Kaschuben kein polnischer 
V sind, sondern wie etwa die Ukrainer und Weißrussen eine ändi 
westslavische Volksgruppe, gehörig zu dem polabisch-pomoranischen Zweig der 
Westslaven, darstellen, wäre von einer objektiven Bearbeitung zu erwarten ge- 
wesen, daß die Kaschuben auch in der Karte als besondere Gruppe i 
worden wären. 


Breslau. J. Czech. 


Elisabeth Kloß: Das Gründungsbuch der Stadt Dirschau (= Quellen 
und Darstellungen zur Geschichte Westpreußen. — Herausg. 


vom Westpreußischen Geschichtsverein, Nr. 14). Danzig 1929. 

Da durch den großen Brand von 1577 der größte Teil dei städtischen 
Archivalien zugrunde gegangen ist, wird mit dieser Publikation zum ersten 
die Möglichkeit geboten, diese für die Ortsgeschichte ergiebige lle in vollem 
Umfange auszuschöpfen. Darüber hinaus ist sie aber auch von erheblicher national- 
geschichtlicher Bedeutung. Sie zeigt uns den vollkommenen deutschen Charakter 
der Stadt in der Zeit, wo Dirschau, das durch Machtspruch von Versailles zum 
„polnischen Korridor“ geschlagen worden ist, schon einmal unter polnischer 
Herrschaft gestanden hat. Durchweg deutsch sind die Namen der Besitzer; die 
Grundstücke blieben oft jahrzehntelang im Besitz der alteingesessenen Familien. 
Im 18. Jahrhundert zwang die wirtschaftliche Lage häufig zum Besitzwechsel. 
Aber auch diese neuen Besitzer stammten wieder aus dem Werder und den um- 
liegenden deutschen Gebieten. E. Kloss hat mit dieser mühsamen Arbeit einen 
wichtigen Beitrag zur Geschichte des Deutschtums in Westpreußen geliefert. 

Breslau. , Pürscel 


Ernst Petersen: Die frühgermanische Kultur in Ostdeutschland und 
Polen. Mit 36 Tafeln. Berlin 1929. Verlag Walter de Gruyter 


& Co. 

Petersen hat sich die Aufgabe gestellt, die zeitliche Stellung der frühgerma- 
nischen Kultur in Ostdeutschland und Polen festzulegen und ihre Entwicklungs- 
stufen abzugrenzen. Bei der starken Zersplitterung der Funde (s. Anhang) hat 
P. shon durch mühevolles Zusammentragen wertvolle Arbeit geleistet. wic- 
riger noch war die Untersuchung des auf den ersten Blick oft stark uniformen 
Materials. Text und Bild (s. die 36 vorzüglich ausgestatteten Tafeln) geben eine 
Vorstellung von der Sorgfalt und Kritik, mit der der Verf. den Stoff bearbeitet 
hat. Die ergebnisreiche Arbeit ist um so mehr am Platze, als polnische Vor- 
1 versuchen, ihr Arbeitsgebiet nationalpolitischen Forderungen 
dienstbar zu machen. Wiederholt tritt P. diesen auf falschen Schlüssen auf- 
gebauten Ansprüchen entgegen. Die zahlreichen Beilagen sind besonders zu be- 
KE Sie ermöglichen dem Benutzer eine leichte Nachprüfung der gewonnenen 
Resultate. 

Auf Grund der Grabungen des Danziger Museums im Kreise Putzig ist die 
obere zeitliche Grenze dieser Kultur zu bestimmen. Sie reicht in die Periode V 
der Bronzezeit. Nach dem Hauptfundort wird sie vom Verf. als „Großen- 
dorfer Gruppe“ bezeichnet. Für die folgenden drei Stufen ist von einer neuen 
Stufenbezeichnung abgesehen, da sie den Ansetzungen Reineckes für die jüngeren 
Perioden der Hallstatt- und den älteren der Laténezeit entsprechen. Die Großen- 
dorfer Gruppe umfaßt das untere Weichselgebiet, das östliche Hinterpommern, 
das westliche Westpreußen und das nordwestliche Posen. Ihr Zusammenhang mit 
der gesamtgermanischen Kultur ergibt sich durch einen Vergleich der Metall- 
Beigaben und der Keramik mit dem nordischen und nordwestdeutschen Formen- 
kreis der gleichen Zeit. Interessant ist in dieser Beziehung die Gegenüberstellung 
der Urnen aus Bringvaermoen in Norwegen (Tafel 71), die primitive Ansätze zu 
einer Gesichtsverzierung aufweisen, mit den Gefäßen von Tillitz, in denen der 
Verf. die ältesten Gesichtsurnen sieht. Ihre Entwicklung sowie die Ausbildung 
einer Anzahl auffallender Schmuckformen beweist jedenfalls, daß sih nach der 
Trennung vom westgermanischen Kulturkreis die ostgermanische Kulturprovinz 
zu einer ausgesprochenen Sonderkultur ausbildete. Die enge Verwandtschaft der 


388 


frühostgermanishen Keramik mit der norddeutsch-skandinavischen Bronzezeit 
wird von P. mit Recht besonders hervorgehoben, weil Kosstrzewski versucht hat, 
die Großendorfer Keramik mit der lausitzischen Kultur in Verbindung zu bringen. 
Dagegen spricht das zahlreiche Auftreten des Stöpsel- und Kappendeckels, das in der 
gleichzeitigen lausitzischen Keramik fehlt, in Dänemark aber, Schweden, Schleswig- 
Holstein häufig nachzuweisen ist. Auch sonst tritt der Unterschied gegenüber 
dem Lausitzer Formenkreis in Erscheinung in den Gefäßformen und noch viel 
stärker in den Metallgeräten. Typisch ist auch schon für die Großendorfer 
Gruppe ein Hinneigen zur Familienbestatcung, die sich im Laufe der III. Hall- 
stattstufe weiter ausprägt, in der IV. ihren Höhepunkt erreicht, um sich im 
Laufe der Friihlaténezeit wieder zu kleineren Gräbern zurückzuentwiceln.. Die 
gleiche Entwicklung ist in der lausitzischen Kultur nicht die Regel. Wo — wie 
ın Schlesien — beide Kulturen zusammenstoßen, entsteht eine Mischkultur, die 
von der uniformen, einheitlichen ostgermanischen Kulturprovinz scharf absticht. 
K.s These hängt natürlih mit seiner Slawentheorie zusammen, wonach die 
lausitzische Kultur slawisch oder balto-slawisch sei, aus dem sich dann ein baltisches 
Volkstum der Gesichtsurnenkultur entwickelt habe. Nach dieser Annahme müßte 
die Großendorfer Gruppe sich vor allem nach Osten entwickelt haben. Sie hat 
sich jedoch pead: nach Süden ausgebreitet. In der III. Hallstattstufe erreicht sie 
hart nördlich der Stadt Posen ihre siidlichsten Vo ten; besonders stark ist ihre 
Ausbreitung in der IV. Hallstattstufe, wo sie auf das obere Odertal übergreift. 
In der Frühlatènezeit verschiebt sich der Schwerpunkt dieser Kultur nach Süden. 
In Schlesien wird die Oder überschritten. Es entsteht eine Mischkultur, die letzte 
Reste der lausitzischen Kultur in Schlesien und Kongreßpolen aufsaugt. In dieser 
Zeit dringt sie durch Südpolen bis nach Ostgalizien vor. Um 800 v. Chr. ver- 
schwindet die frühgermanische Kultur in ganz Ostdeuschland und Polen, was nur 
durch eine . Abwanderung zu erklären ist. Eine einwandfreie ethno- 
logische Einordnung bezüglich der germanischen Stämme, die die Träger dieser 
frühgermanischen Kultur gewesen sind, ist bis jetzt nicht gelungen. 
Breslau. E. Pürs dk el. 


389 


V 
ZEITSCHRIFTENSCHAU 


Allgemeines 
P. Bogat H rev: K voprosu ob etnologiceskoj geografii. — Slavia 


7, 3 (1928), S. 600—611. 

_ Die Bezeichnung „ethnologische Geographie“ wird hier analog der Termino- 
logie der linguistischen Geographie angewandt, wie sie z. B. die Marburger Schule 
in Deutschland vertritt. Die Methoden beider Wissensgebiete dürfen nicht 
sklavisch vom einen auf das andere übertragen werden, jede von beiden muß im 
gegebenen Falle ihren eigenen Weg gehen. Zudem fallen die Grenzlinien von 

rache und Volkstum nicht immer zusammen; so z. B. entspricht die Verwandt- 

aft von Märchentypen keineswegs der Sprachverwandtschaft. B. weist auf Beob- 
achtungen hin, die von Sachmatov, Trubeckoj u. a. gemacht worden sind. Es ist 
Ang erkannt worden, welche wichtige Rolle im Leben einer Sprache politische 
und soziale Einflüsse spielen, so müssen auch bei ethnographischen Fragen alte und 
neue politische Grenzen berücksichtigt werden. Bei der Kartographierung ethno- 
graphischer Ergebnisse unserer Zeit ist das Beibehalten der ländlichen Kostüme, 
resp. ihr Verschwinden, sehr beachtenswert. Einzelne Inseln mit konservativen 
Neigungen in bezug auf die Kostümfrage oder dem Beibehalten von Gebräuchen 
können auch in anderer Hinsicht aufschlußreich werden. B. erinnert hier an die 
von Fürst Trubeckoj gemachten Beobachtungen auf dem Gebiet der ostslavischen 
Völker, die viele allgemein slavische Gebräuche nicht bewahrt haben unter dem 
Einfluß fremder Nachbarstämme. Hinsichtlich der Kartographierung einzelner 
ethnographischer Eigentümlichkeiten schlägt B. zwei Methoden vor: einesteils seien 
die Namensausbreitungen gewisser Gebräuche und die Gebräuche selbst zu be- 
achten, andererseits die geographische Unterteilung der Einzelheiten eines solchen 
Gebrauches oder einer Zeremonie. Häufig ergibt die summarische Karto- 
graphierung irgendeines Gebrauches die Möglichkeit, eine bestimmte Periode seines 
Bestehens zu erschließen, und die Kartographierung abgesonderter Einzelheiten 
desselben Gebrauchs kann das Resultat eebe daß eine andere Periode er- 
schlossen wird. Hier sind gerade im Gebiet der geistigen Kultur die Methoden 
zu spezialisieren. 

Neben der Kartographierung ethnographischer Ergebnisse unter Berück- 
sichtigung historischer Data kann sie auch synchronistisch betrieben werden, ähn- 
lich wie sie z. B. de Saussure in der Linguistik angewandt hat. Hierbei spielt die 
Frage nach der Gleichzeitigkeit gewisser Phänomene die Hauptrolle, es kommt 
auf statistische Methoden heraus, die auf die verschiedensten Arten angewandt 
werden müssen. Zunächst muß beobachtet werden, wie sich im Individuum gleich- 
zeitig verschiedene Erscheinungen verschiedener Kulturen widerspiegeln. Neben 
den Untersuchungen individueller Art sind aber auch die sozialer Faktoren ins 
Auge zu fassen. Daneben ist von Wichtigkeit, welche ethnographischen Er- 
scheinungen sich schneller, welche sich langsamer ausbreiten, und welche Ver- 
änderungen sie bei der Übernahme durch ein neues Gebiet erleiden. Diese Art 
Untersuchungen sind natürlid am besten in Grenzgebieten anzustellen und zwar 
vor allem auf Grenzgebieten mit denkbar größter Besiedelung. Was das Über- 
greifen von einem Gebiet auf das andere solcher Erscheinungen anbelangt, so wird 
es, nach der Meinung Bogatyrevs, am besten durch gleichzeitige Einzelstudien in 
zwei benachbarten, ethnographisch verschiedenen Orten zu untersuchen sein, darauf 
möge dann eine weniger eingehende Untersuchung auf einem weiten Gebiet der 
betreffenden Grenzlandschaften folgen. Dabei sind zwei Kardinalpunkte im Auge 
zu behalten: die Feststellung der Ursachen, die zur Einführung auf fremdem Gebiet 
geführt haben, und die Feststellung der Ursachen, die es verhindern, daß ein neuer 


390 


Gebrauch in alte ethnographische Traditionen eindringen kann. Gerade die Ur- 
sachen für derartige Beharrlichkeit einer Tradition ist in der Ethnographie bisher 
wenig erforscht worden. Besondere Wichtigkeit schreibt B. der Untersuchung 
solcher Fälle zu, bei denen gemischte Ehen Ursache zur Aufnahme neuer Gebräuche 
werden können, gleich ob es sich um Frauen handelt, die nach dem Hineinheiraten 
in fremdes Gebiet ihre alten Gebräuche aufgeben, oder um solche, die sie ihren 
Kindern diab, Ke auf den Lebensweg. 

Die methodologische Behandlung der Entlehnungen soll auf zweierlei Weise 
geschehen: man soll sich zunächst auf eng begrenztes Material beschränken, z. B. 
verfolgen, wie sich die Entlehnung von Stickmustern, oder der Wechsel von Ofen- 
typen vollzieht beim Obergreifen zu oder von einer benachbarten, fremden Kultur. 
Daneben soll aber der Kultureinfluß des einen Volksgebietes auf das andere in 
seiner Gesamtheit untersucht werden. Auch miisse beachtet werden, inwieweit 
es sich um die Übertragung streng nationaler Eigentiimlichkeiten handelt und eine 
solche gesondert behandelt werden von solchen, die dem allgemeinen europäischen 
Kultureinfluß zuzuschreiben sind. Sehr interessant sind Beobachtungen auf dem 
Gebiet der Trachten, wo oft das nationale Kostüm künstlich, aus politischen Rück- 
sichten, festgehalten wird. Der geistige Kultureinfluß führt oft zu einem eigen- 
tümlihen Wechsel in der Funktion neu übernommener Gebräuche. Die Unter- 
suchungen werden, je nach ihrer räumlich spezialisierten oder allgemein, auf große 
Gebiete erstrekten Anwendung zu den entsprechenden Schlußfolgerungen be- 
rechtigen. Emmy Haertel. 


Bulgarien 
M. G. Popruzenko: Iz istorii religioznago dviZenija v Bolgarii. 

— Slavia 7, 3 (1928), S. 536—547. 

P. hatte in seiner Einführung zur Ausgabe des ,,Sinodik Carja Borila“ darauf 
hingewiesen, daß möglicherweise die Bestimmung über die Verfluchung von 
Akındina und Varlaam unter dem Einfluß des Konzils von Konstantinopel vom 
Jahre 1851 zustande gekommen sei, da auf diesem Konzil zum erstenmal die Not- 
wendigkeit anerkannt wurde, diese Beiden aus der Kirche auszustoßen, Es wäre 
sehr leicht möglich, daß auf dem bulgarischen Konzil vom Jahre 1854 die Frage 
über die Lehren von Akindina und Varlaam zur Verhandlung gekommen ist, nach- 
dem sicherlich die dort diskutierenden bulgarischen Hierarchen über die Beschlüsse 
von Konstantinopel unterrichtet gewesen sind. Damals mußte auch die ursprüng- 
liche Redaktion der Bestimmung über die Verfluchung Akindinas und Varlaams 
im Sinodik bekannt gewesen sein; die bulgarischen Hierarchen werden durch das 
Auftreten der Anhänger Beider in Trnovo, z. B. des Mönches Feodorit, aufmerk- 
sam geworden sein. Vor allem mußten sie sich mit dieser Frage beschäftigen, als 
man daran ging, die Lehren des Akindinajüngers Prochor Kidoni zu untersuchen, 
dessen Name im Sinodik erwähnt ist. Vielleicht geschah das erst nach 1368, da 

erade in diesem Jahre die byzantinische Kirche den Prochor Kidoni verurteilt 

tte. P. schließt aus diesen Daten, daß die Bestimmung über Akindina, Varlaam 
und Kidoni unter dem Patriarchen Evfimij entstanden sein wird, der tätigen An- 
teil an der Redaktion und Ergänzung des Sinodik genommen hatte. 

Da die Frage nach der Einführung des Anathems über Abtrünnige der 
Orthodoxie abhängig ist vom Grade der Vertrautheit der bulgarischen Geistlichkeit 
mit den Lehren dieser Häretiker, so muß, nach Poprutenkos Meinung, auch das 
Erscheinen der bulgarischen Übersetzung der Schriften des Gregorij Palama wider 
Akindina und Varlaam damit in Verbindung gesetzt werden. P. führt die Daten 
der Tätigkeit Palamas auf diesem Gebiet an, er zieht aus ihnen den Schluß, daß 
unter dem Patriarchen Evfimij die bulgarische Geistlichkeit sich unbedingt mit den 
Werken des Palama beschäftigen mußte. So ist die Übersetzung dieser Schriften, 
die Palama der slavischen Geistlichkeit bekannt machen sollte, sehr interessant im 
Hinblick auf die Einführung abstrakter und feiner logischer Begriffe ins Slavische. 
P. nimmt hier aus der Menge der Handschriften nur die in der Bibliothek der 
auch auf die Wichtigkeit verschiedener vom Übersetzer gemachten Anmerkungen 
bulgarischen Akademie der Wissenschaften befindliche, unter Nr. 10 verwahrte, 
heraus und zeigt, wie derartige Übertragungen versucht worden sind. Er weist 


891 


hin, bringt einen seitenlangen Abdruck der Übersetzung von Palamas „ Ono 
thc oc xiotems, tutedsion ak... Ip. Iahapā“ und beschäftigt sich mit 
der Frage, welche anderen Handschriften zur Vervollständigung der slavischen 
Übersetzung dieses Textes heranzuziehen sind. Die Geschicklichkeit bei der Ober- 
tragung ins Slavische läßt auf das Vorhandensein einer durch Traditionen 
stürzen literarischen Schule schließen. P. vermutet, daß die Übersetzung de 
Schriften des Palamas in Bulgarien zur Zeit des Patriarchen Evfimij entstanden sein 
muß, da damals eine derartige Schule bestand und gerade Evfimij die Irrlehren 
seiner Zeit aufmerksam verfolgte. Emmy Haertel, 


Jugoslavien 


Tih. R. D'or d' evi é: Svatovska groblja. — Slavia 7, 4 (1929), 

S. 927—933. 

An verschiedenen Orten Serbiens gibt es Stellen, die Gräber der Hochzeits- 
gäste genannt werden, ohne daß man wüßte, warum. D'. führt fünf verschiedene 
Versionen an, nach denen in der Volkstradition Hochzeitsgäste umgekommen sind. 
Um die Tradition über die Gräber der Hochzeitsgäste besser zu verstehen, muß 
die Frage beantwortet werden, warum man sie an der Stelle, wo sie umgekommen 
sind, beerdigt hat. Hier sind Sprichwörter, die in verschiedenen Sammlungen auf- 
gezeichnet sind, aufschlußgebend. „Wo einer stirbt, da begräbt man ihn“, sagen 
sie, wobei ein plötzlicher, nicht im eigenen Heim erfolgter Tod gemeint ist. So 
wird auch verfahren, mit Ausnahme des Todes auf dem Schlachtfelde. Der im 
Felde Gefallene wird nach der Heimat gebracht und an der Kirche begraben. So 
haben es auch die Serben im Weltkrieg gehalten, sie haben ihre Toten von weit 
her geholt, um sie zuhause zu beerdigen. Für das Gegenteil, d. h. das Bestatten 
au der Stelle, wo der Tod zufällig eingetreten, zeugen Volkslieder und Märchen, 
die von verschiedenen derartigen Fällen berichten. Es besteht auch der Volks- 
glaube, daß das Wegschaffen eines Toten von einem Dorfe zum andern Dürre oder 
Hagelschlag verursacht. D.“ führt dafür Belege an. Aus dem Gesagten wird er- 
klärlich, daß tatsächlich an vielen Stellen Hochzeitsgäste verunglückt und begraben 
worden sein können. Unklar bleibt es, warum, wie in der 5. Version vom Um- 
kommen der Hochzeitsgäste gesagt, diese selbst beim Begegnen einander umge- 
bracht haben. Emmy Haertel 


Vaclav Burian: Dvé balady o Hasanaginici. — Slavia 7, 3 (1928), 


S. 612—616. | 

B. vergleicht zwei Varianten der Hasanaginica, die von Gesemann veröffent- 
lichte aus der Erlangener Handschrift (Srb. Kral. Akad. v. Srem. Karl Zbornik 
1925) und die von Fortis-Vuk 1900 veröffentlichte (Glas. Mat. Hrvat. 4, S. 125). 
Er hält die erstere für ein Meisterwerk der serbo-kroatischen Volksepik wegen 
der feinen 3 Darstellung der heldischen Fravengestalt. Dahingegen 
kann in der zweitgenannten Variante für keine der handelnden Personen ein 
wärmeres Gefühl aufkommen. Alles in allem greift die erste Ballade ins Meta- 
physische hinüber, die zweite haftet am Irdischen, Endlichen. Die erste ergreift zu 
tiefst, wirkt auf unser Vollen und Handeln, die andere entwickelt vor unserem 
geistigen Auge eine Reihe unbeweglicher Bilder. Die erste ist eminent dramati 
die zweite von typischer Epik. Beide scheinen verschiedenen, von einander nicht 
sehr entfernten Zeiten anzugehören. Über die Entstehungsfolge ist es schwer, 
etwas bestimmtes zu sagen, doch verführt das Dramatische, um nicht zu sagen 
Literarische, der ersteren dazu, in ihr das letzte Wort sehen zu wollen. 

Emmy Haertel. 


Lu ir u ba: Jihoslovanské „alby“. — Slavia 7, 3 (1928), S. 617 
is 620. 


K. bringt drei Liebeslieder mit Noten zum Abdruck, die er in Bosnien, in 
Dalmatien und im serbischen Mazedonien zu verschiedenen Zeiten aufgezeichnet 
hat. Alle drei sind Morgenlieder, in denen der Liebhaber das Mädchen dazu ver- 
führen will, ihn in ihre Kammer zu lassen. Er möchte in dieser Art Lieder eine 
Art Abglanz dessen sehen, was in der provenzalischen Liebeslyrik, im Unterschied 


392 


zur abendlichen „serenada“, als Morgenlied gedacht war. Vielleicht gehen die 
deutschen Wächterlieder, in Frankreich die „aubades“, darauf zurück. Indessen 
will K. damit nicht sagen, daß die im Südslavischen vorkommenden, selten anzu- 
treffenden Lieder dieser Art etwa wirklich Nachklinge der provenzalischen 
Dichtung seien. Vielleicht war in früheren Zeiten diese Art Lieder allgemein, denn 
man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was ın der provenzalischen Dichtung 
ursprünglich, was älteren Mustern nachgebildet ist. K. skizziert seine Ideen über 
die Art, wie in Zeiten, die keine Niederschrift ihres Liederschatzes kannten, die 
Übertragung von Volk zu Volk vor sich gegangen sein mag, 


Emmy Haertel. 
Rußland 


Die Franzosen in Moskau 1812. . 
P. P. Grons ki j: Upravlenie Moskvy pri Napoleone (,,Poslédnija 
Novosti“, Paris, Nr. 3054 v. 2. August 1929) 


schildert anspruchslos die zwangsweise Bildung einer Moskauer „Munizipalität“ 
aus 20 Moskauer Bürgern und die Bestellung des Kaufmanns Nachodkin als Maire 
durch den französischen Generalgouverneur Marschall Mortier. Nach dem Rück- 
zug der Franzosen wurden in Moskau und Smolensk Untersuchungskommissionen 
eingesetzt, um das Verhalten derjenigen Personen zu prüfen, die den Franzosen 
Dienste geleistet hatten. Durch ein Allerhöchstes Manifest wurde im August 1814 
den Mitgliedern der Moskauer Munizipalität in der Franzosenzeit Amnestie 
gewährt. F. Epstein. 


Die Dekabristen. 

Zygmunt Z boruck i: Dekabrysci w świetle najnowszej historjo- 
grafji. Die Dekabristen im Lichte der neuesten Historiographie.) 
—Kwartalnik Historyczny Bd. 42 (1928), S. 656—670.) 


Der Titel trifft nicht ganz zu. Zb. geht auch auf die älteren Ansichten über 
die Dekabristen ein, wird freilich erst bei der Besprechung der 1905—1910 edierten 
Quellenpublikationen ausführlicher. Damals priesen die konstitutionellen, 
westelnden Revolutionäre ihre vermeintlichen Vorgänger. Die Boläeviken da- 
gegen, mit Petrovskij voran, lehnen die Dekabristen als aristokratische Oligarchen 
ab, während die russische Emigration sich dem Standpunkt von 1905 nähert und 
die Ukrainer die separatistischen Elemente des Dekabrismus unterstreichen. 
Waliszewski aber sieht in den Dekabristen verleugnete Vorfahren des Boläevismus. 

Otto Forst-Battaglia. 


B. Kos min: N. G. Cernylewskij und die III. Abteilung (N. G. 

en) i III otdelenie). — Krasnyj Archiv Bd, 29. S. 175 

is 190. 

Nach der Revolution von 1905 wurden in den Archiven zahlreiche Doku- 
mente über Cernylevskij gefunden, die seinerzeit von den Historikern der 
Offentlichkeit mitgeteilt wurden. Aber auch heute finden sich noch Materialien, 
die die Vorgeschich te des Prozesses von Cernylevskij beleuchten. Zu solchen ge- 
hören die hier veröffentlichten Berichte der Agenten der III. Abteilung über C. 
und seine Anhänger. 7 kleine Berichte, die aus Kleinigkeiten, Dienstbotenklatsch 
und seine Anhänger: 7 kleine Berichte, die aus Kleinigkeiten, Dienstbotenklatsch 
und Agentenvermutungen bestehen, und 2 Memoranda der III. Abteilung, von 
denen sich eins ausschließlich mit der Person Cernylevskijs beschäftigt. Hervor- 
zuheben ist ein Bericht vom 6. Juni 1862, in welchem versucht wird, die 
„Cernylevskij- Leute“ für die Brandstiftungen, die damals ganz Petersburg auf- 
regten, verantwortlich zu machen. — Ein Memorandum der III. Abteilung vom 
27. April 1862 macht uns mit einem — allerdings nicht verwirklichtem — 
Projekt der III. Abteilung bekannt: man beabsichtigte Haussuchungen und Massen- 
verhaftungen an einem bestimmten Tage vorzunehmen, um die Entwicklung der 
revolutionären Propaganda in Peterskure zu unterbinden. An der Spitze der 
»Verbrecherliste steht der Name von Černyševskijš. Die Polizei schien jedoch 


898 


die Wirkung dieser außerordentlihen Maßnahmen im Publikum zu befürchten. 
Der Gendarmenchef Fürst Dolgorukij vermerkte auf dem Bericht: „Es empfiehlt 
sich, den Zeitpunkt für diese Haussuchungen mit besonderer Sorgfalt zu wählen.“ 
— Von der Durchführung dieses Planes wurde abgesehen, dafür aber andere 
Maßnahmen ergriffen: die Sonntagsschulen und Lesestuben wurden geschlossen, die 
von C. redigierten Zeitschriften „Sovremennik“ und „Russkoe Slovo“ verboten. 
Die Reaktion, die sich der öffentlichen Meinung bemächtigt hatte und nicht zuletzt 
auf die rätselhaften Brandstiftungen zurückzuführen war, gab der Regierung die 
Möglichkeit, gegen die „Meuterer“ energisch vorzugehen. 
Eugenie Salkind 


Russisch - türkischer Krieg 1877—78. 
V. Mjakotin: Evropejskaja diplomatija pered russko-tureckoj 
vojnoj. — „Posl&dnija novosti“ (Paris) Nr. 3025 v. 4. Juli 1929. 
Mj. referiert über eine neue bulgarische Darstellung der diplomatischen 
Verhandlungen vor Ausbruch des russisch-türkischen Krieges von 1877—78 von der 
Berufung der Konstantinopeler Konferenz 1876 bis zur russischen Kriegs- 
erklärung: K. KoZularov, Ot Carigradskata konferencija do russko- 
turskata vojna 1877 g.: „Makedonski Pregled“ IV, 8 (Sofija 1928). Nach Mj. legt 
Kožučarov die Verantwortung für die schließliche kriegerische Zuspitzung des 
russisch-türkischen Konflikts den englischen Staatsmännern Disraeli, Derby und 
Salisbury zur Last. F. Epstein. 


Zur kirchlichen Verwaltung Rußlands 1907—1911. Aus der Korre- 
spondenz des Erzbischofs Antonij. 

Nach den ,,Poslédnija Novosti“ (Paris) Nr. 3094 v. 11. September 1929 ver- 
öffentlicht die in Belgrad erscheinende russische Zeitschrift ,,Carskij Véstnik‘* in 
ihrer Nr. 56 Briefe, die der Erzbischof von Volynien und Zitomir Antonij von 
einer 1907 im Auftrage des Synod vorgenommenen Inspektion der geistlichen 
Akademien an den Metropoliten von Kiev und Halič Flavian richtete und die 
SE glaubliche sittliche Zustände in der Kazaner Geistlichen Akademie ent- 

üllen. 

Einen Beitrag zur geistlichen Diktatur Rasputins bildet ein an der gleichen 
Stelle mitgeteilter Brief des Metropoliten Antonij vom 11. August 1911 über die 
Vorgänge, die zu der der Religion hohnsprechenden Weihe des Mönchs Varnava, 
des Kandidaten Rasputins, zum Bischof führten; das Schreiben besitzt besonderen 
Wert, da Antonij damals Vorsitzender des Synod war. F. Epstein. 


Ein Anschlag des russischen Flottenkommandos in der Ostsee gegen 
die schwedische Flotte während des Weltkriegs. 

Unter der Uberschrift: „Keine Phantasie, sondern Geschichte“ liefert in den 
»Poslédnija Novosti“ (Paris) Nr. 3114 v. 1. Oktober 1929 der Kapitän II. Ranges 
A. Lukin einen Beitrag zur Geschichte der russisch- schwedischen Beziehungen 
während des Weltkriegs. Um militärischen Oberraschungen im Falle eines An- 
schlusses Schwedens an die Mittelmächte vorzubeugen und die russische Herrschaft 
im nördlichen Teil der Ostsee zu sichern, reifte (Juli 1915? In der Mitteilung 
Lukins steht Juli 1914) beim Kommando der baltischen Flotte, Admiral Essen, 
und dem Flagg-Kapitän der Operations-Abteilung, Kapitän I. Ranges, Koléak, der 
Plan einer Flottendemonstration gegenüber den an der Nordspitze von Gotland 
zusammengezogenen schwedischen Seestreitkräften. An den schwedischen Admiral 
sollte in ultimativer Form das Ansinnen gestellt werden, die schwedische Flotte 
für die Dauer des deutsch-russischen Krieges im Hafen von Karlskrona vor Anker 
zu legen. Der Entwurf eines entsprechenden Schreibens, den Lukin im Wortlaut 
mitteilt, wurde indessen von der dem Flottenkommando vorgesetzten Stelle, dem 
Oberkommando der 6. Armee in’ Petrograd, nicht gebilli Anstatt der er- 
betenen telegraphischen Zustimmung empfing der Flottenchet, der sich bereits 
zu der Operation eingeschifft hatte, den Befehl, die Flotte unverzüglich zu ihrer 
Basıs zurückzuführen. F. Epstein. 


394 


Der russisch - tiirkische Krieg zur See 1916. 

Eine Veröffentlichung des Kontreadmirals M. I. Smirnov, des ehemaligen 
Stabschefs der russischen Flotte im Schwarzen Meer: „Minnyja operacii u Bosfora 
v. 1916 g.“ in den „Posl. Novosti“ (Paris) Nr. 8088 v. 81. August 1929 und die 
Entgegnung des Kapitäns A. Lukin (ebda. Nr. 8085 v. 2. September 1929) be- 
leuchten grell die Differenzen im russischen Flottenkommando über den Einsatz 
der Minenleger zur Verseuchung des Bosporus. Dem Admiral Eberhard warf 1916 
das Große Hauptquartier vor, er entfalte nicht genügend Aktivität in der Bl 
des Bosporus. Er wurde durch Admiral Kollak ersetzt, der Smirnov von der 
Ostsee als Flaggkapitin der Operationsabteilung des Stabes der Flotte im 
Schwarzen Meer nach Sevastopol mitnahm. Lukin hält die kühne, von Smirnov 
vorbereitete und in ihrer Wirkung sicher übertriebene Minenstreuung im EE 
am 21., 22. und 28. Juli 1916, die ihr Ziel, den deutschen Einheiten die ahrt 
ins Schwarze Meer unmöglich zu machen, nicht erreichte, für einen politischen 
Fehler. Anstatt die deutschen Schiffe im Bosporus einzuschließen, wo die 
„Goeben“ den Türken und Bulgaren gegenüber die Aufgabe der deutschen 
Diplomatie wirksam unterstützt habe, hätte man zie immer wieder in die russi- 
schen Minenfelder im Schwarzen Meer herauslocken müssen, denen z. B. vor 
Odessa der türkische Kreuzer „Medshidie“ zum Opfer fiel. 

F. Epstein. 
Die Zeit der provisorischen Regierung 1917. 

Mit Kerenskijs Darstellung der Vorgänge im Juli/August 1917 setzt 
zich P. P. Jurenev, der von der Kadettenpartei aus der Regierung Kerenskijs 
angehörte, in den „Poslkdnija Novosti“ (Paris) Nr. 8085 v. 8. August 1929 unter 
dem Titel: „Po povodu vospominanij A. F. Kerenskago“ auseinander. 


F. Epstein. 
Die Ostchinesische Bahn. 

Als Beitrag zur Geschichte der Ostchinesischen Bahn (Pro$loe i nastojal&ee 
Vostotno-Kitajskoj 2. d.“) veröffentlichten die ,,Poslédnija Novosti“ Nr. 8048 v. 
22. Juli 1929 eine mit dem Signum Ja. K —ij gezeichnete Unterredung mit A. I. 
Putilo v, dem Direktor der Kanzlei Wittes und späteren Leiter der Russisch- 
Asiatischen Bank. Die Erzählung Putilovs bietet bemerkenswerte Einzelheiten zur 
Vorgeschichte des Baus der Ostchinesischen Bahn und der Besetzung von Port 
Arthur und über Putilovs ergebnislose Verhandlungen mit dem Londoner Bot- 
schafter der Sovetunion, Rakovskij, und dem Direktor der Staatsbank, Scheinmann, 
in der ersten Zeit der Sovetherrschaft; danach hätten die Sovets, während 
Putilov und die hinter ihm stehenden Kreise noch die Internationalisierung 
der Bahn im Einvernehmen mit der bolschevistischen Regierung anstrebten, um 
ihre Obernahme durch die Chinesen zu verhindern und eine für die Aktionäre 
der Russisch- Asiatischen Bank zufriedenstellende Vereinbarung herbeizuführen, 
gleichzeitig mit Tschang-Tso-Li über das Abkommen verhandelt, das die 
Russisch. Asiatische Bank ihres Einflusses auf die Verwaltung der Bahn völlig 
beraubte. F. Epstein. 


Aus dem Merkbuch eines Archivars. Zur Biographie von D. I. 
Pisarev (K biografii D. I. Pisareva). — Krasnyj Archiv Bd. 29. 
S. 210—223. 


Im Juni 1866 wurden vom Zensurkomitee die von Pavlenkov, einem Freund 
und Verleger D. I. Pisarevs, herausgegebenen Werke des Kritikers beschlagnahmt, 
weil man in einigen Artikeln regierungsfeindliche Sätze zu finden glaubte. In 
diese Zeit fallen die hier veröffentlichten Briefe von Pisarev an Pavlenkov; zur 
großen Entrüstung seines Freundes lehnte es Pisarev entschieden ab, ihm mit 
Unterstützung und Rat während des Gerichts verfahrens zur Seite zu stehen. — 
Die zweite Gruppe der Dokumente bezieht sich auf einen anderen Prozeß, der 
bald nach dem Tode Pisarevs entstand: der treue Freund und Anhänger Pavlenkov 
beabsichtigte ein Stipendium im Namen Pisarevs zu gründen und ließ zu diesem 
Zwecke — ohne ES Erlaubnis der Regierung vorher einzuholen — eine große 
Anzahl von Aufrufen drucken, die an die intellektuelle Jugend Rußlands ver- 


6 NP 6 395 


sandt werden sollten. Doch wurden diese Formulare bei einer zufälligen Haus- 
suchung entdeckt, auch fand man das Manuskript der Rede, die vom iftsteller 
Giers am Grabe des Kritikers gehalten wurde, und da in dieser Rede die Un- 
sterblichkeit der Seele angezweifelt wurde, übergab man die beiden Freunde 
Pisarevs dem Gericht. 

Diese Dokumente — die „atheistische Grabrede“ und eine Verteidigungs- 
schrift Pavlenkovs sind hier ebenfalls veröffentlicht — dienen zur Charakteristik 
des Einflusses, den Pisarev, ein sehr begabter, frühvollendeter Publizist und 
Popularisator der sozialen und naturwis senschaftlichen Theorien, auf die russische 
Jugend auszuüben verstand. Eugenie Salkind. 


Aus dem Merkbuch eines Archivars. (Iz zapisnoj knizki archivista). 
— Krasnyj Archiv Bd. 31. 


In den kirchlichen Kreisen vor der Revolution (V 
cerkovnych krugach pered revoljuciej) (P. Sadikov, S. 204—218). Im Geheim- 
archiv des Synods in Leningrad wurden 119 Briefe des Erzbischofs von Wolynien, 
Antonij, an Flavian, den Metropoliten von Kiev gefunden, die einen Einblick in 
die Stimmungen der Geistlichkeit vor der Revolution gewähren. Antonij — sein 
weltlicher Name war Alexej Chrapovickij, er war ein Nachkomme des bekannten 
Serketärs Katharina II. — hatte eine schnelle und glänzende Karriere gemacht: 
1890 (87 jährig) wurde er zum Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie er- 
nannt, 1902 war er bereits Erzbischof von Wolynien. Durch die ihm unterstellte 
Geistlichkeit verstand er auf das einfache Volk im monarchistischen Sinne zu 
wirken und rief eine Organisation ins Leben, die sich „Wahrhaft russische Männer“ 
nannte, monarchistische Demonstrationen und Pogrome veranstaltete. Nach der 
Revolution von 1905 kamen auf Veranlassung des Erzbischof: Tausende von 
Bittschriften, welche die Abschaffung des Freiheitsmanifestes vom 19. Oktober 
erflehten, aus Wolynien in Petersburg an. Nach der Kriegserklärung ging Antonij 
nach Charkov über und entfaltete dort eine rege Tätigkeit, hielt Reden vor den 
abziehenden Truppen, verteilte Kreuze und Geschenke und versuchte, die Kri 
stimmung im Sinne der Regierung aufrechtzuerhalten. Die Revolution fand i 
an der Spitze der Geistlichkeit, die die Wiederherstellung des Patriarchats propa- 
gierte; als gebildeter, kluger, von einflußreichen Freunden unterstützter Würden- 
träger, rechnete Antonij auf den Erfolg seiner Kandidatur, — doch fiel die Wahl 
auf einen anderen. Bald nach der Oktoberrevolution ist er nach dem Athos geflohen. 
In den Briefen an den Metropoliten Flavian, die in die Zeit vom 81. Mai 1905 
bis 6. Juni 1915 fallen, werden Probleme des kirchlichen und öffentlichen Lebens 
behandelt, die den Erzbischof bewegten: die atheistischen Stimmungen der Jug 
die Politik des heil. Synods, dessen Mitglied er war, der steigende Einfl 
Rasputins, die Diskussion über die Entziehung des Kirchenlandes usw. Die Ant- 
worten des anderen Korrespondenten sind uns leider nicht erhalten. — „Zur 
Geschichte der Befreiung von Cernylevskij“ K istorii 
osvoboidenija N. G. Cernylevskogo, S. 214—219) bringt Sadikov einen Brief des 
Grafen P. P. Suvalov, des Flügeladjutanten des Caren, an N. I. Nikoladze, dessen 
Antwort (Februar 1888) sowie ein anoymes Befreiungsprojekt, das wahrscheinlich 
von den beiden verfaßt war. Nikoladze spielte in da Jahren die eigenartige 
Rolle eines Vermittlers zwischen der Revolutionspartei „Narodnaja Volja“ (Volks- 
wille) und der Organisation „Svjallennaja Družina“ (Heilige Schar i deren 
Spitze Graf Šuvalov, ein links eingestellter Höfling, stand. Der „Volkswille” war 
bercit, unter einigen Bedingungen Konzessionen zu machen: die wichtigste darunter 
war die Befreiung von CernySevskij, der seit vielen Jahren als Verbannter in 
Viljujsk (Sibirien) lebte. — Neue Materialien zur „Flucht von Sergej 
Degaev“ (Pobeg Sergeja Degaeva) veröffentlicht S. Valk (S. 219—222). Sergej 
Degaev ging in die Dienste der Polizei über, nahdem man ihn als Inhaber einer 
Ge * verhaftet hatte. Da man ihn aber unmöglich befreien konnte, 
ohne den Verdacht der Revolutionäre zu erwecken, inszenierte man eine „Flucht“, 
die nicht nur den Revolutionären vollkommen glaubwürdig erschien, sondern au 
bei den meisten Polizeibeamten, die in das Doppelspiel nicht eingeweiht waren, 
keinen Zweifel erweckte. Die geschickt in Szene gesetzte „Flucht“ von 


396 


gab ihm die Möglichkeit, seme Tätigkeit in den revolutionären Kreisen fortzu- 
setzen: durch den Verrat der Vera Figner an die Polizei wurde der Untergang des 
„Volkswillen“ besiegelt. — „Aus der Geschichte des Kampfes mit 
der sozialistischen Bewegung im carıstishen Rußland“ 
(Iz istorii bor’by s sozialistiteskim dviZentem v zarskoj Rossii) S. 228—24 bringt 
N. Beljavskij interessante Details: die Einführung der Sozialistengesetze in Deutsch 
land (1878) hatte eine Massenemigrierung der entlassenen deutschen Arbeiter nach 
dem benachbarten Polen und Rußland zur Folge; diese Bewegung hatte die Auf- 
merksamkeit des russischen Generalkonsuls in Danzig Baron Freitag von Loring- 
hofen erregt, der in einem Brief (Juni 1878) an das Ministerium des Inneren auf 
die Gefahr der sozialistischen Propaganda hinwies und den Vorschlag brachte, die 
Einreiseerlaubnis nur Nicht-Sozialisten zu gewähren. Da die Befürchtungen des 
Danziger Konsuls sich sehr bald als berechtigt erwiesen, wurde sein Projekt vom 
Ministerium des Inneren an den russischen Botschafter in Berlin weitergegeben. — 
„Der un veröffentlichte Brief von A. I. Herzen“ (Neopubliko- 
vannoe pis mo A. I. Gercena, S. 224—26) ist von B. Kosmin im Archiv der 
III. Abteilung in Abschrift gefunden worden: er ist an Cerkesov, einen bekannten 
Revolutionär der Oer Jahre gerichtet, der im Auslande für die Geheimgesellschaft 
„Land und Freiheit“ wirkte. In diesem Brief, der zeitlich in den Beginn des 
polnischen Aufstandes von 1868 fällt, nimmt Herzen zur Politik der russischen 
Regierung Stellung, die durch Verbreitung falscher und übertriebener Gerüchte 
den nationalen Haß der russischen Soldaten zu entfachen suchte. 


Eugenie Salkind. 


A. Nikol's ka ja: „Slovo“ Mitr. Kievskogo Ilariona v pozdnejgej 

literaturnoj tradicii. — Slavia 7, 3 (1928), S. 549—556. 

N. macht es sich zur Aufgabe, die rhetorischen Formeln in den Schriften des 
Ilarion in ihrer Wirkung auf die spätere Literatur des alten Rußland zu verfolgen. 
Eingangs weist sic auf das Typische solcher poetischen Formeln überhaupt und auf 
die Literatur darüber hin. Camblak und Turovskij z. B. haben viel von ihren 
byzantinischen Vorgängern übernommen. Ilarion verdankt, ihrer Meinung nach, 
zum guten Teil gerade diesen künstlerischen Zutaten die Wirkung seiner Schriften 
auf Jahrhunderte. N. schickt einen Überblick über die vorhandenen Texte des 
„Slovo o zakone i blagodati“ voraus und stüzt sich dabei auf die in Nikol’skijs 
„Materialy dlja povremennago spiska russkich pisatelej* (S.P.B. 1906) enthaltenen 
Angaben. Sie hält die älteste Redaktion (Nr. 591 der Moskauer Synodalbibliothek) 
für die am meisten wertvolle für ihre Untersuchungen. Zur Erleichterung ihrer 
Aufgabe erläutert sie zunächst die ganze Komposition des „Slovo“, um davon aus- 
gehend die Anklänge daran bei der nachfolgenden Generation ersichtlich zu machen. 
Teil 1 des „Slovo“ hat sichtlich auf Turovskij, Kliment Smoljatié usw. eingewirkt, 
doch bleiben die Anregungen, die davon ausgegangen sind, zurück hinter denen 
von Teil 2 und 8 der ersten Redaktion. Auf den aus diesen Teilen gewonnenen 
Resultaten fußt auch zum größten Teil die vorliegende Arbeit. Die Anfangsworte 
von Teil 8 und ihre rhetorischen Formeln lassen sich immer wieder als Muster 
für spätere Schriften nachweisen, das älteste Denkmal, in welchem sie Nachahmung 
gefunden, ist die „Zitie Knjaza Vladimira“. Emmy Haertel. 


A. Nikol’skaja: „Slovo“ Mitr. Kievskago Ilariona v pozdnejsej 
literaturnoj tradicii. — Slavia 7 ‚4 (1929), S. 853—879. 


N. setzt die in Heft 7,8 begonnenen Untersuchungen iiber die Wieder- 
holungen fort, die Ilarions Formel „Chvalit bo Rim veliki . . . Petra i Pavla. 
in der großrussischen älteren Literatur gefunden hat. Anders war es in der 
ukrainischen Literatur. Hier hatte der starke Einfluß Westeuropas auf die Hagio- 
graphie dazu geführt, daß die ukrainischen Heiligenleben in Übersetzungen nach 
Skarga bestanden oder daß überhaupt der Barockstil mit seinem Wortreichtum 
und klassischen Reminiszenzen tonangebend wurde. Dahingegen griff die welt- 
liche Poesie die Formeln Ilarions auf. N. zitiert zum Beispiel die Verse auf den 
Tod des Hetmans Sahajdatnyj, die der Mohilevskische Kollegienprofessor Sakovie 
verfertigt hatte. 


397 


Im weiteren untersucht N. die Anregungen, die auf die apii Literatur aus 
Ilarions „Slovo“ ausstrahlten, wo es zur Nachfolge Christi auffordert. Besonders 
lehrreich in dieser Hinsicht ist „Slovo al’noe o blagovernom velikom knjazě 
Boris Aleksandrovičě“ des Eremiten Foma, aus dem: große Textstellen, synop- 
tisch mit den entsprechenden bei Ilarion, hier zum Abdruk kommen. — Auch 
der Schluß des 3. Teils von Ilarions „Slovo“ ist vielfach von der späteren Literatur 
übernommen worden. Auch dafür folgen Beispiele. Die Beeinflussung durch 
Ilarions Formeln in der polemischen und geschichtlichen Literatur ist zu ersehen. 
Selbst solche späten Niederschriften wie die „istorija o Kazanskom Carstvě“ und 
die „Sibirskaja letopis“ zeigen davon Spuren. Nachdem Verf. auch aus dieser 
Art Literatur mehrfache Proben zitiert, bemerkt sie zusammenfassend, daß Ilarion 
hauptsächlich kopiert worden ist in den russischen Heiligenleben, die schon im 
15. Jahrhundert die Neigung hatten, lobrednerisch zu sein, doch war sein Erfolg 
bei den Nachahmern aus dem 16. und 17. Jahrhundert noch größer. In der histori- 
schen Literatur wurde er als Modell benützt, so oft die Eroberung neuer Gebiete 
durch russische Herrscher geschildert wurde, namentlih wenn sie von „Un- 
gläubigen“ bewohnt waren. Bei Erwähnung der Beobachtungen über größere oder 
eringere Abänderungen, welche die Formeln Ilarions bei seinen Nachahm ern er- 
Been haben, weist N. darauf hin, daß es an einer Geschichte des Stils der alt- 
russischen Denkmäler noch fehlt, daß deshalb vielleicht die von ihr gemachten 
Zusammenstellungen eines Tages nutzlos werden könnten. Für Studien auf dem 
Gebiet der Veränderungen der dichterischen Formeln der russischen Sprache über- 
uaupı dürften sie wohl-immer von Wert bleiben. Emmy Haertel 


M. Cjavlovskij: Neuentdeckte PuSkinsche Manuskripte und 
Materialien (Novye PuSkinskie rukopisi i materialy). — Krasny) 
Archiv Bd. 31, S. 155—159. 


Im Archiv der Fürsten Gortakov, Enkelkindern des Kanzlers A. M. Gor- 
Cakov wurden bald nach der Revolution Autographe von Puškin und wertvolle 
Materialien entdeckt, die sich jetzt im Leningrader Zentral-Historischen Archiv 
befinden. Die Materialien lassen sich in 5 Gruppen gliedern: 1. Autographe von 
Puškin; 2. Literarische Arbeiten; 3. Briefe; 4. Materialien, die sich auf Puškins 
Tod beziehen und ö. Familienalben. 

Von den Pu3kinschen Autographen ist in erster Linie das große Gedicht 
„Der Mönch“ zu erwähnen und kleine Gedichte aus den Jahren 1814—17, deren 
erste Fassung man bisher nicht gekannt hat. In Heften und Alben, auch auf 
einzelnen Blättern fand man handschriftliche Kopien zahlreicher Gedichte von 
A. S. PuSkin, K. N. Batjulkov, A. F. Voejkov, der Fürstin Z. A. Volkonskaja, 
P. A. Vjazemskij, D. Davydov, Bar. A. A. Delvig, V. A. Zukovskij, A. D. Illi- 
Cevskiy (Lyzeumsfreund von Puškin und Gortakov), V. L. Puškin, F. I. Tjutlev 
und von anderen z. T. unbekannten Autoren. Der Briefwechsel enthält außer den 
Briefen des Kanzlers Gortakov auch zahlreiche an ihn gerichtete Schreiben. 
Darunter interessieren besonders die Briefe des Lyzeumsdirektors E. A. Engel- 
hardt und der jungen Lyzeisten Lomonosov, Jakovlev, Malinovskij, Korsakov 
u. a, die ein Licht auf die geistigen Interessen der Lyzeisten werfen. Die 
Dokumente, die Puškins Tod betreffen, sind zum größten Teil bereits früher 
bekannt gewesen. — Von den vier Familienalben, die im Archiv aufbewahrt 
wurden, gehörten 3 dem Kanzler Gortakov und das vierte vermutlich seiner 
Frau, der Fürstin Maria Alexandrovna. Ein Lyzeumsalbum mit Gedichten und 
Sprüchen der Lyzeisten bringt auch eins der frühesten von den bisher bekannten 
PuSkinschen Autographen, 

Alle hier erwähnten Manuskripte und Dokumente werden bald zur Ver- 
öffentlichung gelangen. Eugenie Salkind. 


P. Ščegolev: Das Gedicht von A. S. Puškin „Der Mönch“ (Poema 
A. S. Puškina „Monach“). — Krasnyj Archiv Bd. 31, S. 160—201. 


Von der Existenz des PuSkinschen Gedichts „Der Mönch“, das in der 
Lyzeumszeit entstand, erfuhr man zum erstenmal aus einem Artikel von Gaevskij 


398 


„Pulkin im Lyzeum und seine Lyzeumsgedichte“. Danach sollte Puškin etwa in 
den Jahren 1811—18 (also 12—14 jabrig) eine erotische Dichtung verfaßt haben, 
die er aber später auf den Rat seines Freundes Goréakov hin selbst vernichtet 
hätte. Dieses angeblich vernichtete Werk ist nun im Familienarchiv der Fürsten 
Gortakov unversehrt gefunden worden; über ein Jahrhundert lang wurde es 
dort sorgfältig aufgehoben und gehiitet. Es ist begreiflich, daß selbst ein unreifes 
jugendliches Werk des größten russischen Dichters bei seinem Erscheinen nicht nur 
das Interesse der PuSkinisten, sondern auch das der weitesten Kreise hervor- 
rufen mußte; man grollte dem unbegreiflichen Starrsinn der Fürsten Gor¢akov, 
die außer diesem Dokument auch noch andere PuSkinsche Autographe der Offent- 
lichkeit so lange vorenthalten hatten. 

Die Dichtung zerfällt in 8 Lieder und zeugt von einem erstaunlichen Kom- 
positionsvermögen, das freilich die Archaismen, manche stilistische Unebenheiten 
und die kindliche Naivität des Ganzen nicht aufzuwiegen vermag. — Stegolev 
unterwirft das Werk einer literarhistorischen Kritik und weist in erster Linie auf 
den Einfluß von Voltaire hin, den P. in diesen Jahren besonders verehrte und 
dessen dreiste Dichtung „La pucelle d' Orléans“ er ein „goldenes, unvergeßliches 
Buch, einen Katechismus des Wies" nannte. An zweiter Stelle ist auch der 
Einfluß Barkovs zu erwähnen, des Verfassers zahlreicher erotischer Gedichte, die 
bis heute noch zu der Manuskriptenliteratur gehören. 

Das neuentdeckte Gedicht trägt aber auch autobiographische Züge: das 
Kloster ist hier Sinnbild des Lyzeums, der Mönh — ein Lyzeist, dem die er- 
wachende Sinnlichkeit seltsame Bilder vorgaukelt. 

Im 81. Bande des Krasnyj Archiv ist das erste Lied mit den PuSkinschen 
Autographen veröffentlicht; der nächste Band bringt den Schluß der Dichtung. 


pulkins Tod. F 
»Vystrél Dantesa. Neizdannoe pismo o smerti Puškina“: — „Rul“ 

(Berlin) Nr. 2509 v. 26. Februar 1929. 

L. Modzalevskij veröffentlicht einen am 80. Januar 1887, dem Tage 
nach Puškins Tod, geschriebenen Brief des Grafen Dimitrij Nik. Tolstoj- 
Znamenskij (1806—1884) an einen nicht ermittelten Adressaten; der Brief ist durch 
Wiedergabe einer für den Dichter in höchstem Grade beleidigenden Äußerung des 
Gesandten Baron Heckeeren für die Vorgeschichte des Duells von Belang. Vgl. 
„Osteuropa“ 4 (1928—1929), 615 f. F. Epstein. 


Eine neuaufgefundene Handschrift von Griboedovs „Gore ot uma“. 
A.V.Milovidov: ,,Begitevskaja (Ekaterininskaja) rukopis „Gore 
ot uma“ A. Y Griboedova: — Tul’skij kraj Nr. 13 = 1929 (April) 
Nr. 1, S. 54—57 — 
macht nähere Mitteilungen über cine unlängst aufgefundene Abschrift von 
Griboedovs „Gore ot uma“, die von der Schwester von Griboedovs Freund Stepan 
Nikitič Begičev angefertigt worden war. Das Manuskript, auf das Milovidov 
zuerst in einem Beitrag zum Sammelwerk „Po Tul’skomu kraju“ (Tula 1925), 
S. 586—588: „A. S. Griboedov v s. Ekaterininskom“ aufmerksam machte, weist 
zahlreiche Korrekturen von Begitevs Hand auf, die auf einen Vergleich der 
Abschrift seiner Schwester mit der noch nicht ins Reine geschriebenen Handschrift 
Griboedovs zurückgehen. Mitgeteilte Beispiele lassen den Wert der neuen 
Variante zu den bisher bekannten Fassungen der berühmten politischen Satire 
erkennen: der Fund dürfte eine Revision der letzten maßgebenden Drucke, der 
1918 von N. K. Piksanov besorgten Akademie-Ausgabe und der von der Theater- 
Abteilung des Volkskommissariats für Bildungswesen veranlaßten Ausgabe unter 
P. L Gnedié (1919), zur Folge haben. F. Epstein. 


A. Derman: Eine der Cechovschen Richtlinien. (Odna iz 
Rn Magistralej.) — Novyj Mir, Nr. 9, September 1929, 


_ „In allen Biographien von Čechov wird, wenn von seiner inneren Entwicklung 
die Rede ist, sein Brief an Suvorin aus dem Jahre 1899 zitiert: „Der Schriftsteller 


399 


braucht vor allen Dingen Reife; dann aber auch das Gefühl der persönlichen 
Freiheit; früher ich diese Gefühle. nicht gekannt, sie wurden durch meinen 
Leichtsinn, Nachlassigkeit und Mangel an Achtung für die Arbeit mit Erfolg er- 
setzt. Was die adligen Schriftsteller von der Natur umsonst bekamen, das mußten 
die Raznolincen mit dem Preis ihrer Jugend erkaufen.“ Unter ,,Raznoti 
versteht hier Cechov nicht das intellektuelle Proletariat, sondern vielmehr 
Kleinbürgertum, dem er ja selbst, Sohn eines früheren Leibeigenen, in seiner 
Jugend von der Gedanken- und materiellen Armut der elterlichen Verhältnisse 
geplagt, angehörte. Es bedurfte für Cechov eines langwierigen Prozesses, um sich 
von den Spuren der „Sklavenpsychologie“, wie er sie selbst bezeichnete, freizu- 
machen. Darum galt sein Haß ın reiferen Jahren ın erster Linie der Autorität, 
in der er die Quelle aller Obel erblickte, — sei es die Autorität der Obrigkeit, 
der Kirche, der Familienväter oder der Wissenschaft. Dieser Kampf gegen die 
5 im Namen der Menschenwürde läßt sich in allen Werken vs ver- 
olgen. 

Eine parallele Erscheinung dazu bilder das Streben von Cechov, die 
literarische Tradition, die in Routine auszuarten drohte, zu bekämpfen. Er bricht 
mit dem literarischen Stil der vorhergehenden Turgenevschen Epoche ab, die aus- 
führliche Biographien der Helden, lange Perioden und eine gewählte Sprache vor- 
schrieb, und ist ständig bemüht, durch eine unerwartete Wendung, einen frische: 
und zugleich kühnen Vergleich dem Leser, wie er sagt, „eins zu versetzen“. 
Handlung muß immer neu sein, schreibt er an seinen Bruder Alexander, . . hüte 
dich vor schönem Stil. Vergiß nicht, daß Liebeserklärungen, Untreue von 
Frauen und Männern, Witwen-, Waisen- und andere Tränen nur allzu oft ge- 
schildert wurden.“ In der Literatur der 90 er Jahre tritt Cechov als Novator 
auf: seine kurzen Erzählungen und besonders seine Dramen, die zuerst keine 
freundliche Aufnahme bei dem Publikum fanden, zeugen von der Unabhängigkeit 
seines Schaffens. Eugenie Salkınd. 


Meyerhold. l 
Jfr.: Teatr. Meyerholda. (Das Theater Meyerholds.) — Wiadomości 

Literackie 1929, Nr. 29. 

Übersicht über die Tätigkeit des 1920 zu Moskau begründeten, von Meyer- 
hold nach seinen bekannten Grundsätzen geleiteten staatlichen Theaters, für das die 
Stücke von Majakovskij, Tertijakov, Erenburg, Erdmann, sowie die Neu- 
bearbeitungen älterer klassischer Stücke wie der von Gogol („Revisor“) und 
Ostrovskij, also ein Programm des Realismus etwa im Sinne des Novyj Lef 
charakteristisch sind. Otto Forst-Battaglia. 


F. Roginskaja: Moskauer Kunstleben. (Chudożestvennaja žizn’ 

Moskvy). — Novvj Mir. Nr. 8—9, 1929, S. 302—314. 

Die zahlreichen Moskauer Künstlervereinigungen haben, wie alljährli 
diesem Herbst Ausstellungen veranstaltet. Die älteren Künstler fan sich in 
der Vereinigung ,,Zar-Zwet zusammen, einer Verzweigung der vor der Revo- 
lution bekannten ästhetisierenden Gruppe „Mir Iskusstva“ („Die Welt der Kunst“), 
an deren Spitze einst Djagilev stand. Die Arbeiten der führenden Maler di 
Gruppe — Bogaevski, Sacharov u. a. — lassen ihre geistige Verwandtschaft mit 
der „Welt der Kunst“ erkennen; die graphische Abteilung Ausstellung ist auf- 
schlußreicher als die malerische und weist keine organische Verbindung mit der 
letzteren auf. 

Die Ausstellung der Vereinigung „OMH“ (Gesellschaft der Moskauer 
Künstler) macht auf den Besucher den Eindruck einer akademischen Ruhe und Ge- 
schlossenheit; die lyrische Landschaft, „Stimmungsbilder“ herrschen hier vor. 
Diese einst revolutionäre Gruppe „Bubnovyj Valet“ (Coeur-Bube) hat im Laufe 
der letzten Jahre eine Evolution durchgemacht, und nichts erinnert jetzt an die 
Sturm- und Drangperiode der 20 er Jahre. Charakteristisch für diese Wandlung 
sind die Bilder von Kuprin, der zu jener Künstlergeneration gehört, die von den 
Ereignissen der Revolution innerlich am schwersten 5 wurde: in den 
„Krim-Landschaften“ hat Kuprin einen Stil gefunden, der seinem sanften 


400 


Lyrismus entspricht. — Bis vor kurzer Zeit hat die „OMH“ einen nicht zu unter- 
ätzenden Einfluß auf die junge Künstlergeneration ausgeübt; jetzt kann von 
einem Einfluß kaum noch die Rede sein. Diese Erscheinung bringt man mit der 
letzten Ausstellung der französischen Künstler in Moskau in Zusammenhang, die 
nur zu klar gezeigt hat, daß die „OMH“, die in erster Linie als Träger der fran- 
zösischen Kunst galt, in Wirklichkeit jegliche Fühlung mit ihr verloren hat. 

Die Vereinigungen „ROST“ und „OHO“ (Gesellschaft der sozialen Kunst) 
haben bei dem Arbeiterpublikum, das ihre Exponate besichtigte, wenig freund- 
liche Aufnahme gefunden. Der Eindruck der absoluten Prinzipienlosigkeit in der 
Nachahmung verschiedenster Muster ist in der Tat wenig erfreulich. 

Als auf eine positive Errungenschaft des vergangenen Jahres darf auf die 
sichtliche Reife der jüngeren Künstlergeneration hingewiesen werden. Ihre Ver- 
einigung „ACHR“ (Assoziation der Künstler-Arbeiter) muß bei der Betrachtung 
des Kunstlebens als eine wichtige Erscneinung mitgenannt werden. Die erste 
kollektive Leistung dieser Vereinigung — die Bemalung der Kasernen von 
DserZinski — bedeutet, als erster Versuch einer monumentalen Freskenmalerei, 
einen Schritt vorwärts. Die Arbeiten der Künstlerjugend werden auch durch ihre 

chologische und soziale Tendenz gekennzeichnet: zweifellos sind die Bilder von 
Schinnsche und Rjangina, die einzelne Szenen und Typen des heutigen Rußlands 
darstellen, den Massen zugänglicher als manche an sich frische und originelle 
Arbeiten, denen abstrakte Ideen zugrunde liegen. 

Die Plastik ist weniger reich vertreten und macht keinen einheitlichen Ein- 
druck. Die Gruppe von Merkurov „Begräbnis des Führers“ wäre als ein ernster 
Versuch einer monumentalen Plastik zu nennen. Eugenie Salkind. 


V. Peretc: „Kljatva c zemlej“ s častuške. — Slavia 7, 4 (1929), 


S. 919—921. 


Unter den groß russischen Castuiki, die im allgemeinen neue, dem Alltags- 
leben entnommene Stoffe besingen, gibt es auch vereinzelt Nachklänge sehr alter 
Motive. In seiner umfänglichen CastuSkisammlung, die in den Jahren 1888—1894 
entstanden ist, hat P. eine Castulka aus einem Dorfe des Kreises Tichvin aufge- 
zeichnet, die von dem alten Gebrauch in diesem Kreis, beim Schwören Erde in den 
Mund zu nehmen, Reminiszenzen enthält. Von demselben Gebrauch singt eine 
Castulka aus dem „Sbornik velikor. &astukek“, herausgegeben von E. Eleonskaja. 
P. führt über das Bestehen dieses Gebrauchs von alters her noch anderweitige 
Literatur an. Bylinen und Märchen berichten von ihm. Afanas’ev bezeugt auch 
für die Ukraine sein Vorhandensein mit dem Unterschied, daß dort beim Schwur 
die Erde geküßt wurde. Schließlich führt P. noch Literatur an für das Vor- 
kommen ähnlicher Gebräuche auch im Veiß russischen. Hier hat also eine 
Castulka uralte Oberlieferungen stofflich verwertet. Emmy Haertel. 


Elena Eleonskaja: Vredonosnye zagovory. — Slavia 7, 4 (1929), 
S. 934—939. 


Unter der großen Menge nutzbringender Beschwörungsformeln im Russi- 
schen gibt es nur ganz wenige, die einem anderen Schaden bringen sollen. Die 
hier genannten drei derartigen Formeln sind in der Sammlung von Sreznevskij 
zu finden (?) unter Nr. 5,12 und 104. Alle drei stehen in Beziehungen zu Ver- 
storbenen, denen übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden. Sie werden unter 
allerhand Zaubergebräuchen vorgenommen, unter denen als wichtigster das Er- 
raffen von Erde vom Grabe eines ohne Beichte Verschiedenen ist, dessen Name 
dabei genannt werden muß. Weiß man ıhn nicht, so soll man den Toten mit 
„Ivan“ anrufen. Nach Erwähnung der Unterschiedlichkeit in Zweck und Anwen- 
dung dieser drei Zauberformeln hebt Verf. die Wichtigkeit hervor, die in der 
Volksmeinung dem Bestattetwerden nach der vorgeschriebenen kirchlichen Norm 
beigemessen wurde. Der Tote, der eine solche Bestattung nicht gehabt, bleibt ein 
efährliches Werkzeug für den, der anderen Unheil anzaubern will. Daher das 

treben, solchen Toten durch ein „&esnoj obed“ usw. Ehren zu erweisen, an 
seinem Grabe die nötigen poklony vorzunehmen. Dadurch wird auch seiner Seele 
geholfen. Emmy Haertel 


401 


Weißrußland 


J. Vitkouski: Die revolutionären Zirkel der 70er Jahre in 
Weißrußland. — Polymja 1929. Band 4. 


Verf. beschäftigt sich mit den revolutionären Zirkeln der 70 er Jahre in 
Weißrußland und deren Verhältnis zur Bewegung der Volkstümler (Narodniki). 
Verf. vertritt die Ansicht, daß die revolutionären Zirkel der 70 er Jahre, die in 
Weißrußland bestanden haben, nicht ohne weiteres der zeitgenössischen Volks- 
5 zuzurechnen sind. Vielmehr weisen sie eine durch die spezi- 
fischen Verhältnisse Veißrußlands bedingte Eigenart auf, die der Verf. heraus- 
zuschälen versucht. An Hand von Archivmaterialien gibt der Verf. eine ein- 
gehende Charakteristik der einzelnen revolutionären Zirkel in Mohilev, Wilna 
und Minsk und gelangt zu folgenden Ergebnissen: 1. Ein Teil der Zirkel kann 
ohne weiteres der Volkstümlerbe wegung zugerechnet werden — sowohl dem 
Programm, wie der Taktik nach unterscheidet er sich in nichts von der zeit- 
enössischen gesamtrussischen Volkstümlerbewegung. 2. Andere Zirkel weisen 
okale nationale Einflüsse auf, und zwar teils polnische (Vilna), teils jüdische. 
In diesen Zirkeln werden Momente nationaler Emanzipation in den Vorder- 
rund gerückt, sowie Probleme des Kulturkampfes (antiklerikale Bewegung). 
. Obwohl die Zirkel in den 70 er Jahren bestanden haben und Weißrußland 
kein Industriestaat ist, lassen sich Verbindungen einzelner Zirkel (Minsk) mit der 
zeitgenössischen Varschauer sozialistischen Bewegung feststellen, die von der 
Partei „Proletariat“ inauguriert war, deren Programm eine Mischung der Lehren 
der Volkstümler und marxistischer Grundsätze darstellte. 

Gregor Wirschubski. 


L. Akingevié: Das weißrussische Kosakentum in der ukrainischen 

Historiographie. — Polymja 1929. Heft 6. 

Verf. hat bereits 1927 in der Zeitschrift „Polymja“ eine Arbeit über die 
weißrussische Bauerbewegung im 17. Jahrhundert und deren Zusammenhänge 
mit der von Bagdan Chmelnicki inaugurierten zeitgenössischen ukrainischen Be- 
wegung veröffentlicht. Verf. ist der Ansicht, daß dieser Epoche große Be- 
deutung zukommt und, daß sie bisher von der weißrussischen Historiographie 
vernachlässigt worden ist. In der weißrussischen Geschichte sind die Epochen des 
Großfürstentums Litauen und der Lubliner Union eingehend bearbeitet worden. 
Dagegen fehlte es in bezug auf andere wichtige Epochen an Vorarbeiten, so daß 
die Zeit für eine zusammenfassende soziologische Synthese noch nicht gekommen 
sei. In dieser Hinsicht komme der großangelegten Geschichte Weißrußlands von 
U. Pičeta bahnbrechende Bedeutung zu. Auch über die Geschichte Weißrußlands 
nach der Lubliner Union sind die Arbeicen sehr spärlih. Erwähnt seien die 
Monographien von Lapo und die Untersuchungen von Družčyc. Gänzlich ver- 
nachlässigt in der weißrussischen Historiographie dagegen: ist die Bauernbewegung 
in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts. 

Verf. stellt die Arbeiten ukrainischer Historiker zu dieser Frage zusammen. 
Es sei begreiflich, daß gerade dieser Abschnitt der weißrussischen Geschichte für 
die ukrainischen Historiker von besonderem Interesse war. Erstens stammte die 
Idee des weißrussischen Kosakentums aus der Ukraine und ferner wurden von 
den Weißrussen große Hoffnungen auf das ukrainische Kosakentum und dessen 
Führer gesetzt. 

Die erste Arbeit über das weißrussische Kosakentum wurde 1896 in 
Lemberg in den „Zapiski naukovoho tovarystva im. Ševčenka“ (Band 14, 
S. 1—30) veröffentlicht. Die Arbeit „Die Kosaken in Weißrußland in den 
Jahren 1654 — 1656“ stammte aus der Feder von Ameljan Terlecki, einem Schüler 
von M. HruSeuski, der damals Professor an der Universität in Lemberg war. 
Indessen begnügt sich Terlecki mit einer Schilderung des Feldzugs der ukrainischen 
Kosaken in Weißrußland 1654—1656, ohne auf den aktiven Anteil der Weiß- 
russen an dieser Bewegung näher einzugehen. Verf. ist der Ansicht, daß er von 
dem Organisator der weißrussischen Kosaken Paklonski ein schiefes Bild ent- 


402 


wirft. Terlecki sieht nur zwei Faktoren in dem weißrussischen Gebiet: auf der 
einen Seite die ukrainischen Kosaken, denen die weißrussischen Bauern sym- 
pathisieren, auf der anderen Seite die Moskauer Zarenregierung, der sie nicht 
sympathisieren. Dagegen fehlt gänzlich das weißrussische Kosakentum als aktiver 
Faktor der Ereignisse. Vielmehr erscheint in der parser one von Terlecki der 
Organisator des weißrussischen Kosakentums Paklonski lediglich als gehorsamer 
Diener des Moskauer Caren. 

Verf. ist der Ansicht, daß Paklonski in Wirklichkeit bestrebt war, cin weiß- 
russisches Kosakentum zu schaffen, um das von Weißrussen besiedelte Gebiet zu 
beherrschen. Die Arbeit von Terlecki werde in Anbetracht dessen, daß die ein- 
schlägige Frage noch sehr wenig behandelt worden ist, auch in Zukunft als Aus- 
gangspunkt für weitere Forschungen dienen, jedenfalls aber bietet sie Anlaß zu 
vielen Kontroversen und wird wohl in mancher Hinsicht berichtigt werden 
müssen. 

ie meisten Irrtümer von Terlecki sind auf seine Zugehörigkeit zu der 
Schule der ukrainischen Wissenschaft zurückzuführen, die geneigt war, das 
ukrainische Kosakentum aus völkischen Gründen zu idealisieren. Diese natio- 
nalistische Einstellung zwang die ukrainischen Historiker, nur das ukrainische 
Kosakentum gelten zu lassen und im weißrussischen Kosakentum nicht eine selb- 
ständige nationale und soziale Bewegung, sondern lediglich Agenten Moskaus 
zu erblicken. 

Weitere Beiträge zu der einschlägigen Frage bieten: A. Vastokov in der 
Kiever Zeitschrift „Kievskaja starina“ (1890, Heft 1) in der Abhandlung „Das 
Schicksal von Vyhovski und Ivan Nedai“, V. Lipinski in dem 1912 erschienenen 
Buch „Z dziejów Ukrainy“ und I. Krypjakeviö in seinem Vortrag „Der Frei- 
hafen in Alt-Bychov im Jahre 1657". r Artikel von Vostokov enthält rein 
tatsächliche Angaben über das Schicksal einzelner Führer der Kosakenbewegung 
und wirft keinerlei grundlegende Probleme auf. 

V. Lipinski gehört gegenwärtig jenen Kreisen der ukrainischen Emigration 
an, die zu den Anhängern des Hetmans Skorapadski gehören und vertritt auch 
als Historiker die Interessen der ukrainischen szlachta. Lipinski führt in seinem 
zitierten Werk (das 1920 in Wien in zweiter Auflage in ukrainischer Sprache er- 
schienen ist) aus, daß der weißrussische Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts 
oppositionell und separatistisch gesinnt war, und schildert das Ringen der Ukraine 
und Moskaus um Weißrußland. 

Paklonski, der die Hoffnung verloren hatte, Weißrußland mit der Hilfe 
Moskaus zu erlösen und bereits früher mit den Ukrainern gebrochen hatte, ging 
schließlich zu den Polen über. Im Gegensatz zu Terlecki, der eine idealistische 
Erklärung des Feldzuges der Ukrainer nach Weißrußland gibt, führt Lipinski 
für diesen Feldzug praktische Motive an. Seiner Auffassung nach wollte die 
griechisch-katholische Geistlichkeit alle griechisch-katholischen Territorien Polens 
vereinigen. 

Die junge ukrainische marxistische historische Wissenschaft hat sich mit dem 
ukrainischen Feldzug nach Weißrußland noch nicht kritisch beschäftigt. 

Als Vorarbeit wäre der zitierte Vortrag von Krypjakevi¢ zu werten, den 
dieser in einer Sitzung der historischen Sektion der Allukrainischen Akademie der 
Wissenschaften gehalten hat. In diesem Vortrag führte Krypjakevié den ukrai- 
nischen Feldzug nach Weißrußland auf wirtschaftliche Gründe zurück: durch den 
Bruch mit Polen war die Ukraine von dem alten Weg zur Ostsee abgeschnitten. 
Da auf der anderen Seite auch das Schwarze Meer der Ukraine versperrt war, 
so versuchte sie sich einen Weg zur Ostsee durch Weißrußland zu bahnen. Das 
war der wirkliche Grund des ukrainischen Feldzugs nach Weißrußland. Auf 
diesem Weg zur Ostsce stieß die Ukraine mit Moskau zusammen, das gleichfalls 
durch Weißrußland sich einen Weg zur Ostsee bahnen wollte. Das Ringen der 
beiden Mächte miteinander und mit Polen endete zunächst damit, daß weder 
Moskau, noch die Ukraine sich einen Ausweg zur Ostsee zu bahnen vermochten. 
Verf. hält diese Theorie von Krypjakevié für richtig und meint, daß weitere 
Forschungen noch die strittigen Punkte zu klären haben: sei es in der Form 
von wissenschaftlichen Monographien oder der Publikation von Archivmaterialien. 

Gregor Wirschubski 


403 


Vit. Vols ki: Über die nationale Literatur der weißrussischen 
Tataren. — Uzvyla, 1927, kn. 1, S. 134—146. l 


Verf, behandelt die höchst merkwürdige Erscheinung des Vorhandenseins der 
Reste der Literatur der in Weißrußland angesiedelten Tataren. Diese in Hand- 
schriften erhaltene Literatur zeichnet sich dadurch aus, daß der weißrussische Text 
in arabischer Schrift aufgezeichnet worden ist. Die ersten Nachrichten über die 
Ansiedlung von Tataren in Weißrußland stammen aus der Zeit der litauischen 
Großfürsten Olgierd und Gedimin. 


Die Tataren übernahmen die Sprache der weißrussischen Ortsbe völkerung. 
vergaß en ihre alte türkische Sprache, blieben indessen ihrem mohammedanischen 
Glauben treu. Mit dem mohammedanischen Glauben erhielt sich auch dessen 
rituelle arabische Schrift, Türken dem Blute nach, Mohammedaner laut ihrer 
Konfession, „Litauer“ laut ihrer Staatsangehörigkeit und Weißrussen ihrer Sprache 
zufolge, verwandten die weißrussischen Tataren ihre rituelle arabische Schrift für 
die Aufzeichnung ihrer weißrussischen EC Es liegt hier ein ähnlicher 
Vorgang vor wie bei den Juden, die ihre rituelle hebräische Schrift für ihre deutsch- 
jüdische Umgangsspchare verwenden. 

Dem Inhalt nach sind für die Wissenschaft am wertvollsten jene Werke der 
arabisch-weißrussischen Literatur, die sich auf die Religion beziehen: Korane, 
Chamalilas und Kitabe. 

Die Korane der weißrussischen Tataren enthalten den üblichen arabischen 
Text mit Interlinearübersetzung in weißrussischer oder polnischer Sprache. Auch 
die Übersetzung ist in arabischer Schrift aufgezeichnet, Die Chamalilas sind ge- 
wöhnliche mohammedanische Gebetbücher. Dabei sind die Gebete in arabischer 
Sprache, die Texterklärungen dagegen in weißruss. Sprache. Man finder gelegent- 
lich in den Chamalilas Texterklärungen und Übersetzungen der Gebete auch in der 
vergessenen türkischen Ursprache der Tataren. Von ganz besonderem Wert für 
die weißruss. Sprachforschung sind indessen die Kitabe. Al’-Kitabe oder Ai-Kitabe 
sind Sammlungen, die neben Koranauszügen, Gebeten, religiösen Belehrungen 
auch die Beschreibungen religiöser Zeremonien enthalten, religiöse Dichtungen, 
Beschwörungsformeln für Krankheitsfälle, Rezepte, historische llen, Aphoris- 
men der Lebensweisheit, Legenden, Märchen und dergleichen. 

Alle diese Werke haben sich in Handschriften erhalten. Der greise Kopist 
pflegte bei der Abschrift von sich aus einiges hinzuzufügen, was seiner Meinung 
nach für die Nachwelt von Nutzen sein könnte, Der vom Verf. entdeckte Kitab 
enthält neben dem üblichen Inhalt ein kurz gefaßtes Lehrbuch der alt-tiirkischen 
Sprache und ein weißruss.-gürk. Wörterbuch. Die Bedeutung dieser Werke für 
das Studium der Sprache, der Ethnographie und Geschichte Weißrußlands im frühen 
Mittelalter ist ungeheuer. Als Beispiel, sei erwähnt, daß der bekannte Historiker 
Narbut in einem Kitab die Erklärung des bis dahin unklaren Ausdrucks „Basma“ 
efunden hat. Die Gelehrten waren sich bis dahin über die Bedeutung dieses 
Ausdrucks nicht einig. Dem Kitab entnahm Narbut, daß „Basma“ den Wachs- 
abdruck des Fußes des Khans der Goldenen Herde bedeutete — des Symbols der 
obersten Herrschaft des Khans über Moskau. In Weißrußland sind diese Kitabe 
über das ganze Land verbreitet und werden als Familienschätze gehütet. Die 
letzten Abschriften sind Ende des 19. Jahrh. angefertigt. Ein Kitab aus dem 
16. Jahrh. wurde von Ivan Lutzkevié 19%, der zweitälteste Kitab vom Verf, ent- 
deckt, der die Auffassung vertritt, daß er aus der Mitte des 17. Jahrh. stammt. 


Das 17. Jahrh. ist die Epoche des kulturellen Niedergangs Weißrußlands. 
Daher ist die Sprache des vom Verf. entdeckten Kitabs an Polonismen reich, die 
damals als Kennzeichen des „guten Tons‘ und vorzüglicher Bildung galten. Verf. 
bringt als Muster der nationalen Literatur der weißrussischen Tataren ein diesem 
Kitab entnommenes Märchen, das typisch für die Märchenwelt des Orients ist: e 
stellt ein Weisheitsturnier zwischen einer Prinzessin und dem Bewerber um ihre 
Hand dar, das ın der Form des Rätselratens verläuft. Verf. hebt die Merkmale 
des mahammedanischen Fatalismus hervor, die klerikale Tendenz und das weiß- 
russische Kolorit. Das ursprüngliche orientalische Sujet wurde der lokalen weiß- 
russischen Bearbeitung unterworfen. 


404 


Es muß hervorgehoben werden, daß die weißruss. Tataren ihrem Blute nach 
keine reinrassigen Türken waren. Vielmehr wurde das ursprüngliche türkische 
Blut durch Mischehen mit der weißrussischen Ortsbevölkerung verdünnt. Türken 
waren sie nur dem männlichen Stamme nach, während ihre Frauen Weißrussinnen 
waren. Diese Vermischung des Blutes förderte die Assimilierung der weiß- 
russischen Tataren im Laufe der Jahrhunderte. Verf. bezeichnet diese Tataren 
als „weißrussische Tataren“, da sie in ihrer gewaltigen Mehrheit auf ethnographisch 
weiß russischem Gebiet lebten. In der Wissenschaft hat sich indessen bis heute 
der Ausdruck „litauische Tataren“ erhalten, da es sich staatsrechtlich um litauisches 
Gebiet handelte. Auch die Nachkommen jener Tataren bezeichnen sich selbst als 
„litauische Tataren“. Erwähnt sei noch, daß eine genaue linguistische Analyse 
des von Ivan Lutzkeviè entdeckten Kitabs der Lektor der weißrussischen Sprache 
an der Universität Wilna, J. Stankievil, in seiner Doktorarbeit gegeben hat. 

Vladimir Samojlo. 


Ciška Gartny: Vor zwanzig Jahren. — Polymja 1929. Kn. 5. 

Der veiß russische Dichter Zylunovik, der unter dem Pseudonym Cilka 
Gartny schreibt, schildert hier einen interessanten Abschnitt aus seinem Werde- 
gang. Bereits in der Volksschule fiel Zylunovik durch seine Aufsätze auf. So 
and er denn früh den Weg zur schriftstellerischen Betätigung. Als Gerber- 
lehrling liest er seinen Arbeitskollegen seine Gedichte vor, die allgemein An- 
klang finden. Indessen übt der junge Dichter selbst an ihnen die schärfste Kritik, 
denn gemessen an den Werken seiner Vorbilder Nekrasov, Lermontov, Kolcov 
scheinen sie ihm recht unbeholfen und mangelhaft. 


Schwierigkeiten bietet ihm auch die Sprache: seine ganze Umgebung spricht 
weißrussisch, die Schriftsprache ist aber großrussish. Erst 1905 gelangen weiß- 
russische Schriften in seınen Heimatsort Kopyl: es sind revolutionäre Aufrufe. 
Indessen sind die Schriften in weißrussischer Sprache recht spärlich. Erst 1908 
lernt Verf. die Wilnaer weißrussische Zeitung „Nala Niva“ kennen, die in ihm 
eine Revolution bewirkt: sein weißrussisches Nationalbewußtsein erwacht. Nicht 
nur der Inhalt, sondern das Vorhandensein einer Zeitung in weißrussischeı 
Sprache macht auf ihn den allerstärksten Eindruck. Früher schien es ihm selbst- 
verständlich, daß gebildete Leute großrussisch sprechen, während die weißrussische 
Sprache die Sprache des einfachen Mannes war. Nunmehr wird er zum Propa- 
andisten der weißrussischen Tageszeitung. Er findet Anklang. Die Sprache des 
Blattes ist seinen Landsleuten verständlicher, als die der Moskauer und Peters- 
burger Blätter, die sich in die weißrussische Provinz verirrten. Ferner berichtet 
es über lokale Verhältnisse, für die die Moskauer und Petersburger Zeitungen 
wenig Interesse hatten. Er abonniert selbst die Zeitung „Nala Niva“ und liest 
sie seinen Arbeitskollegen vor. 


Den stärksten Eindruck machen auf ihn Gedichte in weiß russischer Sprache. 
Er beschließt selbst Gedichte in weißrussischer Sprache zu schreiben, schickt sie 
der Zeitung mit wechselndem Erfolge ein. Besonders fesseln ihn die Gedichte 
von Janko Kupala und Jakub Kolas. Namentlich Jakub Kolas, der wegen Be- 
teiligung an revolutionären Umtrieben gerade eine dreijährige Festungshaft ver- 
büßt, wird zu seinem erkorenen Lieblingshelden. 


So beschließt denn der junge Gerbergehilfe, Wilna aufzusuchen, um die 
Mitarbeiter der Zeitung „Nala Niva“, die auf ihn einen so großen Einfluß aus- 
geübt hat, persönlich kennen zu lernen, mit ihnen Fühlung zu nehmen. Im 
Stillen hegt er die Hoffnung, eine Anstellung bei der Redaktion zu finden. In 
Wilna erwartet ihn eine Enttäuschung. Die Redaktion der Zeitung „Naša Niva“, 
die ihm aus der Ferne als ein national- revolutionäres Machtzentrum vorkam, 
enthüllt sich als ein Unternehmen, das vom Pump sein Dasein fristet, dessen 
Redakteure in den ärmlichsten Verhältnissen hausen. Auf eine Anstellung be- 
steht keinerlei Aussicht. Die Diskussionen mit den Redakteuren des Blattes ver- 
laufen nicht zur Zufriedenheit des Verf., der sich zur Sozialdemokratie bekennt 
und bei ihnen keine einheitliche sozialdemokratische Weltanschauung vorfindet. 
So verläßt er denn nach einem kurzen Aufenthalt Vilna und tritt seine Vande- 
rungen an, die ihn als Gerbergehilfen nach Smorgon, Minsk, Bobruisk, Poltava 


405 


und Mohilev führen. Verf. schildert sehr lebhaft die Kreise, mit denen er 
dabei zusammenkommt, deren ng my u. dgl. Die Erinnerungen des promi- 
nenten weißrussischen Dichters, dessen 20 jähriges Jubiläum 1929 in- und außer- 
halb Weißrußlands gefeiert wurde, bieten einen interessanten Beitrag zu seinem 
persönlichen Werdegang und enthalten zugleich einen charakteristischen Aus- 
schnitt des Lebens Weißrußlands nach der Revolution von 1908. 

Gregor Wirschubski. 


Prof. M. Piotuchovit: Zum 20 jährigen Jubiläum der literari- 

schen Tätigkeit von Ciika Gartny.— Polymja 1929. Heft 1. 

‚, Verf. schildert den Lebensweg und die literarische Tätigkeit dieser als 
Dichter und Politiker gleich interessanten und für den weißrussishen Kommu- 
nismus nationaler Prigung repräsentativen Persönlichkeit. Zylunovi stammt aus 
einer armen Landarbeiterfamilie. Bereits als 11 jähriger Junge mußte er sich selbst 
als Dorfhirt sein Brot verdienen. Bereits in diesem Alter zeigte er sich für die 
Dichtung empfänglih. Die Umwelt war seinen dichterischen Bestrebungen un- 
günstig und stand ihnen teils feindlich, teils gleichgültig gegenüber. Heimlich 
schrieb er die Gedichte von Nekrasov ab und lernte sie auswendig. So 
wurde der russische Dichter — der große ,,petalnik gorja narodnago“ — zum 
Paten des literarischen Schaffens des jugendlichen weißrussischen Dorfhirten. 

Der Lebensweg führt Zylunovié von den Weiden seines Heimatdorfes in die 
enge und Pamung Werkstatt des städtishen Gerbers. Es folgen Wanderjahre, 
in denen Žylunovič das. Leben der Landstraße, die Wartehallen der Bahnhöfe, 
die Asyle für Obdachlose kennen lernt. Später wird er Fabrikarbeiter in Peters- 
burg. Dann verfällt er der Arbeitslosigkeit. Es braust der Sturm der Revolution 
heran, der 1 in die vordersten Reihen der Kämpfer rückt. Aktiver Teil- 
nehmer des Bürgerkrieges, erster Präsident des Rates der Volkskommissare Weiß- 
rußlands — das sind die weiteren Lebensetappen dieses Dichters. Ein Mann, der 
den Weg vom Dorfhirten zum führenden Staatsmann seines Landes zurückgelegt 
hat, dessen Lebensschicksale so wechselvoll waren, verfügt naturgemäß über eine 
umfassende und vielseitige Kenntnis des Lebens, das er von verschiedenen Ge- 
sichtspunkten aus zu studieren Gelegenheit hatte. Seine Erstlingswerke entstanden 
„in Eisenbahnwaggons, auf Bahnhöfen, in engen und schmutzigen Stuben, im 
Asyl für Obdachlose. Seine späteren Werke entstanden schon als die 
Schöpfungen eines arrivierten Staatsmannes, der seine Lebenserfolge dem Erfolg 
seiner Partei zu verdanken hatte. 

Zwei Themata kennzeichnen das literarische Schaffen von Zylunovié: die 
Arbeit und die Revolution. 

Er hatte Gelegenheit, die Welt der Arbeit als Dorfhirte, als Gerberlehrling, 
als Fabrikarbeiter, Arbeitsloser, Wanderbursche und schließlich als verantwort- 
licher Staatsmann auf führendem Posten kennenzulernen. 

In seinem Erstlingswerk klingt der Rhythmus der Landarbeit, die Poesie des 
Landlebens. Viel kennzeichnender für ihn sind die Schilderungen des Lebens der 
Handwerker. Seine „Lieder des Gerbers“ sind von packendem Realismus: mit 
kräftigen Strichen ist die Gestalt des Gerbers entworfen, weil sie dem unmittel- 
baren Erleben des Dichters entsprang. Die Gestalten der anderen Handwerker 
in den „Liedern der Arbeit“ sind schematischer hingeworfen. Diesem Milieu folgt 
die Schilderung der kollektiven Arbeit in der Fabrik entsprechend dem Werde- 
gang des Dichters. Es folgen die stürmischen Tage des Bürgerkrieges, dann die 
sozialistische Aufbauarbeit. In seinem Roman „Soky caliny“ wird die revolutio- 
näre Bewegung in Stadt und Land geschildert, die sozialen Gegensätze und deren 
Auswirkung im Familienleben. Zylunovi& ist der begeisterte Sänger des heroischen 
Pathos der Revolution, das Leitmotiv seines Schaffens nach dem Sieg der Re- 
volution ist der Heroismus der Arbeit bei der Formung des neuen ns. Die 
Helden seines Romans und seiner Novellen sind Männer, die eine „eiserne Seele“ 
aufweisen: „angespannte Willenskraft und starke Aktivität.“ 

Verf. bezeichnet Zylunovil als den Dichter des „revolutionären Voluntaris- 
mus“. Dennoch sind seine Helden lebenswahre Gestalten, Willensnaturen, bei 
denen Pflicht und Gefühl kollidieren. 


406 


Verf. setzt Zylunovi als „Dichter einer aufstrebenden Klasse“ den Dichtern 
der „untergehenden Klasse“ th als deren reprasentativste Vertreter er 
Anatole France und Romain Rolland ansieht. Bei den Dichtern der untergehenden 
Klasse verzeichnet er eine hedonistische Lebensphilosophie im Gegensatz zur 
Philosophie des Voluntarismus bei Zylunovi& als dem Dichter einer aufstrebenden 
Klasse. Die Arbeit, die er unter dem Regime der Ausbeutung als Fluch angesehen 
habe, wird nunmehr im Zeitalter des sozialistischen Aufbaues zum freudigen 
Schöpfungsakt, zum Grundinhalt des Seins. 

Gegenstük zu dem Leitsatz eines Descartes „Cogito, ergo sum“ laute 
der Glaubenssatz von Zylunovié: „Ich arbeite, also existiere ich“ — ein Satz, der 
bei einem Manne, der durch Arbeit vom Dorfhirten zum führenden Staatsmann 
seines Landes arrivierte, wohl kaum überraschen kann. 

Gregor Wirschubski. 


J. Dreisin: Die Oktoberrevolution und die weißrussische Musik. 
— Uzvysa 1927. Kn. 5. 


Verf. teilt die gesamte Geschichte der weißrussischen Musik in zwei streng 
voneinander geschiedene Abschnitte ein: vor und nach der Oktoberrevolution. 
Verf. teilt die Musik in „Grundlage“ und „Überbau“ ein. Unter „Grundlage“ 
versteht er Volkslieder, Volkstänze u. dgl. Unter dem „Überbau“ versteht er 
die auf dieser „Grundlage“ von individuellen Tondichtern, die im Besitz aller 
Hilfsmittel der modernen Musikwissenschaft und Technik waren, geschaffenen 
Kompositionen. 

Verf. ist der Ansicht, daß diese Einteilung mit der geschichtlichen Einteilung 
übereinstimmt: vor der Oktoberrevolution habe es nur eine „Grundlage“ der 
weißrussischen Musik gegeben, erst die Oktoberrevolution schuf die Möglichkeit 
der individuellen künstlerisch schöpferischen Arbeit auf dieser „Grundlage“. 


Verf. untersucht die Werte des weißrussischen Volksliedes und verzeichnet 
dessen Wohlklang, Herzlichkeit und Poesie. Ein Volk, das eine so reiche „Grund- 
lage“ der Nationalmusik geschaffen habe, das von Hause aus mit einer so 
ungemein starken natürlichen musikalischen Begabung 5 ist, muß auch 
in Zukunft eine reiche Entwicklung seiner Nationalmusik vor sich haben. 

Das weißrussische Volk hat bisher auf seiner reichen musikalischen „Grund- 
lage“ keine künstlerische Musik geschaffen, weil es in der Zeit der Hochblüte der 
westeuropäischen Musik, im 18. und 19. Jahrhundert, noch im Zustande der Halb- 
sklaverei schlummerte und die besten Kräfte seiner Intellektuellenschicht fremden 
nationalen Kulturen abgab. Weißrussen dem Blute nach wurden Glinka und 
Moniuszko nach herkömmlicher Regel ihrem Volk untreu, sie erhielten ihre musi- 
kalische Bildung im Rahmen fremder nationaler Kulturen — der großrussischen 
und polnischen. Glinka kannte das weißrussische Volkslied nicht (? V. S.), da- 
gegen schöpfte Moniuszko bewußt aus dem Schatz der weißrussischen Volksmusik. 
Im Laufe des 19. Jahrhunderts ging die Sammlung und Sichtung der weiß- 
russischen Volkslieder vor sich. Die ersten Sammler waren Dilettanten, doch 
kommt ihnen größere Bedeutung zu. Unter den Sammlern haben sich ins- 
besondere Abramovič, Radèenko, Sidlov, Carnovskaja, Bargtevski, Romanov, 
Rosinski, Sein, Grineviè, Cornyj Kasura, Terravski, Serbov u. a. m. hervorgetan. 

Aber bereits im Anfang des 19. Jahrh. tauchen die ersten, technisch freilich 
unvolikommenen Versuche auf dem Gebiete kiinstlerischer Musik auf: so die Oper 
„Zalety“, Musik von Kimont, Text von Marcinkevié, Orchestersuite von Rogovski. 

Der radikale Umschwung erfolgte mit der Oktoberrevolution, sein Einfluß 
erstreckte sich indessen nur auf Sovjet- Weißrußland, in Polnisch-Weißrußland hin- 
gegen blieb alles wie bisher (??? W. S.). Verf. gibt eine Übersicht der musikalischen 
Ausbildung in Weißrußland vor der Revolution, stellt deren Mängel fest, vor 
allem aber deren Unzugänglichkeit für die breiten Volksmassen. Nur in den 
Lehrerseminaren entsprach der Gesangunterricht modernen Anforderungen, d 
das Repertoire bestand zu % aus Kirchenliedern. Für das Volkslied verblieb nur 
% des Repertoires und dabei wurde vorzugsweise das großrussische Volkslied 
gepflegt. Das eigene nationsle weißrussische Volkslied wurde dem weißrussischen 

olk von der großrussischen Schule vorenthalten. Die Revolution räumte mit 


407 


diesem Zustande auf: das weißrussische Volkslied nahm im Musikunterricht Weiß- 
rußlands den ihm gebührenden Platz ein. Und nur auf dieser Grundlage konnte 
der Willen des Volkes zu einer eigenen nationalen künstlerischen Musik sich ent- 
wickeln und entfalten. Erst jetzt erklang das weißrussische Volkslied frei in 
Stadt und Land. Es entstanden weißrussische Chöre, von denen insbesondere der 
Chor von V. Terravski, der aus 50 Personen besteht, sich rasch Berühmtheit er- 
worben hat. Dieser Chor gehört dem Weißrussischen Staatstheater an. Der Leiter 
des Chors V. Terravski war bereits vor der Revolution als Sammler weiß- 
russischer Volkslieder bekannt. 1920 erschien seine erste Sammlung weißrussischer 
Volkslieder, die 25 Stücke enthält. 1922 erschien in Berlin sein „Lirnik“, das 
100 Volkslieder enthält in der Bearbeitung von Terravski, Kalin, Simkus und 
Rogovski. 1926 gab Terravski eine Sammlung von Kriegsliedern heraus, di 
30 Stücke enthält. Terravski hat ferner auf der Grundlage der Volkslieder die 
Musik für mehrere Bühnenstücke geschrieben. Er hat noch ca. 800 unveröffent- 
lichte von ihm gesammelte Volkslieder, musikalische Illustrationen für Bühnen- 
werke und eigene Tondichtungen. 


Neben Terravski seien ferner die Sammler und Tondichter Egorov, Matisson, 
Curkin, Levéenko u. a. m. verzeichnet. 1928 berief das Bildungskommissariat der 
Weißrussischen Sovjetrepublik eine „Weißrussishe Liederkommission“ nach 
Moskau, der bekannte Tondichter, wie Ippolitov-Ivanov, Olenin, Nikol’ski, 
Grelaninov, Prochorov und Aladov angehörten. Im Laufe eines Jahres harmoni- 
sierte diese Kommission 250 Volkslieder. Namentlich hat Prochorov viel ge- 
leistet, der allein 82 Lieder harmonisierte. 


1927 wurde bei dem Institut für weißrussische Kultur in Minsk eine Unter- 
scktion für Musik gegründet, deren Hauptaufgabe es ist, weißrussische Volks- 
lieder zu sammeln, zu harmonisieren und zu veröffentlichen. Unter den Mit- 
arbetern dieser Untersektion hat sich insbesondere A. A. Grinevil ausgezeichnet, 
der über 500 Volksmelodien und ca. 1000 Texte von Volksliedern aufgeschrieben 
hat. A. A. Grinevié hat auch mehrere Liedersammlungen für den Schulunterricht 
veröffentlicht. 

1924 wurde in Minsk ein Staatliches Musiktechnikum gegründet, die Keim- 
zelle der weißrussishen Musikhochschule. Aus dieser Musikanstalt sind bereits 
hervorragende Kräfte hervorgegangen. Unter den modernen weißrussischen Ton- 
dichtern steht M. I. Aladov an erster Stelle. Neben 25 Harmonisierungen im 
Sammelwerk der Moskauer Kommission ist Aladov ein ausgezeichnetes Pianoforte- 
Quintett C-Dur zu verdanken, eine Reihe von Romanzen auf Worte weiß- 
russischer Dichter, die Konzertbearbeitung der weißrussischen Marseillaise, die 
Vokalmusik für das Drama „Wir“ von Romanovič und die Hymne aus Anl 
des zehnjährigen Jubiläums der Oktoberrevolution. Ganz besonderes Interesse 
verdient das Quintett C-Dur, das auf Volksmotive geschrieben ist und einen 
originellen Beitrag des weißrussischen Musikgenies zur Schatzkammer der Welt- 
musik bedeutet. 


Neben Aladov haben sich andere Mcister hervorgetan, so namentlich 
Prochorov, Fidlon, Snitmann, Čurkin u. a. m. Fidlon schuf ein bemerkenswertes 
Streich-Quartett A-Dur (op. 9) auf Volksmotive, er schrieb die Instrumentalmusik 
zum Drama „Wir“ und eine weißrussische Orchestersuite. Von großer Bedeutung 
für die Entwicklung der weißrussischen Musik sind neben dem Musiktechnikum 
die beiden Staatscheater. Beide Theater haben eigene Orchester und Chöre. Für 
die Uraufführungen wird nicht selten neue Musik geschrieben und zur Mitarbeit 
werden neben örtlichen Komponisten die führenden Tondichter der Sovjetunion 
zugezogen. Nach Minsk ist Mohilev das zweite Zentrum der Musikkultur Sovjet- 
weißrußlands. In Mohilev besteht seit 1919 eine Musikschule. Musikschulen be- 
stehen ferner noch in Homel und Vitebsk. Im Rahmen des Fünfjahresplanes 
der Sovjetunion ist ein weiterer Ausbau des Musikunterrichts in Sovjet- Weiß- 
rußland geplant. Verf. schließt seine Ausführungen mit einem Hymnus auf die 
Sovjetregierung und die Oktoberrevolution. „Sie haben uns der Verwirklichun 
des Ideals näher gebracht, von dem Richard Wagner in seinem berühmten Artike 
„Kunst und Revolution“ geschrieben hat.“ Bekanntlich schrieb Richard Wagner, 
daß das Ziel der Kunst und der Revolution es sei, den starken und schönen 


498 


Menschen ri schaffen: die Revolution werde ihm die Kraft, die Kunst dic Schön- 
eit geben. 

Freilich scheint der offiziöse Optimismus des Verf. etwas abwegig: zunächst 
wenigstens ist es dem halbverhungerten terrorisierten weißrussischen Sovjetbürger 
bis zum Wagnerschen Ideal des schönen und starken Menschen noch recht weit... 
Gänzlich verfehlt sind ferner die Ausführungen des Verf. über das Musikleben 
Polnisch-Weißrußlands. Es ist ndfalsch zu behaupten, daß dort „eine Musik- 
wüste“ herrsche, wie vor der Oktoberrevolution. Naturgemäß hat das erwachende 
Musikleben in Sovjer-Weißrußland einen ähnlichen Prozeß in Polnisch-Weiß- 
rußland bewirkt. Im Zentrum des Musiklebens von Polnisch-Weißrußland steht 
der bekannte Komponist, der Schüler von Rimskij-Korsakov, Prof. K. M. Gal- 
kovski, der eine Reihe von Romanzen auf Worte weißrussischer Dichter und 
Harmonisierungen von Volksliedern geschrieben hat und jetzt an einer weiß- 
russischen Oper arbeitet, für die er selbst das Libretto nach dem Poem von Kolas 
„Symon-Muzyka“ geschrieben hat. 

Freilich blieben die Versuche, die Sovjet-Weißrussen, darunter Kolas per- 
sönlih für dieses Werk zu interessieren, vergeblich. Es scheint demnach, daß es 
den Sovjet-Weißrussen an der Hebung des Musiklebens in Polnisch- Weißrußland 
nicht sonderlich gelegen ist. Unter den Tondichtern Polnisc-Weißrußlands muß 
noch Vladimirski verzeichnet werden, der eine Reihe von Harmonisierungen weiß- 
russischer Volkslieder gegeben hat. Ferner ist der unermüdliche Sammler weiß- 
russischer Volkslieder Sirma zu erwähnen, dessen ununterbrochenen SE auf 
der Suche nach neuem Material ihn auch in den Kreis Bialystock geführt haben, 
wo das weißrussische Siedlungsgebiet an das der Masuren grenzt. Hier konnte 
er den ungemein starken Eintluß der weißrussischen musikalischen Volks dichtung 
auf die benachberten Masuren feststellen. Wie Sirma in einer mündlichen Unter- 
haltung erklärte, gibt noch jeder Streifzug überraschend neues Material: die seit 
Jahrhunderten aufgespeicherten Schätze der Volksdichtung sind noch nicht zu ½ 
erschöpft. Vladimir Samojlo. 


Cechoslovakei 


Arne Novak: Gogol u Jaroslava Vrhlického. — Slavia 7, 4 
(1929), S. 890—894. 


Veröffentlichungen von Jar. Borecký und F. X. Šalda haben gezeigt, welche 
bedeutende Rolle der russischen Literatur im allgemeinen literarischen Wissen des 
jungen Vrhlikf zufällt, was im Hinblick auf seine späteren Übersetzungen aus 
dem Russischen von Wichtigkeit ist. Er hat sich mit Lermontov, Puškin und 
Gončarov beschäftigt. Gogols Name wird von ihm nicht häufig erwähnt, aber 
voll Enthusiasmus; was er sagt, gehört zu dem Bemerkenswertesten, was überhaupt 
im Cech, über Gogol gesagt worden ist. In einem Brief an seinen Bruder vom 
10. 1. 1870 spricht Vrchlick von den „Mertvyja duši“ und „Oblomov“, daß sie 
ihm ans Herz gewachsen seien. Die Zusammenstellung dieser beiden Werke deutet 
N. darauf hin, daß Vrdilicky sie für Schöpfungen verwandter Art, d. h. der rea- 
listischen Literatur mit ethischen Tendenzen ansah. Vrchlický hatte dagegen nie 
Verständnis für Gogols romantische Ader. Dem dechischen Leser der „Toten 
Seelen” lagen die Jugendgeschichte Gogols fern, und dieser ganzen Generation fehlte 
der Geschmack an der romantisch aufgemachten Volkstiimlichkeit, für die Erben 
und Celachovsky so viel übrig gehabt. Vrchlickf besaß aber für den Humoristen 
Gogol ebenso viel Verständnis wie für den Realisten, hier berührte er sich mit 
Havlitek, Nicht zutreffend ist Vrchlickkys Ausspruch, daß Gogol ebenso wie 
Dostoevskij zu den tendenziösen Stürmern gegen die Gesellschaft & la Ibsen zu 

en seien. Auch das Sonett auf Gogol in den „Masken und Profile“ zeigt neben 
manchem Zutreffenden ausgesprochene Irrtümer, ebenso wie der Vers in der 
Herbstelegie, in dem Vrchlicky Rabelais, Voltaire, Gogol und seinen Übersetzer 
Havlitek in eine und dieselbe literarhistorische Reihe stellt, ein Beweis ist für 
seine oberflächliche und irrige Einschätzung des Gogolschen Humors und seiner 
Karikaturen. Emmy Haertel. 


409 


Wolfango Giusti: Vilém Mritik. — Rivista die letterature 
slave. Anno 4, 1 (1929), S. 1—38. 


Andere Schriftsteller werden tiefere Spuren zurückgelassen haben in der 
čech. Literaturgeschichte, Mrit{k ist aber für den Fremden deshalb besonders inter- 
essant, weil seine Tendenzen den Tendenzen entsprechen, die von jeher im 
kulturellen Leben der Cechen die Geister in Bewegung gehalten G. 
charakterisiert diese Strömungen: die ausschließlich Hasena; die europäi und 
beiden gemeinsam das Antideutsche, ferner das Für und Wider reffs der 
Stellung zu Rußland. Er verfolgt diese Tendenzen in Mritſks Werken, weist auf 
seine Neigung zum Verallgemeinern, Vereinfachen seiner Typen hin, auf die 
nope nach dem psychologischen Roman Rußlands, hinter dem M. aber zurück- 
bleibt, ebenso wie auf die von Zola beeinflußte Milieuschilderung, die aber nicht 
wie bei Zola aufs engste mit der persönlichen zusammenfließt, sondern bei M. 
etwas Photographieähnliches, von dem eigentlichen psychischen Prozeß e- 
sondertes hat. G. weist ferner auf Anklänge an Turgenev, Gogol und Dostoevskij 
hin, er stimmt Jakubec und Novák zu, die in der „Geschichte der Tschechischen 
Literatur“ das Patriarchalische, Idyllische Mritſks hervorgehoben haben. Daher 
die Frische seiner Naturschilderungen, die man denen Demls an die Seite stellen 
kann. Doch Mritſk li alles Problematische und Philosophische fern. G. 
stellt, einmal zugegeben, gerade die tech. Literatur zum Kreuzungspunkt der 
heterogensten Strömungen von Nord und Süd, Ost und Vest werden mußte, die 
Frage: gibt es überhaupt eine ausgesprochen Cechische Kulturtradition? Hus, 
Chellikf liegen zeitlich viel zu weit ab, um als Ausgangspunkt zu gelten. Aus 
der Literatur des 19. Jhs. sind, nach der Momin Giustis, nur Neruda und Macha 
als einzige zu nennen, die über das rein Cechische hinaus zum allgemein Mensch- 
lichen vorgedrungen sind, eine Tradition haben aber auch sie nicht begründen 
können, man fürchte also jetzt zu Unrecht, daß die literarischen Neuerscheinungen 
der Nachkriegszeit traditionsvernichtend werden können. G. stimmt hinsichtlich 
des Begriffes „Tradition“ F. X. Salda bei, der sich in „Zapisnik“ 1,1 (1928) über 
die Ideen Louis Reynauds zur Tradition in Frankreich geäußert, Gerade ın der 
Frische und Unbefangenheit der Nachkriegsliteratur der Cechei sieht G. den Anfang 
zu etwas Neuem. Hašeks „Švejk“ verliert nicht an Wert, weil er keinem Typ 
aus der älteren Cechischen Literatur ähnlich ist. 


1644. Geschichte der Papiermühle zu Rokitnitz. — Mitteilungen der 
Vereinigung für Geschichte der Deutschen in Böhmen. 67. Jahr- 
gang, 1929, Heft 3—4, S. 87—114. 


Johann Schreiber gibt zunächst einen Überblick über die Geschichte 
von Rokitnitz (Adlergebirge), welches seine Entstehung den Herren von Reiche- 
nau, Wilhelm und Hermann von Dürnholz, deren Nachkommen sich aber erst 
Herren von Reichenau nannten, verdankt. 1260 gründeten diese am flachen Ab- 
hang des waldreichen Adlergebirges drei Dörfer: Rokitnitz, Pitschin und Slatina. 
Im weiteren Verlaufe kam dann die Herrschaft Rokitnitz durch Kauf am 9. März 
1648 an den kais. kel Ratsherrn und Landeshauptmann des Fürstentums Breslau 
Otto von Nostitz. Unter dieser Familie hat die Herrschaft Rokitnitz einen 
großen Aufschwung genommen. Otto von Nostitz und Rhienek hat das Gut 
selbst in einen musterhaften Zustand gebracht, erbaute auch das Kornschreiber- 
haus und das Bräuhaus. Vor allem erlangte er aber am 4. Oktober 1644 von 
Kaiser Ferdinand III. das Privilegium zur Erbauung einer Papiermühle in Rokitnitz. 
Diese gehört also zu den ersten, die in Böhmen erbaut wurden. Schaller zählt 
in seiner Topographie Böhmens v. J. 1740 als die besten Papiermühlen die von 
Rokitnitz, atzlar, Senftenberg und Trautenau auf. Der erste Papiermeister 
von Rokitnitz hieß Melchior Zeiske. Das Privileg Kaiser Ferdinands ist S. 89f. 
abgedruckt. E. Hanisch. 


410 


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VI 
NOTIZEN 


JAN PTASNIK 
(1876—1930.) 


.. Mit Jan Prasnik ist am 22. Februar 1980 ein Säkularmensch der wissenschaft- 
liche. Welt, einer der bedeutendsten polnischen Kulturhistoriker im Alter von 
54 Jahren dahingegangen. — Als Bauernsohn in Westgalizien geboren, beendete 
er in Bochnia das Gymnasium und begann an der Universität Krakau zuerst Jura, 

äter Geschichte zu studieren. Schon als Student im ersten Semester lenkte er 
ie Aufmerksamkeit seiner Lehrer, der Professoren Zakrzewski, Smolka, 
Krzyzanowski und Ulanowski auf sich, die dem für das Studium be- 
geisterten Jüngling durch Verleihung von Stipendien, dann der Applikantenstelle 
am Stadtarchiv die Möglichkeit gaben, den mühevoll steinernen Weg der wissen- 
schaftlichen Laufbahn zu betreten. Eingeführt in das Studium der Paleographie 
durch Professor Ulanowski, sich fortbildend im Deutschen Archeologischen Institut 
unter Prof. Hüls e ns Leitung in Rom, konnte Studiosus Prasnik mit großem 
Fleiß und Eifer die vergilbten Akten des Krakauer Stadtarchivs studieren und 
kennen lernen, die ihm bis zum Lebensende unerschöpflicher Quellborn für un- 
zählige größere und kleinere Abhandlungen geblieben sind. 


Noch in die Studentenjahre fällt der Anfang PraSniks wissenschaftlicher 
Arbeit. Im Jahre 1900 erschienen fast gleichzeitig „Z życia uczniów 
krakowskih w XV i XVI wieku“ (Aus dem Leben der Krakauer 
Schüler im XV. und XVI. Jahrh.)*) und eine zweite, dieselbe Frage behandelnde 
Arbeit unter dem Titel „Obrazki historyczne z życia zakéw 
krakowskihwXViXVIwiek u“ (Historische Bilder aus dem Leben der 
Krakauer Scholaren im XV. und XVI. Jahrh.)?). Prasnik zeichnet uns darin in 
lebendigen Bildern das Leben der Studenten, ihren Kampf ums Dasein, die sich 
aus der Verschiedenheit der Nationen ergebende Streitigkeiten zwischen den Polen, 
Deutschen, Ungarn, Tschechen, Ruthenen, Litauern und dergleichen mehr. 
Während diese beiden Abhandlungen streng wissenschaftlich gehalten sind, waren 
die „Historischen Bilder“ frei von wissenschaftlichem Ballast, bestimmt für die 
weiteren Volkskreise. 


Die Vorbereitungen zur Fachprüfung als Mittelschullehrer, die er 1801 be- 
stand und zur Erlangung des Doktorgrades im Jahre 1908, hinderten den jungen 
Forscher an den weiteren Studien nicht. 1902/08 erschienen die ,Obrazki 
z zycia przeszłości miasta Krakowa serja I i II“ (Bilder aus 
der Vergangenheit Krakaus, I. und II. Serie),®) in welchen wir das Leben der alten 
Stadt Krakau und seiner zumeist deutschen Bürger dargestellt finden. 


Nach diesen ersten gut gelungenen und von ernsten Kritikern sehr günstig 
beurteilten Versuchen, trat Ptaśnik an die Bearbeitung des Krakauer Patriziats 
heran. Die ergänzte Doktorarbeit „Bonerowie“ (Die Familie der Boner)*) 


See 1) Księga pamiatkowa uczniów Uniwersytetu Jagiellońskiego, Kraków 1900, 
99) Bibljoteka Krakowska, Nr. 15, Kraków 1900, S. 68. 

3) Ebendort, Nr. 21 und 28, Kraków 1902 und 1908, S. 88 und 71. 

*) Rocznik Krakowski VII, 1905, S. 188, Vgl. Przewodnik naukowo- 
literacki, 1905, S. 87. 


411 


ist keine Bi — mehr, aber ein Stück emeiner polnischer Kultur- und 
Wirtschaftsgeschi te. Der junge Gelehrte sp der städtischen Kultur eine 
es Bedeutung zu, die in seiner Auffassung noch größer wurde, als er von den 
tudienreisen aus Deutschland, Frankreich, England, Ungarn, Belgien nach Krakau 
zurückkehrte. Von ganz besonderer Wichtigkeit für die weitere ragen 
Prafniks waren die Italienreisen. Zum erstenmal weilte er in Rom 1908/04 
. der Expedition der Akademie der Wissenschaften, in deren Auftrage er die 
Vorbereitung der Quellenausgabe „Monumenta Poloniae Vaticana“ übertragen 
bekam. Hier wurde Ptainik auf die 55 Beziehungen zwischen Italien und 
Polen aufmerksam, namentlich auf den Einfluß der italienischen Kultur, die durch 
den königlichen Hof, die Universität, Geistlichkeit, Handwerker- und Kaufmann- 
schaft verpflanzt, einen starken Stempel der heimischen Kultur aufdriickte. Diesem 
Gedanken gab Ptainik Ausdruck in der Arbeit „Z dziejów kultur y 
włoskiego Krakowa“ (Aus der roid e des italienischen 
Krakau),®) welche die polnische Kulturgeschichte auf neue Bahnen gelenkt hat. 
Ptainik wies als erster nach, daß die Italiener Nachfolger der Deutschen als Kultur- 
träger waren, durch ziemlich starke Einwanderung, die Begründung von Werk- 
und Arbeitsstätten und die Organisierung des Postwesens kulturelle Beziehungen 
zwischen den beiden Ländern geschaffen haben, die noch stärker wurden, als nun 
der polnische Handel nach dem Süden gerichtet wurde. 


_ Eng im Zusammenhang mit diesem Problem stehen die bald darnach er- 
schienenen Abhandlungen „Gliitaliania Cracovia dal XVI secolo 
al X VIII“ (Roma 1900, S. 108); „Italia mercatoria apud Polonos 
secolo XV ineunte“ (Roma 1910, S. 108) und „Wioski Krak6w za 
KazimierzaWielkiego i VIZ dy- laws Jagiełły“ (Das italie- 
nische Krakau zur Zeit Kasimirs des Großen und Wladislaw Jagie o:). In „Gli 
italiani“ finden wir 287 Nachrichten über italienische Handwerker und Kaufleute 
in Krakau, in „Italia mercatoria“ sind 89 Dokumente aus den römischen, veneziani- 
schen und krakauer Archiven aus den Jahren 1887—1480 wiedergegeben; in der 
letztgenannten, außer der später erschienenen „Kultura wioska w Polsce wiekéw 
irednich einzig allein dastehenden Arbeit über die italienisch- polnischen Be- 
ziehungen im Mittelalter, bespricht der Verfasser die Bedeutung des zwischen 

u und den italienischen Städten Florenz, Genua und Mailand sich ent- 
wickelnden Handels, endlich die politische Rolle der im Dienste Jagiellos stehenden 

Fremdlinge. 

Die bisherige Anschauung von dem ausschließlichen deutschen Kultur- 
einfluß war widerlegt, Ptainiks Thesen, die anfangs Mißtrauen erweckt hatten 
und als übertrieben Weer wurden,?) fanden immer mehr Anhänger, ja bald 
sah man Ptafnik als Begründer einer neuen Richtung in der Kulturgeschichte an. 

Aber auch auf dem Gebiete der Kirchengeschichte und des Kirchenrechts 

führten die Italienreisen den Verstorbenen auf neue Bahnen. Das Studium im 
Vatikanischen Archiv lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Anteilnahme der 
Apostolischen Kurie an der Innen- und Außenpolitik Polens und auf den Ein- 
fluß der Geistlichkeit auf dem Gebiete des een und staatlichen Lebens. 
Diese Behauptungen finden wir ausgedrückt in der Abhandlung „Kollektorz 
Kamery Apostolskiej w Polsce Piastowskiej“ (Die Kol- 
lektoren der Apostolischen Kammer in Polen zur Zeit der Piasten).*) Als Ent- 
gegnung auf seine 8 90 daß der Peterspfennig, den Polen in der Boleslaw- 
Epoche an die Apostolische Kammer gezahlt hat, insofern große Bedeu hatte, 
weil er zur Wiedervereinigung der Teilgebiete und zur Aus ee des Zu- 
sammengehörigkeitsgefühls aller a Boden bewohnenden Volksgenossen 
beigetragen hat, was in der Abhandlung „Denar fe, Piotra obroAcz 
jedności politycznej i kościelnej w Polsce“ (Der Peters- 


5) Rocznik Krakowski IX, 1907, S. 8—147. 

*) Ebendort XIII, 1911, S. 51—109. 

7) Vgl. Klodzifski, Kwartalnik Historyczny XXII, S. 411—415. 

e) Rozprawy Akademn Umiejętności wydz. hist. fil. Bd. L, 1907, S. 80. 


412 


fennig als Faktor der politischen und religiösen Einheit Polens)e) zum Ausdruck 
No erschien drei jahre später „Dagome index. Przyczynek 
krytyczny do genezy świętopietrza w Polsce“ (Dagome iudex. 

in kritischer Beitrag zur Entstehun ichte Peterspfennigs in Polen), 
Kraków 1911, S. 56, in welchem Prainik auf die Gegenbehauptung, daß der 
Peterspfennig nur ein Element zur Wiedererneuerung des Staates gewesen sei, neuc 
Beweise lieferte, daß der Peterspfennig doch das allerwichtigste Bindeglied für die 
volkstümlich noch nicht verloren gegangenen Teilgebiete gewesen ist. Der Haupt- 
erfolg der Jtalien- bzw. Romreise war jedoch die dreibändige monumentale 
Quellens „Monumenta Poloniae Vaticana“, in welcher Ur- 
kunden, Akten und Dokumente erschienen, die bisher fast alle unbekannt waren 
und jetzt an das Tageslicht gebracht, das Verhältnis der Apostolischen Kammer 
zu Polen in anderem Lichte erscheinen ließen. Die ersten zwei Bände umfassen 
die Acta Camerae Apostolicae 1207—1874 (Cracoviae 1913, 
S. LVII + 502 + XXVIII + 582), den dritten Band bilden Analecta 
Vaticana 1208—1866 (Cracoviae 1914, S. LVI + 572). 


Die pa ogische Berufsarbeit als Mittelschullehrer in den Jahren 1901 bis 
1919 an den Gymnasien Przemyśl und Krakau konnten den Verstorbenen von 
der Fortsetzung seiner weiteren Studien nicht zurückhalten. Wir sehen ihn wieder 
im Ausland, längere Zeit in Rom und Nürnberg, wo die Akten des Stadtarchivs 
durchstöbert werden, um bald darauf lebhaften Anteil an dem Streit um die 
Nationalität des Veit Stoß teilzunehmen. Seine Ansichten bezüglich des großen 
Meisters finden wir aufgezeichnet in den Abhandlungen „Ze studjów ned 
Witem Stwoszem i jego rodzing“ (Aus den Studien über Veit Stoß 
und seine Familie),**) „Noch EE über die Nationalität des 
Veit Sto 8,1) „W sprawie Wit Stwosza“ (In der Sache des Veit 
Stoß). 12) Noch im Jahre 1928 kehrte der Professor zu diesem Thema zurück und 
ergänzte seine vorigen Untersuchungen mit neuen Einzelheiten in dem Artikel 
„ze studifo Vicu Stoszoviajeho rodin& (Aus den Studien über 
Veit Stoß und seine Familie). ) 


Im Jahre 1918 schen wir Ptainik als stellvertretenden Leiter einer neuen, 
von der Akademie der Wissenschaften veranstalteten Expedition, zusammen mit 
den Professoren Los, Zachorowski, Baran und Dabrowski in 
Ungarn, doch konnten die Untersuchungen „Sprawozdanie z poszu- 
kiwahna W LU r zech“ (Bericht über die Forschungen in Ungarn) infolge des 
Ausbruches des Welckrieges erst im Jahre 1919 im Druck erscheinen. 


Ein besonderes Gebiet Ptainiks Forschungsinteresses bildete das Städtewesen 
und seine Kultur, welcher a Bedeutung zusprach und dessen Erforschung 
er sich zum Ziel steckte. Noch im Jahre 1910 erschien die Arbeit „Dzieje 
handlu i kupiectwa krakowskiego“ (Geschichte des Krakauer 
Handels und der Kaufmannschaft), “) in welcher wir sehr wertvolle Nachrichten 
über die ältesten Kaufleute finden, unter welchen außer den heimischen die aus 
Deutschland, Frankreich, Belgien, Flandern, der Schweiz, Ungarn, Tschechen und 
Baycrn hervorgehoben seien. 

Der Aufenthalt in Nürnberg, wo Prasnik über Veit Stoß Untersuchungen 
anstellte, ermöglichte ihm die Herausgabe der „Akta norymberskie do 
dziejów handluz Polska w wieku XV“ (Nürnberger Akten zur Ge- 
schichte des Handels mit Polen im XV. Idt.), 1) wo 70 Urkunden aus Nürn- 


°) Ebendort, Bd. LI, 1908, S. 86. 
19) Rocznik Krakowski, XIII, 1910, S. 74. 
11) Monatsschrift für Kunst wissenschaft, Leipzig 1912, Nr. 12. 
13) Czas 1912, Nr. 415 und 417. 
18) Sborník věnovaný Jaroslavu Bidlovi k ledesitym narozeninám, Praha 
1028. S. 2600—2765. 
14) Rocznik Krakowski XIV, 1910, S. 65—180. 
18) Archiwum Komisji Historycznej Akademji Umiejętności XI, 1912, 


418 


berger Archiven aus der Zeit 1865—1592 wiedergegeben sind, die einen sehr 
regen Handelsverkehr zwischen Nürnberg, Krakau und Posen bezeugen. 
Krakauer Patriziat im Mittelalter, das zumeist aus deutschen Einwanderern bestand 
und die im Laufe der Zeit zu großer Bedeutung gelangten, widmete Prafnik zwei 
größere, sehr gründliche Abhandlungen. Es sind dies die ,Studya nad 
patrycyatem krakowskim wieków $rednic I i II“ (Studien 
über dem mittelalterlichen Patriziat in Krakau I und II), 1e) in welchen wir das 
Lebensbild ehemaliger deutscher Bürgerfamilien wiedergegeben finden, die, indem 
sie in die Reihen der Adeligen getreten sind, ihrem Volkstum verloren gingen. 


Der Weltkrieg, an dem Pra$nik als Frontsoldat in den Legionen teilnahm, 
hinderte ihn nicht, die Herausgabe der mühselig zusammengestellten Quellen- 
sammlung „Cracovia artificum 1800—1500“ im Jahre 1917 in Krakau 
zu vollziehen. 


Außer zahlreichen größeren und kleineren Berichten, die zumeist in den von 
der Krakauer Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Sprawozdania 
komisji dla badania historji sztuki w Polsce gedruckt er- 
schienen, gehören noch in den Bereich der Kunstgeschichte, die schon nach seinem 
Tode erschienenen Abhandlungen „Codex picturatus Baltazara 
Behema (Balthasar Behems Codex picturatus), 7) „Dwie kwestje 2 
dziejów kultury artystycznej Krakowa“ (Zwei Probleme aus 
der Kunstgeschichte Krakaus), is) „Dwie rodziny malarskie w Kra- 
kowie“ (Zwei Malerfamilien in Krakau im XV. Jdt.)1%) und eine ganze Reihe 
druckfertiger Artikel, die im Nachlaß zurückblieben. 


Im Jare 1920 verließ Prafnik Krakau, wo er zwei Jahrzehnte, als Student, 
Gymnasiallehrer, seit 1907 als Privatdozent, ab 1910 als Titularprofessor und 
endlich 1919 als außerordentlicher Professor für Kulturgeschichte an der Universi- 
tät Krakau gewirkt und geschaffen hatte, um dem Ruf nach Lemberg zu folgen, 
wo er als Leiter des Seminars für Geschichte des Mittelalters und des Instituts fü 
Hilfswissenschaften und ab 1928 als Hauptschriftleiter des „Kwartalnik 
Historyczny“ treu bis zum Tode segensreich wirkte. 


Die noch in Krakau begonnenen und in Lemberg beendeten kurzen Ab- 
handlungen „Przemysł papierniczy w Małopolsce XVI wieku“ 
(Das Papiergewerbe in Kleinpolen im XVI. Idt.), ) ,Papiernie w Polsce 
XVI wieku“ (Die Papierwerkstätten Polens im XVI. Idt.), 21) bildeten Vor- 
studien zu der großen im Jahre 1922 in Lemberg herausgegebenen Quellenausgabe 
„Monumenta Poloniae Typographica I. Cracovia im- 
pressorum“, dessen Einleitung die Geschichte der polnishen Buchdrucker- 
kunst enthält. Noch in demselben Jahre erschien bendi, nebst der überhaupt 
ersten synthetishen Geschichte des Städtewesens in Polen „Miasta w Polsce“ 
(Die Städte in Polen), „Kultura włoska w Polsce wieków śred- 
n ich“ (Italienishe Kultur in Polen im Mittelalter)ů, die wie die „Städte“ an- 
erkennenswerte Begeisterung hervorriefen. Anschließend an die „Italienische 
Kultur“ plante Professor Ptasnik eine allgemeine dreibändige Kulturgeschichte 
herauszugeben. Der erste Band erschien auch im Jahre 1925 in Warschau unter 
dem Titel „Kultura wieków Srednich t. I. Życie religijne i 
społeczne“ (Kulturgeschichte des Mittelalters, Bd. I. Das religiöse und 
soziale Leben), den zweiten Band sollte, wie wir aus dem Briefe an seine Schülerin 
und Assistentin, Fr. Dr. Charewicz vom 4. August 1924 entnehmen können, 
„Das ritterliche Leben“ bilden und das Bürgertum sollte seine Geschichte im dritten 
Bande der allgemeinen Kulturgeschichte erhalten. Mit dem ersten Bande der 
Kulturgeschichte erreichte Pra$nık den Höhepunkt seines wissenschaftlichen 


16) Rocznik Krakowski XV, 1913, S. 25—95 und Bd. XVI, 1914, S. 1—90. 
17) Kwartalnik Historyczny XLIV, 1930, S. 1—25. 

18) Księga pamiątkowa ku czci profesora Abrahama, Lwów 1930, S. 471—481. 
19) Sbornik ku česti profesora Sišica. Zagreb. 1930. 

20) Sprawozdanie Akademji Umiejętnoście 1919, Nr. 7, S. 6—8. 

21) Rozprawy Akademji Umiejętnoście wydz. hist. fil. LXII, 1920, S. 1—40 


414 


Schaffens. „Das religiöse und soziale Leben“ ist und bleibt ein Meisterwerk. Der 
Versuch seitens geistlicher Kreise, seinen Wert durch vernichtende Kritik zu 
schmälern, blieb ohne Erfolg. Zum geplanten zweiten Bande der „Ritterlichen 
Kultur“ verblieben nur vorbereitende Materialien, das „Städtewesen“ ist in einer 
über 500 Seiten starken Handschrift fast druckfertig. Es sollte vielleicht sein 
Lebenswerk werden, kein anderer Forscher war und ist mit der Eigenart des 
polnischen Städtewesens so vertraut, als es Professor Ptasnik gewesen ist, er war 
der einzige Spezialist. 

Endlich möchten wir noch einige größere Abhandlungen aufzählen, die 
außer den schon erwähnten das Städtewesen in Polen betreffen und die als Vor- 
studien zu dessen Geschichte betrachtet werden können. Es sind dies: „Ob y- 
watelstwo miejskie wdawnej Polsce“ (Die städtische Bürgerschaft 
in Alt-Polen), 2) „Zydzi w Polsce wieków średnich“ (Die Juden in 
Polen im Mittelalter), ) „Zalew miast polski di przes żydów w 
wieku XVI—XVIII“ (Die Ūberflutung der polnischen Städte durch die 
Juden im XVI.—XVIII. Idt.), “) „Narodowości w miastach dawnej 
Polski“ (Die Nationalitäten in den alt-polnischen Städten),“ „U dzia 
miast polskih w dawnych sejmach“ (Der Anteil der polnischen 
Städte an den Reichstagen), e) „Walkio demokratyzacje Krakowa 
iLwowaod XVI—XVIII wieku“ (Kämpfe um die Demokratisierung 
Krakaus und Lembergs im XVI.— XVIII. Idt.), 27 „Walkio demokraty- 
zacje Krakowa w XVII—XVIII wieku“ (Kämpfe um die Demo- 
kratisierung Krakaus im XVIL—XVII. Idt.), s) und ,Szlachta wobec 
miastimieszczahstwa w dawnej Polsce“ (Die Schlachta im Ver- 
hältnis zu den Städten und Bürgern in Polen).?®) 

Im Nachlaß verblieben noch ferner als Manuskript fast druckfertig die mit 
Ameisenfleiß zusammengestellten . „Cracovia artificum 1501—1500 
und T. II von 1550—1000 und der geplante zweite Band der „Monumenta 
Poloniae Typographica“, endlich „Kultura artystyczna Krakowa w wiekach śred- 
nich“ (Die künstlerishe Kultur Krakaus) und eine ganze Menge Quellennotizen, 
Mee denen gesagt werden kann, daß sie das ganze Krakauer Stadtarchiv ver- 

ten. 

Groß waren Prasniks Leistungen, segensreich sein Schaffen. Die Geschichts- 
schreibung betrauert einen ihrer besten und gewissenhaftesten Kulturhistoriker, 
die Universität und die große Schülerzahl ihren lieben Pedagogen und Meister, die 
zurückgebliebene Witwe und das Söhnchen ihren unvergessenen Gatten und Vater, 
die Menschheit einen edlen und kristallenen Charakter. Er, unser lieber, unver- 
geßlicher Meister, ist dahin, seine Werke, und sein Geist aber leben in uns fort. 
Ehre seinem Andenken! 


Lemberg. A. Wagner. 


22) Przegląd Warszawski 1921, S. 145—165. 

23) Ebendort, 1922, S. 215—237. 

34) Ebendort, 1924, S. 26—40. 

25) Samorząd Miejski, 1925, S. 889—504, 988—996. 
26) Samorząd Miejski, 1925, S. 705—730. 

27) Kwartalnik Historyczny XXXIX, 1925, S. 82. 
28) Ebendort, XLIII, 1929, S. 33. 

20) Przegląd Warszawski J™5, S. 89—100, 158—211. 


415 


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— — - — - 


OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU 


JAHRBUCHER 
FOR | 


KULTUR UND GESCHICHTE 
DER SLAVEN 


IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS 
HERAUSGEGEBEN VON 
FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH- 
BRESLAU, ROBERT HOLTZMANN-BERLIN, JOSEF 
MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, 
KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER-WIEN, 
WILHELM WOSTRY-PRAG 


SCHRIFTLEITUNG: 
ERDMANN HANISCH 


PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG 
BRESLAU, RING 58 


I 
ABHANDLUNGEN 


DIE QUELLEN ZUM IDYLL „IVAN IVANOVITSCH“ 
VON ROB. BROWNING 


Von 
M. Alekseev (Universitat Irkutsk). 


Das ein russisches Sujet behandelnde Poem Rob. Brownings 
„Ivan Ivanovitsch“ ist den englischen Literarhistorikern schon längst 
als eines der wichtigsten und seiner Anlage nach ernstesten Werke 
bekannt, welches zur ersten Serie seiner „Dramatic Idyls“ gehört 
(1879). Man pflegt auf seine poetischen Schönheiten, die Tiefe seiner 
Hauptidee, ar auf die beachtenswerte ethnographische Treue der 
in ihm geschilderten Bilder hinzuweisen. So fand schon Arthur 
Symons, daß “the setting of the story ... is admirable. The vast 
motionless Russian landscape, the village life, the men and women 
are all vivedly painted, and the revelation of the woman’s charakter 
— the exposure of her culpable weakness, seen in the very excuses 
by which she endeavours to justify herself — is brought about with 
singulary masterly art.“) Dieser Außerung schloß sich auch die 
spätere Kritik gern an; W. Sharp spricht von “Ivan Ivanovitsch” als 
von “the remarkably picturesque and technically very interesting 
poem.””) E. Köppel merkt: „Nicht immer ist es dem Dichter 
allerdings gelungen, die Handlungsweise seiner Menschen so glaub- 
haft zu motivieren; “) eine ganze Reihe ähnlicher für das Poem sehr 
anerkennender Äußerungen und Bewertungen könnte man noch um 
ein Bedeutendes vergrößern — sie sind eintach traditionell geworden. 

Indessen muß zugegeben werden, daß dieses Poem Brownings 
bedeutend weniger erläutert worden ist, als es in Wirklichkeit ver- 
dient. Seine Entstehungsgeschichte ist bloß in ihren Hauptzügen be- 
kannt und ihre nächsten Quellen offenbar noch bis heute nicht völlig 
festgestellt. Die Kommentarien gehen gewöhnlich nicht über die Er- 
klärung der einzelnen im Werke vorkommenden russischen Wörter, 


1) A. Symons. An introduction to the study of Browning, London, 1886, 
p. 186—187. 

2) W. Sharp. Life of Rob. Browning, London 1890, p. 57. 

3) E. Koeppel: Rob. Browning, Berlin 1912, S. 206. 


417 


oder dem europäischen Leser unverständlicher Einzelheiten des russi- 
schen Volkswesens hinaus, wobei diese Erklärung durchaus nicht 
immer der Wahrheit entsprechend schließlih sih auf einen un- 
klaren Hinweis irgend einer russischen Volksüberlieferung, welche so- 
zusagen das Grundgewebe des Poems bildete, beschränken. So hält 
E. Berdoe es für eine russische Variante einer der Volkssagen von 
Wölfen, die wir alle so oft in unserer Kindheit gehört haben: “chis 
is a variant of Russian wolf-story which, in one form or another, we 
all heard in our childhood,”*) Mrs. Orr sagt, daß “Ivan Ivanovitsch 
an idealized Russian legend” ist. Außerdem bringt man gewöhnlich 
dieses Idyll mit der Reise Brownings nach Rußland in Verbindung. 
So sagt E. Berdoe direkt, daß Browning, als er Rußland 1834 be- 
suchte, daselbst wahrscheinlih Volkssagen von der unglücklichen 
Mutter, die ihre Kinder den Wölfen preisgegeben, gehört habe. Zur 
selben Folgerung, in mehr oder weniger bestimmten Formulierung, 
kommen E. Koeppel,’) V. H. Griffin,“) William Sharp’) 
und schließlich Frances S i m.“ 

Leider ist uns sehr wenig von der Reise Brownings nach Ruß- 
land bekannt. Selbst der Zweck, der ihn zu dieser Reise veranlaßte, 
bleibt unbekannt. Wir wissen bloß, daß im Frühling 1834, in den 
ersten Tagen des Monats März, Browning, noch im Jünglingsalter, 
der eben erst seine Kräfte auf literarischem Gebiete versucht hatte 
(er hatte schon seine „Pauline“ geschrieben), als Sekretär des russi- 
schen Generalkonsuls Benkhausen in England, durch Kurland und 
Estland nach Petersburg gereist war. Wie lange Zeit er dort verweilt, 
bleibt ebenfalls unaufgeklärt; nach den Berechnungen Koeppels zu 
urteilen, müssen es ungefähr 3 Monate, von März bis Juni, gewesen 
sein.) In Petersburg beendigte Browning unter anderem auch einige 
seiner Gedichte (,,Porphyr:a“ und „Johannes Agricola“, 1835 gedruckt 
und späterhin in einem Sammelwerk „Bells and Pomegranates“ zu- 
sammengefaßt), studierte mit Begeisterung die Bildergalerie der 


) So z. B. erklärt Edward Berdoe (The Browning Cyclopaedia, London 1897, 
p. 228) im allgemeinen die vorkommenden Wörter, wie „A werst, Droug, pope, 
pomeschik“ etc. ganz richtig, gibt aber Ivan Ivanovitsch unerwartet, vom russi- 
schen Standpunkte aus, eine ganz unwahre Deutung; dieser erscheint als „an ima- 
ginary personage, who is the embodiment of the pecularities of the Russian 
people, ın the same way as John Bull represents the English and Johnny Crapaud 
the French charakter“. Es kann hier offenbar bloß die Rede von der in Ruß- 
land weiten Verbreitung des Namens Ivan sein, bei dessen Wahl Browning viel- 
leicht andeuten wollte, daß sein Held die sehr typische Figur eines russischen 
Bauern darstellt, aber auch sonst nichts weiter. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, 
seinen Namen mit dem populären Heldentypus der russischen Volksmärchen 
(Ivan, Ivanulka) in Verbindung zu bringen, dessen interessante Analyse unter 
anderem M. Baring in seine „Landmarks of Russian Literature“ gegeben hat. 

5) E. Koeppel. Robert Browning, Berlin 1912, S. 12. 

) W. Hall, Griffin. The Life of Rob. Browning... Completed and edited 
by H. Ch. Minchin, London, 1910, p. 64, 266. 

7) W. Charp. Op. cit., p. 57. 

oon Sim. Robert Browning. The poet and the man. London, 1928, 

p. . 

°) Koeppel, Ibid. S. 12, 242. 


418 


„Ermitage“, wobei, wie Griffin mitteilt, eines der Gemälde Albanos, 
das den Raub der Europa darstellt und dessen Kopie Browning später- 
bin im Florentiner Uffizi zu sehen Gelegenhenit gehabt hatte, in 
seinem Gedächtnis so fest haften geblieben war, daß er sich seiner im 
“The Ring and the Book” erinnert.“) 1843 schrieb Browning ein 
Schauspiel „Only a playergirl“, das jedoch nicht herausgegeben 
wurde, wo die Handlung in Petersburg vor sich geht. Hier diente, 
nach den Angaben Mrs. Baretts, als Hintergrund die Petersburger 
Winterlandschaft, die Perspektive der Paläste, der Eisgang auf der 
Newa, und unter den handelnden Personen waren einige sehr treffend 
eschilderte Nationalfiguren. Während seines Aufenthaltes in Ruß- 
and studierte Browning seine Umwelt offenbar mit großem Erfolg 
und Interesse. Ich kenne nicht die Quellen, auf Grund deren Griffin 
von einer Festlichkeit spricht, zu der auch Browning zugegen gewescu 
sein soll, von seiner Bekanntschaft mit einem gewissen Waring, Mit- 
glied der englischen Gesandtschaft in Petersburg, dessen er sich 8 Jahre 
später in einem Gedichte, an Alfred Domett gerichtet, entsinnt. 
Interessant ist ferner die Angabe Mrs. Bronson s*) von einer Be- 
gegnung Brownings mit dem russischen Fürsten Gagarin in Venedig, 
wobei die Rede von russischer Musik und russischem Volksliede war 
und der Poet alle Anwesenden über seine gründlichen Kenntnisse und 
außergewöhnliches Gedächtnis in völlige Verwunderung setzte. 
Andere Biographen Brownings übersehen entweder diese Einzelheiten, 
oder beschränken sich bloß auf eine einfache Erwähnung seines kurzen 
Aufenthalts in Rußland. Die Hauptquelle, welcher man die be- 
sonders interessanten Ereignisse dieser Reise entnehmen könnte, näm- 
lich Brownings Reisebriefe an seine Schwester, sind leider abhanden- 
gekommen; die sie jedoch gelesen haben, entsinnen sich, daß Browning 
darin den großartigen Eindruck schilderte, welchen der sich auf viele 
Meilen hinziehende ganz verschneite Fichtenwald, durch welchen er 
5 und Nacht fahren mußte und auch die Geschwindigkeit der 
ittenfahrt in Rußland auf ihn machte.“) Der Anblick des finsteren 
Föhrenwaldes im dichten Schnee machte einen so tiefen Eindruck 
auf seine Einbildungskraft, daß er 4 Jahre später (1888) ein Gedicht 
„A Forest Thought“ schreibt, in dem er die Be estnischen Wälder 
und die Erhabenheit der unabsehbaren Waldflächen erwähnt. Das ist 
ungefähr alles, was wir von der Rußlandreise Brownings wissen. 
Etwas über 40 Jahre später, im August 1878, kam Browning nach 
Spliigen, einem im Alpenhochgebirge verlorenen Nest, von wo aus er 
in seine italienischen Lieblingsstädte Verona, Asolo und Venedig 
niederzusteigen pflegte. Hier gerade wurde das Poem „Ivan Ivano- 
vitsch“ angefangen.“) 


10) Griffin, p. p. 62—68, 266. 
11) Mrs. Bronson. „Browning in Venice.“ „Century Magazine“, vol. LXII, 
p. 578—579 
12) Mr. Sutherland Orr. Life and Letters of Rob. Browning, London, 
1891, p. 64—65. 
18) Koeppel. Op. cit. S. 202—208, 851. 


419 


Der Anblick der mit Schnee bedeckten Gipfel, die Nähe des 
ewigen Eisgebietes, die dichtbereiften Föhren, diese ganze Schweizer 
Landschaft riefen den russischen Winter und die russischen Wälder 
in seinem Gedächtnis wach, und so schuf er sein Poem von der russi- 
schen Bäuerin und dem Dorfzimmermann. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß das ganze russische Kolorit 
des Browningschen Idylls, die Mond- und Waldlandschaften, die 
Schellen, deren Geläut sich in der Ferne verliert, die Schilderung des 
russischen Dorfes und vieles andere, den unmittelbaren Eindrücken 
vom russischen Leben und Natur zu verdanken ist, die Browning von 
seiner Reise 1834 davontrug. Es ist ja möglich, daß diese Beob- 
achtungen durch Leben und Auskünfte aller Art später bereichert 
wurden, sie haben aber, während der langen Zwischenzeit, die sie von 
der Entstehung oder endgültigen Bearbeitung des eigentlichen Werkes 
trennt, kaum ihre Frische eingebüßt; sonst hätte Browning wohl 
nicht die Bearbeitung desselben unternommen. Diesen Reiseein- 
drücken, vielleicht auch den Notizen eines Reisebuches sind die vielen 
russischen Wörter in englischer Transcription entnommen, mit denen 
das Idyll übersät ist. Geht aber aus all dem hervor, daß Browning 
das Sujet zu seinem Idyll auch aus Rußland genommen hat? Es ist 
gewiß möglich, daß Browning in Rußland Gelegenheit gehabt hat, Er- 
zählungen über Wölfe, welche ganze Dorfherden verwüsteten und 
die Bevölkerung) beunruhigten, zu hören und daß die Beschreibung 
des Rudels Wölfe, die seine englischen Kritiker in solches Entzücken 
versetzten, auf Grund von Beobachtungen an Ort und Stelle gemacht 
worden ist. Es könnten ja auch bloß Anklänge an ein, in der euro- 
päischen Literatur und Malerei so oft wiederholtes, Motiv über Wölfe 
gewesen sein, daß für ein Sujet mit russischem Thema geradezu tradi- 
tionell geworden war — entsinnen wir uns z. B. eines allgemein be- 
kannten Gemäldes von Horace Vernet „Maseppa aux loups“. Wir 
wollen aber die Frage enger fassen: liegt wirklich eine russische 
Volksiiberlieferung dem Idyll zugrunde? Wir können mit vollster 
Bestimmtheit sagen, daß der erste Teil des Idylls — die Erzählung 
der Mutter — nichts gemeinsames mit russischen Volkssagen von 
Kindesmördern hat, und unabhängig davon geschaffen ist. Unter 
den unzähligen Volkserzählungen dieses Typus finden wir auch keine 
einzige Analogie zu Brownings Poem. 


Um weitere Erörterungen bequemer vornehmen zu können, 
wollen wir den Inhalt kurz wiedergeben. Ort der Handlung ein 
entlegenes Dörfchen, in den dichten Wäldern zwischen Moskau und 
Petersburg verloren. Ein Wintermorgen. Ivan Ivanovitsch, der ge- 
schickteste Zimmermann des Dorfes, ein nordischer Riese, blauäugig, 
mit „honigfarbenem“ Bart, behaut eine mit mit kräftigem Schwung 
seiner Axt gefällte Fichte zu einem Mastbaum. Plötzlich ertönen 
Hufschlag und Schellengeläut. Es zeigt sich ein Schlitten ohne Lenker. 


14) P. Stolpjanskij, Wölfe vor einem halben Jahrhundert. „Russ. Archiv“ 
1907, Nr. 8. 


420 


Am Boden des Schlittens liegt ein ohnmächtiges Weib, in welchem 
die Holzhauer Luscha, die Frau des Nachbarn Demetrius, erkennen. 
Das Pferd wankt und stürzt erschöpft zu Boden. Die Bauern um- 
ringen den Schlitten. Das Weib kommt zu sich und unter lautem 
Schluchzen und Wehklagen erzählt sie den Versammelten von dem 
tragischen Ende ihrer drei Kinder. Ihr Mann Demetrius hatte sie in 
das Nachbardorf mitgenommen, wohin er zum Bau einer Kirche ge- 
rufen worden war. Sie hatten schon die Absicht, heimzukehren, da 
bricht in dem Dörfchen plötzlich eine Feuersbrunst aus. Alle Hände 
hatten natürlich im Kampf mit dem Element vollauf zu tun und 
Demetrius mußte seine Frau und Kinder allein heimlassen. Das 
wackere Pferd „Freund“ kennt ja den Veg ausgezeichnet, es wird 
sie schon in das Heimatsdorf zurückbringen. Sie fahren ab. Da 
durchschneidet plötzlich die frostige Luft ein dumpfer Ton, ein 
Stöhnen. 
Was that — wind? 
Anyhow, Droug starts, stops, back go his ears, he snuffs, 
Snorts, — never such a snort! then plunges, knows the sough’s 
Only the wind: yet, no — our breath goes up to straight! 
Still the low sound, — less low, loud, louder, at a rate 
There’s no mistaking more! Shall I lean out—look—learn 
The truth whatever it be? Pad, pad! At last, I turn — 
T’is the regular pad of wolves in pursuit of the life in 
the sledge! 


Und da endlich wurden sie sichtbar: Oh, Freund, rette uns! Das 
arme Roß strengt alle seine Kräfte an, aber die Wölfe kommen 
immer näher. Einer hat schon den Schlitten erreicht. Oh, 
dieser erste Wolf, mit dem Teufelsgesicht, er streckt seine Zunge 
hervor, er grinst, fletscht seine weißen Zähne. Er springt in den 

itten, wühlt mit seinen Pfoten in Decken und Kleidern! Oh, 
meine Lieblinge, meine teuren Zwillinge, rühret euch nicht! Stelle 
euch tot! Oh! nein, Stepan, du wirst doch nicht Beate der Wölfe 
werden. Deine Mutter stirbt an deiner statt. Aber Stepan will 
nicht ruhig liegen. Er hört nicht auf die Ermahnungen. War es, daß 
ihre Hand ihn nicht mehr halten konnte, oder daß er sich selber los- 
rif! Kurz, Ste verschwand. Sie war mit zweien gerettet. 
Wiederum Verfolgung! Nicht das volle Rudel, ihre Reihen sind ge- 
lichtet, das Getrappel schwächer. Ach, es sind ja einige zurück- 
eblieben, sie halten einen Festtagsschmaus! Doch immerhin sind 
ihrer noch viele, die nach frischer Beute lechzen!“ Das zweite Kind 
Demetrius suchte auf ihren Knien Schutz, sie drückt ihn ans Herz, 
aber auch ihn reißt der hungrige Rachen des Wolfes aus den Armen 
der Mutter. „Ich sah es, aber was konnte ich anders tun, als zusehen? 
Meinen lieben Jungen, so fest ich ihn auch hielt, entriß er mir. Aber 
der Jüngste blieb unversehrt. Ich werde ihn zum Manne erziehen! 
Er wird seine Brüder rächen!“ Der Tag bricht schon am fernen 
Horizont an. Bis zum Hause ist es nicht mehr weit. Aber einer jagt 


421 


dennoch hinterher. Sie sieht ihn aus der Ferne. Ein Punkt 
ein Fleck . . eine Kugel. Wieder derselbe! Sie ergreift seine 
Zunge, will sie ziehen, um sie herauszureißen, das machte ihn aber 
bloß noch lüsterner nach frischem Fleische. Sie warf sich über das 
Kindchen, deckte es mit ihrem eigenem Leibe. Seine Zähne nn 
sich in ihre Schulter ein. Sie selbst biß ihn bis aufs Blut. Was konnte 
sie sonst noch tun? Er riß ihr das Kind vom Herzen. Da verlor sie 
die Besinnung. 

Der Bericht der Mutter ist zu Ende. Aber das Sujet des Brow- 
ningschen Idylis nähert sich erst seiner Katastrophe. Ihre Beichte 
richtet die unglückliche Mutter hauptsächlich an Ivan Ivanovitsch. 
Ihr Haupt ruht auf seinen Knien, seine breite Hand streichelt väter- 
lich ihr Haar. Voll Dankbarkeit kniet sie vor ihm nieder und 
segnet ihn. 

en EE solemnly 

Ivan rose, raised his axe, — for filty, or she knelt, 

Her head lay: well apart, each side, her arms hung, — dealt 

Lightining — swift thunder — strong one blow—no need of more! 

Headless she knelt on still: that pine war sound at core 

(Neighbours were used to say — east, iron — kerneled—which 

Taked for a second stroke Ivan Ivanovitch. . . 
Wir werden den Inhalt des zweiten Teiles des Idylls nicht genau 
wiedergeben. Für das darauf Folgende war es fiir uns bloß wichtig, 
auf die Erzählung der Mutter näher einzugehen. Es genügt, wenn 
wir wissen, daß der zweite Teil des Idylis eine vielleicht etwas in die 
Länge gezogene Szene des Dorfgerichts über Ivan Ivanovitsch dar- 
stellt, wo verschiedene Vertreter der russischen Dorfintelligenz lange 
Anklage- und Verteidigungsreden halten. Den Sieg trägt schließlich 
die Meinung des Priesters davon, der in einem langen Monolog mit 
biblischen Sentenzen und Beispielen gewürzt, eine Apologie der 
Mutterschaft ausspricht, und die Handlungsweise des vermeintlichen 
Mörders rechtfertigt. Das Gericht ist zu Ende und die ganze Bauern- 
schaft tritt in das Haus Ivan Ivanovitschs, um ihm das Urteil zu ver- 
künden: „How otherwise? asked he“ .... So endigt das Werk 
Brownings. Die ruhige Sicherheit Ivan Ivanovitsch., mit der er 
erklärt, die Mordtat mit vollem Recht und Gesetzlichkeit begangen 
zu haben, stellt einen krassen Gegensatz zu den aufgeregten Streitig- 
keiten beim Gerichte dar. Die Schlußworte des Browningschen 
Helden schaffen den dramatischen Effekt analog demjenigen, den der 
erste Teil des Idylls im Auge hat, wo der, für den Leser völlig uner- 
wartete, verhängnisvolle Axthieb, als eine ebenso kühne, wie rasche 
Antwort auf die wortreiche Beichte der Mutter, folgt. Das Uner- 
wartete dieser Katastrophe macht den Eindruck eines unwillkürlichen 
Mordes, eines Aktes der Vergeltung, der sozusagen nicht bis zur Er- 
kenntnis des Mörders gedrungen, wie in der amtlichen Tragödie, 
nicht seinem Willen nach geschehen ist. Der zweite Teil, namentlich 
der Effekt der Schlußscene soll gerade diesen Eindruck abändern. 
Dem Gedanken des Autors nach, bricht in der Handlungsweise Ivan 


422 


Ivanovitschs, das den primitiven und unmittelbaren Vollblutnaturen 
eigene und zugleich von großer dynamischer Stärke erfüllte Bewußt- 
sein von gewisser althergebrachter, angeborener Moral hervor, vor der 
die Schwankenden und zeitlichen Formen der offiziellen Gesetzlich- 
keit manchmal zurücktreten müssen. Wenn das der Hauptgedanke 
dieses Werkes ist, erscheint dann in diesem Falle das Idyll Brownings 
nicht vor allem als Antwort auf eine komplizierte philosophische 
Frage und muß dann nicht sein russisches Kolorit als zufällige Hilfe 
betrachtet werden, welche eine völlig selbständige und von ihr unab- 
hängige philosophische Idee umschließt? Womit ist in den Augen 
des Autors die Verlegung des Handlungsortes nach Rußland gerecht- 
fertigt und ist die Grundidee mit jenen Einzelheiten der Lebensweise 
der russischen Dorfbewohner verknü ft, welche Browning so frei- 
gebig überall eingestreut hat. In der letzten Szene z. B. konnte 
Browning sih einer Reihe Angaben, rein ethnographischen 
Charakters nicht enthalten: hier sind typische russische Namen, die 
sehr genaue Schilderung der Vorgänge beim Brotbacken im russischen 
Ofen und der „Kreml“, dessen Mauern Ivan Ivanovitsch so kunstvoll 
geschnitzt hat, selbst die Ivan Welikykirche, gelb gestrichen, mit zwei 
Kuppeln versehen, an denen Kinder anstatt der Glocken Eicheln auf- 
hängen; aber Einzelheiten solcher Art und in derselben Menge treffen 
wir auch im ersten Teil des Idylls an, wo oo unvermerkt cine 
allgemeine und ziemlich richtige Vorstellung von den Sitten und 
Gebräuchen des russischen Dorfes geschaffen wird. Die Fülle dieser 
Einzelheiten spricht von zielbewußter Auswahl und Anordnung.“) 


15) Die russischen Leser haben dieses russische Kolorit des Werkes sehr ver- 
schiedenartig bewertet, obgleich man zugeben muß, daß „Ivan Ivanovitsch“ sehr 
wenig in Rußland bekannt ist. Bei seinem Erscheinen im Druck ist „Ivan Ivano- 
vitsch“ flüchtig in zwei russischen Zeitschriften erwähnt worden. Der anonyme 
Referent der ,,JeZelnedelnoje Novoje Vremja“ [Wöchentlihen Neuen Zeit] 
(1879, B II Nr. 15, S. 108—115) teilte den Inhalt des Idylls mit, unterließ aber 
eine gesamte Abschätzung des Werkes. „Vestnik Evropa“ gab im Gegenteil eine 
kurze, aber sehr scharfe Kritik des ganzen Werkes, indem er auch einige Worte 
dem uns interessierenden Idyll widmete „als eine der blödsinnigsten und 
längsten im ganzen Bande“ (siehe A. Regnard: „Nauka i literatura v Sov- 
remennoj Anglii“ („Wissenschaft und Literatur im modernen England“) „Vestnik 
Evropy“ 1879, Nr. 7, S. 350—852); diese Rezension ist unter anderem nicht von 
Frederik J. Furnivall („A bibliography of Rob. Browning from 1838—1881“, 
London, 1882, P 146), vermerkt und ebenfalls von W. Sharp, Life, Bibliography, 
p XV. In Rußland hat man auf diese Weise die philosophishe Grundlage des 

rowningschen Werkes gar nicht verstanden, auch war sein genaues Schaffen bei 
uns recht wenig bekannt, bis zum Ende der 90 er Jahre, da unerwartet ein 
großes Interesse für ihn erwachte. Zinaida Vengerova, deren Feder eine selb- 
ständige und interessante Skizze über Browning entstammt („Vestnik Evropy“ 
1896, dasselbe zu ihren Büchern: Literaturnije charakteristiki („Literarische 
u kei): St. Petersburg, 1897, Anglijskije pisateli XIX veka“ („Eng- 
lische Schriftsteller des XIX. Jahrh.), St. Petersburg, 1918, S. 108—147), finder es 
ganz richtig, indem sie sich über Ivan Ivanovitsch äußert, „daß der Mangel an 
Zweifeln der Seele eines primitiven Menschen: der Erdscholle und die keine 
Schwankungen im entscheidenden Moment kennende, wenn auch zu gewöhnlicher 
Zeit apatisch-faule Natur des Slaven in dem Browningschen Helden schr fein 
wiedergegeben ist. Beachten wir noch ferner eine für einen Ausländer erstaun- 
liche Treue der Wiedergabe einiger Zinzelheiteri der russischen Gebräuche und 
sogar der Aussprache der Eigennamen.“ 423 


Was ist nun das primäre in der Anlage dieses Werkes: die philosophi- 
sche Idee von der Berechtigung, eine Mordtat mit Mord zu sühnen 
oder die Darstellung einer Begebenheit, die in Rußland tatsächlich 
stattgefunden hat? Hat sich in der Auffassung des Autors auf irgend 
eine Weise die zeitliche Weltanschauung seines Helden mit der Vor- 
stellung von derjenigen des russischen Bauern 5 

Auf alle diese Fragen kann bloß die Analyse der Quellen des 
Browningschen Idylls eine genügende Antwort geben. Sie eben muß 
es erweisen, aus welchem Kern das Verk entstanden, was den Autor 
auf den Gedanken brachte, sich mit der Bearbeitung desselben zu be- 
fassen. Daß dem Idyll irgend eine literarische Quelle zugrunde liegt, 
nicht aber eine russische Volksiiberlieferung, unterliegt keinem 
Zweifel. Browning konnte unmöglich in Rußland die Geschichte von 
einer derartigen Mutter hören, weil sie von Grund aus nicht der 
Wahrheit entspricht. 

Interessant ist zu bemerken, daß im Folklor verschiedener 
Völker, insbesondere bei den Slaven, die Geschichten von 
Kindermorden sehr verbreitet sind, die aber zu religiösen und 
altruistischn Zwecken verübt, gerechtigt werden. Ostslavische 
Varianten, russische und ukrainische, sprechen von Opferung des 
eigenen Kindes um Gottes und des Glaubens willen, aus Liebe zum 
Armen, als Erkenntlichkeit für einen Liebesdienst, endlich zur Er- 
rettung eines Freundes von einer Krankheit; eine wunderbare Wieder- 
erweckung eines solchen Kindes ist das gewöhnliche Ende der Ge- 
schichten von diesem Typus.) Auf slavischem Boden, insbesonders 
auf russischem, ist auch noch die Sage von der sündhaften Mutter, 
welche ihr Kind aus Scham vor dem Gerede der Leute oder aus per- 
sönlichen egoistischen Trieben tötet; aber in solchen Fällen trägt die 
Mutter immer eine schwere Strafe davon. Solche Legenden stehen 
am häufigsten mit apokriphischen und geistlichen Versen im Zu- 
sammenhang. J. A. Jaworsky, der diese Legenden auf russischen 
Boden untersucht hat, bemerkt, daß, obgleich das Motiv der Kinder- 
morde in der russischen Volksliteratur sehr tiefe Wurzeln geschlagen 
hat und originell und farbenprächtig bearbeitet ist, so ist diese Bear- 
beitung doch einseitig; „ein Kindermord im direkten Sinne, d. h. ein 
bewußter Mord lebendiger Kinder, wie in der westeuropäischen 
Volkspoesie, ist hier eigentlich überhaupt nicht vorhanden; der be- 
wußte Mord eines lebendigen, schon geborenen Kindes durch die 
eigene Mutter — ist als ein zu abstoßendes und grauenhaftes Motiv 
von derselben überhaupt nicht aufgenommen worden. Auf diese 


18) Einem vergleichenden Studium dieser Legenden widmete M. P. Drago- 
manov eine spezielle Untersuchung „Slavische Sagen über die Opferung des 
eigenen Kindes“ im „Sbornik za narodni umotvorenia“ I, 65—96 (bulgarisch); 
dasselbe (ukrainische Übersetzung) in seinen „Rozvidky“ („Untersuchungen“), 
Bd. III, S. 150 ff. 

17) J. A. Javorskij. Geistlicher Vers von dem sündigen Weibe (Duchovnij 
stih o greinoj devce), „Izbornik Kievskij“, Kiev, 1904, 884—887 (russisch): 
großes Folklormaterial auch bei V. Gnatjuk. Pisnia pro pokritku. Materialy 
do ukrainskoj Etnologii, XIX—XX, 249—889 (Lemberg, 1919). 


424 


Weise ist die Psychologie der Heldin im Browningschen Idyll dem 
russischen Volksbewußtsein vollständig fremd und weckt eher die Er- 
innerung an die antike Mythologie wach (gedenken wir der Medea, 
die ihren Bruder in Stücke schnitt, um der Verfolgung zu entgehen). 


Aber auf der Suche nach einer Analogie des Sujets des Browning- 
schen Idylis ist es wohl kaum nötig, so weit zurückzugreifen. Die 
Quelle der Erzählung der Mutter kann, meiner Meinung nach, ganz 
genau angegeben werden. Das ist eine Erzählung aus dem Buche von 
F. Lacroix „Les mystéres de la Russie. Tableau politique et morale de 
l’empire russe“ (1844). Dieses Buch hate großen Erfolg. Die ver- 
breitetsten Zeitungen zitierten es und überhaupt übte es unstreitig 
einen influß auf die öffentliche Meinung aus. Das Interesse 

ü n die große Zahl der Ausgaben und Übersetzungen in 
fast ganz Europa. 1844 kommt es in Bruxelles heraus, 1845 in Paris, 
dann folgen deutsche, spanische und italienische Obersetzungen.”) 
Die Grundlage dieses Buches bildet sozusagen die Handschrift eines 
Diplomaten, der lange Zeit in Rußland gelebt haben soll und Muße 
hatte, sich Leben und Staatsordnung anzusehen, wie auch Reisenotizen 
und verschiedene Aufsätze über Rußland. ets Zoch das Buch in 
ruhigem Tone geschrieben und völlige Unparteilichkeit zu zeigen be- 
strebt ist, so unterstreicht es doch mit entschiedener Bestimmtheit 
die feindselige Gesinnung der französischen öffentlichen Meinun 
dem Rußland des Caren Nikolaus I. gegenüber.“) Eben dieses Bu 
enthält eine kleine Geschichte, die in nächster Beziehung zum Brow- 
ningschen Idyll steht. Ich führe sie hier buchstäblich an: „On ra- 
conte qu’une femme russe revenant avec ses trois enfants, d’un 
village voisin de sa demeure, au milieu de l’hiver et par un froid 
rigoureux, fut assaillie par des loups affamés. Pour échapper à la 

suite de ces redoutables animaux, elle excita le cheval attelé 
son traineau et chercha, mais vainement, 4 épouvanter les loups par 
ses cris. Le traineau avangait rapidement sur la neige, mais le troupe 
acharnée allait aussi vite, et la paysanne vit qu’il ne lui restait aucune 
chance de salut. En ce moment supréme, va sans doute, croyez- 
vous, placer ses enfants sur le traineau, fouetter vigoureusement le 
coursier, dans l’espoir qu’il les raménera tout ceul au village, puis se 
livrer elle m&me, mére courageuse et devouée à la voracité des loups? 
Point. Ce sont ses enfants qu'elle abandonne. Elle en jette d’abord 
un, puis, cette proie n’ayant fait qu’aiguiser l’appetit des bétes, elle 
laisse tomber le second. Enfin, le troisitme suit bientöt ses deux 
fréres; et la mére triomphante rentre, saine et sauvé, sous le toit con- 

. Voila, ce que l’esclavage fait d'une femme, d'une mère. 


18) Regensburg 1844, 2. Aufl. 1848, Sevilla 1845; ,,Prima versione italiana” 
des Dr. G. G., Fiume, 1868 etc. vgl. „Catalogue de la Section des Russica“ 
(St. Petersburg 1878) t. I, p. „ Nr. 259—268. 


19) E. Tarle. „Zapad i Rossija“ (Westeuropa und Rußland). Petersburg, 


1918, S. 69, 72—73. 


28 ur 6 425 


De pareils faits sont possibles partout ou une cause puissante de per- 
version agit incessament sur l'esprit et le moral d'un peuple "29 
Die frappante Ähnlichkeit dieser Geschichte mit der Erzä 

der Mutter bei Browning läßt uns annehmen, daß eben das Buch 
Lacroix’ Browning den Anstoß zur Schöpfung seines dramatischen 
Idylls gegeben hat. Die Erzählungen stimmen in allen Einzelheiten 
überein. Wie bei Lacroix, so auch bei Browning suchen die Heldinnen 
anfangs dem sie verfolgenden Rudel zu entgehen; die eine wie die 
andere hat drei Kinder, welche eins nach dem anderen im Wolfs- 
rachen verschwinden usw. F. Lacroix sagt nicht, woher seine Er- 
zählung stammt. In den Büchern, die zweifellos von dem französi- 
schen Publizisten für sein Werk benutzt worden waren, findet sich, 
soviel ich weiß, diese Erzählung nicht, wie auch in einer Reihe anderer 
Werke über Rußland fehlt. Ich fand auch in der russischen Literatur 
keine Varianten derselben. Es ist sehr leicht möglich, daß Lacroix 
es selbst als Illustration einer der Thesen seines Buches ersonnen hat. 
Daß Browning das Buch von Lacroix kannte, ist sehr wahrscheinlich, 
obgleich keine Beweisgründe zu unserer Verfügung vorhanden sind, 
die es uns erlauben könnten, das kategorisch zu behaupten. Dafür 
sprechen einerseits die Popularität des Buches, das viele Auflagen und 

bersetzungen erlebt hat, andererseits die Belesenheit Brownings 
gerade in der französischen Literatur, die er mit Aufmerksamkeit und 
Eifer verfolgte und welche auch in seinem Schaffen zweifellose Spuren 
hinterließ.) Browning konnte während eines seiner Besuche in 
Paris an dem Buch Lacroix Interesse gewinnen, es konnte ihm von 
irgend einem seiner französischen Freunde genannt worden sein, 

ließlich konnte er es auch in italienischer Sprache gelesen haben. 


Wie verfuhr nun Browning mit der Erzählung, auf die er offenbar 
im Buche von Lacroix stieß? Er hat sie zu allererst entwickelt, indem 
er sie mit malerischen Einzelheiten bereicherte. Außerdem hat er sie 
stark psychologisiert, indem er die zeitliche Exposition durch den für 
sein Werk so typischen Monolog der Muter ersetzte, in dem das Vor- 
gefallene als Erinnerung wiedergegeben wird. Er veranlaßt die Heldin 
selbst, die Tragödie eines willenlosen und schwachen Weibes vor den 
Augen des Lesers zu enfalten, in der sogar die Mutterliebe vor den 
Qualen und dem Tode schwach wird und welche unwillkürlich sich 
selbst betrügt in dem Bestreben, sich vor den Dorfbewohnern zu 
rechtfertigen. Diese wesentliche Veränderung mildert die Grausam- 
keit des von Lacroix geschilderten Bildes erheblich; seine Mutter, die 
eine Mordtat begangen, kehrt ja einfach mit Triumph unter das 
eheliche Dach zurück. Ihr fehlt sogar das einfachste Bewußtsein ihrer 
Schuld. Browning mußte selbstverständlich die psychologische 
Wahrheitstreue einer solchen Szene bezweifeln. Er beschränkte sich 


SCH F. Lacroix, Les mystéres de la Russie. Paris 1845 (Pagnerre), p. p. 528 


21) Karl Schmidt. Robert Brownings Verhältnis zu Frankreich, Berlin, 
1909, S. 7—44. 


426 


aber nicht darauf, die siindhafte Mutter ihre Zuflucht zu einem ge- 
wissermaßen öffentlichen Bekenntnis nehmen zu lassen. Der Schwer- 
punkt im Idyll ist auf die Tat Ivan Ivanovitschs verlegt, weshalb auch 
die Uebrschrift seinen Namen trägt: „Ivan Ivanovitsch“ ist der eigent- 
liche Held des Werkes. Obgleich er selbst fast gar nicht spricht, so 
bleibt er dennoch eine beredte Figur, da Browning selbst für ihn 
spricht. Infolgedessen ist Browning unendlich weit von der Er- 
zählung Lacroix’ entfernt. Für den letzteren ist diese ganze Ge- 
schichte nur dazu da, um ein überflüssiges Mal den 3 
Einfluß zu unterstreichen, den die Leibeigenschaft auf die russische 
Bauernschaft ausübt. Im Gegensatz zu ihm schließt Browning, 
wenigstens im ersten Stadium seiner schöpferischen Bearbeitung dieses 
Themas, die Augen, was Milieu und Epoche anbetrifft. Ihn inter- 
essieren allgemeine philosophische und ethische Fragen. Ihn gehen 
die Ursachen, welche die russische Bäuerin zu dem Verbrechen 
führten, nichts an, das ist auch keine russische Bäuerin, sondern über- 
haupt eine Mutter. Er beschuldigt nicht nur sie, sondern auch die 
Willenlosigkeit und Athrophie des Muttergefühles überhaupt. Sein 
Zimmermann und sein Priester sind aus demselben Grunde nicht 
wahrheitsgetreu. Von den historischen und ethnographischen Bildern 
geht Browning fortwährend zu allgemeinen Lebensproblemen über. 
Und erst dann, wenn sie gelöst sind, kehrt er wieder zur Handlung 
und den Einzelheiten der Sitten und Gebräuche zurück. Das Drama 
ist geschaffen. Er stellt die Kulissen auf und kleidet die handelnden 
Personen in russische Trachten; die Schminke mag ja tadellos sein, 
aber der Eindruck von echtem Leben wird trotzdem nicht hervor- 
gerufen, da die Rolle unabhängig von demselben geschaffen ist. So 
auch im russischen Idyll Brownings: der Fond ist sehr malerisch, die 
Dekorationen und Kostüme ganz echt, aber die Schauspieler haben 
sich nicht mit der Rolle, die sie zum erstenmal zu spielen haben, ver- 
traut gemacht. 


427 


POLNISCHE UND LITAUISCHE STUDENTEN 
IN KONIGSBERG 


Von Theodor Wotsdke. 


Es war eine Groftat im Reiche der Kultur- und der Geistes- 
geschichte, als der erste Hohenzoller auf Preußens Herzogsthron 1544 
an der Grenze der Kultur und der Barbarei eine neue Hochschule 
gründete. Eine Bildungsstätte war damit geschaffen, die nicht nur 
dem deutschen Grenzlande diente, hier neues geistiges Leben weckte 
und, förderte, sondern weit über seine Grenzen hinaus nach dem 
Norden und Osten wirkte, wissensdurstige Jünglinge aus Polen und 
Litauen und den skandinavischen Reichen anzog, durch sie Wissen 
pflanzte, Erkenntnis weckte auch bei den Nord- und Ostleuten, mit 
den Humanisten zu reden, bei den Hyperboräern. Keine deutsche 
Universität hat etliche Jahrzehnte auf den slavischen Osten so stark 
eingewirkt wie die Albertina. In dem großen Geisteskampf des 
16. Jahrhunderts, als die Frage nach einer Erneuerung der Kirche die 
Herzen bewegte, ist von ihr ein Strom neuer Gedanken nach dem 
Osten gegangen, hat sie Männer ausgebildet, die als Herolde der 
Reformation hinausgezogen sind, Flugschriften, Bücher ausgehen 
lassen, die weithin Kunde gaben von dem, was der Wittenberger 
Monch in seinem Ringen vor Gott erkannt hatte, Katechismen, 
Kanzionale, Postillen, Neue Testamente gedruckt,. das neue religiöse 
Leben, das bis nach Moskaus Grenze hin sich regte, zu pflegen. In 
der Hand ihres edlen Gründers war sie das vorzüglichste Instrument, 
das, was sein Herz erfüllte, auch dem Osten zu bringen, ihn zu 
evangelisieren. Ein fesselndes Bild, ihre Auswirkungen im Lande des 
Njemen und der Weichsel zu verfolgen. 


Schon die Vorschule der Universität, das sogenannte Partikular, 
hatte Bedeutung und Einfluß über Preußens Grenze hinaus. Ihr 
Rektor war ja der um seines Glaubens willen aus Wilna geflüchtete 
Abraham Culvensis. Als erster Litauer hatte er, ein Sproß des 
Bojarengeschlechts der Hadath auf Kulwa nordöstlich von Kauen, 
der schon in Löwen zu des Erasmus Füßen gesessen, 1536 die 
Leucorea bezogen, auch Leipzig aufgesucht. Nach einer Reise nach 
Italien war er zur Lutherstadt, die ihm das Herz abgewonnen, zurück- 
gekehrt, dann mit einem Empfehlungsschreiben Melanchthons an den 
Wojewoden von Troki, Stanislaus Gastold, in die Heimat geeilt, hatte 


428 


hier gelehrt und gepredigt, was er von den Reformatoren gelernt. 
Aber im Sommer 1542 hatte ihn eine anhebende Verfolgung nach 
Königsberg getrieben, wo alsbald ein Ruf Herzog Albrechts an ihn 
erging. Auch im Partikular hatte er Litauer unter seinen Schülern. 
Unter preußischem Schutze konnte er verschiedentlih auch die 
Heimat aufsuchen, hier weiter den Samen neuer Erkenntnis aus- 
streuen, seine Landsleute auch Psalmen lehren, die er selbst ins 
Litauische übersetzt hatte, wie auch das Lutherlied „Gott sei gelobet 
und gebenedeiet“. In der Heimat hat er, in dem seine Freunde schon 
den Apostel, den Reformator, Litauens zu erblicken gemeint, auch 
frühzeitig (6. Juni 1545) seine Augen geschlossen. Ein schwerer Ver- 
lust für die junge Hochschule, an der er die Professur der griechischen 
Sprache übernommen hatte, noch schwerer für die Mission, die ihm 
im Osten zugedacht war, um so schwerer, da vier Wochen vor ihm 
auch der andere Litauer an der jungen Hochschule, der Professor der 
Theologie Stanislaus Rapagelan, der Sohn des Bojaren Georg Swiatzko 
Rapailowitz, am 13. Mai 1545 vom Lehrkatheder ins Grab gesunken 
war. Auch ihn, einen ehemaligen Franziskanermönch, hatte Witten- 
berg gebildet, auch ihn hatte Herzog Albrecht gerade mit Rücksicht 
auf Polen und Litauen berufen und die wichtigste Professur ihm über- 
tragen, dazu angewiesen, die Bibel ins Polnische zu übersetzen. Er 
hatte damit bereits begonnen, als der Tod ihm die Feder aus der 
Hand nahm. Gleichwohl ist sein Name wie der des Culvensis un- 
lösbar mit der Reformation im Osten verbunden, denn sein Vater- 
land verdankt ıhm gleichfalls ein litauisches Glaubenslied, Kitta 
giesme, d. i. ein anderes Lied von dem Leiden unseres Herrn Christus. 
Auch eine Abhandlung über die Ohrenbeichte hatte er zu schreiben 
begonnen. In der Fürstengruft im Dom ließ ihn der Herzog bei- 
setzen. Mit diesem, der Universität und ihren Studenten trauerten 
alle Reformfreunde Polens und Litauens. „Wie schnell ist unsere 
Hoffnung zunichte geworden“, klagte der bekannte Drucker und Ge- 
lehrte Bernhard Wojewodka in Krakau, der selbst in den Fluten der 
Weichsel auch vorzeitig sein Ende fand. Rapagelans Professur er- 
hielt Friedrich Staphylus, ein Niederdeutscher, der aber seine Jugend 
in Kauen und Vilna verlebt, in Krakau studiert hatte, im Gsten 
manchen Freund und Gönner besaß, die polnische und litauische 
Sprache beherrschte. Er sollte gleichfalls dem Nachbarlande dienen 
und den Studierenden, die aus Im zur Albertina kommen würden, 
besonders aber Rapagelans Bibelübertragung fortsetzen. Indessen 
hat er diese Arbeit sich nicht angelegen sein lassen, überhaupt nach 
jeder Seite enttäuscht. 

Doch nicht von Lehrern der Albertina, von Studenten soll diese 
Studie handeln. 

Aber wir können hier nicht scharf unterscheiden. Zumal in den 
ersten Jahren der Hochschule haben sich auch viele einschreiben 
lassen, die ihre Studien längst abgeschlossen hatten, in einem Amte 
standen, ihrerseits lehrten. So Johann Seklucyan, der Inische 
Prediger der Stadt, der Leipziger Baccalar und Posener Flüchtling, 


429 


der unermüdliche Verfasser, Übersetzer, Herausgeber, Verbreiter 
polnischer Schriften, der von Preußens Hauptstadt aus seinem Volke 
eine ganze evangelische Literatur geschenkt hat (t 1578), immer 
wieder fromme, erbauliche Schriften drucken ließ und sie zu ver- 
kaufen, geschützt durch herzogliche Briefe, in seinem Vaterlande 
herumreiste, der die Blütezeit der polnischen Literatur im 
Reformationsjahrhundert eingeleitet hat. So auch Martin Glossa, der 
einstige Krakauer Professor, dann preußische Pfarrer, der es auch als 
Ehrensache betrachtete, Bürger der neuen Akademie zu werden. Die 
Litauer Johann Zaphischa und Johann Adam, deren Namen uns 
bereits auf dem ersten Blatte der Matrikel begegnen, die sich schon 
hatten einschreiben lassen, bevor noch die Leuchte der jungen Hoch- 
schule, der Humanist Georg Sabinus, Melanchthons Schwiegersohn, 
der erste Rektor in Königsberg, eingetroffen war, vermag ich nicht 
näher nachzuweisen, Hieronymus Sandicensis aber, der ıhnen bald 
folgte, ist der Sohn des Glaubensflüchtlings aus Sandec, Johann 
Maletius, der von Herzog Albrecht das Pfarramt in Lyck erhalten 
hatte, eines Konkurrenten des eben genannten Seklucyan, der sich 
patak die Verbreitung polnischer reformatorischer Bücher ange- 
egen sein ließ, auf einer eigenen Druckerpresse einen Katechismus 
druckte, ja selbst an ein polnisches Neues Testament sich wagte, das 
aber über den ersten Bogen nicht herausgekommen ist. Unser 
Hieronymus, nach seinen Studienjahren erst Lehrer in Lyck, dann 
Nachfolger seines Vaters im Pfarramte daselbst, folgte ihm auch in 
der Pflege des polnischen Schrifttums. Die preußische Kirchen- 
ordnung vom Jahre 1558 hat er 1560 übersetzt, mit Radomski auch 
die preußische Bekenntnisschrift Repetitio corporis doctrinae 
Prutenici übertragen. Wie der Kirche wollte er auch der Wissen- 
schaft dienen, er plante die Herausgabe eines groß angelegten 
lateinisch-deutsch-polnischen Lexikons, bemühte sidr schon um das 
erforderliche Privilegium, das sein Werk vor unbefugtem Nachdruck 
schiitzen sollte, da Ee ihm Johann Maczinski mit seinem Wörter- 
buche 1564 zuvor und durchkreuzte sein Unternehmen. Erschien 
Johann Schuka aus Wilna, so Joachim Cimerikus aus Kauen. Krakau 
vertrat Petrus Vogelweider, der Patriziersohn, später Ratsherr in 
seiner Vaterstadt, Senior der evangelischen Gemeinde daselbst, 
Freund und Gönner des bekannten Christoph Thretius, des Sturm- 
schülers, der ihm seines Meisters Buch über den Rhetor Hermogenes 
gewidmet hat. Die nähere Heimat von Kaspar Chodzieski, joka 
Czekanowski, Albertus Schwath, von dem Litauer Matthaeus Paulus 
kenne ich nicht. Sollte Johann Papowski, der gleich nach diesem vor 
den Rektor trat, identisch sein mit dem großpolnischen Edelsohn 
Johann Pampowski, der 1537 schon in Wittenberg studiert hat, aus 
dessen Familie wir verschiedene Glieder in den dreißiger Jahren auch 
in Frankfurt und Leipzig sehen? Augustin Jamantowicz, den ich für 
das erste Jahr der Albertina als letzten der Studenten aus dem Osten 
nenne, war wohl ein Großlitauer, seit 1555 Pastor in Kraupischken, 
dann in Ragnit, wo er 1576 gestorben ist. An einer litauischen 


430 


Übersetzung des Neuen Testamentes hat er gearbeitet, sie aber nicht 
mehr abschließen können, und das Manuskript seiner Übertragung 
ist verloren gegangen. Als frommer Dichter hat er seinem Volke ver- 
schiedene geistliche Lieder geschenkt, darunter eine Bearbeitung des 
124. Psalmes. 

In ihrem zweiten Jahre sah die junge Hochschule unter ihren 
Bürgern die Polen Johann Witunski und Johann Dambro. Dies ist 
doch Johann Firlej von Dambrowica, der später zu den ersten Ämtern 
emporstieg, Wojewode von Belz, Lublin und 1571 schließlich von 
Krakau wurde, der treue Schutzherr der evangelischen Kirche und 
Wächter über ihre Rechte, für die er zu früh am 27. August 1574 
heimging. In der Geschichte lebt besonders sein kraftvolles Auftreten 
bei der Krönung am 21. Februar 1574, da er König Heinrich zum Eid 
auf den Religionsfrieden zwang. Seinen Bruder Andreas, den späteren 
Hauptmann von Sendomir und Kastellan von Lublin (t 1585) zog 
er im Oktober 1551 nach sich zur Albertina. Kasimir Horwidowitz, 
Hieronymus Opachowski und Lorenz aus Krakau wollen wir über- 

ehen, einen Augenblick aber bei Benedikt Witoslawski, dem im 
8 1550 sein Bruder Johann folgte, verweilen. Er war aus 
groß polnischem Geschlecht und hat seine Söhne Johann und Benedikt 
1572 nach Vittenberg geschickt. Dort sehen wir 1581 auch einen 
anderen Johann aus dieser Familie, in Altdorf 1583 einen Albert, ın 
Heidelberg das Jahr darauf einen Matthias. Zwei Brüder, Christoph 
und Swentoslaus Vitoslawski, begegnen uns noch 1611 als 
Gymnasiasten in Thorn. Auch ein Stanislaus Sobek, ein Verwandter 
des Kalischer Wojewoden Martin Zborowski, war im Frühjahr 1546 
zu Preußens Universität gezogen, während sein Bruder oder Vetter 
Nikolaus wenige Monate zuvor zur Reformationsstadt an der Elbe 

ewandert war. Unsere volle Aufmerksamkeit beanspruchen die 

iden Brüder Jakob und Johann Niemojewski aus Kujawien. Ver- 
anschaulichen sie doch so deutlich die Entwicklung der reformatori- 
schen Gedanken in Polen. In Königsberg haben sie lutherische Ge- 
danken in sich aufgenommen, der ältere Bruder Jakob ist 1550 
noch nach Wittenberg gezogen, wo 1592 auch noch sein jüngster Sohn 
Alexander studierte, doch hat er sich später den böhmischen Brüdern 
und Reformierten angeschlossen, für die er auch mutig gegen die 
Jesuiten in die Schranken trat. Der jüngere Bruder Johann, der 
Landrichter von Hohensalza, aber hielt sich seit 1562 zu den Uni- 
tariern und Anabaptisten, predigte durch Wort und Vorbild die 
Nachfolge Christi in Armut und Niedrigkeit, wurde ein Apostel 
des Kommunismus und Pazifismus. Auf dem Reichstage 1566 er- 
schien dieser ehemalige Student der Albertina inmitten der glänzen- 
den Versammlung in einem schlichten grauen Gewande ohne Degen. 
Er hat bald auch sein Amt niedergelegt, seine Güter verkauft und 
sein Vermögen seinen Glaubensbrüdern in Lublin, zu denen er ge- 
zogen war, gewidmet (f 1598). Im letzten Glaubensgrunde mit 
Socino, dem großen Theologen des Unitarismus, einig, hat er doch 
auch vielfältig, besonders in Verteidigung seiner wiedertäuferischen 


431 


Gedanken, wider ihn gestritten. Ist der Laurentius aus Krakau, der 
noch vor den Brüdern Niemojewski um Aufnahme nachsuchte, 
Laurentius Diskordia, der spätere evangelische Hofprädikant? In 
Krakau hatte er freilich seit 1539 studiert, doch seine Heimatstadt 
war Przasnysz. jedenfalls war Diskordia mit einem Empfehlungs- 
schreiben des litauischen Magnaten Stanislaus Kieyzgalo nach Königs- 
berg 1546 gekommen. Übrigens müssen wir konstatieren, daß die 
Matrikel nicht alle Studenten bietet, die damals in Königsberg um 
die Wissenschaften und Sprachen sich bemüht haben. Der Litauer 
Johann Melanops, der als verschiedene Schriften in Preußens 
Hauptstadt ins Polnische übertrug, von dem Herzoge 1548 an den 
obengenannten litauischen Magnaten empfohlen wurde, ist in ihr 
nicht verzeichnet, ebensowenig Gregorius Pauli, der spätere Krakauer 
Pastor, dann Führer der Unitarier und Anabaptisten. Und doch 
wissen wir aus anderen Quellen, daß er 1547/48 in Königsberg ge- 
weilt hat, von hier nach Posen als Lehrer an die Pfarrschule ge- 
gangen ist. 

1546/47, als der schmalkaldische Krieg Wittenberg verödete, 
auch Melanchthon flüchtete, konnte in Königsberg sein Schwieger- 
sohn Sabinus als Studenten aufnehmen die Edelsöhne Kaspar 
Gnoinski, Job Policki aus Großpolen, Christoph VIodzislawski, ein 
Sohn jener Familie, die auf ihrem Erbgute Wiodzislaw seit 1557 so 
mancher evangelischen Synode freundliche Aufnahme gewährt hat, 
ferner Stanislaus und Albert Lachowski, dieser nicht zu verwechseln 
mit dem jüngeren Freunde Lismaninos, Albert Latkowski, der 1564 
aus Nürnberg an den ehemaligen Franziskanerprovinzial einen 
italienischen Brief gerichtet hat. Auch angehende Gelehrte konnte 
der Rektor immatrikulieren, so Georg Heuschitz oder Haustinz aus 
Litauen, 1541 herzoglicher Stipendiat in Wittenberg, dort auch un- 
längst (August 1546) schon in den Kreis der Magister eingetreten, 
nachdem er Juli 1543 noch einmal infolge des Todes seiner Eltern 
mit herzoglichen Empfehlungsbriefen an den Wilnaer Wojewoden 
Johann Chlebowicz zum Schutze seiner bedrängten unmündigen 
Brüder in die Heimat geeilt war, so Georg Zablocki. Dieser hatte 
bereits seit 1528 in Krakau, seit 1540 in Wittenberg studiert, dann 
neben Culvensis in Wilna unterrichtet, mit ihm nach Königsberg 
flüchten müssen, dank der Fürsprache des preußischen Herzogs aber 
ein neues Amt in Polen erhalten, das er indessen aufgab, um dem in 
Litauen wieder missionierenden Culvensis von neuem sich anzu- 
schließen. Nun führte ihn dessen Tod noch einmal nach Königsberg. 
Er war später Präzeptor in verschiedenen vornehmen Häusern, be- 
gleitete auch 1560 die Söhne und Neffen des litauischen Marschalls 
Wollowicz nach Tübingen zum Studium. Von dort unternahm er 
eine Reise nach der Schweiz. Mit Bullinger stritt er über die Abend- 
mahlslehre und vertrat dabei so nachdrücklich und glücklich die 
lutherische Auffassung, daß der Züricher Reformator seine Freunde 
in Genf vor ihm warnen zu müssen meinte: „Prudentes este“! Auch 
als litauischer Liederdichter verdient Zablocki Beachtung, noch mehr 


432 


sein Kommilitone und Landsmann Martin Mosvid, den Herzog 
Albrecht selbst zum Studium nach Königsberg gezogen hat, der schop 
nach drei Semestern das Bakkalaureat erwarb, 1549 Pastor in Ragnıt 
wurde. Nur 14 Jahre hat er hier gewirkt, schon 1562 raffte ihn der 
Tod dahin, aber tief hat er seinen Namen in die Geschichte seines 
Volkes und seiner Kirche eingeschrieben. Ahnlich wie Seklucyan 
Polen hat er Litauen als Schriftsteller und Evangelist gedient. Die 
ältesten Litauer Drucke tragen seinen Namen. Georg Gerullis hat 
sie unlängst im Gleichdruck herausgegeben. Noch Student in 
Königsberg hat er 1547 einen Katechismus erscheinen lassen. Am 
wertvollsten ist sein Gesangbuch, das vier Jahre nach seinem Tode 
erschien. Die meisten Lieder hat er selbst gedichtet, einige haben 
ihm die Litauer geliefert, die damals mit ihm in Königsberg studiert 
haben und die als Schüler der Albertina wir ohnehin hier nennen 
müssen: Alexander Radonius, später bis 1583 Pastor in Kuckerneese 
in der Niederung, Bartholomäus Villentatius, ein Vetter Mosvids, 
seit 1550 litauischer Prediger in Königsberg, bekannt auch als Heraus- 
geber eines litauischen Enchiridions. 

Wenn wir die Studenten des Wintersemesters 1547 durch- 
mustern, bleibt unser Blick gleich bei dem ersten haften, den der neue 
Rektor Staphylus einschreiben konnte, Valentin Bohemus Brzozowski. 
Er hat 1554 in prächtigem Druck ein polnisches Gesangbuch erscheinen 
lassen, eine Übertragung des böhmischen Briiderkanzionals. Hat das 
Bedürfnis der Gemeinden und die Sorge für die reformatorische 
Kirche so gebieterisch zu den Studenten der Albertina gesprochen, 
war in ihnen der dichterische Trieb selbst so lebendig, oder hat ein 
Mahnwort des frommen Herzogs sie angehalten, sind sie auch an- 
geregt worden von dem herzoglichen Hofmusikus Adrian Petit 
Coelico, der damals neben ihnen studierte? Fast unmittelbar nach 
dem Sänger Valentin hat sich ein Stanislaus Musa aus Wilna und ein 
Litauer Johann Schaduk immatrikulieren lassen. Auch dieser letztere 
hat in die Harfe gegriffen, auch von ihm bringt das Mosvidsche Ge- 
sangbuch ein Lied. Der Franziskus Jerayski, der nach ihm zur Hoch- 
schule kam, ist doch wohl ein Gorajski, ein Sohn jenes Geschlechts, 
das seine Söhne in der Folgezeit auch nach Heidelberg, Basel, Alt- 
dorf gesandt und in Zbigniew Gorayski, dem Chelmer, dann Kijewer 
Kastellan, im folgenden Jahrhundert der evangelischen Kirche einen 
hervorragenden Führer geschenkt hat. Nach Leipzig schickte der 
Erbherr von Grabow und Kastellan von Nakel, Wenzel Zaremba, 
seinen Sohn Nikolaus, wohl weil er selbst 1522 dort studiert hatte, 
doch seinen Sohn Johann ließ er nach Königsberg gehen. 1549 rief 
er ihn durch Seklucyan zurück, weil er nun in Paris seine Studien 
fortsetzen sollte. Mit dem großpolnischen Magnatensohn sehen wir 
zusammen zu den Füßen der Königsberger Lehrer verschiedene 
litauische, die Söhne des Wojewoden von Nowogrodek, Paul Sapieha, 
Nikolaus, paier Wojewode von Minsk und Witebsk, und Johann, 
später Kastellan von Brest und Smolensk, von dem Lubliner Kastellan 
Johann Tenczynski dem Herzog Albrecht noch besonders empfohlen. 


438 


Vorübergehend brachen sie in ihrer Familie dem reformatorischen 
Gedanken Bahn. Ein Gregor Sapieha ist 1567 nach Leipzig und im 
folgenden Jahre zur Lutherstadt gezogen, bis dann Leo Sapieha, auch 
in Leipzig gebildet, 1586 zur alten Kirche zurücktrat und als Wilnaer 
Wojewode der Wiederhersteller des Katholizismus in Litauen wurde. 
Student der Albertina war 1547 ferner der Sohn des Kastellans von 
Troki, Johann Chodkiewicz, der spätere Hauptmann von Samo- 
itien, der 1550 noch nach Leipzig ging, vorübergehend auch Witten- 
Berg aufsuchte, doch nach 1% Jahrzehnten gleichfalls der Reformation 
wieder untreu wurde und von sich warf, was er auf den evangelischen 
Hochschulen in sich aufgenommen hatte. Sonst finden wir in jenem 
Semester in den Bursen der Albertina noch Michael Retzkowski, 
Bartholomäus Grzezimbowski, dazu verschiedene Ruthenen, den 
Podolier Johann Zernicki, die Litauer Stanislaus Holbitz, Jakob 
Villamovius, Valentin Vilkomirius, wohl Begleiter der Sapicha, 
schließlich die Polen Nikolaus Ozorowski und Albert Czachowski. 

In den nächsten Semestern ging der Besuch der Albertina etwas 
zurück. Die politische Lage war unsicher geworden, vielleicht ein 
Zug des siegreichen Kaisers nach Preußen zur Vollstreckung der Acht 
zu befürchten. Immerhin konnte der Rektor Christoph er im 
Sommer 1548 aufnehmen den großpolnischen Magnatensohn Sigis- 
mund Czarnkowski, dessen Familie aber trotz des Studiums ver- 
schiedener ihrer Söhne auf evangelischen Hochschulen und selbst in 
Wittenberg fest zur alten Kirche hielt, seinen Pädagogen Rochus aus 
Peisern, weiter den jungen Grafen Andreas Ostrorog, aus Rogasen 
den Bürgersohn Johann Klicius, der im November 1549 sich zur 
Leucorea am Elbestrande wandte, schließlich einen Jakob Sapieha, 
aus Reußen einen Melchior Dainelowicz, aus Kauen einen Lorenz 
Gradowski. Im Winter 1549, da aus Wittenberg Luthers Sohn 
Johann heranzog, traten zu ihnen Johann Lorenz und Martin 
Abdon, zwei hochbegabte Jünglinge der böhmischen Brüderkirche, 
denen der König Ferdinand ie Exulantenstab in die Hand ge- 
zwungen hatte. Der letztere, ein Bruder des berühmten Seniors 
Blahoslaus, seit März 1558 seine Studien in Wittenberg fortsetzend, 
von Melanchthon geschätzt, starb schon 1561, der erstere ging 1587 
heim, zuletzt Pfarrer in Scharfenort und Senior des großpolnischen 
Zweiges der Unität. 1550 finden wir in Königsberg aus Samter 
Thomas Wientzkovius, aus Neustadt den Bürgermeistersohn Andreas 
Volan, der 1544 schon die Viadrina besucht hat, den späteren Wort- 
führer der litauischen Reformierten und mermudlichen Streiter 
gegen die Jesuiten, auch Vater eines Theologengeschlechts, von dem 
ein Johann 1582 nach Wittenberg, ein Thomas 1604 nach Heidel- 
berg, ein Hieronymus 1607 nach Danzig aufs Gymnasium, ein Georg 
mit dem Fürsten Janusz Radziwill 1628 nach Leipzig, 1631 nach Alt- 
dorf und Leiden gezogen ist. ja noch im 18. Jahrhundert sandte 
es Söhne auf deutsche Hochschulen, Johann 1726 und Stephan 1739 
zu unserer Albertina, diesen auch 1741 zur Viadrina. Aus Kleinpolen 
konnte der Rektor inskribieren Jakob Lisakowski und die Brüder 


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Adrian und Nikolaus Chelmicki. Diese waren Neffen des Krusch- 
witzer Kastellans, der den älteren 1554 noch nach Wittenberg 
schickte. Wie in Königsberg dem Sabinus ist er hier Melanchthon 
näher getreten und hat in der Folgezeit mit ihm korrespondiert. 
Gliczner hat ihm neben anderem seine „Apelacya“ gewidmet, die 
Wilnaer Synode 1591 ihn zum Generalprovisor gewählt. Der Litauer 
Thomas Georgius Giedkonti war später Pastor in Schirwindt. Wohl 
schon als Student in Königsberg hat er das Magnificat in seine 
Muttersprache übertragen, das Moswid seinem Gesangbuch einver- 
leibt hat. An Johann Schosser, dem Humanisten, der aus Thüringen 
heraneilte, wollen wir nicht vorübergehen. Als Professor in Frank- 
furt hat er später immer mit polnischen Studenten enge Fühlung ge- 
habt, mit ihnen und ihren Eltern korrespondiert, jetzt dem vom 
Krakauer Bischofe gefangenen Stancaro eine epistola consolatoria 
gewidmet. 1587 hat er seinen Sohn, der seinen Vornamen führte, 
von Frankfurt zur preußischen Hochschule gesandt. Von den 
Studenten des Wintersemesters 1550 weiß ich von Matthias 
Ischrividuski nur, daß er aus Reußen stammte und Stipendiat des 
Herzogs war. Die beiden Brüder Melchior und Kaspar Gedrotius 
aus Litauen waren Freunde des oben genannten Zablocki. Dem 
Epicedion des ersteren für die Katharina Wollowicz hat dieser 
ein Epitaph beigegeben. Melchior ıst 1560 nach Wittenberg und 
Tübingen gezogen. 

s 1551 der unglückselige, böse Osiandersche Streit Königsberg 
zerriß, traten in die Studentenschaft ein Martin und Florian Heyn, 
Söhne des Vogts in Kauen, von denen der ältere noch 1560 sich von 
Vergerio nach Tübingen ziehen ließ, und Lorenz Krzyszkowski aus 
Thomischewo bei Samter, der spätere Pfarrer in Nieswiez und Freund 
des unitarischen Theologen und Bibelübersetzers Simon Budny, der 
1588 seinen Sohn Benjamin zu unserer Hochschule geschickt hat. 
Krzyszkowski hat in den Kämpfen um die altkirchliche Trinitätslehre 
eine führende Rolle gespielt, zur Verteidigung seiner Stellung auch 
des Justin Dialog mit dem Juden Tryphon ins Polnische übertragen, 
ein schönes Zeugnis, wie weit ihn die Albertina im Griechischen ge- 
bracht hat. Wieder in den Kreis der böhmischen Brüder versetzt 
uns Petrus Herbert aus Mähren. 1560 ging er mit dem Goluchowoer 
Pfarrer Rokyta als Bote der großpolnischen Unität nach Württem- 
berg und Zürich. Lutheraner war und blieb Petrus Dresdensis oder 
Dresdovius, seit dem 26. September 1551 in der Pregelstadt, später 
Pfarrer in Pogorzela im Posener Lande, 1595 Synodale in Thorn, 
noch 1607 in Miloslaw, auch Konsenior in Großpolen. 

Für 1552 sei der Preuße Christoph Alzumius genannt, 1559 
Bibliothekar des Königs in Wilna, 1563 Begleiter des Johann Kiszka 
nach Basel und Zürich, 1566 ın herzoglichen Diensten, ferner der 
Samogiter Stanislaus David und verschiedene Polen, wie Lorenz 
Worlowski, Petrus Lipicus, die die Nacht der Vergessenheit deckt. 
Für 1553: Andreas Glinski und Martin Quiatkowski. „Pauper“ be- 
merkt die Matrikel neben dem Namen des ersteren, er wird also 


435 


schwerlich ein Glied des kleinpolnischen Geschlechts gewesen sein, von 
dem Christoph Glinski drei Jahre zuvor im Bunde mit anderen 
eingekerkerten Stancaro die Freiheit wiedergegeben, vier Brüder auch 
die Einladung an Calvin, nach Polen zu kommen, unterschrieben 
haben. Quiatkowski (f 1585) war ein Neffe des zweiten klein- 
polnischen Superintendenten Stanislaus Lutomirski und ist 1560 noch 
nach Leipzig gezogen. Den Druck des polnischen Glaubens- 
bekenntnisses seines Onkels in Königsberg 1556 hat er überwacht, er 
selbst hat die Augsburger Konfession und ihre Apologie ins Polnische 
übertragen. Auch sonst war er ein fleißiger Übersetzer, freilich noch 
ein fleißigerer Bettler, der immer wieder und wieder den Herzog 
um Unterstützung und Privilegien anging. Sein Onkel Lutomirski, 
mit Herzog Albrecht manchen Brief austauschend, gelegentlich auch 
in Königsberg, hat sich hier nicht einschreiben lassen. Aber von dem 
Theologengeschlecht, das aus seiner Ehe mit der ältesten Tochter 
des Reformators Laski entsprossen ist, ist ein Georg Lutomirski noch 
1676 zur Albertina gekommen, dann 1678 nach Frankfurt weiter ge- 
zogen. Übrigens ist ein Alexander Lutomirski 1653 auch nach Leiden 
gegangen. Noch erwähnt die Matrikel für 1553 einen Masuren Paul 
Kaczyas. Sollte Goniadz zu desen sein, hätten wir an einen Bruder 
des bekannten Antitrinitariers Peter Gonesius zu denken? Jeden- 
falls hat ein Salomon Gonesius, vielleicht ein Sohn des Unitariers, von 
dem es 1557 hieß, er wolle ein Buch durch die Lycker Presse des 
Johann Maletius veröffentlichen, 1587 seinen Wissensdurst in 
Königsberg gestillt. Nur sechs Polen traten 1554 vor den Rektor, 
unter ihnen Johann Grabowiecki, dessen Familie einen Gabriel, den 
späteren Gesandten nach Dänemark, schon 1536 nach Wittenberg 
gesandt hat, einen Sebastian, den späteren Blesener Abt, noch 1558 
zur Viadrina schickte, Adam Petriwicz und Erasmus Gliczner. Znin 
war dessen Vaterstadt, doch kam er nach Preußen mit einem Emp- 
fehlungsbriefe des Fürsten von Stuck, 1558 ging er zu weiterem 
Studium nach Krakau. Auch er war ein fleißiger Schriftsteller, auch 
er ein Übersetzer der Augsburger Konfession ins Polnische. Als groß- 
polnischer lutherischer Superintendent hat er mitgewirkt an der 
Sendomirer Unionssynode, hat er alle Not der anhebenden Gegen- 
reformation erfahren, durch sie seine Gemeinde Grätz verloren. Durch 
sie ist er heimatlos geworden, bis ihm das westpreußische Straßburg 
ein neues Amt gewährte. Hier ist er vielgeprüft 1603, alt und lebens- 
satt gestorben, übrigens Polens erster pädagogischer Schriftsteller. 
Der große Zug der polnischen Studenten ging in den fünfziger 
Jahren nach Frankfurt, Wittenberg und Leipzig. Das nördlich und 
abseits gelegene Königsberg wurde weniger aufgesucht, wenn auch 
seine Druckerpressen Polen fortgesetzt mit Schriften versorgten, die 
Albertina ihre Studenten aus dem Osten zu Schriftstellern ausbildete 
wie keine andere deutsche Hochschule. Nachdem schon 1554 ein 
Andreas Kochanowski, 1555 ein Jakob Kochanowski vor den Rektor 
getreten war, bat ihn am 11. April um Immatrikulation auch Johann 
Kochanowski, Polens großer Lyriker. Fast schon ein Jahr hatte er 


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mit Unterstützung des edien und freigebigen Herzogs in Königsberg 
gelebt und studiert, als er akademischer Bürger wurde. Er blieb es 
auch nicht lange. Eine Augenkrankheit zwang ihn, Luftveränderung 
zu suchen. Wieder vom Herzog mit Reisegeld ausgerüstet, zog er 
nach Italien. Sonst seien aus jenem Jahre noch genannt Jakob und 
pan Golinski und der Krakauer Stanislaus Verat, Johann Woro- 

iowski, den der Herzog 1560 dem Könige empfahl, und Sebastian 
Konarski, vielleicht ein jüngerer Bruder des Kaspar und Hieronymus 
Konarski, die wir Ende der fünfziger Jahre auf verschiedenen klein- 
polnischen Synoden sehen. 

Den 23. März 1557 empfahl der Posener Graf Lukas Gorka dem 
Herzoge Albrecht den Studenten Martin Nowowiecki, den folgenden 
3. Mai nahm ihn auch der Rektor auf, am 5. April 1559 dankt der 
Vater Martin Nowowiecki dem Herzoge für die seinem Sohne ge- 
währte Unterstützung und ruft ihn zurück. Am 31. Mai 1557 läßt 
ein Gregor Bochnensis sich einschreiben, im folgenden Juli ein Franz 
Zablocki, Ende des Jahres ein Albert Slowidki, 1558 ein Georg 
Prusinski, im Dezember neben zwei Rutenen Petrus Wiesielowski 
und Johann Wollowicz. Diese beiden gingen, von dem Italiener 
Vergerio bestimmt, mit anderen litauischen Edelsöhnen im Sommer 
1560 nach Tübingen. Weshalb ist auf der Rückreise Johann 
Wollowicz 1565 nicht zu weiterem Studium in Wittenberg ein- 
gekehrt, wo doch Joseph Wollowicz, sein Bruder und Begleiter nach 
Süddeutschland, geblieben ist? 1558 ersuchte um Immatrikulation 
Johann Girk, der seit dem März des vergangenen Jahres schon in 
Wittenberg studiert hatte und den der Herzog 1561 nach Stuttgart 
empfahl mit der Bitte, ihm ein Stipendium in Tübingen zu gewähren. 
Es war der Sohn des Pastors der böhmischen Brüder in Neidenburg, 
des Katechismusvaters, er hat später in Thorn und Lissa gewirkt, diese 
Stadt auch auf der Thorner Generalsynode vertreten. Neben ihm 
waren Bürger der Albertina ein Stanislaus Bidlowski und Daniel 
Krajewski, dazu der Magister Simon Wanrab. Er war ein Rhein- 
länder, der seit 1530 an der Leucorea studiert und hier den Magister- 
grad erworben hatte. Wir gedenken seiner, weil er im November 
1560 nach dem Osten ging, d Pfarramt an der deutschen lutheri- 
schen Gemeinde in Wilna übernahm. Laurentius Granowski kam aus 
Großpolen, wo seine Familie das Erbgut Granow bei Grätz besaß, 
dagegen wohl aus Wilna vom Radziwillschen Hofe Petrus Mako- 
wiecki, ein jüngerer Bruder des Klecker Hauptmannes Hieronymus 
Makowiecki, der Frühjahr 1563 mit dem jüngeren Nikolaus Christoph 
Radziwill nach Straßburg gezogen, damals von dem Theologen Budny 
gebeten worden ist, Bullingers Ansicht über das Recht des „Filioque“ 
im Glaubensbekenntnis einzuholen. Aus Litauen erschien auch 1560 
der Magnat Hieronymus Chodkiewicz, in der Folgezeit Marschall von 
Wilna, mit verschiedenen Begleitern, im November Thomas 
Rodonius, wohl ein Bruder oder Vetter des oben erwähnten litaui- 
schen Dichters und Kuckerneeser Pfarrers Alexander Rodonius, im 
Dezember mit ihrem Lehrer Paul Pakostinus drei Brüder Mniski, 


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Johann, Georg und Nikolaus, Söhne des Erbherrn von Mona, Haupt- 
manns von Luck und Burggrafen von Krakau. Aus Zürich ließ sich 
einschreiben Antonius neeberger. Ich erwähne ihn, weil dieser 
schweizer Arzt sich in Krakau niedergelassen und dort bis zu seinem 
Tode, 1581, gewirkt hat. Von den beiden Brüdern Stanislaus und 
Franz Kanimir weiß ich nichts näheres, doch hat sich ein dritter 
Bruder Michael noch 1570 in Wittenberg einschreiben lassen. 

Ich sehe davon ab, für das Jahr 1561 die Studenten aus dem 
Osten namhaft zu machen. Die Geschichte kennt sonst ihre Namen 
nicht, über ihr späteres Leben, wo sie gewirkt, was sie geschaffen, 
war nichts zu ermitteln. Nur von Stanislaus Widra weiß ich zu 
melden, daß er der Sohn des Bannerträgers von Kauen war und ım 
April 1564 noch die Lutherstadt an der Elbe aufgesucht hat. Von 
Johann Komajunski sagt das Studentenverzeichnis, daß er ein Sohn 
des litauischen Marschalls gewesen sei. Aber des Preußen Matthäus 
Motzarus aus der Umgegend von Rhein wollen wir etwas näher ge- 
denken, er hat später einige Jahre die Schule in Kleck, dem Radziwill- 
schen Städtchen, geleitet, und des Nürnberger Georg Weigel, der im 
Sommer des Jahres zur Hochschule kam. Er ist später in die Dienste 
des Johann Chodkiewicz getreten, hat in dessen Auftrage gegen die 
Antitrinitarier geschrieben, aber, selbst schwankend in seiner reli- 
giösen Überzeugung, seinen Herren vom Rücktritt in die römische 
Kirche nicht abhalten können. Einige Wochen nach ihm zog durch 
Königsbergs Tore Johann Kwilecki, aus dessen Familie ein Matthias 
1571 nach Wittenberg ging, im August Simon Chreptowicz aus 
Podolien, ferner die Briider 3 Vettern Stanislaus Christoph und 
Andreas Rayski, wohl Söhne und Neffen des Johann Rayski, den 
wir in den fünfziger Jahren verschiedentlich auf kleinpolnischen 
Synoden sehen. Im Jahre 1593 ging ein Alexander Rayski nach Alt- 
dorf, 1618 zogen drei Rayski nach Heidelberg, dann auch nach Straf- 
burg, 1696 lenkte einer dieses Geschlechts seine Schritte aber auch 
noch zur Albertina. Die Chreptowicz hielten auch in der Zeit, da 
viele Familien zum reformierten Bekenntnis übergingen, fest an dem 
Luthertum, in Gojcieniszki, südlich von Wilna, schufen sie ihm eine 
Stätte. Wieder aus altem litauischen Fiirstengeschlechte war der 
Nikolaus „dux Rapoloviensis“, der acht Tage nach den Rayski durch 
Königsbergs Tore zog, ein Sohn des Fürsten und Marschalls nn 
während aus Lemberg ein armer Bürgersohn, Stanislaus Bielecki, um 
Inskription nachsuchte, vielleicht ein Bruder des Daniel Bielecki, der in 
verschiedenen kleinpolnischen Gemeinden als Pfarrer gewirkt, dann 
den Unitariern sich angeschlossen, schließlich aber SE zur recht- 
gläubigen reformierten Kirche zurückgekehrt, dann Pastor in Krakau 
geworden ist. Zwei weitere Brüder Bielecki, Johann und Vincenz, 
die wir später in Wilna sehen, folgten Anfang 1563. In diesem Jahre 
bezogen die Akademie auch zwei Brüder Wietzvienius, Georg und 
Matthias, und vor allen der Sohn des Wojewoden von Nowogrodeck, 
Johann Hornostaj, Stanislaus, dem gegen Ende des Jahres der Litauer 
Albert Zalnick und der Pole Albert Oblienski folgten, und im März 


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1565 Paul Jezierski, aus einer Familie, die der reformierten Kirche 
manchen Pastor, auch einen Senior gestellt hat und deren Sohne wir 
in spateren Jahrzehnten in Heidelberg, Basel und Genf treffen. 

Schon diese letzten Jahre zeigen, wie der Zuzug polnischer und 
litauischer Studenten nachgelassen hat. In den nächsten Jahren ist er 
nicht gewachsen, freilich auch nicht versiegt. Aus den sechziger 
Jahren seien noch genannt Kaspar Brzezinski, der spätere Erbherr 
von Schmiegel, auch Schutzherr der unitarischen Gemeinde daselbst, 
bekannt durch das tragische Geschick, das ihm der Sohn des EEN 
Besitzers der Stadt, Christoph Arciszewski, der Amerikafahrer, 
reitet hat, ferner Thomas Laski, ein Sohn des polnischen Reformators, 
tiir den die verwitwete Mutter schon 1564 das Herz des Herzogs er- 
warmt hatte, zwei Briider Radziminski, Johann und Albert, der 
samogitische Kimmerer, Johann Tholibowski und Elias Agrippa aus 
Wilna. Noch 1612 hat einen Johann Agrippa der Drang seines 
Herzens von Litauens Hauptstadt nach Preußens Universitat geführt. 
In Wittenberg hat Wenzel Agrippa, 1586 Kastellan von Minsk, 1590 
von Smolensk, der bis zu seinem Tode dem Luthertum die Treue 
hielt, von Trzecieski ın seiner bekannten Elegie schon 1556 gefeiert, 
bereits 1552 studiert, dorthin ist 1575 wiederum auch ein Martin 
Tholibowski gezogen. Im September 1569 ließ sich an der Albertina 
ein Lukas Manticki Gladisz einschreiben, ein Famulus des Johann 
Demetrius Solikowski, des Diplomaten und späteren Lemberger Erz- 
bischofes, der selbst 1559 in der Elbstadt zu den Füssen Melanchthons 
gesessen hat. 

Unter den Studenten des folgenden Jahrzehnts fesseln unsere 
Blicke zuerst wieder zwei Brüder Radziminski. Alexander, später 
Truchseß von Sagomitien, und Stanislaus, seit 1588 Wojewode von 
Podlasien. Beiden galt später nichts mehr, was sie in Königsberg ge- 
lernt und in sich aufgenommen, sie wurden eifrige Glieder der alten 
Kirche. Ihnen reihen wir an die Söhne des litauischen Schatzmeisters 
Nikolaus Naruszewicz, Christoph und Johann (t 1616), später 
Marschall am litauischen Tribunal. Mit Adam Talwosz, dem 
Sohne des Kastellans von Minsk, Nikolaus Talwosz, und späteren 
Hauptmanns von Dünaburg und Kastellans von Samogitien, waren sie 
an der preußischen Universität erschienen, mit diesem zog auch ihr 
Bruder Paul nach Straßburg, um den großen Sturm zu hören. 
Samuel und Albert Naruszewicz gingen bezeichnenderweise an der 
preußischen Hochschule vorüber 1592 nach Heidelberg, 1596 nach 
Basel, dorthin ging auch Andreas Naruszewicz aus Kupiski, dem der 
Baseler Theologe Amandus Polanus 1600 sein Buch über die Prädesti- 
nation widmete. Dagegen sehen wir die Söhne des Königsberger 
Studenten vom Jahre 1577, Johann Naruszewicz, des Jägers von 
Litauen, Alexander und Georg, 1601 wieder unter den Studenten der 
Albertina, freilich 1608 auch in Heidelberg und im folgenden Jahre in 
Marburg, wo Alexander, der spätere Kastellan von Sagomitien (t 1653), 
Direktor der Wilnaer Synode vom Jahre 1652, eine Rede über den 
Festungsbau veröffentlichte. Sonst seien genannt der Litauer Benedikt 


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Woitowski, der Samogite Petrus Adamkowicz und der Pole Leonhard 
Dembowski aus Turobin. Auch Nikolaus Blothno sei erwähnt, der 
Pastorensohn aus Pillupönen. Sein Vater gehört ja zu den ersten 
litauischen frommen Dichtern, die ihrem Volke das Lied der 
Reformation zu bringen gesucht haben. 

Im neunten Jahrzehnt finden wir in den Bursen Königsbergs 
Christoph Ostorodt. Er war ein Deutscher, Goslar seine Heimat. 
Indessen hat er sich in der Folgezeit den polnischen Brüdern ange- 
schlossen, ihnen lange als Pastor in Schmiegel gedient, freilich mit 
seiner sittlichen Strenge oft auch angestoßen, durch seinen Eigensinn 
und seine Rechthaberei fast eine Spaltung heraufbeschworen. Die 
große Schmiegeler Synode des Jahres 1594, zu der auch der bekannte 
Fausto Sozino erwartet wurde, hatte sich hauptsächlich mit Fragen, die 
Ostorodt aufgeworfen hatte, zu beschäftigen. Lorenz Romanowicz, 
der bald nach ihm in Königsberg erschien, wurde Pfarrer in seiner 
Heimat, Vater jenes Johann Romanowicz, der 1618 nach Heidel- 
berg pilgerte, dem reformierten Zion, von hier durch den Religions- 
krieg vertrieben, nach Frankfurt sich zurückwandte, des Übersetzers 
der Meditationen des Jenaer Johann Gerhard ins Polnische. Wieder 
Söhne des Hochadels konnte ım April 1581 der Rektor inskribieren 
in den beiden Zbaraski, Andreas und Petrus, den Söhnen des Woje- 
woden von Troki, die mit dem Litauer Christoph Stachowski heran- 
gezogen waren, und in Paul Dorohostajski, einem Sohne des Polocker 
Wojewoden Nikolaus Dorohostajski. Seinem Bruder Christoph, dem 
litauischen Vorschneider, hat der Heidelberger Professor Franz 
Junius eine Verteidigung der altkirchlichen Trinitätslehre gegen die 
Unitarier im Osten gewidmet, dessen Sohn Wladislaus sehen wir 
1632 unter den Studenten in Leiden. Peter Marcianus, seit 1533 
Hörer an der Albertina, war ein Stipendiat des Kastellans von 
Msicislaw Stanislaus Naruszewicz, Wilkomir seine Heimat. Er hat 
auch in Greifswald, Rostock und Wittenberg studiert, dort an der 
cathedra Lutheri sich auch für das geistliche Amt in Litauen 
ordinieren lassen. Sein Begleiter zur Elbstadt war sein Landsmann 
Jesajas Kaspari, der erst im März 1585 aus Litauen nach Preußen 
gekommen war. Die drei Brüder Kochanowski, die gleichfalls 1583 
die Universität bezogen, waren Söhne des verstorbenen Hauptmanns 
von Radomien, Nikolaus Kochanowski, Johann Albert Billewicz, der 
ihnen folgte, der Sohn eines treu evangelischen Geschlechtes, das be- 
sonders eng an den Herzog Albrecht einst sich angelehnt, sich von 
ihm manches Buch, aber auch Raritäten, Affen und Papageien hatte 
schenken lassen, das einen Samuel 1599, einen Johann das Jahr darauf 
wiederum zur Albertina entsandte. Die beiden Brüder Georg und 
Lukas Massalki, Söhne des Hauptmanns von Perstin und Opila Gregor 
Massalki, zogen 1589 weiter zur Ruperta am Neckar, 1591 nach 
Basel, das Jahr darauf noch nach Padua. Zu ihnen traten ihre Lands- 
leute Andreas Saleski und Gabriel Grzibowski, 1586 Andreas Lupian, 
der spätere polnische Pastor der lutherischen Gemeinde Posens, der 
es nicht lassen konnte, in seinen Predigten die böhmischen Brüder an- 


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zugreifen, deshalb seines Dienstes entlassen wurde, aber, nachdem 
Wittenberg, die cathedra Lutheri, seine Haltung gebilligt hatte, von 
dem Adelnauer Hauptmann und Gnesener Kastellan Johann 
Zborowski in seiner Erbstadt Pleschen ein neues Amt erhielt. 
Benedikt nannte er das Söhnlein, das ihm hier nach den Tagen der 
Not und Triibsal geboren wurde; er sandte den Herangewachsenen 
dann 1614 zur Hochschule, die ihm selbst eine Lehrerin gewesen. 
Hatte Bromberg bisher schon 55 Jünglinge nach Witten- 
berg und Frankfurt gesandt, so schickte es jetzt einen Lorenz 
Dombrowa auch nach Königsberg, hierher rettete sich auch ein bis- 
heriger Mönch Adam Podbrzeski. Sonst seien noch genannt Johann 
Gantkowski, Johann Skotnicki und Johann Borzewski, dazu der Edle 
Abraham Woyna aus litauischem streng katholischen Geschlechte. 

Im letzten Jahrzehnt des Reformationsjahrhunderts erbat die 
Inskription Lukas Christophori Krasnodomski, der vier Litauer, 
einen Johann Mostvilius und drei Brüder Sumoroch im Sommer 1590 
nach Königsberg geleitete. Ahnlich brachte gerade ein Jahr darauf 
Petrus Mielevius, wohl ein Bruder jenes Jakob Miele vius, der 1579 
als Präfekt die jungen Grätzer Grafen nach Straßburg, Genf, Alt- 
dorf geführt hatte, drei Litauer, einen Adam Odachovius und zwei 
Brüder Solohub, zur Hochschule. Aus Krakau, wo die Lage der 
Evangelischen immer gefährlicher wurde, stellte sich ein Johann 
Sandrowicz, ein Reformierter, aus Masowien Albert Ilowski, ferner 
drei Brüder Jasinski. Zu ihnen traten von anderen abgesehen im 
Dezember 1592 die Brüder Samuel und Ludwig Talwosz. Ihre 
Familie war evangelisch, seitdem der Minsker Kastellan Nikolaus 
Talwosz sich der Reformation zugewandt hatte. Konnte der 
litauische Jesuit Andreas Jurgiewicz nicht energisch genug den Kampf 
gegen die Evangelischen führen, einer seines Geschlechts, der Mönch 
Lorenz Jurgiewicz, suchte nach seiner Flucht aus dem Kloster an der 
Hochburg des Evangeliums im Osten, in Königsberg, Schutz und 
weitere Belehrung. Andere Mönche, die sich und ihren Glauben nach 
Preußens Hauptstadt retteten und hier mit einem neuen Studium 
begannen, waren 1598 der Lubliner Andreas Groth, 1600 der 
Mogilnoer Nikolaus Fornica. Aus Wilna, wohin sein Vater 
Stanislaus eben von der Thorner Generalsynode zurückgekehrt war, 
stellte sich noch 1595 ein der Pastorensohn Johann Minwid, später 
der dritte Nachfolger seines Vaters ım Pfarramte und Seniorate 
(t 1638), einige Monate später aus Kauen Bernhard Wessel, weiter 
der Litauer Adam Timinski, drei Brüder und ein Vetter Pietkiewicz, 
Söhne und ein Neffe des Wilnaer Notar Melchior Pietkiewicz, der 
in Glinkiszki unfern Kiejdany die Reformation eingeführt hat. 
Seinen Enkel Samuel sehen wir noch 1638 zu den Füßen Königsberger 
Professoren. Stand Daniel Kalisius, der im August 1597 vor La 
Rektor trat, in Beziehungen zu jenem Sturmschüler Albert Kalisius, 
der in Straßburg und seit dem 16. September 1583 auch in Tübingen 
studiert hat, dann in der Heimat als Rektor die Schule in Lewartowa 
geleitet, nachher an der Zamoyskischen Akademie gelehrt, die Ver- 


20 NF ¢ 441 


bindung mit dem letzten deutschen Humanisten, dem Melanch- 
thoniaer Johann Caselius, gepflegt hat? Reinhold Eggardt aus 
Kauen, seit dem August 1598 Student, war ein deutsches Bürgerkind, 
trat aber nach Vollendung seiner Lernjahre in den Dienst des litaui- 
schen Oberjägers Naruszewicz und begleitete dessen Söhne Alexander 
und Georg 1608 nach Heidelberg und Marburg, 1610 nach Altdorf, 
immer zusammen mit Johann Paproski, der 1601 Königsberg auf- 
gesucht. Als Andreas Naruszewicz 1605 in Wilna Katharina 
Franczkiewicz von Radzimin heimführte, widmete er dem jungen 
Paare ein Epithalamium, das Sartorius in Liegnitz gedruckt hat. 
Wieder ein deutsches Posener Bürgerkind war Jakob Schrot, ein 
litauer Edelsohn Nikolaus Rudzinski, ein ischer Christoph 
Kliszewski. Aus vornehmem Bojarengeschlehte war Gabriel 
Bialozor, ein Neffe des litauischen Marschalls, aus angesehener masovi- 
schen Familie Balthasar Kulecki. Matthias Chronstowski war doch 
wohl ein Sohn des Wilnaer Seniors Andreas Chronstowski, Johann 
Siedlecki jedenfalls ein Sohn des Landrichters von Hohensalza. Seine 
älteren Brüder Nikolaus und Thomas sehen wir schon 1581 an der 
Leucorea, einen Alexander Siedlecki noch 1662 wieder an der 
Albertina. Er stammte aus Wolhynien, und die Dominikaner in 
Lublin hatten ihn als fünfzehnjährigen Jüngling für den römischen 
Glauben gewonnen, seine Familie und besonders sein Onkel Alexander 
Firlej von Dombrowiza ihn aber schließlich wieder zum evangelischen 
Bekenntnis zurückgeführt. 

Dem Siegeslaufe der Reformation in Polen, den Trzecieski in 
einem Triumphlied besungen, war ein jäher Rückschlag gefolgt. Be- 
sonders das Luthertum hatte in dem Kreise des polnischen und 
litauischen Adels bald allen Boden verloren, nur die deutsche Be- 
völkerung Polens hielt an ihm fest. Seit 1590 sah Wittenberg kaum 
noch polnische Studenten in seinen Mauern, auch in dem lutherischen 
Königsberg wurden sie eine seltene Erscheinung. Doch schwinden sie 
hier nie ganz, vereinzelt finden wir sie durch alle Jahre des 17. und 
18. Jahrhunderts. Etliche seien hier mit Namen genannt: die Brüder 
Demetrius und Alexander Oginski, die im Juli 1600 die Albertina 
aufsuchten, 1606 nach Altdorf, noch in demselben Jahre auch nach 
Ingolstadt gingen. Dagegen wanderten Theodor Oginski mit seinem 
Lehrer Samuel Rogalla 1636 und Martin Oginski mit seinem 
Präzeptor Tobias Drzewinski an unserer Hochschule vorüber nach 
Leiden. Ferner aus Kujawien Johann Ruszczinowski und Matthias 
Wolski, 1604 aus Litauen Johann Korsak, vielleicht ein Sohn des 
Roman Wasilewicz Korsak, der 1599 zum Provisor der Kirche ge- 
wählt wurde und aus dessen Familie ein Daniel und David unlängst 
(1597) nach Altdorf und Heidelberg seine Schritte gelenkt hatte, und 
die Brüder Christoph und Nikolaus Kaweczinski mit ihrem Lehrer 
Georg Petroski, denen 1611 ıhr Vetter Alexander Kaweczinski, der 
Sohn des Wojewoden von Minsk, folgte und verschiedene andere 
ihrer näheren Heimat. Wir nennen von ihnen nur die drei Brüder 
Przystanowski, deren Geschlecht der reformierten Kirche auch 


442 


Pastoren gestellt hat. 1619 saß zu den Füßen Königsberger Lehrer 
der Sohn des Bannerträgers von Kauen, Paul Dziewaltowski, Johann, 
seit 1614 schon Gymnasiast in Thorn, samt seinem Erzieher Simonides 
Chmielewski, 1635 das Brüderpaar Christoph und Andreas 
Reczinski, 1650 Martian Czaplic Spanowski, aus unitarischer Familie, 
mit seinem Präzeptor Tobias Berningk aus Krasnobrod. Beide schen 
wir zwei Jahre später in Leiden. 

Von der litauischen Familie Ottenhausen, die so reges kirchliches 
Interesse bekundete, finden wir den ersten Sohn Johann Hieronymus 
1656 an der Albertina, andere folgten ihm, 1723 auch Kasimir, der 
14 Jahre später nach Holland zog, um dort für seine ausgeplünderte 
Kirche zu kollektieren. 1752 hat der letzte seines Geschlechts an 
unserer Akademie studiert. Von einer anderen Familie, die stand- 
haft und treu zum Evangelium hielt, den Olendski, hat eın Johann 
schon 1560 an der preußischen Universität sich einschreiben lassen, 
1684 tat es ein Christoph, noch 1775 ein Boguslaus. Der Boguslaus 
Sieninski, der 1679 nach Königsberg kam, war ein flüchtiger Uni- 
tarier, ebenso die Brüder Alexander, Boguslaus und Samuel Christoph 
Suchodolski. Ihre Familie hatte einst ın Dazwa in Wolhynien und 
in Piaski im Lubliner Lande antitrinitarische Gemeinden beschützt. 
Nach ihrer Vertreibung aus Polen war Samuel Suchodolski nach 
Preußen geflüchtet, deshalb finden aus seiner Familie wir auch einen 
Friedrich Samuel, der 1716 nach Frankfurt zog, 1712 an der 
Albertina, einen Theodor 1737, einen Karl Friedrich 1775, einen 
Johann Gottlieb 1766. 1715 begegnet uns unter den Studenten 
Alexander Hulewicz, der 1718 mit Boguslaus Mikolajeswski nach 
Frankfurt ging, 1729 der großpolnische Reformierte Johann Karl 
Kurnatowski, dem 1732 der in Litauen heimische Andreas 
Kurnatowski folgte, ferner 1750 Michael, das Jahr darauf in Leiden, 
Christoph 1765, Sommer 1784 aus dem Gymnasium Kiejdany 
Boguslaus, um Theologie zu studieren. „Unsere Familie, einst eine 
von den größten in Polen, ist von Gütern und Vermögen herunter- 
gekommen“, schreibt den 18. Mai 1729 ein Hofgerichtsrat Grabowski 
an August Hermann Francke nach Halle. „An mir aber hat es dem 
großen Gott gefallen, seine Allmacht zu zeigen und mich aus meinen 
schwachen Umständen unter vielem Kreuz und Verfolgungen zu einer 
der ansehnlichsten Stellen in Preußen zu ziehen“. Er bittet dann für 
einen Bruder, der dem Beispiele des Vaters folgend, Theologie 
studiert habe, aber etwas versäumt sei, schon 16 Jahre Kandidat der 
Theologie sei, vielfach an Schulen unterrichtet habe. Da er weder 
seinen eigenen Vornamen noch den seines Bruders nennt, kann ich 
das Königsberger Studium dieser beiden nicht nachweisen, aber nicht 
wenige Söhne dieser Familie haben im 18. Jahrhundert in Preußen 
deutsche Wissenschaft in sich aufgenommen, 1733 auch Johann, der 
spätere Marschall der Stucker Konföderation, 1765 auch Paul, der 
spätere litauische General. 

Im 18. Jahrhundert haben besonders zwei Familien der schwer 
leidenden reformierten Kirche Litauens zu dienen gesucht, die Wotk 


443 


und die Estko. Im April 1710 sehen wir Vertreter dieser Kirche zu 
Beratungen in Warschau, unter ihnen Michael Laniewski Wolk, den 
Fahnrich von Starodub und Schwerttriger der Wojewodschaft Minsk. 
Sein Sohn Daniel, 1711 in Frankfurt, begegnet uns mit Joseph Stan- 
kiewicz und Theophil Domaslawski aus Lissa 1708 unter den Stu- 
denten der Pregelstadt. Schon 1702 sehen wir hier auch einen Petrus 
Wolck, der 1708 auch nach Frankfurt eilte, mit Kasimir Borzymowski, 
dem späteren Senior von Podlachien und Pastor zu Zabłudów, und 
Daniel Reczinski, weiter 1761 einen Gideon mit dem Edelsohn 
Michael von Schilling, einen Johann Wolk aus Shuck noch 1772. 


Von den Estko hat ein Alexander 1668, ein Michael 1687, ein 
Boguslaus aus Stuck 1712, wieder ein Michael 1745 und schließlich 
ein Jakob aus Kiejdany 1749 die Albertina aufgesucht. Von ihnen 
ist Michael 1745, Jakob 1750 noch nach Frankfurt gegangen. Der 
Michael Estko, der in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts das 
Pfarramt in Nowe Miasto hinter Wilna versah, hat 1717 nur in 
Frankfurt studiert. Von anderen litauischen Edelsöhnen wählten 
die nächste deutsche Hochschule noch im 18. Jahrhundert zu ihrem 
Studium Tobias Grotkowski 1722, ein Stanislaus Grotkowski noch 1773, 
ferner 1725 Michael Stephan Oskierka, der Sohn des katholischen 
Kastellans von Nowogrodek, Anton Oskierka, und der reformierten 
Anna Grabowska. Um nicht zum katholischen Bekenntnis gezwungen 
zu werden, mußte er aus seinem Vaterlande flüchten. In preußischen 
Diensten starb er 1761. Weiter studierten an der Albertina 1740 
die drei Brüder Ser gies Stanislaus und Johann Krasinski und 
25 Jahre später Grat Johann Krasinski; 1752 ein Jakob Gruzewski, 
16 Jahre später in den Tagen der Thorner und Stucker Konföderation 
zwei Brüder Jakob Ernst und Georg Viktor Gruzewski, 1761 
Alexander Lukianski, 1770 zwei Oppeln-Bronikowski, weiter ver- 
schiedene Cedrowski, Mikulicz, Petroselin u. a. 


Trotz der starken Spannung zwischen den beiden evangelischen 
Bekenntnissen verschmähten auch reformierte Theologen die Wissen- 
schaft der lutherischen Albertina nicht, so Bartholomäus Büttner 
1610, später Pastor in Gieraltowice an der schlesischen Grenze, dann 
Senior des Sendomirer Distrikts und Pastor zu Malice. Daß er später 
der Union so entschieden das Wort redete, eine fraterna et modesta 
ad omnes reformatas ecclesias admonitio ausgehen ließ, war eine 
Folge dessen, was ihm unsere Hochschule geboten. Seine Söhne zogen 
nach Thorn und Danzig auf die Gymnasien, nach Frankfurt auf die 
Universität, doch kehrten seine Enkel, die Söhne des 1651 in Frank- 
furt gebildeten Samuel, des unermüdlich tätigen Seniors von Samo- 
gitien, Johann Martin 1693 (1700 ın Leiden, später Konsenior von 
Samogitien) und Georg 1707 wieder zur Albertina zurück. Die 
Przystanowski, gleichfalls 1610 Schüler unserer Akademie, haben ver- 
schiedenen Gemeinden gedient, z. B. der in Bortkuniszki in Samo- 
gitien. Die Söhne des Chmielniker, dann Oksaer, auch Goryer Pastors 
Franz Plachta,im Sterbejahr ihres Vaters 1634 Schüler der Albertina. 


444 


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haben 1637 ihre Studien in Leiden abgeschlossen. Daniel wurde 1641 
Pfarrer in Wiatowice unfern Krakau, Samuel 1645 Adjunkt des 
Sendomirer Seniors Thomas Wengierski. Aus der Brüderunität 
finden wir Johann Nason, den Exdekan, 1640, Johann Libanus, den 
Pastorensohn aus Eibenschütz, der seit 1642 das Thorner Gymnasium 
besucht hatte, 1644, Adam Samuel Hartmann, den späteren groß- 
polnischen Senior der Briider, auch ihr erfolgreicher Kollektant in 
England, den Oxforder Ehrendoktor, 1647 an der Albertina. Doch 
ging er auch nach Frankfurt, ja selbst nach Wittenberg und Leipzig. 
Kind der Unität war auch der in Thorn geborene Johann Hyperikus. 
Von dem Gymnasium seiner Vaterstadt kam er 1648 im Alter von 
21 Jahren zur Albertina, in der Folgezeit führte ihn sein Wissens- 
drang noch nach Franeker und Gröningen. Der Litauer Gideon 
Reczynski, 1652 Student an unserer Universität, war ein Sohn des 
Hofpredigers des Magnaten Chlebowicz, des Pastors in Orla und 
Bielica, Gideon Reczynski, der auch das Konseniorat von Nowogrodek 
bekleidete. Seine Familie, die Litauen so manchen tüchtigen Pastor 
und Senior gestellt hat, hat einen Gabriel noch 1723, einen Boguslaus 
David aus Kiejdany noch 1774 zur Albertina entsandt. Christian 
Taubmann Trzebicki, Pastorensohn aus Lebiedziow im Minsker 
Kreise, wurde Pfarrer in Wilna, wo er 1682 bei der Zerstörung des 
Gotteshauses durch den Pöbel der Stadt in Lebensgefahr geriet, dann 
1585 Senior von Nowogrodek. 

Die drei Alumnatsstellen, die die letzte evangelische Radziwill, 
Luise Charlotte, Markgräfin von Brandenburg, zugunsten junger 
litauischer Theologen 1687 in Königsberg stiftete, führten auch in der 
Folgezeit immer Söhne des Ostens hierher, zumal sich 1701 auch eine 
reformierte polnische Gemeinde in Königsberg bildete, deren erster 
Pastor der in Frankfurt gebildete Georg Rekuc aus Samogitien wurde. 
Schüler der Albertina waren Daniel Rymwid aus Koydanow, später 
Superintendent in seiner Vaterstadt, der Sohn des Seniors ın Zabludow 
und Seniors von Podlachien Philipp Kopiewicz Wladislaus, Kasimir 
Borzymowski, dann Senior in Zabludow (sein Bruder Johann 1693 
in Leiden), Johann Budrewicz aus Kiejdany, Pastor in Sereje unfern 
Grodno, Michael Hasler aus Stuck, Pastor in Ostaszyn hinter Nowo- 
grodek, dessen Söhne dann auch zur Albertina wanderten, freilich 
auch nach Holland gingen, Wladislaus Bochwicz, aus altem Pastoren- 
geschlecht, 1723 auch in Leiden, Pfarrer in Nurzec hinter Wengrow, 
Gabriel Binazewski, Konrektor in Kiejdany, dann 1754 Senior des 
Wilnaer Bezirks, Gabriel Reczynski, dann 1728 in Leiden, Pastor in 
Stuck, Johann Musonius, Samuel Zuck, Prediger in Ploniany in 
Samogitien, Samuel Benedikt Makowski aus altem Pfarrergeschlecht, 
Jakob Gordon, Pastorsohn aus Kiejdany, 1746 auch in Leiden, 
Stanislaus Stancar, ein Nachkomme jenes Italieners Franzesco 
Stancaro, des Mönchs aus Mantua, der in die Reformation in Polen 
so verhängnisvoll eingegriffen, Ernst Musonius aus Warschau, der 
Sohn des Pfarrers an der reformierten Gemeinde, die sich hier end- 
lich nach erlangter Religionsfreiheit hat bilden können. 


445 


Auch viele lutherische Pastoren Polens und Litauens haben ihre 
Ausbildung der Albertina zu verdanken, besonders natiirlich die in 
Litauen, also in Wilna, Kauen, Kiejdany, Stuck. Aber auch aus Groß- 
polen ist mancher angehende Theologe nach Preußen gepilgert, unter 
ihnen ein Enkel des bekannten Fraustadter Predigers Valerius 
Herberger, der als Student vorzeitig in Königsberg seine Augen 
geschlossen hat. Aber ich sehe davon ab, hier diese deutschen 
Pastoren namhaft zu machen, da diese Studie den Einfluß der 
Albertina auf den sarmatischen Osten zeigen will. Daß der Pfarrer 
von Slawatycze am Bug, Jonas Columbus, seine Söhne Christoph und 
Jonas 1659 nach Königsberg geschickt hat, war selbstverständlich. 
Als Lubliner haben sie sich inskribieren lassen. Ihr Vater predigte 
ja gelegentlich auch den Lutheranern dieser Stadt, die sich einen 
eigenen Pastor nicht halten durften. 

Besondere Beachtung verdienen die vielen Mönche und Priester, 
die, an ihrem katholischen Glauben irre geworden, in Königsberg Zu- 
flucht und weitere Belehrung suchten. So erschien an unserer Hoch- 
schule 1609 ein Alexander Jurgowski aus Tremessen, 1627 ein 
Karmelitermönch Samuel Maniecki aus einem litauischen Kloster, 
zwei Jahre darauf ein Masowier, Martin Krajowski, 1635 cin 
Prämonstratensermöndh, Georg Hermanni, dessen Wiege aber in 
Mähren gestanden hat, 1639 ein polnischer Mönch, Johann Poteka, 
1648 Johann Plinius alias Hyacınthus Malinowski aus einem masovi- 
schen Kloster, 1662 der Franziskaner Jakob Beklewski, der das Jahr 
zuvor seinen Übertritt in Wittenberg vollzogen hatte, in demselben 
Jahre auch noch der Veltgeistliche Albert Koloski, Pfarrer in 
Bychawa. Der Belzer Konsenior Adam Jazyna, der unglücliche 
Pfarrer in Beresteczko, den 1653 die Tataren enthauptet und dessen 
Frau sie ın die Sklaverei geschleppt haben, hatte zuerst den Zweifel 
am römischen Dogma in seine Seele geworfen. 1667 meldete sich der 
Karmeliter Sebastian Sasinowicz aus der Brester Wojewodschaft, den 
März darauf ein Sebastian Andreas Loranowicz aus dem Kalischer 
Lande, der Rektor der Schule in Kauen, 1676 die Bernhardiner Albert 
Zmudzinski und Georg Jakob Przyatkowski, 1694 der Franziskaner 
Wladislaus Szembek und zwei andere Konvertiten. Ein ehemaliger 
Jesuit trat 1719 vor den Rektor, Joh. Jos. Ostaszewski aus 
Wolhynien, das Jahr darauf ein Karmeliter, Leo Golankiewicz, 1733 
ein Franziskaner, Anton Potocki. Um nicht zu ermüden, sehe ich 
davon ab, weitere mit Namen zu nennen. 

Doch ehe wir diese Studie schließen, wollen wir unter den 
Königsberger Studenten noch einiger polnischer Liederdichter ge- 
denken, mögen es nun Deutsche oder polnische Masuren gewesen 
sein, die mit ıhrer Muse dem religiösen Leben der polnisch sprechen- 
den evangelischen Gemeinden gedient, für die häusliche Erbauung 
und für den Gemeindegottesdienst fromme Lieder selbständig ge- 
dichtet oder aus dem Deutschen übertragen und herausgegeben haben. 
Joh. Jakob Hoynovius, Pastorensohn aus Milken bei Lötzen, später 
Rektor in Soldau, dann Pastor in Graudenz und Danzig, von dem 


446 


in dem Danziger Kantional des Jahres 1723 verschiedene Lieder 
stehen, hat 1667 die Albertina bezogen, sieben Jahre später Johann 
Herbin, der Bojanowoer Rektor, Wilnaer und Graudenzer Pastor, 
der das Jesuslied: „Meinen Jesum laß ich nicht“, das Osterlied: „Christ 
ist erstanden“, das Sterbelied: „Ach wie flüchtig, auch wie nichtig“ 
und andere übertragen hat. Philipp Fork aus Thorn, der als Student 
verschiedene Passionslieder übersetzt, hat sich 1697 in der Pregelstadt 
der Theologie beflissen, Jakob Glodkowski, später Pfarrer in Rhein, 
der das Abendlied „Hinunter ist der Sonne Schein“ polnisch wieder- 
gegeben, 1701, Michael Rüttich aus Wilna, der spätere Lehrer in 
Moskau, Professor und Pastor in Thorn, 1708, nachdem er schon 
etliche Jahre in Halle studiert. Wir haben von ihm ein Kranken- 
lied. Als Königsberger Studiosus veröffentlichte der Pastorensohn 
aus Soldau, Samuel Ernst Tschepius, „Eines christlichen Studenten der 
Theologie Erstlinge poetischer Früchte in polnischer Sprache d. i. 
Zehenden geistlicher Lieder“. Martin Oloff, der spätere Wengrower 
Pastor, der 1652 seine Ausbildung an der e Gert H ule 
empfangen hat, hat das polnische Kantional vom Jahre 1672 heraus- 
gegeben, Michael Speccovius, Pastor in Losendorf und Elbing, 1711 
Student der Albertina, hat 1727 ein Kantional erscheinen lassen, das 
Abendmahlslied: „Schmücke dich, o liebe Seele“, das Gebetslied: 
„Hilf uns, Herr, in allen Dingen“ u. a. übertragen. Andreas 
Waschetta, Rektor in Stargard und Pastor in Danzig, der einst 1697 
die preußische Hochschule aufgesucht hat, hat die Herausgabe des 
Danziger Kantionals 1723 besorgt. Ich will die Reihe der frommen 
polnischen Liederdichter und Sammler nicht fortsetzen, um nicht zu 
ermüden. Schon die bereits Genannten zeigen den Anteil der Königs- 
berger Studenten an der geistlichen polnischen Poesie. 

Viele hundert Polen und Litauer hat die Gründung Herzog 
Albrechts ausgebildet, aus den Städten Wilna fast 100, aus Kauen 86, 
Stuck 60, Kiejdany 38, allerdings einschließlich der deutschen Bürger- 
söhne. Deutsche Bildung und evangelischen Glauben hat sie dem 
Osten übermittelt, besonders Litauens erste geistliche Liederdichter 
gebildet. Noch gesteigert wurde ihre Kulturbedeutung im 
Reformationsjahrhundert durch ihre Druckerpressen, die den ganzen 
Osten versorgten. Seine Kulturgeschichte muß fast auf jedem Blatte 
den Namen Königsberg bringen. 


447 


II 
MISCELLEN 


EIN BESUCH IN DER SLAVISCHEN BIBLIOTHEK DES 
CECHOSLOVAKISCHEN AUSSENMINISTERIUMS 
(SLOVANSKA KNIHOVNA MINISTERSTVA ZAHRANICNICH 
VECI) 


Von Leopold Silberstein. 


Die Teilnehmer am Prager Slavistenkongreß, welche sämtlich das Jahrbuch 
des Slavishen Institutes für 1928 („Ročenka Slovanského Ustavu“, sv. I; in 
Generalkommission bei Orbis) erhalten haben, wissen, daß die Seiten 55—140 
dieser Publikation der Beschreibung der Slovanská knihovna MZV gewidmet sind. 
Diese Darstellung, die einzige, von der man dank ihrer Verteilung als Kongre8- 
drucksache erwarten kann, daß sie fast alle interessierten Kreise erreicht hat, ist 
aber durch die geradezu rapide Entwicklung der Bibliothek (am 1. Januar 1928 
waren 119228 Bände vorhanden, am 1. Januar 1980 187584, und schon im März 
1980 waren 140000 weit überschritten) schnell überholt worden. Deshalb 
därften die folgenden Mitteilungen, welche auf einer im März 1980 erfolgten 
persönlichen Besichtigung a, nicht überflüssig sein, obwohl sie aus Raum- 
gründen die Angaben der „Ročenka 1928“ nicht einmal auszugsweise reprodu- 
zieren, sondern nur ergänzen können. 

Die Bibliochek, deren Entstehung auf eine Gelegenheitsinitistive des Ge- 
sandıen Girsa zurückgeht und die heute der ah beer) Oberleitung des Direktors 
Dr. Otto KfiZek untersteht (welchem für liberalste Auskunftserteilung und Ein- 
blicksgewährung an dieser Stelle nochmals verbindlichster Dank ausgesprochen 
sei), ist, wie ihr Name besagt, eine Einrichtung des Außenministeriums und wird 
von diesem unterhalten, was für die enge Bit ee Durchdringung des Poli- 
tischen und Kulturellen in der Cechoslovakei charakteristisch ist und für Bestand 
und Wachstum der Bibliothek nur förderlich sein kann. Trotz dieser Sonder- 
stellung berücksichtigt die Slov. knih. in ihrer Anschaffungspolitik die Bestände 
anderer Prager Bibliotheken und bemüht sich, dieselben lieber zu ergänzen als 
ihnen bloße Dubletten an die Seite zu stellen; allerdings soll eine allgemeine 
Übersicht über die gesamte slavische Welt auch im alleinigen Rahmen der Slov. 
knih. möglich sein. Da die Slov. knih. nunmehr, im gleichen Hause wie die Uni- 
versitätsbibliochek (nämlih in dem für diesen Zweck aufs großzügigste reno- 
vierten Teil des Klementinums) untergebracht ist und z. B. die Bibliotheken der 
slavischen Seminare der beiden Universitäten in 5—10 Minuten von dort aus er- 
reichbar sind, so wird der wissenschaftliche Arbeiter ohne allzu großen Zeitverlust 
ein reiches Material zusammenbringen können, auch wenn er verschiedene Biblio- 
theken dafür in Anspruch nehmen muß. Mit einer, allerdings wesentlichen, Aus- 
nahme: die an sich außerordentlich reiche russische Abteilung der Slov. knih. 
(Leiter: V. N. Tukalevskij) ist bezüglich der mit den russischen Revolutionen zu- 
sammenhängenden Fragen auf die Ergänzung durch die Bestände einer zweiten Ein- 
richtung des Außenministeriums angewiesen. Dies ist das leider weit vom Zentrum 


448 


der wissenschaftlichen Arbeit abgelegene „Ruský zahraniční historický archiv“ (Wenzi- 
ova 17), welches unter der Leitung von Prof. Jan Slavik eine Sammlung von 
riginaldokumenten, Zeitungen und anderen Periodicis sowie Büchern zur ge- 
samten russischen Revolutionsgeschichte im weitesten Sinne zusammengetragen 
hat, deren Reichtum in ganz Westeuropa einzig dastehen dürfte, über die aus- 
führlih zu berichten wir aber einer späteren Gelegenheit vorbehalten müssen. 
Während aber die russische Abteilung der Slov. knih. einzig im Hinblick auf die 
Revolutionsgeschichte sich gewisse Besränkungen auferlegt, wird in der decho- 
slovakishen Abteilung wegen der anderwärts reichlich vorhandenen Bestände 
grundsätzlich nur das Allernotwendigste angeschafft. Zu diesen absichtlichen Be- 
schränkungen der Slov. knih. treten solche, die durch den Zufall des Angebots 
oder Nichtangebots bedingt werden, welcher ja in manchen slavischen Ländern 
mit geringer entwickelter Tradition im Lesen und Sammeln von Büchern und 
Periodicis weit launischer ist als etwa in Westeuropa. Man hat einmal Glück 
und bekommt eine slovenische Sammlung in die Hand, welche durchaus universell 
GE ist und eine Fülle kompletter Serien der verschiedensten Periodica ent- 
hält. Dagegen muß etwa die ische Abteilung ihre Bestände großenteils durch 
den Ankauf von Spezialbibliotheken vermehren, deren Reichtum vielfach nur in 
einer einzigen Richtung entwickelt ist. Dem Wachstum der russischen Abteilung 
kommt natürlich das Verkaufsbedürfnis der Emigranten zugute. 
Im einzelnen wären zu den Angaben der „Ročenka“, auf die sonst verwiesen 
werden muß, heute folgende ergänzende Bemerkungen zu machen: 


Russische Abteilung. 


Zum Titel „Periodica“ („Rolenka“, S. 58 f.; dort sind auch manche 
Spezialzeitschriften genannt, die besser bei den einzelnen Fächern aufzuführen 
wären; dagegen sind die ältesten Periodica der Rubrik „Seltene Drucke“ zu- 
gewiesen, alle gegenwärtig weiter erscheinenden Zeitschriften aber einem be- 
sonderen Verzeichnis, S. 112 ff.). Die Slov. knih. bemüht sich um den Erwerb 
der oft schwer erhältlichen, inzwischen eingegangenen Periodica aus den ersten 
Zeiten der Soverrepublik. So besitzt sie: „Sovremennik“ (hrsg. vom Moskovskij 
Institut Zurnalistiki, 1922—28); „Nakala“ (1921); „Vostok“ (1922—25); „Rossija 
(1922—25); „Russkij Sovremennik“ 8 sowie folgende Almanache: „Zapiski 
Meòtatelja (1919—22; besonders selten); „Naši Dni“ (1922—25); „Svitok“ 
(1922—26; mit Ausnahme von Nr. 2); „Literaturnaja Mysl“ (1928—25); „Krug“ 
ee: „Rol“ (1928—24). Von älteren eingegangenen Periodicis sei ins- 

ndere der „Vestnik Azii“ (1910—18) genannt, ferner „Zemskoe Delo“ 
4918 und als Kuriosität der vom Innenministerium hrsg. „Vestnik Polieif“ 
1918). Von spezifisch wissenschaftlichen Periodicis können an dieser Stelle nach- 
KE n werden: der „Sbornik Russkogo Istorič. Oblxestva“ (komplett einschließ- 
ich des seltenen letzten Bandes 148), die „Russkaja Istori¢. Biblioteka“ (komplett), 
die „Russkaja Starina“ (inzwischen komplettiert). Auch die „Otčety 
darstvennoj Dumy“, wel bis 1917 komplett vorliegen, mögen hier ge- 
nannt sein. 

Zum Titel „Pu$kiniana“. Erstausg.: „Ruslan i Ljudmila“, „Bachdisaraj- 
Veranlassung Peters 1706 in Amsterdam gedruckten „Symbola et Emblemata“. 
Die Liste der alten Periodica ist um die „Trudy Vol’nogo Ekonom. O-va“ zu 
vermehren. Das „Kamer-Fur’erskij Žurnal (1811—16) ist in der Reproduktion 
von 1910—15 vorhanden. Unter den vorhandenen Jahrgängen der ,,Moskovskie 
Vedomosti“ sind als besonders interessant 1811, 1812, 1815 zu nennen. Weiter 
seien hier die „Otelestvennye Zapiski“ des Pavel Svinin (1820—1880; kompi 
erwähnt. Alte Almanache: „Zimcerla“; ,,Kalendaf Muz“ (1827); ,,Podsneznik* 
(1829; mit Werken von Puškin und Krylov und einem Porträt des ersteren); 
„Raduga (Moskau 1880; mit Werken von Puškin, Zukovskij, Polevoj, Lažečnikov, 
Glinka); „Moskovskij Al’manach“ (Hrsg. Glinka); „Moe Novosel“e“ (18860. 

Zum Titel „Handschriften“. „Ugličeskoe sledstovennee delo o smerti 
careviča Dimitrija“ in der vom Kais. Archäolog. Instieut besorgten phototypischen 
Reproduktion. f 

Zum Titel „Religion“. Die „Cerkovnye Izvestija“ sind größtenteils 
vorhanden. 


449 


Zu den Titeln ,Sozialwissenschaften, Statistik, Volks- 
wirtschaft“. Wichtig zur Geschichte des Genossenschaftswesens: „Vestnik 
Kooperacii“ (1900—17, komplett) und „Vestnik 1 ae kredita“ (1912—18, 
komplett). Aus den ersten Sovetjahren u. a. der Bericht über den ersten Kongreß 
der „Profsojuzy“ und die Publikation „Narodnoe chozjajstvo Rossii 1921—1922 gg. 
Manche Seltenheit dürfte sich noch in einer erworbenen und noch nicht ganz 
ausgewerteten nationalökonomischen Spezialbibliothek finden. 

Zum Titel „Kunst“ Folgende Periodica sind nachzutragen: „Vesy” 
(1904—09); „Apollon“ (1900—14); „Vestnik izjalknych iskusstv“ (1888—90); 
„Artist“ (1889—95); ferner die seltene Liebhaberausgabe Rovinskij, „Materialy 
dlja russkoj ikonografii“ in sechs Bänden großen Formats. 

Zum Titel „Puškiniana“. Erstausg.: „Ruslan i Ljudmila“, „Bachčisaraj- 
skij Fontan“, „Poltava“, „Graf Nulin“, der „Nevskij Al’manach“ von 1829 mit 
Versen aus dem „Onegin“ und sechs bildlichen Darstellungen dieses Helden, die 
zwei letzten Hefte des Pulkinschen „Sovremennik“. 

Zum Titel „Tolstojana“. 26 unveröffentlichte Originalbriefe. Ge- 
plant ist eine analoge Abteilung „Dostojana“. 

Betreffs der Titel „Polygraphie, Philosophie, Recht, Poli- 
tik, Gesellshaften und soziale Institutionen, Pädagogik, 
Ethnographie, Philologie, exakte Wissenschaften, ange- 
wandte Wissenschaften, schöne Literatur, Literatur- 
wissenschaften, Geschichte, Rossica, revolutionäre Be- 
wegung in Rußland, Archäologie, Geographic, Biogra- 
p hie“ muß an dieser Stelle die Verweisung auf die Ročenka“ genügen. Aller- 
dings wird derjenige, der nur auf ihre sachlichen Angaben angewiesen ist, sich 
schwerlich den überwältigenden Eindruck vorstellen können, den z. B. die der 
Geschichte Peters d. Gr. gewidmete, allein 20 Bücherbretter einnehmende Sonder- 
abteilung in dem Betrachter erweckt. Die so stark durchgeführte Gliederung be- 
weist das Bestreben, ein universelles Studium aller Erscheinungen des russischen 
Lebens zu ermöglichen. So hat man denn auch nicht verabsäumt, eine reiche 
Kollektion von Übersetzungen fremder Werke ins Russische anzulegen, so daß 


auch die Beeinflussungen, denen die russische Kultur ausgesetzt war, möglichst 
klar erkennbar werden. 


Jugoslavische Abteilung. 


Von serbokroatischen Periodicis sind in Ergänzung der Angaben der 
»Rotenka“ noch zu nennen: die seltene „Danica Ilirska“ (Jahrg. 1886—40, 1845, 
1849, 1858); der von Rački, Jagić und Torbar hrsg. „Književnik“ (komplett); 
komplett ferner „Glasnik Srpskog Ulenog Društva“ und „Glasnik Društva 
Srpske Slovesnosti (nah gegenwärtiger Orthographie; dieser Titel schreibt 
„glasnik“ noch mit „Jer“ am Schluß und „srbske“). Veiter: „Neven“ (Zagreb) 
Bd. I—VII und „Nada“ 1895—1908. Von Einzelraritäten sei wenigstens das 
„Gazophylacium“ des Belostenec 5 Zagreb 1740, genannt. Zum 
kostbarsten Besitz der gesamten Slov. knih. aber gehört, wie schon erwähnt, die 
Sammlung slovenischer Periodica (in der „Ročenka“ noch nicht genannt). Es sind 
komplett vorhanden: „Novice“, „Drobtinice“, „Slovan“, ,,Jezitnik, „Voditelj“, 
„Rimski Katolik“, „Mitteilungen des historischen Vereins für Krain“, „Kres“, 
„Zvon“ (Hrsg. Stritar), „Zora“, „Slovenka“, die bis heute noch erscheinenden 
Zschr. „Ljubljanski Zvon“, „Cas“, „Časopis za zgodovino in narodopisje“ und 
„Dom in Svet“; weiter komplett „Pedagoški Letopis“, „Sbornik matice Slovenske“, 
„Slovenski Glasnik“ (Hrsg. Janežič), „Katoliški Obzornik“, „Omladina“, „Carnı- 
ola“ (i. e. izvestja muzejskega društva za Kranjsko), „Slovenski Branik“, „Veda“, 
„Mitteilungen des Musealvereins für Krain“, „Mentor“, „Popotnik“ (komplett in 
49 Jahrgangen!), „Planinski Vestnik“, „Knezova in Splošna Knjižnica“. Von 
` slovenischen Einzelraritäten sei an erster Stelle die äußerst seltene Hrensche Aus- 
gabe der „Evangelia inu listovi von 1612 genannt, ferner Gutsmanns „Deutsch- 
windisches Wörterbuch“ von 1789 und seltene Bibelübersetzungen von Japel und 
Kumerdej vom Ende des XVIII. und Anfang des XIX. Jahrhunderts. 

Wenn wir die polnische Abteilung 555 kurz behandeln, so 
tun wir das deshalb, weil der deutsche Leser unserer Ausführungen die nicht un- 


450 


beträchtlichen Schätze der Slov. knih. an alten Polonicis größtenteils auch in der 
Preußischen Staatsbibliothek vorfindet, wogegen dem Mangel an Periodicis nament- 
lich aus dem XIX. hdt. auch durch die Bestände der Slov. knih. einstweilen 
nicht abgeholfen wird. So waren Periodica von größter geistesgeschichtlicher Be- 
deutung wie „Ziewonja“, „Irzeci Maj“, „Mioda Polska“ (klerikales Emigrations- 
organ), der Lemberger „Dziennik Literacki“, das Krakauer „Zycie“, die „Krytyka“ 
und die „Chimera“ zur Zeit meines Besuches entweder gar nicht oder nur Kier 
mentarisch vorhanden; auch die „Biblioteka Warszawska“ war — im Gegensatz 
zur Pr. Staats-Bibl. — nicht vollständig. Mit Genugtuung begrüßt man dagegen 
den „Czas“ (komplett 1848—1911) und eine fast ale „Wisła“. An alt- 
Inischen Drucken zählte ich 152 aus dem XVI. und 290 aus dem XVII. Ihdt. 
tarowolski, Orzechowski, Cromer, Bielski sind gut vertreten, auffallend schwach 
dagegen Długosz. Als Rarissimum gilt „Epistolarum Turcicarum variorum et 
diversorum authorum libri V“, Frankfurt a. M., 1598, ein allerdings auch in der 
Pr. Staats-Bibl. vorhandenes Stück. Nicht vorhanden ist in Berlin die als Unikum 
bezeichnete „Apologia“ des Ostrorodus. Infolge des Erwerbs von historischen 
Spezialbibliotheken ist die polnische Abteilung sehr reich auch mit Werken zur 
gemeinen Geschichte, insbesondere zur schwedischen Wasazeit, versehen. 


Betreffs der restlichen Abteilungen der Slov. knih. sei wieder die Verweisung 
auf die „Ročenka“ gestattet. Die absichtliche Kleinhaltung der {ehoslova- 
kischen Abteilung ist nach dem, was eingangs über die Anschaffungspolitik der 
Slov. knih. gesagt wurde, so selbstverständlich, daß der darauf vorbereitete Be- 
sucher bei der NN von den doch vorhandenen Beständen eher angenehm 
5 ist; allerdings fehlen in dieser Abteilung die besonderen Glanzstücke 

er anderen. 


Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Slov. knih. in allererster 
Reihe mit dazu beitragen wird, daß Prag sich immer mehr zu einem slavistischen 
Forschungszentrum von höchster Bedeutung, namentlich für die nicht auf eine 
Nation beschränkte Slavistik, entwickelt. Sie wird auch den deutschen Slavisten 
zu häufigen Besuchen in Prag veranlassen, zumal jetzt, nach der Begründun der 
„Deutschen Gesellschaft für slavistische Forschung“, die in ihm das Bewußtsein 
stärken mag, sich auch in den Räumen der Slov. knih. nicht als verirrter ein- 
zelner Gast, sondern als Mitglied einer immer stärker werdenden Berufsgemein- 


schaft zu fühlen. 


451 


III 
LITERATURBERICHTE 


DIE „BIBLJOTEKA NARODOWA“ 


Von 
Dr. Otto Forst- Battaglia. 


Wer auch nur flüchtig mit polnischer Literatur oder Geschichte 
sich beschäftigt hat, der kennt die handlichen Bände der ,,Bibljoteka 
Narodowa“. Mit dieser groß angelegten Sammlung von vorzüglich 
edierten Texten repräsentativer Werke, zu denen sıch seit einiger Zeit 
auch Anthologien von Quellen zur polnischen Geistesgeschichte ge- 
sellen, hat Polen nicht nur ein unschätzbares Hilfsmittel für den 
Unterricht, sondern auch einen segensreich wirkenden Kulturfaktor 
empfangen. Nach einem methodischen Plan, dessen Grundzüge vom 
Leiter der „Bibljoteka Narodowa“, dem verdienten Historiker der 
Pädagogik und der Reformation Prof. Stanisław Kot, stammen, 
wird das gesamte Schrifttum Polens, soweit es sich um Werke bleiben- 
den oder wenigstens typischen Wertes handelt, in billigen Ausgaben 
der Öffentlichkeit erschlossen. 

Der Vergleich mit ähnlichen Bücherreihen in anderen Ländern 
und mit früheren wesensverwandten Serien in Polen drängt sich auf. 
Gegenüber den Reclamschen Heften zeichnet sich die „Bibljoteka 
Narodowa“ durch größere Sorgfalt in der Textkritik, durch die prin- 
zipielle Beigabe von Einleitung und Kommentar und durch strengere 
Auswahl vorteilhaft aus. Sie steht gegenüber der deutschen Samm- 
lung an Umfang weit zurück, blickt sie doch erst auf knapp zwölf 
Jahre unter schwierigen Verhältnissen entfalteter Tätigkeit zurück. 
Sie schaltet ferner Werke, die nicht eigentlich zur Schönen Literatur 
gehören, grundsätzlich aus und sie stellt die nationale Literatur in 
den Vordergrund. Neben 121 Bänden der Polnischen Serie sind erst 
56 der ausländischen erschienen. Das ist jedoch unter den in Polen 
herrschenden Umständen nicht zu rügen. Dort lesen an und für sich 
die gebildeten Kreise fließend deutsch und französish. Seit dem 
Weltkrieg macht die Verbreitung des Englischen große Fortschritte. 
Die „Bibljoteka Narodowa“ beschränkt sich also darauf, einmal 
klassische Werke in polnischer Übertragung zu geben, dann aber 


452 


französische, deutsche, englische, italienische Schöpfungen zu bringen, 
die entweder in der Schule auch von der Fremdsprache noch nicht 
genügend Kundigen gelesen werden oder aber Texte von Essais 
philosophischen Schriften mit gutem Kommentar den nach rascher 
Orientierung verlangenden Laien zu bieten. Wir haben uns hier mit 
der zweiten ausländischen Serie der „Bibljoteka Narodowa“ nicht 
weiter zu beschäftigen, obzwar auch in ihr sich Bände finden, die 
durch Einleitung — z. B. die Sophoklesbearbeitungen von Kazimierz 
Morawski, die Shakespeare-Dramen in der Ausgabe durch Andrzej 
Tretiak, die Frankreich. Bande von Boy-Zelenski, die Homer-Edition 
von Tadeusz Sinko, die Plautus-Ausgaben von Gustav Przychocki, 
die „Bekenntnisse“ des hl. Augustinus mit der Studie von Jerzy 
Kowalski — grofe wissenschaftliche Verdienste haben. 

Den eigentlihen Wert der Sammlung erblicken wir in der 
noch nie zuvor mit der gleichen Energie begonnenen und durch- 
geführten systematischen Schaffung einer Bibliothek polnischer Dich- 
tung und Geistesgeschichte. Hier übertrifft sie schon jetzt das 
Reclamsche Unternehmen, das relativ weniger wesentliche Werke der 
neueren deutschen Literatur enthält. Sie übertrifft alle mir bekannten 
französischen Sammlungen — deren Einleitungen meist mit denen der 
„Bibljoteka Narodowa“.keinen Vergleich vertragen und aufs kläg- 
lichste ausgestattet sind —. Sie besteht in Ehren neben den präch- 
tigen englischen Reihen, denen sie offenbar nachgebildet wurde, und 
sie wird auch neben der vom Österreichischen Bundesverlag in An- 
griff genommenen, den Kürschnerschen Bücherschatz zeitgemäß er- 
neuernden Bibliothek deutscher Autoren bestehen können. Vor 
deutschen und englischen Rivalen zeichnet sich die polnische Samm- 
lung durch den sehr niedrigen Preis aus, der dem ne Massenwirkung 
ausgehenden Unternehmen erst sein segensreiches kulturelles Walten 
ermöglicht. 

Der Forscher wird diese Vorzüge der ,,Bibljoteka Narodowa“ 
zunächst mit einer gelinden Skepsis vernehmen. Sind sie nicht auf 
Kosten des wissenschaftlichen Ertrages errungen worden? Hier nun 
liegt das Geheimnis eines auf dem ehrenvollsten Weg erzielten Er- 
folges: Die Qualität hat der Quantität als Vorspann gedient. Den 
an und für sich beklagenswürdigen polnischen Honorarverhältnissen 
danken wir es, daß trotz des geringen Preises philologisch muster- 
gültige Texte, Einführungen aus den berufensten Federn vom Verlag 
den Lesern geboten werden konnten. Die Zahl der ausgezeichneten 
Leistungen ist beträchtlich. Fast stets ist ein sehr anständiges Durch- 
schnittsniveau überschritten und nur selten — interdum dormit 
Homerus — sind Fehlgriffe zu beklagen. Dadurch unterscheidet sich 
die „Bibljoteka Narodowa“ rühmlich von ihren Vorgängerinnen, wie 
der ,,Bibljoteka Polska“ J. K. Turawskis, der Zuckerkandlschen 
„Bibljoteka Powszechna“. Die mit schwer gelehrtem Rüstzeug an- 
rückenden Buchreihen der Akademie der Wissenschaften — Bibljoteka 
pisarzów polskich, die Bibljoteka zapomni anych poetów i prozaiköw 
polskich des verstorbenen Warschauer Achivdirektors Wierzbowski 


458 


enthalten zumeist verschollene Werke. Nur in der neuerdings vom 
Verlag „Bibljoteka Polska“ herausgegebenen „Wielka Bibljoteka“ ist 
ein nicht gefährlicher Rivale auf den Plan getreten. Hier kann auf 
die ersten hundert Bände der Krakauer Sammlung nur kurz hin- 
gewiesen werden. Sie enthalten an Meisterwerken der polnischen 
Literatur Jan Kochanowskis „Ireny“ und die „Abfertigung der 
griechischen Gesandten“, die Reichstagspredigten von Piotr Skarga, 
Mickiewiczs „Pan Tadeusz“ — in einer grundlegenden Ausgabe von 
Stanisław Pigoh —, die „Totenfeier“, „Wallenrod“, „Grażyna“, die 
„Bücher des polnischen Volks und der Pilgerschaft“, Krasinskis „Un- 
göttliche Komödie“, „Irydjon“, „Przedświt“, von Juljusz Słowacki 
mehrere der schönsten Dramen wie „Balladyna“, „Kordjan“, , 

Weneda“, „Der silberne Traum Salomeens“, dann „Anhellı“, 
„Beniowski“, „Drei Poeme“, Malczewskis „Marja“, Fredros „Rache“ 
und „Mädchenschwüre“, endlich eine Auswahl Norwidscher Dich- 
tungen. Sehr nützlich sind ferner Anthologien wie die des polni- 
schen Volksliedes von Bystroń, des polnischen Sonnetts von Fol- 
kierski und vor allem die der mittelalterlichen polnischen Literatur 
von Aleksander Brückner und Vrtel-Wiercczynski. Mit Vergnügen 
empfingen wir die aus der Vergessenheit hervorgeholten und noch 
heute aus den verschiedensten Griinden lesenswerten Vertreter des 
älteren polnischen Romans, von der „Anmutigen Pasqualina“ Twar- 
dowskis über Krasickis „Do$wiadczynski“ bis zu Czajkowski, 
Korzeniowski und Kraszewski, Henryk Rzewuski und Walery 
Lozinski. Ausgezeichnet sind die Bande, in denen uns Quellen zur 
polnischen Geschichte und Kulturgeschichte vorgelegt werden: eine 
Schulausgabe des sogenannten Gallus, ein Extrakt aus Diugosz, eine 
Auswahl der Schriften des Copernicus, die Denkwürdigkeiten des 
Pasek, politische Traktate von Stanistaw Konarski und Staszic, eine 
Auswahl aus Towiahski, kritische Abhandlungen von Brodzifski und 
Mochnacki, Artikeln Mickiewiczs aus der revolutionären Epoche. 
Einige Bände hätten wir nicht ungerne vermißt. Und wir vermissen 
dafür schmerzlich andere, wesentliche Werke der polnischen Lite- 
ratur. Doch kommt Zeit, kommt Rat. Um nicht ungerecht zu 
sein, müssen wir auch das Programm beachten, dessen Ausführung 
uns der Verlag für die nächsten Jahre ankiindigt. Wir haben, von 
den noch zu besprechenden Bänden 100—121 abgesehen, u. a. folgen- 
des zu erwarten: Anthologien zur mittelalterlichen Kulturgeschichte 
von R. Grodecki, Jan Dabrowski, St. Arnold, K. Dobrowolski, den 
Kadtubek und die Chronik des Jan von Czarnköw, Modrzewskis 
„de emendanda republica“, Orzechowskis „Politische Dialoge“, die 
sogenannte Eulenspiegelliteratur in der Bearbeitung durch Aleksander 
Brückner, Sarbiewskis „Gedichte“, Lukasz Opalinskis „Polnische 
Schriften“, Krasickis „Fabeln“, die „Myszeis“ und die „Satiren“, Aus- 
wahl aus Wegierski und Knia:nin, die Maiverfassung, herausgegeben 
von St. Estreicher, Schriften Kosciuszkos, Sniadeckis, Ausgewählte 
Erzählungen Niemcewiczs, Dichtungen von Woronicz, Politische 
Abhandlungen, den Cours de littératures slaves und Briefe Mickie- 


454 


wiczs, von Słowacki die Lyrik, „König Geist“, „Zborowski“, die 
„genetischen“ Schriften und „Briefe“, Norwidsche Prosa in Auswahl, 
mehrere Romane von Kraszewski, Czajkowski, Kaczkowski, Antho- 
logien über Galizien unter altösterreichischem Regime, den „Völker- 
hung; die Bauernfrage im 19. Jahrhundert, die polnische Histo- 
riographie von Naruszewicz bis zu den Stanczyken, den Warschauer 
Positivismus und die polnische Novelle. 

Für ziemlich überflüssig halte ich, solange nicht die gleich zu er- 
örternden wichtigeren Lücken beseitigt sind, die Fredroschen 
Komödien zweiten Ranges — die der großen Öffentlichkeit nicht 
nötig sind und dem Fachmann in der Fredro-Ausgabe des Osso- 
lineums zugänglich wurden —, die Flut von Kraszewskischen Erzäh- 
lungen, die von der „Bibljoteka Narodawa“ getrost einem 
Warschauer Konkurrenzunternehmen zu überlassen wären. Was 
noch fehlt und als dringendster Wunsch angemeldet sei, umfaßt 
etwa dieses Ergänzungsprogramm: einen vollständigen polnischen 
Długosz, Ostroróg, Vervollstindigung des Rej gewidmeten 
40. Bandes, einen Sammelband über die religiöse Pamphletliteratur 
des 16. Jahrhunderts, Morsztyn — diese Forderung sei energisch er- 
hoben —, Kollataj (etwa im Rahmen einer Anthologie des polni- 
schen revolutionären Gedankens und der Aufklärungsliteratur, in 
der auch Turski, die „Schmiede“ Kollatajs, Stanislaw Potocki ver- 
treten sein sollten), Zorjan Dolega Chodakowski, Niemcewiczs 
„Spiewy historyczne“, Auswahl aus Hoene-Wrohski, Kremer, 
EEN Gołuchowski, Cieszkowskis „Ojcze nasz“, Auswahl aus 
Klazko, Kalinkas ,,Galicja i Kraków“, Szczepanowskis „Nedza 
Galicji“, die beiden Stücke Maleckis, Kaczkowskis Spätromane, eine 
treffsichere Auswahl aus dem Werk Deotymas, einige Stücke 
Szujskis, die „Brüder Lerche“ von Asnyk, einiges von Balucki, 
Lubowski, Narzymski, Blizinski (als Fortsetzung der mit den „Gruby 
ryby“ und „Pan Damazy“ begonnenen verheißungsvollen Anfänge). 
Da die „Bibljoteka Narodowa“ mit einigen Bänden, wie den weiter 
unten zu besprechenden Dichtungen von Kasprowicz und den an- 

ekündigten Nowickis bis auf die jüngste Vergangenheit reicht, so 
Essen wir auch die Bitte wagen, zwar nicht die von großen Ver- 
legern in billigen Ausgaben immer wieder auf den Markt geworfenen 
Romane von Prus, Sienkiewicz, der Orzeszkowa, von Reymont und 
Zeromski, die Dichtungen der Konopnicka, die Dramen von 
Wyspianski, doch andere, sonst zur Vergessenheit bestimmte oder im 
Buchhandel schwer aufzutreibende und schon zur historischen Be- 
trachtung reife Werke aufzunehmen. Ich denke da an die Romane 
von Jez-Milkowski, Dygasyhski, Zacharjasiewicz, Plug, an einige der 
Meisterdramen der Zapolska, an Rydels „Zauberkreis“, eine Auswahl 
aus Niemojewski, eine der besseren Erzählungen von Danilowski, 
3 von Tetmajer, Miriam, Lange, mehreres von Przy- 
byszewski. Als Quellensammlungen wären je ein Band über die 
polnischen Magnaterja, über die Juden in Polen, über die Katholische 
Kirche, über die Mloda Polska zu empfehlen. Das ist ein vor- 


455 


läufiger Wunschzettel, der dem Eifer Professor Kots und der 
Krakowska Spółka Wydawnicza noch weiten Spielraum läßt. 

Wenden wir uns indes, nachdem wir die Vergangenheit in Ge- 
stalt der ersten hundert Bände und die Zukunft der ,,Bibljoteka 
Narodowa“ erörtert haben, der Gegenwart, das heißt der Produk- 
tion von drei eben dahingeschwundenen Jahren zu. 

Prof. Taszycki') hat die ältesten poln. Sprachdenkmale ge- 
sammelt. Die 1 Mikolaj Rejs bildet die Grenze, von der ab das 
moderne Polnisch beginnt, dem Taszycki eine zweite, ebenfalls vor- 
treffliche Anthologie — „Wybór tekstów staropolskich XVI—XVIII 
wieku“. Lwów, K. Jakubowski, 1928 — gewidmet hat. In dem 
E Buch sind 28 typische Beispiele vereinigt, die als Belege 
für die in einer konzisen Einleitung vorgetragenen Ansichten 
Taszyckis über die charakteristischen Eigentümlichkeiten des älteren 
Polnisch dienen können, den gebildeten Laien und den Anfänger auf 
dem Gebiet der Polonistik auf das monumentale Werk von Jan 
Los, die „Początki piśmiennictwa polskiego“ vorbereiten und in 
Deutschland die zu ähnlichen Zwecken gebrauchten „Altpolnischen 
Sprachdenkmiler“ Nehrings ersetzen sollten. Jede einzelne Nummer 
ist mit historisch-sprachwissenschaftlichem Kommentar versehen, der 
lateinische von polnischen Ausdrücken unterbrochene, beziehungs- 
weise der altpolnische Text ist in der ursprünglichen und in einer 
modern polnischen Fassung abgedruckt, oder aber zahlreiche Fuß- 
noten ermöglichen das Verständnis des Originals. Wir haben da, 
angefangen von der berühmten Papstbulle von 1136 und der Bogu- 
rodzica, von den Heiligenkreuzer Predigten und dem St. Florianer 
Psalter bis zu den Glossaren, den Hofrechnungen, den Wörter- 
verzeichnissen des 15. Jahrhunderts, bis zu dem hübschen Liebesbrief 
und der Bibel der Königin Sophie, zum Statut von Wislica und dem 
Traktat des Parkoszowic über die Rechtschreibung eine mannig- 
faltige Auswahl des Wichtigsten oder Typischen. Vielleicht hätte 
Taszycki in den Einleitungen auch auf kontroverse Datierungen hin- 
weisen können. Wenn er die „Bogurodzica“ einfach aus der Zeit 
um 1300 datiert, so wäre es eher ratenswert gewesen, den Leser mit 
einigen Worten von der lebhaften Kontroverse über diese National- 
hymne zu unterrichten. Auch in der allgemeinen Einführung wird 
— man muß sich vor Augen halten, daß Laien und Studenten das 
Hauptkontingent des Autors sind — mitunter die wahrscheinliche 
Hypothese zu ausschließlich vorgetragen, 2. B. wenn sich Taszycki 
aufs engste an Niederle anschließt und von den zahlreichen Theo- 
rien über die slavischen Anfänge nur eine erwähnt. Ohne mich 
irgendwie für eine bestimmte Meinung auszusprechen, darf ich wohl 
auch bemerken, daß dem polnischen Leser wenigstens über die ab- 
weichende Ansicht der deutschen Forschung in der Kaschubenfrage 
ein Wort gesagt werden könnte. Vortrefflih sind die aus dem 


1) Nr. 104. Witold Taszycki: Najdawniejsze zabytki języka 
polskiego. 1927. XLIV u. 150 S. Vgl. J. Łoś, Jezyk Polski 18, 25 ff. 


456 


Vollen schöpfenden Zusammenstellungen über die Eigentümlichkeiten 
der polnischen Sprache bis zum 16. Jahrhundert, sind weiter die 
knappen Seiten über die Orthographie, die Phonetik und die Mor- 
phologie —, im wesentlichen auf Lo$ und seiner klassischen großen 
Grammatik beruhend, haben sie dennoch viel aus der eigenen 
Forschung Taszyckis sich bereichert. Als bedauerliche Lücke emp- 
finde ich den Mangel einer rudimentären Einführung in die Syntax. 
Zur Auswahl der Sprachdenkmäler hätte ich nur die Anregung zur 
Aufnahme einer Aufschwörung zu geben, welche Quellenart sehr 
instruktiv für die zeitgenössische Sprachentwicklung ist. Daß sich die 
Erläuterungen zu den einzelnen Stücken oft an der Grenze des 
unfreiwillig Komischen befinden, liegt in der Natur der Sache be- 
gründet. Armer Liebesbriefschreiber, der an seine Panna namilejsza 
aus Szamotuły heiße Sehnsuchtsworte „weysszzrode“ schrieb: wie 
hattest du es ahnen können, daß ein halbes Jahrtausend später 
deine Altersgenossen als einzige Bemerkung dazu sehen werden: 
„weysszrode, man kann entweder we $rzode oder we jérzode lesen. 
Im zweiten Fall hatten wir es mit „uprzedniem pojawieniem sie 
palatalności“ zu tun ... Als Ploetz auf dem Sterbebette lag, 
wandte er sich zur weinenden Familie: „Je meurs“ oder man könnte 
auch sagen „Je me meurs“ ... Und wir könnten sagen „Grandeur 
et misere de la vie philologique“. Doch Taszyckis Buch ist ein nütz- 
liches, ehrenwertes Buch. Das sind sie ja alle, die philologischen 
Textsammlungen, nützlich und ehrenwert! 


Und sie sind manchmal vom Zauber des erläuterten Dicht- 
werkes so sehr getränkt, daß schon die Einführung vom Schimmer 
des poetischen Mysteriums beglänzt wird, in das sie uns geleitet. Ein 
schönes Beispiel hierfür bietet uns Tadeusz Sinko mit seiner Auswahl 
Kochanowskischer Lyrik.“) Sie knüpft an desselben Gelehrten Be- 
arbeitung der „Ireny“ an, erzählt in glänzendem Stil des Poeten 
Jugend und schriftstellerische Tätigkeit, schildert die Atmosphäre 
der polnischen Renaissance, das Hofleben und die dem doppelten 
Antlitz der Epoche, ihrem heidnisch-heiteren und christlich-ernsten, 
zugekehrte Dichtung der „Fraszki“ und des „Psalter“. Wir be- 
kommen dann ein edel abgerundetes Bild der herrlichen Lyrik 
Kochanowskis in ihrem erotischen, geselligen, die Natur betrachten- 
den, patriotischen, religiösen und philosophischen Gehalt. Sinko 
ist, wenn wir die Distanz in den Größen wahren, ein Kochanowski 
kongenialer Mensch: vom Geist der Antike gesättigt und doch der 
lebendigen Gegenwart verbunden. Er ist nicht nur Gelehrter, 
sondern auch Künstler und beweist beides in seiner biographischen 
Studie, ın seinen Exegesen. Daß er es mitunter auch durch bereit- 
willige Gefolgschaft an die rege Kombinationsgabe bekundet, wer 


2) Nr. 10. Jan Kochanowski: Pieśni i wybór drobnych wierszy. 
se von Tadeusz Sinko. 1927. LXXIV u. 208 S. Vgl. 
I. ns ach, Ruch Literacki 8, 80 f., J. Krzyżanowski, Przegląd Współczesny 


30 NF 6 457 


möchte es ihm veriibeln? Will man von der augenblicklichen 
Meinung über Kochanowskis Leben und Leistung zureichende Vor- 
stellung gewinnen, dann muß eben Sinkos Deutung mit den Lebens- 
abrissen Aleksander Brückners in der Einleitung zur Kochanowski- 
Ausgabe der Bibljoteka Polska (Warszawa 1924), mit der neuen, 
prächtigen Monographie Stanislaw Windakiewiczs (Jan Kochanowski. 
Krakéw 1930) und mit mehreren Aufsätzen, Schriften M. Hartlebs 
verglichen werden. Dann bleibt es dem Leser freigestellt, sich über 
so kontroverse und trotz allem noch unentschiedene Fragen, wie über 
die Verknüpfung Kochanowskis mit der italienischen — Petrarca — 
und mit der französischen — Ronsard — seine eigene Ansicht zu 
formen. Die Auswahl Sinkos ist sehr glücklich getroffen. Sie um- 
faßt die „Zgoda“, den „Satyr“, den „Proporzec“ — ausgelassen 
Zeile 163—214 —, die „Musen“ — kleine Abkürzung —, aus den 
„Fraszki“ 46, große Bruchstücke des „Psalters“, die „Pieśni“ 
(darunter die „Johannisfeier“, das in Polen allgekannte „Czego 
chcesz od nas, Panie, za Twoje hojne dary?), 21 „Fragmente und 
eine von Juljan Ejsmond verfaßte vorzügliche polnische Übertragung 
des lateinischen Streitgedichts „Gallo crocitantı“. In den Anmer- 
kungen hätte ich gerne auch kurzen Hinweis auf die Nachwirkung 
des betreffenden Stückes, nicht bloß seinen, meist lateinischen, Ur- 
sprung gelesen. Wie viel sagte uns etwa die Parallele zwischen 
nCzego chcesz ...“ und dem Krasinskischen „Wszystko nam 
es 7! 

Die Sinkosche Edition des erst neuerdings zu Ehren gelangten 
Lyrikers Sęp-Szarzyński’) zeigt die gleichen Qualitäten wie die 
Kochanowskis. Nur daß hier der Kombination und der Polemik 
noch mehr Raum bleiben. Über den Dichter, Kochanowskis Schüler 
und Antipoden zugleich, wissen wir wenig Authentisches. Ein be- 
trachtlicher Teil der ihm zugeschriebenen Verse wird von Sinko 
gegenüber Brückner, ihrem Entdecker, und Chrzanowski, ihrem 
Herausgeber, in ihrer Urheberschaft bestritten. Wir finden sie als 
„Liebesgedichte eines Anonymus in dieser Ausgabe wieder. 

Mit weniger Temperament, mit nicht geringerer Kompetenz und 
infolge des besseren Quellenmaterials mit mehr zuverlässigen Resul- 
taten ist Professor Pollak, der polnische ,,Kulturattaché“ in Rom, 
an seine musterhafte Edition des „Dworzanin“ Görnickis ge- 
schritten.“) Wir haben zunächst den sorgfältigen Text zu rühmen, 
der sich an die Erstausgabe anlehnt, aber deren offenbare Druck- 
fehler und Versehen korrigiert. Die umfängliche Einleitung hat 
ihren eigenen, hervorragenden Wert. Pollak zeichnet ein lebens- 


2) Nr. 118. Mikołaj Sep Szarzyński: Rytmy oraz anonimowe 
pieśni i listy mitosne z XVI e Herausgegeben von Tadeusz Sinko. 1928. 
XXXVI u. 128 S. Vgl. M. Hartleb, Pamiętnik Literacki 26, 291 ff., L. Kamy- 
kowski, Ruch Literacki 4, 21 f. 

) Nr. 109. Lukasz Górnicki: Dworzanin polski. Herausgegeben 
von Roman Pollak. 1928. LXXVI u 428 S. Vgl. M. Brahmer. 
Pamietnik Literacki 26, 283 ff. 


458 


volles Gemälde der gesellschaftlichen Zivilisation in Italien und Polen. 
Er stellt die beiden voneinander so verschiedenen Welten einander 
gegenüber, die unter den letzten Jagellonen in den engsten Kontakt 
traten. Der ,,Cortegiano“ des Castiglione und sein, übrigens nicht 
nur dem einen Beispiel nacheiferndes, polnisches Gegenstück, der 
„Dworzanin“ Génickis, lassen uns die Kluft zwischen den beiden 
Nationen klar erkennen. Hier die raffinierte Übersättigung, das 
durchgeistigte Eros, die Herrschaft der Frauen und des Salons, dort 
erst frisch übertünchte Rauheit und Ehrbarkeit einer Gesellschaft 
von Männern. In der Sprache, im nach jeder Hinsicht durchbildeten 
Italienisch des Cinquecento und im mühsam zur Eleganz ge- 
zwungenen Polnisch des Sigismundischen Zeitalters, spiegelt sich der 
Gegensatz nochmals wider. Pollak hat das alles sehr fein und klug 
ezeigt. Doch es müßte erst ein Schriftsteller von der Art Boy- 

lehskis her, um das Problem in seiner ganzen Tiefe und Viel- 
fältigkeit zu entschleiern, das im Grunde ein sexualgeschichtliches 
ist. Und ein religionsgeschichtliches dazu. 


Wie wenig der Import fremder Sitten und Sittenlehren, fremder 
Sittenlehrbiicher und Sittenlehrer am polnischen Charakter geändert 
hat: die sächsischen Zeiten tun es dar, deren Aspekt uns von Feld- 
man in einer wunderhiibschen Quellenpublikation vor Augen ge- 
führt wird.“) Sie gewährt uns die Möglichkeit besser als durch die 
Lektüre dickleibiger Werke festzustellen, wie sehr sich die an ihre 
Scholle geheftete Masse der mittleren und unteren Szlachta — der 
Bürger und Bauern zu geschweigen — gegen die Einflüsse des faulen 
Westens strãubte. Feldman, der sich um die Erhellung der polni- 
schen Barock-Epoche unschätzbare Verdienste erworben hat, breitet 
eine Fülle von Zeugnissen vor uns aus und schickt ihnen eine treff- 
lich zusammenfassende Einleitung voraus. Es scheint mir freilich, 
daß er da zu rosig sieht und sein eigener Text gegen den Interpreten 
recht behält. Die „Rettung“ der Sachsenzeit ist Feldman hier, wie 
in anderen Abhandlungen, insoweit gelungen, als er die schon 
damals starken Strömungen nachweist, der polnischen Anarchie und 
Unkultur zu steuern. Allein, daß es nur Magnaten, bei der sarma- 
tischen Menge als Verräter verschriene, als Deutsche oder Französ- 
linge verhaßte große Herren waren, die der einfältigen Seligkeit 
im Stil des Kitowicz, des Matuszewicz und des P. Majchrowicz ein 
Ende machen wollten, geht auch auch aus diesen von Feldman sorg- 
sam und objektiv gesammelten Extrakten hervor. Bei der kom- 
pakten Mehrheit sieht es nicht anders aus wie bei ihren Ahnen, Cie 
Görniki durch den ,,Dworzanin“ europäisieren und verfeinern 
wollte. Unbeholfenheit der Sprache, Einfalt der Gesinnung, Aber- 
glauben, Freude am groben Scherz, Streitsucht, Einsperrung der 


6) Nr. 110. Józef Feldmann: Czasy saskie. Wybór zrödel. 1928. 
XXXVI u. 256 S. Vgl. VI. Konopczynski, Kwartalnik Historyczny 48, 1, 259 f., 
St. Bednarski, Przegląd Powszechny 179, 153 f., M. Piszczewski, Pamiętnik 
Literacki 25, 880 f. 


459 


Frauen ins Gynäzäum, tyrannısche Gewalt über Kinder und Haus- 
gesinde vereinigen sich mit einem mehr in Ablehnung des Anderen 
als in opferbereiter Treue zum Eigenen bestehenden Traditionalis- 
mus zu dem, was die „echten Polen“ den Neuerern als kostbares 
Vätererbe entgegengehalten. Diese anderen aber sind die Wenigen, 
bei denen stets der Verstand gewesen ist; sind die sittlich oft ihren 
dümmeren Gegnern unterlegenen Oligarchen Szczuka, Dunin Kar- 
wicki, Leszczyński (der König!), Antoni Potocki, Poniatowski (der 
Vater des Königs!), Sierakowski, endlich der Kolligat und Klient der 
„Familie“ Konarski ... Feldman hat die mannigfachsten Quellen 
zu seiner Anthologie herangezogen: Memoiren — von Stanisław 
August, Moszczehski, Matuszewicz, Wybicki, Streitschriften, Er- 
bauungsbücher, die berühmte Enzyklopädie des Benedykt Chmie- 
lowski „Nowe Ateny“, Briefsteller, Reden, Gesandtschaftsberichte 
und Aufzeichnungen fremder Reisender. Einige Lücken blieben. So 
mangelt es an Darstellungen des Hoflebens unter August III. und 
Brühl. Es sollte m. E. je eine Charakteristik des Königs, der 
Königin, Brühls, Mniszechs, der Häupter der Familie und der 
Potocki eingerückt werden. Dazu eine Schilderung der typischen 
Hofjagden, ein Besuch des Königs in der Kapelle. Ich möchte ferner 
aufgenommen sehen: die Beschreibung einer Schulfeier bei den 
Piaristen, eines Unterrichts bei den Jesuiten, einen Ketzer- oder 
E die Beschreibung eines Interieurs in polnischen Bürger- 
reisen. Unter den Literaturbeispielen darf doch der unsterbliche 
Baka nicht fehlen. Eine Poesie des Phönix Radziwill gehört zum 
Gesamtbild und aus der Vorrede zu den Tabulae Jablonovianae 
abe es einen hübschen Passus zu zitieren. Ein völlig vernach- 
assigtes Gebiet, die eigentliche Sittengeschichte, also die Beziehungen 
der Geschlechter, ist in Polen noch heute Tabu. Deshalb darf man 
Feldmann keinen Vorwurf machen, wenn er uns garnicht mitteilt, 
wie man in jenen fernen Tagen liebte. Quellenmaterial gäbe es 
immerhin genug, um alle die hier gestreiften Themen zu illustrieren. 
Dafür könnten ruhig die meisten Zitate aus den Reformschriften 
wegbleiben, die alle einander ähneln und so wenig für das Virkliche 
von einst bezeigen. | 

Konopczynskis Quellenbuch zur Barer Konförderation“) hat den 
unleugbaren Vorzug, daß es die Tatsachen allein sprechen läßt und 
polemische Schriften nur insofern beachtet, als sie Ansichten von maß- 
gebenden Faktoren der geschichtlichen Entwicklung uns enthüllen. 
Das ist nicht der einzige Wert dieses Bandes, der wohl das wichtigste 
und beste bedeutet, was bisher über die chaotischen Jahre der polni- 
schen Anarchie veröffentlicht wurde. Vorläufer einer seit geraumer 
Frist angekündigten Geschichte der Barer Konföderation, zu der 
Konopczynski seit 20 Jahren in ganz Europa die ungedruckten 


©) Nr. 102. Wiladystaw Kénopczyhski: Konfederacja barska. 
Wybór tekstów. 1928. XLVI u. 216 S. Vgl. J. Feldman, Przeglad Powszechny 
177, 226 f., M. Piszczkowski, Pamietnik Literacki 25, 881, Selbstanzeige Vl. Konop- 
czynskis, Kwartalnik Historyczny 48, 2, 142 f. 


460 


3 — H— — =- . 


n sammelt — ich bin seinen Spuren in fast allen Archiven 
Mitteleuropas und Frankreichs begegnet, die Material iiber Polen 
bergen —, besteht dieses Buch zum überwiegenden Teil aus Archi- 
valien. In der Einleitung zählt der Autor selbst die Fundstätten 
seines Materials. auf. Er skizziert aus souveräner Kenntnis auch der 
kleinsten Einzelheiten heraus den Gang der polnischen Erhebung von 
1768 bis 1774. Er tut endgültig eine Anzahl eingewurzelter Irr- 
tümer zum alten Eisen: die etwa, es sei die Konföderation ein Werk 
des blinden katholischen Fanatismus gewesen oder sie hätte sich 
der Verfassungsreform der Czartoryski prinzipiell entgegengestellt. 
Konopczyhski schildert in klaren Worten die historische Bedeutung 
der bewaffneten Tat, die vielleicht kein subjektives, jedenfalls ein 
objektives Verdienst derer war, die sie entfesselt hatten. Er unter- 
sucht ferner aufs feinfühligste, wie sich die Ideologie und die Praxis 
der Konföderation als Ergebnis der widersprechendsten und einander 
feindlichsten Einflüsse erweist. Wir sehen eifrige Neuerer und ver- 
zopfte Sarmaten, westelnde Große Herren und Adelsproletarier, An- 
hanger der Czartoryski und deren Feinde, tiefgläubige Katholiken 
und Freimaurer, ja Protestanten — Heyking! — nebeneinander. Die 
Bewegung war eine Massenerscheinung, in der sich heroischer Opfer- 
mut und gemeinste Raubsucht begegneten, die für Händler, Heilige 
und Helden Raum hatte, der Einheit in der Leitung und in den 
Zielen, darum des letztlichen Erfolgs darbte. Nicht mit wünschens- 
werter Entschiedenheit wird die fanatische Gegnerschaft gegen Stanis- 
ław August als das einzige die Barer verbindende Dogma und als 
die Hauptursache ihres Scheiterns angegeben. Gegen die Auswahl 
und Edition der Quellen ist nichts einzuwenden. Nachzutragen bei 
einer zweiten Auflage: etwas über die Vorgeschichte des ent- 
scheidenden Ereignisses von 1770, des Entthronungsmanifests, und 
über die des von 1771, des Attentats auf Stanislaw August; als Proben 
ein oder zwei Kronenboten der Konföderierten, z. B. an den Land- 
grafen von Hessen-Kassel, je ein Brief Krasifiskis an Choiseul, einer 
Maria Antonias, Rußerungen Katharinas, Maria Theresias, Friedrichs 
über die Konföderation, noch einiges über den Streit der Ober- 
häupter in der Türkei, des Rezeß Radziwilts bei der Rückkehr. Bei 
einer kommenden Auflage darf ich wohl auch erwarten, daß Konop- 
czyhski den einschlägigen Abschnitt meines „Poniatowski“ beachten 
und die von mir in meiner Arbeit ın den „Annales Jean Jacques 
Rousseau“ vorgebrachten Argumente über die Entstehungszeit der 
den Barern geltenden „Considérations“ benutzen werde. 

Weckt die imponierende Leistung Konopezyhskis Bewunderung, 
so wird uns die Freude an Kolbuszewskis fleißiger Zusammenstellung 
der in den Archiven und Bibliotheken verstreuten, sogenannten Kon- 
föderationspoesie,”) durch mehrere dem Herausgeber zugestoßene 


7) Nr. 108. Kazimierz Kolbuszewski: Poezja barska. 1928. 
LH u. 848 S. Vgl. St. Dobrzycki, Ruch Literacki 8,68 f., J. Kleiner, Pamiętnik 
Literacki 25, 884 ff., I. Chrzanowski, Ruch Liseracki 8, 240 f., K. Zawodziński, 
Slowo 1928, Nr. 55, 56, Se. Kołaczkowski, Wiadomości Literackie 1928, 29. 


461 


»Betriebsunfalle“ getrübt. Mindestens drei der abgedruckten Gedichte 
sind späteren Ursprungs. — Eines davon ist als von Ujejski her- 
rührend genugsam bekannt, und es hätte durch seinen Stil Kolbus- 
zewski von der Einverleibung einer offenbar dem 19. Jahrhundert 
zuzuweisenden Kunstdichtung in eine Sammlung politischer Gelegen- 
heitspoesie des 18. Jahrhunderts abhalten müssen. Ein zweites zeigt 
deutliche Anklänge an Słowacki, ein drittes Merkmale, daß es nicht 
vor 1795 verfaßt sein kann. Man wird, angesichts dieser Irrungen, 
die nützliche Anthologie Kolbuszewskis mit Vorsicht in die Hand 
nehmen. Auch die Einleitung befriedigt nicht, wenn sie auch in ihrer 
Grundthese, daß die Barer Poesie mehr kulturgeschichtlichen und 
nationalpädagogischen als literarischen Wert hat, zutrifft. 
Krzyzanowskis Ausgabe des „Pan Podstoli‘*) erfüllt ihre Auf- 
gabe, ohne sich um tieferes Eingehen in die zahlreichen mit diesem 
repräsentativen Werk des polnischen Siècle éclairé verknüpften Pro- 
bleme zu bemühen. Es wäre wohl erwünscht gewesen, den fremden 
nationalökonomischen Theorien, die sich in diesem didaktischen 
Roman an das polnische Publikum wenden, nachzuspüren. Fran- 
zosen, Engländer, ja Deutsche haben ihren Anteil an der Muster- 
wirtschaft des Herrn Untertruchsess. Und in gleicher Weise böte die 
Forschung nach hier praktisch angewandten literarischen Theorien 
reiche Ausbeute. In den sehr spärlichen Anmerkungen zum Text 
vermissen wir ebenfalls auch die naheliegendsten Hinweise auf Re- 
miniszenzen — die Reminiszenz ist Krasickis Kennzeichen, er ist 
der „polnische Voltaire“, der polnische NN, niemals nur er selbst —. 
Wie hübsch z. B., die erste Seite des Podstoli als Nachklang. . . des 
„Gestiefelten Katers“ zu erweisen! (Den Krasicki, „Minaud“ bei- 
genannt, so sehr liebte.) Ein anderes dankbares Feld der noch nicht 
begonnenen Forschung wäre das Verhältnis des Krasickischen Romans 
zu Krasickis damaligem Idol . . . dem alten Fritz. Nun, es ist nicht 
nötig, daß in der Bibljoteka Narodowa auf alles das eingegangen 
er wir begrüßten es aber, wenn Krzyzanowski bei einer künf- 
tigen Auflage auch an diese Dinge rührte. Zwei andere Literatur- 
denkmäler, die zugleich wichtige Quellen zur Kulturgeschichte der 
Poniatowski-Zeit sind, )“) haben schlechthin unübertreffliche Be- 
arbeiter gefunden. Niemand weiß um das polnische Theater jener 
Zeit bessern Bescheid als Bernacki. Der Autor so vieler Schriften und 
Abhandlungen über das Drama der polnischen Aufklärung schickt 
seiner Ausgabe des „Sarmatismus“ eine in ihrer Gedrängtheit voll- 


8) Nr. 101. Ignacy Krasicki: Pan Podstoli. Herausgegeben von 
Juljan Krzyżanowski. 197. LXII u. 874 S. Vgl. M. Piszczkowski, 
Pamietnik Literacki 25, 888. 

o) Nr. 106. Józef Wybicki: Życie moje oraz Wspomnienie o 
Andrzeju i Konstancji Zamoyskich. Herausgegeben yon Adam M. Skal- 
kowski. 1928. XXXIV u. 856 S. Vgl. WI. Konopczyfski, Kwartalnik 
Historyczny 42, 6583 ff. 

10) Nr. 115. Franciszek Zabłocki: Sarmatyzm. Herausgegeben 
von Ludwik Bernacki. 1928. XLVIII u. 152 S. Vgl. J. Birkenmajer, 
Ruch Literacki 8, 276 f., M. Piszczkowski, Pamiętnik Literacki 25, 884. 


462 


kommene Studie über ee Ve und Schauspielwesen unter Stanis- 
law August voran. Skalkowski, Wybickis Biograph und zusammen 
mit Askenazy, Konopczynki der beste Kenner der Teilungsperiode, 
schenkt uns die lange erwartete kritische Edition von des Autors der 
polnischen Nationalhymne wechselvollen Erinnerungen. Die früheren 
Drucke des arg verstümmelten Textes sind unbrauchbar. Erst diese 
vervollständigte und der Hilfe von Wybickis Ururenkel Dr. Roz- 
nowski vielen Dank schuldige Fassung, aus dem Vergleich von zwei 
Handschriften in Posner Privatbesitz und aus dem Archiv der Nach- 
kommen des Autors hergestellt, darf der Historiker mit ruhigem 
Gewissen als authentisch anerkennen. Die Einleitung Skalkowskis 
sieht vom eigentlich Biographischen ab, das ja in einer anderen Schrift 
des Herausgebers erzählt wurde. Sie schildert nur die historische 
Rolle des Memoirenschreibers, charakterisiert die Erinnerungen und 
berichtet über die Editionsgrundsätze. Literaturhistoriker werden 
hier das Fehlen einer sprachwissenschaftlichen Analyse beklagen. 
Dafür muß sich, wer politische Geschichte oder Kulturelle Entwick- 
lung aus Wybickis „Leben“ ablesen will, mit Skalkowskis Vorwort 
begnügen und für die reichen, fast stets aus dem Vollen schöpfenden 
Anmerkungen herzlichen Dank empfinden. Ein paar Versehen hat 
Konopczyhski im Kwartalnik Historyczny angemerkt, nicht ohne 
selbst in seinen Korrekturen sich zu irren: Traumensdorff ist nicht 
Trautmannsdorf, sondern Trauttmansdorff. Weiteres: unter Brakien- 
hof (S. 136) ist sicher der berüchtigte Held des Brenckenhoffschen 
Defekts“ zu verstehen. Der preußische Diplomat heißt Sandoz- 
Rollin, der Marschall des Kardinal Rohan aber Haraucourt 
(S. 130, 132). 

Den von ihm publizierten Jugenderinnerungen Brodzifskis 
schickt A. Łucki eine durch überschwenglichen Enthusiasmus sündi- 
gende Einführung voraus.) Mit mehr nüchterner Kritik betrachtet 
Kolaczkowski die Gestalt eines Größeren. In seiner feinsinnigen 
Studie über den Slowackichen „Fantazy“ ') zeigt er, wie sich in dieser 
Tragikomödie der poetischen Irrungen und Verwirrungen, der 
Dichter zwischen den beiden Gegenpolen bewegt: der Romantik und 
dem derben Realismus; wie bald der gekränkte Rivale mit beleidigtem 
Mannes- und Poetenstolz den glücklicheren Krasinski verhöhnt, bald 
der vom Stoff und der Stimmung mitgerissene, im Grunde gleich 
empfindende Stowacki sich dem lyrischen Zauber der ursprünglich 
als Satire gedachten Handlung hingibt. Im Text lehnt sich Kolacz- 
kowski an die große Stowacki-Ausgabe des Ossolineums an, während 
Ujejski für die „Maria Stuart“ unmittelbar auf denselben Erstdruck 


11) Nr. 118. Kazimierz Brodzifski: Wspomnienia mojej młodości 
i inne pisma autobiograficzne. Herausgegeben von Aleksander Łucki. 
1928. XXXII u. 110 S. Vgl. Br. Gubrynowicz, Pamiętnik Literacki 25, 170 ff., 
J. Korpala, Ruch Literacki 8, 28. 

13) Nr. 105. Juljusz Słowacki: Fantazy czyli Nowa Dejanira. 
Herausgegeben von Stefan Kołaczkowski. 1927. XLVIII u. 122 S. 
Vgl. M. Kridl, Przegląd Współczesny 28, 840. 


468 


zurückgeht, auf den er auch in der schon genannten Editio ne 
varietur sich berufen durfte.“) Die Einleitung in der „Bibljoteka 
Narodowa“ kann manches erörtern, das in den „Dzieła“ nicht gestreift 
worden ist. In der interessantesten Frage, ob und inwieweit Słowacki 
die Schillersche Tragödie benutzt hat, gelang Ujejski nur zu einem 
eher ablehnenden, doch nicht endgültig überzeugenden „non liquet“. 
Sonst aber bietet er ein vortrefflich abgerundetes Bild des erstaun- 
lich reifen Frühwerks eines dramatischen Genies und er bereichert 
unsere Anschauung über Slowackis in sich geschlossene Asthetik um 
manche wichtige Einzelheiten. 

Manfred Kridl, dem wir schon so viele schöne Studien über die 
großen Romantiker danken, entledigt sich mit seltenem Takt der 
Mission, Krasinskis „Psalmen der Zukunft“ ohne Abschweifen ins 
aktuell Politische zu analysieren.“) Er trennt sorgfältig den Künstler 
vom Politiker. Nichts Unbilligeres, als die Schätzung des einen von 
der Sympathie für den anderen abhängig zu machen. Über den Kon- 
flikt des Magnaten Krasinski mit dem Demokraten Slowacki haben 
wir bei Kridl das Klügste gelesen, was zu diesem Thema zu sagen 
war (S. XXXVIII ff.). 

Gegen die beiden Bände, in denen Szweykowski, der vorzüg- 
lichste Fachmann auf dem Gebiet des polnischen Romans, die „Denk- 
würdigkeiten Soplicas“ ) und den „Owruczanin,, “) Czajkowskis uns 
Sorelle ist vom Standpunkt der Editionstechnik aus nichts einzu- 
wenden. Den Einführungen fehlt ein gewisses Etwas, das sich schwer 
definieren läßt; fehlt der unmittelbare Kontakt mit dem Dichter. 
Gewiß sind die Tatsachen über Rzewuski und seinen anekdotischen 
Roman jede einzelne richtig geschildert. Trotzdem erfahren wir 
durch Szweykowski nicht, wie diese Flucht aus der Zeit mehr als ein 
Spiel, wie sie der Umgang eines letzten Ritters des Liberum Veto 
mit den Gebilden seines Geistes war. Und in dem Umriß der ver- 
sunkenen Welt, in denen sich die Geschichtchen um Karol Radziwill 
„Panie Kochanku“ begaben, fehlt das Leben, fehlt die plastische 
Figur des ungekrönten Herrschers von Litauen, die wir N 
treu nach der Wirklichkeit und den Quellen portraitiert, mit der 
Idealgestalt Rzewuskischer Phantasie verglichen haben wollten. Auch 
in den Anmerkungen wurde übermäßige Zurückhaltung geübt. Das 
Register bietet für das Mangelnde keinen genügenden Ersatz und es 


13) Nr. 111. Juljusz Słowacki: Marja Stuart. Herausgegeben von 
Józef Ujejski. 1928. XXXII u. 104 S. Vgl. St. Furmanik, Wiadomości 
Literackie 1928, Nr. 27, H. Zyczyhski, Pamiętnik Literacki 25, 886 ff. 

14) Nr. 107. Zygmunt Krasinski: Psalmy przyszłości. Heraus- 
gegeben von Manfred Kridl. 1927. LXIV u. 82 S. Vgl. J. Birkenmajer, 
Ruch Literacki 8, 184 ff. 

15) Nr. 112. Henryk Rzewuski: Pamiątki Soplicy. Herausgegeben 
von Zygmunt Szweykowski. 1928. LVI u. 400 S. Vgl. J. Birken- 
majer, Ruch Literacki 8, 119. 

16) Nr. 103. Michal Czajkowski: Owruczanin. Herausgegeben von 
mn: Szweykowski. 1927. XLIV u. 867 S. Vgl. J. Krzyzanowski, 
Ruch Literacki 2, 278 f. 


464 


ist eher geeignet, den mit dem Thema nicht Vertrauten mit allzu 
raschen Gesamturteilen irrezuführen. Dem „Owruczanin“ hat die 
Methode Szweykowskis weniger geschadet. Hier drängte sich ja nicht, 
wie bei den „Pamiatki Soplicy“ auf jeder Seite die Notwendigkeit 
auf, Geschichte und Geschichtchen einander gegenüberzustellen. 

Frau Kotowa löste die Aufgabe, einen historischen Roman dem 
Laienpublikum und den Geschichtsforschern näherzubringen, in durch- 
aus befriedigender Weise. In der Einleitung zum „Tagebuch der 
Franciska Krasinska“, “) jenem Werk der Tanska, das — ohne Ver- 
schulden der Autorin — seinen Platz außer in der Literatur im all- 
gemeinen auch unter den erfolgreichen Mystifikationen behauptet. 
Selbst ein Spezialist wie Pierre Boyé ist erst jüngst der guten Tante 
Klementyna hineingefallen. Die Herausgeberin nun scheidet sorgsam 
Dichtung und Wahrheit, verfolgt die Genesis des Briefromans aus der 
Lektüre des „Monitor“ und der mündlichen Überlieferung. Nur in 
kleinen Einzelheiten begegnen uns Versehen, so wenn die Frage, ob 
die Krasinska den Bischof von Kamieniec zur Aufstellung der Kan- 
didatur eines deutschen Reichsfürsten als Bewerber um die polnische 
Krone bewogen habe, als strittig bezeichnet wird, während darüber 
meine Schrift „Eine unbekannte Kandidatur auf den polnischen 
Thron“ längst Klarheit geschaffen hat, oder wenn die Stelle im Tage- 
buch, Poniatowski sei in Petersburg als Gesandtschaftssekretär vier 
Jahre gewesen (S. 23), der Besuch bei Konstanze Poniatowska am 
29. Dezember 1759 ohne Zusätze bleiben, die das eine als falsch, das 
andere als möglich erwiesen. 

Feldmans Ausgabe des Kraszewskischen „Brühl“ !“) enttäuscht 
etwas. Wır hätten von diesem souveränen Kenner der Materie den 
eingehenden Vergleich des Ministers, wie ihn die objektive Ge- 
schichte uns enthüllt, mit der Kraszewskischen Gestalt erwartet und 
nicht bloß die Untersuchung, inwieweit der Erzähler aus Justi oder 
Vehse, höchst unzuverlässigen Quellen alle beide, schöpfte. Einige 
Grundmotive des Romans: die Anekdoten über Brühls Aufstieg, sein 
Verhältnis zur Schwiegermutter, der Sturz Sulkowskis, die Be- 
ziehungen zur Gattin erfordern unbedingt Erörterung durch den so 
sehr dazu berufenen Historiker der Sachsenzeit. Wir rechnen damit, 
diese Ausführungen schon im Hinblick auf den jüngst erschienenen 
Panegyricus von Boroviczény, in einer kommenden Auflage zu lesen. 

Der Auferstehung eines anderen, zwar nicht historischen, aber 
doch seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung keineswegs baren 
Romans, der „Heidin“ Narcyza Zmichowskas hat Boy-Żeleński den 
Weg bereitet.“) Den Bemühungen dieses unermüdlichen Zerstörers 


17) Nr. 119. Klementyna Tanska: Dziennik Franciszki Krasinskiej. 
Herausgegeben von Ida Kotowa. 1929. LXX u. 168 S. Vgl. K. Czachowski, 
Przegląd Współczesny 31, 160 ff. 

16) Nr. 114. Jözef Ignacy Kraszewski: Brühl. Herausgegeben 
von Jözef Feldman. 1928. XXIV u. 316 8. 

19) Nr. 121. Narcyza Zmichowska: Poganka. Herausgegeben von 
Tadeusz Boy-Żeleński. 1980. XXXVIII u. 184 S. 


465 


falscher Idole und entgegen dem Anschein ebenso unermüdlichen 
Idealisten, der in den Schmollwinkel des Pantheons verbannten 
Heroen von gestern zu ihrem Platz verhelfen will, ist es gelungen, 
für die „Enthusiastin“ Zmichowska Verleger und Publikum zu er- 
warmen. Ich fürchte, es wird baldige Abkühlung der angefachten 
Begeisterung eintreten. Die Zmichowska ist nicht mehr lebendige 
Literatur und nur eine galvanisierte literarische Mumie. Mag die 
„Heidin“ um ihres psychologischen und psychopathischen Reizes 
willen als historisches und soziologisches Dokument gelesen werden: 
sie ist kein Kunstwerk, das seine Epoche überdauert. Verfehlt in 
der Komposition, bei aller subjektiven Ehrlichkeit objektiv unwahr, 
von grotesker Pathetik, dankt dieses transvestierte Geheimnis einer 
alten Mamsell den gewiß vorübergehenden Erfolg nur geweckter 
Sensationsgier. Boy verschwendete seine glänzenden Gaben an eine 
verlorene Sache. Dieses authentisch falsche Chef d’ceuvre darf er viel- 
leicht als sittliche Tat, als Kampfansage an den polnischen Cant und 
Huldigung an den moralisch imperativen deutschen Kant preisen, 
im Grunde bleibt diese sapphische Ode auf die Kunst trotz der Ver- 
quickung mit patriotischer Allegorie die herzlich schlechte Kopie von 
„René“ und „Chatterton“, des „Korsar“ und der „Mlle de Maupin“ 
— warum wohl: Boy, der brillante Mittler französischen Schri 

nicht auf die Herkunft der „Heidin“ von Gautier hindeutete? 

Den Abschluß der bisher publizierten Bände — die 
Nummern 116 und 117 liegen noch nicht vor — bilder eine 
prächtige Auswahl aus Kasprowiczs Lyrik.“) Kolaczkowski be- 
währt sıch da nochmals in seiner Meisterschaft als Herausgeber und 
Dolmetsch poetischer Sprache. Die Verbindung von ästhetischem 
Kritiker und fachkundigem Literaturhistoriker, jenes heikle Problem 
der Geschichtsschreibung modernen Geisteslebens, hat sich in diesem 
ausgezeichneten Schriftsteller harmonisch vollzogen. Der Masse 
seiner Landsleute wird Kasprowicz, den jeder erhebt, aber an- 
gesichts des Mangels an zugänglichen Ausgaben bis vor kurzem nur 
wenige lesen konnten, durch die Bibljoteka Narodowa zum erstenmal 
greifbare Wirklichkeit. Es ist Kolaczkowskis Tat, daß er diesen Kon- 
takt des großen Dichters mit seiner Nation so verständig, so ver- 
ständlich und so verstehend begleitet. 

So gipfelt die „Bibljoteka Narodowa“ im Bemühen, die Kette 
zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht abreißen zu lassen, 
im Streben, einem ganzen Volk das geistige Erbe seiner Ahnen zu 
bewahren und diesen Schatz der Allgemeinheit zu öffnen. Die 
Wissenschaft leistet ihr dabei redliche und entscheidende Hilfe. Und 
sie wird, für diese Dienste, durch den Nutzen reichlich belohnt, 
den, in erster Linie edlem Genuß und der Belehrung Heranwachsen- 
der bestimmt, das treffliche Unternehmen auch der Forschung 
gewährt. 


70) Nr. 120. Jan Kasprowicz: Wybór poezyj. Herausgegeben von 
Stefan Kotaczkowski. 1929. XXXVIII u. 264 S. Vgl. K. Czachowski, 
Przegląd Współczesny 30, 154 ff. 


466 


IV 
BUCHERBESPRECHUNGEN 


Bittner, Konrad: Herders Geschichtsphilosophie und die Slaven. — 
Reichenberg 1929. Verlag Gebrüder Stiepel. 150 S. (Veröffent- 
lichungen der Slavistischen Arbeitsgemeinschaft an der Deutschen 


Universität in Prag. 1. Reihe. Heft 6.) 

In den geschichtsphilosophischen Ausführungen Herders spielen die Slaven 
eine beträchtliche Rolle. Allerdings hat schon Leibniz, wie der Verfasser bemerkt, 
auf diesem Gebiete richtunggebend gearbeitet. Es ist schade, daß B. seine Studien 
über Leibniz und die Slaven welt nicht vor der obigen Arbeit vorlegen konnte. 
Wir würden dann sehen, ob und inwieweit Herder von Leibniz abhängig war. 
Auch B. erkennt dies und bedauert es, daß seine Studien auf diesem Gebiete auf 
unerwartete Schwierigkeiten gestoßen sind. B. gibt im ersten Abschnitt einen 
guten Oberblick über die Wandhungen der Herderschen Geschichts philosophie, die 
durch seinen jeweiligen Wohnsitz in Königsberg, Riga, Bückeburg, Weimar ge- 
kennzeichnet werden. Auf diesen Abschnitt kann hier nicht näher eingegangen 
werden. Nur das Wesen der Herderschen Geschichtsphilosophie soll kurz wieder- 
gegeben werden, weil wir daraus ersehen, daß er dem slavischen Fühlen und 
Denken innerlich nahestand. Die Geschichte ist ihm die Offenbarung Gottes und 
der göttlichen Erziehung in der Menschheit. Das letzte Ziel der Entwicklung sieht 
er in vollständiger Staatenlosigkeit. Denn das höchste Ziel der Entwicklung ist 
dann erreicht, wenn unter den sich selbst beherrschenden und leitenden Menschen 
jegliche Staatsform überhaupt überflüssig geworden ist. Der natürliche Staat ist 
ein Volk mit einem Nationalcharakter. Hier berührt sich Herder ganz auf- 
fallend mit Gedanken, die ein 5 später Tolstoj, wenn auch in viel 
schirferer Form, ausgesprochen hat. B. hat nicht dargelegt, ob diese Herdersche 
Auffassung aus seiner Betrachtung der russischen Geschichte entstanden sind. Denn 
daß das russische Volk seiner Natur entsprechend sich gegen jeden äußeren Zwang, 
der nun einmal in jedem Staatsbegriff enthalten ist, auflehnt, ist sicher. 


Im IV. Abschnitt des 16. Buches der „Ideen“ gibt Herder eine Charakte- 
ristik der Slaven: Die Slaven seien immer ein stilles, friedliebendes Volk des 
Ackerbaues und des Handels gewesen, das niemals, auch nicht zur Selbstvertei- 
digung zum Schwerte gegriffen habe, sondern in die verlassenen Gebiete unruhiger 
und stürmischer Eroberer nachgerückt sei, um in ruhigem und ungestörtem Leben 
sich seiner friedlichen Tätigkeit und den Frieden atmenden Künsten, der Musik 
und Dichtung zu widmen. Infolgedessen sind die Slaven berufen, die Mensch- 
heit durch ihre Wirksamkeit in der Geschichte der Zukunft dem Ziel der Huma- 
nität näherzubringen, die höchste Vollendung der Menschheit aus ihrem innersten 
Wesen heraus zu erreichen. B. verzichtet darauf, eine Kritik der Herderschen 
Anschauung zu geben. Es wäre aber angebracht gewesen, wenigstens auf die 
Arbeiten Joseph Leo Seiferts über die angebliche Friedfertigkeit der alten Slaven 
zu verweisen, um den Interessenten die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Urteil 
zu bilden. Denn daß Herder in einer geradezu groben Unwissenheit über die Ge- 
schichte der Slaven befangen war, werden wir noch sehen. 


B. untersucht weiter, wann, wo und in welcher Art Herder zu einem oder 
dem anderen der slavischen Hauptstämme in Beziehung trat, wann, wo und wie 


467 


ihm das Eindringen in das Wesen und Verden eines der slavischen Hauptvölker 
zum weit hinaus bestimmenden Erlebnis wurde, er untersucht ferner, inwiefern 
andere Gewährsmänner, Gelehrte, Künstler, Dichter, überhaupt führende Männer 
slavischer und nichtslavischer Zunge für ihn von bestimmendem Einfluß ge- 
worden sind. H. selbst war keiner slavischen Mundart mächtig und mußte sıch 
daher durchaus auf das Urteil seiner Gewährsmänner und Quellen verlassen. 

erste Gedicht, mit dem H. an die Offentlichkeit trat und das dem noch nicht 
siebzehnjährigen Jüngling Anerkennung und Bewunderung eintrug, war dem 
russischen Caren Peter III. gewidmet, den er als den großen Friedensfürsten feiert. 
Hier hat B. wenigstens kurz gezeigt, daß Herder in einer vollständigen Unkennt- 
nis über die Persönlichkeit des Caren befangen war. Es wird sich kaum historisch 
erweisen lassen, ob alle Legenden, die über ihn berichtet werden, wahr sind. 
Denn die russische Geschichtsschreibung har über den „Ausländer“ nie ein objektiv 
richtiges Urteil gefällt. Aber sicher verdiente er nicht, von Herder als der große 
König Cyrus gefeiert zu werden. Während Herder Peter III. als den gottgesandten 
Friedensfürsten feiert, der den Königen das Blutschwert abgürtet und Ruh und 
Glück auf seine Herden regnet, rühmt er Peter d. Gr. als das unerreichte Vorbild 
aller männlichen Tugenden und als den großen kriegerischen Helden. B. gibt zu, 
daß Herder einem vorgefaßten Ideal zu Liebe von der geschichtlichen 5 
abgewichen ist. Dies mag dem Dichter schließlich noch verziehen sein; aber 

er so rasch seine Stellungnahme zu Krieg- und Friedensfürsten ändert, verdient be- 
sonders hervorgehoben zu werden. Und die Geschichte kann es nur begrü 
daß H. seinen Plan, eine Biographie Peters zu schreiben, mit der er Voltaire aus- 
stechen wollte, nicht durchgeführt hat. Auch in der Lobpreisung Katharinas kann 
man das Gefühl nicht loswerden, daß nur der maßlose Ehrgeiz Herders, auf den 
B. mit Recht hinweist, die Urache für seine unwahren Lobhudeleien war. 

Geschichte und Gegenwart geben wohl die beste Antwort auf Herders 
Prophezeiung: Die Ukraine wird ein neues Griechenland werden, eine neue 
Kultur wird im Osten entstehen. Und dieser Geist wird über Europa gehen, das 
im Schlafe liegt, und dasselbe dem Geiste nach dienstbar machen. Von Livland 
aus wird sich dieser neue Geist über Mittel- und Südrußland ausbreiten und dann 
erst seinen Siegeszug nach dem Westen antreten. Es muß aber zugegeben werden, 
daß H. mitunter auch die Fehler der russischen Seele kennzeichnet. Er gibt zu, 
daß Rußland keine Subordination kennt (das ist in dieser Formulierung übrigens 
nicht richtig), daß Rußland die Triebfeder der Ehre nicht kennt. leder Russe ist 
ein niedriger Schmeichler, nur Sklave, um Despot zu werden. Trotzdem ist Ruß- 
land für ıhn der einzig mögliche Träger seiner Zukunftspläne. Seine Kenntnisse 
über Rußland hat H. hauptsächlich aus den Werken Schlözers, Müllers, Büschings, 
Lanossovs (so schreibt H.), Frischs und anderer. Er gibt Anweisungen und Rat- 
schläge, wie Rußländ seine große Zukunft erreichen kann. Er selbst hält sich für 
den Lehrer und Erzieher, Lenker und Berater der Völker des Ostens. Alles, was 
er bisher an Schriftstellerei getrieben hat, ist nichtig und verächtlich angesichts 
der großen Aufgabe der Erweckung des Ostens, der Bildung und Veredlung der 
Völker, die dazu bestimmt sind, eine neue Zeit heraufzuführen. Obwohl H. ganz 
unzureichende Kenntnisse als Historiker hatte — die Wenden und Böhmen hält 
er für Deutshe —, maßte er sich an, über Schlözers Universalhistorie ein ver- 
nichtendes Urteil zu geben. Er mußte es sich dann gefallen lassen, daß letzterer 
Herders Beurteilung „als durch Unwissenheit in hohem und erweislichen Grade, 
durch vorzügliche Ungezogenheit und durch die Person ihres Verfassers besonders 
ausgezeichnet“ zurück weist. 

B. weist ferner nach, daß die Volkslieder als Quellen für Herders Anschau- 
ungen über die Slaven nicht in Betracht kommen, da er nur wenige slavische 
Lieder kannte. 

In dem „Slavenkapitel der Ideen“ gibt H. eine vollständig andere Charakee- 
risierung der Slaven, die unmittelbar nach der oben genannten Lobpreisung des 
friedfertigen slavischen Volkscharakters steht. Die friedliebenden Slaven wurden 
von anderen Nationen, besonders von deutschen Stämmen, hart bedrückt. 
Durch diese Unterjochung ist der weiche Charakter der Slaven zur arglistigen, 
grausamen Knechtsherrschaft herabgesunken. Allerdings sei in den Ländern, wo 
sie noch einige Freiheit genießen, ihr altes Gepräge noch erkennbar. Er hofft, 


468 


daß die Slaven ihre Sklavenketten abwerfen und vom Adriatischen Meere bis zum 
Karpathischen Gebirge, vom Don bis zur Mulde herrschen werden. 

B. betont, daß Herder seine Lehre von dem Wesen der Slaven nicht aus dem 
Einfühlen in das slavische Volkstum geschöpft hat, sondern daß sein Rigaer Er- 
leben der slavischen Welt in der Weimarer Zeit unter vollständig veränderten 
geschichtsphilosophischen Voraussetzungen gebildet wurde. Die Weimarer Ge- 
schichtsphilosophie weist den Slaven eine neue Aufgabe, und damit ein neues Leben 
zu: Sie sollten Vegbereiter und Träger der Humanität werden, und damit sie die 
neue, ihrer harrende Aufgabe erfüllen können, muß ihr Volkscharakter ins shia ed 
liche und Friedliebende umgedeutet werden. Um Förderin der Humanität u 
werden, müssen sie selbst wahre Humanität in sich tragen. Das heißt also: Herder 
hat seine Anschauungen über den Charakter der Slaven nicht durch wissenschaft- 
liches Studium oder Selbstbeobachtungen gewonnen, sondern nach vorgefaßten ge- 
schichtsphilosophischen Ideen gebildet. Es versteht sich von selbst, daß solche Kon- 
struktionen wertlos sind. Von vornherein befremdet es auch, daß Herder immer 
nur von dem Volkscharakter der Slaven im allgemeinen spricht, ohne die ein- 
zelnen slavischen Völkerstämme zu trennen. Er scheint eben gar nicht zu wissen, 
daß z. B. Russen und Polen ganz verschiedene Stammeseigentümlichkeiten haben. 
Den Höhepunkt seiner Unwissenheit erreicht er wohl damit, daß er Huß, diesen 
Vorkämpfer der čechischen Nationalität, für einen Deutschen hält. 

B. macht es auch wahrscheinlich, daß H. den Comenius und dessen Werke bis 
in die Weimarer Zeit nicht näher gekannt hat. Er har ıhn wahrscheinlich nur 
durch Vermittlung von Leibniz gekannt. Erst nach dem Erscheinen des zweiten 
Bandes von I. G. Müllers: Bekenntnisse merkwürdiger Männer ist er tiefer in 
das Leben und die Werke des Comenius eingedrungen. Aber eine Beeinflussung 
des Comenius auf die letzte Formulierung der Herderschen Geschichtsphilosophie 
ist aus rein äußeren Gründen unmöglich. Das Humanitätsideal Herders ist ein 
ganz anderes als das des Comenius. 

Im Anhang gibt B. einen vollständigen Abdruck des Lobgesanges auf Peter 
den Großen in beiden Fassungen und ein Faksimile der Lichtbilder der Herderschen 
Handschrift. 

Da H. die deutsche Auffassung über die Slaven nachhaltig beeinflußt hat, 
hat Bittners Arbeit auch großen Gegenwartswert. Meines Erachtens hätte aber 
B. die ganz unwissenschaftliche Arbeitsweise Herders schärfer herausheben sollen. 
Hoffentlich wird B. seine Arbeiten auf dem im Vorwort bezeichneten Wege weiter 
fortsetzen. 

Breslau. Felix Haase. 


Ein neues Sammelwerk zur bulgarischen Literatur- und Kultur- 
geschichte: „Bulgarische Schriftsteller: Leben — Schaffen — 
Ideen“ (Bigarski pisateli. Zivot-Avorlestvo-idei. Iljustrovana 
literarno- istorièeska biblioteka. Pod redakcijatu na prof. 


M. Arnaudov. Knigoizdatelstvo Fakel, Sofija). 

Eine vollständige, methodische Geschichte der neubulgarischen Literatur ist 
noch nicht geschrieben. Die bisher gemachten Versuche haben mehr oder minder 
den Charakter von praktischen Hilfsbüchern für Schul- und Unterrichtszwecke. 
Unter diesen Versuchen kam dem Ziele einer systematischen Literaturgeschichte 
noch am nächsten B. Angelov mit seiner zweibändigen Blgarska lite- 
ratura, Sofija 1922, 1924, der den — gerade für das Verständnis der bulgari- 
schen literarisch-geistigen Entwicklung mehr als anderswo EA — kultur- und 
nationalgeschichtlichen Hintergrund der Literatur wie auch den geistigen Gehalt 
der literarischen Werke in den wesentlichen Zügen wenigstens herausarbeitete. 
Immerhin fehlt noch eine geschichtliche Darstellung, die unter kritischer Ver- 
wertung aller Vorarbeiten systematisch von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus 
den Fortschritt, die Entwicklung der Ideen, der Formen, des Stils, die literarischen 
Talente und Temperamente ihrer Besonderheit nach, den Einfluß des Milieus und 
der historischen Bedingungen, zu einem Gesamtbilde gestalten würde. Die 
Schuld an diesem Mangel liegt an äußeren Umständen. Bedenkt man, daß die 
Bulgaren erst seit einem halben Jahrhundert die Möglichkeiten und Grundlagen 


469 


für selbständige, wissenschaftliche Betätigung haben, und übersieht man das bisher 
Geleistete, so muß man sagen, daß es alle Anerkennung und Hochachtung ver- 
dient, daß das Notwendigste und Möglichste getan wurde. — Da unter den 
gegebenen Umständen eine Gesamtdarstellung auch heute noch für einen einzelnen 
eine sehr schwer lösbare Aufgabe darstellt, entschloß man sich durch Zusammen- 
arbeit der führenden und sachverständigsten Literarhistoriker, Kritiker und 
Pädagogen in der Form einer literarhistorischen Bibliothek ein Sammelwerk 
5 das für die Kenntnis der literarisch- geistigen Entwicklung wie auch 
fiir eine künftige systematische Gesamtdarstellung eine feste Grundlage bilden soll. 
Die Bibliothek Bl garski 55 ist auf 6 Bande berechnet, die insgesamt 
40 Monographien über die führenden bulgarischen Schriftsteller, angefangen von 
Paisij bis zu den modernen Dichtern Javorov, Elin Pelin, K. Christov, enthalten. 
Der Inhalt des I. Bandes, der mir bisher vorliegt — nach gelegentlichen münd- 
lichen Mitteilungen St. Mladenovs und Jocovs sollen inzwischen auch schon weitere 
8 Bande erschienen sein — zeigt, daß die Versprechungen der Redaktion zufrieden- 
stellend eingehalten worden sind, daß wir mit dieser Bibliothek tatsächlich eine 
modernen Anforderungen entsprechende Grundlage zur Kenntnis der neu- 
bulgarischen Literatur- und Geistesgeschichte bekommen haben. Tom I (Sofija 
1929, 214 Seiten) enthält folgende Monographien: Paisij, dargestellt von N. Fili- 

ov, Sofronij Vradanskı von T. Atanasov, Petr Beron von I. N. Iv. 

ankov, Neofit Rilski von St. Cilingirov, Neofit Hilendarski Bozveli 
von V. Pundev, Vasil Aprilov von M. Arnaudov, Konstantin Fotinov 
von G. Konstantinov, Ivan Bogorov von St. Mladenov. jede 
Monographie gibt zunächst eine Lebensbeschreibung und eine Darstellung des 
literarischen und kulturellen Schaffens, ferner eine Charakteristik des Ideen tes 
und — allerdings leider nicht durchgängig — des Stiles, schließlich eine Würdigung 
der allgemeinen Bedeutung. Bibliographische Daten, Bilder der Persönlichkeiten 
wie auch historisch wichtiger Orte, sowie Schriftproben (Autographe) sind bei- 
gegeben. 

Graz. J. Matl. 


Akad. D. I. Javornyékyj: Dniprovi porohy. (Die Dnipro- 
schwellen.) Ein Photographien-Album nebst einer geographisch- 
historischen Abhandlung. — Ukrainischer Staatsverlag 1928. 
S. 75. 86 Abbildungen. 


Ein derartiges Buch ist zeitgemäß; es ist schr gut dazu geeignct, die all- 
gemeine Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet zu lenken, welches infolge Ver- 
wirklichung des Dniprelstan-Kraftwerkes unter Wasser versinken soll. Es ver- 
liefen bereits 2% Jahre seit dem Beginn des Baues des Dniprelstan und bleiben 
noch 3A Jahre Zeit zur Erfüllung der kulturell-historischen Pflicht, die in der 
Erforschung dieses eigenartigen osteuropäischen Teilgebietes liegt. Auf dem Terri- 
torium der Dnipro-Schwellen wurden bereits mehrere paläontologische, geologische, 
archäologishe und historisch-archäologishe Forschungen durchgeführt, und es 
wurden bereits mehrere diesbetreffende wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. 
Allein, man kann es mit ruhigem Gewissen behaupten, daß von allen bisherigen 
diesbezüglichen Arbeiten über Dnipro-Inseln, Ufern und -Schwellen das vor- 
liegende Album und die geographisch-historische Abhandlung „Dnipro-Schwellen“ 
von deren hervorragendstem Erforscher und Kenner, Mitglied der Akademie 
D. I. Javorni¢ékyj allergrößte Bedeutung haben. 


Wiewohl die Abhandlung nicht umfangreich ist, gibt sie fast über alle be- 
deutenden, historisch bekannten Gegenden, mit 5 der Quellen, kund. 
Sie behandelt alle archäologischen Fundstätten, registriert alle bekannten Becken, 
Schwellen, Inseln, und gibt über sie erschöpfende historische Daten; ja wir finden 
hier die diesbezüglichen Volkssagen und sogar auch Sprüche der Lotsmänner, 
welche die Schwellen und ihre Gefahren gut kennen. Die wissenschaftliche Be- 
deutung der Arbeit von Javornyckyj liegt auch in der Revision aller irrtümlichen 
Benennungen, die in vielen Karten der Schwellen sowie der benachbarten Ge- 
biete zu finden sind. Einen einzigen Nachteil weist die Arbeit Javornyékyjs auf, 


470 


und zwar: es ist viel zu wenig über die Besiedlung der Dnipro-Schwellen und 
-Ufer, über diejenigen Dörfer gesagt, welche bald von den geographischen 
Karten verschwinden müssen. 

Die 88 photographischen Abbildungen im Buche bilden die wertvollste dies- 
bezügliche Sammlung überhaupt. Die Photographien sind sorgfältig ausgewählt 
und sehr gut ausgeführt. 

Die vorliegende Abhandlung wurde vom Ukrainischen Staatsverlag schr 
sorgfältig ausgestaltet und mit einem schönen Umschlag von O. Marynkiv 
versehen. 

Berlin. M. Dolny é kyj. 


M. Fil’anskyj ta J. RyZenko: Poltavityna. (Poltavaer Ge- 
biet.) — Allgem. Redaktion von M. Kryvorottenko. — Poltavaer 


Staatsmuseum 1927. S. VII + 41, Karten, Abbildungen, Tafeln. 

Dies ist neben „Natur und Bevölkerung der Slobodischen Ukraine“ und 
„Kiev und seine Umgebung“ eine dritte Arbeit, in welcher mehr weniger das ge- 
zamte zur allseitigen Erforschung eines Territoriums notwendige Material zu- 
sammengefaßt wurde. Der Natur des Poltavaer Gebietes sind in diesem Sammel- 
werke folgende Arbeiten gewidmet: Havrylenko: Geographische Skizze. M. Fil“ 
anskyj: Geologie. S. Illitevskyj: Bodenbeschaffenheit und Flora. V. Danilevskyj: 
Wasserenergie. M. Sambikin: Das Klima. P. Postavnyj: Heil- und Giftpflanzen. 
Havrylenko: Wirbeltiere. Alle diese Abhandlungen sind sehr interessant und 
wertvoll, weil sie von Fachleuten zusammengestellt sind. Es muß aber bemerkt 
werden, daß das Material in dieser Sammelschrift ungleichmäßig bearbeitet wurde, 
weil manchen Fragen, wie z. B. der Floradarstellung schr wenig Raum gewidmet 
wurde. Allein, dieses Buch ist ungemein interessant und sein Erscheinen zeigt uns 
deutlih, daß die ukrainische Landeskunde Grundlagen zur gründlichen Er- 
forschung der Ukraine aufzubauen beginnt. 

Berlin. M. Dol’nyéky)j. 


Dr. H. Drohomyreékyj: Vitry Zakarpatt a. (Die Winde in 
der Karpathenukraine.) — Lemberg 1927/8. S. 45. Sonder- 
abdruck aus der Sammelschrift der Physiogr. Kommission der 
Mathematisch - naturwissenschaftlich - medizinischen Sektion der 
reg Gesllschaft der Wissenschaft in Lemberg. 1927. 
II. Folge. 


Die vorliegende Studie ist besonders wertvoll als ein Beitrag zur Er- 
forschung der klimatischen Verhältnisse des von den Ukrainern bewohnten Ge- 
bietes an den südlichen Abhängen der Karpathen. 

Der Inhalt dieser Arbeit: Die Einleitung — eine flüchtige orographische 
und klimatische Beschreibung der Karpathenukraine. Das eigentlihe Thema: 
die Bearbeitung der Hauptfaktoren, welche die Richtung, die Kraft und den 
Charakter der Winde in der Karpathenukraine beeinflussen, und zwar die der 
absoluten Höhe, der bergigen Landschaft, der Richtung der Berge und der Täler, 
und hauptsächlich der Höhe der Gebirgspässe, durch welche im Winter die kalte 
Luft aus Osteuropa hineinströmt, und endlich die der Bewaldung des Landes. 


Alle diese Windelemente werden auf Grund der in den Jahren 1881—1910 
an 12 Stationen des Netzes des Ungarischen Meteorologischen Institutes gemachten 
Beobachtungen bearbeitet. 

Die ebnisse dieser Studie sind sehr wertvoll — und dies verleiht der 
er Arbeıt eine besondere Bedeutung nicht nur für die karpathenukrainische 

andeskunde, sondern auch für die allgemeine, theoretische Erklärung der die 
Winde modifizierenden Einflüsse der Orographie. 

Der Arbeit wurden Tafeln mittlerer beobachteter Daten und einige Zeich- 
nungen beigefügt. 

Berlin. M. Dol’nyéky} 


471 


J. Kral: Svidovec v Podkarpatské Rus, Sídla obyvatelstva. 
Hospodářské využití. (Svidovec in der Karpathorus. Die Be- 
SE Die wirtschaftliche Exploitation). — Im „Věstník 
Kral. Ceské Společnosti nauk. Třída II.“ (Mitteilungen der 
Königl. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften. II. Klasse.) 


1927. S. 124. 33 Abbildungen. i 

Der durch seine Arbeiten über die Karpathenukraine bereits bekannte Ver- 
fasser gibt hier eine Monographie über die Verchovynagruppe des Svydoveć in 
der Karpathenukraine. Diese Monographie ist ein Ergebnis zahlreicher Forschungs- 
exkursionen des Verfassers. Den Hauptinhalt bildet die Erörterung der Frage 
der Besiedlung des Svydoveé und dessen wirtschaftlicher Ausbeutung. Außerdem 
befaßt sich der Autor ausführlich mit der Frage der Hirtenwirtschaft. Kräls 
Studie zeigt, daß im Svydoveé sich bis in unsere Zeit am besten die karpathen- 
ukrainischen archaischen Formen des Hirtenlebens erhalten haben. Am wichtigsten 
ist aber der Umstand, daß die vorliegende Arbeit viel zur Lösung der Frage der 
Ostkarpathenbesiedlung und der allgemeinen Stufe der materiellen Kultur in der 
Karpathenukraine beiträgt. 

Berlin. M. Dol’nyék yj. 


Dr. J. Kral: Geografická bibliografie Podkarpatské Rusi. (Die 


grograpnischie Pip iograpmie der Karpathenrus.) — Prag 1928. 
In der Sammlung der Cechischen geographischen Arbeiten, die unter dem 
Titel „Travaux geographiques tcheques vom Geographischen Institute in Prag 
herausgegeben wird, erschien als Nr. 13 die geographische Bibliographie der 
Karpathenukraine aus den Jahren 1923—1926. 

Der Verf. bearbeitete noch i. J. 1923 die geographische Bibliographie dieses 
Landes in einem besonderen Werke, wo 1316 Titeln (Nummern) gesammelt 
wurden; die vorliegende Sammlung ist eine Vervollständigung dieser Bibliographie 
und ihre Fortsetzung, welche hauptsächlich die Jahre nach 1923 berücksichtigt. 
Sie umfaßt weitere 839 Nummern (bis Nr. 2165 einschließlich). Diese sind in 
5 verschiedene Abteilungen zergliedert, und zwar: 1. Bibliographie. 2. Allgemeine 
und spezielle Chorographie. 8. Physische Geographie. 4. Anthropogeographie 
und FHilfs wissenschaften (allgemeine anthropogeographishe Arbeiten, Ethno- 
graphie, Volkspoesie, Bräuche, Kunst, Hausgewerbe, Sprache, Volkswirtschaft, 
Schulwesen und Volksbildung, Volksgesundheit, Statistik, Geschichte und geschicht- 
liche Geographie, Kirchengeschichte und Varia). 5. Karten und Atlanten (die in 
Osterreich-Ungarn bis zum Jahre 1870 herausgegebenen und dann die in der 
Tschechoslowakei veröffentlichten). Am Schluß finden wir ein Autorenregister 
und die Erklärung der im Texte benützten Abkürzungen. 

Kräls Bibliographie erlangt eine besondere Bedeutung durch ihre Voll- 
ständigkeit. Diese Bedeutung wird sich noch steigern, wenn das Interesse für 
55 Erforschung dieses seitens der geographischen Vissenschaft vernach- 
assigten Winkels des ethnographischen ukrainischen Gebietes größer wird. 

Berlin. M. Dol’nyékyj. 


Materijaly ochorony pryrody na Ukrajini. (Materialien zum Natur- 
schutz in der Ukraine.) 1928. I. Band. — Herausgegeben von 
der Versuchsanstalt (Naturschutz- Kommission) des NK ZS. 
Charkov 1928. Redaktionskollegium: V. Averin, J. Homon, 
Prof. O. Janata. S. VIII + 185. 


In der vorliegenden Sammelschrift finden wir Arbeiten, welche entweder 
interessante Naturdenkmäler der Ukraine oder deren Naturschutzgebiete be- 
treffen. Diesmal sind es vorwiegend botanische Abhandlungen. 

In der Sammelschrift sind folgende Arbeiten veröffentlicht: 

N. Des’atov-Sostenko und F. Levin: Die botanische Erforschung der Schwarz- 
meer-Nehrungen und -Inseln Tender, Dizarylhaé, Orlovyj und Dovhyj. 

S. 1—66. 8 Karten und Phototafeln. 


472 


Der Wert dieser Abhandlung liegt darin, daß in ihr ein bis jetzt in 
botanischer Hinsicht fast unerforschtes Gebiet behandelt wird. Die Vert. haben 
ein ziemlich großes, die Flora und die Pflanzenwelt der erwähnten Nehrungen 
und Inseln betreffendes Material zusammengetragen. Im Anhang finder man cine 
Tafel der Pflanzenverteilung (nach Hauptgruppen) und ein systematisches Ver- 
zeichnis aller im erwähnten Gebiete registierten höheren Pflanzen. Außerdem 
sind der Arbeit 8 ziemlich wertvolle Karten und 7 photographische Landschafts- 
aufnahmen beigefügt. 

M. Klokiv: Ein neues Spezies der Art Polygonum auf den Schwarzmeer-Inseln: 

Polygonum arenarium spoc. con. (sect. Avicularia Meisn.). S. 78—74. 

Eine Beschreibung des Polygonum Janatae, P. arenarium s. l., und zwar 
P. pseudoarenarium. 

O. Prjaniinikov: Eine botanische Erkursion auf die Nehrung (Insel) Tender. 
$. 75—80. Mit einem schematischen botanischen Profil der Insel Tender. 

Der Verfasser gibt eine kurze, zusammenfassende Beschreibung der Pflanzen- 
welt nach den Zonen. 

V. H. Averin: Eine Exkursion auf die Insel Curjuk. S. 88—88. 

Eine Beschreibung ornithologischer Beobachtungen und Erwägungen über 
Naturschutz, zu denen dem Verf. eine Reise aus Ascania Nova nach der Insel 
Curjuk (Mai 1927) Material lieferte. 

P. Lytvynenko: Einige Daten über die Verbreitung der Marmota bobac Schreb. 

in den Steppen des Starobilsker Kreises. S. 88—98. 

Die Abhandlung ist der Verbreitung dieses in der Ukraine äußerst seltenen 
Tieres auf dem Gebiete des Starobilsker Kreises gewidmet. Beigefügt sind Pläne 
mit schematischer Darstellung der Verbreitung des Marmota ac. 

M. M. Hodlin: Die Bodenbeschaffenheit des staatlichen Sevéenko-Naturschutz- 

gebietes. S. 101—114. 

Ein Versuch der morphologischen Charakteristik des Bodens der Waldmassive 
in der Umgegend des Sevéenko-Grabhiigels. Es wird die Mannigfaltigkeit der 
Bodenarten in diesem Naturschutzgebiete erklärt. 

M. J. Kotov: Die Heiligen Berge im Artemschen Kreise. S. 115—126. 

Der Verf. gibt eine Geschichte der botanischen Erforschung der Heiligen 
Berge und einen Überblick über den heutigen Zustand dieses Gebietes. An- 
schließend sehr wertvolle Beschreibung des einzigen ukrainischen Kreide-Urwaldes. 
E. Lavrenko und A. Poreckyj: Die Pflanzenwelt des Celbaver und Ivanover 

Massivs und der Kinburger Nehrung am Unterlaufe des Dnipro. 

S. 127—177. 

Genaue Beschreibung eines Teiles des Gebietes, welches im Bereiche des sog. 
„Sandigen Naturschutzgebietes am Unterlauf des Dnipro“ liegt. Die Beschreibung 
ist systematisch, nach den Landschaften verfertigt; es wird dabei immer auch die 
Genesis der einzelnen Landschaften berücksichtigt. Beigefügt sind 2 Landschaften- 
karten und 6 Photographien. l 

Berlin. M. Dol’nyékyj. 


Pfitzner, ee Großfürst Witold von Litauen als Staatsmann. 
— Schritten der philos. Fakultät der deutschen Universität ın 
Prag. Heft 6. Brünn-Prag-Leipzig-Wien. Rud. Rohrer. 1930. 


249 S. 

Unter überaus fleißiger Benutzung der deutschen, polnischen, russischen ‚und 
Zechischen Literatur, wobei nur die Nichterwähnung von Stählins Geschichte 
Rußlands auffällig ist, unternimmt es Pf., die Persönlichkeit Witolds zu um- 

i und seine staatsmännische Leistung nach modernen Forschungsmethoden 
gewissermaßen systematisch zu ordnen und geopolish zu erläutern. 

Allerdings kann man sich schwer des Eindrucks erwehren, daß Verf. mit- 
unter aus einer rückschauenden Betrachtung der Gefahr allzu spitzfindiger Kon- 
struktion erlegen ist und seinem Helden Motive und Erwägungen unterschiebt, 
die dem primitiveren Denken des 15. Jahrh. fern lagen. Man kann auch des 
Guten zu viel tun, und es ist für einen europäischen Herrscher außerordentlich 
schwer, seinen Machtbereich zu weiten, ohne daß sich hinterher dafür eine raum- 


31 NF 6 473 


litische Interpretation finden ließe. Aber ein solcher Zusammenklang ist doch 
äufig nur Zufall und keineswegs das Bestimmende. Wie fern müssen aber selbst 
noch einem Realpolitiker wie dem Gr. Kurfürsten heutige Gedankengänge ge- 
legen haben, wenn er seinem dünn bevölkerten Staat im Schwedenkrieg die Last 
der großpolnischen Woiwodschaften aufbürdete. 

Doch dadurch wird des Verfs. dankenswerte Leistung nicht geschmälert, 
denn sie bringt zum erstenmal Witolds oft unklare und umstrittene Haltung auf 
einen einheitlichen Nenner und gruppiert ihn folgerichtig in die großen Ent- 
wickelungsreihen seiner Zeit ein. 

Aus dem einführenden Kapitel über Grundlagen und Werden des litauischen 
Staates ist das Bekenntnis Pf.s bemerkenswert, er alle Versuche, den Slaven, 
besonders denen des Westens, vor dem Ende des 12. Jahrh. eine besonders hohe 
Kultur, bedeutendes Handelsleben usw. zuzuschreiben, für abwegig hält. Damit 
wird der unter dem Eindruck des Jegorovschen Buches wieder belebten gegen- 
teiligen Ansicht gebremst. 

Für den jungen, durch Mendog geeinten und auf dem Stromgebier der 
Memel basierenden litauischen Staat war die Trennung in Kerngebiet und Neben- 
länder Schicksalbestimmend. Diesem zugleich ethnischen und später sich zum 
kirchlichen erweiternden Dualismus wurde unter Witolds Vater und Oheim durch 
eine Doppelherrschaft Rechnung getragen. Aber während Olgierds Osthälfte ın- 
folge eines westlich-östlichen Kraftgefälles gegen Rußland gedrängt wurde und den 
trennenden Waldgürtel durch die Form föderativer Staatsbildung überwand, so 
daß vor Witolds dann auch das Problem der Steppe auftauchte, mußte sich dessen 
Vater Kiejstut als Beherrscher der Westhälfte vor allem mit der Ordensfrage 
befassen, in die sein Sohn somit von Jugend auf hineinwuchs. Dadurch kam er 
zugleich in eine religiös zwiespältige, wenn nicht gar indifferente Atmosphäre, 
lernte Toleranz als politische Notwendigkeit kennen und betrachtete, wie sein 
mehrfacher Glaubens wechsel dartut, die Christianisierung nur als Handhabe staat- 
lichen Machtstrebens. Das führte ihn in Gegensatz zu dem streng heidnischen 
Vater und ließ ihn nach Olgierds Tod im Kampf Kiejstuts mit dessen Sohn 
Jagiello eine zweifelhafte Rolle spielen, ohne er dadurch sein Erbteil zo 
retten vermochte. Nach Kiejstuts Tod mußte er vielmehr zum Hochmeister 
fliehen, konnte hier des Ordens skrupellose Politik durchschauen und eignete 
sie sich an. Von beiden Parteien umworben und beide gegeneinander ausspielend, 
fiel er der mehr bietenden, nämlich Jagiello, zu und erlangte die teilweise Wieder- 
einsetzung in sein Fürstentum. Die polnisch - litauische Union entriickte zwar 
Jagiello der östlichen Politik, brachte Witold, der durch Heirat seiner Tochter 
Sophia mit dem Moskauer Großfürsten zu einer offensichtlichen Gefahr für die 
Olgierdovite geworden war, in Konflikt mit seinem Vetter Skirgiello und nötigte 
ihn nach einem mißglückten Handstreich auf Wilna zu abermaliger Flucht zum 
Orden, wo er infolge von Jagiellos Heirat mit Hedwig von Polen bereitwillig 
Unterstützung fand. Dank seiner Beziehungen zu Moskau und der Unbeliebtheit 
des orthodoxen Skirgiello im litauischen Kernland erreichte er dann raschen 
militärischen Erfolgen als 42 jähriger 1892 im Vertrag zu Ostrow die Herausgabe 
des ungeschmälerten Vatererbes. 

Von dem verhältnismäßig dicht bevölkerten und dem Westen am nächsten 
stehenden Kernland aus ging er kraftvoll an dessen organische Ausbildung, den 
noch fehlenden Verwaltungsapparat vorläufig durch unaufhörliches Herumreisen 
und persönliches Eingreifen ersetzend. Sein Bestreben war vor allem auf Be- 
seitigung der Teilfürstentümer und ihre Ablösung durch Statthaltereien ge- 
richtet, wobei er sich auf den in seinen Dienstgütern seßhaft gemachten Klein- 
adel stützte. 

Im Mittelpunkt seiner Außenpolitik stand das Verhältnis zu 
Polen, dem ohne sein Zutun Litauen-Rußland unter Erhaltung seiner Einheit 
als sonderstaatliches Gebilde, als Nebenland der Corona regni Polonise, 1886 ein- 
gegliedert war. Hier war Witolds Ziel die Zerreißung dieser 
Krewsker Union. Jagiełło scheint bei seiner damaligen Kinderlosigkeit ins- 
geheim diese Bestrebungen gefördert zu haben, um sich für alle Fälle Litauen 
zu sichern. Unter dem Ee Litauen den Litauern, rif Witold seine 
Bojaren mit und wurde von ihnen zum König ausgerufen. In dieser schwersten 


474 


Krisis der Unionspolitik brachten die Polen aber durch Gewährung der Groß- 
fiirstenwiirde auf Lebenszeit Witolds Krönungsplan zum Scheitern, zumal nach 
ns Tod Jagiellos Rückkehr drohte, Witolds mit der Niederlage an der 
Worskla unglücklich endender Kreuzzung gegen die Tataren bevorstand und die 
Gegenwirkung seines mit Podolien als polnischem Kronlehn, nicht als Teil Litauens, 
ausgestatteten Vetters Swidrigiello zur Vorsicht mahnte. Witolds Bemühung war 
indessen auch in der Folgezeit auf Abänderung des Wilna-Radomsker Vertrages 
5 und erreichte durch die Union von Horodlo die Verewigung der eigenen 
itauischen Großfürsten würde über die Lebensdauer ihres Inhabers hinaus. Die 
Vereinigung mit dem Nachbarstaat var mithin für Withold nur ein politisches 
Instrument ohne gefühlsmäßige Bindung. 

. Stellung gegenüber dem Deutschen Orden 
wurde Wesentlich beherrscht durch den Kampf um das strittige Sa maiten, die 
Landbrücke von Preußen nach Kurland, den Pf. als einen solchen zwischen dem 
historischen und dem Naturrecht charakterisiert. In dieser Form wurde er auf 
dem Konstanzer Konzil zwischen Polens Anwalt, dem Krakauer Universitätsrektor 
Wiodkiewicz, und dem Dominikaner Joh. Falkenberg als Ordensverteidiger aus- 
gefochten. Dabei wurde das geschichtliche Recht mit der Christianisierung 
Litauens gelähmt, also die Position der Hochmeister in steigendem Maße ge- 
schwächt. Während sich Vithold anfänglich nachgiebig zeigte, um im Osten 
freie Hand zu erlangen (Vertrag von Salinwerder 1898), warf der Thorner Friede 
ihm und Jagiełło den lebenslänglichen . Besitz Samaitens in den Schoß. Sofort 
begann Witold der Meeresküste zuzustreben und Ansprüche auf den Unterlauf 
der Memel geltend zu machen. Der Friede am Melnosee 1422 schob diesen Be- 
strebungen zwar einen Pie vor, brachte aber Samaiten mit Polangen für immer 
in litauischen Besitz, so daß füglich bezweifelt werden muß, ob diese Lösung wirk- 
lich alle Beteiligten befriedigt hat (S. 166). 

In dem Abschnitt über Witolds Fernpolitik werden die russische, 
tatarische und böhmische Frage behandelt. Im Südosten steht die Gewinnung des 
Zugangs zum Schwarzen Meer im Vordergrund. Trotz der Niederlage an der 
Worskla waren auch hier dem Beherrscher Litauens bedeutsame Erfolge vergönnt, 
allerdings erst gegen sein Lebensende, so daß sie nicht auszureifen vermochten. 
Das Bild eines Allrußland stand ihm klar vor Augen. Durch Kolonisation und 
Belebung des Handels bezwang er die Steppe, während eine Reihe von Festungs- 
anlagen die eroberten Gebiete sichern sole Nur gegen Pskow erlitt er eine 
Niederlage, während sich Moskau nach Vasilijs Tod seiner Vormundsdmfc unter- 
warf und sein Siegeszug 1427 ihn bis weit östlich Smolensk führte. Stets suchte 
er aber auch enge Anlehnung an das Abendland. Aus Rache für Siegmunds 
dem Orden günstigen Breslauer Spruch von 1420 ist der Einmischungsversuch 
in die Hussitenwirren zu erklären, doch die für einen christlichen Fürsten un- 
annehmbaren Bedingungen der Ketzer, die is hla ol des Papstes und andere 
Verwickelungen bewogen Witold zum Einlenken (Friede mit dem römischen 
König zu Kesmark 1428), so daß die mit der böhmischen Thronkandidatur 
en Neffen Siegmund Korybut gipfelnde Angelegenheit nur episodenhaften An- 
strich trug. 

Bei derartig weitschauenden Plänen war es nur folgerichtig, wenn der 
Großfürst auch nach der kirchlichen Selbständigkeit seiner ver- 
schiedenen Reichsteile, auch Polen gegenüber, hinzielte (Versuch zur Gründung 
einer erzbischöflichen Metropolitankirche unter Gregor Camblak), jedoch ohne 
seinen Willen in den Hauptpunkten. durchsetzen zu können. 

Gegenüber den universalen Mächten der Zeit mußte Witold bei 
der Doppelnatur seines Landes unaufhörlich zwischen West und Ost vermitteln 
mit der litauischen Staatsidee als Leitstern, was sich unter anderem durch die 
Duldsamkeit seiner amtlichen Sprachenpraxis dokumentiert. Andererseits war 
Siegmund die Erneuerung des Weltkaisertums Herzenssahe und wies ihn auf 
Polen-Litauen an. Das führte ihn als ersten römischen König 1429 auf russi- 
schen Boden, zu dem Kongreß von Luck. Hier stand noch einmal durch die 
Frage der Erhebung Litauens zum Königreih und Witolds Krönung die Union 
mit Polen auf dem Spiel. Allen Widerständen zum Trotz beharrte Witold auf 
seinem Willen. 1430 schien er am Ziel. Da raffte der Tod den 80 jährigen 


475 


Greis dahin. Das war die tiefste Tragik seines Lebens, das Pf. uns als Menschen- 
werk aus einem Guß und von einheitlichem Willen geleitet in seinen drama- 
tischen Wechselfällen vor Augen führt. 

Breslau. M. Lauber. 


Wagner, Artur: Handel dawnego Jaroslawia. (Der Handel des 
alten Jaroslau.) — Sonderabdruck aus „Prace historyczne“, 


hrsg. v. akadem. Verband d. Historiker. Lemberg 1929. 

Der Verf., Schüler und Assistent des 1980 verstorb. Prof. J. Pragnik, gibt 
einen Ausschnitt aus einer größeren Geschichte von Jaroslau. Die Stadt hatte 
bei ihrer Lage an der Kreuzung wichtiger Handelswege zeitweise hervorragende 
wirtschaftliche Bedeutung. Die Verleihungszeit des deutschen Stadtrechts an den 
schon lange bestehenden, erst kgl., seit 1387 in Privatbesitz befindlichen Ort steht 
nicht fest. Die später berühmten, dreimaligen Jahrmärkte sind seit 1416 bezeugt, 
Kaufleute der verschiedensten Länder handelten dort besonders mit Tuch, Seide, 
Leinen, Metall- und Goldschmiedearbeiten, morgenlindischen Waren, Getreide 
und vor allem mit den zumeist nach Deutschland gehenden Ochsen. Den Haupt- 
anteil hatten ee Polen und Deutsche, weiter Ruthenen und Armenier. Das 
judicium nundinale aus Richter und bedellus arbeitete nach Magdeburger Recht. 
Meist handelte es sich um Schuldsachen. Die Stadt mußte infolge feindlicher Ein- 
fälle (um 1500 mehrfach Tataren, später Türken, Walachen, Ungarn, Kosaken, 
Schweden) und großer Feuersbrünste (1600, 1624, 1625) schwere Krisen durd- 
machen, die schließlich ihre Blüte knickten, so daß künstliche Hilfsmittel nicht 
mehr fruchteten. Man sieht also die typische Entwickelung der Städte ın Polen- 
Litauen auch hier. 

Hoffentlich erscheint bald die vollständige, auf Aktenresten, polnischen und 
. Veröffentlichungen aufgebaute, anfangs erwähnte große Arbeit 
es Verf. 

Posen. A. Latter mann. 


476 


V 
ZEITSCHRIFTENSCHAU 


Bulgarien und Jugoslavien 


Umberto Urbani: Ivan Cankar. — Rivista di letterature slave. 

Anno 1, 1 (1929), S. 40—47. 

U. charakterisiert Cankar als den von seiner eigenen Nation unverstandenen 
und verfolgten Satyriker, der, indem er ihr Leben der Gegenwart in schonungs- 
loser Weise geißelte, ein noch in der Ferne liegendes Ideal aufstellen wollte. Er ` 
hat sich selbst, entgegen den Beschuldigungen ie Kritiker, daß er Pessimist sei, 
als Optimist von Kopf bis Fuß bezeichnet. Daß seine Helden vorzugsweise im 
Vagabundentum oder im Gefängnis enden, hat seinen Grund in ihrer Abkehr von 
einer korrupten Gesellschaft, es ist deshalb zu begreifen, daß der Dichter ein 
Gefühl der Brüderlichkeit für sie übrig hat. Sehr zum Verständnis des Dichters 
trägt sein letztes Buch (nur mit dem übersetzten Titel „Le immagini dei sogni“ 
genannt) bei, es ist kein gewöhnliches Kriegsbuch, sondern ein Buch, in dem 
Cankar zum Dichter einer neuen Menschheit wird, die durch das Blutbad neu 
getauft und an den Quellen einer transcendentalen Wahrheit gereinigt, nichts mehr 
von den menschlichen Karrikaturen der früheren Werke Cankars aufweist. 

Emmy Haertel. 


Stjepko Ilijié: Ivo Vojnović. — Rivista di letterature slave. 
Anno 4, 6 (1929). S. 476—477. 


In dem Nachruf für den im August d J. verstorbenen Dichter ist eine kurze 
Übersicht über sein literarisches Schaffen gegeben. Emmy Haertel. 


Arsen Wenzelides: Il romanziere croato August Šenoa. — 


Rivista di letterature slave. Anno 4, 1 (1929), S. 29—39. 

W. schildert die Epoche, in welche die Jugend Senoas fällt und die Art, wie 
sie auf ihn gewirkt. Seine antideutsche Einstellung hat schon in der Schülerzeit 
begonnen. Einer kurzen Biographie Senoas folgen Bemerkungen über die Ver- 
breitung seiner Werke in anderen Ländern und über die Dramatisierungen seiner 
Dichtungen. V. erwähnt die Literatur über Š. und streift kurz die Frage nach der 
Affinität Senoas zu Scott und Manzoni. Emmy Haertel. 


K. Paul: P. J. Safatik a Vuk Stefanović Karadžić. — Slavia 8, 3 


(1929). S. 551—584. 

In Stojanović’ „Život i rad Vuka Stef. Karadžića“ (Belgr. 1924), welches 
die Beziehungen zu Kopitar sehr ausführlich behandelt, ist auf das Verhältnis 
Safatiks zu Vuk nicht in dem Maße Beziehung genommen worden, wie es ihr 
Freundschafts verhältnis verdient. Saf. hatte schon während seiner Studien in 
Kesmark durch einen Aufsatz von Hanka von V. erfahren, persönlich lernte er 
ihn erst 1820 kenen. Auch Kopitar befreundete sich mit beiden, die diver- 
gierenden Anschauungen über den Ursprung der kirchenslavischen Sprache blieben 
aber nicht „ohne Rückwirkung. Auch die Beziehungen zu Kollar werden er- 
wähnt. Saf. hatte die „Danica“ sehr begrüßt und aus ihr Material für seine 
topographischen Arbeiten entnommen, er wandte sich auch in der Angelegenheit 


477 


seiner Evangelieniibersetzung an Vuk. Über Vuks Interesse für Safariks slav. 
Sprach- und Literaturforschung hat schon Bandtke gehandelt. V. freute sich, 
daß Saf. die Slavonen, Bosnier und Dalmatiner Serben nennt, und daß er sich 
für Vuks Streben nach einer neuen Literatursprache interessierte. Er unter- 
stützce deshalb Saf. durch Verbreitung seiner Abhandlung über Surowieckis 
Schrift über die Abkunft der Slaven, war hilfreich bei seinen geographi 
Balkanstudien und bei der geplanten Veröffentlichung altserb. Denkmäler, be- 
schaffte ihm die erforderlichen Handschriften zur „Sammlung Serbischer Sprache 
und Literatur“ und hat auch zur Neuausgabe der Slavischen Altertümer hilfreich 
beigetragen. Aber auch Saf. half Vuk bei seinen Arbeiten zur Drucklegung 
kyrillischer Schriften für Armenien, er nannte ihm die montenegrinischen Drucke 
des 15. Jhs. als die besten, sogar um die Matritze bei dem Stecher Lerche war 
er besorgt. Saf. wies auch in seiner „Promluvenf k Slovákům“ auf Vuks Lieder- 
sammlungen hin und auf ihre homerische Schönheit. Auch beim Erscheinen des 
4. Bandes von Vuks Liedern äußerte er sich wieder über den Wert solcher 
Sammlungen zur Erforschung des Volkstums. Auch auf Vuks Arbeiten selbst 
machte er durch Veröffentlichung eines Briefes von ihm in CCM 1888 aufmerk- 
sam, den P. hier zitiert. In demselben Band der CCM hat Saf. in dem biblio- 
raphischen Überblick über slav. Volksliedersammlungen Vuks Verdienste 
ervorgehoben. Er sah es aber nicht gern, daß Vuk unter der Beschäftigung 
mit den Volksliedern die Neuausgabe seines Wörterbuches und der serb Gram- 
matik vernachlässigte. Safariks Interesse an Vuks Bemühungen um die neue 
serb. Orthographie und den darum entbrannten Streit wird durch 5 
verdeutlicht. p hat eine radikale orthographishe Reform anscheinend 

für unbedingt nötig gehalten, Briefe von ihm in diesem Sinne sind mehrfach 
mißverstanden worden. Verf. zitiert den Briefwechsel mit Vuk über einzelne 


Fragen, hier die schriftliche Fixierung des h. Auch über Vuks Reorganisation 


der Schriftsprache hatte Saf. sich zustimmend geäußert in seinem Lob der Schön- 
heiten des Serbischen (Gesch. der slav. Spr. u. Lit.), ohne auf den innerserb. Streit 
einzugehen. Er war ein Gegner der im serb. Gottesdienst traditionell erhaltenen 
bulgar. Texte und hat sih im Vorwort zur Novějšá literatura illyrských 
Slovanů über den Mischdialekt tadelnd ausgesprochen und diese Gelegenheit be- 
nützt, um ganz für Vuks Sprachreformen einzutreten und deren Gegner 
anzugreifen. Verf. zitiert den ganzen Text und die Polemik, die er hervor- 
eruten. Die Bedeutung der serb. Volkssprache ist in den „Serbischen Lese- 
örnern“ eingehend behandelt; shon Vuk selbst hatte davon in seinem Wörter- 
buch v. J, 1818 gesprochen. Šaf., in der Erkenntnis, daß eigentliche Quellen der 
altslav. Volksprachen kaum vor dem 10. Jh. vorhanden sind, forderte zu Be- 
achtung slav. Worte in griech. und lat. Schriften, Chroniken usw. auf. Verf. 
eht auf die grammatikalische Untersuchung solcher alten Wortformen durch 
Back ein. Er hatte richtig erkannt, daß das Serbische bereits zu Kyrills und 
Methods Zeiten alle Kennzeichen einer selbständigen Sprache besaß, in Einzel- 
heiten sind seine Schlüsse anfechtbar. Safariks Verdienste sind von Pavlović und 
Subotić gewürdigt worden. Auch in Rußland erregten die „Serb. Lesekörner” 
großes Interesse, sie wurden vom Fürsten Gagarin ins Russ. übersetzt. Daß Saf. 
in der kirchenslav. Frage richtiger geurteilt hat als Kopitar, ist heute von Jagić 
zugegeben. Er hat, als Nachfolger Grimms und nach dem vergleichenden System 
Dobrovskys und Bopps arbeitend, auf der Höhe seiner Zeit gestanden. D: 
ist er selbst sich seiner Unvollkommenheiten bewußt gewesen. Verf. erwähnt 
noch die näheren Umstände von Safariks Anerkennung der Arbeit des Suborié 
bei der von der Srbska Matice ausgeschriebenen Preisaufgabe für eine serbische 
Grammatik v. J. 1844. Schließlich wird noch erwähnt, daß Saf. hinsichtlich des 


bulgar. Schriftwesens und der Zugehörigkeit mancher serb. Distrikte zum : 
Volkstum sich im Gegensatz zu Vuk befand. Emmy Haerte 


A. V. Solov’ev: Neizdannye spiski zakanodatel’stva „Carja 
Dušana“. — Slavia 8, 3 (1929). S. 597—604. 


Der Zakonnik des Caren Dušan gehört zu den interessantesten Rechtsdenk- 
mälern der Südslaven, er entstand 1349 in einer Blütezeit des serb. Staates. 


478 


— D — — U — — — äwͤ2w + 


Seine Untersuchung ist aber schwierig, weil das Original nicht erhalten geblieben 
ist und die erhaltenen Abschriften voneinander sehr abweichend sind. Durch 
T. D. Florinskij und Stojan Novakovié sind 20 Abschriften untersucht worden, 
von denen eine vom Ende des 14. . stammt, andere aus dem 15., 16. und 
17. Das ist das Material, aus dem das Original des Zakonnik erschlossen 
werden soll. Texte aus dem 18. Jh. (auch solche gibt es unter den 20 Kopien) 
stellen eine neue Redaktion dar. So können neuaufgefundene Texte wertvolle 
Aufschlüsse geben. Es ist S. gelungen, drei weitere Niederschriften des Zakonnik 
aufzufinden, die er hier bespricht: den „Chilandarskij Spisok“, „Baran’skij 
Spisok“ und „Grbal’skij Sbornik“. Der Vollständigkeit wegen nennt und be- 
spriht er hier noch einen vierten Text „Studenickij Sbornik“, der sich auf 
jugoslavischem Gebiet befindet und wissenschaftlichen Untersuchungen wenig zu- 
gänglich ist. Emmy Haertel. 


V. Burian: Po stopách češství a české knihy v starším slovinském 
pisemnictvi. — Slavia 8, 1—3 (1929). S. 54—75, 248—270, 
449—482. 

Aus den vorübergehenden Berührungen, die bis zur Wende des 1. und 

2. Jahrtausends die Slovenen mit Cechen und Slovaken gehabt haben, läßt sich 

auf eine Beeinflussung in sprachlicher und kultureller Hinsicht kaum schließen, 

auch aus den Freisinger Denkmälern ist eine Spur čech. Einflusses nicht zu er- 
sehen. Im dritten Viertel des 18. Jhs. befand sich das slovenische Gebiet in- 
mitten der österreichischen Länder unter Otokar II., der die Leitung ihrer An- 

egenheiten seinem čech. Standesherren überließ, aber seine Regierung war 
urz, zu einem kulturellen oder nationalen Einfluß kam es damals nicht zwischen 

Cechen und Slovenen, ebenso wird man unter Karl IV. nicht nationale An- 

sätze einer dechisch-slovenischen Kulturgemeinschaft vermuten dürfen. Erst im 

15. Jh. kam es zu bezeugten literarischen Berührungen zwischen Cechen und 

Slovenen, wie die H: vom Zisterzienser-Kloster in Stiški in Krain beweist, 

einem Kodex von 3 Bänden, von denen der 1. und 8. sichtlich čech. Herkunft ist. 

Aus dem Inhalt ist zu ersehen, daß čech. Zisterzienser, die vor den Hussiten 

hatten fliehen müssen, bei ihren Ordensbrüdern in Stilki Aufnahme fanden. 

Verf. untersucht die Zusammenhänge der verschiedenen Autorschaften, der von 

ihm mit B. bezeichnete Zisterzienser muß, nach den von ihm stammenden Auf- 

zeichnungen, ein guter Kenner der antihussitischen Bewegung gewesen sein. Viel- 
leicht hat er seinen antihussitischen Traktat schon in der Heimat angefangen und 
das Ms. mit fortgenommen. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß als Vor- 
lage der ,,Kladivo kacifu“ des Stepan z Dolan nutzt wurde. Auch eine 
andere, aus Stiški stammende und in Laibach verwahrte Hs. (lateinische Predigten 
für das ganze Jahr) beweist, daß die tech. Flüchtlinge die erforderliche Literatur 
mit sich brachten. Auch ein čech. Weihnachtslied „Buoh všemohúcí“, der Ortho- 
graphie nach aus vorhussitischer Zeit, wird genannt. Aus einer schr fragmen- 
tarısch erhaltenen sloven. Dichtung, deren Inhalt kaum zu erraten ist, wird man 
auf die literarische Tätigkeit der čech. Ordensbrüder schließen können. Grafenauer 
hat ein Volkslied darin vermutet, richtiger wird Radics auf ein Lied zu Ehren 
der Jungfrau Maria hingewiesen haben. Die Sprache des Denkmals ist slovenisch, 
aber hinsichtlich der Orthographie kann man Spuren erkennen. Man wird 
zwischen den čech. und sloven. Ordensbrüdern eine gemeinsame geistige Atmo- 
sphäre vermuten dürfen, die sich in der literarischen Tätigkeit der čech. Flücht- 
linge auswirkte. Sie waren ja auch ‚gezwungen, für ihre Amtsaufgaben zu sorgen 
durch Aneignung der sloven. liturgischen Formeln, für die anscheinend keine 
schriftlichen Vorlagen bestanden, und bei ihrer Niederschrift bedienten sie sich 
der čech. Graphik. Vielleicht haben sie dadurch ihren sloven. Brüdern die An- 
regung zur eigenen Initiative gegeben. Jedenfalls haben sie das Verdienst, 
hundert Jahre vor Trubar in der Niederschrift der sloven. Gebete dem sloven. 

Schriftwesen geeignete Denkmäler hinterlassen zu haben. Sie werden auch als 

erste unter den Slovenen die antihussitische Bewegung verursacht haben, denn 

die hussitischen Ideen waren im Vordringen begriffen. Andererseits wurde durch 
den geistigen Kontakt zwischen Cechen, und Slovenen auch das čech. Hussiten- 


479 


tum neu belebt. Daß čech. Agitatoren unter den Slovenen jenseits der Mur 
tätig waren, geht aus einer Klage des Wiener Professors Jan Siwart (Sybart) an 
den Bischof von Agram v. J. 1418 hervor. Auf den Salzburger Synoden 
v. J. 1418 und 1420 wurde auch über die Ausbreitung der Hussiten unter den 
Slovenen geklagt. — In der sloven. Literatur finden sich zwar keine direkten 
Spuren der hussitischen Lehre, aber es sind solche für antihussitische Meinungen 
vorhanden. So bei dem slovenischen, in lateinischer Sprache dichtenden Nicolaus 
Petschacher, dessen Fabeln gegen den Utraquisten Ruckenzan polemisieren. Auch 
in der mündlichen Literatur der Slovenen haben sich antihussitische Spuren 
erhalten, in dem Volkslied von Pegam und Lamberg. Pegam ist die Verkörpe- 
rung des fremden, ungläubigen Elementes, Lamberg das des heimischen Bauern- 
standes. Dieses Lied, das aus der 2. Hälfte des 15. Jhs. stammt, aber erst um 
die Wende des 15. zum 16. Jh. seine endgültige Fassung erhielt, hat sich im 
sloven. Volk bis in die neueste Zeit lebendig erhalten. Verf. nennt die ver- 
schiedenen Veröffentlichungen des Textes. 


II. Reformation, Gegenreformation und die Periode des katholischen 
Schriftcums. 


Erst das 16. Jh. brachte den Slovenen einen großen geistigen Umschwung. 
Bei ihrer Nachbarschaft mit den Deutschen erlagen sie natürlicherweise den auf- 
rüttelnden Zeitereignissen, die in der Reformationszeit von ersteren ausgingen. 
Ihre reformatorische Literatur entstand auch nach deutschen Mustern. Dan 
ging ein starker čech. Einfluß auf sie aus, teils direkt durch die čech. Refor- 
mation und humanistische Bewegung, und indirckt auf dem Wege über den 
deutschen Buchdruck. Literarische Belege für die Berührungen zwischen Cechen 
und Slovenen sind aber nur in geringem Umfang erhalten. 


Primož Trubar druckte in Deutschland sein Abecedarium a Catechismus 
(Tübingen 1550) nach dem Vorbilde Luthers, der seinerzeit dem der Böhmischen 
Brüder gefolgt war, d. h. indem er sich zuerst an die Kinder und das einfache 
Volk wandte. Hier ist also auch Cech. Einfluß zu sehen. Auch in Trubars 
Evangelienübersetzung sind die Spuren der čech. Übersetzung unverkennbar. 
Bei seinen Beziehungen in Nürnberg und Wittenberg konnte Tr. leicht zu 
čech. evangelischen Büchern gelangen, um so mehr als ihm durch P. P. Vergerius 
Anregung und Hilfe zuteil wurde. Dieser war ein Freund des čeh. Humanisten 
Gelenius, der auch in der čech. Sprache einen Brunnen der übrigen slavischen 
Sprachen sah. Die Ubersetzungstechnik Trubars im Vergleich zu Luther und 
der Vulgata, bei der Anwendung von Fremdworten und Erfindung neuer Worte 
wird durch umfängliche Textproben verdeutlicht. Als Präger neuer Worte für 
neue riffe hat sich Tr. auch in der Cerkovna ordninga gezeigt, vielfach hat 
er sich hier nach čech. Vorbildern gerichtet. In der Cerk. ordninge müssen 
neben Vittenbergischen, Nürnbergischen und Mecklenburgischen Organisationen 
auch noch andere zum Muster herangezogen worden sein, welche Verf. noch 
nicht genau festgestellt hat, weil ihm zurzeit die Quellen unzugänglich sind. 
Die Frage nach den Vorbildern Tr.s für das Kirchenlied ist noch offen. In 
seinem Katechismus v. J. 1550 hat er 6 gereimte Glaubensartikel mit Melodien 
nach denen der böhmischen Brüder aufgenommen, und auch die Texte weichen 
ab von den deutschen protestantischen Vorlagen. Es muß noch untersucht 
werden, ob hier und anderswo Texte nach Vorlagen der böhmischen Brüder 
entstanden sind, vielleicht nach dem damals auch unter deutschen Protestanten 
sehr verbreiteten Kanzional. — Bei Tr. ist auch in orthographischer Hinsicht 
čech. Einfluß zu erkennen. Wie weit er selbst die čech. Sprache gekannt, ist 
nicht sicher zu sagen, er wird, als er in Deutschland die Bibelübersetzung 
gann, lateinische, deutsche und Zechische Bibelübersetzungen verglichen haben. 


Seb. Krelj, ein Schüler der kroat. protestantischen Theologen Flacia Illy- 
rika, druckte i. J. 1566 seinen kleinen sloven. Katechismus, die sogenannte 
Otrozhia Biblia, dessen erster Teil eine Art sloven. Fibel ist. Der 2. Teil be- 
steht aus Fragen, stimmt aber in der Einteilung des Stoffes mit keinem der 
früheren protestantischen Katechismen überein. Er ähnelt sehr dem „Cate- 
chismus der Rechtgleubigen Behemischen Brüder“ v. J. 1554, dessen Verf. der 
Superintendent der Böhm. Brüder in Preußen, Jan Gyrk, war. Wahrscheinlich 


480 


hat er auch die Laienbibel als Vorlage benützt. Die Übereinstimmung mit Gyrk 
wird durch Textproben gezeigt. Krelj wird auch die Nürnberger čech. Bibel 
benützt haben bei Übersetzung der Wochenevangelien. Er übersetzte zuerst die 
Evangelien aus dem Griechischen, verglich dabei mit Luther, benützte daneben 
noch einen kirchenslavischen Text, verglich auch mit Trubar und hatte die 
tech. Übersetzungen vor Augen. An das Cechische klingen gewisse formale und 
syntaktische Eigenheiten an. — Auch Jurij Dalmatin nahm die čech. Bibel zu 
Hilfe bei Übersetzung des Alten Testaments, für das es bisher noch keine sloven. 
Vorlage gab. Die Wahl mancher Worte erinnert direkt an Trubar, der sie auch 
dem Cechischen entnahm. — Bei Adam Bohoric, der eine sloven. Grammatik 
„Arcticae horulae succisivae“ schrieb, tauchen Ideen über Alter, Schönheit und 
Vorzüge der slavischen „Dialekte“ auf, wie sie bei gleichzeitigen tech. und poln. 
Geschichtsschreibern und sogar auch bei den deutschen Humanisten verbreitet 
waren. Der čech. Humanist Zikmund Hruby z Jeleni war Hauptvertreter 
dieser Ideen, zugleich guter Kenner anderer slavischer Sprachen. Er galt als 
Autorität in slavischen Fragen. Seine Ideen sind übernommen worden in Konrad 
Gesners „Mithridates“, wo die tech. Sprache für die schönste unter den Slavinen 
genannt wird. Neben Hruby hat Bohoric auch noch andere zeitgenössiche Lite- 
ratur über Slaven, darunter Herberstein, benützt. Die Zusammenhänge zwischen 
den Slavinen wies er in seiner Grammatik durch Gegenüberstellung des Vater- 
unser in verschiedenen slav. Sprachen nach. 

Die aufblühende sloven. Literatur der Reformation wurde durch die Gegen- 
reformation schwer betroffen, der deutsche Einfluß wich dem romanischen sowohl 
in Literatur wie Wissenschaft. Auch die Berührungen mit den Cechen hörten 
auf und sollten erst nach dem 80 jährigen Krieg wieder anfangen. Die An- 
regung dazu ging von Bettelmöchen des Augustinerordens, den sogenannten 
Diskalceaten oder Eremiten, aus, die im Josephkloster in Laibach ihren Sitz 
hatten. Aus den Totenlisten ist zu ersehen, wie viele Cechen unter ihnen 
waren. Es war die Zeit der jesuitischen Rekatholisierung Krains. In ihr ent- 
standen verschiedene Wörterbücher der „krainischen“ Sprache, unter ihnen der 
„Anonym“ mit einer Menge dem Cechischen entnommener Wörter. Zu erwähnen 
sind zwei geschichtliche Werke über das Krainer Land von Schönleben und 
Vajkart Valvasor, die sich čech. Quellen bedienten, sich zu ihnen aber kritisch 
verhielten. Sie waren die ersten nach Bohoric, die auf geschichtliche čech. Quellen 
zuriickgriffen. Unter den čech. Exulanten ist P. Hipolit als Übersetzer von 
Comenius Orbis pictus zu nennen. 

III. Die čech. Quellen der Krainischen Grammatik von Pohlin und die 
Frage der Cechismen in seinen Wörterbüchern. 

Nach langer Stagnation war P. Marcus vom Orden des Hl. Antoinus von 
Padua, genannt Pohlin, der erste, der wieder für nationale Interessen eintrat, 
angeregt durch den Cech. vaterländischen Gedanken. Der Untertitel seiner 
„Crainerischen“ Grammatik besagt, daß die Sprache aus Liebe zum Vaterland 
regelrichtig gelernt werden müsse. Er hat als Vorlage die čeh. Grammatik des 
Rosa benützt. An dieser Feststellung waren Dobrovsky ebenso interessiert wie 
neuerdings Jagić. Verf. vergleicht Rosa und Pohlin in ihren Grammatiken auf 
das Eingehendste: nach Übereinstimmung der beiderseitigen Vorworte, der Ab- 
sicht beider zur Schöpfung neuer Wörter, ihren Anschauungen über den Zweck 
der Wörterbücher, Lob der Muttersprache, slavischer Orientierung, ihren apolo- 
getischen Tendenzen usw. Anschließend wird die Grammatik von Pohlov mit der 
Pohlinschen genau verglichen und die Frage nach den Quellen und Cechismen 
erörtert. Im Nachwort wird anerkannt, daß Pohlin ungeachtet des Bemängelns- 
werten in seiner Grammatik, große Verdienste hat um die vaterländische Sache, 
der nationale Gedanke aber ist bei ihm unter čech. Einfluß entstanden. 

Emmy Haertel. 


481 


Rußland 


Vladimir Parchomenko: Rus’ i Petenegi. — Slavia 8, 1 


(1929). S. 138—144. 

P. will das Interesse der Historiker für eine gründlichere und vorurteils- 
freiere Einschätzung des sozialen und kulturellen Horizontes der Pečenegen und 
ihrer Beziehungen zur Kiever Rus’ wachrufen. Man ist traditionsgemäß gewöhnt 
in ihnen ein halbwildes Steppenvolk zu sehen, das der Rus’ nur Schaden und 
Verderben gebracht. Die Archäologen wiederholen das Urteil der Historiker 
anstatt die Pečenegishen Altertümer, so weit es überhaupt welche gibt, auf den 
Stand ihres Kulturgrades erst zu untersuchen. Allein die Tatsache, daß sie an 
den Geschicken des Kiever Staates einen hervorragenden Anteil gehabt als Nach- 
barn und Bundesgenossen bei Feldzügen und schließlih durch ihre Niederlage 
v. J. 1086 selbst, sollte dazu auffordern, ihre wirkliche geschichtliche Rolle näher 
zu prüfen. Es folgt eine kurze Übersicht über alle irgendwo überlieferten Be- 
rührungspunkte zwischen Poljanen und Pelenegen, wobei die der Urchronik ent- 
nommene fürstliche Ge Ae vielfach angegriffen und großes Gewicht darauf 
gelegt wird, das Stammesverhältnis der Drevljanen als ackerbauende Bevölkerung 
des nördlicheren Landstriches gegenüber den mehr der Steppe nach Lage und Sitte 
angenäherten Poljanen ins rechte Licht zu setzen. Die Schlußfolgerung zu dieser 
Betrachtungsweise liegt darin, daß zwischen Poljanen und Pelenegen vielmehr ein 
freund-nachbarliches als ein durchaus feindliches Verhältnis bestanden haben muß. 
Zudem müssen sie, wie ehemals die Skythen, deren reichste fürstlihe Kurgane 
in der Nähe der Dnjeprstromschwellen konzentriert waren, an diesen ein be- 
sonderes Interesse gehabt haben und somit auch aufs engste in ökonomischer Hin- 
sicht am Kiever Handel interessiert gewesen sein. — (Hat niche übrigens schon 
vor schr langer Zeit Rostovcev in seinem „Iranians and Greeks in South Russia“ 
auf die staatsorganisatorische und kuturelle Bedeutung der den Skythen folgenden 
Steppenvölker in der Vorgeschichte der Rus’ aufmerksam gemacht? Zitiert hat 
ihn P. nicht.) Emmy Haertel. 


S. Volkobrun: Sull’ attività del gabinetto dei ministri sotto 

Pimperatrice Anna Ioannovna. — L’Europa Orientale. Anno 

9, 9—10 (1929). s. 348—360. 

Verf. bringt die Schritte der sogenannten „Verchovniki“ bei der Wahl 
Anna Joannovnas in Erinnerung, die darauf abzielten die carische Macht ein- 
zuschränken und die der Mitglieder des Obersten Geheimen Rates zu ver- 
größern. Die nach der Auflösung des Geheimen Rates geschaffene Lage bewies 
die Unvollständigkeit der gesamten Organisation des Regierungszentrums, vie 
es von Peter d. Gr. geschaffen worden war. V. stellt die Versuche dar, die 
zur Neubildung eines entsprechenden Organismus unternommen wurden und be- 
schäftigt sich in der Hauptsache mit den Amtspflichten des neuen Kabinetts und 
besonders mit seinen Obliegenheiten in den Verwaltungsgeschäften des Kaiserl. 
Hauses, zunächst bei der Ubersiedlung des Hofes von Moskau nach Petersburg, 
später bei den verschiedensten, die wirtschaftliche Versorgung betreffenden Einzel- 
heiten. V. stützt sich dabei auf die Kabinettsurkunden selbst. 

Emmy Haertel 


Ettore Lo Gatto: Dall epica alla cronaca nella Russia Soviet- 
tista. — L’Europa Orientale. Anno 9, 11—12 (1929). S. 419 
bis 439. | 
Dieser, dem gleichnamigen Buch Lo Gattos, das als Veröffentlichung des 

Istituto per d’Europa Orientale 1929 erschien, entnommene Aufsatz beschäftigt 

sich mit dem Kampf um die Kollektivierung der ländlichen Betriebe, mit den 

Problemen der Industrialisierung, mit Bürokratie und Bürokratismus und mit dem 

Eigentum unter dem kommunistischen Regime. Lo G. berichtet hier auf Grund 

eigener Beobachtungen auf einer Studienreise in Sovetrußland. Die statistischen 


482 


„ 


Zahlen über die kärglichen Erfolge in der Steigerung der ländlichen Produktion 
sind den Berichten Kalinins auf dem 16. Parteikongreß entnommen. In dem Ab- 
schnitt über die Industrialisierung werden die oftiziösen „Izvestija“ zitiert und 
auch anderweitige Klagen über die Verschlechterung von Materialien und Ver- 
arbeitung aus der russ. Presse gebracht. Verf. beschäftigt sich besonders mit der 
Frage nach der Qualität der, zum größten Teil vom Lande nach der Stadt ab- 
gewanderten Arbeitskräfte und dem Anlaß zur Klage, die sie den Regierungs- 
organen geben, daneben spielt der Alkoholismus eine große Rolle. — Im Ab- 
schnitt über den Bürokratismus weist Lo G. auf die satyrischen Schriftsteller 
Andrej Novikov, Neverov und Kataev hin, die z. T. ihren Vorbildern Gogol’ 
und Saltykov-Stedrin nahekommen in der Verspottung der herrschenden Zu- 
stände. Außerdem nennt er die Zs. „Gudok“ v. Juli 1928 und v. Februar 1929 
und die „Izvestija“ v. Mai 1929 mit ihren einschlägigen Aufsätzen. Lo G. schließt 
diesen Abschnitt mit der Bemerkung, daß die Passivität des Russen, die dieser 
selbst überwunden zu haben glaubt, doch immer wieder an die Oberfläche kommt 
und das Leben beherrscht. — Bei den Erörterungen der Frage nach der Zu- 
lässigkeit oder Nichtzulässigkeit von Privateigentum in Sovetrußland betont 
Lo G. die Diskrepanz En dem in das russ. BG aufgenommenen § 54, der 
zich kaum von ähnlichen Gesetzen europäischer Länder unterscheidet und dem 
Fehlen eines Paragraphen, der die Unverletzlichkeit des Eigentums garantiert. 
Augenscheinlich ist die Anerkennung einer Möglichkeit von Privateigentum nur 
als cine Konzession an, gewissermaßen, ausnahmsweise und nur zeitwillig gegebene 
Verhältnisse anzusehen, die wieder verschwinden soll, sobald die angestrebte 
Sozialisierung sich verwirklicht haben wird. Da sowohl der Staat wie auch ein 
Privatmann Besitzer einer bestimmten Sache sein können, liegt auf der Hand, 
daß im gegebenen Fall die Besitzfrage zugunsten des Staates entschieden werden 
müßte, umsomehr, als hierbei auch die Rechte der Besitzer sih nach dem 
rößeren oder geringeren wirtschaftlihen Wert des Besitzes richten. Die Un- 
arheit über die Frage des Eigenbesitzes an Land im Dorfe hat, wie Verf. des 
näheren zeigt, dazu geführt, daß unrechtmäßig Verkäufe und Hypotheken zu- 
stande kommen können, was zu einem Teil die Erbitterung erklärt, mit der der 
Kampf gegen die Kulaken geführt. wird. Auch die Möglichkeit, an Stelle des 
Erwerbs eines zweiten Hauses, der verboten ist, zum Erwerb einer Werkstatt 
oder eines Ladens zu schreiten, widerspricht der angestrebten Aufhebung der 
Klassenunterschiede, es liegt dabei die Vermutung nahe, daß derartiges ziemlich 
häufig geschieht. Es scheint eben doch, daß die Wirklichkeit, und zwar nicht nur 
die russische, sondern eine allgemein menschliche, den abstrakten Theorien un- 
besieglichen und uniiberwindlichen Widerstand leistet. Emmy Haertel. 


Russische Verfassung. 

Konstanty Grzybowski: Ustrój związku socjalistycznych 
sowieckich republik. (Die Verfassung von S.S.S.R.) — Przegląd 
Współczesny Bd. 27 (1928), S. 295—317. 

Eine Skizze wesentlich informativer Tendenz und aus Werken zweiter Hand 


geschöpft, bloß auf deutsh und französisch geschriebenen Büchern aufgebaut. 
Orto Forst-Battaglia. 


Russische Emigration. 


Walery Viliski: Życie religijne emigracji rosyjskiej. (Das 
religiöse Leben der russishen Emigration.) — Przegląd 
Powszechny Bd. 183 (1929), S. 118—137. 


Wiliński entwirft ein düsteres Bild über den Hader in der pravoslaven Kirche, 
der das religiöse Leben der russischen Emigration fortwährend vergiftet. Zwischen 
den Metropoliten Eulogius und Platon einerseits und Antonius anderseits herrscht 
bittere Fehde. Sie hat ihre politischen Hintergründe. Denn Eulogius und Platon 
entsprechen in ihrer Gesinnung etwa der bürgerlichen, westlich orientierten Demo- 
kratie. Sie vertragen sich leidlich mit dem Katholizismus und sehr gut mit Angli- 
kanern und Protestanten. Die geistigen Koryphäen der Emigration, wie Berdjaev 


483 


und Stepun gehören zu ihren Anhängern. Antonius dagegen steht mit den un- 
beichrbaren Monarchisten im Zusammenhang und er setzt die Tradition des 
„istynno russkij celovek“ noch in der Verbannung fort. Wilidski schildert auch 
die katholisierenden (Soltykow) und die spärlichen katholischen Strömungen in der 
Emigration. Otto Forst-Battaglia. 


Ettore Lo Gatto: L'intelligenzia russa, la rivoluzione e la 

letteratura. — Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 (1929). 

S. 442—448. 

Unter Hinweis auf die der russischen Literatur des 19. Jhs. und der Jahr- 
zehnte vor dem Weltkrieg eigen gewesenen sozialen und politischen Tendenzen 
erörtert Verf. die Frage, wie sich die Situation nach der Revolution gestaltet 
hat, und greift dabei im wesentlichen auf die Untersuchungen des kommunistischen 
Kritikers Polonskij zurück. Er eröffnet seine „O&erki literaturnago dvizenija 


! „Intelligenz“ EE ist, doch sei sie das nur bis 
zum Anbruch der proletarischen Epoche der russ. Geschichte gewesen. Sicht- 


gelungen sei. Die erfolgreichste literarische Gruppe nach der Revolution, die 
Schriftsteller, wenn auch einige 


Flügel, wodurch die Situation nicht nur nicht geklärt, sondern verwirrt wird, 
denn die allgemeine Tendenz der poput£iki, sich mit der Wirklichkeit abzufinden, 
dabei aber den formellen Kanon der traditionellen Literatur beizubehalten, 
wird dabei aus dem Auge verloren. Besser hat Gorbatev in „Sovremennaja 
russk. literatura“ (Lgrd „Priboj“ 1928) die poputtiki als kleinbürgerliche Gruppe 
bezeichnet, neben einer neubürgerlichen, die Alks. Tolstoj, Ehrenburg u. a. dar 
stellen. goma steht fest, daß die „bürgerliche“ Literatur der poputčiki die 
bedeutendste und tiefste Strömung der sovetistischen Literatur ist. Die politische 
und soziale Tendenz der alten russ. Intelligenz ist als Kanon der neuen bei- 
behalten. Sollte dieser Richtung Bedrückung durch die Sovetzensur drohen, so 
wird sie ein Blatt zur Geschichte des hundertjährigen Märtyrertums der russ. 
Intelligenz hinzufügen, wenn auch das Folterwerkzeug jetzt in anderen 
Händen liegt. Emmy Haertel. 


A. D. Sedel’nikov: Neskol’ko problem po izučeniju eier 
russkoij literatury. Metodologičeskie nabljudenija. — Slavia 8, 
(1929). S. 503—525. 

1. Bestand und Verwahrung der Literatur. Die Rolle der Geistlichkeit... 
in Abschrift und Auswahl der Bücher. Reform des Buchwesens im XIV—XV. Jh.: 
Veränderung des Materials und der Schreibtechnik; ihre Bedeutung für grö 
Freiheit des Schriftwesens. Die Zensur bis zum XV. und nach dem XV. Jh. — 


484 


Die Ursachen werden aufgezählt, welche dazu führten, daß das älteste Schrift- 
wesen hauptsächlich auf Anregung und in Verwahrung der Geistlichkeit ent- 
stehen und sich befinden mußte, und das Buchbedürfnis und Geschmack der 
weltlichen Kreise in gewisser Abhängigkeit von ersterer blieben. Grundsätzlich 
konnte freilih der Sbornik sich freier gestalten als das Buch für gottesdienst- 
liche Zwecke. Für das weltliche Publikum lag auch durch die reiche Möglich- 
keit, sich durch die mündliche Literaturgattung: Lieder, Novellen usw. Unter- 
haltung zu verschaffen, wenig Bedarf an Schriftlihem vor. Die Chronik 
konnte derartige Stoffe nur verarbeiten, wenn sie in sich den Keim trugen in 
Erzählungen zu zerfallen, die keinerlei, sozusagen, belletristischen Charakter 
hatten, sondern geschichtliche Ereignisse behandelten. Verf. bespricht von diesen 
5 ausgehend das Igorlied. Ober die Achtung vor dem Buchwesen 
unterrichten der Izbornik des Svjatoslav, die verschiedenen Slovo und der 
„Izmaragd“. Hier kommt auch die Verabscheuung der alten Volksbräuche, 
Aberglauben usw. zum Ausdruck, die letzten Endes zu einem Index führte. 
Obersetzungsliteratur weltlichen Charakters hat in der vormongolischen Zeit 
eine verschwindende Rolle gespielt. Die pergamentene Literatur Westeuropa; 
auch der geistlichen, hatte einen von der russ. sehr verschiedenen Charakter, 
da hier das Kirchliche vom Weltlichen nicht vollständig abgetrennt erschien. 
Ober diese russ. Literatur unterrichtet der Panegyrik auf Jaroslav und seine 
Beschäftigung mit Büchern in der Chronik. S. stellt seine Anschauungen über 
mutmaßlichen Bestand des alten russ. Buchwesens den von N. K. Nikol’skij und 
A. I. Sobol’evskij vertretenen gegenüber. Über den Bestand an weltlicher Lite- 
ratur innerhalb der russ. Klosterbibliotheken hat N. V. Volkov auch jetzt noch 
wertvolle Daten und Zahlen zusammengestellt, obgleich manches darin nach 
80 Jahren (Pam. dr. Pis’m. 128, 1987) natürlich überholt ist. 

Vom 15. Jhdt. an besserten sich die Bedingungen für das Buchwesen durch 
Verwendung des Papiers anstatt des Pergaments und Einführung des Halbustav, 
was beides wirtschaftliche Vorteile bot. Die starke Zunahme an erhaltenen 
Hsn im 15. Ihdt., gegenüber denen aus dem 14., ist nicht bloß dadurch zu er- 
klären, daß ım Laufe der Zeit viele ältere Schriftstücke verloren gegangen sein 
können. Wie weit hier die aus Südslavien eindringende neuere Literatur schuld 
daran gewesen ist, daß die älteren russ. Werke nicht mehr so häufig abge- 
schrieben wurden, wird von S. eingehend berücksichtigt. Eines der bedeutendsten 
Zentren des reformierten Buchwesens war das Kirillo-Belozerskij Monastyr’, der 
vom Mönche Evfrosin Ende des 15. Jhs. verfaßte Nachtrag zum Verzeichnis der 
Klosterbibliochek zeigt die bibliographische Leistungsfähigkeit auf erstaunlicher 
Höhe. Evfrosin war auch über die Bücherbestände anderer Klöster unterrichtet, 
wie aus diesbezüglihen Notizen hervorgeht. Von Zensur der kirchlichen 
Schriften sind deutliche Spuren erst zu sehen im 15./16. Jh., auf ihr Vorhanden- 
sein schon bedeutend früher kann aus mehreren Fällen, die Verf. hier anführt, 
mit Sicherheit geschlossen werden. 


2. Anonymität und Pseudonymität in der Literatur und die sich daraus 
ergebenden wierigkeiten für die Untersuchung. Autoreninstinkt der altruss. 
riftsteller. — Die Anonymität der alten Literatur bringt es mit sich, daß, 
verglichen mit den Aufgaben des Literarhistorikers unserer Tage, der Er- 
forscher der alten Literatur in erster Linie Philologe sein muß, selbst bei 
Namensnennung des Autors wird zunächst die kritische Würdigung ihrer Echt- 
heir einsetzen müssen. Die zeitliche Bestimmung kann oft einen einhundert- 
jährigen Spielraum zulassen, die sprachlichen Kriterien versagen häufig, da du 
mehrfaches Kopieren Änderungen der Urschrift angenommen werden müssen. 
Eine Reihe von Beispielen zählen vorgefallene kritische Irrtümer auf, und ihnen 
folgt Nennung der für zeitliche und lokale Einordnung der älteren Literatur- 
denkmäler üblichen Methoden. Emmy Haertel. 


B. Varncke: Stili russkoj dramy XVII v. — Slavia 8, 1 (1929). 
S. 132— 137. 
Zwei Aufsätze von V. V. Sipovskij und P.P. Rulin in den „Izvestija Otd, 
Russk. Jaz. i Slov. Ross. Akad. Nauk“ aus den Jahren 1917 und 1923 geben 


485 


Verf. Anlaß darauf aufmerksam zu machen, daß die vielfach übliche Methode, 
in den Komödien des 18. Jhs. einen streng „klassischen“ Inhalt von realistischen 
und dem Leben entnommenen Motiven in dem Sinne zu scheiden, daß man einen 
„klassischen Dramenstil getrennt von einem gemischten nachweisen will, nicht 
zutreffend ist. Er geht dabei vielfach auf deutsche Literarhistoriker: Schneegans, 
Erich Schmidt, Klemperer u. a. zurük. Nach seiner Meinung hat das Aufkommen 
der im 18. Jh. so beliebten „sentimentalen“ Bühnenstoffe aus dem Leben des 
einfachen Volkes, die mehr und mehr aufhörten sentimental zu sein, viel dazu 
beigetragen die Fundamente des Klassischen zu untergraben. 

Emmy Hertel. 


V. Cerny le v: Stichotvorenija A. S. Puškina, napisannye v stile 
russkich narodnych pesen. — Slavia 8, 3 (1929). S. 585—596. 
Ober die im volkstümlichen Stil geschriebenen Lieder in Pulkins Werken 

herrscht noch manche Unklarheit, es läßt sich sogar kaum entscheiden, ob hier 

eigene Schöpfungen P.s vorliegen oder von i aufgezeichnete Volkslieder. 

Vengerov hat in Bd. IV seiner Pulkinausgabe „Volkslieder nach Niederschriften, 

Umänderungen . . . P.s“ gegeben, und in der 7. Abt. davon „Lieder, die künst- 

lerisch umgearbeitet worden sind“. Dabei steht keineswegs fest, ob irgendein 

bestimmtes Volkslied von P. umgearbeitet worden ist. Selbst bei den drei 

Stenka-Razinliedern, die an Volkslieder erinnern, ist das eine „Tol“ ko čto na 

rotalinych vesennych“ mit keinem der bekannten Volkslieder zu identifizieren. 

E. untersucht die einzelnen Lieder, „Vyšla Dunja na dorogu, nemoliviis’ bogu“ 

ursprüngl. für „Evg. Oneg. bestimmt (in Izd. „Prosvekenija“ IV, 829), hält e 

für eigene Schöpfung P.s. „Cernyj voron vybral beluju lebedulku“ Pro- 

sveščenie. V,5) war, nach Morozov, für „Arap Petra Yelik.“ bestimmt, paßt 
aber nicht in den Inhalt, es ist ein Heiratslied. Ibragim aber hatte keine 

Heiratsabsichten. Die Razinlieder bei P. enthalten Themen, die in keinem 

volkstümlichen Razinlied anzutreffen sind. Verf. nennt die Literatur über sie. 

Den Stoff zum Lied von der Opferung der pers. Fürstin an die Wolga kann 

P. nur aus „Les voyages Jean Struys en Moscovie“ entnommen russ. 

Übersetzungen gab es von dieser Reise nicht zu P.s Zeiten. Für das Lied „Voz’- 

mu fuba...“ hat P. höchst wahrscheinlich eine gehörte oder aufgezeichnete Ober- 

lieferung benützt. Das Lied „Kak za cerkov’ju za nemeckoju“ mit dem 

„Chorolu Zeng často v cestnoj pir zovut“ (Vengerov, IV, 78) wird, einer Brief- 

stelle bei P. zufolge („znaed’ russkuju pesnju“) als russ. Volkslied angesehen. 

Verf. hält aber für wahrscheinlich, daß P. in dem Brief an seine Frau nur hat 

sagen wollen: ein russisches, kein französisches Lied. Unter den herangezogenen 

Volksliedern findet sich keine Parallele dazu. Das Lied „Drug moj milyj” 

(Vengerow IV, 79) scheint nach einer Romanze, die sich in Liederbüchern aus 

der ersten Hälfte des 19. Jhs. findet, von P. gedichtet zu sein. Verf. zitiert 

zum Beweis einen Text v. J. 1810. Zu dem Lied ,,Odin-to byl u otca, u materi 
edinyj syn“ (Vengerow IV, 79) hält C. für ein von P. auf seiner Reise nach 

Orenburg selbst aufgezeichnetes Lied. Parallelen zu dem Text stammen alle aus 

dem Ural. Emmy Ha ertel. 


A. Be m: ol' i Puškin v tvortestve Dostoevskogo. II. — Slavia 

8, 1 (1929). S. 82—100. 

Orrazenija „Pikovoj Damy“ v tvor&estve Dostoevskogo. 

1. Im „Podrostok“ hat D. dem Helden die 5 Worte über 
das „Kolossale“ im Charakter Hermanns in den Mund gelegt, man wird aber 
vermuten können, daß diese Auffassung des Hermann schon viel früher bei D. 
sich herausgebildet hatte. Bem erinnert hier an eine Stelle in einem Briefe Die 
aus Ems und an die „Peterburgskija snovidenija v stichach i proze“, in denen 
ganz ähnliche Worte über die traumhafte Stadt, deren typischer Vertreter Her- 
mann zu sein scheint, gesagt werden, wie sie auch im „Podrostok“ im Anschluß 
an die Worte über Pukkins Hermann stehen. Auffallende Ahnlichkeit mit diesen 
Ideen zeigt auch eine Stelle in „Slaboe serdce“. Diese bisher noch nicht genügend 
ausgewertete Erzählung möchte B. „als Geburt des Helden“ bezeichnen bei D, 


486 


und, noch weiter ausgreifend, auch als eigentlichen Kern von „Prestuplenie i 
nakazanic“. Nicht umsonst heißen die Heldinnen von Puškins Erzählung und in 
„Siaboe serdce“: Liza. Auffallend ist auch die unverkennbare Ähnlichkeit im 
Epilog bei Puškin und bei D Von beiden Mädchen wird gesagt, daß sie sich 
shli lih verheiratet haben, Puškin schweigt über die Herzenstragödie seiner 
Liza, D. spinnt dieses psychi Problem weiter aus, seine Heldin zeigt un- 
verhohlen ihren Kummer. 

2. Unverkennbar hat Gogol’s Popryškin in „Gospodin Procharčin“ und den 
krankhaften Phantasien des Garibaldiseins großen Einfluß gewonnen. Aus Puškins 
„Skupoj Rycar“ ist andererseits die Idee des Suchens nach Macht vermittelst Geld- 
gewinnung entnommen, hier erinnert B. auch wieder an die Parallele: Hermann 
und Raskoľnikov. Auch im „Podrostok“ klingt sie an. Solov’ev in „Gosp. 
Procharčin“ erscheint D. auch „kolossal“. 

8. So zugänglich D. Beeinflussungen durch die Werke anderer war, lag für 
ihn das Anziehende nicht in der stofflichen Ahnlichkeit, sondern in der Ver- 
tiefung der psychischen Probleme, die andere geboren. D. überwand Gogols „bez - 
idejnost“, wenn er sich auch ungeniert seiner Details und Sujets bediente. Daher 
ein Unterschied in den geistigen Beziehungen D.’s zu Puškin und zu Gogol’. Des 
ersteren Einfluß entsprang organischer Verwandtschaft und ging in Fleisch und 
Blut über bei D., nur war ihm nicht gegeben, die Harmonie Puškins zu finden. 
Dessen Gestalten leben bei D. ein durchaus tragisch-ruheloses Leben, was be- 
sonders im Einfluß der ,,Pikov. Dama“ auf „Prestuplenie i nakazanie“ deutlich 
wird. Es wird hier das Vort: Einfluß nicht im üblichen literar- historischen Sinne 

meint. Nicht um gewisse Ahnlichkeiten handelt es sich hier, sondern um seelische 
Been flussung, eventuell auf Jahre hinaus. Um zu beweisen, wie weit das Ideen- 
schema der ,,Pikov. Dama“ in „Prestuplenie i nakaz.“ das gleiche ist, hebt B. 
hervor, einmal den Grundgedankeen „durch Verbrechen zur Erreichung des 
Ziels“, dann das Ergriffenwerden unschuldiger Opfer: Lizaveta Ivanovna und 
der Stiefschwester der Wucherin, wobei charakteristisch für D., daß er das Milieu 


gemeine Stimmung wird gewahrt; auch bei äußerer Verschiedenheit der Um- 
stinde. Zum Vergleich stellt B. die Texte von Pušk. und D. gegenüber, wo sich 
beider Helden ins Haus ihres Opfers begeben. Bei beiden tragen auch die zwei 
Mitbewohnerinnen die Züge von Abhängigkeit und Schüchternheit. Nach weiteren 
Vergleichen beider Werke schließt B. mit der Frage: „von welcher Gräfin die 
Rede ist in „Prest. i nakaz.“, als Razumichin, nach geschehenem Verbrechen, dem 
Raskol’nikov zur Beruhigung ne »Beunruhige Dich nicht, von der Gräfin ist 
kein Wort worden.“ Soli das eine Andeutung sein an das ähnliche Ver- 
brechen bei in, oder ist hier etwas im Sinne der Freudschen Theorie vom 
Versprechen und Verschreiben bei D. unbewußt, d. h. aus dem Unterbewußtsein, 
in den Text eingedrungen? Emmy Haertel. 


A. Bem: Gogol’ i Puškin v tvorćestve Dostoevskogo. Okoncanie. 
— Slavia 8, 2 (1929). S. 297—311. 


4. „Homne sans moeurs et sans religion“ hatte Puškin als Motto des 
4. Kapitels der „Pikovaja Dama“ gewählt, das fand in D. Widerhall, aber im 
Prozesse des Umdenken: der Puškinschen Gestalt war diesem „das Kolossale“ des 
Hermann, der wahre Petersburger Typ aufgegangen. Das spricht auch aus Auf- 
zeichnungen zum „Prestuplenie i nakazanie“. Puškin ließ seinen Hermann von 
einer fixen Idee (nepodviinaja ideja) beherrscht werden, bei D. entwickelt sie 
zich zur Theorie des Anrechts auf Verbrechen. Hier berührt er sich eng mit 
Balzac; L. Großmann hat in seinem „Bal’zak i Dostoevskij“ auf das Erwachsen 
des „Übermenschen“ bei beiden hingewiesen. Dem „homme supérieur“ lag hier 
wie dort der Gedanke an Napoleon zugrunde. Auch Hermann war kein ge- 
wöhnlicher ` Verbrecher, bei Puškin klingt nicht nur hier, sondern auch im 
„Evgenij Onegin“ der Gedanke an Napoleon an. Nicht bloß Bal’zac ist, wie 
Groban dachte, der Ausgangspunkt für Raskol’nikov. B. vergleicht eingehend 
die Ahnlichkeit der inneren Überzeugung bei Hermann und Raskol’nikov nach 
begangenen Verbrechen. 


487 


5. Verf. zieht noch einmal „Igrok“ in seine Argumentation ein, auch hier 
ist Aleksej Ivanovic vergiftet von einer fixen Idee, ebenso wie Hermann und 
Raskol’nikov. Die Leidenschaft zum Spiel und das Verhalten des PuSkinschen 
Helden zu dem Mädchen, das ihm vertraut hat, treten in unverkennbar ähn- 
licher Weise auf im „Igrok“. Der Gefühlskälte beider entspricht die stille Ver- 
achtung Lizas und die beleidigende Geste Polinas. Das Endschicksal beider He 
wird durch das Verhalten der beiden Frauengestalten bestimmt. D. ergänzte 
dabei den PuSkinschen Gedanken, ähnlich wie Puškin selbst zum „Faust“ eine 
Ergänzung gegeben. B. weist zum Schlusse noch einmal hin auf das „Jenseits 
von Gut und Böse“, das Puškins Hermann und die Dostoevskijschen Gestalten 
miteinander verbindet. Emmy Haertel 


A. Skaftymov: „Zapiski iz podpol’ja“ sredi publicistiki Dosto- 

evskogo. — Slavia 8, 1 (1929). S. 101—117. 

Die „Zapiski iz podpol’ja“ sind immer als eine Absage D.’s an frühere Ideale 
angesehen worden in Übereinstimmung mit L. Sestov, der das zum e 
ausgesprochen. Ähnlich werden sie beurteilt von L. Großman, A. $. Dolinin und 
V. L. Komarovik, deren Urteile Verf. kurz charakterisiert. Er hält alle der- 
artigen Deutungen für irrig. In den Zapiski wird nicht nur nicht m ichen 
Idealen abgesagt, sondern im Gegenteil besteht der Zweck ihrer Dialetik darin 
deren Unausrottbarkeit zu erweisen. Die Zapiski sind organisch mit den slavo- 
hilen Ideen der publizistischen Zeit D.s verbunden und stützen seine stets ge- 
forderte Notwendigkeit des Verzichts auf individualistishe Selbstverherrlichung. 
Allerdings verteidigt ihr Held Individualismus und das Unversöhnliche individu- 
ellen Wollens, aber diese Verteidigung hat keineswegs den Sinn, den Sestov u. a. 
vermuten. Die Zapiski sind ein polemisches Werk, der Held ist nicht so sehr 
„oblikitel“ als „obličaemyj“. Die mißverständliche Auslegung ist das Resultat der 
Betrachtung ihres Inhalts nach den einzelnen Abschnitten, die Tiraden des Helden 
über die individuelle Willkür wurden jede für sich und nicht im Zusammenhang 
des ganzen Ideenkomplexes betrachtet. Deshalb muß hier der ganze Ablauf des 
Werkes überblickt werden, auch auf die Gefahr hin, längst Bekanntes in Er- 
innerung zu bringen. 

2. Zugrunde liegen, wie immer bei D. die psychischen Tatsachen. Wie auch 
sonst immer ist das Dargestellte für den Leser zunächst unverständlich, er soll über 
die einzelnen Themen nachdenken, aus denen zuletzt die Schlüsse gezogen werden. 
Zuerst kommt das Rätsel von der absichtlichen Bosheit. Sie wird erklärt als 
Ausfluß der Eigenliebe, dem Unvermögen sich der eigenen Schwäche bewußt zu 
werden. An drei Beispielen wird die Freude an der „Obida“ dargelegt, sie er- 
folgt nach normalen, vom Individiuum unabhängigen Gesetzen. Der Held der 
Zapiski sieht darin nichts Aussöhnendes, immer wieder war der psychologi 
Kern der Bosheit als ein innerer Protest eines von außen bezwungenen „Ich“ auf- 
gedeckt worden. Es ist wichtig zu sehen, daß die Freude am Unrechttun klar dar- 
gelegt wird als ein Ausbruch von rebellischem Stolz. 

In Kap. 5—6 tritt eine neue Rätselfrage hinzu: die Prinzipienlosigkeit des 

Helden, Er ist voller Widersprüche, untätig, ohne träge zu sein. Auch diesem 
Ideal kann er nicht treu bleiben, wie auch keinem anderen. Kap. 7—9, die das 
Hauptinteresse der Kritiker auf sich gezogen haben, beschäftigen sich vor allem 
mit der Ausgestaltung der zwei vorgenannten Themen. Zunächst wird die 
Wichtigkeit des unabhängigen Wollens betont. In Kap. 8 lehnt sich der Held 
egen die ,,Tabellierung des menschlichen Glückes auf. In Kap. 9 wird be- 
e daß der Mensch neben aufbauenden auch zerstörende Instinkte besitzt, 
und daß es kein vernunftgemäßes Prinzip gibt, den einen dem andern vorzu- 
zichen. Der Held verzichtet in Kap. 10 auf das „wohlweise Gebäude aus 
Kristall“, es kann seine Wünsche nicht befriedigen und folglich auch nicht die 
Bekrönung seiner Ideale bilden. In der Absage auch an dieses Ideal bestätigt der 
Held nochmals das Aussichtslose seines Verharrens, seiner „inercija“. 

Im 2. Kap. war das Verhältnis des Helden zum „Schönen und Hohen“ 
Gegenstand gewesen, das in der Kritik in verstellter Form aufgenommen wurde. 
Bei dem Helden sind 8 Grundzüge in diesem Punkt zu bemerken: zuerst die 


488 


„Tränen, Rührung“ usw., zu zweit steht immer er selbst im Mittelpunkt, er 
ist der „Schönste, Höchste“, schließlich wird das eigene Verhältnis zum „Schönen 
und Hohen“ ironisch beleuchtet. Es gab ein „Schönes...“ für ihn nur, solange 
dabei Selbstbeweihräucherung möglich war, nach dem Wegfall dieses Trostes gibt 
es für ıhn auch kein wirklich „Schönes und Hohes“ mehr. Verf. geht zu den 
Handlungen des Helden über: dem Zusammentreffen mit dem Offizier, der 
as Zusammenkunft für Zverkov und der Episode mit Liza, bei welch 
etzterer er am längsten verweilt. Hier zeigt sich: zuerst überflüssige Senti- 
mentalität, dann am darüber, daraus resultierender Ärger über Liza als 
Schuldige daran und zur Schau getragene Veraditung. Es folgt die so berühmt 
gewordene Phrase „mag die Welt zugrunde gehen, wenn ich nur Thee habe“, die 
als vollständiger Anormalismus bezeichnet worden ist, aber auch zu Unrecht, denn 
hier ist alles vom Helden dE Häßliche und Niedrige auch in seinen Augen 
häßlich und niedrig. Er will nur durch seine pathetische Tirade der gemutmaften 
Verachtung Lizas mit einem Fußtritt begegnen. Hier findet keine „Umwertung 
der Verte statt. Liza begreift das auch, sie fühlt, daß er selbst unglücklich ist. 
Ihm aber ist es nicht gegeben irgendwie und -wo ein Opfer zu bringen, ihre Teil- 
nahme anzunehmen usw. Unter dem Deckmantel des Unrechttuns verbirgt sich 
oft ein Streben nach dem „Guten, der Liebe“ usw., doch der Stolz des Menschen 
aus dem Podpol’e bäumt sich dagegen auf. Emmy Haertel. 


A. Skaftymov: „Zapiski iz podpol’ja“ sredi publicistiki Dosto- 
evskogo. Okonlanıe. — Slavia 8, 2 (1929). S. 312—339. 


Sk. prüft die Bedeutung der Simonov, Zverkov u. a. in den Zapiski für 
den Ablauf der Ideen des Menschen aus dem Podpol’e. Ihre Unbedeutendheit 
erhöht nur sein Selbstgefühl.e Von besonderer Wichtigkeit ist die Szene, wie 
Liza ihm den Brief vorzeigt, in dem ein Student der Medizin ihr in Ausdrücken 
größter Hochachtung schreibt. Verf. er hier bis ins Kleinste die beider- 
seitigen seelischen Vorgänge um zu dem Schluß zu kommen, daß der Held sich 
darin endgültig vom „lebenden Leben“, von den moralischen Grundlagen 
des Lebens lossagt. Sk. wiederholt, daß man irrtümlich hier ein Losreißen D.s 
von humanistischen Idealen hat schen wollen. Es ist aber hier nur eine Absage an 
das Ideal rationalistischer Theorien zu sehen. Die ganze Dialektik des Werkes 
dient nur dazu das nteil des vom Helden Gesagten zu beweisen. Seine 
Ideen führen zum „Krach“, zur Verzweiflung usw. Verf. weist auf gedankliche 
Übereinstimmung hin zwischen dem Inhalt der Zapiski und dem unter dem Titel 
„Prigovor“ im „Dnevnik pisatelja“ enthaltenen Brief eines logischen Selbst- 
mörders. Allem was D. in dem Chaos der Ideen im Podpol’e verurteilenswert 
erschien, stellt er als Inhalt der „Zivaja Zizn“, von der der Held sich losgerissen, 
das elementare Verlangen nach Liebe und Selbstopferung für andere entgegen, 
wie es in Liza verkörpert ist. 

III. Eine genaue Verfolgung der von D. in „Vremja“ und „Epocha“ aus- 
gesprochenen Ideen über die geistigen Defekte der zeitlichen Strömungen ver- 
deutliche es, daß diese Ideen künstlerisch in den Zapiski zur Darstellung gelangten. 
Immer wieder hat D. als Publizist von der Verdunkelung der moralischen Grund- 
sétze, der individualiscischen Absonderung usw. gesprochen, aber diese u. a. an- 
fechtbaren Eigenheiten der Zeitgenossen werden vom Helden des Podpol’e in 
ihrem höchsten Ausmaß vertreten, die große Masse ist „naiver“ als er und leichter 
mit den Verhältnissen auszusöhnen. Der Held des Podpol’je ist „bespokvennik“, 
folgerichtig bis zum äußersten durchgeführt. Er ist Phraseur, aber ausgereifter 
Phraseur. Die letzten Ideen der Zapiski gipfeln in der slavophilen Verherr- 
lichung des Wahren im Volke, wie es auch in Liza verkörpert ist. Die Zapiski 
dürfen daher nicht aus dem ganzen System der D.schen Weltanschauung aus- 
gesondert werden, er geht darin nur zu einer neuen Etappe seines Schaffens über, 
zu einer Bereicherung seiner künstlerischen Dialektik und zur Verfeinerung der 

ischen Kontroversen. 

IV. Unzweifelhaft hat D.s empirische Persönlichkeit viel von dem Gift in 
sich getragen, welches dem Helden aus dem Podpol’e eignete. Er war von un- 
endlicher Güte, aber argwöhnisch, krankhaft reizbar usw. Er selbst empfand 


32 NF 6 489 


das Schlechte als etwas, das nicht sein sollte, das Gute als Erwünschtes und 
Heiliges. Es ist fraglich, wie weit in seinem persönlichen Leben D. dieses Ideal 
erreicht hat, er hat danach aber immer gestrebt und forderte die Menschheit auf 
ihm zu folgen. Auch hierin stellen die Zapiski keine Ausnahme dar. Er tadelte 
nur das Losgerissensein vom eigenen Boden bei den Zeitgenossen besonders, weil 
sie es selbst nicht merkten. Im Helden des Podpol’e sind die daraus erwachsenen 
Fehler zum Aufersten ausgebildet. Emmy Haertel 


Ettore Lo Gatto: Su «guerra e pace». — Rivista di letterature 
slave. Anno 4, 5 (1929). S. 363—368. 


Verf. erinnert an den Ausspruch von Strachov: „Wenn es kein russisches 
Kaiserreich mehr geben wird, dann werden die fremden Nationen aus Krieg 
und Frieden erfahren, was für ein Volk das russische war“, um selbst hinzu- 
zufügen: „Nach der Revolution können nicht nur die fremden Völker, sondern 
auch das russische Volk — und schneller als Strachov das geahnt — aus „Krieg 
und Frieden“ erfahren, was die russische Aristokratie gewesen ist. Über den 
Adel, als im Roman vorwiegende Gesellschaftsschicht und über den Zusammen- 
hang mit ihm seitens Tolstojs haben sich letzthin zwei bekannte russische 
Kritiker geäußert: L’vov-Rogalevskij untersucht das gesamte Schaffen T.s darauf- 
hin, wie sich darin der Übergang von den sozialen Anschauungen der Aristokratie 
zu denen des Volkes vollzogen hat (O usadby k izbe. M. Federacija 1928), und 
Sklovskij verweilt bei der Geschichtsepoche von „Krieg und Frieden“ (Materijal 
i stil’ v romane Lea Tolstogo „Vojna i mir“. M. Federacija 1928). L.-R. hebt 
hervor, daß T.s Antipathie gegen die gesellschaftliche Mittelschicht, die es wohl 
zu Tolstojs Zeiten gegeben hat, aber nicht in der Zeit, wo der Roman spielt, 
dazu beigetragen haben wird, daß die darin geschilderten Klassen in so präg- 
nanter Weise zur Darstellung gebracht worden sind. Beiläufig erwähnt hier 
Lo G. die auch von L.-R. behandelte Frage der ausgedehnten französischen Text- 
stellen im Roman, die infolge scharfer Angriffe in der russ. Kritik in späteren 
Ausgaben durch den entsprechenden russ. Text ersetzt worden sind, und er- 
innert daran, daß in der ausgezeichneten italienischen Übersetzung des Werkes 
durch die Herzogin d’Andria (Turin, „Slavia“ 1928) auf Wunsch der Hrsgr. 
der französische Text beibehalten worden ist. — Sklovskij, als Formalist, hat in 
seinen Untersuchungen ganz neue Wege beschritten, indem er das Zeitgemäß- 
Moderne in den Anschauungen des Romans dem archaischen Prinzip der Helden- 
verehrung gegenübergestellt hat. 


Die vielumstrittene Frage, inwieweit T. in den Gestalten des Romans 
Persönlichkeiten seines Kreises geschildert hat — von T. selbst war das im 
„Russkij Archiv“ v. J. 1868 bestritten worden! — wird durch die Memoiren 
seiner Schwägerin Bers „Moja Zen" doma i v Jasnoj Poljane“ (M. 1928) in 
gliicklichster Weise beleuchtet. L.-R. hatte an diesen Fragen ein ganz besonderes 
Interesse, weil er das Aristokratische in den Anschauungen T.s dadurch analysieren 
zu können hoffte. Die große Familienchronik der Rostovs und Volkonskijs 
im Rahmen der russ. Geschichte mußte ja Gegenstand der Untersuchungen, 
Exaltionen und Ablehnungen werden. Gerade in der Fachkritik haben die Be- 
urteilung der Tolstojschen Geschichtsphilosophie in „Krieg und Frieden“ vielfach 
hemmend für die Schätzung des Werkes gewirkt, während die Leserwelt sofort 
davon begeistert war. N. N. Apostolov in seinem von der Kommission zur 
Jahrhundertfeier für T. herausgegebenen „Lev Tolstoj nad stranicami istorii 
(M. 1928) behandelt das aufs Eingehendste; er selbst hält dafür, daß das ge- 
schichtliche Material treu wiedergegeben ist, während Sklovskij dieses Material 
als umgestaltet und stark überarbeitet ansieht. Hier spielt die Beurteilung der 
zwei Gestalten Napoleon und Kutuzov die Hauptrolle. Man hat in der ersteren 
verschiedentlich eine Karikatur oder doch etwas gewollt von der Wirklichkeit 
Abweichendes sehen wollen. Apostolov hält diesen Vorwurf für unberechtigt, 
er beruft sich hierbei auf Beschreibungen von Personen aus der Umgebung des 
Kaisers, de Segur, de las Cases u. a., die ganz solche Züge festgehalten haben, 
wie T. sie beschreibt. A. selbst hat aus diesen Schriften direkt den Eindruck 
des Karikaturenhaften gewonnen. Die Ergebnisse der Untersuchungen Sklovskijs 


450 


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werden von größtem Wert sein fiir ein abschließendes Werk über diese Fragen, 
welches zurzeit noch nicht existiert. Auch Gusev bringt im zweiten Bande 
seiner Tolstojbiographie nichts Erschöpfendes darüber. Aleks. Amfiteatrov hatte 
in seinen Skizzen über den russischen Patriotismus bestätigt, daß bei einer Nach- 
prüfung des massenhaften Materials über die E e von „Vojna i mir“ zu er- 
sehen ıst, daß T. nicht „erfunden“ hat. Gusev aber hebt gerade diejenigen Stellen 
hervor, in denen zu erschen ist, daß T. „erfunden“ hat. Lo G. hält es für wahr- 
scheinlich, daß gerade in diesem „Erfinden“ und „Nichterfinden“ die Ursache für 
den epischen Charakter dieses Werkes liegt, der es möglih machen wird, daß 
es zum Mythos wird, durch den in künftigen Jahrhunderten die Welt erfahren 
kann — wie Strachov sagte —, was für ein Volk das russische gewesen ist 
Emmy Haertel. 


A. Pogodin: „Provincial'nye očerki“ Annenkova. — Slavia 8, 1 
(1929). S. 118—131. 


Zweck dieses Aufsatzes ist es, den russ. Literarhistorikern die nicht ge- 
nügend geschätzte Bedeutung Annenkovs als treuen Schilderer der russ. Zustände 
in der Provinz und auf dem flachen Lande in Erinnerung zu bringen. Seine Be- 
ziehungen zu Turgenev sind bekannt, wer seine „Pisma iz provincii“ gelesen, 
kann sich überzeugen, daß gewisse Mädchentypen, die A. in den Häusern der 
Gutsbesitzer kennen gelernt und in seinen Pis’ma beschrieben hat, den Turgenev- 
schen weiblichen Typen sehr ähneln, die, oft gebildeter als ihre Umgebung, wie 
z. B. Elena in „Nakanune“ einer gewissen Vereinsamung verfallen mußten. P. 
zählt andere von A. gezeichnete Typen auf, wie Wahrheits- und Gottsucher, die 
in der Literatur der 40er und 50 er Jahre so häufig werden sollten. Ferner 
sind Momente aus dem Volksleben, besonders dem Volksgesang, den A. in seiner 
anzen Eigenart erlebt und beobachtet hat, und ethnographisch wichtige Einzel- 

eiten in seinen Briefen aus der russ. Provinz, die mehr beachtet werden sollten, 

als das gemeinhin geschieht. Verf. würde es begrüßen, wenn ähnliche Erinne- 
rungen, z. B. aus den Schriften Sologubs oder Panaevs, wo sich auch Turgenevsche 
Frauentypen finden, jetzt einmal daraufhin durchgesehen würden, wo in der 
Literatur der 40er und 50er Jahre das „dokumentale“ Schaffen aufhört, und wo 
die „Schule“ beginnt, zu der nicht allein Turgenev gehörte, sondern auch so 
viele seiner Zeitgenossen. Emmy Haertel. 


Andrej Bilyj. 
Sergjusz Kułakowski: Andrzej Bielyj. — Wiadomości Lite- 
rackie 1929, Nr. 21. 


Kulakovskij schildert den Lebenslauf und die Bedeutung des verstorbenen 
russischen Dichters. 1880 geboren, Sohn eines bekannten Mathematikers, stand der 
junge Borais Bugaev, als er sich in den Poeten Andrej Bélyj verwandelte, unter 
dem beherrschenden Einfluß von Solovevs Philosophie. Die „Symphonien“, in 
denen er den Kampf der verderbten Welt mit dem Guten, des Antichrist gegen 
Christus orchestrierte, sind Marksteine der russischen rhythmischen Prosa. Der 
Gedankenwelt MereZkovskijs verwandt, ist hier die Lehre vom Widerstreit 
Ahrimans und Ormuzds (übrigens läßt sich auch die Parallele zu Zeromski leicht 
aufzeigen). Bald gerät Bélyj unter die suggestive Wirkung von Steiner und der 
Anthroposophie. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens aber wird der Poet aus einem 
Schüler zum Meister und zwar — nur in Rußland konnte aus den Voraussetzungen 
eines strengen Individualismus derartiges sich ereignen —, der neuen proletarischen 
Literatur, die von Bélyj ihre Prosodik und noch mehr entlehnte. 1929 ist er ge- 
storben. Otto Forst-Battaglia. 


Józef Mirski: Nemirovit-Dantenko. — Wiadomości Lite- 
rackie 1929, Nr. 33. 
„ mit dem berühmten russischen Theatermann, der sich, anläß- 
lich eines Kuraufenthalts in Karlsbad mit diplomatischer Vorsicht über die zeit- 
genössische Bühne und ihre Aufgaben äußert. Otto Forst-Battaglia. 


491 


Ukraine 
V. Mjakotin, „Rus“ i Ukraina“: ,,Poslédnija Novosti“ (Paris) 

Nr. 3079 v. 27. August 1929. 

S Die für das historische Verständnis der ukrainischen F notwendige 
Klärung der Begriffe „Rui“ und „Ukraina“ — für die in der 3 Literatur 
O. Hoetzscs in ihrem positiven Gehalt für die methodische Bearbeitung von 
Fragen der älteren russischen Geschichte seinerzeit nicht genügend gewürdi 
„Russischen Probleme“ (Berlin 1917) im ersten Abschnitt über „Kiev und Moskau“ 
die beste Einführung geben — wird nach dem Urteil V. Mjakotins durch die Unter- 
suchung von Fürst A.M. Volkonskij: „Der Name Rus in der vormongolischen 
Zeit“ (Imja Rusi v do-mongol’skuju poru. Izd. obščestva „Edinstvo“. Prag 1929) 
gefördert. 1 der Propaganda der ukrainischen ratisten ist daran fest- 
zuhalten, ie russischen Chroniken vor dem Tatareneinfall das Vort 
„Ukraina“ als Eigennamen, als Bezeichnung eines bestimmten Territoriums, nicht 
kennen; es bedeutete damals vie später in den nördlichen Chroniken des 18. bis 
16. Jahrhunderts lediglich „Grenzbezirk“ einzelner Fürstentümer. Daher gab es 
auch in der Moskauer Periode Ukraine als offizielle Bezeichnung, die Ukrainy 
Meščerskija, Mordovskija, Rjazanskija, Tul’skija, Smolenskija, Litovskija, Pskov- 
skija, Tatarskija, Nemeckija, — worunter die Grenzstriche der Melkerjaken, Mord- 
vinen, von Rjazan, Tula, Smolensk, Litauen, Pskov, gegen die Tataren und 
Deutschen (Livland) verstanden wurden. 

Nach Kostomarovs Bemerkungen zur Terminologie der Worte Rossija 
(Rosija, rossijskij, rossijanin, Ruf, Russkij) in der von der Ukrainischen Akademie 
der Wissenschaften i. J. 1929 veröffentlichten Sammlung seiner publizisti- 
schen und polemischen Schriften läßt sich die Wandlung jener Begriffe durch die 
ukrainische Publizistik des 19./20. Jahrhunderts ermessen. F. Epstein. 


Knjaz’ A. Volkonskij: Come la storia della Russia premon- 
golica può divenire una questione di attualità. — L’Europa 
Orientale 9, 3—4 (1929), S. 93—117. 

Durch den Aufsatz von Onatskij in L’Europa Orientale 1928, Nr. 7—8 „Il 
problema ucraino a traverso la storia“ veranlaßt, hat Fürst V. alle gegen die 
ukrainischen Hypothesen Onatskijs sprechenden historischen Data zusammen- 
gestellt, so zunächst chronologisch geordnet, die vom 9,—18. Jh. nachweisberen 
Quellen, aus denen die übereinstimmende Bezeichnung Rus’ etc. für das prä- 
mongolische Rußland zu ersehen ist. Er weist in einer Anm. auf die willkürliche 
Umänderung des Wortes „russisch“ in „ruthenisch“ aus Daniels Reise zum HI. 
Grabe durch Gr. M. Tyszkiewicz in „Histoire de la littérature ukrainienne“ hin. 
Um die Unzulänglichkeit der von O. vertretenen Meinung, es habe ursprünglich 
ein bewußter Gegensatz zwischen süd- und nordrussischem Gebiet gegeben, zu 
entkräften, stellt Fürst V. eine Tabelle für die bald im südlichen, bald im nörd- 
lichen Gebiet gelegenen Fürstensitze von 16 regierenden Fürsten auf, angefangen 
von Vladimir d. Hl. bis zu Mstislav II. Izjaslavié. Für die von alters übliche An- 
wendung des Wortes „ukraina“ im Sinne von „marca“ der karolingischen Herr- 
schaft führt er zum Beweis die 18 Zitate der russischen Chroniken an, in denen 
es gebraucht ist, unter denen nur 8 im Sinne von Grenzgebiet stehen, und zwar 
während der vormongolischen Zeit; für die nachmongolische Zeit sind dann Zitate 
angeführt, die mit „ukraina“ Grenzgebiete bezeichnen. Fürst V. behandelt dann 
noch die Beziehungen Galiziens zum übrigen Rußland der vor- und nachmongoli- 
schen Zeit. Emmy Haerte 


Ju. A. Javorskij: Galicko-russkaja virda o zloj žene. — Slavia 7, 4 
1929), S. 922—926. 

Javorskij zitiert ein Gedicht vom Ende des 18. Jahrhunderts über das beliebte 
Thema von der „bösen“ Frau, welches sich, nebst anderem altem handschriftlichen 
Material, in dem galizisch- russischen Museum von A. S. Petruleviè in Lemberg be- 
fand und leider nach der russischen Evakuation vom Jahre 1915 verschollen ist. 


492 


Daß die Klage über die böse Frau, mit der zu leben schlimmer ist al? in der Wüste 
mit einem Löwen, letzten Endes auf eine Stelle im Buch Sirach und die Sprüche 
Salomonis zurückzuführen ist, wird niemand bezweifeln. Jav. geht hier der Frage 
nach, wie weit späterhin asketische Strömungen dazu beigetragen haben können, 
diesen ablehnenden Standpunkt gegen das Weib frisch zu beleben. Für das 
Russische kämen dann vor allem byzantinische Schriftsteller in Betracht. Solche 
antifemininen Aussprüche waren das Hauptmotiv in dem Johannes Chrysostomus 
zugeschriebenen „Slovo o zlych Zenach“, die in die entsprechenden altrussischen 
Sborniks übergingen, so in die „Plela“, „Slovo Daniila Zato£nika“ usw. Die dich- 
terische Umgestaltung des alten Themas, wie in dem zuerst zitierten Vers, ist 
nichts seltenes, Jav. führt eine Reihe derartiger Gedichte älterer Sammlungen an. 
Das Motiv finder sich auch in umgekehrter Anwendung, d. h. gesungen von 
Frauen gegen verhaßte Ehemänner. Es bleibt die Frage offen, welchem literari- 
schen Typ das Gedicht aus der Lemberger Sammlung nachgebilder ist. Auffallend 
ist es, daß es, ebenso wie das „Slovo o zlych Zenach“, über das biblische Original 
herausgehend, nicht nur von Löwe und Schlange spricht, sondern eine Menge 
anderer Tiere einbezieht. Ob hier unmittelbar eine Übernahme aus dem „Slovo“ 
erfolgt ist, oder ob ein Zwischenglied das Muster abgab, läßt sich zurzeit nicht 
entscheiden. Emmy Haertel. 


K. PuSkarevié: F. L. Celjakovskij v ukrainskich perevodach. — 
Slavia 8, 2 (1929). S. 289—296. 


C. gebührt, als einem der „Erwecker“ des nationalen Bewußtseins in der 
Literatur, eine ganz besondere Stellung innerhalb des russ.-Cechischen und ukrain.- 
&echischen Literaturaustausches. Verf. erinnert an die verhängnisvolle Wirkun 
eines Zeitungsaufsatzes von C., der an Nikolaj I. und seiner Polenpolitik Kritik 
übte und uld daran war, daß er nicht als Universitätslehrer nach Rußland be- 
rufen wurde. €. hat in den „Literni zpravy“ Berichte über neue, auf russ. und 
ukrain. Literatur bezugnehmende Bücher gebracht, dort äußerte sich auch Hanka 
über das Buch „Dumkı i pesni, ta ite de Sto“ von Amvrosij Mogila, aus dem 
8 Jahre später C. einiges übersetzte. Die Folgen der slawischen Wiedergeburt 
machten sich besonders in Galizien bemerkbar, wo sich Salkeviè, Golovackij u. a. 
bemühten eine Sprach- und Literatureinheit herzustellen. Damals nahm auch das 
Interesse der polnischen Intelligenz für alles das Volkstümliche Betreffende zu, 
daher kamen C.s „Slavjanskie narodnye pesni“ sehr in Aufnahme, ebenso wie 
Kollars panslavische Ideen die Geister bewegten. Doch bestand zwischen den 
slavophilen Ideen in Großrußland und der Ukraine ein Unterschied, auf den 
auch Dragomanov hingewiesen, die ukrainische Slavophilie ist dagegen eng mit 
der &echischen Wiedergeburt verknüpft. 

Den Übersetzungen aus dem Cechischen ins Ukrainische gebührt in der 
1. Hälfte des 19. Jhs. entschieden ein Vorrang vor dem polnisch-ukrainischen 
Literaturaustausch. Kollar wurde von Metlinskij übersetzt, der dessen germano- 

hobe Gesinnung teilte. Er übersetzte auch Celachovskf; ein künstlerischer Wert 

ist seinen Übersetzungen jedoch nicht zuzuerkennen. P. gibt durch Textgegen- 
überstellungen den Beweis. Als nächstfolgender Übersetzer Celachovskys ist 
Nikolaj Ustjanovié genannt und zuletzt A. A. Korsun. Des letzteren Über- 
setzungen sind wörtlich treu aber nach der künstlerischen Seite hin auch an- 
fechtbar. Emmy Haertel. 


Cechoslovakai 
Wolfango Giusti: Un «Contrasto tra l’anima e il corpo» 


nella letteratura céca del XIV secolo. — Rivista di letterature 
slave. Anno 4, 5 (1929). S. 293—299. 


Die čech. Literatur des Mittelalters besitzt mancherlei künstlerisch Wert- 
volles, ist aber unter der čech. Intelligenz, bei deren ausschließlich nationalen 
Bestrebungen zugänglich gewesener Sinnesrichtung, absichtlich unbeachtet ge- 


493 


blieben. Man ist dem katholischen Mittelalter gegenüber noch jetzt in der 
Cechoslovakei größtenteils uninteressiert. Zu den interessantesten Erschei- 
nungen dieser Literatur gehört der „Spor duše s tělem“, der, wie G. nach wert, 
sich stark unterscheidet von der allgemein bekannten Art dieser im Mittelalter so 
beliebt gewesenen Dichtungen und auch von dem im 8. Jahrzehnt des 13. Jhs. 
enstandenen italienischen „Contrasto“. So gut wie ausnahmslos trägt in diesem 
Streit, zwischen Seele und Leib überall die Seele den Sieg davon, und die dem 
Leib zugeschriebenen Argumente muten abstoßend an in ihrer Vulgarität. Ganz 
anders verläuft aber der „Spor“. Nicht nur ist von einem Sieg der Seele nichts 
zu sehen, sondern beide Gegner legen einfach ihren verschiedenen Standpunkt 
dar, und der Leser behält den Eindruck, daß der Streit unentschieden ge- 
blieben ist. 

Sehr richtig hat Roman Jacobson im Vorwort zu dem von ihm heraus- 
gegebenen „Spor duše s tělem (Praha. Kuncif 1927) bemerkt, daß der Verf. 
des „Spor“ absichtlich diesen Verlauf gewählt hat, um dadurch die Möglichkeit 
zu gewinnen zur freien Ausgestaltung der eigenen dichterischen Inspiration. Nach 
Giustis Meinung muß der Dichter eine Mentalität gehabt haben, die fünfund- 
einhalbes Jahrhundert später „positivistisch“ genannt werden würde. Ihm er- 
scheint nicht so wichtig, daß hier mancher Gedanke geäußert wird, der den kirch- 
lichen Dogmen zuwiderläuft, als daß der Streit mit einer solchen Objektivität 
dargestellt wird. G. greift aus der reichen mittelalterlichen Literatur dieser 
Gattung zum Vergleich die ,,Contenzione infra l' anima e corpo“ von Jacopone 
da Todi heraus und stellt die Texte auszugsweise einander gegenüber. Bei 
Jacopone endet der Streit in traditioneller Veise zugunsten der Seele. Im 
čech. Text sind die der Personifikation des Leibes zugeschriebenen Gedanken- 
ginge keineswegs abstoßend, sondern tragen ein Gepräge von heidnischer 
Lebensfreude und klassischer Ruhe. Zudem sind ihr auch religiöse Motive in 
den Mund gelegt, sie beruft sich darauf, daß durch den Kreuzestod Christi alle 
von ihrer Sünde erlöst worden sind. So zeigt der Zech Text eine innerliche 
Bereicherung beider Streitenden, wenn ihm auch die starke Überzeugungskraft 
fehlt, die für Jacopone da Todi so charakteristisch ist. Emmy Haertel 


Wolfango Giusti: Dalla poesia ideologica alla pocsia pura in 
Cecoslovacchia. — Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 
(1929). S. 373—390. 

Die neuere Cech. Literatur in ihrer Gesamtheit ist oft ungerecht beurteilt 
worden, sowohl von Fremden wie von Cechen selbst. Man sollte sich bei der- 
artigen Urteilen immer die geographische Lage, die Geschichte und nationalen 
Probleme der Cecholv.vor Augen halten. Beiläufig weist G. darauf hin, wie un- 
erläßlih das beim Studium jedes einzelnen der slawischen Länder ist, und wie 
bald die Phantastik von einer slavischen literarischen Einheit verschwinden 
würde, wenn man so im einzelnen Fall verführe. G. macht auf gewisse Parallel- 
erscheinungen in der Geistesgeschichte Italiens und der Cechosl. hin, auf gewisse 
Stagnationen, die eintreten konnten, während in anderen europäischen Ländern, 
die die Grenzen des Autochthonismus längst überschritten hatten, bereits Fragen 
von universeller Bedeutung in der Literatur angeschnitten wurden. In der čech. 
Literatur der letzten Zeit hat sich die soziale Frage im Anschluß an die 
patriotische bewegt, zunächst als ein Anhängsel von sekundärer Bedeutung, 
später als Gleichgewicht haltend, und zu guter Letzt in vollem und markantem 
Gegensatz zu der nationalen Sache. Die nationale Bewegung hatte sich, ebenso 
wie die soziale, eine Zeit hindurch einmütig gegen das deutsche Übergewicht in 
Politik und Wirtschaft gewandt. Mehr oder weniger waren die Probleme mit- 
einander eng verschmolzen von den frühesten Zeiten des Cech. „risorgimento“ an 
bis in die Jahre des Weltkriegs hinein. Der nationalistische Dichter war sic 
bewußt auch für eine soziale Umgestaltung mitzukämpfen, der soziale, oder 
vielleicht auch sozialistische, kämpfte mit um die nationale Freiheit. Der 
Militarismus schien im beiderseitigen Feinde (Osterreich) verkörpert, die Selbst- 


494 


bestimmung der Völker wurde von allen Klassen ersehnt, und der soziale Kampf 
war weniger cin Klassenkampf als ein Kampf des tech. Volkes gegen die deutschen 
und jüdischen Kapitalisten. Nach Erlangung der nationalen Einheit wandelt sich 
die soziale Dichtung um zur proletarischen, und an Stelle der sozial-nationalen 
Ideen treten ausgesprochene Tendenzen des KlassenbewuStseins. Zu aller Letzt 
aber taucht die Frage auf: da die proletarische Dichtung dasselbe sagt, was ein 
Zeitungsartikel ebensogut sagen könnte, wozu noch Verse schreiben? Dem- 

gegenüber tritt die Bedeutung des Poetismus als rein künstlerische Angelegen- 
heit ins rechte Licht. Er will die Dichtung von Ideologie, Logik und Ratio- 
nalismus befreien und betrachter die Lyrik als spontanen Gefühlsausbruch, der 
das gesamte Leben erfassen und einem Europäismus entgegenstreben soll. Diese 
radikale Umgestaltung der Lyrik bringt eine Bereicherung, keine Verarmung 
der Kunst mit sich, und sollte nicht als Kinderei oder Primitivität abgeurteilt 
werden. 

G. betrachtet, ausgehend von diesen allgemeinen Gesichtspunkten, als ehe- 
mals hochaktuell gewesen, im Augenblick inaktuell geworden die Dichter: 
Machar, Bezruč, S. K. Neumann und Volker. — In letzter Zeit hat Vaclav 
Cerny mit seinem „Kořeny současného umění“ (Praha. Girgal 1929) lebhafte 
Diskussionen hervorgerufen, da er für die gesamte zeitgenössiche Dichtung die 
Philosophie und Ästhetik Bergsons als Ausgangspunkt annimmt. Bergson selbst wird 
von Cerny wieder mit Schelling und Schopenhauer in Kontakt gebracht, wodurch 
der Eindruck entsteht, als sei letzten Endes der jetzige Vortrab der Dichtung 
romantisch orientiert. C. beugt zwar einer solchen Auslegung vor und will nur 
nachweisen, daß die Grundlagen der Bergsonschen Philosophie tief eingedrungen 
sind in die Sphäre des modernen Denkens, gleich ob bewußt oder unbewußt. 
G. möchte jedoch, daß Cerny in einer Neuausgabe seines Buches seine Aus- 
lassungen über den Bergsonschen Einfluß revidierte und das Kapitel über den 
Parallelismus zwischen Bergson und Marinetti ganz ausließe. Cernf hat sich auch 
die Ideen Freuds zu eigen gemacht, und hiermit ist er an den Wurzeln des 
Poetismus angelangt, der das Gefühlsmäßige will und das Rationelle ver- 
abscheut. Unter diesen Gesichtspunkten bespriht G., als Übergang von 
ideologischer Dichtung zum Poetismus, Seifert und als unmittelbar im Poetismus 
stehend Nezval. Der Poetismus wird unbedingt zu einer Reaktion führen. In 
der früheren Generation stellt Březina eine Art Synthese dar, in der Gegenwart 
scheint Vančura, als über den Poetismus hinausreichend, zu einer synthetischen 
Persönlichkeit werden zu sollen. Emmy Haertel 


Ettore Lo Gatto: Otokar Březina. — Rivista di letterature 
slave. Anno 4, 6 (1929). S. 473—475. 
Verf. widmet dem im März d. J. verstorbenen Dichter einen Nachruf, dem 
eine Aufzählung der bedeutendsten Aufsätze über Bfezina und der Über- 
setzungen seiner Werke beigegeben ist. Emmy Haertel 


V. Tille: Zlatohlävek. — Slavia 7, 4 (1929), S. 895—918. 

Durch J. Boltes Bearbeitungen des alten Märchenmotivs vom Goldkopf (bzw. 
Grindkopf, Goldhaar usw.) angeregt, fiir das dieser Varianten aus germanischen, 
romanischen, slavischen und außereuropäischen Sprachen beigebracht, will T. die 
in &echischen Texten anzutreffenden Varianten untersuchen. Die Grundidee des 
Märchens nähert sich dem Typ des unbekannten Helden, auch des verstellten 
Narren. T. stellt dazu noch Varianten aus dem östlichen Riesengebirge mit der 
Fabel vom „Honza“, vom „Květ“, „Sirotek Ondřej“, „Hanzl“, „Jan Pecival“ 
anderer Sammlungen und dergleichen mehr. T. kommt zu dem Schluß, daß das 
Gerüst der &echischen Varianten verschiedentlich abweicht von dem von Bolte be- 
sprochenen Märchentyp. Emmy Haertel 


496 


Polen 


Gumowski Marian: Sprawa braniborska w XII wieku. (Die 
Brandenburger Frage im XII. Jahrh.) — Slavia Occidentalis VII. 
91—134, VIII. 160— 221. 


Der Staat der Stodoranen, welche einen Teil des Liutizen- Stammes bildeten. 
umfaßte das Gebiet an der mittleren Havel um Brandenburg (slav. Branibor). Ob- 
wohl schon 928 von Heinrich I. erobert, bewahrte das Fürstentum Brandenburg 
seine Selbständigkeit noch im Anfang des XII. Jahrh. und erlag dem deutschen 
Vordringen erst nach dem Ableben des Fürsten Meinfried, in Se 1127 getötet 
wurde. Sein Nachfolger war der schon früher mit seiner Gemahlin Petrissa ge- 
taufte Przybysław — Heinrich. Zahlreiche Tatsachen, welche die freundschaft- 
lichen Beziehungen zwischen Przybystaw und Albrecht dem Bären bezeugen, führen 
den Verf. zur Annahme, daß in Brandenburg 1127 ein Staatsstreich von 
Przybystaw mit Hilfe Albrechts vollzogen wurde; dabei wurde Meinfried ums 
Leben gebracht und sein Verwandter Jaksa war gezwungen, nach Polen zu fliehen. 
Die Folge davon war, daß Przybystaw seither beständig unter dem deutschen Ein- 
fluß stand. Albrecht war sogar einige Zeit Mitregent von Brandenburg; nach 
seinem Sturze 1139 übte die srs Geistlichkeit (Bischof Wigger) und die 
Fürstin Petrissa, welche ein Werkzeug Albrechts war, starken Einfluß auf 
Przybystaw aus. Petrissa ermöglichte nach dem Tode Przybystaws 1150 Albrecht 
dem Bären die Besitzergreifung Brandenburgs. 

Unterdessen verweilte der aus Brandenburg gebannte Jaksa in Polen. Der 
polnische Herzog Boleslaus Krzywousty war nicht imstande, irgend etwas zu- 

nsten Jaksa’s zu erreichen, beschenkte ihn aber reichlich mit großen Giiter- 
omplexen. In Polen vermählte sich Jaksa auch mit der Tochter des dortigen 
Magnaten Peter Wlast. Dieser versuchte in den Jahren 1144/5 in Brandenburg 
zugunsten seines Schwiegersohnes zu intervenieren, zog sich aber dadurch nur die 
Feindschaft Albrechts zu, welche wahrscheinlich viel zu der Verstiimmelung Peters 
auf Befehl des polnischen Großherzogs Ladislaus II. beitrug. In der nächsten Zeit 
erfolgte zwar der Sturz des den Deutschen geneigten Ladislaus, welcher, von seinen 
Brüdern aus Polen verjagt, nach Deutschland flüchtete und dort Hilfe suchte. 
Seine siegreichen Brüder wollten einer eventuellen Intervention von seiten Deutsch- 
lands zugunsten Ladislaus zuvorkommen und aus diesem Grunde ließen sie sich zu 
einem Vertrage mit Albrecht dem Bären in Kruschwitz 1148 bewegen. Albrecht 
cl sing sich wahrscheinlich, jede Intervention deutscherseits zugunsten 
Ladislaus II. zu verhindern, die polnischen Herzoge versprachen dagegen, dem 
Jaksa keine Hilfe zu leisten. Dieser Vertrag erleichterte bedeutend Albrecht die 
Besitzergreifung Brandenburgs (1150). Von den Herzogen im Stich gelassen, führte 
Jaksa mit Hilfe der polnischen Rittergeschlechter den von ihm längst geplanten 
Angriff auf Brandenburg 1154 aus und herrschte daselbst bis 1157. Erst in diesem 
Jahre brachte Albrecht der Bär den Feldzug Kaiser Friedrich Barbarossas gegen 
Polen zustande und eroberte bei dieser Gelegenheit Brandenburg, während der 
Magdeburger Erzbischof Wichman sich Jüterbogs bemächtigte. In den Händen 
Jaksas verblieb aber der östliche Teil des Brandenburger Fürstentums, d. h. die 
späteren Territorien Barnim und Teltow mit der Hauptburg Kopytnik (Köpenick, 
östl. v. Berlin), deren Besitz ihm in dem 3 Vertrage zu 
Krzyszkowo bestätigt wurde. Dort regierte Jaksa bis zu seinem Tode (1176). 
Seine polnischen Besitzungen verschenkte er an die Geschlechter, die ihm bei der 
Eroberung Brandenburgs behilflich waren, oder er verwendete sie zu frommen 
Stiftungen, welche nach seiner Pilgerschaft in das heilige Land von ihm gegründet 
wurden. Er nahm auch beständig Teil an dem öffentlichen Leben Polens, trotz- 
dem aber war die Stellung der polnischen Herzöge ihm und der Brandenburger 
Frage gegenüber gleichgültig. Die Folge davon war wahrscheinlich eine An- 
näherung des kinderlosen Jaksa in seinen letzten Jahren an die pommerschen 
Herzöge. 

Im vorliegenden Aufsatze folgt Verf. im Allgemeinen den Ansichten des Pro- 

fessors St. Zakrzewski über die Brandenburger Frage im XII. Jahrh. und ihren 


496 


Zusammenhang mit den deutsch-polnischen Verhältnissen in dieser Zeit, begründet 
aber seine Darstellung mit zahlreichen Quellen, wobei er auch das numismatische 
Material in Betracht zieht. S. Zajaczkowski. 


Wlodarski Bronislaus: Rzekomy dokument Swietopelka 
pomorskiego z 1180 r. (Die angebliche Urkunde Swantopolks 
von Pommerellen vom Jahre 1180.) — Roczniki historyczne. 


B. V, H. I, 1—16. 1928. 

Den 5 der Abhandlung bildet die Urkunde Herzog Swantopolks 
von Pommerellen v. J. 1180, in welcher der genannte Herrscher die kirchliche Zu- 
gehörigkeit des Gebietes Stolp (Stupsk) zu Gnesen bezeugt. Übereinstimmend 
mit der bisherigen Literatur (Klempin, Duda) hält Verf. diese Urkunde für 
ein Falsifikat, welches im Zusammenhange mit den seit der ersten Hälfte des 
XIII. Jahrhundertes dauernden Fehden zwischen dem Erzbischof von Gnesen und 
dem Bischof von Kammin um die kirchliche Zugehörigkeit des Gebietes Stolp ent- 
standen ist. Der Narratio dieser Urkunde entnimmt aber Verf. manche Angaben, 
welche, mit anderen Quellenzeugnissen zusammengestellt, ihm die Möglichkeit 
bieten, das Problem der Oberherrschaft des großpolnischen Teilfürsten Ladislaus 
Laskonogi über Stolp zu beleuchten und in Verbindung mit dem Fürstentage zu 
Gasawa v. J. 1227, wo der Krakauer Teiltürst Leszek Biaty ermordet wurde, zu 
setzen. Verf. beweist also, daß Laskonogi als vermutlicher Vormund des minder- 
jährigen Herzogs von Stolp die Oberherrschaft daselbst ausgeübt und damals dem 
König Waldemar II. von Dänemark Huldigung geleistet hat (1205). Nach dem 
Zusammenbruche der dänischen Macht an den Gestaden der Ostsee 1228 wurde 
Laskonogi von seinem Neffen Ladislaus Odonic und von Swantopolk angegriffen; 
dabei bemächtigte sich Odonic der Burg Ujście in Großpolen, während Swantopolk 
das Gebiet Stolp besetzte. Um das Verlorene wiederzuerobern, vereinigte sich 
Laskonogi 1227 mit Leszek Bialy zum gemeinsamen Mai sees gegen Odonic und 
Swantopolk. Verf. nimmt an, Leszek sich in diese Fehden hineinziehen ließ, 
nicht nur um Swantopolk zur Fügsamkeit zu zwingen, sondern auch um i 
Stolp zu entreißen. Die Stolper Frage war also eine der Ursachen der Gasawer 
Katastrophe. S. Zajaczkowski. 


Pohorecki, Felix: Rytmika kroniki Galla - Anonima. — Uber 
die Rhythmik der Chronik des Gallus-Anonym. — Roczniki 
Historyczne. B. V, 105—169 und VI, 12—75. Poznań 1929 


und 1930. 


Die älteste polnishe Chronik des sog. Gallus-Anonym war schon mehrere 
Male Gegenstand der Studien einzelner Gelehrten. Sie nahmen fast ausschließ- 
lich den historischen Inhalt der Chronik und deren Bedeutung als einer histori- 
schen 8 in Betracht, vernachlässigten aber fast gänzlich ihre literarische Form. 
Folge davon war, daß in den letzten Ausgaben der Chronik ihre literarischen 
5 die aber auch ihren historischen Vert aufklären können, 
vollständi verwischt wurden. In vorliegendem Aufsatz untersucht Verf., mit 
Zuhilfenahme der Arbeiten W. Meyers und K. Polheims über die mittelalter- 
lihe Rhythmik und Reimprosa, die Chronik ausschließlich als literarisches Denk- 
mal und bringt ihre Eigenrümlichkeiten und Eigenschaften ans Licht. In der 
Chronik des Gallus sind viele Verse und zwar 10 Leonine, 2 im Texte verwischte 
Hexameter und 250 rhythmische Versc enthalten, die Chronik selbst ist meisten- 
teils in Reimprosa verfaßt. Als Haupteigenschaft dieser Reimprosa sind der zwei- 
silbige Reim und der Kursus velox, welcher unlängst vor der Entstehung der 
Chronik (ca. 1118) zum erstenmal in der päpstlichen Kanzlei eingeführt wurde, 
hervorzuheben. Wenn man diesen Umstand in Betracht zicht und dabei berück- 
sichtigt, daß die Reimprosa im 11. und 12. Jahrh. in Blüte steht, der Gebrauch 
der rhythmischen Verse dagegen bis im 12. und 18. Jahrh. in Europa verbreitet 
ist, so muß man gestehen, daß die Chronik des Gallus-Anonym schon in der 
Zeit ihrer Entstehung allen Forderungen der damaligen Schreibmanier vollständig 
entsprach. Im Anschluß daran kann man vermuten, daß die weiteren Forschungen 


497 


in dieser Richtung manche Aufschliisse iiber die Entstehungsfrage der Chronik und 
die Person des Verfassers bringen können. St. Zajączkowski 


Polaczek, Helene: Geneza orła Piastowskiego. — Über den 
Ursprung des Piastenadlers. — Roczniki Historyczne. Bd. VI, 
1—11. Poznah 1930. 


‚Zweck des vorliegenden Aufsatzes ist den Ursprung des weißen Adlers als 
polnischen Reichswappens zu erklären. Dieser Adler tritt zuerst auf den Siegela 
der polnischen Teiltürsten seit Ende des ersten Viertels des 18. Jahrh., also circa 
fünfzig Jahre später als in Westeuropa auf. Er wurde von diesen Fürsten an- 
perendi, welche entweder in Krakau a oder Ansprüche auf Krakau erhoben 

atten. Daraus kann man schließen, daß dieser Adler ursprünglich das Familien- 
zeichen des mit Krakau verbundenen Hauptes der Piastendynastie war. Später 
aber, um 1800, ist der weiße Adler S bot: des polnischen Staates geworden und 
seither sehen wir ihn auf den Siegeln der königlichen Städte und der Staats- 
behörden auftreten. Da das bis jetzt erhaltene numismatische Material das Er- 
scheinen des Adlers auf den polnischen Münzen im 18. und auch früher im 10. 
bis 12. Jahrh. aufweist, kann man somit vermuten, daß zwischen der Piasten- 
dynastie und dem weißen Adler eine noch in der vorheraldischen Zeit angeknüpfte 
Verbindung bestand. Infolge dessen ist später der Adler zum Wappen dieser 
Familie geworden. Dieses Ergebnis widerspricht den Ansichten der deutschen 
Heraldiker (Hauptmann, Siegenfeld), welche den polnischen Adler von 

Reichsadler der Kaiser abzuleiten suchten und dessen Anwendung in Verbindung 
mit dem Vasallenverhältnis Polens zum deutsch-römischen Kaisertum setzten. 

St. Zajączkowski 


Zajączkowski, Stanislaw: Polska a Zakon Krzyżacki w ostatnich 
latach Wiadyslawa Łokietka (Polen und der Deutsche Orden in 
den letzten Regierungsjahren Ladislaus Locticus). — Lwów, 
Towarzystwo Naukowe 1929. S. 292. Archiwum Towarzystwa 


Naukowego we Lwowie, Dział II, Tom VI, Zeszyt 2. 
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Darstellung des Kampfes, den der 
Inische König Ladislaus Łokietek mit dem Deutschen Orden wegen Pommerellen 

führte. Dieser Kampf begann nach der Krönung König Ladislaus im Jahre 1320. 
Anfangs machte der König den Versuch, das strittige Land mit Hilfe von diplo- 
matisch-gerichtlichen Mitteln wiederzugewinnen und brachte seinen Streit mit dem 
Orden vor den päpstlichen Stuhl. Der vom Papst angeordnete Prozeß hatte einen 
günstigen Ausgang für Polen, indem das zu Inowroclaw (Hohensalza) gefällte Ur- 
teil dem König Pommerellen zuerkannte. Der Deutsche Orden entwickelte aber 
dagegen eine rege Tätigkeit und erreichte, daß der Papst mit zwei Bullen vom 
9. Juni 1321 das Urteil aufhob und die abermalige Durchtührung des Prozesses dem 
Bischof von Samland anvertraute. Die genannten Bullen sind aber nicht aus der 
päpstlichen Kanzlei expediert worden und der Papst bewahrte seitdem eine ab- 
wartende Stellung in dieser Angelegenheit. Die Umwandlung der Stellung der 
Kurie dem pommerellischen Problem gegenüber war also nicht so groß, wie die 
bisherige Literatur angenommen hatte. Zu gleicher Zeit bemühte sich der Orden 
für den eventuellen Krieg mit Polen Verbündete zu gewinnen. Lokietek aber, ob- 
wohl er schon die Hoffnung auf eine friedliche Auseinandersetzung mit dem Orden 
aufgegeben hatte, brach nicht gegen die Kreuzritter los, da er sich ihrer Macht nicht 
le fühlte. 

Im Jahre 1325 wurde das polnisch-litauische Bündnis geschlossen und seit 
dieser Zeit trat eine Wendung in der Stellung Lokietek’s ein. Da die Litauer 
bis zum Jahre 1827 durch einen früher mit dem Deutschen Orden geschlossenen 
Friedensvertrag gebunden waren, brachte Lokietek vorläufig mit ihrer Hilfe einen 
Feldzug gegen die Mark Brandenburg zustande und begann erst im Jahre 1327 
den Krieg gegen den Orden, indem er die mit demselben verbündeten masovischen 
Teilfürsten angriff. Nun entflammte der Kampf. Anfangs zeigten die kämpfenden 
Parteien eine gewisse Zurückhaltung und Angst vor einander, im Laufe der Zeit 


498 


wurde aber der Krieg immer mehr und mehr hartnäckig und rücksichtslos geführt. 
Während des Feldzuges, den die Kreuzritter gemeinsam mit König Johann von 
Luxemburg gegen Litauen im Jahre 1829 unternahmen, griff Lokietek das Culmer 
Land an, um seinem litauischen Verbündeten zu Hilfe zu kommen. Aus Rache 
dafür überfielen die Kreuzritter mit Johann Polen und eroberten das Dobriner 
Land, wonach Johann den Fürst Wenzeslaus von Plock zur Anerkennung seiner 
Oberherrschaft zwang. In den nächsten Jahren 1829/80 machten die Kreuzritter 
viele Streifzüge nach Kujavien, was Lokietek wiederum mit einem großen Feld- 
zuge in das Culmer Land im Jahre 1880 beantwortete. Im folgenden Jahre unter- 
nahmen die Kreuzritter zwei große Raubzüge nach Großpolen, während des zweiten 
Zugen kam es zur Schlacht bei Plowce, deren Ausgang im allgemeinen für die 
Polen günstig war. Trotzdem aber verlor bald Lokierek Kujavien zugunsten des 
Deutschen Ordens und sein zweiter Feldzug in das Ordensland endete mit einem 
Waffenstillstande. 

In der wissenschaftlichen Literatur gab es bisher keine erschöpfende Dar- 
stellung des Krieges, welcher zwischen Polen und dem Deutschen Orden wegen 
Pommerellen geführt wurde. Abgesehen von den allgemeinen Darstellungen der 
Geschichte Polens und Preußens, welche diesen Krieg in großen Zügen beschreiben, 
gibt es, hauptsächlich in der polnischen Literatur, nur kleine Aufsätze und Bei- 
träge, welche die Einzelheiten des Krieges behandeln. Diese Lücke füllt erst die 
vorliegende Arbeit aus, indem sie das volle Bild dieses blutigen Ringens darbietet. 
Sie stützt sich auf das ganze schon publizierte Quellenmaterial, überdies nützt sie 
zwei Bullen Johann's XXII. vom Jahre 1821 aus, welche bis jetzt nur aus dürftigen 
Auszügen in Voigt's Geschichte Preußens bekannt waren. Vas die gedruckten 
Quellen anbelangt, legt Verf. viel Gewicht auf den von Prochaska veröffentlichten 
Bericht des Deutschen Ordens über dessen Krieg mit Polen, zieht dabei in Betracht 
die bisher nicht berücksichtigten Nachrichten Vilhelm's de Machaut, welcher, als 
Sekretär König Johanns von Luxemburg, seinen Herrn auf dessen Kriegsfahrten 
nach Polen und Litauen begleitete. Dies alles ermöglicht dem Verf. die ein- 
zelnen Tatsachen anders, als es die bisherige Literatur getan hat, zu konstruieren 
und in Zusammenhang miteinander zu bringen. Somit haben wir eine neue Fest- 
stellung der Tatsache des sog. Umschwunges in der Stellung der Kurie dem 
pommerellischen Problem gegenüber, dann eine neue Auffassung des Leczyca’er 
Waffenstillstandes v. J. 1326, des Verhältnisses der Kreuzritter zum polnischen 
Feldzuge gegen Brandenburg, der Gründe, die Lokietek bewogen haben, im 
J. 1829 das Culmer Land anzugreifen usw. Viel davon ist ganz richtig und 
überzeugend, manches aber scheint nur gewagt zu sein. Dabei muß auch hervor- 
gehoben werden, daß der Verfasser abweichend von der ganzen polnischen Lite- 
ratur, die Eröffnung der Kriegsoperationen dem König Lokietek und nicht dem 
Deutschen Orden zuschreibt. K. Tyszkows ki. 


Stanislaw Kętrzyński: Do genezy kanclerstwa koronnego. 
(Zur Entstehung des Kronkanzleramts.) — Kwartalnik 
Historyczny, Bd. 42 (1928), S. 713—760. 

Derselbe: Uwagi o pieczęciach Władysława Łokietka i Kazimierza 
Wielkiego. (Bemerkungen zu den Siegeln Władysław Łokieteks 


und Kazimierzs des Großen.) — Przegląd Historyzny, Bd. 28 
(1929), S. 1—67. 


Kętrzyński findet inmitten seiner angestrengten, auf ganz anderen Gebieten 
als dem der historischen Hilfswissenschaften liegenden Tätigkeit noch Muße, die 
polnische Diplomatik um neue gründliche Studien zu bereichern, die im Verein 
mit Arbeiten von Semkowicz, Maleczyfski und wenigen Spezialforschern den 

ualitativ beträchtlichen, quantitativ sehr armen Ertrag dieser Disziplin in Polen 

rstellen. Diesmal untersucht Ketrzynski den Ursprung des Kronkanzleramts, 
über das die Monographien von Kutrzeba und Balzer allgemeine juristische und 
historische Nachrichten enthalten. (Kutrzeba: „Urzedy koronne i nadworne w 
Polsce. Przewodnik naukowy i literacki 1908, 4 ff.; Balzer: Skarbiec i Archiwum 
koronne 1917, passim und Królestwo polskie 1919 passim). Das Kronkanzleramt 


499 


ist aus dem Krakauer Kanzlertum 5 Unter Ludwig von Anjou 
beginnt sich der Kanzler von Krakau Jan Radlica „cancellarius regni Poloniae zu 
nennen. Der Titel wird erst im 15. Jahrhundert zum ständigen. Schon vorher, 
seit 1888, hieß sich der Unterkanzler von Krakau „Subcancellarius aule“ (oder 
curie), und seit 1867 „vicecancellarius regni“ (Polonie). Die Kanzler der Teil- 
fürstenrümer verschwinden seit dem letztgenannten Jahr aus den Dokumenten, in 
denen sie nur sporadisch erscheinen: ihre Amter wurden offenbar des realen Ge- 
halts beraubt. 

Kętrzyński erörtert die tieferen Ursachen dieser an sich bereits einwand- 
frei verbürgten Tatsachen. Er geht mit Recht davon aus, daß die Einigung 
Polens unter Lokietek noch keine endgültige war und deshalb in der Verwaltung 
die Spuren des Separatismus noch weiterbestehen mußten. Wir würden heute mit 
juridischer Terminologie sagen: aus dem Staatenbund gleichberechtigter Staaten, 
unter denen faktisch oder rechtlich ein Fürst als primus inter pares den Vorrang 
hatte, wurde unter Lokietek ein Bundesstaat, dessen Zentralgewalt bei dem König 
in ähnlicher Weise lag, wie im neuen Deutschen Reich die kaiserliche Autorität 
beim König von Preußen. Der dominierende Staat des Bundesstaates aber — und 
dieser Staat drückte auf die kleineren Genossen, wie die masovischen Herzogrümer, 
noch stärker als Preußen etwa auf Bayern —, das wieder zum Königreich ge- 
wordene „Polen“ war vorläufig eine Realunion seiner noch nicht zum Einheits- 
staat verschmolzenen Teilgebiete. Deshalb behielten zunächst die acht Kanzler der 
„dzielnice“, von Krakau, Großpolen, Sieradz, Łęczyca, Kujawien, Pommerellen, 
Dobrzyn und Reußen, sowie der Krakauer Unterkanzler gleichzeitig ihre Ämter. 
Trotzdem gab es nur eine gemeinsame Kanzlei. Es urkundete mit ihrer Hilfe 
jeweils der Kanzler, auf dessen Gebiet die Aufzeichnung einer Urkunde geschah, 
wobei die Person des Empfängers, dessen territorialer Gerichtsstand, der Ort des 
Urkundengegenstandes keine Rolle spielten. Kurz, nicht das Actum, sondern das 
Datum entschied. Eine gewichtige Ausnahme: der Krakauer Unterkanzler trat 
überall als Substitut des betreffenden Kanzlers eines Teilgebietes auf. Warum? 
Die Antwort vermag Kętrzyński nicht mit absoluter Sicherheit zu erteilen, indessen 
scheint mir seine Hypothese, daß der Krakauer Unterkanzler als Vorstand der ge- 
meinsamen Kanzlei zu dieser allumfassenden Kompetenz gelangt sei, zuzutreffen. 


Der Aufstieg des Krakauer Kanzlers ist zunächst in der Bedeutung Krakaus 
als des einstigen Sitzes der Großherzöge und nunmehr der Könige, dann in dem 
Ansehen der Träger einer an sich schon hochgeachteten Würde ünder. Man 
muß nur an Zbigniew, den langjährigen Krakauer Kanzler und mächtigen Vor- 
kämpfer der Anjous, denken. Dazu kam noch die aus den mangelhaften Itineraren 
Lokieteks und Kazimierz zwar nicht in allen Einzelheiten, doch genugsam be- 
zeugte Tatsache, daß die Könige den weitaus größten Teil ihrer Regierung auf 
Krakauer Territorium verbrachten, mithin kraft des Territorial-Datar- Prinzips der 
SC Kanzler auch die meisten Urkunden ausstellte. 

Kanzlei unter zwei Vorständen, dem Kronkanzler und dem Unterkanzler bestand. 

Dem Krakauer, später Kronunterkanzler, drohte jedoch die Gefahr einer 
erneuten Rangsverminderung. Unter Kazimierz dem Großen verliert er lan 
seine Position an die Teilkanzler, zumal Großpolens. Dabei scheinen persönli 
Momente den Ausschlag gegeben zu haben. Ein neuer Umschwung vollzog sich, 
als 1367 Jan von Czarnköw, der berühmte Chronist, zum Unterkanzler ernannt 
wurde. Nunmehr ist die Zeit der Teilgebiets-Kanzler endgültig vorbei. Ja, noch 
mehr: der Vorgesetzte Jans, der Krakauer Kanzler, muß den Rivalen als Mit- 
Datar dulden. Entgegen dem althergebrachten Usus, nur einen Urkundenaus- 
fertiger zu nennen. Und Wire nicht der Unterkanzler gestürzt worden: die Ver- 
schmelzung des Unterkanzleramts mit dem Krakauer Kanzlertum zum Kron- 
kanzleramt hätte nicht auf sich warten lassen. So fand die Entwicklung ihren 
Abschluß darin, daß nach dem Verschwinden der Teilkanzler eine einheitliche 

KetrzyAskis die vorhandenen Dokumente erschöpfend verwertende Arbeit ist in 
doppelter Hinsicht zu rühmen: wegen ihrer umsichtig erzielten Ergebnisse und 
um der Zurückhaltung willen, mit der Hypothesen von Tatsachen getrennt 
werden. Nur zu oft verleitet in der Diplomat die Vermutung dazu, sie als Ge- 
wißheit zu bezeichnen. Einen Vorbehalt können vir indessen nicht unterdrücken: 


500 


Kętrzyński hat cs unterlassen, die Entwicklung in Deutschland zu verfolgen. Ich 
kann hier nicht auf Einzelheiten hindeuten. Allein es sei gesagt, daß die Umwand- 
lung einer einheitlichen Kanzlei mit nach territorialer Kompetenz getrennten Ober- 

äuptern in der Praxis des Kaiserlichen bezw. Königlichen Hofes nicht nur eine 
Parallele, sondern vielleicht sogar eine Erklärung findet. Auch in deutschen 
Landesfürstentümern, die durch Teilung in Sondergebiete zerfielen und später neu 
vereinigt wurden, finden wir interessante Analogien. 

Die sphragistische Abhandlung Ketrzyüskis befolgt dagegen mit Erfolg eine 
vergleichende Methode, um über den Ursprung der Majestätssiegeln Lokieteks und 
Kazimierz des Großen Klarheit zu gewinnen. Nach einleitender Besprechung der 
sehr primitiven Herzogssiegeln Lokieteks vor der Krönung, wendet sich der Autor 
dem Siegel des so kurz herrschenden Przemysiaw zu. Dessen Siegel ist, so meint 
Ketrzyfiski, von einem polnischen oder in Polen lebenden fremden Künstler nach 
einem gerade rasch zur Hand befindlichen Muster, nämlich ungarischen Diplomen 
des 18. Jahrhunderts, verfertigt worden. Es fiel recht schön aus. An dieses Vor- 
bild knüpfte Wladyslaw, in allem die Tradition Przemystaws aufgreifend, an. 
Kazimierz des Großen Siegel aber ist eine verschönte Erneuerung des von Lokietek 
benutzten Typs, der über die Arp4den auf französische Muster zurückgeht. Vom 
politisch-historischen Standpunkt aus ist als wichtiges Ergebnis der Studie 
Ketrzyhskis die neuerliche Bekräftigung für Lokieteks „Königsgedanken“ zu 
nennen. Vielleicht führen uns künftige Forschungen noch weiter und birgt sich 
hinter der Verwendung eines ungarischen Siegeltyps mehr als bloßer Zufall. 
Kunstgeschichtlich müssen wir die hohe 3 r Arbeit betonen, die den 

Inischen Siegelstechern alle Ehre macht. Es handelt sich um ausgesprochene 
orträtsiegel, die den Emblemen, selbst dem Thron, nur sekundäre Rolle zu- 
weisen. Otto Forst- Battaglia. 


Polnische Reformationsgeschichte. 

Stanisław Bodniak: -Hieronim Baliński, nieznany polemista 
katolicki ze schyłku XVI wieku. (Hieronymus Baliński, ein un- 
bekannter katholischer Polemist aus dem Ende des 16. Jahr- 
hunderts.) Reformacja w Polsce, Bd. 5 (1928), S. 104—114. 

Wiodzimierz Budka: Faust Socyn w Krakowie. (Faustus 
Socinius in Krakau.) Ibid., S. 120—123. 

Edmund Bursche: O unitaryzmie wogóle i o polskim w 
szczególności. (Über den Unitarianismus im allgemeinen und 
den polnischen im besonderen.) Ibid., S. 129—157. 

Kazimierz Kolbuszewski: Przegląd prac z zakresu dziejów 
reformacji w Polsce. (Überschau der Arbeiten auf dem Gebiet 
der 5 Reformationsgeschichte.) Ibid., S. 490—506. 

Stanislaw Kot: A. Frycza Modrzewskiego list do kröla Zyg- 
munta un rzy wręczeniu dzieła o Poprawie Rzltej. (A. 
Frycz Modrzewskis Brief an Zygmunt August, geschrieben bei 
der Überreichung des Werks „Von Verbesserung der Republik“.) 
Ibid., XX, S. 115— 119. 

Stanislaw Ptaszycki: Konfederacja Warszawska r. 1573. 
(Die Warschauer Konföderation von 1573.) Ibid., S. 90—97. 
Józef Siemie ski: Dysydenci w ustawodawstwie. (Die Dissi- 

denten in der Gesetzgebung.) Ibid., S. 81—89. 

Derselbe: W obronie „dóbr“ Konfederacji 1573 r. (Zur Ver- 

teidigung der „Güter“ der Konföderation von 1573.) Ibid., 


S. 98—103. 
Aus der Übersicht Kolbuszewskis läßt sich ein Bild über die qualitativ sehr 
hoch stehende polnische Forschung zur Reformationsgeschichte gewinnen, die 


501 


quantitativ freilich mit den üblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen har. 
Diese Jb. haben mit Wotschkes Arbeiten sehr wertvolle und von der polnischen 
Kritik anerkannte Beiträge geliefert. An erster Stelle ist allerdings die hier 
besprochene Fachzeitschrift „Reformacja w Polsce“ zu nennen. (Sonst nur noch 
verstreute Artikel in Zeitschriften wie dem Pamietnik und dem Ruch Literacki, 
in den Thorner Zapiski, im Przeglad Powszechny, in den häufigen Festschriften, 
wie der zu Ehren Brückners [die auch in den Jb. angezeigt wurde].) 

Der neueste Jahrgang der Reformacja w Polsce schließt mit einem sehr ın- 
haltsreichen Heft, aus dem hier die einzelnen Beiträge kurz verzeichnet seien. 
Bodniaks Studie gilt dem durch geistige und Herzenseigenschaften hervorragenden 
Konvertiten Hieronim Balifski. Einer protestantischen Familie entsprossen, deren 
Glieder in der Verwaltung der Bergwerke von Wieliczka tätig waren, erwarb sich 
der Jüngling an deutschen Hochschulen und auf der Reise ın Italien gründliche 
Bildung. Er bezeigte sie in den polemischen Schriften, mit denen er sih nach 
seiner Rückkehr ins polnische Vaterland und zur katholischen Kirche, gegen die 
Dissidenten wandte. Baliński bewahrt eine für jene rauhen Zeiten seltene Mägi- 
gung im Ton. Suaviter in modo, fortiter in re. Besonders den Socinianern und 
den sonstigen Gegnern des Dogmas von der E trat er entgegen. In- 
haltlich überragen die Schriften Balinskis nirgends den Durchschnitt. Er starb 
nach 1600, etwa 60 Jahre alt. In der sozialen Hierarchie hat er es nie über die 
Würde des „Wojski“ gebracht. 

Budka berichtet über den Aufenthalt von Socinius in Krakau (1579—1588 
und 1587—1598). Während bis vor kurzem die Daten des Krakauer Itinerars 
bezweifelt waren, kann Budka sogar die beiden Wohnungen des italienischen 
Reformators feststellen. Bursches ungemein lehrreiche Ausführungen nehmen von 
dem Werk Morse Wilburs „Our Unitarian Heritage“ (Boston 1925) den Ausgang 
und gibt nicht mehr und nicht weniger als eine kurze Geistesgeschichte des Uni- 
tarianismus, zumal in seinen polnischen Abschattungen. Die Tendenz der Be- 
trachtung weise bleibt den Antitrinitariern als Vertretern des Toleranzgedankens, 
stets freundlich. Die Krakauer Jagellonische Bibliothek bewahrt ein Dedikations- 
exemplar des berühmten Werkes „De emendanda Republica“ von Frycz- 
Modrzewski auf, in dem sich eine eigenhändige Widmung des Autors an König 
Zygmunt I. von Polen findet. Dem darin enthaltenen Wunsch nach einem aus- 
kömmlichen Beneficium, das dem Verfasser sorgenfreie Studien und Forschungen 
gestattet hätte, ist der Herrscher nur E und in geringem Maße nachgekommen. 
Die Bitte stammt aus dem Jahre 1551; einen Monat nach der Publikation des 
Buches ward sie vorgebracht. 1552 werden 100 Zloty jährlicher Pension Frycz aus 
dem Erträgnis von Wieliczka angewiesen, die 1555 ein königlicher Gnadenakt 
verdoppelt. Damit war ein angenehmes Gelchrtenleben in Krakau, dem Sitz der 
geistigen Bewegung, unmöglich. Frycz zog sich, enttäuscht und verbittert, nach 
Wolborz zurück, wo ihn der Bischof von Kujawien, Drohojowski, mit der Vogtei 
beschenkte. Dort, von der Bibliothek und dem Verkehr mit der Welt abge- 
schieden, wandte sich Frycz notwendigerweise vom Staatsrecht und der Politik ab, 
und der Theologie zu, die keines so ausgedehnten gelehrten Apparates bedurfte. 


Siemienski knüpft an den Aufsatz von Edmund Bursche über die juristische 
und historische Entwicklung des Begriffs „Dissidenten“ („Z dziejów nazwy 
dysydenci“, Przeglad Historyczny 26 (1926), 22 ff.) an. Bursche hatte folgende 
Phasen festgestellt: in der Warschauer Konföderation von 1578 bedeutet „dissi- 
dentes de religione“ die Gesamtheit der Staatsbürger, die eben über religiöse Dinge 
nicht mehr einer Meinung sind. Unter Bathory sind Dissidenten die vom Staat 
tolerierten nichtkatholischen Christen. Seit 1588 und zumal seit 1682 versteht 
man darunter nur mehr die Protestanten. Während der Regierungszeit 
Wladyslaws IV. werden die der „Zgoda Sandomierska“ von 1570 nicht beige- 
tretenen Protestanten, also zunächst die Arianer und ihre Absplitterungen von 
den Dissidenten, ebenfalls unterschieden. 

Gegen diese Ausführungen hat Siemienski zwar keine grundsätzlichen, doch 
mehrere ins Detail gehende Einwendungen. Zunächst sind, so meint Siemiehski, 
im Akt von 1573 bereits die Pravoslaven nicht unter dem Namen der Dissidenten 
einbegriffen worden. Die „Dissidenz“ bezieht sich nur auf die westliche Kirche. 


502 


Ferner seien 1648 die der Zgoda Sandomierska nicht beigetretenen Arianer zu den 
Dissidenten noch weiter gerechnet worden. 
Die zweite Arbeit Siemienskis polemisiert gegen Sobieskis Aufsatz ,,A nie 
o wiarę“ (Reformacja Polska 5 (1928), 60 ff.). Der Autor hält daran fest, daß 
in der umstrittenen Klausel der Konföderation von 1578 hinter „in spiritualibus“ 
uam in saecularibus“ „bonis“ zu ergänzen sei und nicht „rebus“, wie Siemiehskis 
egner meinte. Ptaszycki aber wendet sich wieder der Ansicht Sobieskis zu und 
er führt eine Reihe, meiner Ansicht nach überzeugende, sprachliche Argumente an. 
Im Aufsatz Ptaszyckis ist noch der Hinweis auf die außer dem jüngst wiederauf- 
gefundenen Original als sogenannte „Oblaten“ in den Grodbüchern vorhandenen 
Kopien der Warschauer Konféderationsakte von 1578 bemerkenswert. 
Otto Forst- Battaglia. 


Bud ka, Włodzimierz: Bibljoteka Decjuszöw. — Silva rerum 
1928. S. 110—126. 


Der als Historiker bekannte Justus Ludwig Decius (Dietz), geb. 1485 zu 
Weißenburg im Elsaß zählte einige zwanzig fire als er bei Jan Boner in 
Krakau in Dienste trat. Er ist dann in Krakau zu einflußreichen Stellungen 
und beträchtlichem Vermögen gelangt, wodurch er in den Stand gesetzt wurde, 
sih eine seinen wissenschaftlichen Neigungen entsprechende Bibliothek an- 
zulegen, die späterhin noch von seinen Nachkommen vermehrt wurde. Alek- 
sander Hirszberg, der Decius 1874 in einer Monographie behandelt hat („O 
zyciu i pismach J. L. Decyusza“) wußte um seine Bibliothek aus 
einem Epigramm Andrzej Trzecieskis. Prafnik hat dann im Rocznik 
Krakowski VII in seiner Arbeit über die Boners das Inventar dieser 
Bibliothek aufgewiesen und kurz besprochen. Budka gibt es hier auf Grund 
der drei erhaltenen Niederschriften von a) 1580 und b) und c) 1590 mit einer 
eingehenden Besprechung sowohl der Schicksale der Besitzer als auch der Bestände 
heraus. Das interessante Verzeichnis weist 400 Positionen auf und ist fach- 
männisch nach Formaten gegliedert. Der jüngste der drei erhaltenen Texte gibt 
auch die Preise der einzelnen Bücher an, die Budka mit zum Abdruck bringt. 
Die Bibliothek, die, wie aus anderen Notizen hervorgeht, noch einige Werke 
mehr als das Register enthalten haben muß, setzte sich aus etwa 350 lateinischen, 
85 polnischen, ebensoviel deutshen und 11 italienischen, griechischen und 
&echischen Werken zusammen, die nicht immer identifizierbar sind. 195 von 
ihnen waren theologischen Inhalts. Von den übrigen bezogen sich auf klassische 
Literatur und Geschichte 28, auf Literatur überhaupt 37, auf Naturwissenschaft 
und Mathematik 82, auf Rechtswissenschaft 18 und einige wenige auf Sprachen, 
Kriegswissenschaft, Architektur und Bergbau. Unter den theologischen über- 
wogen die protestantischen Genfer Richtung. Im Anfang des 17. Jahrhunderts 
ist die Bibliothek zerstreut worden, und heut sind nur Teile eines Sammelbandes 
und ein Werk in Krakau nachweisbar. E. Koschmieder. 


Stanislaw Görski, Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts. 
Senex: Zapomniany dziejopis. (Ein vergessener Geschichts- 
schreiber.) Tecza 1928, Nr. 37. 


Erinnerung an den Krakauer Domherrn Stanislaw Górski ( 1572), den 
Sammler der als „Tomiciana“ bekannten und zum großen Teil publizierten 
Materialien, die ihren Namen vom Bischof Tomicki, dem Gönner Görskis, emp- 
fingen. Als Sekretär der Königin Bona hatte Görski Einblick in das politische Ge- 
triebe seiner Epoche, und Gelegenheit Urkunden, Quellen der verschiedensten Art 
z ir polnischen Geschichte zusammenzubringen. 

Otto Forst- Battaglia. 


Bibljoteka Piotra Wolskiego biskupa płockiego. 1. Kazimierz 
Piekarski: Odkrycie ,,Volsciany“ w zbiorach Bibljoteki 
Jagiellońskiej. 2. Włodzimierz Budka: Dar biskupa Piotra 


503 


Wolskiego dla katedry płockiej. — Silva rerum 1928. 
S. 127—141. 


Der Plocker Beichtvater Wawrzyniec 2 Wszerecza (1538—1614), der 
Diugosz’s Vitae episcoporum Plocensium fortgesetzt hat, gibt in 
der Charakteristik des Bischofs von Plock Piotr Dunin Wolski an, dieser habe 
eine große ee Biichersammlung der Domkirche von Plock, und eine 
überaus große Bibliothek der Krakauer Akademie hinterlassen. Während sich 
nun im Verzeichnis der der Domkirche in Plock vermachten Werke gefunden 
hat (von Budka im 2. Teil dieser Arbeit veröffentlicht), ist ein solches über das 
Krakauer Vermächtnis Wolskis unbekannt, ja die Historiker der Jagiellonischen 
Bibliothek erwähnen diese Schenkung überhaupt nicht. Piekarski rekonstruiert 
hier mit erstaunlichem Scharfsinn den allergrößten Teil dieser „Bibliotheca 
Volsciana“ in den Beständen der Jag. Bibliothek in Gestalt der konkreten 
Bücher und nicht nur bloßer Nachrichten über sie. Von einer Notiz in einem 
Krakauer Ausleihebuch vom Jahre 1681 ausgehend, die aus der „Bibliotheca 
Volsciana“ verliehenen Werke aufführt, hat er weitere Nachforschungen für aus- 
sichtsreich gehalten und an Hand der Kataloge Vislockis in den Handschriften 
und Inkunabeln und älteren Büchern zunächst einige Bände dieser Bibliothek 
aufgetrieben, die sich mit Superexlibris oder Besitzvermerk als zur Volsciana ge- 
hörig aus wiesen. Ein großer Teil dieser Bände wies Eintragungen eines Datums 
an derselben Stelle auf, die offenbar einen Akzessionsvermerk darstellten. Diese 
Eintragungen waren von der Hand Wolskis gemacht, und bald fanden sih noch 
mehr Bände mit diesen Eintragungen: im ganzen 505. Der zroßen Meh 
dieser Bände sind auffällige Besonderheiten im Einband und in der Beschriftung 
eigentiimlich, nämlich italienische Art des Pergamentbandes und spanische Art der 
Längsbeschriftung des Rückens, die bei Wolski erklärlih sind, da er lange in 
Italien und Spanien gelebt hat. Aus der Geschichte der Krakauer Bestände legt 
Piekarski weiter dar, daß derartige Bände mit vielleicht nur ganz wenigen Aus- 
nahmen von Wolski stammen müssen und eine Nachsuche ergibt, es sich 
um nicht weniger als 912 Exemplare handelt, die man mit Sicherheit als zur 
„Volsciana“ gehörig ansehen muß. Rechnet man dann noch die Bände dazu, die 
aus irgendwelchen Gründen anders behandelt worden waren, so dürfte diese 
Bibliothek über 1000 Bände gezählt haben. Gute Bildbeigaben des Superexlibris 
und der Bindung und Beschriftung erläutern die interessanten Ausführungen. 


Im zweiten Teil dieser interessanten Arbeit verfolgt dann Wt. Budka 
uellenmäßig die Geschichte der Kapitel-Bibliothek in Plock bis zur Überweisung 
es Vermächtnisses Wolskis, wobei er zum Schluß das Verzeichnis dieser 

Schenkung nach den Aufzeichnungen des Kapitels „Acta capituli Plocensis“ ab- 
druckt. Es enthält 79 Werke in 180 Bänden. E. Koschmieder. 


Jan Sobieski. 

Wiadysiaw Bogatyhski: Siedziby króla Jana Sobieskiego (Die 
Residenzen König Jan Sobieskis). — Tecza 1929, Nr. 33. 

Pierre Jacques Charliat: Dary Ludwika XIV dla Polski (Ge- 
schenke Ludwigs XIV. an Polen). — Przeglad Wspölczesny 
Bd. 27 (1928), S. 318—324. 

Ezesiaw Chowaniec: Z dziejów powiedenskiej ityki 
Jana III. Do genezy sprawy wschodniej (Aus der Geschichte von 
Jan III. Sobieskis Politik nach der Befreiung Wiens. Zur Vor- 
geschichte der orientalischen Frage). — Ibid. Bd, 30 (1929), S. 321 
—341 


Kazimierz Piwarski: Sprawa pruska za Jana III. Sobieski 
1688—1689) (Die preußische Frage unter Jan III. Sobieski 1 
bis 1689). — Kwartalnik Historyczny Bd. 43 (1929), S. 152—186. 


504 


Kazimierz Tymieniecki: W trzechsetna rocznicę urodzin 
Jana Sobieskiego (Zum 300. Geburtstag Jan Sobieskis). — Tecza 
1929, Nr. 33. 

Zum 800. Geburtstag des Befreier: Wiens von den Türken (17. August 1629 
—1929) sind in Polen eine große Anzahl von Jubiläumsartikeln erschienen. 
Unter den allgemein und populär gehaltenen verdient der Professor Tymienieckis 
vorzüglich Beachtung. In diesem von tiefer psychologischer Einsicht in den 
Charakter und die daraus hervorgehende tragische WE Sobieskis zeugenden 
Pcrtrait ist die Summe dessen gezogen, was wir auf Grund der bisherigen For- 
schung vom König und vom Menschen sagen können und wohl auch später sagen 
müssen. Damit soll nicht geleugnet werden, daß zur Aufhellung der diplomati- 
schen Peripetien einer an Intrigen und Kabalen überreichen Regierung noch sehr 
viel Neues den Archiven zu entnehmen ist. Trotz der Biographien Korzons und 
Waliszewskis wissen wir z. B. noch sehr wenig über die weitausgreifenden 
orientalischen Projekte des Polenkönigs und nicht alle Einzelheiten über seine 
dynastische, mit inneren Problemen des Reiches eng verknüpfte Politik. 
Chowaniec hat sich angelegen sein lassen, die orientalische Seite von Sobieskis 
Geschichte zu beleuchten. Bei Korzon finden wir begreiflicherweise, schon infolge 
der zeitlichen Begrenzung fast nichts, bei Konarski nur wenig, bei Waliszewski 
nicht viel. Chowaniec hat schon im Kwartalnik Historyczny . 40, 151 ff.) 
gezeigt, wie der König bis nach Persien seine Fühler ausstreckte; wie er als 
3 einer christlichen Liga nicht nur Polen von der türkischen Gefahr befreien, 
sondern überhaubt die Osmanen aus Europa vertreiben wollte. In dem neuen 
Aufsatz unterstreicht der Autor noch stärker, daß nur Sobieski es war, der nicht 
zuließ, daß der glorreiche Sieg bei Vien eine Episode im Habsburgisch-Türkischen 
Kampf um Ungarn blieb. Sollen wir indessen darum den gekrönten Feldherrn 
für eine Art überdimensionalen Don Quijote ansehen, der im 17. Jahrhundert die 
Ideen der Kreuzzüge zu den seinen machte? Chowaniec beweist, daß dic heroi- 
sche Gebärde und die sie auslösende innere Überzeugung des tapferen Christen schr 
im Einklang mit der gesunden Politik eines Polenherrschers standen, dem die 
Hegemonie in einem von Polen geführten slavischen Osteuropa als Ziel vor- 
schwebte. Politischer Rechenfehler Sobieskis war aber, daß er im Kaiser diesen 
Plänen ein gefügiges Werkzeug vermutete. Als ob sich der Schirmherr der 
Christenheit mit dem Sieg des Kreuzes über den gedemütigten Halbmond über die 
Einbuße an Macht des rings von polnisch-slavischem Gebiet umklammerten Habs- 
burgers getröstet hätte! Der verunglückte Feldzug von 1686 war offenbar eine 
Folge des Irrtums, Wien könne aufrichtig den polnischen Triumph über die Os- 
manen herbeisehnen. . . . Die letzten Sätze von Chowaniecs bedeutendem Essay 
rühren an die Wurzel des hinter der Episode Sobieski sich bergenden größeren 
historischen Problems: Polens und Habsburgs gemeinsamer Kampf gegen den 
Islam war nur eine Vorstufe der späteren russisch-österreichischen Kooperation, 
die ebenfalls mit dem Konflikt beider Verbündeter und im weiteren Verlauf mit 
ihrer beider Untergang enden mußte. Es handelte sih um die Rivalität der 
deutschen und der slavischen Welt, sich die Herrschaft über den Landweg in den 
Nahen und darüber hinaus in den Fernen Osten zu sichern. Für die For- 
schungen von Chowaniec wäre es, wie ich schon einmal betonte, unbedingt nötig, 
daß sie auf orientalische Originalquellen zurückgreifen und sich nicht mit polni- 
schen, Wiener und allenfalls Pariser Archivalien begnügen. Im übrigen sind sie 
eine wirkliche Bereicherung der polnischen und europäischen Geschichte. 

‚ Piwarski lenkt die Aufmerksamkeit auf eine andere Frage der Sobieskischen 

Politik. Während der König im Osten beschäftigt war, konnte er naturgemäß den 

reußischen Dingen keine gebührende Sorgfalt widmen. Der brandenburgische 
urfürst hatte bis etwa 1684 mit dem polnischen Hofe gute Beziehungen be- 
wahrt, was die Hohenzollern nicht hinderte, zugleich ihre früher und später be- 
folgte Politik der direkten Verständigung mit oppositionellen Magnaten fortzu- 
setzen. Nach der mißglückten Expedition in die Moldau von 1686 überwarf sich 

Sobieski mit dem Hause Habsburg und er kehrte zu den französischen Freunden 

seiner früheren Jahre zurück. Dagegen wandte sich der große Kurfürst, bisher 

französischer Klient, dem kaiserlihen Lager zu. Ein Familienstreit verschärfte 


33 NF 6 505 


die Spannung zwischen Polen und Brandenburg. Jan III. wollte die reiche Erbin 
des Hauses Radziwill mit seinem Sohne Jakdb vermählen, dem dadurch den Weg 
zum Thron bahnen. Friedrich Wilhelm dagegen suchte die Prinzessin für seinen 
Sohn und auf diese Weise den Hohenzollern die Anwartschaft auf die polnische 
Krone zu gewinnen. Die Heiratsangelegenheit fand einen unerwarteten Ausgang. 
Louise Charlotte Radziwiłł vermählte sich erst mit dem brandenburgischen Prinzen 
und nach dessen frühem Tode mit dem Pfalzgrafen von Neuburg, dem öster- 
reichischen Kandidaten auf den polnischen Thron. Sobieski, auf das tiefste in 
seinen Familiengefühlen beleidigt und gegen den Kaiser erbittert, neigte dazu, den 
französischen Einfliisterungen zu gehorchen und sich aktiv an dem Krieg zu be- 
teiligen, der im Jahre 1688 von einer habsburgischen Koalition, zu der auch 
Brandenburg zählte, gegen Frankreich geführt wurde. 

Man dachte an eine Diversion in Ostpreußen, Gerade damals war der 
Große Kurfürst gestorben. Sein Nachfolger sollte die Huldigung empfangen, stand 
aber vorläufig am Rhein, wo er wider die französischen Heere kämpfte. Die 
Lage war bedenklich genug und die Hohenzollern vermochten der Gefahr eincs 
polnischen Angriffs bloß dadurch zu begegnen, daß sie ihre Beziehungen zu den 
Sobieski feindlichen Magnaten spielen ließen. Die Sapieha waren dabei dic wert- 
vollsten Bundesgenossen. Nach der Art der polnischen Obligarchen sahen sie nichts 
außer dem ihrem Hause drohenden Gespenst einer Erhöhung der Sobieskis. Jaköb, 
der königliche Prinz, als Gatte der Radziwill: das war nun abgewendet. Indessen 
noch konnte er Herzog eines revindizierten Preußen werden und dieses als Erb- 
fürstentum nach dem Tode des Vaters mit der polnischen Königswürde ver- 
einigen. Konsequenz: die leidenschaftliche Opposition der Sapicha und ihrer 
Fraktion auf dem im Dezember 1686 zusammengetretenen Reichstag. Sobieski 
wurde so in der Freiheit seiner Entschliisse gelähmt. Die offeabaren Kriegs- 
pläne erfuhren erst eine Verzögerung, dann ließ man sie fallen. Entscheidend 
war hierfür, daß nicht nur mit einer Revolte der litauischen Magnaten zu rechnen 
war, sondern auch mit der noch fortdauernden Türkennot. Daß hier die Fran- 
zosen nicht völlige Abhilfe schaffen konnten, gab den Ausschlag. Mitgewirkt 
dürfte auch die rein dynastische Motive berücksichtigende Königin E en die von 
den französischen Agenten keine positiven Versprechungen einer standesgemäßen 
Verheiratung ihres Sohnes zu Geen vermochte, während von Wien aus dem 
Prinzen Jakeb die Hand einer Pfalzgräfin von Neuburg, der Schwester der Kaiscrin 
und des glücklicheren Rivalen um die Hand Louise Radziwills verheißen wurde. 
Sobieski und seine Gattin scheuten davor zurück, sich von einem vereinsamten 
Frankreich als Sturmbock brauchen zu lassen. Im Herbst 1689 war die preußische 
Diversion von der Tagesordnung verschwunden. Bald hernach wandte sich der 
polnische Hof wieder dem Hause Habsburg zu, damit besserten sich automatisch 
die brandenburgisch-polnischen Beziehungen. Die Huldigung in Ostpreußen 
geschah am 24. Mai 1690 in Anwesenheit polnischer Kommissäre, wie das der 
Wehlauer Vertrag von 1657 vorgesehen hatte. 

Piwarski hat die Tatsachen gut geschildert. Seiner Interpretation aber 
dürfen wir nicht durchweg beipflichten. Zunächst bleibt bestehen, daß die Idee 
einer Diversion nach Ostpreußen ein Bestandteil der diplomatischen Rüstung Frank- 
reichs war. Nur während die polnisch-französischen Beziehungen herzlich waren 
und solange sich diese Intimität gegen die Habsburgische Koalition richtete, wurde 
der Gedanke ernstlih erwogen, Er verschwand sofort, als die Voraussetzungen 
weggefallen waren. Von einem elementaren Verlangen der Szlachta nach Krieg 
gegen Berlin kann keine Rede sein. Moderne Vorstellungen mischen sich beinahe 
stets in die Abhandlungen deutscher oder polnischer Historiker, wenn sie auf die 
Geschichte der preußisch-brandenburgisch-polnishen Relationen zu sprechen 
kommen. Andererseits hat auch die unbezweifelbare Sympathie der ostpreußischen 
Herren für eine eventuelle polnische Intervention keinen anderen als ständischen 
Charakter. Die Sehnsucht nach polnischer Herrschaft war Haß gegen den sich 
breitmachenden, die adelige Omnipotenz bedrohenden Absolutismus der Hohen- 
zollern; die Neigung, mit den bösen Brandenburgern abzurechnen und nach Ost- 
preußen zu marschieren, stellte sich als ein Gemisch von Kliententreue zu den 
Sobieski, Wirkung französischer Umtriebe dar, während ebensoviel und ebensogute 
(«der schlechte) Polen mit den Radziwiłł und Sapieha zu Brandenburg hielten. 


506 


Von den kleineren Beiträgen zur Geschichte der Sobieski-Zeit behandelt der 
Charliats die Gaben an Sobieskis Familie, die sich im ,,Recueil des présents faits 
par le Roy“ von 1721 finden, den die Archives du Ministère des Affaires 
Etrangères zu Paris aufbewahren. Die Namen mehrerer Geschenkempfänger aus 
dem polnischen Hochadel sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt, vielleicht vom 
Herausgeber des Textes schlecht gelesen, atynskis Skizze über die Schlösser 
Oleski, Podhorce, Zioczöw, Pomorzany, Wilanów, ist mit wunderschönen Repro- 
duktionen versehen. Otto Forst- Battaglia. 


Kościuszko. 

Jan Pietrzycki: W kościuszkowskiej Solurze. (Im Solothurn 
Kościuszkos.) — Tęcza 1929, Nr. 37. 

Adam M. Skatkowski: Listy Kościuszki ze spuścizny po gen. 
Paszkowskim. (Briefe Kościuszko aus dem Nachlaß General 
Paszkowskis.) — Kwartalnik Historyczny Bd. 43 (1929), 
S. 34—43. 

Pietrzycki publiziert in polnischer Obersetzung zeitgenössische Texte über das 
Begräbnis Kościuskos in Solothurn. Skalkowski veröffentlicht aus dem Nachlaß 
General Paszkowskis, der Koßciuszkos Freund und erster Biograph war, Briefe, die 
den Jahren 1802—1817 entstammen. Auch in diesem Artikel finder sich am Schluß 
eine Relation über KoSciuszkos Ende, und zwar cin Bericht über die Todeskrank- 
heit und das Hinscheiden des Naczelnik, aus der Feder des schweizer Obersten 
Franz Grimm. Otto Forst- Battaglia. 


Koiciuszko- Manuskripte in der Bibliothek zu Kórnik. 
Adam M. Skalkows ki: Pamiatki Kosciuszkowskie w Kórniku. 
(Erinnerungen an Kościuszko in Kórnik.) Tęcza 1929, Nr. 45. 
Eines der Manuskripte, die „Beschreibung der Campagne von 1792“, ist 
längst Bu 1917) bekannt, Von einem zweiten, einem Schulheft aus 
Kosciuszkos Lehrzeit bei den Piaristen in Lubieszöw (1755/60), sowie von den 
beiden herzlich unbedeutenden Aufzeichnungen aus der Warschauer Kadetten- 
schule, die Kościuszko als Gast des Königsschlosses erweisen, geschieht hier erste 
Nachricht. Im Text ein sinnstörender Druckfehler: Shuillier statt Lhuillier. 
Otto Forst-Battaglia. 


Bronisław Pawłowski: Poczatki służby ks. Józefa Poniatows- 
kiego w wojsku polskiem. (Die Anfinge von Fürst Józef 
Poniatowskis polnishem Heeresdienst.) — Kwartalnik His- 
toryczny Bd. 42 (1928), S. 532—579. 

Skalkowski hat vor 16 Jahren eine Reihe von Briefen und Akten in seiner 
Biographie Poniatowskis publiziert, die bereits damals zeigten, wie sehr sich der 
Fürst bemühte, seiner undankbaren Aufgabe als Befehlshaber und später als Ober- 
befehlshaber der gegen Rußland bestimmten polnischen Armee gerecht zu werden. 
Pawlowskis Studie, die im wesentlichen auf den Berichten des Fürsten an die Kriegs- 
kommission und deren Befehlen beruht, welche Materialien sich im Warschauer 
Archiwum Główne Akt Dawnych befinden, unterrichtet uns noch eingehender über 
die umsichtige und nur durch die widrigen Umstände zum Scheitern verdammte 
Tätigkeit des angeblich nur seinem Vergnügen lebenden schönen „Pepi“. Der 
traurige Ausgang der Kampagne von 1792 wäre auch von keinem Napoleon zu 
verhindern gewesen. Otto Forst-Battaglia. 


Polnische Burschenschaften. 


Z. F.: Korporacje polskie (Polnische Burschenschaften). — Tecza 1929, 
Nr. 36. 
Kurze Geschichte der polnischen Burschenschaften, deren älteste 1828 in 
Dorpat begriindet wurde (die „Polonia“, heute in Wilna). Jetzt gibt es ihrer 90 
mit 8500 Mitgliedern und ebensoviel Alten Herren. Otto Forst-Battaglia. 


507 


Roman Pollak: Kazimierz Machnicki. — Kwartalnik Historyczny 

Bd. 42 (1928), S. 580—587. 

Aus dem Posener Archiv teilt Prof. Pollak Dokumente mit, die tiber das Los 
des von Mickiewicz und Żeromski verherrlichten polnischen Revolutionirs Machnicki 
nach dessen Emigration aus Kongreßpolen berichten, und Angaben Prof. Hahns 
in einer früheren Arbeit im Przeglad Powszechny (Bd. 17, 841 ff.) berichtigen. 
Es zeigt sich, daß Machnicki seit Dezember 1880 in Posen weilte, wo er, in trauriger 
finanzieller Lage, den preußischen König um eine Pension bat, auf die er als che- 
maliger „südpreußischer“ Justiziarius, allerdings nur moralischen, Anspruch hatte. 
Das Ansuchen wurde abgeschlagen und Machnici starb später in Frankreich, wohin 
er sich Ende Juli begeben hatte. Otto Forst-Battaglia. 


Anna Różycka. 
Wiktor Hahn: Anna Różycka. — Przegląd Powszechny Bd. 181 


(1929), S. 349—363. 

Kurze biographische Skizze des Lebens einer politischen Martyrerin. Tochter 
des polnischen Generals Rözycki, war Anna in irgendwelche, nicht näher aufge- 
klärte — übrigens wohl aus Wiener Akten festzustellende — Verschwörerpläne 
verwickelt, die zur Verhaftung der damals Vierunddreißigjährigen führten. Aus 
Krakau nach Wien gebracht, wurde sie endlich Ende 1884 zu vierjähriger Haft 
verurteilt, die sie in Theresienstadt verbüßte. Die schwache Gesundheit der zarten 
Frau vermochte nicht den Stra n zu widerstehen, denen sie am 5. Mai 1856 
erlag. Wenige Tage später traf die kaiserliche Begnadigung ein. Hahn vermutet 
ohne Beweis, daß diese Begnadigung mit Absicht bis zum Tod der Unglücklichen 
verschoben worden sei. Wer den damaligen österreichischen Amtsgang kennt, 
wird diese Vermutung ablehnen. Otto Forst-Battaglia. 
Polen in Sibirien. BE 
Pawel Hulka-Laskowski: Les Polonais en Sibérie. Pologne 

Littéraire 1928, Nr. 25. 

Von Janiks „Dzieje Polaków na Syberji“ ausgehend, zeichnet der Autor 
dieses Artikels ein erschütterndes Bild des Leidenswegs der Martyrer, die das 


Regime der Caren zu Tod und Qual im asiatischen Rußland verdammte. 
Otto Forst-Bartagliıa. 


Ludwik Finkel: Karola Szajnochy Próba krytyki literackiej w 
r. 1839. (Karol Szajnochas Versuch auf dem Gebiet der lite- 
rarischen Kritik aus dem Jahre 1839.) — Pamiętnik Literackı 
Bd. 25 (1928), S. 586—595. , : 

Ein fiktiver Dialog zwischen einem jungen Mädchen und einem nicht minder 
jungen Dichter. Der künftige große Historiker zählte zur Zeit der Nieder- 
schrift dieses Gesprächs 21 Jahre. Indes der kühle, dem Realismus und den 
pseudoklassischen Gesetzen geneigte Verstand, der hier gegen romantischen 


Überschwang sich wendet, scheint eher der Protest eines müden Greises. 
Otto Forst-Battaglia. 


Der Tag des Entstehens des neuen polnischen Staates. = 
Józef Siemienski: Dzień odbudowy Rzeczyposp litej. (Der 

Tag der Wiedererrichtung der (Polnischen) Republik.) — Prze- 

glad Historyczny Bd. 27 (1928), S. 169—184. 

iemieński, wie es hier zu erinnern nottut, nicht nur ein hervorragender 
Historiker und Jurist, sondern auch eine der leitenden Persönlichkeiten unter den 
Männern des polnishen Wiederaufbaus, untersucht die Frage nach dem Geburts- 
datum des neuen Polenstaates, die aus rein historischen, aus praktisch-staatsrecht- 
lichen und aus politischen Gründen sehr wichtig ist. Er entscheidet sich für den 
14. November 1918, als den Tag, an dem Polen ein „Gouvernement régulier“ 


508 


| 


ET ee d, mr — os 


erhielt, womit — das konzediert er den Vertretern einer anderen Theorie — das 
mit Pilsudskis Einmarsch ins ehemalige Königreich am 6. August begonnene Werk 
vollendet worden war. Otto Forst-Battaglia. 


Jan Malaszewski: Polskie godła państwowe. (Polnische 

EE Tecza 1928, Nr. 45. 

Kritische Auseinandersetzung mit der in der Tat heraldisch unmöglichen 
Form, die das polnische Wa seit 1928 erhalten hat. Der polnische Minister- 
rat hat damals einen Adler Wappentier oder E der eine fünfzackige Krone 
an Stelle der ursprünglich bei der Erneuerung des Staates gewählten Königs- 
krone trägt, während richtigerweise gar keine Krone oder ein Symbol der repu- 
blikanischen Staatsform zu wählen war. Otto Forst-Bactaglia. 


Polnische Wirtschaftsgeschichte unter Stanislaw August. 

Marja Śliwińska: Duchowieństwo a a wloscianska za 
Stanislawa Augusta. (Die Geistlichkeit und die Bauernfrage unter 
Stanislaw August.) — Przegląd Powszechny Bd. 183 (1929), 
S. 138—154. 

Verf. will rühmend den hervorragenden Anteil betonen, den katholische 
Priester an der Verbesserung des Loses dee Bauern nahmen, um die sich unter 
Stanislaw August die aufgeklärten Schichten der Nation bemühten. Krasicki, 
Naruszewicz, Bohomolec, Pawel Brzostowski, Wincenty Skrzetuski, Michal 
Karpowicz, Popławski, bezeugen durch ihre Schriften und ihre Tätigkeit diese Für- 
sorge um die Stiefkinder des polnischen Schicksals. Inwieweit freilich Bischof 
Massalski und gar Kołłątaj), Staszic, die vom Priester nur das Kleid trugen (und 
auch das nicht immer) hier als Zeugen für die Verdienste des Klerus, als Kämpfer 
„für die Lehren Christi“ anzuschen sind, das bleibt mehr als zweifelhaft. 

Otto Forst-Battaglia. 

Piotr Wawrzyniak. 

Roman Fengler: Ostatni kréi polski. (Der letzte polnische 
König.) Tecza 1929, Nr. 5. 

Unter dem hyperbolishen Titel verbirgt sich eine recht oberflächliche 
Silhouette des bedeutenden Organisators der polnischen Wirtschaft, die im Posen- 
schen an Stelle der berüchtigten „Polnischen Wirtschaft“ trat, Prälat Wawrzyniak. 

Otto Forsc-Battaglia. 


Polnisches Wirtschaftsleben des letzten Jahrzehnts. 

Roman Rybars ki: Rozwój g czy Polski w latach 1918 
bis 1928. (Polens wirtschaftliche Entwicklung in den Jahren 
1918—1928.) Tęcza 1928, Nr. 45. 


Allgemeine Betrachtungen, die in der Warnung vor Pessimismus und in 
der nicht minder nötigen Warnung vor Optimismus (Oberfremdung der Wirt- 
schaft und passive Handelsbilanz werden als ungünstige Momente vorangestellt) 
gipfeln. Otto Forst-Battaglia. 


Leopold Caro: Idea gospodarcza Polski. (Polens wirtschaftliche 
Idee.) — Przeglad Powszechny Bd. 180 (1928), S. 13—30, 
161—170; Bd. 181 (1929), S. 25—37. 

Ahnlich Krzyzanowski spricht sich auch Caro, der bekannte Vorkämpfer des 
christlichen Gedankens in der Nationalökonomie, gegen den überspitzten Etatismus 
und gegen die forzierte Industrialisierung Polens aus. Otto Forst-Battaglia. 


Badecki, Karol: Na inesie „Literatury mieszczańskiej w 
Polsce XVII w.“ I. Nagrobki. — Silva rerum 1928. S. 86—90. 
Im Archiwum Akt tee hs m. Krakowa befindet sich eine Handschrift aus 
der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, die eine Sammlung verschiedenster Verse wie 


509 


„Fraszki“, Anekdoten, ärztliche Ratschläge, Gelegenheitsreden usw. darstellt, auf- 
gezeichnet von Jakob Boczylowicz, dem Verfasser der „Cztery części świata 
natury bialoglowskiejf“ (Warsz. 1691). Nach kurzer Charakteristik ihres 
Inhalts druckt Badecki eine Reihe von Epitaphien daraus ab, indem er den Be- 
weis erbringt, daß sie aus der heut verlorenen, aber aus Notizen Jablonowskis, 
Maciejowskis u. a. bekannten Broschüre: „Nagrobki“, Lwów 1626, stammen. 
Aus dem Charakter dieser zur Gattung der „literatura mieszczańska“ gehörigen 
Epitaphien ist ersichtlich, daß von der Broschüre „Nagrobki“ historishe Ent- 
hüllungen über Lemberg kaum zu erwarten sind. E. Koshmieder. 


Englische Autoren des Barock in Polen. 

Stanisław Helsztyński: Polskie przekłady Miltona i Pope’a. 
(Polnische Übersetzungen Miltons und Popes.) — Pamiętnik 
Literacki Bd. 25 (1928), S. 300—309, 474—489. 


Helsztynski kann in einer bibliographishen Übersicht 15 Übertragungen 
Miltons und 60 Popes finden. Hier bespricht er die polnische Nachdichtung des 
„Verlorenen Paradieses“ von Przybylski (1791) — mit Einschränkungen aner- 
kennend —, Leon Borowskis, eines Lehrers von Mickiewicz, Benedykt Lenartowiczs 
und Juljan Niemcewiczs Versuche (von 1819—1827, 1830 und 1820), Konstancy 
Piotrowskis von 1850 und die neue Übertragung des ,,Verlorener. Paradiese von 
Wladyslaw Bartkiewiecz (1902) — gegen die Helsztyhski Bedenken und den Vor- 
wurf willkürlicher Kürzungen und Änderungen erhebt. — Popes polnische Ober- 
setzer beginnen mit den Poeten der Poniatowski-Zeit. Unter ihnen hat Woronicz 
den ersten Rang. Die Namen von Podoski und Przybylski werden rühmend er- 
wähnt. Bykowski („ein talentierter Graphomane“), Chotoniewski, Chometowski, 
Kruyszanski folgen. Die Übertragungen von J. Marcinkowski, Kajetan Gorczynski, 
Ludwik Kamiński aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts werden wenig be- 
achtet. Seither hat sich niemand mehr mit Pope eindringlicher dichterisch beschäftigt. 

Otto Forst-Battaglia. 


Ludwik Bernacki: Drobiazgi literacki z czasów Stanisława 
Augusta (Literarishe Kleinigkeiten aus der Zeit Stanisław 
Augusts). — Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 596—610. 


Derselbe: Rękopisy w bibljotece Ignacego Krasickiego (Die Hand- 
schriften in der Bibliothek Ignacy Krasickis). — Ibid. Bd. 26 
(1929), S. 228—232. 

Mieczysław Brahmer: „Monachomachja“ a „Orland szalony“ 
(Die „Monachomachie“ und der „Orlando furioso“). — Ibid. 
Bd. 25 (1928), S. 568—570. 

Derselbe: „Elegji na śmierć szambelana“ raz jeszcze (Nochmals 
die „Elegie auf den Tod des Kammerherren“). — Ruch Literacki 
Bd. 3 (1928), S. 285. 

Wiktor Brumer: Nieznany wiersz Wojciecha Bogusławskiego 
(Ein unbekanntes Gedicht Wojciech Bogustawskis). — Ibid. 
Bd. 4 (1929), S.. 126—127. 

Aureli Drogoszewski: Czy „Sybilla“ jest echem „Ruin“ 
Volneya? (Ist die „Sybille ein Echo der „Ruines“ von Volney ?). 
— Pamiętnik Literacki Bd. 26 (1929), S. 1—22. 

Marja Dunajówna: Nieznana pieśń konfederatów barskich (Ein 
unbekanntes Lied der Barer Konföderierten). — Ruch Literacki 
Bd. 3 (1928), S. 206—209. 


510 


Kazimierz Kolbuszewski: Do poezji barskiej (Zur Barer 
Dichtung). — Pamietnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 610—616. 


Stanistaw Matachowski-Lempicki: Wojciech Bogu- 
slawski wolnomularzem (Wojciech Bogustawski Freimaurer?). — 
Ruch Literacki Bd. 4 (1929), S. 69—71. 


Ludwik Simon: Dwa etaty teatralne Bogustawskiego z lat 1788 
i 1784 (Zwei Theaterbudgets von Bogustawski aus den Jahren 
1783 und 1784). — Ibid. S. 175—178. 


Derselbe: Repertuar teatrów w Polsce za czasów Stanisława 
Augusta (Das Theaterrepertoire in Polen unter Stanislaw August). 
— Pamietnik Literacki Bd. 26 (1929), S. 242—282. 


Jan Urbaäski-Nieczuja: Echa wielkiej rewolucji francuskiej 
w bezimiennej poezji polskiej XVIII wieku (Echos der großen 
Französischen Revolution in der polnischen Dichtung des 
18. Jahrhunderts). — Ibid. Bd. 25 (1928), S. 571—579. 


Unter den zahlreichen Beiträgen zur Literatur der „französischen“ Epoche in 
der polnischen Literatur kommt dem Aufsatz Simons über das Repertoire der 
polnischen Theater unter Stanistaw Augusts wohl die größte Bedeutung zu. Er 
ergänzt die so wertvolle Zusammenstellung Bernackis in dessen grundlegendem 
Werk „Teatr, dramat i muzyka za Stanisława Augusta (Bd. 2, 191 ff.). Wir 
finden da zunächst für das Warschauer Theater Aufzeichnungen über die Balette 
von 1781 (2) bis 1794, hernach einiges über Provinztheater (in Wilna, Krakau, 
Lublin und Dubno) und Privatbühnen der Magnaten. Simon erörtert weiter die 
Frage nach der Autorschaft der anonymen Stücke „Amant doktor“ (verkürzte Be- 
arbeitung des Moliéreschen „Amour medicin“), „Podejrzliwi“ (nach Molières 
„Sganarelle“), „Sądy u wójta“ (Lokalisierung von Brueys und Palaprats „Avocat 
Patelin“) — wobei wir Simon beipflichten, während die Frage nach der Autorschaft 
des von Bernacki dem Bischof von Ermland zugeschriebenen „Zygmunt August” 
durchaus nicht endgültig zugunsten von Vybicki entschieden wurde. 

Mehrere Notizen über den „Vater des polnischen Theaters“, Bogustawski, 
unterrichten uns über die finanzielle Basis von dessen Warschauer Dircktions- 
führung in den Jahren 1788 und 1784. Die Gagen der Tänzer bewegten sich 
zwischen 7 und 25 Dukaten monatlich, die der Schauspieler zwischen 7 und 
15 Dukaten. Um diese Zahlen zu würdigen, sei bemerkt, daß in Polen damals das 
Existenzminimum in Warschau etwa 10 Dukaten jährlich betrug, ein Lakai im 
Jahr 24 Dukaten empfing und eine Equipage 80 Dukaten jährlich kostete. 

Malachowski-Lempicki, der beste Kenner des polnischen Freimaurerwesens, 
teilt uns Etappen von Bogusiawskis maurerischer Laufbahn mit. Dieser ist zuerst 
in Dubno in die Loge zum Ausgezeichneten Schweigen aufgenommen worden, dann 
in die Warschauer „Zum Heiligtum der Isis“, wo er zugleich mit Józef Poniatowski 
seine Probezeit durchmachte. Offenbar haben dem Theaterdirektor die dort mit 
den Spitzen der polnischen Aristokratie angeknüpften brüderlichen Beziehungen 
schr viel genützt. Unter der preußischen Herrschaft war er Mitglied der Loge 
„Tempel der Weisheit“. Indessen hat er es nie über den dritten Grad eines 
Meisters gebracht. Brumer zeigt uns Bogusławski in der Rolle eines mutigen 
Patrioten, der unter den Augen der preußischen Provinzialregierung in kaum ver- 
hüllter Allegorie den Glauben an die Wiederauferstehung Polens predigte. An- 
läßlich der Aufführung einer deutschen Tragödie „Otto von Wittelsbach“ wurden 


511 


ins Publikum von Bogustawski verfaßte und der Zensur entschlüpfte Verse eines 
Gelegenheitsdrucks geschleudert, deren eine Strophe den Helden (und niemand 
mochte zweifeln, wen eigentlich) sagen ließ: „Jeszczem nie zgingl na wieki... 
Bernacki, unerschöpflich in seinen Materialien, veröffentlicht einen Brief Alber- 
trandis an Stanislaw August über verschiedene wissenschaftliche Angelegenheiten, 
Verse auf Bohomolec, des letzteren Bitte an den König, auch nach der Auf- 
powstane”, offenbar auch eine Anspielung an den Mazurek Dąbrowskiego. 
hebung der Jesuiten Leiter der bekannten Gazeta oder der Druckerei zu bleiben, 
weiter eine Druckercirechnung aus desselben Bohomolec Druckerei — der Druck 
eines Bogens kostete 18—20 Zloty, im Vergleich zur Gegenwart ergibt sich, daß 
damals das Existenzminimum in der Hauptstadt dem Preis von 10 Druckbogen 
gleichkam, während es z. B. heute in Wien dem Wert von ca, 40 Druckbogen 
entspricht. — Hierauf finden wir einen Brief Naruszewiczs an Albertrandi uber 
Forschungen im Päpstlihen Archiv zu Rom, drei Karten Trembeckis an den 
Kammerherrn Comelli und an einen ungenannten Fürsten, der an eine Spiel- 
schuld gemahnt wird, ein Brief desselben Trembecki an Engestrém, den schwedi- 
schen Gesandten in Warschau, und Gesuche Wegierskis an Stanislaw August um 
den Stanislaus-Orden, die nicht beantwortet wurden. 

Bernacki publiziert einen Katalog der Handschriften des Bischofs von Erm- 
land und Brahmer stellt neuerlich fest, daß für Krasickis „Monachomachie“ der 
„Orlando furioso“ in gewissem Maße Quelle und Anreger gewesen ist. Veit 
weniger zweifelsfrei scheint mir das Ergebnis von Drogoszewskis Untersuchung 
über die „Sybille“ Woroniczs. Gegenüber Cwik, der in diesem Lehrgedicht des 
Polen eine Transponierung der Volneyschen „Ruines“ erblickte, behauptet Dro- 
goszewski, es sei überhaupt kein Einfluß des einen auf den anderen zu erweisen, 
ja. die verschiedene Geistesart des französischen Aufklärers und des frommen 
Polen schlössen eine literarische Interaktion aus. Mag auch Cwick in seiner Arbeit 
zu weit gegangen sein: dem, der nicht an Einzelheiten haftet, bleibt die Gemein- 
samkeit der beiden Poeme fühlbar. Ihre Musique intérieure ist dieselbe. Und 
die Differenz der Weltanschauungen bereitet dem Kenner der polnischen Auf- 
klärung keine Überraschung. Stets sordiniert sich deistische oder pantheistische 
Schwärmerei zu mildern, wenn nicht katholischen, so doch den Katholiken nicht 
störenden Tönen, sobald einmal ein französisches Thema, eine französische Idee 
polnischen Boden betritt. Schließlich sei der allgemeinen Regel nicht vergessen, daß 
jedes Produkt der stanislawitischen Literatur irgendein französisches Vorbild hat. 
Für das Theater ist das genugsam gezeigt worden. Eben erst nennt Brahmer 
einige Vorlagen der geistreihen „Elegie auf den Tod des Kammerherrn“ in 
Niemcewiczs „Powrót posta’ (deren unmittelbares Muster freilich noch zu finden 
wäre). 

Original, wenn auch nicht originell, ist in jener Epoche nur die „Barer“ 
Poesie. Kolbuszewski, der Herausgeber einer, in der Bibljoteka Narodowa er- 
schienenen Anthologie dieser frommen Kampfdichtungen, und Marja Dunajöwna, 
publizieren einige ungedruckte Proben der zwar glaubenseifrigen und patriotischen, 
doch niche gerade künstlerisch begeisternden Muse. Wesentlich politischer Natur ist 
ferner das Interesse, das wir den Bruchstücken entgegenbringen, an denen 
Urbanski-Nieczuja die Ausstrahlungen der französischen Revolutionsidee bis nach 
Polen verfolgt. Octo Forst- Battaglia. 


Jézef Korzeniowski. 

Józef Kor pala: Józef Korzeniowski jako professor literatury w 
Krzemiehcu. (Jozef Korzeniowski als Literaturprofessor in 
Krzemieniec.) — Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 616—630. 
Korzeniowski kam an das in der polnischen Literaturgeschichte berühmte 

Lyzeum als Nachfolger Felihskis (1828). Adam Czartoryski hatte bei der Berufung 


512 


den Ausschlag gegeben. Er hat sich nach übereinstimmenden Zeugnissen als Lehrer 
sehr gut bewährt, besser als seine Vorgänger, deren jeder einzelne auf anderem 
Gebiete einen ausgezeichneten Namen besaßen (Osihski, Felihski, Euzebjusz 
Słowacki, der Vater des Dichters). Korpala veröffentlicht weiter den Text eines 
Fragments von Korzeniowskis Vorlesungen „über das Wesen der Poesie“. Es zeigt, 
wie sehr die romantischen Anschauungen damals schon bei den Universitaires den 
Boden vorfanden. Otto Forst-Battaglia. 


V. en obaev: Krasinskij i Mickevié. — Slavia 7, 3 (1928), S. 585 


Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, wenn alle Wechsel- 
wirkungen zwischen den beiden Dichtern erwähnt werden sollten, es sollen daher 
nur diejenigen genannt werden, die zweifellos feststehen. C. zieht einen Ver- 
gleich zwischen dem geistigen Zuschnitt der Universitäten Wilna und Warschau. 
Die erstere war traditionsloser in bezug auf den ausgehenden Klassizismus, 
Warschau hing daran fest und war daher kein Boden für das Aufkommen der 
Romantik. C. führt zum Beweis dafür einiges über den ausgesprochen moralisch- 
religiösen Grundton im Geschichts- und Philosophieunterricht der Warschauer 
Universität an. Krasihski, der dort seine Studienzeit absolviert, konnte für den 
Geist von Wilna keine allzugroße Sympathie haben. Die Jugend beider Städte 
kam aber in persönliche Berührung, und im Elternhause Krasihskis fanden ge- 
sellige Zusammenkünfte statt, wo in ziemlich vorurteilsloser Weise auch neue 
Ideen beurteilt wurden. Der Hauptvermittler zwischen Krasiński und Mickiewicz 
is: der begeisterte Vertreter der Romantik und Freund Mickiewicz’ E. Odyniec 
gewesen; er wird in Krasihski das Interesse für Mickiewicz’ Werke erweckt haben. 
Den stärksten Eindruk wird ihm „Konrad Wallenrod“ gemacht haben; als 
Krasiński zu schreiben anfing, genoß das Wallenrodproblem die größte Popularität. 
Es blieb aber immer der Einfluß des Vaters und der älteren Richtung bestehen, 
und man darf den Einfluß von Mickiewicz auf Krasiński nicht über- 
@rieben hoch einschätzen, Krasihski war aber einer der wenigen, die die Be- 
deutung des Pan Tadeusz sogleich erkannten. Die aus der Towianskischen Periode 
stammenden Dichtungen von Miciewicz lehnte er dagegen ab, durch die väter- 
liche Erziehung an klare und nüchterne Denkart gewöhnt. C. verfolgt die An- 
klänge an den Wallenrod, welche sich in den Jugendwerken Krasinskis finden. 
Daneben machen sich Byronsche Einflüsse bemerkbar, doch auch als diese an 
Intensität zunehmen, vergißt Krasinski nicht den „litauischen“ Dichter. C. erinnert 
an seine Rezension der französischen Wallenrod-Obersetzung in der Oktober- 
nummer der „Bibliothèque Universelle“ vom Jahre 1880, in der Krasiński als 
Mickiewicz’ größtes Talent seine Gabe ansieht, die alltäglichsten Dinge von einem 
neuen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Er wird aber vor dem persönlichen Be- 
kanntwerden mit M. kaum alle seine Stimmungen verstanden haben. Auf der mit 
Mickiewicz unternommenen Reise durch die Schweiz werden Krasiński die ersten 
Anregungen zum „Iridion“ gekommen sein. C. vervollständigt die von T. Pini 
in „Studyum nad genezą Iridiona“ .. . (Lwów 1899) niedergelegten Beobachtungen 
über die Obereinstimmungen zwischen Wallenrod und Iridion. 

Emmy Haertel. 


Stanislaw HelsztyAski: Anglofil Koźmian. (Koźmian, der 
Anglophile.) — Wiadomości Literackie 1929, Nr. 27. 
Einer aus dem Literaturgeschlecht der Koźmian, Stanislaw Egbert (1811—1885) 
ist 1838 als Emigrant nach England gekommen, wie er im Kontakt mit der Gesell- 


schaft — durch Lord Dudley Stuart, dessen Sckretär er wurde — und mit roman- 
tischen Dichtern wie Moore, Campbell — zwölf Jahre verbrachte. Seit 1851 haust 


513 


der ehemalige Revolutionär als friedlicher Landedelmann auf einem kleinen Gut 
bei Posen. Er setzt dort seine Arbeit an der Übersetzung Shakespeares fort, die 
noch in London begonnen hatte. Zwei Bände davon sind 1866 und 1800 erschienen. 


Otto Forst-Battaglia. 


Pollak, Roman: Trzeci autograf Hymnu o zachodzie słońca“ 
Stowackiego. — Silva rerum 1928. S. 90—93. 


Zu den beiden bisher bekannten Autographen dieses Hymnus tritt jetzt 
ein drittes aus einer Autographenmappe der Bibljoteka Körnicka (Rps. 733), 
die von Tytus Działyński als „Manuskrypta — niedrukowane — własnoręczne“ 
betitelt ist. Das hier abgedruckte Autograph, das die Jahreszahl 1886 trägt und 
offenbar vor 1839 in den Besitz DziatyAski’s gelangt ist, steht der Fassung des 
ersten Abdrucks im Posener „Tygodnik literacki (6. V. 1880) sehr nahe. 
E. Koschmieder. 


Antonio Stefanini: Pessimismo e ottimismo Fredriano. — 
Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 (1929). S. 415—441. 


St. will es versuchen, die Grenzen zwischen Optimismus und Pessimismus 
bei Fredro nicht durch eine streng philosophische Definition des letzteren zu 
verbarrikadieren, wie das mehrfach in der polnischen Kritik geschehen. Fredros 
Pessimismus ging nicht aus philosophischen Abstraktionen sondern aus den Er- 
fahrungen des Lebens hervor; er schildert ja auch nur die einfachen Realitäten 
des Lebens. Wer müßte nicht anerkennen, daß die klagende Lyrik des Leopar- 
dischen „Canto notturno di un pastore errante nell’ Asia“ viel verzweifelter 
ist als seine philosophische Prosa? — St. betrachtet die Schicksale Fredros darauf 
hin, wie weit sie seine natürlichen Anlagen zur Melancholie steigern mußten, 
die von seinen Familienmitgliedern bezeugt ist, und geht ihren Spuren in 
Fredros Gedichten, wie „Zapiski starucha“, „Pajaki“, „Zal mi“ u. a. nach. Immer 
wieder klagt der Dichter über die Nichtigkeit menschlichen Tuns, über die ent- 
schwundene Jugend, über das Schwinden der Jugendhoffnungen; selbst der Ge- 
danke an den eigenen Ruhm olieb ihm gleichgültig. Auf Menschen und Gesell- 
schaft blickte Fr. gleichfalls nicht optimistisch, die Moral des Lebens ist enthalten 
in dem Vers „Każdy dusi — bo żyć musi“ aus dem Gedicht „Jaskółka“. In 
„Cmentarz“ sieht der Dichter nur Gräber und Kreuze, Liebe auf den Lippen 
und Haß im Herzen. Ähnlich äußert er sich in seiner Prosa. Im „Dziennik 
wygnanca“, in „Choroby Chroniczne“ u. a. wiederholen sich dem obigen ähn- 
liche Gedanken. — Wie konnte dieser pessimistische Mensch Komödien von 
solchem Lachreiz schreiben? St. findet Antwort darauf in Aussprüchen Fredros 
„Kto sie nigdy śmieje — od tego zimno wieje“ und in „Sobie spiewam, a 
Muzom“. Seine Komödien haben nicht ihren Ursprung in großen Ideen und 
tiefen Wahrheiten, sondern aus Fredros Verlangen nach Lachen und dem 
Komischen, daher auch das Fehlen eines strengen Urteils, der Strafe für die 
Übeltäter, z. B. in „Mąż i zona“, dessentwegen Fr. in der Literaturkritik der 
Unmoralität geziehen worden ist. 

Chrzanowski und Kucharski haben verschiedene Meinungen geäußert über 
den vermeintlich heiteren Ausgang vieler Komödien. St. betrachtet einige von 
ihnen daraufhin, ob sie wirklich optimistisch ausgehen, z. B. „Zrzednos£ i 
przekora“, „Odluki i poeta“ und „Mąż i zona“, und weist‘ nach, daß das nicht 
der Fall ist. In „Przyjaciele“ klingt eine innere Saite Fredros mit, Erinnerungen 
an eine große unglücklich ausgegangene Jugendliebe, hier also mußte natürlicher- 
weise der Grundton schmerzlich sein. Traurig bleibt auch der Eindruck von 
„Ciotunia“, und selbst der „Pan Jowialski“, diese Apothese des vergnügten Land- 


514 


edelhauses, sollte den Polet zu denken geben, denn hier wird die Schuld dieses 
leichtlebigen Landadels an den vaterländischen Geschicken gezeigt, ebenso hält St. 
„Dozywocie“, entgegen den Anschauungen Günthers (Fredro jako poeta naro- 
dowy. Bibioteka Warszawska, 1—2), für durchaus nicht optimistisch. In den 
Komödien der späteren Zeit wird das Leben meistens noch schwärzer gezeichent, 
z. B. in „Ostatnia wola“ und in „Wychowanka“, sogar die spaßigsten Komödien 
dieser Periode, „Pan Benet“ und „Wielki człowiek do małych interesów“ zeigen 
nur seichte, kleinliche Gestalten. 

Um auch dem Optimismus bei Fr. gerecht zu werden, weist St. zunächst 
auf die Lichtblicke hin, die das Leben dem großen Melancholiker bot: Liebe zur 
Dichtkunst, Vaterlandsliebe und vor allem die treuen Erinnerungen, die Fr. an 
seine Jugendzeit bewahrte, an den „Dwór“, wo er sie verbracht. Dem ent- 
sprang auch seine Liebe für die Jugend überhaupt und der Vorzug, den er 
jugendlichen Personen seiner dramatischen Verke gab. Aus dieser Liebe für die 
Vergangenheit erklärt St. auch seine, von aller satyrischen Verurteilung absehende 
Darstellung so vieler nachteiligen Seiten der polnischen Schlachta auf dem Lande, 
er wollte ihr gegenüber nicht als Richter auftreten. Einen Lichtblick bildet auch 
in Leben und Schaffen Fredros die Idealisierung der Liebe, freilich lassen gewisse 
Aussprüche der späteren Komödien auch in bezug auf sie eine skeptische Ein- 
stellung erkennen. Zuletzt untersucht St. Fredros Verhältnis zur Religion. Es 
muß überraschen, daß Fr. bei seiner pessimistischen und melancholischen Ein- 
stellung ein guter Katholik gewesen ist, solche verzweifelte Angriffe auf die 
Weltordnung wie in „Brytan — Bryś“, wo die Tiere selbst danach fragen, wozu 
sie da wären, läßt das schwer erklärlich finden. St. sucht diesen Widerspruch 
zu lösen unter Hinweis auf christliche und indische Veltanschauung, auf die, 
im Grunde christliche, Philosophie Schopenhauers und auf Augustin, Schelling 
u. a., die durch den Pessimismus dem Leben gegenüber zu innerer Religiosität 
gelangten. Auch Vagner und Tolstoj sind, auf verschiedene Veise, einem solchen 
christlichen Pessimismus erlegen. Schließlich solle man sich auch nicht auf die 
termini „Optimismus“ und „Pessimismus“ als Kriterien versteifen. Ein Blick in 
einen Bibliothekskatalog kann darüber unterrichten, daß z. B. bei Schopenhauer 
und Leopardi die Zettel bald den Optimismus, bald den Pessimismus dieser 
beiden Großen bestätigen. Emmy Haertel. 


FernandBaldensperger: Alfred de Vigny a Polska. (Alfred 

de Vigny und Polen.) — Przeglad Wspölczesny Bd. 29 (1929), 

S. 14—27. 

Der Inhalt ist weiter als der Titel vermuten ließe: wir finden Notizen über 
Vignys Beziehungen zu Russen. Hernach einiges über des Dichters Bekanntschaft 
mit dem Engländer Reeve, Krasinskis Freund, vor allem aber Nachrichten über 
die Polonophilie Vignys, die sich in hier abgedruckten Briefen an Mickiewicz 
und die Fürstin Czartoryska bekundet. Otto Forst-Battaglia. 


Maximilian Fredro. 


Stanislaw Wasylewski: Czwarty Fredro. (Der vierte 
Fredro.) Tecza 1929, Nr. 29. 


Der vierte Fredro, das ist Graf Maximilian Fredro, der älteste Bruder des 
polnischen Moliére, steht im Schatten seines großen Namens: wie der jüngere 
Corneille in dem des unsterblichen Pierre. Durch sich selbst hat er nur einmal 
in der Literaturgeschichte von sich reden gemacht. Als er, vordem ein Mitglied 
der Warschauer pseudoklassizistischen Kreise um Osinski, eine heftig romantische 
Tragödie „Harold“ aufführen ließ (1827). Mickiewicz, Mochnacki klatschten Bei- 
fall. Heute sind Autor und Werk vergessen. 

Otto Forst-Battatag!ia. 


515 


Korpala, Józef: Uwagi o polskiej prasie literackiej przed 
powstaniem listopadowem. — Silva rerum 1928. S. 93—100. 
Indem Korpała auf das Erstehen einer literarishen Presse in Polen im 

19. Jahrhundert eingeht, die in ganz anderem Umfange im geistigen Leben der 

Nation wurzeln sollte als die im wesentlichen für die Information des Auslandes 

bestimmten literarischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, zeigt er, daß vor dem 

Novemberaufstand trotz mehrfacher Versuche ein dauerndes literarisches Organ 

mit festem, zeitgemäßen Programm nicht zustande gekommen ist. Tiichtige 

Persönlichkeiten von starker Initiative waren da, es fehlte an guten Organı- 

satoren. Zu diesen Versuchen, eine der damaligen Zeit entsprechende literarische 

Zeitschrift zu gründen, gehört auch ein Projekt eines „Pamiętnik literacki“ für 

den Fürsten A. Czartoryski aus der Feder Aloizy Feliüskis um 1810/11, das 

Korpala hier aus dem Archiv der Fürsten Czartoryski in Krakau (Nr. 150) ab- 

druckt. E. Koschmieder. 


Walery Łoziński. 

Adam Bar: „Pan Tadeusz“ w powiesciach Walerego Łozińskiego. 
(„Pan Tadeusz“ in den Romanen Walery Łozińskis.) — Pamiętnik 
Literacki Bd. 25 (1928), S. 292—299. 

Łoziński hat zur Charakteristik des Kleinadels in seinen Erzählungen viel 
aus dem Epos Mickiewiczs geschöpft; sogar einzelne Redewendungen übernommen. 


Trotzdem hat diese Anleihetitigkeit des jungen Autors der Lesbarkeit seiner 
Bücher nicht geschadet. Otto Forst- Battaglia. 


Stanislaw Przybyszewski. 
Tadeusz Boy-Żeleński: Kłamstwo Przybyszewskiego. (Die 
Lüge Przybyszewskis.) Wiadomości Literackie, 1928, Nr. 39. 


Derselbe: O „Kłamstwo“ i prawdę Przybyszewskiego. (Ober 
Lüge und Wahrheit bei Przybyszewski.) Ibid., Nr. 46. 

Derselbe: Smutny Szatan. (Ein trauriger Satan.) Ibid., Nr. 52/53. 

Wiadysław Buchner: Stanislaw Przybyszewski a utwory 
Dagny. (Stanisław Przybyszewski und die Dichtungen Dagnes.) 
Ibid., Nr. 44. 

Kazimierz Czachowski: Bibljografja pism Przybyszewskiego. (Biblio- 
graphie der Schriften Przybyszewskis.) Ruch Literackie, Bd. 3 
(1928), S. 215—219. 

Stefan Demba: Autobiografja Kasprowicza i Przybyszewskiego. 


(Selbstbiographien Kasprowiczs und Przybyszewskis.) Ibid., 
Bd. 4 (1929), S. 73— 77. 


Karol Klein: Przybyszewski i Dehmel. (Przybyszewski und 
Dehmel.) Ibid., S. 200—204. 


Adam Münnich: Korrespondencja Przybyszewskiego z P. Scheer- 
barthem. (Briefwechsel Przybyszewskis mit P. Scheerbarth.) 
Ibid., S. 319—320. 


516 


Derselbe: Lata szkolne Przybyszewskiego. (Przybyszewskis 
Schuljahre.) Ibid., Bd. 4 (1929), S. 172—175. 


Leon Ploszewski: Do bibljografji pism Stanislawa Przyby- 
szewskiego. (Zur Bibliographie von Przybyszewskis Schriften.) 
Ibid., S. 68. 


Michal Siedlecki: Echa zagadki Przybyszewskiego. (Echo des 
Rätsels Przybyszewski.) Wiadomości Literackie, 1928, Nr. 43. 


Marja Johanna Wielopolska: Zagadka Przybyszewskiego. 
(Das Rätsel Przybyszewskis.) Wiadomości Literackie, 1928, 
Nr. 52/53.) 


Antoni Wysocki: Prawda Przybyszewskiego. (Die Wahrheit 
Przybyszewskis.) Ibid., Nr. 42. 


Wären auch die von Boy enthüllten, bisher nur einem kleinen Kreis von 

Eingeweihten bekannten Tatsachen aus dem Leben Przybyszewskis schlechter be- 

ubigt, als es der Fall ist; die Reihe der Artikel in den ,,Wiadomoéci Literackie“ 

äße wenigstens das Verdienst, den ziemlich vergessenen „traurigen Satan“ wieder 

in den Mittelpunkt einer literarischen Diskussion gerückt zu haben. Das Inter- 

esse an Przybyszewski ist wieder rege geworden und vom Dichter überträgt es 

sich auf dessen Werk oder zum mindesten auf des Werks psychologische Deutung; 

denn nichts kann in diesem Augenblick Freude am unbefangenen Genuß einer 

uns völlig fremd gewordenen Literatur hervorrufen, deren Voraussetzungen durch 
den Krieg hinweggeweht worden sind. 


Boys überzeugend bewiesene These ist, daß Przybyszewski, eine willens- 
schwache, von sexuellen und anderen Exzessen entnervte Kiinstlernatur, durch 
Rücksicht auf die rasende Eifersucht der zweiten Gattin — Kasprowiczs ge- 
schiedener und von Przybyszewski dem Freund abspenstig gemachter Frau — 
sich bewogen fühlte, den beherrschenden Einfluß und die erloschene Liebe zur 
ersten Gattin, der norwegischen Dagne, zeitlebens zu verleugnen, ja die einst heiß 
Verehrte in den Schmutz zu ziehen. Diese menschliche Tragödie habe ihren ver- 
heerenden Einfluß auf Przybyszewskis Dichtung geübt. Alles Große und Starke 
stammte aus der Zeit der befruchtenden ersten Ehe. Nach Dagnes Tod sei auch 
Przybyszewskis poetischer Stern erblichen. Jedenfalls stand Dagne dem Gatten 
während dessen deutscher Periode und hernach in der polnischen Glanzepoche, 
der Tätigkeit am „Życie“ (1898—1901), als wahre Egeria zur Seite. In seinen 
Memoiren hat der Wandelbare, dem erst der Haß gegen die Gefährtin seiner 
Jugendtriumphe aufgezwungen und dann zur zweiten Natur geworden war, die 
Sache so hingestellt, als sei Jadwiga seine Muse und ihre Vorgängerin ein tief be- 
reuter Jugendirrtum gewesen. 


Wysocis Publikation bringt nun für Boys Behauptungen und zur end- 
ültigen Vernichtung der von Przybyszewski noch durch die „Erinnerungen“ ver- 
reiteten Ansicht entscheidendes Material. Im Jahre 1911 wollte die Lemberger 

„Theater - Gesellschaft“ während eines Gastspiels in Zakopane Dagne 
Przybyszewskas Stück „Krucze gniazdo“ aufführen. Przybyszewski protestierte in 
erregten Briefen dagegen, daß „durch Veranstaltung irgendeines Abends mein 
Namen in Verbindung mit der Dame gebracht werde, die diesen Namen mit 
Schande bedeckte“. Auf empörte Rückfrage der Lemberger Theaterfreunde rückte 
dann Przybyszewski mit dem Geständnis heraus: „Ich vertraue Ihnen das blutige 
Geheimnis meines Verbots an. Meine gegenwärtige Frau ist geradezu wahn- 


517 


sinnig, wenn es sich um die Verstorbene handelt. Nicht ich bin es, der Briefe 
und Verbote absendet, sondern ein Mensch, der seit einigen Jahren voll Verzweif- 
lung über eine schwer kranke Frau wacht. Durch schwere Opfer erkaufe ich 
mir Ruhe zur Arbeit.“ Wäre hier noch ein Kommentar nötig, so steht es in dem 
Brief Professor Siedleckis, der vor einem Menschenalter zum engsten Freundes- 
kreise der Przybyszewski gehörte und Boys Ausführungen vollinhaltlich be- 
stitigt. Venn nun Stanislaw Maykowski (im „Slowo Polskie 1928, 278) und 
Jakéb Geszwind in einer separat erschienenen Broschüre „Klamstwo 
Przybyszewskiego i kłamstwo o Przybyszewskim‘ sich gegen Boys Artikel wenden, 
so mag ihnen darin beizupflichten sein, daß Persönliches nur mit Widerstreben 
vom Literarhistoriker zu erörtern ist; im übrigen vermögen sie nichts gegen die 
Richtigkeit der Tatsachen einzuwenden und sie unterscheiden sich von Boy nur 
in der ethischen (dem Forscher an sich gleichgültigen) Wertung einer Handlungs- 
weise, die der eine als entschuldbare, der andere als verächtliche Schwäche, der 
dritte als heroisches sacrificio del cuore e dell’intelletto bezeichnen wird. Das 
Antlitz des Dichters aber bleibt, so schildert es uns Boy im letzten seiner Aufsätze, 
das des traurigen Satans, der an Dagnes Seite, glücklich in seinem Unglück, un- 
glücklich in seinem Glück, zerstörend und erst in der Zerstörung zum Schaffen 
befähigt, eine Poesie der Nacht stammelte, dergleichen Polen nicht vorher und 
nicht nachher kannte. Im übrigen mag, wenn es zur psychologischen Erklärung 
von Przybyszewskis Metastasen kommt, nicht gerade die Berufung auf Goethe 
und sonst komplizierte Deutung vonnöten erscheinen. Schon das Sprichwort hat 
ja lapidar den Weg beschrieben, den der Sänger der „chud“ genommen hat: Mas 
kennt den Anfang; am Ziel steht „Alte Berschwester“. 

Von den im „Ruch Literacki“ abgedruckten Materialien ist die Bibliographie 
Czahowskis, zusammen mit den Ergänzungen Ploszewskis, am wertvollsten. In 
ihr fehlen indes die zahlreichen von Przybyszewski während seines Aufenthalts 
in Deutschland publizierten und einige seiner später deutsch veröffentlichten Zeit- 
schrifts- und Zeitungsartikel, die den Gegenstand einer kleinen Arbeit eines 
deutschen Bibliographen bilden sollten. Die Autobiographie aus den Sammlungen 
Dembas stammt aus dem Jahre 1899 und ist nur durch ein enthusiastisches Be- 
kenntnis zum Polentum und zur jungvermählten Gattin bemerkenswert. Eine 
Abschrift des Taufscheins von Przybyszewski belehrt uns authentisch, daß der 
Dichter am 7. Mai 1868 zu Lojewo als Sohn des Schullehrers Joseph Przybyszewski 
und der Dorothea Grabczewska geboren und am 11. desselben Monats getauft 
wurde, wobei Leo Siewicz, Gutsherr auf Szarley, und Theresia KoScielska, Herrin 
auf Karczyn, als Paten des kleinen Stanislaw Felix fungierten. Münnich teilt sehr 
interessante Zeugnisse des Gymnasialschülers Przybyszewski mit. An dem Thorner 
Kgl. Gymnasium hat er im Jahre 1884 beim Abgang aus Obertertia ein recht 
mittelmäßiges Zeugnis erhalten. Die Noten schwanken in den vichtigeren Gegen- 
ständen zwischen 2 und 8. Von 1884 bis 1889 besuchte er das Gymnasium in 
Wagrowiec. Hier waren die Leistungen noch schwächer, indes gab ihm der 
Polnisch-Professor folgendes Endurteil auf den Weg: „In seiner polnischen Mutter- 
sprache drückt er sich mündlich wie schriftlich gewandt und völlig fehlerfrei aus, 
seine bezüglichen Klassenleistungen konnten meist als sehr gut bezeichnet werden. 
Nicht minder hervortretend sind seine Kenntnisse in der polnischen Literatur- 
geschichte. Gesamtprädikat Sehr gut.“ Beim Abdruck der deutschen Dokumente 
hat der nachlässige Herausgeber eine Reihe unentschuldbarer Druckfehler stehen 
lassen. Die von Münnich publizierten Briefe an Scheerbarth sind gänzlich be- 
deutungslos. 


Auc Kleins Aufsatz über Przybyszewski und Dehmel bringt nichts Neues, 
es seien denn einige weitere Druckfehler, wie „blaser“, „verliss“. 


Otto Forst-Battaglia. 
518 


Bronisława Chrzaszczewska: Żółkiewski. Tęcza 1928, 

Nr. 42. 

Auszug aus einem vorbereiteten größeren Werk, das Zeromskis Schaffen 
analysiert, versucht diese im Stil Żeromski nachahmende Charakteristik zugleich 
die tragische Größe und das Problem des Mannes zu erfassen, dem in der „Duma 
o Hetmanie“ die Führerschaft der polnishen Nation beansprucht wird. 

Otto Forst-Battaglia. 


Marja Pawlikowska. 


Irena Krzywicka: O poezyi Marji Pawlikowskiej. (Ober die 
Dichtung von Marja Pawlikowska.) — Wiadomości Literackie 
1929, Nr. 1. 


Eine subtile und nur etwas zu weitschweifige Studie über die Lyrik der Paw- 
likowska, gedeutet als Manifestation einer aus Furcht vor der Empfindsamkeit 
auch das Empfinden bändigenden Frauendichtung. Als Typus erinnert die Paw- 
likowska — so versichert uns ihre Exegetin — an Boy: dieselbe metaphysische 
Grundlage des Physiologishen im Poetishen. Schade nur, daß cine andere 
Parallele fehlt, die auffallende mit Mme. de Noailles. 

Otto Forst-Battaglia. 


Juljusz Kaden - Bandrowski. 
Emil Breiter: O świçte prawo człowieka. (Um das heilige 
Menschenrecht.) — Wiadomości Literackie 1929, Nr. 16. 


Als Summe der letzten Entwicklung Kaden-Bandrowskis die Abkehr vom zer- 
flacternden Lyrismus Zeromskis und die Hinwendung zu jenem Realismus, der 
als Neue Sachlichkeit die gesamte europäische Nachkriegserzählung beherrscht. 
Im Zyklus der „Czarne skrzydła“ hat sich das alles vollendet. Gleich weit vom 
pessimistischen Naturalismus und vom nur aufs Ich gekehrten Romantismus 
bekennt Kaden-Bandrowski den mutigen Realismus, der das Opfer fordert, einer 
furchtbaren Wirklichkeit gerade ins Auge zu sehen, sie zu ertragen, um sie 
zukunftsgläubig emportragen zu können. Otto Forst-Battaglia. 


Cecylja Walewska. 


M. J. Wielopolska: Cecylja Walewska. — Wiadomości Lita 
rackie 1929, Nr. 26. 


Das fünfzigjährige Schriftstellerjubilium der Walewska hat für einen 
Augenblick diese letzte Veteranin des Warschauer Positivismus der Gegenwart in 
Erinnerung gebracht, die in ihr mehr die bürgerlichen als die literarischen Ver- 
dienste ehrte. Otto Forst-Battaglia. 


Tadeusz Lopalewski. 


Witold Hulewicz: Tadeusz Lopalewski. Tecza 1929, Nr. 10. 


Der nun Dreißigjährige (geb. 1900) begann mit Gedichten romantischer 
Färbung, erregte einiges Aufschen durch eine mit der vierten Dimension 
kokettierende Erzählung aus der letzten russischen Revolution (Podwójny cień) 
und er sucht noch, zwischen Skamander und Czartak, den Weg zum Parnaß. 
Hulewicz geht in seiner Sympathie für den Autor etwas weit. Trotz unleug- 
barer sprachlicher Qualitäten entbehrt Lopalewski der eigenen Physiognomie. 

Otto Forst-Battaglia. 


519 


Mieczysław Braun. 
Jerzy Liebert: O poezjach Mieczysława Brauna. (Über 

Mieczysław Brauns Dichtungen.) — Wiadomości Literackie 1929, 

Nr. 35. 

Liebert skizziert den poetishen Weg Brauns von revolutionärer Neuerung 
über den „Skamander“ und die Neuromantik zum Pseudoklassizismus. Als ver- 
bindende Eigenschaft haftet allen Stadien dieser Entwicklung die didaktische 
Absicht an, die Lust, statt darauf los zu fabulieren, zu beschreiben: erst Hand- 
werke und Gewerbe, dann Seelenzustinde und endlich die Natur. Liebert 
betrachtet die Hinkehr Brauns zu Trembecki und Koźmian mit großem Mig- 
vergnügen. Unseres Erachtens ist an dem Dichter nur verwunderlich, daß er schon 
in jungen Jahren die Straße zur Tradition sucht, auf der alle polnischen Autoren 
nach revolutionärem Beginn landen. Otto Forst-Battaglia. 


Włodzimierz Szymański: Poeta Madon. (Der Sänger der 

Madonnen.) Tęcza 1929, Nr. 4. 

Die kurze Aufzählung der Werke und ein recht allgemein gehaltenes Lob auf 
den nebst Morstin und Miłaszewski repräsentativen Dichter des polnischen Neo- 
klassizismus, wird dem über manchen Modepoeten vernachlässigten Pietrzyda 
nicht gerecht. Sie weckt nur den Wunsch, daß diesem polnishen Le Cardonnel 
— die Parallele drängt sich geradezu auf — das bessere Los seines französischen 
Doppelgängers beschieden werde. Otto Forst-Battaglia 


Neue polnische Erzählerinnen. 
Stanisława Jarocińúska-Malinowska: Quelques jeunes 
prosateurs féminins. Pologne Littéraire 1929, Nr. 30. 


Silhouetten von Marja Kuncewiczowa, Herminja Naglerowa, Ewa Szelburg, 
Hanna Mortkowiczówna, vier Schriftstellerinnen, von denen die erste in der Tat 
ein außerordentliches Talent besitzt, die zweite eine shöne Begabung ankündigt, 
die beiden übrigen indes ungebiihrlich überschätzt werden. 

Otto Forst-Battaglia. 


Polnische Lyrik des Nachkriegs. 

K. W. Zawodziński: Poezja Polski odrodzonej. (Die Dichtung 
des wiedergeborenen Polen.) Swiat książki 1928, Heft 1/3, 
S. 19—25. 


Viel feine Bemerkungen. Und noch mehr gehässige Feindseligkeit gegen- 
über dem Verf. unsympathishen Richtungen. Dem „Skamander“ ertönt ge- 
bührendes Lob. Die Leute vom „Czartak“ werden schändlich karikiert und mig- 
handelt. Der Gruppe Galuszka ergeht es nicht besser. Dem Kundigen gibt 
Zawodzinskis Übersicht manches, Der mit dem Thema nicht Vertraute sei vor 
ihr gewarnt. Otto Forst-Battaglia 


Stefan Papée: Teatry dramatyczne e latach 1918—1928. (Die 
dramatischen Bühnen in den Jahren 1918—1928.) Tecza 1928, 
Nr. 45. 


Aufs Unentbehrliche kondensierte und trotz des klar betonten Standpunkts 
objektive Übersicht der Entwicklung, die das polnische Theater und die drama- 
tische Literatur in den letzten zehn Jahren genommen haben. 

Otto Forst-Bartaglia. 


520 


Zygmunt Falkowski: O sposób pojmowania realizmu w 
badaniach literackich. (Über die Art der Konzeption des Realis- 
mus in literarishen Forschungen.) — Przegląd Powszechny 
Bd. 183 (1929), S. 23—41, 277—294. 


Die gehaltvolle, feinsinnige Studie Falkowskis ist hier anzuführen, da sie ihre 
allgemeinen Erörterungen zum großen Teil mit Beispielen aus der polnischen 
Literatur belegte. So werden etwa die Definitionen des Realismus durch Sniadecki, 
Mochnacki, Brodzinski, Odyniec, Mickiewicz erörtert, die entweder expressiv verbis 
gegeben wurden oder sich aus den Werken dieser Dichter ableiten lassen. Falkowski 
unterscheidet ganz richtig verschiedene Arten des Realismus; die wahrheits- 
getreue Erfassung der Außenwelt, der Innenwelt und beider wahrheitsgemäßen 
Ausdruk. Dabei bleibt aber Realismus nie Kopie, sondern stets künstlerische 
Umdeutung, Wahrheit sui generis. Otro Forst-Battaglia. 


Polen in Brasilien. 

Józef Staäczewski: Polacy w piśmiennictwie brazylijskiem. 
(Die Polen im brasilianischen Schrifttum.) — Przegląd Współ- 
czesny, Bd. 27 (1928), S. 337—342. 

Kurze Notiz über polnishe Motive in der brasilianischen Literatur. 

Otto Forst- Battaglia. 

Die Jiidin als literarische Egeria im polnischen Schrifttum. 

Adolf Nowaczyfiski: Esterki w literaturze. (Estherchens in 
der Literatur.) Tecza 1929, Nr. 12. 

Eines der Probleme, an denen die Literaturgeschichte gerne verschämt vorbei- 
schleicht: der Einfluß, den Jüdinnen auf ihnen rassenfremde und von ihnen an- 
gezogene arische Autoren geübt haben. Nowaczyhski beschäftigt sich in der sehr 
oberflächlichen Studie, die nur das Verdienst hat, eine Anregung zu bieten, auch 
mit der Gestalt der dämonischen, perversen Jüdin in der neuesten polnischen 
Literatur (Witkiewicz, Strug, Ulanowski .. . warum nicht bei Weyssenhoff und 
zum Teil bei Wyspiafski, den Schöpfern des Typus?). 

Otto Forst- Battaglia. 


Kor pala, Józef: Dzieje drugiej edycji Historji literatury 
polskiej Bentkowskiego. — Silva rerum 1928. S. 100—110. 


Ein weiterer sehr interessanter Beitrag Korpalas zur Geschichte der Biblio- 
graphie in Polen, der sih auf größtenteils bisher ungenutztes Quellenmaterial 
stützt. Bentkowskis „Historja literatury polskiej“, Teil 1, 2, Warszawa i Wilno 
1814, eine Bibliographie mit biographishen Angaben über die Autoren hat für 
die Entwicklung der Bibliographie in Polen eine sehr große Bedeutung gehabt. 
Sie hat eine ganze Schar von Männern zur Bearbeitung der Bibliographie und 
Literaturgeschichte in Polen angeregt. Überall, besonders eifrig aber in Wilna 
und Krzemieniec, arbeitete man an der Vervollständigung dieser wertvollen 
Sammlung, und Bentkowski trug sich von vornherein mit dem Gedanken einer 
Neuausgabe, für die ihm Lelewel, Bandtkie, der Krakauer Buchhändler Ambroży 
Grabowski u. a. ihre Unterstützung zusagten. Das Manuskript erwarb 
Zawadzki in Wilna, während die Redaktion der Neuausgabe Mikołaj Malinowski, 
ein Schüler Lelewels und Freund Mickiewicz’s, übernahm. Aus der Korre- 
spondenz Malinowskis, die in der Bibljoteka Jagiellońska in Krakau aufbewahrt 
ist, berichtet Korpala weiter über den Verlauf der Arbeiten Malinowskis von 
1824—1829. 1880 löste dann Zawadzki seine Beziehungen zu Malinowski und 
übergab die Redaktion Ludwik Sobolewski, der jedoch noch im selben Jahre 

521 


34° RF 6 


verstarb. Darauf übernahm Adam Jocher die Bearbeitung der Neuausgabe, für 
welche Zawadzki die Materialien Sobolewskis, Bandtkies, Karol Sienkiewicz’s und 
JuszyAkis aufgekauft hatte. Nach jahrelanger Arbeit und Umfrage bei den ver- 
schiedensten Bibliotheken brachte dann Jocher die Neuausgabe des Werkes 
Bentkowskis, den „Obraz bibljograficzno-historyczny literatury i nauk w Polsce“ 
in 3 Bänden 1840—1857 heraus. E. Koschmieder. 


Tagung der Dichter in Posen. 


Marja Kuncewiczowa: Zjazd literatów w Poznaniu. (Die 
Zusammenkunft der Literaten in Posen.) — Wiadomości Lite- 
rackie 1929, Nr. 25. 

Bericht über den Verlauf und die Beschlüsse des Kongresses, der zwischen 

6. und 9. Juni 1929 in Posen stattfand. Sein wesentliches Ergebnis war die Er- 

zielung einer überraschenden Einmütigkeit zugunsten der neuen Polnischen 

Akademie, deren Gegner, wie Irzykowski, sich der Mehrheit fügten. 

Otto Forst-Battaglia. 


Grycz, Józef: Trzeci Zjazd Bibljofilöw Polskich we Lwowie. — 

Silva rerum 1928. S. 81—84. 

Kurzer Bericht über den 3. Bibliophilen-Kongreß in Lemberg Pfingsten 1928, 
an dem nach Ansicht des Berichterstatters die Ausstellungen an Druck, Einbänden 
usw. sowie die zur Verteilung gelangten bibliophilen Festgaben alle Erwartungen 
übertrafen, während die Beratungen und Vorträge die Organisation des Bibliophilen- 
tums nicht wesentlich gefördert haben. Als Aufgaben des nächsten Kongresses 
stellt Grycz die Festlegung des Charakters der Kongresse und des Bibliophilen- 
Rates hinsichtlich der Organisation des Bibliophilentums sowie überhaupt die 
Aufstellung der Aufgaben der polnischen Bibliophilie auf. 

E. Kos chmie der. 


Das „Atheneum“-Theater in Warschau. 

Kz.: „Atheneum“ pod nową dyrekcja. (Das „Atheneum“ unter seiner 
neuen Direktion.) — Wiadomości Literackie (1929), Nr. 33. 
Marja Strońska, die Leiterin der sehr rührigen, von den Warschauer 

Arbeitern erhaltenen und ihnen gewidmeten Bühne, stellt in ciner von stolzer Be- 

scheidenheit erfüllten Unterredung fest, daß — ein wichtiger Beitrag zur Diskussion 

über die proletarische Literatur — um ein Wort Froebels zu variieren, für die 

Kinder des Volkes gerade das Beste gut genug ist. Otto Forst-Battaglia. 


EEN Pawel: Jedno z wazniejszych zadań polskiej 
bibljofilji. — Silva rerum 1928. S. 84—86. 

Bei aller Anerkennung dessen, was die polnische Bibliophilie bisher an Aus- 
gaben herausgebracht hat, wird hervorgehoben, daß das illustrierte Buch zu wenig 
Beachtung gefunden hat. So wird die geschichtliche Bearbeitung der Budh- 
illustration in Polen besonders vom 18. Jahrhundert ab den polnischen Biblio- 
philen warm ans Herz gelegt. E. Koschmieder. 


Jözef Kotarbinski. . l 
Kazimierz Czachowski: Józef Kotarbinski. — Wiadomości 


Literackie 1929, Nr. 2. , 
Kotarbinski, der, fast achtzig Jahre alt, am 19. Oktober 1928 starb, war ein 
vortrefflicher Schauspieler, ein verdienter Theaterdirektor — von dessen Tätigkeit 
am Krakauer Theater die Erinnerung an die Erstaufführung der „Wesele“ 


522 


Wyspianskis unzertrennlich ist — und ein verstindiger Kritiker, Kollege von 
Sienkiewicz, Swietochowski und Chmielowski an der Warschauer Szkoła główna, 
hat Kotarbinski zeitlebens die Atmosphire des Warschauer Positivismus auf sich 
einwirken lassen. Umso schitzbarer war die Vorurteilslosigkeit, mit der er dem 
ihm wesensfremden polnischen Symbolismus zum Bühnenerfolg verhalf. 

Otto Forst-Battaglia. 


Zofja Stryjehska. 
ne Wallis: „Tańce polskie“ Stryjehskiej. (Die 


„Po en Tänze“ der Stryjehska.) — Wiadomości Literackie 
1929, Nr. 29. 


Derselbe: Les Danses polonaises vues par Zofja Stryjehska. — Pologne 

Littéraire 1929, Nr. 33. 

Wallis spricht mit vollkommen gerechtfertigter Begeisterung von der genialen 
Künstlerin, die, wie vor ihr niemand, verstanden hat, aus den Tiefen der nationalen 
Tradition und einer nie um den Ausdruck verlegenen Gestaltungskraft Werke zu 
schaffen, aus denen die polnische Seele und zugleich die glänzendste Fähigkeit des 
Malers, im Bild zu cherakterisieren und die Illusion der Bewegung zu erwecken, 
spricht. Die „Tänze“ sind ein Zyklus, der sich den höchsten Leistungen der zeit- 
genössischen Malerei zur Seite stellen darf. Leider geben die schlechten Reproduk- 
tionen, die noch der Farbenwirkung beraubt sind, nur ganz unzulänglich den Zauber 
der Originale wieder, zu denen man greifen muß, um das Urteil von Wallis selbst 
zu bestätigen. Otto Forst-Battaglia. 


Stanislaw Wiechowicz: Renesans starej muzyki polskiej. 
(Renaissance der alten polnischen Musik.) Tecza 1929, Nr. 21. 
Nach französischem Vorbild (auf das in diesem Artikel nicht hingewiesen 

wurde) bildete sich eine polnische Gesellschaft der Freunde alter Musik, die 

praktisch — durch Konzerte — und theoretisch — durch Publikationen älterer 

Werke — viel geleistet hat. Sehr fesselnd ist die Parallele zwischen der an die 

Commedia dell’arte erinnernden und mit ihr übereinstimmenden Technik der 

Partituren, in denen der Begleitmusik freier Spielraum gelassen wird, und der 

modernen Jazzmusik. Otto Forst- Battaglia. 


Henryk Opiens ki: Polska twórczość symfoniczna. (Polni- 
sches Schaffen auf dem Gebiet der Symphonik.) Tecza 1929, 
Nr. 24. 

Andeutungen aus sachkundiger Feder über die Marksteine, die ein künftiger 
Historiker der polnischen Symphonie zu beachten hätte. Seit dem 19. Jahr- 
hundert treten hervor: Ignacy Dobrzydski, V. Zelenski, Z. Noskowski, 
M. Karlowicz, endlich die modernen Meister Szymanowski, Rözycki, Fitelberg, 
Paderewski. Otto Forst-Battaglia. 


Peter Vischer in Posen. 


GwidoChmarzyäAski: Piotr Vischer i Poznan. (Peter Vischer 

und Posen.) Tecza 1929, Nr. 26. 

Ober vier herrliche Arbeiten des großen Bildhauers, Sarkophage für Lukasz 
Gérka, Bernard Lubrafski, Uriel Görka und Feliks Paniewski, sämtlich aus dem 
Ende des 15. Jahrhunderts. Posen hat außerdem viele Werke von Peter Vischers 
Söhnen Peter, Hans und Paul aufzuweisen. Octo Forst-Battaglia. 


sure 523 


Polnische Volkskunst. 


W. Lam: Książka o dawnych kilimach w Polsce i na Ukrainie. (Ein 
oe alte Kilime in Polen und in der Ukraina.) Tecza 1929, 
r. 25. 


e i = tor: Malowidia na szkle. (Glasmalereien.) Tecza 1929, 
r. e 

Es liegt im Sinne des Programms der „Tecza“, daß sie häufig auf die boden- 
ständige und dem Kulturgeschichtsforscher so bedeutsame polnische Volkskunst 
die Aufmerksamkeit lenkt. Szumans Buch über „Kilime“, die eigenartige Teppiche 
orientalischer Provenienz, in deren Anfertigung die Bevölkerung der Ostprovinzen 
Polens exzellierte, bot Anlaß zu W. Lams Aufsatz. Viktor behandelt die 
originellen Glasmalereien des Podhale und der Zips. 


Otto Forst-Battaglia. 


Polen in Freiburg in der Schweiz. 


Tadeusz Stryjeński: Witraże Mehoffera w kolegjacie sw. 
Mikołaja we Fryburgu. (Die Vitragen Mehoffers in der Kollegiat- 
kirche zum Hl. Nikolaus in Fribourg.) — Przeglad Powszechny 
Bd. 180 (1928), S. 289—306. 


Derselbe: Polaczy we Fryburgu. (Polen in Fribourg.) — ibid. Bd. 181 

1929, S. 50—57. 

Verf. dieses Aufsatzes hat 1894 den jungen Maler Mehoffer aufgefordert, sich 
an dem Wettbewerb um die Ausführung der Glasfenster bei St. Nikolaus in Frei- 
burg zu beteiligen. Unter zahlreichen Konkurrenten aus allen Lindern errang 
Mehoffer auch tatsächlich den Preis und seine Entwürfe wurden ausgeführt. Sie 
fanden die größte Bewunderung und trugen den Namen Mehoffers durch ganz 
Europa. — Stryjenski berichtet dann von den polnischen Professoren an der Frei- 
burger katholischen Universitit, wie Kallenbach, Kowalski, Dobrzycki, Cybichowski, 
von hervorragenden ehemaligen Hörern dieser Hochschule, die stets auf die Polen 
eine große Anziehungskraft ausübte. Otto Forst-Battaglia. 


Kirchenschätze auf der Jasna Göra. 


W. St. Tur czy sk Ii: Skarbiec Jasnogörski. (Die Schatzkammer 

auf der Jasna Göra.) Tecza 1929, Nr. 24. 

An der Hand des Katalogs durch die in den Jahren 1918—1925 neugeord- 
neten Schätze des Paulinerklosters auf der Jasna Góra bei Czestochowa schildert 
der Verfasser die kostbarsten Denkmale der Goldschmiedekunst urd die schönsten 
Paramente dieser Sammlung, die frommer Freigebigkeit früherer Jahrhunderte ihr 
Entstehen und ihre Blüte, der Scheu fremder Zwingherrn vor dem Raub an ehr- 
würdigem Gut ihr Bestehen bis auf unsere Tage dankt. Gute Illustrationen 
ergänzen den Text. Otto Forst-Battaglia. 


Marjan Gumowski: Architektura i styl przedromanski w 
Polsce. (Die Architektur und der vorromanische Stil in Polen.) 
— Przeglad Powszechny Bd. 180 (1928), S. 211—232; Bd. 181 
(1929), S. 58—76. 
Fortsetzung der diese Jb. N.F. 5, 272 angezeigten Arbeit. Vorzüglich über 
Bauten aus Krakau und Umgebung. Otto Forst-Battaglia. 


524 


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Wissenschaftliches Leben in Posen. 


Zygmunt Wojciehowski:. Ruch naukowy w Poznaniu w 
dziedzinie historji w latach 1923—1928. (Die wissenschaftliche 
Tätigkeit auf dem Gebiet der Geschichte in Posen während der 
Jahre 1923—1928.) — Kwartalnik Historyczny Bd. 43 (1929), 
2, S. 155—175. 

Bericht über die Veröffentlichungen und die Wirksamkeit der Universität, der 

Vereine, dann über die Zeitschriften und Zeitungen. Aus der Tagespresse fehlt der 

Przeglad Poranny. Sonst keine wesentlichen Lücken. Otto Forst-Battaglia. 


Kazimierz Czachowski: Querelle autour de Académie. — 
Pologne Littéraire 1929, Nr. 30. 
Informativer Bericht über die vorläufig durch den Beschluß des Posener 
Literatenkongresses beendete Fehde um die Nützlichkeit einer zu errichtenden 
Polnischen Akademie. Orto Forst-Battaglia. 


Polonica in den ,,Izvéstija“ der Leningrader Akademie. 


Jan Łoś: Rzeczy, mające związek z Polska, w „Izviestijach“ 
Akademji Petersburskiej. (Polonica in den ,,Izvéstija“ der Peters- 
burger Akademie.) — Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), 
S. 320—32. 


In den 32 Bänden dieser russischen Publikation sind viel wertvolle Materialien 
zur polnischen Literaturgeschichte enthalten. Los berichtet darüber, und hebt die 
Artikel von Čižikov über Mickiewicz in Rußland (Bd. 20, 1915, 125—151) — es 
werden mehr als 800 russishe Arbeiten über den polnischen Dichter verzeichnet —, 
von Ptaszycki, dem polnischen Forscher, über die mittelalterlihen Romane in 
Polen (Bd. 7, 819—858), Francev, dem ehemaligen russischen Professor an der 
Warschauer Universität, über die kaschubische Wiedergeburt (Bd. 17, 1912, 31—76), 
endlich die Studie über das polnische und Gerd volkstümliche Drama von 
V. Perec (Bd. 10, 12, 14, 15, 16) hervor. Otto Forst- Battaglia. 


Polnische Landschaft. 


Znasz-li ten kraj? (Kennst du das Land?) Tecza 1929 (in zahlreichen 
Nummern, von verschiedenen Autoren). 


Von Emil Zegadlowicz angeregt und konsequent gepflegt, ist die Reihe der 
in der „Tęcza“ veröffentlichten Artikel über polnische Städte, Schlösser und 
Berge, dank des literarischen und mitunter wissenschaftlichen Wertes der Texte 
und der stets vorzüglichen photographischen Beigaben für uns von großem kiinst- 
lerischen und dazu sowohl geographischen als historischen Interesse. 


Otto Forst- Battaglia. 


Adam Czekalski: Ołyka Tęcza. 1929. Nr. 40. 


Kurzer Abriß der Geschichte und Schilderung von Olyka, der bekannten 
Radziwillschen Residenz. Otto Forst- Battaglia. 


Schloß Lancut. 


Wladysiaw Bogatynski: Zamek Łańcut. Tęcza 1929, 
Nr. 17 | 


Schloß Lancut, die stolze Residenz eines Zweiges der Potocki, ist vielleicht 
das schönste Denkmal der polnischen Frühbarokke. Es wurde von den Lubo- 


525 


mirski an Stelle eines älteren Palastes der Stadnicki im 4. Jahrzehnt des 17. Jahr- 
hunderts erbaut. Heirat brachte es in den Besitz der Potocki. Bogatyhski ver- 
mittelt uns eine annähernde Vorstellung von dem Luxus und dem 5 an 
Kunstschätzen aller Art, der dem Besucher des königlichen Sitzes die Pracht und 

die Macht polnischen Magnatentums eindrucksvoll vor Augen führt. 


Otto Forst-Battsglia. 


Alteste Städteansichten in Polen. 


Mieczysław Skrudlik: Najstarsze widoki miast 
(Die ältesten Städteansichten in Polen.) Tęcza 1929, Nr. 3. 
Nach alten Stichen illustriert, skizziert dieser übersichtliche Artikel die Ent- 
wicklung des polnischen Städtebilds von Sched! und Sebastian Münster bis ins 
17. Jahrhundert, von willkürlicher Phantasie und Unbeholfenheit bis zur geome- 
trishen Exaktheit der Festungspläne aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. 
Otto Forst-Battaglia. 


Stanislaw Arnold: Geografja historyczna, jej zadania i 
metody. (Die historische Geographie, ihre Aebi und Me- 
thoden.) — Przegląd Historyczny Bd. 28 (1929), S. 91—120. 
Trotz des allgemeinen Titels enthält diese Abhandlung Arnolds auch eine 

Fülle von speziellen und sehr nützlichen Bemerkungen zur historischen Geographie 

Polens. Sie beschäftigt sich mit der Rekonstruktion des natürlichen Landschafts- 

bildes (Oberflächengestaltung, Klima, Hydrographie, Flora (warum nicht auch 

mit der Fauna?),. dann mit der Rekonstruktion des kulturgeographischen und 

5355 ar Milieus, er gar der Siedlungskunde, der Grundkarten- 

orschung, der Administrativgeschichte) Otto Forst-Battaglia. 


526 


NEKROLOG 


LUDWIG FINKEL t 


Ludwig Finkel, geboren 1857 in Tarnopol, studierte Geschichte 
an der Universität Lemberg beim berühmten Historiker Liske, dann 
als Stipendist in Wien, Berlin und Paris. Er wurde als Dozent für 
Geschichtskunde an der Universität Lemberg habilitiert, wo er es 
auch zum Ordinarius der österreichischen Geschichtskunde brachte 
und später die höchsten Universitätswürden erreichte. — 

Mit Ludwig Finkel verliert die polnische Geschichtswissenschaft 
einen ihrer bedeutendsten Männer, einen stillen Arbeiter, der mit 
nie müder Kraft und Zähigkeit stets vermittelnd zwischen Ausland 
und Inland stand, indem er dem Auslande polnische Forschungen 
fortlaufend übermittelte (Mitteilungen d. Institutes für öst. Geschichts- 
forschung und Jahresberichte der Geschichtswissenschaft 1899—1908) 
und gleichzeitig das fremde Wissen seinem Lande zugänglich machte 
(Kwartalnik Historyczny“). Er versammelte um sich eine große 
Anzahl Lernbegieriger, von denen er Fleiß und historische Genauig- 
keit verlangte, ihnen zugleich Lehrer und Förderer war. Auch 
menschlich suchte er seinen Schülern näherzukommen, hatte immer 
für jeden ein gutes Wort, eine Ermunterung in Bereitschaft. Wenn 
man ihm in seinem Zimmer, in der kleinen Wohnung vis-a-vis der 
Universität, an dem kleinen Tisch gegenüber saß, auf dem scheinbar 
vollendete Unordnung. herrschte, konnte der Professor stundenlang 
erzählen und über verschiedene Fragen lebhaft debattieren. Seine Be- 
hauptungen pflegte er mit einer Notiz zu bekräftigen, die bald in 
dem scheinbaren Chaos herausgefunden war und deren der Besucher 
am meisten bedurfte. So lenkte er unmerklich seine Schüler zum 
Wesentlichen. 

Das unsterbliche Verdienst Prof. Finkels liegt in der Bearbeitung 
der „historischen Bibliographie der polnischen Geschichte“. In zwanzig- 
jähriger emsiger Arbeit mit umermüdlichem Fleiß schuf er die grund- 
legende Methode. Andere eilten zur Mitarbeit herbei, die Seele aber des 
epochemachenden Werkes war und blieb der Professor. Mit diesem Werke, 
das er aus völlig unbearbeitetem Material gestaltete, ermöglichte er den 
weiteren Ausbau der polnischen Geschichtsforschung und schuf neben Karl 
Estreichers allgemeiner polnischen Bibliographie das umfangreichste 
Werk dieser Art. — Auch eine Geschichte der Universität der Stadt 


527 


Lemberg hat er verfaßt. Die dankbare Stadt bot ihm hierfür das 
Höchste das sie besaß, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Lemberg. 

Auch vieles andere hat Professor Finkel in seinem langjahrigen 
Schaffen geschrieben. Ihn interessierte alles, was mit Geschichte im 
Zusammenhang stand. Besonders widmete er sich aber der Epoche 
der polnischen Renaissance, der Zeit der Jagiellonen. Dieses Studium 
begleitete ihn von seiner ersten Jugend an. Schon seine Dissertation 
war über den polnischen Historiker „Martin Kromer“ und den Höhe- 
punkt seines Schaffens erreichte er in der „Elektion Sigismund L“. 
Bis zum letzten Augenblicke blieb er unermüdlich und arbeitete an 
einer Monographie des Historikers Szajnocha, deren Teil „Szajnocha 
als Bibliothekar“ bereits erschien, wie auch an der Vorrede zu einer 
großen Weltgeschichte. 

Die „Historische Gesellschaft“ wie auch der „Kwartalnik Histo- 
ryczny“ verdanken ihm ihren Aufschwung, der „Historische Jugend- 
verband“ seine Entstehung. In Anerkennung seiner Bedeutung 
er nicht nur von der österreichischen und später von der polnischen 
Regierung, sondern auch von allen wissenschaftlichen Kreisen mit 
Würden und Ehren überhäuft. So wurde er Mitglied der Akademie 
der Wissenschaften in Krakau, der Gesellschaft der Wissenschaften in 
Lemberg, Ehrenmitglied des Historiker-Vereins etc. etc. Er wurde 
auch zum Rektor im Jahre des dreihundertjährigen Jubiläums der 
Universität Lemberg gewählt. 

Sein Gesundheitszustand veranlaßte ihn, sich frühzeitig vom 
öffentlichen Leben zurückzuziehen. Er arbeitete aber trotzdem fleißig 
weiter, und so wurde sein 70 jähriges Jubiläum 1927 durch eine 
Akademie an der Universität und eine Medaille mit der Inschrift 
„Dem Schöpfer der polnischen Geschichtsbibliographie“ geehrt. Zwei 
Jahre nachher wurde er Laureat der Stadt Lemberg. 

Seine letzte Schrift war die Vorrede zu einer populären Dar- 
stellung des November-Aufstandes, welche einige Wochen vor seinem 
Tode im Verlage der Macierz Polska erschien. — Es ist bezeichnend 
für den immer jungen Geist des Verstorbenen, daß er in diesen 
letzten Zeilen die neue Stellungnahme der geschichtlichen Forschung 
betonte, welche mit der Wiedererlangung der politischen Unab- 
hängigkeit zusammenhängt. 

Im Oktober 1930 kündete die schwarze Fahne an der Uni- 
versität vom Scheiden desjenigen, der immer lebendig in seinem 
Werke fortleben wird. Von gleicher Dauer wie sein Lebenswerk 
bleibt das lebendige Andenken, daß er sich als Mensch im Herzen 
seiner Schüler und aller derjenigen, die mit ihm je in Berührung 


kamen, aufbaute. 
Lemberg. K. Tyszkowski. 


528 


INHALTS-VERZEICHNIS 


DES BANDES VI N.F. (1980). 


I 


ABHANDLUNGEN 


S. Gar : Polen und die Weltwirtschaft . 

Th. A amezyk: Die Reise Katharinas II. nach Südrußland 
im Jahre 1787 

W. Kühne: Neue Einblicke in Leben und “Werke Cièr- 


kowski I. 
Th. Frankl: 5 als Orientalist und: sein v zur 
Slavistik í 


I. Mirtschuk: Der Messianlemus bei jes Slaven 


M. Alekseev: Die Quellen zum ee ve Ivanovi 
von Rob. Browning 


Th. Wotschke: Polnische und itauische Studenten. in 
Königsberg a A 


MISCELLEN 
J. Matl: Ksaver Sandor Gjalski f 
J. Matl: Bulgarische historische Bibliothek 
H. Simon - Eckardt: Sophie Kovalevskij . 


O. Forst- Battaglia: Conférence des Historiens des Etats 
de PEurope et du monde Slave 


L. Silberstein: Ein Besuch in der slavischen Bibliothek des 
oslovakischen Außenministeriums . 9 


II 
LITERATURBERICHTE 


F. Epstein: Die Marxistische Geschichtswissenschaft in der 
Sovetunion seit 1927 

J. Matl: Neue Ausgaben südslavischer poctindice Liceratur 
und Quellen zur Kultur- und Geistesgeschichte . 


V. Hruby: Die Quellen zur Cechoslovakischen Geschichte in 
sei ersten zehn Jairen be Cechoslovakischen Reps: 


K. Völker: Neuere Literatur zur Kirdengeshice Polens ; 
St. Zajączkowski: Archeion . . 9 
E. Kos ch mie der: Przegląd Bibljoteczny ; r ; 

O. Forst-Battaglia: Drei polnische Festschriften ; 

O. Forst-Battaglia: Die „Bibljoteka Narodowa“ 


BOCHERBESPRECHUNGEN 

JosefSchränil: Die Vorgeschichte Böhmens und Mährens, 
bespr. v. M. Jahn e 

Dr. Blažena RyneSovd: Listä a listinář Oldřicha z 
Rožmberka z let 1418—1462, sv. I, eee 

bespr. v. L B. Novák . . 

Dr. Vavro Šrobár: O EEDE Slovensko, 5 v. 
L. Silberstein 

Georg Ostrogorski: Studien zur Geschichte des ZE 
dinischen Bilderstreites, bespr. v. F. Haase ; 

Georg Sacke: W. L. Solowjews SES 
bespr. v. F. Haase 

Hildegard Schaeder: Moskau das dritte Rom, bep 
v. F. Haase 

J. Mirò uk: Tolstoj und Skovoroda, zwei le Typen, 
bespr. v. F. Haase 

Joseph Strzygowski: Die Altslavische Kunst, bespr. v. 
W. Zalozieckyj. . 

Petur Panov: Die altslavische Volks- dnd Kirchenmusik, 
bespr. v. E. Koshmieder DN 

Zdzistaw Jachimecki: Muzyka ponsa L, = v. 
E. Kos di mie der 

Emil Sembritzki: Slawen-Spuren auf deutschen Fluren, 
bespr. v. K. Eistert . 

A. V. Florovskij: Sostav zakonodatel'noj kommis 
1767—74 gg., bespr. v. Georg Sadke. f 

D. I. Bahali j: Narys istoriji Ukrajiny na RE CH EC 
mitnomu grunti, I, bespr. v. D. Doroschenko 

Pylyp Klymenko: Cechy na Ukrajini — Das Zunftwesen 
in der Ukraine I, bespr. v. D. Doroschenko. . 

A. Petrov: Karpatoruské pomistni názvy z pol. XIX a z 
pot. XX. st., Baa D. 55 Së 

M. A. Aldanov: Zeitgenossen, bespr. v. O. Forst- 
Battaglia ey a Me at Oe Ge ee 


530 


Wsewolod Iwanow: „Der Buchstabe G.“ — Wera 
Inber: Der Platz an der Sonne. — P. N. Kras- 
now: Der weiße Kittel. — Anatolij Marien- 
gof: Zyniker. Bespr. v. O. Forst-Battaglia 

Ettore Lo Gatto: Storia della letteratura russa I, EH 
v. E. Haertel ge g 

Giovanni Maver: „Meditazione“ di Ee, bespr v. 
E. Haertel . 8 i 

Anton Navina (Anton Luckevið: „Adbita nye, 
bespr. v. Vl. Samojlo . 

Anton Luckevié: Za dvadzat pjac CR (1903—1928), 
bespr. v. VI. Samojlo. . . 

K. Nosovský u. V. Pražák: Soupis československé 
literatury za léto 1901—1925, H. 1—4, EE v. 
H. Ji le k ; 

Josef Volf: Geschichte des Buchdrucks in Böhmen aaa 
Mähren bis 1848, bespr. v. E. Kos chmie der 

Marjan Kukiel: "em, historji wojskowości w Polsce, 
bespr. v. K szkowski . . 

Lucja Chars irora Dzieje miasta Zloczowa, bespr. 


v. A. Wagner 


Luc ja Charewiczowa: Lwowski organizacje zawodowe 
za czasów Polski EEN ad v. 
A. Wagner. 


L. Bernacki, R. . WI. Podlacha: 
Modlitewnik Władysława ai ail a v. 
K. Sochaniewicz. 


Bene dy kt . Pamigtnik, bespr v. K. Tysz- 
kowski . 


Kazimierz EE EN Nord Archiwistyka Polska 
i jej zadania, bespr. v. St. Zajaczkowski. g 

Mieczysław Gebarowiz: Katalog rękopisów Bibljoteki 
im. Gwalberta ee DE v. K. T ys sz- 
kowski : 

„Rzeczpospolita Polska. Ada Statystyczny“, bers v. 
J. Czed . . 

Elisabeth Kloß: Das Gründungrbuch de Stadt Dirschau, 
bespr. v. E. Piirschel. . 

Ernst Petersen: Die frahgernaniche Kultur in Ost- 
deutschland und Polen, bespr. v. E. Pürscel. . 

Konrad Bittner: Herders er und ER 
Slaven, bespr. v. F. Haase. 


367 


383 


467 


Ein neues Sammelwerk zur bulgarischen Literatur- und Kultur- 
Fear ee ër leg pisateli 15 redakcijatu na Gier 
. Arnaudov), bespr. v. J. Wat! 
D. I. 8 1 porohy, bese: v. 
M. Dol ny ky . . : 
M. Fil’anskyj u. J. Ry fenko: Poltaviéyna, bespr. v. 
M. Dol“ ny é ky j : 
H. Drohomyreékyj: Vitry Zakarpata, bespr. v. 
M. Dol’nyé GE : 
J. Kral: Svidovec v Podkarpatské Rusi, ep v. 
M. Dol ny ky . E 
Materijaly ochorony pryrody na Ukrajini, E v. 
M. Dol ny ky j 
Josef Ri Großfürst Witold von en als Staats- 
mann, bespr. v. M. Laubert 


Artur Wagner: Handel malen Jaroslawia, bespr. v. 
. Lattermann. . a 


ZEITSCHRIFTENSCHAU 
Allgemeines 
Bulgarien. 


Jugoslavien . 2. 2 2 2 2 2 M08 
Rußland s s ër G ] 9 


Weißrußland 
Ukraine 


Cechos lova kee 409; 479; 


Polen 


NOTIZEN 


Die Gründung einer slavist. Sektion auf en panam 
Neuphilologentag in Breslau 


Jan Pta$nik ¢ (Nekrolog v. A. W agn er) ke. 8 
Ludwig Finkel (Nekrolog v. K. TySsz ko ws ki) 


532 


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N? 821944 


Dl 
Jahrbücher für Kultur J28 
und Geschichte der Ne Se 
Slaven. v. 6 


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