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LIBRARY
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
DAVIS |
OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU
JAHRBUCHER
FOR
KULTUR UND GESCHICHTE
DER SLAVEN
IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS
HERAUSGEGEBEN VON
FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-
BRESLAU, ROBERT HOLTZMANN-BERLIN, JOSEF
MATL - GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ,
KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER- WIEN,
WILHELM WOSTRY-PRAG
SCHRIFTLEITUNG:
ERDMANN HANISCH
+
N. F. BAND VI
1930
PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG
BRESLAU, RING 58
Reprinted with the permission of Osteuropa - Institut
JOHNSON REPRINT CORPORATION JOHNSON REPRINT COMPANY LTD.
111 Fifth Avenue, New York, N.Y. 10003 Berkeley Square House, London, W. 1
LIBRARY
ROB pp ta Co Tw CATS em té rege ëm A
First E 1966, Johnson Reprint Corporation
Printed in West Germany
Druck: Anton Hain KG, Meisenheim (Glan)
OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU
JAHRBUCHER
FOR
KULTUR UND GESCHICHTE
DER SLAVEN
IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE -BRESLAU,
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ-
MANN -BERLIN, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STAHLIN- BERLIN,
KARL VOLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG
SCHRIFTLEITUNG:
ERDMANN HANISCH
+
N. F. BAND VI HEFT I
1930
EEN
PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG
BRESLAU, RING 58, UND OPPELN
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— — det a Sege
I
ABHANDLUNGEN
POLEN UND DIE WELTWIRTSCHAFT®*)
Von
Dr. S. Gargas, Privatdozent an der Universität Amsterdam.
Polen ist in Schmerz und Wehen am Ende des Weltkrieges
November 1918 wiedergeboren. Diese Wiedergeburt erfolgte ın-
mitten eines beinahe weltwirtschaftlichen Chaos und in einer, gerade
für Polen besonders prekären wirtschaftlichen Lage. Wiewohl es
selbst kein kriegführender Staat gewesen ist, waren die wirtschaftlichen
Folgen und Nachwehen des Krieges hier viel schwerwiegender wie
sonst in Mittel- und Westeuropa. Vor allem, weil der Krieg und der
Kriegszustand mit all seinen wirtschaftlichen Zwangsmaßregeln und
siner Vernichtung von Kapital und Menschenleben, hier zwei volle
Jahre länger gedauert hat als sonst in Europa. Haben sich doch hier
beinahe unmittelbar nach dem Weltkriege die Kämpfe mit den
Ukrainern und der Krieg mit Sovet-Rußland angeschlossen, dem erst
der Friedensvertrag von Riga 1921 ein Ende gemacht hatte.
Und sodann war auch Polen, der polnische Staat, nicht Subjekt
des Weltkrieges, war es kein Kriegspartner im eigentlichen Sinne des
Wortes, aus dem einfachen Grunde, weil Polen als Staat zur Zeit des
Weltkrieges überhaupt nicht bestanden hatte, so war es nichtsdesto-
weniger Kriegsobjekt, nicht nur in dem Sinne, daß die Polnische
Frage und ihre Lösung in der oder jener Richtung, und in dem oder
jenem Ausmaße, eines der Kriegsziele der beiden kriegführenden
parteien gewesen ist, sondern vor allem aus dem Grunde, weil Polen
ein Kriegsgebiet im eminenten Sinne des Wortes gewesen ist, weil in
Polen, auf polnischer Erde und auf polnischem Boden, gar viele
Schlachten geschlagen wurden, weil Polen nicht einmal, sondern mehr-
mals das Aufmarschgebiet der beiden kriegführenden Mächtegruppen
undderen Armeen gewesen ist und weil ein jeder derartige Aufmarsch
naturgemäß mit der Einengung und Störung, vielfach auch mit der
Vernichtung der friedlichen wirtschaftlichen Arbeit verbunden war.
Es waren eben in Polen die Folgen der Kriegsoperationen
iugerst weitreichend gewesen. Durch den Weltkrieg wurde vor allem
wendlich viel mobiles Kapital vernichtet.
*) Vortrag gehalten für die „Europäische Union“ im Haag, am 1. Mai 1929.
Vor dem Weltkriege betrug doch die Gesamtsumme der Depo- if
siten aller Art gegen dreitausend Millionen Goldfranken oder
hundert Goldfranken per Kopf der Bevölkerung. Ende 1923, in einem +
währungspolitisch allergefährlichsten Augenblicke, betrug hingegen
die Gesamtsumme der Depositen nur fünfundzwanzig Millionen
Goldfranken oder dreieinhalb Goldfranken per Kopf der Bevölkerung. |.
Mit der Zeit besserte sich wohl die Lage, da Ende Juli 1925, dem ,
währungspolitisch günstigsten Zeitpunkte, die Verhältnisse ein viel |;
besseres Aussehen aufwiesen als im Jahre 1923, aber immerhin ooch e
weit davon entfernt waren, den Vorkriegszustand zu erreichen. Die 4
Gesamtheit der Depositen betrug damals nämlich sechshundertdrei- 5.
undvierzig Millionen Goldfranken, was auf den Kopf der Bevölke- .
rung einundzwanzig Goldfranken ausmachte, also kaum 20% der Vor-
kriegsvorräte. Mit anderen Worten, Polen war im Juli 1925, in dem,
wie gesagt, allergiinstigsten Zeitpunkte, rund fünfmal ärmer als vor ',
dem Kriege.“) Diese schwerwiegende Tatsache kann jedoch keineswegs `
auf das leichte „polnische Blut“ zurückgeführt werden, sondern hat
tiefere volkswirtschaftliche Ursachen.
Hatte doch das Gros der Angehörigen des polnischen Staates seine
Ersparnisse vor dem Kriege in russischen Rubeln, österreichischen
Kronen und deutschen Marken angelegt. Als nun die Währung Ruf-
lands, Österreichs und Deutschlands, im Gefolge des Krieges beinahe
völlig entwertet wurde, so schmolz auch das Vermögen so vieler
polnischer Staatsangehöriger beinahe völlig zusammen, wodurch ge-
waltige polnische Kapitalien völlig vernichtet wurden. Die während
des Weltkrieges in diesen drei Staaten eingetretene Gepflogenheit, die
laufenden Ausgaben mittels der Notenpresse zu decken, legte auch `
dem neuen polnischen Staate schon in die Kinderwiege große Hinder- =
nisse in den Weg.?) a
Wohl wurde am 1. Februar 1924 die Notenpresse für den Bedarf
des Staatsschatzes eingestellt. Am 8. Februar desselben Jahres wurde
der Kurs der polnischen Mark bei einem Verhältnis von einer Million
achthunderttausend Mark für einen Goldfranken stabilisiert. Amn
31. März 1924 haben die Finanzeinkünfte des Staates zum ersten Male
seine monatlichen Ausgaben überstiegen. Am 28. April 1924 trat die
Währungsreform ins Leben und die polnische Notenbank (Bank
Polski) begann ihre Tätigkeit. Am 1. Juli verlor die polnische Mark
den Charakter einer VA mit Zwangskurs.) Damit war wohl
der Weg zur Gesundung eröffnet, aber neue Kapitalien wurden da-
durch an sich noch nicht geschaffen. |
Die Schaffung neuer Kapitalien war nicht leicht durchzuführen, |
solange die Inflation nicht völlig überwunden war, da die Inflation
das Geldkapital vernichtet und verbraucht und das Sparen natur- |
e WS M. Szawleski, Polska na de gospodarki światowej. Warszawa 1928,
3) F. Młynarski, Kryzys i Reforma walutowa. Lwów 1925, S. 62.
) F. Młynarski, Kryzys i Reforma walutowa. Lwów 1925, S. 8.
— ä Ü— — — ee —2—Ʒ— —
— — —— ———— ͤ —mœ— 8 —Pbœ=„L7 — — — — ———— one
emäß hintanhalt. Auch die Erinnerung an die noch unlängst er-
ıttenen Verluste übte auf Geldbelegungen einen stark hemmenden
Einfluß aus und verringerte den Sparsinn der Bevölkerung.“) Zudem
wurden auch nach bereits Äkircheeiührter Währungsreform die Bank-
depots bei der dann verfügten Aufwertung recht stiefmütterlich be-
handelt, weil die Aufwertung kaum 5% dieser Depots betrug, wobei
das Maximum des aufgewerteten Betrages ohne Rücksicht auf die
Höhe der Erträge den Betrag von 125 Zloty nicht überschreiten
durfte. Freilich, die Vernichtung des mobilen Kapitals durch den
Weltkrieg und als Folge desselben war keine spezifisch polnische Er-
scheinung, da nach den Internationalen Übersichten des statistischen
Reichsamtes für das Deutsche Reich?) der Goldbestand in Millionen
Mark folgende Ziffern aufwies:
1913 1925
In Mittel- und Osteuropa „„ „ 1044 2 260
In den neutralen Ländern Europas . 1320 4 028,5
In Entente-Europa. . . . . . . . 12578 7 217,2
In Europa insgesamt . . . 2 . . 24 278,8 13 396,2
In den Vereinigten Staaten von Amerika 7917,2 18 507,8
Diese Ziffern besagen folgendes: Während vor dem Kriege der
Kapitalbestand viel größer als nach dem Kriege sowohl in Mittel- als
Osteuropa als auch in den Ententeländern gewesen ist, ist in den neu-
tralen Ländern Europas eine geradezu umgekehrte Entwicklung zu
beobachten. Hier hat der Weltkrieg das Steigen des Kapitals um das
Dreifache zur Folge gehabt.
Nichtsdestoweniger ist Europa als Gesamtheit ärmer geworden,
da sein Kapitalbestand von 24,278 Millionen Mark gesunken ist,
während in demselben Zeitraum das Kapital der Vereinigten Staaten
von Amerika mehr als um das Zweifache gestiegen ist, nämlich von
7917,2 Mark auf 18 507, 8 Mark.
Die Vernichtung des mobilen Kapitals war mithin keine spezifisch
polnische Erscheinung. Nichtsdestoweniger hatte sie in Polen weiter-
ehende Folgen, wie sonst in Europa, weil diese Kapitalvernichtung
ier vollkommener gewesen ist, da ja doch auch Polen vor dem
Kriege nicht gerade als reich gelten konnte. Zudem betraf die Ver-
nichtung nicht nur Geld, sondern auch Güter- und Warenvorräte,
sowie Arbeitsvorrichtungen. Infolge der Vernichtung des Bodens, der
Wirtschaftsgebäude sowie des lebenden Inventars erlitt insbesondere
die polnische Landwirtschaft Verluste, die auf über 5 Milliarden Gold-
franken geschätzt werden.“) Die Industrie erlitt infolge der Kriegs-
operationen, der Kriegsrequisitionen u. ä. Verluste in Vorrichtungen
und Waren, die auf 3,3 Milliarden Goldfranken geschätzt werden.
Während die Industrie der kriegführenden Länder durch die Not-
B. Friediger, Żródła kryzysu bankowego w Polsce (Przewroty walutowe i
„ po wielkiej wojnie. Kraków 1928), S. 216.
5) Jahrbuch des Statistischen Reichsamtes 1926, S. 116.
©) Szawleski, a. a. O.
wendigkeit der Deckung des Kriegsbedarfes eine gewisse Belebung er-
fuhr, erfolgte in Polen eine starke Rückentwicklung. Während 1914
in Kongreßpolen 325 000 industrielle Arbeiter aftigt waren, fiel
ihre Zahl 1918 auf 47000, also auf 14% des Vorkriegsstandes. Aus
ähnlichen Gründen und Ursachen erhielt Polen seinen Eisenbahnpark
im Zustande völligen Ruins. Seine ersten Jahre begann Polen mithin
im Zustande eines großen Geld- und Warenhungers. Der starke Geld-
hunger fand seinen sprechendsten Ausdruck in dem überaus starken
Steigen des Zinsfußes. Während dieser Zinsfuß vor dem Weltkriege
ein halbes Prozent monatlich oder 6% jährlich betrug, stieg er 1925
auf 3—5% monatlich oder auf 36% bis 60% jährlich (Sic!). Und das
waren nur die Diskontsätze. Der Rediskont ıst noch erheblich teurer.
Vor dem Kriege betrug der Unterschied zwischen Diskontsatz und
Rediskontsatz etwa 2%. 1927 ist dieser Unterschied auf 6% gestiegen.
Wenn also der Diskontsatz der polnischen Emissionsbank z. B. 10%
beträgt, so wird der Rediskontsatz auf 16% festgesetzt.
Noch in der neuesten Zeit wird von einem hervorragenden pol-
nischen Nationalökonomen”) mitgeteilt, daß die Bank von Polen
(Bank Polski) im Rahmen der für die Kunden festgesetzten Kontin-
gente 8% diskontiert. Solide Banken, die legal vorgehen, diskontieren
mit 12% (dem höchsten gesetzlich zulässigen Zinsfuß), verfügen jedoch
nicht über die nötigen Mittel, um den ganzen Bedarf zu diesem Preise
zu decken, deshalb werden dann auch erstklassige Wechsel zu 15%, ja
sogar zu 20% durch Winkelbanken diskontiert. Ja, noch April 1929
wird vom Polnischen Institut für Konjunkturforschung festgestelit,
daß der sog. private Diskont in Lodz sich im Verhältnis von 22% er-
hielt, wenn auch der Diskontsatz der Banken andauernd auf 11—12%
notiert wurde.“
Der sog. Straßendiskont ist der eigentliche Ausdruck der pol-
nischen Geldverhältnisse, dem Zinsfuße der ausländischen Börsen ver-
wandt, da er durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage ge-
formt wird. In der Zeit der Inflation wurden auf der sog.
„schwarzen“, also behördlich nicht genehmigten Börse, Valuten und
Devisen gekauft und verkauft zu einem Kurse, der den gesetzlich zu-
lässigen erheblich überschritt. Heutzutage gehören wohl derartige
Operationen der Vergangenheit an, schon aus dem Grunde, weil sie
sich nicht mehr bezahlt machen. Hingegen wird Geld auch heutzu-
tage recht häufig oberhalb des gesetzlich zulässigen Kurses geliehen.
Der Verkehr dieser Art, der außerhalb der Börse zu extrem hohen
Preisen sich vollzieht, weist auf ein unzureichendes Angebot von
Kapital hin. Der achtprozentige Diskontsatz der Bank Polski ist ein
Privilegium, das nur wenigen zuteil wird.
Eine dauernde Besserung der Verhältnisse kann nur erfolgen,
wenn der Unterschied zwischen dem Diskontsatz der Bank Polski und
dem Diskontsatz, der von den Gläubigern verlangt und erhoben
N) A. Krzyżanowski, Bierny Bielans Handlowy. Kraków 1928, S. 90.
®) Konjunktura gospodarcza, II, 94.
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-anny
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Va
wird, eine Verringerung erfahrt. Eine gewichtige Ursache dieser
geradezu enormen Diskontunterschiede ist die ungeheure Zersplitte-
rung des polnischen Bankwesens. Nach den Angaben des (inzwischen
zurückgetretenen) Finanzministers Czechowicz gab es in Polen 1926
nicht weniger als 109 Banken mit einem Gesamtvermögen von kaum
153 000 000 Zloty.) Der Verkehr ist dadurch zersplittert und die
Verwaltungsspesen sind übermäßig hoch.“) Der starke gegenseitige
Wettbewerb bei der Geringfügigkeit der verfügbaren Vorräte hat
Unvorsichtigkeit bei der Wahl der Kunden und bei der Verteilung
der Kredite zur Folge, was wiederum erhebliche Verluste für die
Banken nach sich zieht. Diese sind in Polen zu schwach, was die
5 Massen abschreckt, in diesen Banken ihre Ersparnisse zu
egen.
In der Zeit der Inflation entstand eine ganze Menge kleiner An-
stalten, die weder größere Eigenkapitalien noch Depositen besaßen,
je mehr die Sparsamkeit unter dem Einflusse der Inflation zurück-
ging und Anlagen in Varen oder Devisen suchte, um so größer wurde
die Zahl der Banken. Es war dies eine höchst krankhafte Entwick-
lung, die mit dem volkswirtschaftlichen Charakter der Banken als
Geldsammelstellen im Widerspruche stand. je weniger Geld diesen
Sammelstellen zufloß, desto größer wurde die Zahl dieser Sammel-
stellen. Die Kreditvermittlung wuchs im umgekehrten Verhältnis
zum Stande der Kapitalisierung, was naturgemäß den Kredit ver-
teuern mußte.) Die Besserung der Bankverhältnisse in Polen ist
mithin durch die Verminderung der Anzahl der Finanzinstitute ganz
wesentlich bedingt.
Alle diese Momente waren naturgemäß nicht darnach angetan,
das Vertrauen des ausländischen Kapitals zu Polen zu stärken. Im
Gegenteil, dieses starke Mißtrauen kam bei fast allen, in den ersten
Jahren des neuen Staates aufgenommenen öffentlichen Anleihen zu
einem vielfach recht krassen Ausdruck, was sich vor allem in der Not-
wendigkeit der Bestellung von Pfändern für diese Anleihen äußerte.
So mußte die italienische Tabaksanleihe im Betrage von 125,5 Mil-
lionen Zloty durch Verpfändung der Erträge des polnischen Tabaks-
monopols erkauft werden, die heutzutage 350 000 000 Zloty, also
einen weit höheren Betrag als der ganze von Italien geliehene Betrag,
jährlich ausmachen.) Überdies mußte Polen sich verpflichten,
der von ihm benötigten ausländischen Tabaksrohstoffe in Italien
einzukaufen, was auf die Qualität der polnischen Zigaretten einen
höchst nachteiligen Einfluß ausübte. Die Dillon-Anleihe mit einem
effektiven Betrage von 141,6 Millionen Zloty wurde gesichert durch
) Współpraca rza du ze sterami gospodarczemi państwa. Sprawozdanie z
naradny gospodarczej, odbytej 30 i 81 ziernika 1926 (wydawnictwo komitetu
ekonomicznego ministrów, Warszawa 1927), S. 81
10) Ahnlich B. Friediger, a. a. O., S. 244.
11) F. Młynarski, Kryzys i Reforma walutowa. Lwów 1925, S. 68.
12) W. Fabierkiewicz, Podstawowe wytyczne Polityki kredytowej (Zagadnienia
gospodarcze Polski współczesnej, Warszawa 1928), S. 13.
7
Eisenbahnbruttoertrage (etwa 1,5 Milliarden jahrlich), sowie durch
den Ertrag der Zuckerakzise (etwa 100 Millionen jährlich). Die
Zündhölzchenanleihe im Betrage von kaum 33,5 Millionen Zloty zog
eine langfähri e Verpachtung des Zündhölzchenmonopols unter
recht SE Bedingungen nach sich. Die Harriman-Anleihe
im Betrage von 10 Millionen Dollars zwecks Investierungen in den
Zinkunternchmungen der Firma Giesche & Co. in Oberschlesien zog
die Erlassung eines besonderen Gesetzes betreffend die Unterstiitzung
der Zinkindustrie nach sich. Die sogenannte Ulen-Anleihe für die
polnischen Kommunen mußte durch das ganze Vermögen der die
Anleihe aufnehmenden Selbstverwaltungskörper, eine Garantie der
polnischen Wirtschaftsbank sowie eine Sondergarantie der Staats-
regierung sichergestellt werden.
Beweisen all diese Tatsachen die enormen finanziellen Schwierig-
keiten, mit denen der neue Staat in seinen Kinderjahren zu kämpfen
tte, so sind andererseits auch zahlreiche Ta en zu vermerken,
welche darauf hinweisen, daß das Vertrauen des Auslandes wenn
auch vor der Hand hauptsächlich in Form von kurzfristigen An-
leihen an polnische Banken allmählich zurückzukehren beginnt, was
zweifellos, wenigstens zum Teile, auf den hohen polnischen Diskont-
satz zurückzuführen sein dürfte. Betrugen doch die ausländischen
Kai iar i der polnischen Devisenbanken (d. h. der größeren
Banken, denen der Ankauf fremder Devisen gestattet war) in
Tausenden polnischer Zloty:
Am 31. 12. 1926: 282 060,
„ 31. 12. 1927: 397 609,
„ 31. 12. 1928: 535 439.)
Also immerhin ein langsames jedoch konstantes Steigen der aus-
lindischen Verpflichtungen, was auf ein andauerndes steigendes Ver-
trauen in die polnische Volkswirtschaft hinweist.
Dieses wachsende Vertrauen des Auslandes stützt sich auch auf
zahlreiche Aktiv-Posten der polnischen Volkswirtschaft, wenn auch
viele dieser Aktiv-Posten eher als potenzielle Entwicklungsmöglich-
keiten denn als aktuelle Wohlstandsäußerungen zu Seck e sind.
Dies gilt vor allem von der Bevölkerung, die heutzutage in Polen
die Ziffer von 30 Millionen Menschen bereits überschritten hat und
die noch immer im ständigen starken Steigen, hauptsächlich durch
natürlichen Bevölkerungszuwachs, begriffen ist. Ist es doch seit
ahren die Eigenart der polnischen Lande, daß sie in ganz Europa den
öchsten Bevölkerungszuwachs aufweisen.“)
Auf 10000 der polnischen Bevölkerung betrug der jährliche
Geburtenüberschuß über die Todesfälle in den Jahren 1900—1904
im Gouvernement Wolhynien 199, in Podolien 180, in der Provinz
Posen (in den Jahren 1901—1910) 197, in Westpreußen 181.
18) Konjunktura gospodarcza, II, S. 82.
44) J. Buzek, Po na wzrost ludnosci ziem polskich w wieku XIX. —
Kraków 1915. e E
8
D ee
— 5 — . —
Sehr interessant ist ein Vergleich der Bevölkerung bewegung
Frankreichs mit der der Provinz Posen; beide Linder haben dieselbe
Sterblichkeit, da jedoch Posen eine fast zweimal so hohe Geburten-
häufigkeit aufweist, gehört es zu den Ländern mit dem größten
natürlichen Bevölkerungszuwachs, während Frankreich seit etwa
30 Jahren überhaupt keinen natürlichen Bevölkerungszuwachs be-
sitzt. Wenn auch in Mittel- und Westeuropa der rschuß der
Geburten eine riickliufige Bewegung aufweist, diirfte Polen noch
mehrere Jahrzehnte hindurch einen höheren natürlichen Zuwachs als
andere Staaten Europas, vielleicht mit der einzigen Ausnahme Ruß-
lands, aufweisen. Diese vor dem Weltkriege bereits gemachten Beob-
achtungen gelten unvermindert von der Nachkriegszeit. Infolge des
starken natürlichen Bevölkerungszuwachses ist die Bevölkerung
Polens 1926 um 451 000 Seelen, 1927 um 427 000 Seelen gestiegen.“)
Dieser große natürliche Bevölkerungszuwachs in Polen Ee be-
sonders stark zum Ausdruck, wenn man den polnischen Bevölkerungs-
Kooffizienten mit dem anderer großer europäischer Staaten
nach dem Stande von 1926 vergleicht. So betrug dieser Kooffizient
in Deutschland 7,0, in Italien 10,9, in Großbritannien 6,7, in Frank-
reich 1,3, in Polen hingegen 15,2. Polen marschiert mithin in dieser
Hinsicht geradezu an der Spitze der Großstaaten Europas. Der große
natürliche Bevölkerungszuwachs gibt Polen eine verhältnismätige
große Anzahl junger Leute unterhalb 21 Jahren, also in einem Alter,
das nicht nur am zeugungsfähigsten, sondern auch wirtschaftlich am
produktivsten ist.
Diese Zahlen beweisen auch, daß, wenn dieser Bevölkerungs-
zuwachs noch anhält (und nichts weist auf das Gegenteil hin) Polen
in etwa 20 Jahren die vierte Stelle unter den europäischen Staaten
der Zahl der Bevölkerung nach einnehmen dürfte.
Wird Polens landwirtschaftliche Produktion durch Meliorationen
vergrößert, wobei besonders in den östlichen Provinzen Polens an
fast unbegrenzte Möglichkeiten zu denken ist, so wird Polen nicht
eine Bevölkerung von 30 Mill., sondern eine von 50 Millionen Seelen
nicht nur haben, sondern auch ohne besondere Schwierigkeiten er-
nähren können. Freilich sind das nur potenzielle Entwicklungs-
möglichkeiten, während die aktuellen Existenzbedingungen hinter
diesen potenziellen Entwicklungsmöglichkeiten sehr weit zurück-
stehen. Diese Diskrepanz hatte seit einer Reihe von Jahren und hat
noch heutzutage eine enorme polnische Auswanderung zur Folge.
Die Auswanderung ist heutzutage in Polen ein notwendiges Übel.
Angesichts der aktuellen Erwerbsmöglichkeiten ist das Land geradezu
übervölkert. Das gilt vor allem vom platten Lande, das ja ın Polen
bei weitem überwiegt. Hinzu kommt noch die industrielle Arbeits-
losigkeit, der starke Bevölkerungszuwachs, die geringe Kapazität der
Arbeitsstätten, um den Bevölkerungszuschuß aufzunehmen. All diese
18) L. Studnicki, L’acroissement de la population en Pologne (le Messager
Polonais, IV) Nr. 288, S. 6.
Momente zwangen und werden wohl auch in Zukunft zur Aus-
wanderung zwingen. Welch große Bedeutung die Auswanderung fiir
Polen besitzt, beweist die Tatsache, daß vor dem Kriege die jährliche
Auswanderungsziffer 900 000 Personen alljährlich umfaßte.
Die polnische Auswanderung besitzt auch für die polnische
Zahlungsbilanz eine große Bedeutung, da die Ersparnisse der polni-
schen Emigranten gar häufig ihren Weg nach der Heimat nahmen,
und hier besonders in den beschränkten Verhältnissen der Bewohner
des platten Landes eine große Rolle spielten.
Die polnische Auswanderung ist bereits seit einem halben Jahr-
hundert überall eine wohlbekannte Erscheinung. Anders ist es mit
der polnischen Ware, die vor dem Kriege zumeist durch Vermittlua
fremder Exportfirmen in Berlin, Wien oder St. Petersburg das Lan
verließ.“) Am Anfang des Bestandes des neuen polnischen Staates,
angesichts der Vernichtung des Landes und des großen Waren-
hungers, deckte der polnische Export kaum den fünften Teil des
2 Importes. Er wendet sich hauptsächlich nach den ihm
reits vor dem Kriege bekannten Märkten, also angesichts des staat-
lichen Außenhandelsmonopols in Sovetrußland und der durch ihn
bedingten starken Einfuhrbeschränkungen nach Deutschland und der
Nachfolgestaaten der ehemaligen österreichisch - ungarischen
Monarchie.
Der Außenhandelsverkehr ist daher schwach entwickelt. Der
durchschnittliche monatliche Export in den Jahren 1924—1927
kommt in folgenden Ziffern (in Millionen Goldfranken) zum
Ausdruck:
1924 1925 1926 1927 1924—1927
Import 123 133 75 140 118
Export 105 105 109 121 110.
Diese Ziffern weisen darauf hin, daß Polen auf seiten des
Importes großen Schwankungen unterworfen ist, je nach dem Ernte-
5 dem Zustande der Währung und den Tendenzen der Zoll-
politik.
Im Welthandelsverkehr ist der Anteil Polens sehr bescheiden.
Wiewohl es 1,5% der Erdbe völkerung besitzt, beträgt der Anteil
Polens am Welthandelsverkehr kaum 1%. In der polnischen Handels-
bilanz kommt recht deutlich der Charakter Polens als eines Rohstoff-
lieferanten zum Ausdruck.
Wiewohl auch viele Rohstoffe und Halbfabrikate nach Polen
importiert werden, um hier einer Verarbeitung und Veredelung ent-
gegenzugehen, weist nichtsdestoweniger der ache Export auf dem
Gebiete der Veredelungsindustrie eher Riickgang als Fortschritt auf.
Die industriellen Erzeugnisse in den Jahren 1924—1926 bildeten etwa
30% des Exportwertes, wahrend in den Jahren 1926—1927 ihr Anteil
auf etwa 20,5 zugunsten der Erzeugnisse der Landwirtschaft und des
Bergbaues gefallen ist. Das Hauptgewicht des Exportes wendet sich
16) Szawleski, a. a. O., S. 410.
10
mithin immer mehr in der Richtung des Exportes der billigen and
unverarbeiteten Massenartikel. Die Erzeugnisse des Bergbaues und
der Landwirtschaft bilden beinahe 80% des Wertes des Exportes, ins-
besondere Holz, Kohle, Rohöl und ihre Derivate, repräsentieren dem
Werte nach beinahe die Hälfte des Exportes, dem Volumen nach
sogar beinahe 90% des Exportes.
Die Steinkohlenlager ziehen sich im Süden Polens hin. Das
Steinkohlenrevier Polnisch-Oberschlesien, das größte und wichtigste
des Landes, birgt über 100 Milliarden Tonnen abbaureifer und
qualitativ hochwertiger Steinkohlen und würde bei gleichbleibender
jährlicher Förderung zirka 2000 Jahre reichen. Die im polnischen
Staate, im Dombrowaer, Krakauer, Teschener und oberschlesischen
Reviere befindlichen Steinkohlenlager bilden dem Ursprunge nach ein
Ganzes, sind ein Teil des Schlesisch-Mährisch-Krakauer Kohlen-
beckens. Die im Dombrowaer Kohlenbezirk geförderte Steinkohle
steht zwar der oberschlesischen an Qualität nach, findet aber als aus-
gezeichnetes Brennmaterial ausgedehnte Verwendung. Im Krakauer
Kohlenrevier weisen die im Norden des Bezirkes gelegenen Gruben
eine der Dombrowaer Qualität nachstehende Kohle auf. In den
reichen Kohlengebieten im Südwesten von Krakau werden jedoch
auch Fettkohlenlager festgestellt. Der polnische Teil des Teschener
Schlesiens besitzt produktive Kohlenschichten auf einem Gebiet von
200 Kilometern. Die hier geförderte Kohle besitzt die Eigenschaften
der Krakauer Kohle. Mit seiner durchschnittlich 25 Millionen Tonnen
jährlich betragenden Steinkohlenförderung steht Polen an vierter
Stelle unter den Kohlenproduzenten Europas.
Die gesamte Kohlenproduktion Polens vor dem Kriege betrug
1913 gegen 41 Millionen Tonnen Steinkohlen, wobei jene Gebiete,
die heutzutage zu Polen gehören, selbst 27,7 Millionen Tonnen ver-
brauchten. Der Produktionsüberschuß wurde fast ausschließlich ın
den Staaten verbraucht, denen die einzelnen polnischen Gebietsteile
angehörten.“) Da die in Polen herrschenden Staaten Polen zumeist
wie eine Kolonie behandelten, so war die innere Aufnahmefähigkeit
des polnischen Marktes noch mehr herabgedrückt und die Not-
wendigkeit eines polnischen Kohlenexportes noch stärker dargetan.
Nun ist Rußlands Aufnahmekapazität seit der bolschewistischen
Revolution sehr stark gesunken. Die Cecho-Slovakei und Rumänien
führen eine stark autarkische Wirtschaftspolitik. Drei Jahre hin-
durch, seit dem Anschluß Oberschlesiens und Polens, wurde durch
den Genfer Vertrag die Möglichkeit einer intensiven oberschlesischen
Kohlenausfuhr nach Deutschland gewährleistet. In dem Genfer Ver-
trage wurde Polen bis 1925 ein Kohlenausfuhrkontingent von
500 000 Tonnen nach Deutschland zugesichert. Da Deutschland sich
der weiteren Fortsetzung dieses Importes nach 1925 widersetzte, kam
es bekanntlich zum Ausbruch des deutsch-polnischen Zollkrieges.
150 A Cybulski, Rozwój, Przemyslu węglowego e niepoldieglej Polsce,
(Przemysł i Handel 1928). |
11
Dieser dreijahrige Export ist wohl eine zeitliche Erleichterung der
Lage der oberschlesischen Kohlenindustrie gewesen, trug jedoch in
keiner Weise zur Lösung des dauernden Kohlenexportproblemes bei.
Die Frage der Kohlenausfuhr erlangte denn auch für die polnische
Kohlenindustrie, besonders nach 1925, eine geradezu vitale Be-
deutung. Ging doch von diesem Zeitpunkte 64,03% der ganzen
polnischen Kohlenausfuhr nach Deutschland. Seit dem englischen
Kohlenstreik hat sich jedoch die Lage grundsätzlich geändert. Die
oberschlesische Kohlenindustrie eroberte neue belangreiche Absatz-
märkte in den skandinavischen Ländern und in Südeuropa. Auf diese
Weise wurde es möglich, daß der polnische Kohlenexport im Jahre
1927 1579000 Tonnen betrug, also den Stand des Jahres 1924 er-
reichte, das ist in jener Zeit, wo der durch den Genfer Vertrag ge-
sicherte deutsche Absatzmarkt noch nicht ins Stocken geraten war.
Auch die Produktionsziffern aus dieser Zeit beweisen die
Konkurrenzfähigkeit der polnischen Kohlenindustrie und die Erträg-
ee eines weitgehenden Verzichtes auf dem deutschen Absatz-
markte.
1927 wurden in Polen 38 084 000 Tonnen Kohle geholt, also nur
6,5% mehr als in dem Jahre der englischen Konjunktur (1926) und
im Vergleiche mit der Zeit vor dem Verluste des deutschen Absatz-
marktes stieg die Produktion sogar um 9,4%. Die Lage der polni-
schen Kohlenindustrie hat sich mithin in den letzten Jahren erheb-
lich gebessert. Die Kohle spielt in der polnischen A eine viel
überragendere Rolle als in den anderen Kohle exportierenden Ländern
Europas. Im Verhältnisse zum Gesamtexport dieser Länder betrug
in den Jahren 1923—1927 der Kohlenexport:
1923 1924 1925 1926 1927
Deutschland. . O, 7 0,9 31 6,4 5,6
Cecho-Slovakei 3,9 2,7 1,8 3,4 1,9
England. . . 13,0 9,0 6,5 — 4,0
Polen 26,6 20,9 11,6 19,6 13,6.**)
Noch stärker tritt dies zutage, wenn wir das Aktivsaldo des
Kohlenverkehrs, also den Netto-Wert des Exportes, betrachten. Dann
erhalten wir für Deutschland im Jahre 1925 1,5%, im Jahre 1926 5,7%,
im Jahre 1927 4,5%, für die Cecho-Slovakei entsprechend 0,2%, 1,5%,
0,2% des Wertes des Gesamtexportes. Für Polen bleiben diese Ziffern
angesichts des sehr geringen Exportes fast ohne Anderung.
Die Schaffung von für die Vergrößerung des Kohlenexportes
nach dem Auslande günstigen Bedingungen war jedoch für Polen mit
erheblichen Opfern verbunden, so mit der Gewährung von Kontin-
genten für Einfuhr italienischer Orangen und von gleichwertigen
Kontingenten für Lettland, Schweden und Norwegen in bezug auf
Waren, deren Einfuhr verboten war. Auch die Erreichung geeigneter
ze 18) Sprawozdanie komisji ankietowej Tom V. Wegiel. Warszawa 1928,
12
Eisenbahntarife für die Beförderung polnischer Kohle über die Cecho-
Slovakei und über Osterreich war unmöglich ohne Gewährung von
Kompensationen an diese Staaten beim Abschluß von Handels-
verträgen. Wohl ist auch der innere Verbrauch der Kohlen im all-
mählichen Steigen begriffen. Er betrug auf den Kopf der Bevölkerung:
1924 700 kg,
1925 710 „,
1926 730 „,
1927 840 „
Der Aufstieg des inneren Kohlen verbrauches ist jedoch in Polen
viel langsamer als in der Cecho-Slovakei, in Belgien und in Frank-
reich, so daß die polnische Steinkohle auf die ausländischen Absatz-
märkte geradezu angewiesen ist, unter der Gefahr, daß sich sonst
der Betrieb der polnischen Kohlenwerke nicht rentiert, wobei noch
ganz wesentlich für die Zukunft der Umstand in Betracht kommt,
daß die veredelnde Industrie in Polen noch wenig entwickelt ist.
Eine Verständi der polnischen Kohlenindustrie mit der eng-
lischen ist angesichts der ungünstigen Lage des Weltmarktes ein
dringendes Gebot der Notwendigkeit. Es ist wohl zu erwarten, daß
die englische Kohlenindustrie sich dieser Erkenntnis nicht länger
widersetzen wird, nachdem das Eindringen der polnischen Kohle auf
die neuen Märkte der polnischen Kohle eine durchaus günstige Marke
verschafft hatte. Hat doch die englische Monatsschrift The
Compendium über den Wert nach England eingeführter fremder
Kohle eine besondere Enquete durchgeführt und deren Ergebnisse
in den Nummern 8—9 vom Jahre 1926 veröffentlicht.
Die dort gemachten Meinungsäußerungen sind für die polnische
Kohle im allgemeinen äußerst vorteilhaft. Die aa iy es
The Compendium gelangt denn auch zu dem Ergebnis, daß die n
Sorten der ausländischen Kohle mit der englischen vollständig
konkurrenzfähig sei, was besagen will, daß England auf den Aus-
landsmärkten kein Monopol mehr besitze ohne Rücksicht auf die
zweifellos ungeheuren Vorteile der englischen Kohle.
Eine geringere handels- und wirtschaftspolitische Bedeutung
haben neben der Steinkohle auch die in verschiedenen Teilen Polens
vorkommenden reichlichen Vorräte an Braunkohlen der Miozän- und
Trias-Formation, sowie große Torflager, die jedoch bei den großen
teinkohlenvorräten in den Hintergrund treten. Hervorzuheben
sind die Braunkohlenlager in der Gegend von Zawiercie, die Braun-
kohle in geringer Tiefe aufweisen. Braunkohle kommt ferner in
Galizien, Posen und Pomerellen vor. Allerdings hat die Braun-
kohlenförderung nur lokale Bedeutung. Ä
Die Eisenerzlager Polens sind noch zu wenig erforscht, als daß
eine annähernde Berechnung ihrer Vorräte möglich wäre. Ost-
schlesiens abbaureife Erzlager werden auf 16 Millionen Tonnen ge-
schätzt. Größere Erzvorkommen weist Kongreßpolen in den
19) E. Kwiatkowski, Postep gospodärczy polski.
13
Kohlenrevieren in Czenstochau und Radom auf, die sich auf einer
Fläche von 10000 qkm hinziehen. Die Erzablagerungen bestehen
im Westen hauptsächlich aus reichen Sideriterzen, im Osten aus
ärmeren Siderit- und Rasenerzen. Die Erzvorräte belaufen sich auf
etwa 260 Millionen Tonnen, mit einem Gehalt an reinem Metall von
100 Millionen Tonnen. Die Erze weisen einen niedrigen Gehalt an
Eisen (35>—40%) auf und stehen infolgedessen den ukrainischen und
den schwedischen nach.
Auch in dieser Industrie bildete der durch den Genfer Vertrag
festgesetzte 15. Juni 1926 als Ende der durch diesen Vertrag sicher-
gestellten deutsch-polnischen Wirtschaftsgemeinschaft einen wirt-
schaftspolitisch Pede Wendepunkt. Bis zu diesem Zeit-
punkte hatten die polnischen Eisenhütten in Oberschlesien völker-
rechtlich den Bezug eines Jahreskontingentes von 235 000 Tonnen
Brucheisen zugesichert, wodurch alle Schwierigkeiten in der Ver-
sorgung der nölnischen Hüttenindustrie behoben waren.“) Das Ver-
bot der Ausfuhr von Brucheisen von Deutschland bedeutete nach Ab-
lauf dieses Zeitraumes eine ganz erhebliche Schwierigkeit und wird
wohl erst in dem nunmehr abzuschließenden deutsch- polnischen
Handelsvertrage behoben werden können.
1927 haben alle europäischen Eisenhütten ihre Produktion an
Gußeisen von 1913 erheblich überschritten. Die polnische Gußeisen-
erzeugung hat jedoch in diesem Jahre kaum 70% des Vorkriegs-
zustandes erreicht. Auch hierin äußern sich die weitgehenden und
so nachteiligen Folgen des Weltkrieges. 1918 nach dem Rückzuge
der Besatzungsmächte bildete die polnische Hüttenindustrie nur eine
große Ruine. Es gab damals niche einen einzigen Hochofen. Der
Vernichtung unterlagen sowohl die technischen Vorrichtungen und
die Maschinen als auch die Verkehrsmittel.
Der Eisenbahnverkehr war höchst mangelhaft. Der Kohlen-
ankauf bedeutete damals ein äußerst schwer zu lösendes Problem, da
die Kohlenausbeutung in den damals Polen angehörenden Kohlen-
rcvieren, dem Dombrowaer und dem Krakauer, nur unbedeutend
ewesen ist. An Brucheisen mangelte es zwar nicht, aber seine Zu-
uhr war mit Schwierigkeiten verbunden. Aber eine intensive Hilfe
der Regierung in Form von staatlichen Kohleneinkäufen, ergiebiger
Regierungskredite, endlich Beförderungserleichterungen, erweckten
die polnische Hüttenindustrie Juni 1919 zu neuem Leben. Eine neue
Lage entstand für die polnische Hüttenindustrie am 15. Juni 1922, als
Oberschlesien an Polen angegliedert wurde, wodurch an Polen auch
die großen oberschlesischen Hüttenanlagen kamen.
Während die Eisenhütten Konreßpolens während des Welt-
krieges fast vollständig vernichtet worden waren, wiesen die ober-
schlesischen Eisenhütten eine völlig unverminderte Produktionskraft
auf, nachdem für diese Hütten die Kriegszeit eine geradezu glänzende
Epoche bedeutete, betrugen doch damals die ausgeschütteten
3°) H. Glück, Hutnictwo żelazne w Polsce (Przemysł i Handel 1928).
14
Dividenden 20—30%. Die Hüttenindustrie Kongreßpolens be-
fürchtete denn auch nicht ohne Grund einen rücksichtslosen und
ruinösen Konkurrenzkampf seitens der oberschlesischen Hütten-
industrie.
In der ersten Zeit nach der Angliederung Oberschlesiens an Polen,
d. h. in den Jahren 1922 und 1923, beachtete die oberschlesische
Hiittenindustrie den polnischen Absatzmarkt recht wenig, da ihre
Erzeugnisse gerade 1 infolge der Ruhrbesetzung durch die
französische Armee in ganz Deutschland gesucht wurden. Es war
dies jedoch die Zeit der Inflation, sowohl der deutschen als auch der
polnischen Mark, wodurch wohl eine glänzende Scheinkonjunktur
geschaffen wurde, gleichzeitig jedoch die Grundlagen des von der
Inflation berührten Virtschaftsorganismus völlig untergraben
wurden. Die aus der vergrößerten Produktion erzielten Mark-
Milliarden schmolzen in den Bankdepots recht schnell völlig zu-
sammen, und dies um so mehr, als die oberschlesischen Hütten in-
folge des Miftrauens zu der Stabilität der polnischen Verhältnisse in
dieser Zeit irgendwelche größeren Investierungen völlig unterlassen
haben. So war denn auch das einzige Ergebnis dieser scheinbar
glänzenden Konjunktur die fast völlige Vernichtung des Betriebs-
kapitals der oberschlesischen Unternehmungen und eine erhebliche
Beschädigung der Produktionskapazität, der damals stark über-
lasteten, aber nicht erneuerten und nicht modernisierten Anlagen.
Gleichzeitig ging die Kaufkraft des ganzen deutschen und polnischen
Absatzgebietes erheblich zurück.
Am 15. Juni 1926 um 12 Uhr nachts hörte der Import der
polnischen Kohle und des polnischen Eisens in Deutschland auf, was
selbstredend der polnischen Kohlen- und Eisenindustrie sich äußerst
peinlich fühlbar machen mußte. Die polnische Hüttenindustrie
richtete nunmehr eine gespannte Aufmerksamkeit auf den inneren
Markt ın Polen, aber erst das Jahr 1927 brachte den oberschlesischen
Hütten eine entschiedene Besserung der Lage. Vor allem ist der
innere Konsum des Eisens von 239 426 Tonnen in 1926 auf 368 456
Tonnen in 1927 gestiegen. Sodann stieg auch der polnische Eisen-
export von 104824 Tonnen in 1926 auf 170370 Tonnen in 1927.
Der Zollkrieg mit Deutschland zwang geradezu die oberschlesischen
Hütten, neue Absatzgebiete zu suchen und verlieh ihnen einen
eminent exportpolitischen Charakter.
Dazu war vor allem eine völlige Verständigung der einzelnen
Gruppen der polnischen Hüttenindustrie nötig, die auch tatsächlich
recht bald zustande kam. Schon am 1. August 1925 wurde das ober-
schlesische Eisenhüttensyndikat gebildet und bald darauf trat diesem
Syndikat auch die Sosnowitzer Röhren- und Eisenfabriksgesellschaft
bei. Schwieriger gestaltete sich die Frage einer internationalen Ver-
ständigung, welche jedoch für die polnische Hüttenindustrie, die ihre
Erzeugnisse nach 33 Ländern exportiert, geradezu zu einer Lebens-
frage wurde. Die polnische Hüttenindustrie hatte unzweifelhaften
Willen, dem internationalen Eisenverbande beizutreten, kann jedoch
2 ur 6 15
weder auf den Ausbau seiner Exportmöglichkeiten, noch auf den des
inneren Absatzmarktes verzichten, da beide in ihrer .Entwicklung
aus exogenen Gründen stark gehemmt waren, daher nicht der rein
augenblickliche Stand und die potenziellen Entwicklungsmöglichkeiten,
zum Ausgangspunkte beim Festsetzen der, Polen zuzuweisenden
Absatzkontingente genommen werden müssen. Am 8. Mai 1928
wurde endlich der Standpunkt der polnischen Eisenhütten dahin fest-
gelegt, daß der polnische Markt den polnischen Hütten unein-
geschränkt überlassen wird und der internationale Eisenverband diesen
Markt der polnischen Hüttenindustrie garantiert, daß mit dem Augen-
blicke der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Handelsvertrages
die polnischen Hüttenverhandlungen mit den deutschen Hütten in
der Frage des polnischen Eisenausfuhrkontingentes nach Deutschland
eröffnen werden. Diese Bedingungen wurden jedoch von dem inter-
nationalen Eisenverbande nur teilweise angenommen. Der polnische
Export sollte danach auf 300 000 Tonnen Gußeisen jährlich beschränkt
werden und überdies sollte dieser Kontingent von dem Steigen der
Produktion für den Bedarf des inneren Marktes abhängig gemacht
werden, in der Weise, daß für jedes 1000 Tonnen des vergrößerten
polnischen Eisenkonsums der Ausfuhrkontingent um je 333 T. ver-
ringert werden sollte. Da die polnischen Eisenhütten diese Be-
dingungen ihrerseits als unannehmbar erklärten, so gelangten die
internationalen Verhandlungen ins Stocken.
Zink- und Bleierze der Trias liegen im südwestlichen Teile
Polens. Neben dem bereits ziemlich viel erschöpften Vorkommen bei
Tarnowitz ın Oberschlesien sind reichliche Vorräte bei Beuthen, ferner
in Kongreßpolen in der Wojwodschaft Kielce und auch bei Krakau
vorhanden.
Die Kupfererzvorkommen Polens sind von geringer Bedeutung
und auf die Gegend von Kielce beschränkt. Schwefel kommt in der
Gegend von Krakau vor und am Fuße der Karpathen. Auch in
Kongreßpolen und in Oberschlesien finden sich schwefelhaltige Ge-
biete, die jedoch nicht genügend untersucht sind und deren Ertrag
bis jetzt gering ist. Überaus zahlreich und reich sind die galizischen
Erdölquellen. Die Naphtafelder, deren Gehalt auf mehrere 100 Milli-
onen Doppelzentner Roherdöl geschätzt wird, ziehen sich auf einer
Strecke von 400 Kilometer längst der Karpathen, von Neu-Sandez bis
an die Quellen des Pruth hin. Rohnaphta wird in den Bezirken
Krosno, Sanok, Sambor und vor allem Drohobycz zutage gefördert.
Die seit mehr als 60 Jahren betriebene Ausbeutung der in Galizien
befindlichen Erdöllager erreichte ihren Höhepunkt im Jahre 1909 mit
einem Ertrage von 2000000 T. In den folgenden Jahren ist eine
Verringerung der Produktion zu verzeichnen, die schließlich infolge
von Kriegsschäden noch mehr herabsank. Indessen beweisen geo-
lcgische Untersuchungen, daß die Erdöllager noch lange nicht er-
schöpft sind und ihr Vorrat schätzungsweise rund 270 000 000 T.
beträgt. Dank weiteren Bohrungen gelang es auch in den letzten
Jahren, die Produktion etwas zu heben, was zum Teil auf die Be-
16
seitigung der staatlichen Beschränkungen des Pctroleumhandels und
auch die unter starker Zuziehung ausländischen Kapitals durchge-
führten Neuinvestierungen zurückzuführen sein dürfte. Auch die
Bohrungen werden intensiver und weitgehender durch auf Brennstoff-
ersparnis in Anwendung verbesserter Bohrmethoden gerichtete Be-
strebungen und haben die Rentabilität der Gruben bedeutend erhöht.
Einen kraftvollen Aufschwung hat die Raffinerieindustrie genommen.
Während vor dem Kriege nur 40—48% der Produktion an Ort und
Stelle verarbeitet wurde, stieg im Jahre 1921 unter dem Einflusse des
Ausfuhrverbotes von Rohöl dieser Prozentsatz auf 90%. In den
folgenden Jahren wurde die ganze Produktion, samt den Lager-
beständen im Lande verarbeitet und heute wird das Verarbeitungsver-
mögen der Raffinerien auf etwa 200% der gegenwärtigen Produktion
geschätzt. Die steigende Herstellung von Petroleumerzeugnissen
spiegelt sich in folgenden Ziffern wieder: im Jahre 1913 betrug die
Produktion 304 000 T., 1921: 572000 T., 1922: 658300 T., 1923:
610 000 T., 1924: 770 792 T., 1925: 800 000 T., 1926: 709904 T. und
1927: 619 295 T. Diese steigende Entwicklung machte es Polen mög-
lich, einen Teil der Raffinationsprodukte ins Ausland zu senden, deren
Export vorwiegend nach eutschland, Usterreich, der Cecho-
slovakei und Ungarn gerichtet, in den letzten Jahren bis zum Aus-
bruch des deutsch-polnischen Zollkrieges 60% der Gesamtproduktion
ausmachte.
An der polnischen Petroleumindustrie sind zahlreiche aus-
ländische Kapitalien beteiligt, es überwiegt jedoch bei weitem das
amerikanische, so daß hier die Standard Oil Company die polnische
Rohölproduktion monopolistisch beherrscht, nicht immer zu Nutz
und Frommen Polens, da dieser Einfluß der Standard Oil sich vielfach
produktionshemmend auswirkt. Deshalb wird es auch in den Kreisen
der polnischen Rohölproduzenten außerordentlich bedauert, daß
insbesondere das englisch-niederländische Petroleumkapital, die Royal
Dutch voran, in Polen sich so außerordentlich zurückhaltend benimmt.
Die Royal Dutch wäre in Polen als Gegenpart zur Standard Oil sehr
willkommen.
Polen ist ferner reich an Steinsalzen, sowohl in Gestalt von reinem
Kristallsalz als auch von Salzschlamm mit einem 40—45prozentigen
Gchalt an reinem Salz. Außerst kompakte Salzlagen befinden sich in
Galizien, wo sie in Wieliczka, Bochnia und Stebnik in Stollen von
150 Meter Tiefe abgebaut werden. Außer mehreren Salzquellen, im
früheren Kongreßpolen, deren Salz durch Auskochen gewonnen wird,
befinden sich noch kegelförmige Salzlager in Großpolen, und Stein-
salz ist weiter in Schlesien und im Posener Land bekannt. Die Salz-
industrie ist die älteste Industrie auf polnischem Boden. Nach dem
Weltkriege hat die Salzgewinnung eine bedeutende Steigerung er-
fahren und heute deckt die Produktion nicht nur die Bedürfnisse des
Inlandes, sondern gestattet auch eine Ausfuhr. Die Salzproduktion
der galizischen Gruben übersteigt um mehr als 35% deren Ergiebigkeit
vor dem Kriege. Eine ähnliche Erscheinung läßt sich im posener und
17
im kongreßpolnischen Gebiete feststellen. Das Salz ist von guter
Qualität und frei von schädlichen Verunreinigungen. Die Entwick-
lung der Salzindustrie bildet einen wichtigen Faktor des polnischen
Wirtschaftslebens schon mit Rücksicht auf die chemische Industrie.
Mit Ausnahme einer Grube in Großpolen, die der Firma Solvay-
Werke angehört, sind alle Salzgruben Eigentum des Staates. Kali-
salze in Gestalt von Kainit und Sylvinit sind in Kalusz und Stebnik
in Ostgalizien in reichlichen Lagern vorhanden, die erst in letzter Zeit
intensiver ausgebeutet werden. Die bis jetzt festgestellten Vorräte in
Kalusz werden bis jetzt mit ca. 5000000 T., in Stebnik auf 10 bis
12 Millionen T. geschätzt. Außerdem bewiesen Bohrungen in anderen
Gegenden Polens das Vorhandensein von Kalisalzen, die mit ähnlichen
Ablagerungen in Deutschland identisch sind. In allerjüngster Zeit
wurden große neue Kalilager aufgedeckt, deren Ertragsmöglichkeit
aber vor 10 bis 15 Jahren nıcht in Frage kommt. Die Produktion der
Kaliwerke in Kalusz und Stebnik ist von 4 628 T. im Jahre 1912 auf
176984 T. im Jahre 1925, auf 207 389 T. ım Jahre 1926 und schließ-
lich auf 276054 T. ım Jahre 1927 gestiegen. Da aber die polnische
Landwirtschaft jährlih an 500000 T. Kalisalz braucht, so ist bei
stärkerer Ausbeutung die Möglichkeit gegeben, sich in dieser Be-
ziehung unabhängiger vom Auslande zu machen.
Bei einer Darstellung der natürlichen Reichtümer Polens dürfen
die Energiequellen Polens nicht unerwähnt gelassen werden, welche
die zahlreichen und starken Wasserfälle bilden. Die nur zum ge-
ringen Teile ausgenützte Wasserenergie der Karpathen wird auf
500 000 PS. berechnet und wäre hinreichend, ganz Polen bis in die
entferntesten Teile des Landes mit Elektrizität zu versorgen. Die
Verwertung der Wasserkräfte zu Elektrizitätszwecken steht erst im
Anfangsstadium der Entwicklung. Ferner nennen die polnischen Ost-
gebiete reiche Torflager ihr eigen, die zur Gewinnung elektrischer
Kraft verwendet werden könnten. Derzeit besitzt Polen 10 Kilowatt
auf den Kopf der Bevölkerung. Die Elektrifizierung, eine der
wichtigsten Aufgaben der Entwicklung Polens, ist heute Gegenstand
eifriger Verhandlungen mit ausländischen Interessenten zwecks
Kapitalbeteiligung. Immerhin sind all diese polnischen Bodenschätze
eher potentielle Kräfte als aktuelle, da die Industrie Polens, die
meistens auf seinen natürlichen Reichtümern aufgebaut ist, vorderhand
im Stadium der Entwicklung sich befindet und ihr Wachstum von der
intensiven Ausnutzung der ungeheuren Vermögenswerte, die der
polnische Boden in sich birgt, abhängig ist. Eine viel größere aktuelle
Bedeutung hat die polnische Landwirtschaft.
Auf ein Gesamtgebiet Polens von 838 323 Quadratkilometer um-
faßte das landwirtschaftlich bebaute Gebiet 48,6%, die Wiesen und
Weiden 16,9%, die Wälder 24%, die Städte und ungenützten Flächen
10,4%. Die südöstlichen Gebietsteile, die einen außerordentlich frucht-
baren Boden besitzen, haben eine verhältnismäßig sehr niedrige,
durchschnittliche Ernteergiebigkeit: nämlih 10—12 Zentner vom
Hektar. Diese östlichen und südlichen Gebiete Polens mit der so ge-
18
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gt { — u N gp ` ff rn Moe — — nn er EEE at, 5,
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ringen Ernteergiebigkeit umfassen jedoch 53,1% der Gesamtfläche des
Staates.“) Das Gesamtergebnis der polnishen Landwirtschaft ist
daher auch mehr als bescheiden zu nennen. Betrug doch die durch-
schnittliche Ernte an Weizen pro Hektar in Polen 1170 Kilogramm,
in Deutschland hingegen 1800, in Dänemark aber gar 2900 Kilo-
m, d. h. die Intensivität der dänishen Landwirtschaft war 60%
öher als die der polnischen.
Und weist doch die polnische Handelsbilanz gerade auf landwirt-
schaftlichem Gebiete andauernd Defizite auf. So betrug dieses Defizit
(in bezug auf die vier wichtigsten Getreidearten) im Wirtschaftsjahr
1926/27 119 038 000 Zioty, im Wirtschaftsjahr 1927/28 145 589 000
Zioty. Besonders im Verhältnis zu Deutschland zeitigen diese Ver-
hältnisse recht bemerkenswerte Folgen. Betrug doch während der
letzten drei Jahre der deutsche Export von Getreide und Mehl nach
Polen rund 295 000 Tonnen, der polnische Export dieser Waren nach
Deutschland hingegen nur 280000 Tonnen, ales um 15000 Tonnen
weniger. Dem Werte nach ist der Überschuß des deutschen Getreide-
exportes über dem polnischen noch erheblich größer. Die größte
Bedeutung hat denn auch heutzutage nicht der Export von Getreide
und Mehl, sondern der Export von Vieh, Fleisch, Geflügel. Der ganze
polnische Viehvorrat betrug nach der polnischen statistischen Viertel-
jahresschrift B.V. Heft 2 vom Jahre 1928 6 333 456 Stück, von denen
rund 800 000 Stück ausgeführt wurden, ein übrigens auf diesem Ge-
biete zweifellos ganz erheblicher Fortschritt, da vor dem deutsch-
ng Zollkrieg der polnische Viehexport kaum 400 000 Stück
en hatte.“)
Die praktische Folge des deutsch- polnischen Zollkrieges ist auch
nur der Nutzen dritter Staaten. Duobus litigantibus tertius gaudet.
Die polnischen Schweine werden auch weiterhin nach Deutschland
trotz Zollsperre exportiert, aber auf Umwegen, nämlich über Oster-
reich und die Cechoslovakei, mit dem Ergebnis, daß der polnische
Schweineziichter für seine Ware einen erheblich niedrigeren Preis er-
halt, während der deutsche Importeur genötigt ist, die höheren Trans-
5 und die Gebühren der österreichischen und decho-
slovakischen Mittelsmänner zu bezahlen, also die polnischen Schweine
zu erheblich höheren Preisen als vor dem Zollkriege einkauft.
In der Zeit der Zerrüttung der Währung war die Landwirtschaft
in einer schlechteren Lage als die Industrie: Der Produktionsprozeß
in der Landwirtschaft dauert linger und die PE Be-
völkerung, die weit von dem Mittelpunkte des Bank- und Börsen-
lebens lebt, paßt sich schwerer und langsamer den Folgen der In-
flation an. Bei der Hebung der Nominalpreise für ihre Erzeugnisse
hat die Landwirtschaft schwerer und langsamer sich dem Goldpreis-
niveau angepaßt. In der Zeit des Rückganges der Währung blieb der
Goldindex der landwirtschaftlichen Preise hinter dem Index der
21) „Czas“ (Krakau) vom 1. November 1928.
27) „Czas“ v. 8. Okt. 1928.
19
Industriepreise erheblich zurück. In dieser Hinsicht trat eine grund-
sätzliche Änderung nach der Stabilisierung der Währung ein.
Die große Spannung der Schwankungen im polnischen Import
äußerte sich besonders in der Inflationszeit auch in Polen in der
größten Spannung zwischen dem landwirtschaftlichen und dem in-
dustriellen Preisindex, also in der sog. Preisschere:“) diese begann sich
zu schließen, und zwar zugunsten der Landwirtschaft. Die Schere
schloß sich durch schnelleres Heben des inneren Armes, der den land-
wirtschaftlichen Preisindex bedeutete.
Die Struktur der polnischen Volkswirtschaft hat zur Folge, daß
die Besserung der Absatzverhältnisse der Landwirtschaft, die den
größten Teil der Bevölkerung umfaßt, auch den inneren Markt für
Produkte von Industrie und Bergbau vergrößerte. Das stärkere
Steigen der landwirtschaftlichen Preise in Gold sicherte der polnischen
Landwirtschaft durch die Hebung ihrer Kaufkraft einen größeren
Anteil am Volkseinkommen.
Die durch die Stabilisierung der Währung erfolgte Besserung der
Lage der Landwirtschaft hatte für das Ausland auch eine unmittel-
bare Bedeutung, da es auch den Import mancher, gerade in der Land-
wirtschaft benötigten Waren steigerte, so den Import von Kunst-
dünger, der trotz einer gleichzeitigen starken Steigerung der eigenen
Produktion von 348 000 T. in 1925 auf 488000 T. in 1927 gestiegen
war, sowie den Import der landwirtschaftlichen Maschinen von
4205 T. in 1926 auf 11701 T. in 1927.)
Wohl ist dem Steigen des Verbrauches die Steigerung der Pro-
duktion nicht in demselben Maße gefolgt. Wenn die Produktions-
steigerung mit der Konsumsteigerung auch nur einigermaßen Schritt
halten und dadurch das Gleichgewicht der Handelsbilanz wieder her-
gestellt würde, so müßte diese Produktionssteigerung vor allem die
Landwirtschaft und die landwirtschaftliche Produktion betreffen.
Der Gedanke der wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit, der be-
sonders nach dem Weltkriege in so vielen Staaten und Ländern
Europas überaus volkstümlich geworden ist, hat auch Polen nicht ver-
schont. Wie vor dem Kriege, so erklingen auch jetzt gar häufige
Rufe nach Boykott fremder Ware. Nur vergißt man dabei in Polen,
daß jede handelspolitische Maßregel, handelspolitische Gegenmaß-
regeln auf der Gegenseite hervorzurufen pflegt. Dabei kann doch
Polen als ein Kulturland auch nicht auf jede Auslandsware verzichten.
Das was tatsächlich ausgeschlossen werden könnte, spielt handels-
politisch so gut wie gar keine Rolle. So z. B. könnten wohl italieni-
sche Orangen, die für etwa 6000000 Złoty in Polen importiert
wurden, vom polnischen Markte ausgeschlossen werden. Wenn aber
Polen sich tatsächlich zu einem derartigen Einfuhrverbote entschließen
sollte, so würde seine Handelsbilanz sich wohl um 6 000000 Zloty
22) F. Młynarski, Rola rolnictwa w bilansie handlowym. Warszawa 1928,
24) F. Mlynarski, a. a. O., S. 7 und 8.
20
bessern, aber Italien würde wohl aufhören, polnische Kohle zu im-
portieren, was einen handelspolitischen Verlust von 15 000 000 Zloty
nach sich ziehen müßte.
Die heutige Schicksalsverbundenheit Polens mit Westeuropa ist
auch aus dem wesentlich gleichen Konjunkturverlaufe in Polen einer-
seits, in Deutschland, Usterreich, der Tschechoslovakei andererseits zu
ersehen.“)
Ein wesentlich gleicher Konjunkturlauf wie in Polen ist insbe-
sondere auch in Deutschland zu beobachten. In Polen wie in Deutsch-
land bringt das Ende des Jahres eine gewisse Besserung der Lage, die
am Anfang des Jahres 1925 ganz deutlich wird. Die Besserung ver-
andert sich dann in Polen in der zweiten Hälfte des Jahres 1925 in
eine heftige Krisis.
Ebenso wie Deutschland hatte auch Polen nicht nur eine In-
flation, sondern zwei. Der Unterschied war nur der, daf die zweite
Inflation in Polen eine Geldinflation war, verursacht durch eine über-
mäßige Emission von „Scheidenoten“ (currency notes), während
sie in Deutschland den Charakter einer Kreditinflation besaß, verur-
sacht durch den ungeheuren Zufluß der ausländischen, vor allem der
amerikanischen Kredite. Ihr Einfluß auf die Industrie war in Polen
wie in Deutschland gleich. Sie schaffte eine mehrmonatliche Inflations-
konjunktur, welche infolge ihres durchaus künstlichen Charakters sich
nicht lange erhalten konnte und die mit einer noch schärferen Krisis
enden mußte.
Die Inflationskonjunktur, durch die zweite Inflation verursacht,
wurde im zweiten und dritten Viertel 1925 unterbrochen. Die Besse-
rung beginnt in Deutschland Anfang 1926. Januar 1926 steigen die
Aktienkurse und vom Februar geht die Zahl der Arbeitslosen zurück.
Der Produktionsindex ist vom Mai dieses Jahres im Steigen begriffen.
In demselben Jahre trat auch in Polen ein Umschwung der Lage zu-
tage. Die ersten Äußerungen dieses Umschwunges traten im No-
vember und Dezember 1925 zutage, im Februar 1926 war der Um-
schwung fast Hess hie Der weitere Lauf der Jahre 1926 und 1927
ist ebenso in Deutschland wie in Polen Zeit der Besserung und eines
die Besserung begleitenden Auflebens. In der zweiten Hälfte 1927
wurde der Höhepunkt der höchsten wirtschaftlichen Entwicklun
schon überschritten, sowohl in Polen als auch in Deutschland. Sowo
in Polen als auch in Deutschland beginnt seit November 1927 die
Arbeitslosigkeit wieder zu steigen. Ähnlich war auch der Konjunktur-
verlauf in Österreich und der Cechoslovakei. Die Konjunktur hat
eben einen hervorragend internationalen Charakter und weist be-
sonders in benachbarten und wirtschaftlich aufeinander angewiesenen
Ländern wesentlich denselben Verlauf auf, ohne Rücksicht darauf, ob
die in Betracht kommenden Völker sich lieben oder hassen.
38) O. Lange, Konjunktura w życiu gospodarczem Polski 1923— 1927,
(Przewroty walutowe i gospodarcze po wielkiej wojnie Kraków 1928), S. 417.
2]
Die enge weltwirtschaftliche Verflecht Polens hat zur Folge,
daß für die weltwirtschaftliche Zukunft Polens seine Entwicklungs-
tendenzen von ausschlaggebender Bedeutung sein dürften. Und da ist
es von Belang, festzustellen, daß der polnische Export wohl weder
einen ausgesprochen landwirtschaftlichen, noch einen ausgesprochen
industriellen Charakter trägt, daß jedoch, inwieweit es sich um einen
Industrieexport handelt, ein entschiedenes Übergewicht, die wenig ver-
feinerten Artikel bilden, die für andere Industriezweige eigentlich
den Rohstoff abgeben“) und nur einen ganz unbedeutenden Bestand-
teil, die Fertigfabrikate, bilden, daß ferner auch der auf Pflanzen-
zucht beruhende landwirtschaftliche Export nur etwa 10% des Ge-
samtexportes ausmacht, daß hingegen im ständigen und stetigen
Steigen der Export der Erzeugnisse der polnischen Viehzucht begriffen
ist. Im Jahre 1926 betrug er nur 16,9% des Geamtexportes, 1927
2,8%, 1928 hingegen schon 23,5%, wobei hier vor allem das lebende
Vieh und die Molkereiprodukte in Betracht kommen, hier wiederum
vor allem aber der Schweineexport.
So faßte denn auch m. E. mit Recht die allgemeinen Entwicke-
lungstendenzen des polnischen Exportes das polnische Institut für
Konjunkturforschung dahin zusammen, daß vor allem der Export der
Erzeugnisse der Viehzucht gestiegen ist, während der Export der
landwirtschaftlichen Erzeugnisse je nach dem Ergebnisse der Ernte
schwankte, der Export der Erzeugnisse der sog. Agrarindustrie hin-
gegen im Rückgange begriffen war.“) Großen Schwankungen unter-
ag auch der Export von Holz und Kohle.
Die strukturellen Daseinsbedingungen der polnischen Volkswirt-
schaft haben auch zur Folge, daß eine tiefere volks- und weltwirt-
schaftliche, daß die sog. westliche Orientierung Polens trotz erheb-
licher politischer Widerstände im Wachsen begriffen ist. Der natür-
liche Absatzmarkt für Polens Rohstoffe, besonders für Produkte
seiner Landwirtschaft und seiner Viehzucht ist Deutschland. Daher
das große Bedürfnis an geregelten Handelsbeziehungen, an einem
regelrechten Handelsvertrag mit Deutschland. Freilich verhehlt man
sich in Polen keineswegs, daß, falls es zu diesem lange erwartetem und
in beiderseitigem Interesse herbeigewiinschten Handelsvertrage
kommen wird, der hervorragend agrarische Charakter Polens, der
schon jetzt 80% der Gesamtbevölkerung umfaßt, sich noch vertiefen
dürfte. Nun glaube ich aber keineswegs, daß der vorwiegend land-
wirtschaftliche Charakter eines Landes mit seiner kulturell und
materiell niedrigen Entwicklungsstufe identisch sei, nachdem zahl-
reiche Beispiele (Dänemark) das Gegenteil beweisen. Auch dürfte
diese geopolitisch natürlichste internationale Arbeitsteilung wirt-
schaftspolitisch sich am meisten reibungslos entwickeln. Immerhin
darf man sich nicht verhehlen, daß ein großer Teil des polnischen
Volkes zum Teile von gänzlich anderen wirtschaftspolitischen Idealen
20) Konjunktura gospodarcza II, S. 58.
27) Konjunktura gospodarcza II, S. 54.
22
beseelt ist. Das lang dauernde Streben nach Wiederherstellung der
staatlichen Unabhängigkeit hat naturgemäß auch wirtschaftspolitische
Selbstgeniigsamkeitsideale erzeugt. Dabei kamen besonders in
Kongreßpolen noch äußerst lebendige Erinnerungen an eine erst vor
kurzem dahingeschwundene Vergangenheit. War doch Kongreß-
len zur Zeit seiner Zugehörigkeit zu Rußland nicht sein Hinter-
d, sondern eher sein Vorderland gewesen. Es veredelte die
russischen Rohstoffe, aber lieferte sie nicht. Vielmehr erstreckte sich
der Export der polnischen Industrie nicht nur auf das europäische
Rußland, sondern auch auf das asiatische und dehnte sich sogar bis
auf den fernen Osten aus.
Das hat zahlreiche große private Reichtümer großgezogen, die
vielfach auch das politische Denken vieler Polen beeinflußte und die
Reminiszenz an diese Zeiten spielt auch noch heutzutage in Polen eine
große Rolle. Man weist in ce Zusammenhange darauf hin, daß
die östliche Orientierung zum mindest in wirtschaftspolitischer Be-
ziehung eine stärkere Industrialisierung Polens ermöglichen dürfte und
dadurch das ökonomische Gleichgewicht von Industrie und Land-
wirtschaft, damit aber auch einen höheren Grad der wirtschaftlichen
Autarkie, sicherstellen würde. Es unterliegt wohl keinem Zweifel,
daß Rußland ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Zur-
zeit sind jedoch diese Möglichkeiten recht begrenzt. Das ganze
kommunistische System, besonders aber die grundlegende Außerung
desselben, das russische Außenhandelsmonopol ist nicht darauf ge-
richtet, die Bedürfnisse der russischen Volksmassen zu steigern,
sondern die Deckung dieser Bedürfnisse planwirtschaftlich sicher zu
stellen.“) Der heutzutage recht wenig aufnahmefähige russische Ab-
satzmarkt dürfte sich deshalb nur langsam vertiefen. Das kann nicht
ohne tiefgehende Rückwirkungen auf die polnische Wirtschaftspolitik
bleiben, die jedoch zurzeit geradezu gezwungen ist, sich hauptsäch-
lich nach dem Westen zu orientieren, um ihre Zahlungsbilanz auch
nur einigermaßen aktiv zu gestalten, aber selbstredend kann Polen
auch seine wirtschaftspolitischen Ausdehnungsmöglichkeiten auch
nach dem Osten, wenn auch vielleicht im weiteren Stadium der
russischen Wirtschaftsentwicklung, nicht aus den Augen verlieren und
ist genötigt, die Ausbeutung derartiger Möglichkeiten auch handels-
vertragsrechtlich mit anderen Staaten, insbesondere auch mit Deutsch-
land, sich vorzubehalten und sie sicher zu stellen.
Insbesondere gilt dies mit Rücksicht auf die Lage Polens als eines
Durchgangsgebictes, welche es geradezu prädiziniert, Mittler zwischen
Völkern, insbesondere Mittler zwischen Westen und Osten zu werden.
Polen verfügt über den besten Zugang zu Lande, nach dem immer-
hin auch jetzt großen, wenn auch wie gesagt erheblich geschwächten
russischen Markte, was um so mehr in die Wagschäle fällt, da der
Seeweg durch die Ostsee aus klimatischen Rücksichten einen großen
38) Vergleiche darüber S. Gargas, Le monopole du commerce exterieur en
Russie Soviötique (Journal des economistes 1929), S. 187—144.
23
Teil des Jahres nur schwer zugänglich ist, der Seeweg über das
Schwarze Meer wiederum verhältnismäßig sehr lange, mithin auch
nicht immer rentabel ist.“) Polen hat mithin in einem gewissen
Grade im Verhältnisse zu Rußland ein Verkehrsmonopol, welches
ihm große weltwirtschaftliche Vorteile bietet, da es die Nachbarn im
Westen geradezu zwingt, mit Polen zu unterhandeln, wenn der
russische Markt nicht verloren gehen soll. Diese Lage legt jedoch
Polen auch erhebliche Pflichten auf, besonders auf dem Gebiete des
Verkehrswesens (der Eisenbahnen und der Wege), das in recht argem
Zustande von Polen übernommen und dessen Vervollkommnung und
Ausbreitung ein gebieterisches Erfordernis ist, wenn Polen seinen
weltwirtschaftlichen Aufgaben gerecht werden soll. Nur dann näm-
lich wird es in der Lage sein, wirklich ein Mittler zwischen Westen
und Osten zu werden und zu bleiben.
39) „Czas“ v. 17. Juni 1929.
24
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DIE REISE KATHARINAS Il. NACH SUDRUSSLAND
IM JAHRE 1787
Von
Theresia Adamczyk.
Es könnte eine Aufgabe sein, den einzigartigen und berühmten
Zug der großen Katharına in das alte Taurien als rein kultur-
historisch fesselndes Ereignis zu betrachten, im Schauspiel der
Reise das Bild des an seinem Ende stehenden Jahrhunderts mit allem
Licht und Schatten wie ein Gleichnis zu sehen. Aber ehe man so,
das Ganze überschauend, deuten könnte, scheint es notwendig, die
Einzelzüge klar zu erkennen. Gerade das Hauptmotiv, den poli-
tischen Grundzug, hat man bisher überschen. Es wird das Thema
dieser Arbeit sein.
Der Plan der Reise reicht weit zurück. Schon 1780, bei der Zu-
sammenkunft von Mohilev, hatte Joseph II. seiner Verbündeten ein
neues Zusammentreffen in Cherson versprochen. Am 1. Juli 1787
schreibt Katharina an Zimmermann, sie wundere sich, daß so viele
Gerüchte über ihre Reise umgingen, sie habe sie sich schon seit drei
Jahren vorgenommen, damals, um einen Anfall von Hypochondrie
zu heilen, der allerdings jetzt vorüber sei. Das wäre dann im Jahre
1784 gewesen. In diesem Jahre beginnen auch die offiziellen Vor-
bereitungen. Befehle der Kaiserin, Potemkins, des Senats ergehen an
die Gouvernements und Städte. Potemkin ist in fieberhafter Tatig-
keit.) Am Ende des Jahres 1785 erhält Ligne eine Aufforderung
Katharı an ihrer Reise nach Taurien teilzunehmen, die 1786
wiederholt wird, mit detailliertem Programm. In diesem Jahre werden
auch die Gesandten, Cobenzl*) und Ségur, ) offiziell zu der Reise ein-
geladen. Joseph II. erwähnt in einem Brief an Kaunitz (9. August
1786)*), daß er eine Aufforderung, nach Cherson zu kommen, täg-
lich erwarte, daß er aber wenig Neigung habe, ihr nachzukommen.
1) Vgl. Sborn. 27 u. a. S. 840f.
2) Font. 54, 75. Cob. an Jos. 1. Nov. 1786.
8) Ség. Mém. I, 422.
) Arneth, S. 277 f. Anm.
Als sie dann wirklich erfolgte (16. August a. St.), geschah das in einer
merkwiirdigen Form, als Postskriptum, ganz nebenbei, was Joseph so
in Zorn brachte, daß er in einem Brief an Kaunitz*) für seine hohe
Verbündete das bekannte Wort prägte: „La Princesse de Zerbst
Catherinisee.“ Kaunitz wußte ihn zu Ce und Katharina
erhielt, ebenfalls in der Form eines Postskriptums, eine Zusage. Noch
aber war es nicht bestimmt, daß der Kaiser von Cherson aus Katha-
rina in die Krim begleitete.
In Rußland aber und dem übrigen Europa begannen schon die
wildesten Gerüchte über die Reise umzugehen, und in Kiev, dem
eigentlichen Ausgangspunkt der Fahrt, sammelten sich Abgesandte
aus Europa und Asien, um die Beherrscherin des Nordens im Triumph
zu sehen; denn das Ansehen einer Triumphfahrt erhielt die
Reise durch die ungewöhnlichen Vorbereitungen, deren Einzelheiten
man ausführlich in den Arbeiten Alexander Brückners®*) findet.
Wozu aber begab sich Katharina mit ihrem ganzen Hofstaat,
mit den Gesandten der europäischen Mächte auf die Reise?
Offiziell bekanntgegeben war eine Inspektionsreise der
Kaiserin in die neuerworbenen Provinzen. Befremdend jedoch wirkt
der außergewöhnliche Aufwand, der in ihrem Verlauf sichtbar
wird, „la marche triomphale“,*) „notre impériale caravane“) — die
in die Augen fallende Inszenierung.
Eher paßt hierzu die Bezeichnung der Fahrt durch Brückner als
eine „Lustreise“, eine „partie de plaisir“) der Kaiserin; einige
schnitte der Fahrt wirken durchaus so.
Es ist aber unmöglich, den dominierenden politischen Ton, der
bald lauter, bald verdeckter mitklingt, zu überhören. Brückner be-
gnügt sich in dieser Beziehung mit unbestimmten, widerspruchsvollen
Hinweisen. In seiner letzten speziellen Arbeit über die Reise”) ist von
einer politischen Bedeutung des Unternehmens nirgends die Rede, nur
gelegentlich heißt es etwa (S. 486): IIyremecrgxe .... ge MOTXO He HMETb
BAXHOTO IIOXHTHYECKAO anaden . . . während er in seinem früheren
Werk über Katharina doch immerhin sagt (S. 356): „. . Und in
der Zeit einer solchen Spannung und Erregung erschien Katharina
an den Grenzen ihres Reiches, in Cherson und Sevastopol, umge
von ihren Gesandten, und Ministern, in Gesellschaft Joseph II., von
welchem man wußte, daß er zu einer Teilung der Türkei die Hand
zu bieten bereit war; in solcher Zeit revidierte man angesichts der
Welt die Streitkräfte, über welche Rußland verfügte. Kein Wunder,
daß die partie de plaisir der Kaiserin die Bedeutung einer schwer-
wiegenden politischen Aktion gewann.“
8) Ibid.
6a) Vgl. noch Esipov: Kievsk. Star. XXXI, 175 ff.
2) Ség. Mém. I, 422 f.
7) Ibid.
8) Kath. II. S. 356.
®) Putesestvie Ekateriny II v Krym. Istor. Vestnik. XXI. 1885.
26
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— . ———‚(vͥ — — . —— . — ST — .— —— — — — —
Aber auch hier ist anscheinend zu verstehen: eine politische
Aktion in den Augen der Zeitgenossen und nicht in der Uberzeugung
Brückners, andernfalls hätte seine spätere Arbeit diesen neuen Ge-
sichtspunkt hervorheben müssen.“)
Die politische Lage des Zeitpunktes der Reise allein läßt nach-
denken. Seit der Erwerbung der Krim durch Rußland war das Ver-
haltnis zur Pforte immer gespannter geworden. In der Türkei
rüstete man ganz offen, unter den Augen Europas, während Katha-
rina hinter der Maske der friedliebenden Herrscherin das „große
Projekt“ mit Zähigkeit im Auge behielt.
Die Annexion der Krim war ein Anfang gewesen. Die Reise liegt
in derselben politischen Linie. Schon vor 1783 war sie geplant,“) als
eine „Reise nach Cherson“, gerade nach Cherson, der Basis für jede
kriegerische Operation gegen die Pforte. Damals wurde ihr ein poli-
tischer Zweck nicht abgesprochen. Bezborodko und Potemkin gaben
ihm die Formulierung „Konsolidierung der Freundschaft der Alli-
ierten“, ) denn eine Zusammenkunft mit Joseph II. war von vorn-
herein vorgesehen. Durch immer wieder auftretende Seuchen in
Cherson wurde die Fahrt stets weiter hinausgeschoben.
Als sie dann aber 1787 wirklich stattfand, hatte sich die Spannung
zwischen Rußland und der Pforte durch den vom Pascha von Achal-
zich unterstützten Einfall der Lesghier in Georgien so verschärft,
die geringste kriegerische Bewegung von einer Seite heraus-
fordernd wirken mußte. Und gerade da, als die diplomatischen Ver-
handlungen auf des Messers Schneide standen und die Pforte nach-
drücklicher ihre Rüstungen betrieb, “) begab sich Katharina mit auf-
falligem Prunk in den Süden ihres Reiches, vereinigte sich mit ihrem
Alliierten und hielt eine imponierende Heerschau über ihre zu-
sammengezogenen und verstärkten Truppen ab.“)
Das politisch-kriegericha Moment ist nicht zu verkennen.
Katharinas Ville zum Krieg, zu weiterer Eroberung, wenn auch
nur des Cherson einengenden und beschränkenden Landzipfels
mit Otakov,"*) wurde von ihr anfangs sehr wohl verborgen. Vor
allem wollte sie nicht die Angreifende sein und eine unantastbare
Fassade bewahren, um immer einlenken zu können; deshalb die sich
se) Esipov (s. u. Literatur verzeichnis), der, soweit ich sehe, letzte Betrachter
der Taurischen Reise, verzichtet überhaupt darauf, die breite Masse der von ihm
zusammengetragenen Einzelheiten zu wägen. Seine Stoffsammlung kann zur Aus-
füllung des Rahmens dienlich sein. In der vorliegenden Arbeit sollte das Be-
deutungs volle herausgehoben werden.
10) Fontes 58, 89. Cob. an Jos. 2. Aug. 1780.
11) Ibid. u. Fontes 53, 484. Cob. an Jos. 3. Nov. 1784.
13) Nach Zinkeisen, Gesch. d. osmanischen Reiches VI, 614 war die ganze
Türkei von religiösem Fanatismus und der Stimmung zum „heiligen Krieg“ gegen
Rußland erfaßt.
13) Vgl. Fontes 54, 57.
18) Pot. zu Ség. Mém. II, 26: „ .. mais au moins devriez-vous consentir
à laisser resserrer les Turcs dans des frontières plus naturelles, plus convenables,
pour évitert des guerres dont on est à chaque instant menacé.“
27
stets wiederholenden Versicherungen des Vertreters ihrer offiziellen
Politik, Bezborodkos, und im Anfang auch Potemkins, Rußland
würde nur zum Krieg schreiten, wenn seine Ehre beleidigt und an-
gegriffen sei.“)
Eben das ist auch die Ursache der Haltung Bulgakovs ın Kon-
stantinopel, der bis zum letzten Augenblick die friedlichen Absichten
Rußlands versichert, weil er nicht unterrichtet war; beständig fehlten
ihm in Momenten der Entscheidung feste Instruktionen.?*) Diese seine
zweideutige Haltung bot der Türkei eine Gelegenheit mehr, die
russische Ehre anzugreifen. Katharina machte ihre Politik hinter
diesen Kulissen. Ségur, der notgedrungen als Vertreter Frankreichs,
gerade diese Symptome beobachtet, erkennt diese Stellung Katha-
rinas deutlich, wenn er nach den Chersoner Verhandlungen, die die
Forderungen Rußlands an die Pforte im Grunde überhaupt nicht
eingeschränkt hatten, zu Joseph II. sagt:“) „... tout dépend de la
manière dont en. elle-même considère ces propositions, et
du ton avec lequel elles seront présentées; peut-étre ne les regarde-t-
elle que comme de bons matériaux préparés pour un manifeste.
Tout est prét; et dés qu’elle le voudra; sous prétexte que les Turcs
tardent A la satisfaire sur les griefs dont elle se plaint, une partie
de ses troupes peut attaquer Oczakov et Akerman... .“
Katharina wollte den Krieg, denn sie wollte Eroberung, das
heißt: Ruhm.
Im Verlauf der Reise tritt diese Absicht immer klarer hervor;
an vielen gelegentlichen, oft nur scheinbar scherzhaften Bemerkungen
der Kaiserin und ihrer Begleiter, die sich des Zweckes der Fahrt sehr
bewußt waren, läßt sich dieser Vorsatz wohl deutlich beweisen.
Aber er trat dabei in einer Form auf, die auch die öster-
reichischen Politiker, denen das „große Projekt“ vertraut war, über-
raschte. Katharina, wie auch ihre Mitarbeiter, brachten unzweifelhaft
ihren Willen zum Ausdruck, auch ohne tätige Unterstützung Oster-
reichs das Unternehmen gegen die Türkei zu wagen. Rußland fühlte
sich allein stark genug, es wünschte von seinem Verbündeten nur
diplomatische Hilfe.
18) Font. 54, 152, Cob. an Kaunitz 8. Juni 1787: „ . . et lui (Bezborodko) de
son coté m’assüre toujours que l’Impératrice ne desire nullement la guerre:
ce ne s’y prêtera que dans le cas où sa dignité blessée ne lui permettroit pas
autre parti. Vgl. auch S. 154. — Pot. zu Ség. Mém, I, 881: „ .. je suis prêt
à vous signer, si vous le voulez que nous n’attaquerons pas les Turcs; mais
songez-y bien, s’ils nous attaqueront, nous pousserons la guerre et nos armes
aussi loin que possible.“ — Ség. Mém. II, 26. Ség: J’entends ... . vous voulez
Oczakov et Akerman ... c'est à peu près demander Constantinople; c'est
declarer la guerre pour prouver le désir de conserver la paix.“ — Pot.: „. .. Non
. Mais, si ON nous attaque nous prendrons les indemnités qui nous conviendront.
Il serait cependant possible, si vous le voulez, et sans combattre, de rendre
indépendants les princes de Moldavie et de Valachie ...“ — Ség.: „Sans
combattre! Vous ne le croyez pas.“
16) Vgl. Zinkeisen VI, 614 ff. Sbornik 26, 187. Bezborodko an Voroncov,
Aug. 1787.
17) Ség. Mém. II, 81.
28
Schon einige wenige herausgegriffene Aussprüche geben eindeutig
darüber Auskunft. Katharina schreibt 1783 an Potemkin: ,,...Ich bin
fest entschlossen, auf niemanden zu rechnen und meiner eigenen Kraft
zu vertrauen. Ist der Kuchen erst gebacken, wird jeder Eßlust ver-
spüren. Ich rechne aber so wenig auf meine Alliierten, als ich den
Donner, oder richtiger, das Wetterleuchten der Franzosen fürchte.“
Oder man höre die Kiever Tagebuchstelle Chrapovickijs:“) „. ee
(Pforte) no ¥ymoMy COBBTY BOOpVXaO Tb, HO MH MORCMD CAMH HAYATD:
1—e Axammuickoe Abo: 2—e CMbHa rocnokxaps, Kb HAM YKIOHHB-
marocs, koero He BHIAaXNM'b....”
Im Verlauf der Fahrt wird die Sprache immer offener. Ein Brief
Cobenzls an Kaunitz aus Sevastopol’*) z. B. bringt eine An-
zahl von 5 in denen man sich von russischer Seite ganz
offen ausspricht. Einige Auszüge aus diesem Brief lauten: (Katharina
zu Joseph II.) „. . que la France bien loin de pouvoir penser 4 une
guerre, n' avoit pas de quoi payer le courrant de ses dépenses en
temps de paix, que par conséquent le moment paroissoit favorable
et qu'il falloit en profiter. Au reste ajouta !’Impératrice contre les
Turcs je me vois assez forte, il suffit que Vous ne m’ empéchiez pas.
(Potemkin zu Ligne): ,,...dites 4 Sa Majesté Empereur, si vous
en avez loccasion, que nous ne Lui demandons autre chose contre
les Turcs que de nous laisser faire et tout au plus de faire quelque
démonstration entre temps en notre faveur...
(Potemkin zu Joseph II.): „. (la France) feroit d’abord beaucoup
de bruit, qu'elle iroit jusqu’ aux démonstrations de toute espace, mais
qu'elle finiroit par prendre elle même un part du gfiteau.“*)
In einem anderen Brief an Kaunitz”) äußert sich Cobenzl:
„ . Mais la possibilité que |’Impératrice nous a avouée d’entrer en
„ même sans nous, en nous laissant après le choix d’être ou
spectateurs ou acteurs, mérite la plus sérieuse attention. II seroit
très fâcheux que la Russie s’emparat d’Oczakow et de son territoire,
sans que nous de notre côté ne fissions aucune acquisition...
Dieser Plan gibt auch der kurzen, verletzenden Einladung Katha-
rinas an Joseph II. erst einen Sinn. Sie glaubte, ihn nicht nötig zu
haben, und sıe wollte ihm dies zeigen. Joseph II. verstand sie erst,
als er persönlich mit ihr zusammentraf und ihre eigene Sprache hörte.
Schon ın Cherson, wo zunächst nur oberflächlich die Rede von Politik
war, sah er klar, er schrieb an Kaunitz:“) „...L’Imp£ratrice meurt
d'envie de recommencer avec les Turcs; elle n’écoute sur ce chapitre
aucun raisonnement, car son amour-propre et son bonheur l’aveug-
18) Chrap. S. 17 f. 7. April 1787.
10) Font. 54, 151 ff. 8. Juni 1787.
20) ib.
21) ib. S. 152.
22) ib. S. 158.
33) Font. 54, 164 ff. 18. Juni 1787.
24) Arneth S. 292 Anm.
29
lent au point qu’elle se croit seule suffisante d’exécuter tout ce qu’elle
veut, sans que jy coopére, et c'est par là qu'elle s’imagine de faire
évanouir toutes les difficultés que je lui ai fait sentir relativement
au Roi de Prusse, et 4 la France.“ Und nicht erst berauscht durch
ihre kriegerische Machtentfaltung hat Katharina ihren selbständigen
Plan gefaßt. Er war seit langem gereift, ihre Machtmittel, die ihr
der von Potemkin arrangierte Triumphzug zeigte, waren ihr eine er-
wartete Bestätigung.
Jee? II. war widerwillig zur Zusammenkunft gekommen, im
Glauben, Katharina wolle ihn enger verpflichten; das Bündnis aber
aufzugeben, wovon damals in Politikerkreisen das Gerücht ging, lag
ihm fern. Sein Wort, das der damalige preußische Gesandte in Kon-
stantinopel, Diez, als Beweis dafür anführte:“) „Mit seinen Freunden
muß man nun einmal den Becher bis auf den Grund leeren“, läßt
sich eher entgegengesetzt deuten. Die Ereignisse der Reise, wie man
sehen wird, kräftigten jedenfalls die Beziehungen der beiden Herrscher.
Aus dem Brief, den Joseph nach der Entscheidung in Konstantinopel,
am 30. August 1787”) an Katharina schrieb, wird man keine Be-
denken von seiner Seite mehr herauslesen können. Es heißt da unter
anderem: „. . . Je sens la juste indignation que cela doit donner
V. M. I., et je la partage bien sincérement avec Elle. Que ne sommes-
nous dans ce moment à Sevastopol? On ne pourrait s’empécher
d'aller par un bon vent souhaiter à grands coups de canon le bon
jour au Grand-Seigneur et à ses insolents conseillers. — Pour moi, fidèlé
aux engagements, qui me lient comme allié 4 V. M. I., et encore plus
par le tendre attachement et la sincére amitié que je Lui ai voués
pour la vie, je suig prét 4 Lui prouver par tous les moyens possibles,
combien Sa cause est la mienne... D
Die einzelnen Ereignisse der Fahrt werden die Plane Katharinas
am besten erhellen. —
Den Verlauf der Reise kann man vielleicht, ähnlich wie ein
Schauspiel, durch eine Kurve darstellen, die kurz ansteigt, dann
einen Ruhepunkt, ein retardierendes Moment, bildet, um in zwei An-
läufen zu einem Höhepunkt hinanzusteigen und schnell wieder ab-
zufallen. Daraus ergeben sich die durch die Hauptetappen gegliederten
Abschnitte der Reise.
Das Vorspiel, oder was ich so nennen möchte, reicht von der
Abreise von Carskoe-Selo, am 18. Januar (n. St.), bis zur Ankunft
in Kiev (9. Februar); den Aufenthalt in Kiev, bis zum 3. Mai, be-
trachte ich als das retardierende Moment. Von hier bis zur Abfahrt
aus Cherson am 28. Mai ergibt sich der erste Hauptteil der Reise.
Den Übergang zum zweiten großen Teil bildet ein kurzes Zwischen-
spiel in der Steppe zwischen Cherson und Perekop, am 29. und
30. Mai. Der zweite Teil umfaßt die Reise von der Ankunft in Bach-
Cisaraj, am 31. Mai, bis zur Durchfahrt durch Perekop, am 11. Juni.
36) Zinkeisen VI, 621 Anm. Diez, Depesche v. 10. Juli 1787.
26) Arneth S. 299.
30
Von da ab bildet die Riickreise tiber Poltava, Chafkov und Tula
nach Moskau (8. Juli) und später Carskoe-Selo (22. Juli) das Nachspiel.
Die Hauptetappen des ersten großen Teiles, also von Kiev
bis Cherson (3. Mai bis 28. Mai) sind Kanev (6. und 7. Mai), Kremen-
tug (11. bis 14. Mai), Ekaterinoslav (20. Mai), Cherson (23. bis
28. Mai); die des zweiten — Bachlisaraj (31. Mai bis 1. Juni), Inker-
man—Sevastopol’ (2. bis 3. Juni), wieder Bachtisaraj (4. bis 5. Juni),
Simferopol’—Karasubazar (6. Juni), Staryj-Krym—Karasubazar (7.
bis 10. Juni).
Der erste Teil der Fahrt wirkt, von hier gesehen, nur wie eine,
wenn auch prächtige, Ouverture zu dem Triumphzug der eigentlichen
Reise. Die Kaiserin hatte am 1. Januar wie gewöhnlich ihren Neu-
jahrsempfang abgehalten und verabschiedete sich abends mit einem
großen Ball offiziell von Petersburg. Am folgenden Tag reiste sie,
nach Anhören der Messe in der Kazaner Kirche nach Carskoe-Selo,
wohin ihr am 6. die drei Gesandten, Cobenzl, Ségur und Fitzherbert,
folgten und den Abend mit ihr verbrachten. Die Kaiserin war sehr
schweigsam und schien verstimmt. Ségur bemerkt, die Reise habe wie
ein dunkles Ereignis auf allen gelastet. Katharina aber war wohl
mehr mit Familiensorgen beschäftigt. Sie hatte nämlich beabsichtigt,
die Großfürsten Alexander und Konstantin mit auf die Reise zu
nehmen. Kurz vorher aber waren beide erkrankt, und Konstantin,
an dem ihr gerade in diesem Fall am meisten lag, ihres „großen
Projekts wegen, war noch nicht wieder hergestellt, zur großen
Freude seiner Mutter, der Großfürstin, mit der Katharina schon
vorher deswegen einen unangenehmen Briefwechsel gehabt hatte.
Außerdem war die Kaiserin über die Affaire des Bruders der Groß-
fürstin, des Prinzen von Württemberg, erregt, den sie eben aus Ruß-
land verwiesen hatte. Chrapovickij 535 darüber am 4. Januar
(a. St.). Zu allem kam noch eine leichte Erkrankung Mamonovs;
Katharina begann die große Fahrt mit nicht gerade heiteren Ge-
fühlen.“
Auch über den drei Gesandten lag eine gedrückte, wie von
künftigen Gewittern und Unheilen, wie Ségur sagt,“) erfüllte Stim-
mung. Der später Schreibende glaubt das als Vorahnungen großer,
künftiger Umwälzungen deuten zu müssen. Aber er selbst war von
politischen Augenblickssorgen erfüllt: die Beziehungen Rußlands zu
Frankreich schienen durch die Drohung der Reise gegen die Türkei
efahrdet; dazu kam die innere Finanzkrise Frankreichs. Gering-
kigi ere Dinge rein privater Art verdüsterten die Stimmung
Fitzherberts. Cobenzl aber, geborener Höfling, war eigentlich
stets von einer unverwüstlichen Heiterkeit, niemals von Stimmungen
sichtbar beeinflußt. Unter den drei Diplomaten dominierte er nicht
nur als Vertreter der alliierten Macht; der Schüler Kaunitz’ wußte
sich am russishen Hof seiner Fähigkeiten und Mittel zu bedienen.
27) Font. 54, 96 ff. Cob. an Jos. 18. Jan. 1787.
28) Ség. 1, 428.
1 RE 6 31
Er besaß in hohem Grade jenes „talent de séduire“, das Friedrich der
Große in seinem politischen Testament für einen Diplomaten am
russischen Hof wünschte. Er vernachlässigte niemanden, er gewinnt
Bezborodko genau wie das Hoffräulein Protasova. „La cour semblait
son élément“, sagt Ségur von ihm, vielleicht mit einem leisen Be-
dauern über seinen eigenen Mangel hierin. Denn dieser französische
Diplomat, dessen Freunde Nassau und Ligne waren, der mit Lauzun
und de Broglie in Amerika gekämpft hatte, der die Gesellschaft von
Schriftstellern und Künstlern suchte, besaß eine gewisse Schwerblütig-
keit, die ihn gelegentlich bedrückte. Trotzdem hatte er bei Katharina
roßen Erfolg, sie schätzte seine Kenntnisse, seine Lebensart, sein
iterarisches Talent, seinen Geist und nahm ihn in den Kreis der
Habitués ihrer Tafelrunde der Eremitage auf. Auch auf dieser Reise,
die für Ségur als Vertreter Frankreichs sehr unangenchme und
schwierige Lagen brachte, wußte er sich in der Gunst der Kaiserin
zu behaupten. Cobenzl schreibt an Joseph:“) ,,L’Impératrice traite
à merveille le Comte de Ségur, qui a fait tout ce qu'il falloit pour
réussir complétement ici, et que le Prince Potemkin aime comme son
enfant. Neben diesen beiden sehr verschiedenen Menschen, die
beide erfolgreiche Politiker waren, tritt Lord Fitzherbert etwas zu-
rück. Er hatte politisch überhaupt keine Erfolge aufzuweisen, wie
ja England in der Politik Katharinas in diesem Zeitpunkt ziemlich
in den Hintergrund geschoben ist. Aber auch er fügte sich dem
glänzenden Kreis der Persönlichkeiten um Katharina ein; seine
Melancholie und seine ständige gelangweilte Miene, unter der sich
„un esprit fin et orné““ ) verbarg, sah Katharina mit Vergnügen in
der wechselnden Reihe ihrer Tafelrunde. |
Die drei Gesandten schlossen sich in Carskoe-Selo einem Hofstaat
an, oa) dem allerdings noch die interessantesten und wichtigsten Per-
sönlichkeiten fehlten. Da waren Mamonov, ,„lenfant gâté“, wie
Joseph II. ihn nannte,“) der sich außerordentlich gut an die Gesell-
schaft um die Kaiserin anpaßte, sich mit Ligne und den Gesandten
anfreundete, so daß Cobenzl an Joseph schrieb:“) „. .. ayant reçu une
bonne éducation, et doué d’ailleurs d’assez esprit naturel 4 une con-
versation beaucoup au dessus du celle de ses prédécesseurs, et qu’ on
peut plus aisément causer avec lui... II a des talens, dessine fort
joliment...“ Mit Potemkin verband ihn eine gemeinsame Liebe zur
Musik. Ihm reihten sich die übrigen Höflinge an: Andrej Suvalov,
der Mazen, der Oberkammerherr Ivan Suvalov, der sich eben durch
Tadeln der Petersburger Normalschulen unbeliebt gemacht hatte, der
Graf von Anhalt, der als Generaladjutant die Kaiserin begleitete und
2) Font. 54, 130. 25. April 1787.
30) Ség. I,
30a) Eine Liste der Mitreisenden bei Esipov: Kievsk. Star. XXXI (1890) 891 f.
und XXXIII (1891) 72 f.
$1) Ség. II, 86.
32) Font. 54, 188 f. 25. April 1787.
33) Ligne, Lettres. S. 28.
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von ihr sehr ausgezeichnet wurde, der Hofmarschall Barjatinskij, der
immer Beschäftigte, der Oberstallmeister Naryskin, „le meilleur des
hommes et le plus enfant“,**) der „buffon de la cour“, mit dem
Katharina gern zu ihrer Erheiterung Politik treibt, denn, sagt sie:
„C'est un grand plaisir que de lui donner à arranger I Europe“.“
So setzte sich denn am 18. Januar der riesige Zug der kaiser-
lihen Karawane in Bewegung. Er bestand aus vierzehn Reisewagen,
die auf Kufen gesetzt waren, hundertundvierundzwanzig Schlitten
und vierzig Ersatzschlitten. Auf jeder Station standen fiinfhundert-
undsechzig Pferde zum Auswechseln bereit. Es war die kälteste Zeit
des Jahres und der Winter war ungewöhnlich hart. Der pomphafte
Zug von Schlitten, von denen jeder verschwenderisch mit Pelzen
und Fellen ausgestattet war, zog in rasender Schnelligkeit über
die einsamen weißen Ebenen. Während vieler Tage blieb die Land-
schaft unverändert, und Ségur, wie wohl auch die übrigen Ausländer,
fühlten sich durch die Einförmigkeit bedriickt. Die Kaiserin änderte
ihre gewohnte Tageseinteilung nicht, sie erhob sich an den verschie-
denen Halteplätzen wie immer um sechs Uhr und arbeitete, um neun
fuhr man ab, um zwei Uhr hielt man zum Diner und fuhr wieder
weiter bis sieben Uhr. Da es sehr früh dunkelte, waren zu beiden
Seiten des Weges in kurzen Zwischenräumen riesige Scheiterhaufen auf-
geführt, die bei Anbruch der Nacht in Flammen gesetzt wurden. Es
schien allen ein seltsamer Anblick, wie mitten durch die tiefste Ein-
samkeit ein taghell erleuchteter Weg führte, auf dem die orientalische
Pracht der Schlitten dahinsauste. ,,C’était ainsi que la fière auto-
catrice du Nord, au milieu des plus sombres nuits voulait et comman-
dait que la lumière se fit.“)
Im Schlitten der Kaiserin befanden sich beständig Mamonov und
das Hoffräulein Protasova; dazu lud sie dann abwechselnd die Ge-
sandten usw. ein. Es war natürlich, daß am ersten Tag Cobenzl be-
fohlen wurde, als Gesandter der verbündeten Macht, am zweiten Tag
erst Ségur und Fitzherbert.
An jedem Aufenthaltsort fand die Kaiserin einen Palast oder ein
elegantes Haus, das besonders für diesen Zweck hergestellt war, in
dem sie vielleicht eine Nacht, oft nur die wenigen Stunden des Diners
verbrachte, und das dann für immer verödet dastand und verfiel. Die
Gesandten erhielten in den Städten bequeme Wohnungen bei reichen
Einwohnern, gelegentlich mußten sie aber auch, in den Dörfern, mit
den Hütten der Bauern zufrieden sein, und Ségur stellte dann manch-
mal Betrachtungen an über die Armseligkeit der Bauern, die in so
grellem Gegensatz zu dem Prunk des für eine Stunde in ihre Mitte
versetzten Hofes stand. Gewöhnlich verweilte man nicht länger als
einen Tag in den Städten. Die Kaiserin empfing den Adel, die Kauf-
mannschaft und gab einen großen Ball. In jedem Gouvernement, das
sie berührte, wurde sie vom Generalgouverneur empfangen. Aus dem
28) An Grimm, 2. Jan. 1787. Sborn. 28, 891.
35) Ség. I, 429.
33
Tagebuch Chrapovickijs erfährt man, daß sie am 22. Januar Berichte
über das Gouvernement Pskov von Repnin, der sie in Velikija Luki
erwartete, lobte, daf sie mit denen Passeks (23. Januar), iiber das
Gouvernement Mohilev, gar nicht zufrieden war und dem Sekretär
befahl, Erkundigungen über die Kosten der Illumination einzuziehen.
Denn auch die Feuerwerke, die später ein so riesiges Ausmaß an-
nahmen, begannen schon hier, — nur fragte die Kaiserin Potemkin
nıemals nach den Kosten.
In Smolensk, der einzigen größeren Stadt, die der Zug vor
Kiev berührte, blieb die Kaiserin drei Tage, zum Teil gezwungen
durch Krankheit Mamonovs, der, wie Katharina sich (an Grimm)
5 . . . S est couché tout de son long dans son lit, avec une
fièvre de cheval et un mal de gorge affreux .. .“ und durch eine
plötzlich unter der Dienerschaft auftretende Augenkrankheit. Die
drei Tage vergingen unter endlosen Festlichkeiten, Bällen, Reden usw.;
da außer dem ansässigen auch der Adel aus der weiteren Umgebung zu-
sammengekommen war, schien die Oberfläche des Lebens eine gewisse
Zivilisation anzudeuten, „mais“, schreibt Ségur, „sous cette écorce
légère l’observateur attentif retrouvait encore facilement la vieille
Moscovie“.
Schon in Smolensk begann der Menschenzusammenlauf, der sich
später immer noch steigern sollte. Als man Katharina darauf auf-
merksam machte, gab sie ironisch zur Antwort:“) .. . H Meß BAA
CMOTpETL Ryuam codnparor es.“
Seit man das Petersburger Gouvernement verlassen hatte, hatte
die Landschaft sich langsam verändert. Hinter Porchov überschritt
man eine Hügelkette, der Eindruck der Einöde verschwand, und
Smolensk überraschte mit seiner herrlichen Lage am Abhang des
Berges über dem Dnepr die gelangweilten Reisenden. Von Smolensk
ab wurden die Dörfer zahlreicher, die Landschaft immer schöner, je
weiter man sich dem Süden näherte. An der Grenze des Gouverne-
ments Kiev endlich wurde die Kaiserin am 4. Februar von Rumjancov
auf seinem Gut WySenki empfangen und nach Kiev geleitet, wo man
in der Nacht vom 9. zum 10. Februar ankam.“)
Während dieses Teiles ihrer Reise, über den die Quellen sich
hinsichtlich irgendwelcher Reformen ganz ausschweigen, und der
sich nicht sehr von ihren früheren Fahrten unterscheidet, hatte
Katharina ihre Geschäfte nicht vernachlässigt. Sie erledigte regel-
mäßig ihre Korrespondenz (u. a. jede Woche einen Brief an die Groß-
fürsten Alexander und Konstantin, an den Thronfolger usw.), sie
38) Sborn. 28, 898. 19. Jan. 1787.
37) Chrapov. S. 13. 17. Jan. 1787.
37a) Über frühere Zarenbesuche in Kiev unterrichtet V. S. Ikonnikov (s. u.
Literaturverzeichnis) S. 15 ff., 24 ff., 48 ff. Gegen Peters d. Gr. Bemühungen um
die Veste Kiev (Stützpunkt der Südfront) 1706 und 1709 hebt sich die Südreise
seiner Tochter (1744) eigenartig genug ab. In ihrer Suite übrigens die junge
Katharina mit dem Thronfolger.
34
— Lİ — nhs *
verlor ihre iibrigen politischen Pline nicht aus dem Auge (lange Ge-
5 mit Ségur über den französisch- russischen Handelsvertrag, der
in Kiev endgültig abgeschlossen wurde), sie hatte die Unter-
nehmungen und Fortschritte der einzelnen Gouvernements, die ihr
in schriftlichen Berichten vorgelegt wurden, gelobt und getadelt, sie
beschäftigte sich mit der Vorbereitung der Duell Gesetzgebung, sie
las Blackstone. Auch in Kiev, wie auf der weiteren Fahrt, führte sie
ein Leben wie in Carskoe-Selo oder in Petersburg. —
„Ah! Bon Dieu! Quel train! Quel tapage!“ ruft Ligne inmitten
des Völkergewühls von Kiev aus,“) „que de diamants, d'or, de
plaques et de cordons, sans le Saint Esprit! De chaines, de rubans,
de turbans et de bonnets rouges, fourrés ou pointus! ... des
is . . . sont venus en députation ainsi que plusieurs autres sujets
des frontières de la grande muraille de cet empire chinois et de celui
de Perse et de Byzance... Louis XIV. aurait été jaloux de sa soeur
Cathérine II.“ Wie in einem magischen Theater sah man Antike
neben der neuen Zeit, Zivilisation neben Barbarei; Kaukasier,
Georgier, Kalmüken neben Europäern aller Länder umdrängten den
Palast Katharinas, der auch hier für sie gebaut war. ,,C’était tout
Orient accouru pour voir la moderne S&miramis recevant les
hommages de tous les monarques de l’Occident.‘”) Und bald nach
ihrer Ankunft, nachdem sie Kiev und die Umgegend besucht hatte
und verstimmt und unangenehm berührt zurückgekommen war
(Rumjancov wurde sehr ungnädig behandelt), begann sie inmitten der
alten, halb zerstörten Stadt, in der sie notgedrungen den Eisgang des
Dnepr erwarten mußte, Hof zu halten und empfing Europa und
Asien. Damit kam in das Völkergemisch eine gewisse Ordnung,
Kreise der Politik, des Geistes, der Hofgesellschaft sonderten sich.
Mit großem Vergnügen hatte Katharına den Fürsten de Ligne
empfangen; Bezborodko, der Hüter ihrer politischen Pläne, höflich
und schweigsam, Potemkin, eben von einer Reise in die Krim zurück-
gekehrt, waren erschienen; die Kaiserin sah ihren Kreis der Eremitage
vollzählig um sich, noch vermehrt durch den Prinzen von Nassau-
Siegen, den „Weltumsegler“, der von Potemkin eingeführt und sehr
gnädig empfangen worden war. Mitten in der alten Hauptstadt
war plötzlich der Geist des 18. Jahrhunderts aufgestanden. Um eine
geistvolle Fürstin scharten sich Männer, erwachsen und erzogen in
der alten Kultur Europas, gewöhnt an vertrauten Umgang mit den
Größten ihrer Zeit, die die Welt gesehen hatten und überall in ihr
heimisch waren; die Lebenskunst und die Kultur der Lebens-
führung des Zeitalters schien sich auf den Trümmern einer ver-
gangenen Zeit zu erheben. Katharina genoß die Situation, die Augen
Euro waren auf sie gerichtet, auf dieses, schon dem Äußeren nach,
unerhörte Unternehmen, das unfaßbar schien und Unheil und Um-
sturz nach sich ziehen mußte.
38) Ligne, Lettres. S. 8f.
20) Ség. II, 4 i
Vom Kreise um Katharina liefen die Fäden, durch den nächst
größeren Ring der Hofgesellschaft, in die einzelnen Gruppen, die sich
in Kiev schnell gebildet hatten.
Naturgemäß waren die Häuser der Gesandten die Mittel
punkte für die politisch Interessierten, deren Länder sie vertraten,
daneben traten die russischen Politiker, angeführt von Bezbo-
rodko, die beiden polnischen Parteien, die eine ge-
führt von Branicki, die andere die Poniatowski-Partei, von Nassau
und Stackelberg, dem „Vizekönig von Polen“. Die polnische: Partei
besonders machte sich durch Intrigen und Unklugheiten unbeliebt, so
daß Potemkin gelegentlich u A mußte. Branicki und seine An-
hänger versuchten mit allen Mitteln, noch jetzt die vorgesehene Be-
pegnung mit dem König von Polen zu verhindern oder doch erfolg-
os zu machen. Nassau arbeitete mit aller Macht dagegen. Aber was
er als „Paladin“ der Kaiserin vor Branicki voraushatte, glich die
Nichte Potemkins, die mit Branicki verheiratet und Ehrendame der
Kaiserin war, wieder aus. Wenn hier um ganz bestimmte Ziele ge-
kämpft wurde, auch das natürlich unter der Oberfläche, so ging es in
der übrigen politischen Gesellschaft nicht so heiß her. Die drei Ge-
sandten Bon sich sogar schließlich vereinigt und machten Russen
und Fremden gemeinsam die Honneurs. Ihr Haus glich, wie Ségur
sagt,“) einem „Café de l'Europe“ — „on y trouvait des hommes de
toutes les nations, on y entendait les langages de tous les pays, on
s’y nourissait des mets, des fruits et des vins de toutes les contrées,
cc €c
on y jouait 4 toutes les sortes des jeux“.
Es war das politische Element, es waren die verschiedenartigen
politischen Probleme, die alle diese Kreise bewegten. Auch der Fürst
von Ligne, Mittelpunkt der Gruppe, die, weniger aktiv, betrachtend
und überlegen die Zauberwelt dieser Reise genoß, hielt es für not-
wendig, eine Rolle im politischen Spiel zu übernehmen und gelegent-
lich als „diplomatischer Jockey“ für Osterreich aufzutreten. Zu thm
fand sich Nassau, der spanische Grande, im Eremitagekreis der Un-
verwundbare genannt, auch er im Grunde unbeschwert von politi-
scher Verantwortung, ein Abenteurer, robust aktiv, nicht geistig wie
Ligne. Aber wie dieser hätte auch er von sich sagen können: „Moi
qui n’ai rien à risquer et peut-être quelque gloire à acquérir. . .‘“*®)
Im Gefolge Katharinas waren diese beiden Paladine die Aben-
teurer, wenn auch verschiedener Prägung, des westlichen Europa.
Mit diesen beiden Gestalten, zumal mit derjenigen Lignes, dem
Inbegriff westlicher Verfeinerung, kontrastierte die „urrussische“
Figur Potemkins. Bessere Begleiter für ihre Reise nach Taurien
konnte die „Cleopätre du Nord“, die „neue Semiramis“ nicht finden.
Während sich die Geister so schieden, blieb Potemkin außerhalb.
Von allen umworben, besonders den Polen, „petite et grande
Pologne“, bemerkt Ligne, hielt er in der Pelerskaja Lavra
40) Ség. II, 4.
aa) Ligne, Lettres. S. 11.
36
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über der Stadt Hof, von orientalischem Prunk umgeben, und
empfing, nach Laune im Paradeanzug oder im Négligé, ganz Europa
bei sich, das heißt, er empfing es gewöhnlich nicht, sondern ließ es
im Vorzimmer stehen.“)
Im Verlauf der drei Monate in Kiev folgten Feste auf Feste, der
ganze Glanz des Carenhofes wurde aller Welt entfaltet, noch dazu
durch einen Zug orientalischen Pompes verstärkt. Wie angeregt, ja
ausgelassen und erwartungsvoll man besonders im engeren Kreis war,
wo man das Eigenartige der Situation am besten fühlte, geht aus
einem Brief Katharinas an Grimm hervor.“) „... die Leute sind ganz
ausgelassen; sie rasen und sprechen und lachen einige Male alle zu-
gleich, und ich höre und sehe zu, und sitze dabei ganz still, in einer
Ecke; ja, das ist ein Leben, und dennoch nennen sie das: une vie fort
douce; die dollen Leute!“ f
Bei Katharina, aber auch bei allen anderen, stellte sich allmählich
Müdigkeit und Überdruß ein. Am 8. Februar schon schreibt Katha-
rina an Grimm: „. . . . nous avons passé tous ces jours-ci en bals, en
fétes, en mascarades et aujourd'hui lundi, Dieu merci, le caréme a
commencé et a mis fin 4 tous ces bruits.“**) Aber nur die großen
Feste hörten auf, dafür besuchte Katharina mit ihrem Gefolge die
Kirchen und die Lavra. Chrapovickij notiert am 15. Februar:
64. Gun Bb OGUPB UX nemeparb H NIPURIANBIBAIHCK KO BCEMB MO maus“
Unter dieser anscheinend nur von nichtigen Dingen erregten
Oberfläche war jedoch während der ganzen Zeit die Politik nicht ein-
geschlafen. Katharinas türkische Absichten, noch verborgen, aber von
den meisten erwartet, gaben allen Gesprächen und Scherzen den
doppelten Sinn, den alle verstanden, besonders in der nahen Um-
sabang der Kaiserin. Ligne schreibt an die Marquise von Coigny:**)
„On désire et on craint la guerre. On se plaint du ministère
d' Angleterre et de la Prusse qui y excitent les Turcs; et on les agace
continuellement . . .“ Katharina fürchtete den Krieg kaum. Aller-
dings war sie hier in Kiev, am Anfang der Reise, noch zurückhaltend
und vielleicht unsicherer als später, nachdem sie ihre Kampfmittel
gesehen und sich versichert hatte, daß ihr Plan ausführbar sei.
Auch die russischen Politiker verhielten sich zurückhaltend.
Bezborodko blieb es bis zum Ende der Fahrt. Er war beständig den
Redeangriffen Cobenzls ausgesetzt, der ihn (gewiß mit Recht) für einen
Anhänger der Allianz mit Osterreich hielt, aber unterschätzte, daß er
vor allem der Vertraute Katharinas war. Cobenzl erhielt auch in
Kiev auf seine Vorstellungen, der gemeinsame Feind Preußen müsse
zuerst unschädlich gemacht werden, ehe man an das „große Projekt“
1) Vgl. SE II, 5: „ . . il semblait qu'on y assistät A l’audience d'un visir
de Constantinople, de Bagdad ou du Caire; le silence et une sorte de crainte y
ent.“
2) Sborn. 28, 994. 26. Febr. 1787.
83) Sborn. 28, 898.
) Ligne, Lettres. S. 11.
gehen könne (dessen Anhänger er übrigens mehr als Joseph II. war),
die stetig wiederkehrende Antwort, Rußland würde nur zum Krieg
schreiten, wenn seine Ehre beleidigt würde. Potemkin allein geht
aus seiner Reserve heraus, und seine Haltung ist ganz
kriegerish. Er verschmäht nicht, wie schon früher,“) auch mit den
gröbsten Mitteln zu arbeiten, so etwa die Vertreibung der Türken
aus Europa (man sprach schon sehr offen), als eine Kulturtat hin-
zustellen; man höre Ségur, den Vertreter der türkenfreundlichen
Macht: „Ce sera peut-être enfin de Kioff que s’élanceront les armées
vengeresses qui chasseront d’Europe les féroces musulmans, et qui
par lì favorisent les efforts de l’heroique Grèce, trop longtemps
abandonnée au joug intolérable et 4 la féroce cruauté de ses
oppresseurs.
Wenn auch noch nicht so offen, wie dann weiterhin, das poli-
tische Moment an die Oberfläche trat, so trifft Ségur doch den
Kernpunkt sehr genau: „La cour de Cathérine devenait le foyer de la
politique et le point sur lequel se fixaient tous les regards des hommes
d'Etat.) —
Endlich, nachdem eine allgemeine Kanonade den Eisgang des
Dnepr verkündet hatte, am 3. Mai (22. April), konnte Chrapovickij
in sein Tagebuch schreiben: BRThTau us» Kiega na raıepaxr‘.*”*)
Obgleich die Kaiserin das Gouvernement Potemkins noch nicht
betreten hatte, setzte bereits seine Regie ein; denn so kann man es
nennen, der ganze Weg war auf das Sorgfältigste hergerichtet. Vom
Dnepr aus sah Katharına die Ufer wie eine Folge schöner Bilder an
sich vorüberziehen. Jede der verschiedenen Stationen hatte ihre be-
sondere Bedeutung, Kanev und Cherson sozusagen als außenpolitische
Haltestellen, Ekaterinoslav, Krementug und wieder Cherson als
innenpolitische. Ein großer Verbündeter Potemkins war der Früh-
ling, den er mit Geschick ausnutzte. Die Gesellschaft, aus Kiev
und vom Winter befreit, bestieg in der besten Laune die Flotte, die
mächtig und eindrucksvoll auf dem Dnepr lag. Ségur schildert sie:
„La flotte, la plus pompeuse, qu’un grand fleuve efit jamais portée.
Elle était composée de plus de quatre-vingt bâtiments avec trois mille
hommes d’équipage et de garnison; à leur téte marchaient sept
galéres d'une forme élégante, d'une grandeur majestueuse, peintes avec
art, garnies d Cquipages nombreux, lestes, uniformément vêtus.
L’or et la soie étincelaient dans les riches appartements construits sur
les tillacs. L’une des galères qui suivaient celle de Impératrice reçut
45) . Mém. I, 401, Pot.: „Convenez que l’existence des musulmans est
un veritable fléau pour l'humaniték. Cependant, si trois ou quatre grandes
uissances voulaient se concerter, rien ne serait plus facile que de rejeter ces
éroces Turcs en Asie, et de délivrer ainsi de cette peste l'Egypte, l’Archipel, la
Grèce, et toute l'Europe. N’est-il pas vrai qu'une telle entreprise serait à la
fois juste, utile, réligieuse, morale et héroique?
as) Ség. II, 1.
47) Ség. II, 22.
47a) Zum Kiever Aufenthalt Katharinas vgl. auch Ikonnikov a. a. O. S. 51 ff.
38
A son bord M. M. de Cobenzl et Fitz-Herbert; une seconde fut
assignée au prince de Ligne et à moi; les autres étaient destinés au
8 Potemkin, à ses niéces, au grand-chambellan, au grand-
yer, aux ministres et aux grands que Cathérine avait admis à
’honneur de l’accompagner. Mademoiselle Protasoff et le comte
Mamonoff étaient és dans la galère de Sa Majesté. Nous
trouvämes chacun sur les nötres une chambre et un cabinet dont le
luxe égalait Vélégance, un divan commode, un excellent lit, en
taffetas chiné et un secrétaire en acajou. Chaque galère avait sa
musique. Une foule de chaloupes et de canots voltigeaient sans cesse
à la téte et sur les flancs de cette escadre qui ressemblait aux
créations de la féerie.“*)
„Feerie“, ein Wort, von Ligne gefunden, schien allein den all-
gemeinen Eindruck, das Märchenhafte der Situation, wiederzugeben.
Die Gesellschaft war wir Katharina selbst, in heiterster Stimmung,
die Art der Reise war außergewöhnlich und abwechslungsvoll. Das
Gefolge wurde zum Diner oder zum Abendcercle durch ein Signal
auf die kaiserliche Galeere, die den Namen ,,Dnepr“ führte, gerufen.
Auf jeder Galeere begrüßte eine ansehnliche Kapelle Abfahrt und An-
kunft der einzelnen Bewohner; in kleinen Booten begab man sich zur
Kaiserin, was bei stürmischem Wetter nicht ohne Gefahr war, aber
den Reiz des Einzigartigen nur noch erhöhte. Nach ihrer Gewohn-
heit hatte Katharina nıemals mehr als zehn Personen zum Diner,
als „Herrin einer romantischen Tafelrunde“, wie Andreae sagt. Ihr
wöchentlicher großer Empfang fand auf einer besonders dazu be-
stimmten Galeere statt. Ligne hätte auf die Frage, was sie eigent-
lich auf den Galeeren wollten, geantwortet: „Nous amuser, et voguent
les galères!) Und das war auch die Hauptbeschäftigung während
der Flußreise, die ganz das Bild einer Lustfahrt, „brillante et
agréable“, ) bietet.
Bei dieser Lebensweise ergaben sich natürlich die eigenartigsten
und heitersten Situationen. So schildert etwa Ségur seine morgend-
lichen Vergnügungen: „Le prince de Ligne dès le matin frappant
contre la faible cloison qui séparait son lit du mien, il me réveillait
pour me réciter des impromptus en vers et en chansons qu'il venait
de composer, et, peu de temps aprés, son chasseur m’apportait une
lettre de quatre ou six pages, où la sagesse, la folie, la politique, la
alanterie, les anecdotes militaires et les épigrammes philosophiques,
. mélées de la maniére la plus originale. Il exigeait une
prompte réponse: aussi ne fut jamais plus suivi et plus exact que
cette étrange correspondance quotidienne, entre un génér
autrichien et un ambassadeur francais, couchés l'un à côté de
Pautre sur la même galère, non loin de |’Impératrice du Nord et
48) Ség. II, 29 ff.
) Ligne, Lettres. S. 19.
80) Ibid.
39
naviguant sur le Borysténe, 4 travers le pays des Cosaques, pour
aller visiter celui des Tartares.)
Die Abendunterhaltungen beim Billardspiel waren angeregt und
heiter. Man sprach iiber Philosophie, Literatur, Geschichte, ohne sich
auf gefährlichere, das heißt politische Gebiete zu begeben, man ver-
glich gelegentlich die moderne Zeit mit der antiken, nannte Frank-
reich Attika, England Karthago, Preußen Macedonien, stellte Katha-
rinas Reich mit dem des Cyrus in eine Linie.“) Ligne führt in einem
seiner Briefe auch den Vergleich Katharınas mit Kleopatra in der
launigsten Weise durch:“) diese Kleopatra verschlinge nicht Perlen,
sondern verschenke sie, sie reise nicht, um Cäsaren zu verführen, eine
auch politisch zu deutende Anspielung auf Joseph, an denen die
Unterhaltungen überhaupt reich waren, usw. Dieser Name Kleo-
patra, tauchte, je weiter sie nach dem Süden kamen, immer häufiger
auf, da er für den orientalisch-zauberhaften Rahmen wie geschaffen
schien. Daneben aber erscheint noch eine andere Gestalt der Antike,
mit der Katharina sich gern vergleichen läßt, die der Iphigenie. Sie
selbst nennt die Krim „das Land, das Iphigenie bewohnte“.™) Ségur,
Nassau, Ligne, alle greifen diese Bezeichnung auf. Sah sich die
Kaiserin als Kulturträgerin für die Krim, oder Taurien, wie sie es
nannte? Oder liebte sie vor allem den Vergleich mit der über das
Meer nach Griechenland (Konstantinopel lag ja in der gleichen Rich-
tung) schauenden Priesterin?
„Si vous saviez tout ce qui se dit et se fait journellement sur ma
galère, vous mourriez de rire. Tout ce monde qui va avec moi s’est
si bien accoutumé chez moi, qu’ils sont comme s ils étaient à la
maison“, schreibt Katharina an Grimm.) Gleich danach schildert
sie ihm eine Episode eines solchen Abends. Da stellt Cobenzl Reim-
worte zusammen, aus denen Ségur aus dem Stegreif Gedichte macht,
während Mamonov ihn dabei zeichnet und Katharina im gleichen
Augenblick Ligne drei Worte sagt, aus denen er eine lange Geschichte,
ebenfalls in Versen, entwickelt.
In solcher Stimmung verging die Fahrt. Das Land sah
vom Schiff und im Frühling sehr viel freundlicher aus, als am
Wintertage vom Wagen. Dazu hatte Potemkin die Ufer festlich her-
gerichtet. Städte, Dörfer und Bauernhäuser waren durch üppige
Girlanden und Triumphbogen fast ganz verkleidet, eine bunt und
möglichst gut gekleidete Menge bevölkerte und belebte beständig die
Ufer. Man sagt, es seien häufig dieselben Volkshaufen gewesen, die
sich der Kaiserin zeigten, Potemkin habe sie jeweils weitergeleitet und
neu angeordnet. Das läßt sich kaum beweisen. Das Land hatte
Menschen genug, sie waren vielleicht auch hierher, wie nach Kiev, aus
der Ferne gekommen, um die Carin zu sehen. Vielleicht waren sie auch
51) Seg. II, 48 f.
52) Ség. II, 32.
53) Ligne, Lettres. S. 20.
58) Sborn. 27, 378 f. Kath. an Ligne. September 1786.
85) Sborn. 28, 409. 8. Mai 1787.
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von Potemkin herbeibefohlen worden; jedenfalls aber wurden sie von
in seinem Programm verwendet. Man sah in der Ebene die
Manöver der Kosaken in prächtigen Uniformen, sah große weidende
Herden, erblickte an den Ufern wimmelnde Märkte, die sich nach der
Vorbeifahrt der Flotte in nichts auflösten. Der Dnepr war von
Booten mit singenden Mädchen und Burschen belebt usw. Zur Lan-
dung wurden immer Punkte gewählt, die landschaftlich schön oder
durdi ein Landhaus, ein sauberes Dorf ausgezeichnet waren. Abend
für Abend gab es Illuminationen.
Katharinas Lustfahrt war durch keinen Mißton gestört. Sie sah
ein blühendes Rußland in prächtigen Einzelbildern an sich vorüber-
eiten. Die nördlichen Provinzen, Kiev vershwanden und ver-
laßten. „Le prince Potemkin fait aller toute la machine a son
plaisir“, schrieb Joseph II. an Lascy.“)
„Die Elemente, die Jahreszeit, Natur und Kunst, alles schien sich
zu verschwören, um den Triumph dieses mächtigen Günstlings zu
sichern. Er hoffte, indem er seine Herrscherin in dem Augenblick
mit so viel Zauber umgab, in dem sie die durch ihre Waffen neu er-
oberten Landschaften durchschiffte, ihren Ehrgeiz zu entflammen
un ihr A Wunsch einzuflößen, kühn neue Eroberungen zu ver-
en.“
Ségur sieht, wenn er dies schreibt, vielleicht ein wenig zu viel.
Es scheint, daß Potemkins Ansichten und Pläne gelegentlich
schwankten, daß er nicht immer aus eigensten Kriegsgelüsten solch
offene Sprache führte, wie oftmals Se Ségur gegenüber, sondern
daß er vor allem Katharinas Gedanken und Wünsche kannte und sie
zu erfüllen strebte, da sie ihm nur nützlich sein konnten.
Am 6. Mai ging die Flotte beim Städtchen Kanev vor Anker,
wo der polnische König seit langem Katharina erwartete. Würden-
träger der Kaiserin holten ihn in einer prächtigen Schaluppe ein, die
er mit den Worten betrat: ,,Messieurs, le roi de Pologne m’ a chargé
de vous recommander le comte de Poniatowski“, e) — eine Geste der
Verlegenheit. An Bord war der gesamte Hofstaat um die Kaiserin
versammelt. Nach einer förmlichen Begrüßung zogen sich beide
Majestäten zu einer halbstündigen Unterredung zurück. Das Diner —
Katharina schien verlegen, Stanislaw melancholisch — war nach Lignes
Schilderung sehr angeregt, während Ségur schreibt: „On parla peu,
on mangea peu, on se regarda beaucoup.) Nachdem unter Kanonen-
donner die Gesundheit Stanislas ausgebracht worden war, verließ er
die Galeere. Er hatte keinen längeren Aufenthalt erbitten können.
Die Kaiserin begleitete ihn bis auf das polnische Ufer und kehrte auf
ihr Schiff zurück, während der König den Russen einen großen Ball
gab und abends ein prachtvolles Feuerwerk. Darstellung eines
s) Arneth, Anh. S. 855. 19. Mai 1787.
57) Ség. II, 54.
41
Ausbruchs des Vesuvs.) Die Kaiserin ließ ebenfalls ihr Geschwader
illuminieren. „Je crains de devenir lampion“, sagte Ligne.) Und
wirklich war die Zusammenkunft verp wie das Feuerwerk. Es
war weder eine romanhafte Begegnung,“) wie Ségur erwartete, noch
eine der Geschichte gewesen, und wie Cobenzl berichtet:“) „. . . sans
qu'il se soit rien traité qui puisse avoir influence sur les affaires
générales de l Europe pour Pavenir.“
Auf Seiten Katharinas schloß Chrapovickij diese Episode mit der
schlichten Eintragung in sein Tagebuch am 25. April: “TIpiaraoe
CBHXaHie Cb KOPOXeMb [loxbckamb Ba raxepaxt, npe lb Kanesomws.“
und einen Tag später setzte er noch hinzu: “. . OHH XOBOAbHH, WO
H36aBHIHCh Dgepamggro Geanoxofc ra.
Der Erfolg des polnischen Königs war kläglih. Auf alle seine
Forderungen (Abschaffung des Conseil permanent, Feststellung der
Erblichkeit der Krone in seiner Familie), sogar auf Wiederbezahlung
seiner Schulden, hatte er abschlägige oder unbestimmte Antworten
erhalten. „Il y dépensa trois mois et trois millions pour voir lim-
pératrice pendant trois heures.
Der nächste große Haltepunkt war Krementug. Hier empfing
Potemkin die Kaiserin förmlich an der Grenze seines Gouvernements.
Ein weites Palais im Geschmack der Kaiserin stand bereit, mit einem
von Potemkin unlängst unter großen Kosten angelegten englischen
Garten. Für alles, bis auf das Kleinste, war gesorgt, sogar der Blick
aus ihren Gemächern auf die Stadt war mit Überlegung gewählt. Die
Stadt selbst war von Menschen angefüllt. Der Adel der ganzen
Gegend war zusammengeströmt. Katharina gab ihre Audienzen, wie
überall, empfing Geistlichkeit, Adel, Kaufmannschaft und gab zum
Schluß einen großen Ball.
In Krementug zum erstenmal hatten die Begleiter der Kaiserin
Gelegenheit, Potemkins Arbeit aus der Nähe zu sehen. Und das, was
ihnen in schönster Wirklichkeit vorgeführt wurde, als Anfang von
Potemkins Tätigkeit, war ein militärisches Lager, das außer zahl-
reicher Infanterie acht Regimenter Kavallerie, ein Bataillon Grena-
diere und ein Regiment Jäger umfaßte, in tadelloser Form, voll-
ständig neu eingekleidet. Gleich am ersten Tag wurde vor Katharina
ein großes Manöver abgehalten. Ségur bemerkt darüber:“) ,,J’ ai vu
peu de troupes plus belles et de plus brillante tenue.“ Katharinas
Zufriedenheit war unverkennbar, sie war strahlender Laune. „Depuis
Pétersbourg à Kioff“, sagte sie zu Potemkin,"*) „j' ai cru voir le
ressort de mon empire détendu et usé; ici je le retrouve dans toute
son activité et dans toute sa vigueur.“
60) Ligne, Lettres. S. 23.
61) Ség. II, 89.
2) Font. 54, 140. Cob. ag Jos. 6. Mai 1787.
83) Ligne, Lettres. S. 22.
6) Ség. II, 42 f.
65) Ibid.
42
Las r —. — wet *
In rz a us in — 11 Bs
—
So war hier zum erstenmal der Ton angeschlagen worden, der
von jetzt ab die Reise deutlich bestimmen sollte, der kriegerische.
Wer sprach noch von dem angeblichen, eigentlichen Zweck der Reise,
der Besichtigung der Fortschritte der inneren Kulturarbeit?
Katharina verließ Krementug nach zwei Tagen. Das alte Leben
wurde auf den Galeeren fortgesetzt. Die politischen Ausblicke waren
verschwunden, wieder fuhr man an Potemkins russischen Genre-
bildern vorüber. Aber es ging langsamer vorwärts. Es kamen Gegen-
winde, einige Barken, auch Galeeren, liefen auf Sandbänke auf.
Chrapovickij hatte schon am 29. April, also noch vor Krementug,
eine Meldung, daß die kaiserliche Galeere ans Ufer gedrückt worden
war, aus dem offiziellen Reisejournal, das er seit Petersburg führte,
streichen müssen. (29. April.) Jetzt wurde die Kaiserin unruhig. Sie
fürchtete, Joseph II. in Cherson warten zu lassen. Als sie erfuhr, daß
er ihr schon entgegenkomme, ließ sie sich plötzlich an Land setzen
und fuhr ihm mit wenigem Gefolge entgegen. „ . . et nous courümes
si bien“, schreibt Katharina an Grimm,“) „que nous nous rencon-
trämes au milieu des champs nez a nez; la première parole qu'il me
dit fut que voila tous les politiques bien attrapés: personne ne verra
notre rencontre; lui il était avec son ambassadeur, et moi avee le prince
de Ligne, habit rouge“) et la comtesse Branitska. . .“
Joseph II., der „Graf von Falkenstein“, fand den Zug Katharinas
in der größten Unordnung; die eine Hälfte war gelandet, die andere
befand sich noch auf den Galeeren. Die Kaiserin hatte das Programm
Potemkins gestört. Sein Apparat versagte für den Augenblick. So
konnte Joseph schreiben:“) „La confusion qui régne dans ce
voyage, est inexprimable.“ In Kajdaki verbrachte man einen ganzen
Tag, den 19., um Potemkin Zeit zu lassen, den Zug wieder zu ordnen.
Am 20. kamen die Kaiserin und ihre Begleiter in Ekaterinoslav
an, das vorerst nur aus einem Landhaus Potemkins mit einem schönen
Garten und zwei Treibhäusern bestand. Die Stadt sollte auf einer
Höhe gebaut werden, von der man einen herrlichen Blick auf die
Katarakte des Dnepr hatte, aber wo es auch kein Wasser gab.“)
Schon 1784 war der Befehl, eine Universität zu errichten, erlassen
worden, auch Professoren waren schon berufen. Es lagen ferner groß-
artıge Pläne vor von der künftigen Kathedrale wie von der Stadt,
es sollte ein Gerichtsgebäude im Stil der römischen Basiliken, eine
Börse, Theater und Konservatorium, zwölf Fabriken geben. — Na
feierlicher Messe in einem in eine Kirche verwandelten Zelt
legten beide Herrscher den Grundstein zu der neuen Kathedrale, die,
worauf besonders Potemkin großen Wert legte, länger sein sollte, als
die Peterskirche. Joseph II. soll boshaft gesagt haben:“) „Ich habe
ee) Sborn. 28, 410. 15. Mai 1787.
87) Mamonov.
e) Arneth, Anh. S. 356. Jos. an Lascy. 19. Mai 1787.
es) Ség. II, 84.
Te) Masson: Mémoires sécrets de Russie. I, 105.
43
ein großes Werk vollbracht — Ihre Majestät hat den ersten, ich den
letzten Stein zu einer Stadt gelegt.“
Gleich nach der Zeremonie verließ die Gesellschaft Ekaterinoslav
und fuhr in die Steppe hinaus auf Cherson zu. Hier in Ekaterinoslav
hatte Potemkin versagt, gerade hier, wo es sich um Kulturarbeit, um
wirkliche Fortschritte handelte, war nichts, oder doch unglaublich
wenig, getan worden. Nur schien es niemanden von der Suite auf-
zufallen; jedenfalls tadelte es niemand.
Die Fahrt wurde jetzt äußerst eintönig. Man fühlte sich, wie in
der nordrussischen Ebene, bedrückt von dieser weiten, gleichmäßig
grünen Fläche, die sich unermeßlich hinzog. Dagegen war auch der
Zauberer Potemkin machtlos. Auf Ségur wirkte sie wie eine un-
geheure, einförmige Leinwand, auf der ein Maler angefangen habe
zu malen. Schaf- und Pferdeherden, gelegentlich auch bebaute Felder,
bildeten die spärliche Malerei, aber die stammte nicht von Potemkin.
Desto mehr wirkte das nächste große Ereignis, Cherson. Mitten
aus der Ebene, am Ufer des Dnepr, erhob sich vor den erstaunten
Reisenden eine imposante Festung. Dieser dritte Aufenthaltsort, an
dem man die Ergebnisse Potemkinscher Arbeit sehen wollte, trug
ebenfalls das kriegerische, und nur das kriegerische Gesicht, das schon
Krementug und die gelegentlichen Manöver oder Vorbeimärsche von
Truppen angekündigt hatten. |
Eine Festung mit einem Arsenal von 600 Kanonen mit ge-
nügender Munition, Kasernen für 24000 Mann, drei Kriegsschiffe,
eben hergestellt, auf der einen Seite, dagegen keine, oder ungenügende,
Kais zum Anlegen der Handelsschiffe, keine Lagerhäuser, schlecht
organisierte Gerichtshöfe auf der anderen Seite. Dazu kamen noch,
was die Ausländer hier genau sahen, die ungesunde Lage inmitten
von Sümpfen (die Stadt hatte beim Bau allein 20 000 Menschenleben
gekostet), der Sanduntergrund, die Unbefahrbarkeit des Dnepr: die
Handelsschiffe mußten 30 Werst unterhalb anlegen, und der Handel
bestand vorläufig nur aus der polnischen Einfuhr.”‘) Aber alle diese
Mängel verdeckte das kriegerische Gepränge innerhalb dieser doch
trotz vieler Fehler imposanten Bee die auch auf Joseph II.
ihren Eindruck nicht verfehlten: „Cela a l'air de quelque chose.)
Der gewöhnliche Rahmen der Festlichkeiten wurde überschritten,
„Pour les fétes, Cherson est, en vérité, une Alexandrie“, bemerkt
Ligne,”) seinen Vergleich mit der Zeit Kleopatras fortfiihrend. Am
ersten Tag schon findet der Stapellauf der drei Schiffe, von denen
das eine den Namen „Joseph II.“ erhält, in festlicher Aufmachung
statt. Katharinas gute Laune ist unerschütterlich. Sie schreibt an
Saltykov, an Eropkin Briefe voll vom Lobe Potemkins und Chersons
und betont immer wieder: „Dieses Kind lebte vor acht Jahren noch
nicht... Ich kann sagen, daß alle meine Erwartungen erfüllt sind...“
Hatte sie also überhaupt nur kriegerische Wünsche gehabt?
71) Vgl. Seg. II, 47 f. Arneth, Anh. 858 f.: Jos. an Lascy. 90. Mai 1787.
72) Arneth ibid. 859.
73) Ligne, Lettres. S. 20.
44
Auf der Fluß fahrt selbst war das Politische immer zurückgetreten,
sie bewahrte durchaus den Charakter einer Lustfahrt. An den
Landungspunkten aber erhob es sich naturgemäß, da man den Dingen
näher kam, wieder an die Oberfläche. So auch in Cherson, und noch
stärker als je vorher. Es gab verschiedene äußere Anlässe. Ein
Gesandter Neapels, der Marquis de Gallo, erschien, um über einen
Handelsvertrag mit Rußland zu verhandeln und lenkte damit die
Blicke über Konstantinopel hinaus ins Mittelmeer. Bulgakov, wie
auch der österreichische Gesandte in Konstantinopel, von Herbert,
waren angekommen, es fanden geschäftliche Besprechungen statt, deren
Thema vor allem Mäßigung der russischen Forderungen an die Pforte
war. Die Kaiserin versuchte sogar einmal öffentlich, den Kaiser in
ein politisches Gespräch zu ziehen.
Sofort meldete sich auch Konstantinopel. Ein türkisches Ge-
schwader erschien vor der Dneprmündung und verhinderte einen ge-
planten Abstecher der Kaiserin nach Kinburn, gegenüber von Otakov.
Sie verzichtete in sichtbar übler Laune auf diesen eigenartigen Er-
kundungsmarsch auf türkisches Gebiet. Ligne erzählt eine kleine
charakteristische Episode hierüber.“) Der Prinz von Nassau hatte der
Kaiserin auf einer Karte die Lage auseinandergesetzt und erbot sich
— er wünschte selbst leidenschaftlich den Krieg und war nur des-
wegen nach Rußland gekommen —, sie von diesem Hindernis zu be-
freien. Katharina gab der Karte einen kleinen Stoß, fing an zu
lachen und reichte sie dem Fürsten zurück. „Je regarde cela comme
un joli avant-coureur d’une jolie guerre que nous aurons bientöt,
jespere“, schließt Ligne.
Nachdem Katharina noch zahlreiche Beförderungen in der Cher-
soner Marine vorgenommen und Geschenke an die Beamten verteilt
hatte, verließ sie am 28. Mai Cherson, um sich über Berislav und die
Landenge von Perekop nach Bachlisaraj zu begeben. Die erste Hälfte
der großen Reise war beendet. Sie zeigt das Bild der Lustreise einer
großen Fürstin, schon mit einem leicht orientalischen Zug. Sichtbar
bleibt immer der rote Faden der politischen Absicht, der zum Schluß
ganz offen liegt.
Katharina war befriedigt; es war, als ob sie neue Kräfte emp-
fangen hätte. Sie äußerte Chrapovickij gegenüber, sie könne nun mit
frischem Kopf und den besten Kenntnissen in der Eremitage weiter-
arbeiten (18. Mai), und es war unverkennbar, daß auch ihre Begleiter
unter dem Eindruck einer Machtkundgebung Rußlands standen, die
im SE Teil der Reise noch eindrucksvoller und bedeutsamer
wurde.
Man hatte den Dnepr überschritten und war wieder in die
Steppen hinausgefahren. Die Reise ging so rasch wie möglich vor sich.
Man nächtigte am 29. in Berislav und fuhr an Perekop vorüber in
die Krim hinein. Wieder war es eine kriegerische Ouverture, die die
Reihe der Wunder des neu erworbenen Landes eröffnete. Mitten in
18) Ligne, Lettres. S. 26.
45
der Steppeneinöde, an dem einzigen Requisit, das Potemkin hatte
finden können, einer weißen griechischen Steinbrücke, die über einen
kleinen Fluß führte, hatte er, wie es für die ganze Steppenfahrt, für
alle Haltepunkte angeordnet war, ein Zeltlager von asiatischer Pracht
errichtet. Hier sah Katharina, aus ihrem Zelt tretend, unerwartet ein
glanzvolles Manöver der Donkosaken sich entfalten, das plötzlich die
Einöde in einen Kriegsschauplatz verwandelte. Die Gesellschaft war
überrascht und begeistert, Joseph II. hingerissen; er erkundigte
sich genau nach der Stärke des Heeres und unterhielt sich lange mit
dem Ataman.”) Bemerkenswert die Zurückhaltung Katharinas.
Prüfte sie die Wirkung bei den anderen, besonders bei Joseph?
Chrapovickij schreibt hier (aus dem Munde der Kaiserin) in sein Tage-
buch (19. Mai): ,,Cela fait naitre de réflexions.“
Eine Andeutung, wie nüchtern Katharina im übrigen rechnete
und die Dinge ansah, sich auch durch Potemkin kaum blenden lief,
ist ihre Anrede an Potemkin bei dieser Gelegenheit: ,,Voila un de
vos tours!“
Abends, als Joseph II. mit Ségur zwischen den Zelten umher-
wanderte (Nassau erzählt, es wäre überhaupt nur von den Kosaken
die Rede gewesen), bemerkte er:“) „Quel singulier voyage! ... et qui
aurait pu s’attendre à me voir avec Cathérine II et les ministres de
France et d'Angleterre, errant dans le désert des Tartares! C'est une
page toute neuve d'histoire. Und Ségurs Antwort: „Il me semble
plutôt que c'est une page des „Mille et une Nuits“, que je m’appelle
Giafar et que je me promène avec le calife Huran-al-Raschid deguisé
selon sa coutume.“ Es schien in der Tat allen, als ob sie in einem
— lebten. „Je ne sais plus où je suis, ni dans quel siècle je
suis.
Gleich nach Uberschreiten der Landenge wurde die Kaiserin von
einer Eskorte von 1000 berittenen Tataren empfangen, sie selbst hatte
das für ihre Krimreise gewünscht, ein Vertrauensakt, der, da er so
wenig erwartet wurde, Erfolg hatte. Ligne bemerkte zu Ségur,”) als
der Zug, von Tataren umgeben, sich in Bewegung setzte, es wäre
ein merkwürdiges, ganz Europa erregendes Ereignis, wenn diese
Tataren plötzlich die erhabene Katharina und den mächtigen römi-
schen Kaiser samt ihrem Gefolge einschiffen und zur Erheiterung des
Beherrschers der Gläubigen nach Konstantinopel bringen würden.
Und wirklich wollen Zeugen bei Joseph II. eine gewisse Unruhe be-
merkt haben. Die Tatarensuite aber rettete der Kaiserin vielmehr
das Leben, als bei der Einfahrt in Bachtisaraj ihre Pferde auf dem steil
abfallenden Wege durchgingen. Mit Bachlisaraj betrat man sichtbar
den Orient. Die Landschaft, die Menschen, die sich der An-
76) Ség. II, 55 f.
78) d' Aragon S. 152.
77) gie, II, 55.
78) Ligne, Lettres. S. 81.
79) Ség. II, 60.
80) Ligne, Lettres. S. 29.
46
kunft ihrer Beherrscherin gegenüber nicht sehr interessiert verhielten,
wurden südlich. Das Märchen aus „Tausend und eine Nacht“) hatte
wirklich begonnen.
Der verlassene Khanpalast von orientalischer Pracht, der sich
selbst in einer Inschrift rühmte, schöner als alles in Damaskus, Stam-
bul und Ispahan zu sein,“) nahm die ganze Gesellschaft auf. Potem-
kin, Ligne, Nassau und die drei Gesandten bewohnten den früheren
Harem und befanden sich dort sehr wohl. Eine heitere, ausgelassene
Stimmung begann alle zu beherrschen. Joseph II., der in dieser Be-
ziehung gelegentlich etwas unbeholfen, wurde von ihr erfaßt, wie
Katharina selbst. So schrieb Joseph an Lascy:“) „ . . je loge dans
appartement qu’ habitait autrefois le frère du Khan, qui m'avait
que de vieilles femmes, par conséquent mes idées n'y sauraient étre
e couleur de rose.“
Die Festlichkeiten und Illuminationen zeichneten sich durch be-
sondere Pracht aus; auch in der Suite gab man sich gegenseitig Feste,
wo vor allem Potemkin besondere Attraktionen, wie tiirkische Tänze-
rinnen usw., vorführte.
Schon während des ersten Teils der Reise konnte man das lang-
same Ansteigen des politishen Elements bis unter, teilweise schon
über die Oberfläche hinaus verfolgen. Katharina hielt es nicht mehr
für notwendig, zu schweigen. So erzählt Ligne eine Unterhaltung:“)
„ . . Leurs Majestés impériales se tataient quelquefois sur les pauvres
diables de Turcs. On jetait quelques propos en se regardant. Comme
amateur de la belle antiquité eg d'un peu de nouveautés, je parlais de
rétablir les Grecs; Catherine parlait de faire renattre des Lycurgues
et les Solons. Moi je m’étendais sur Alcibiade; et Joseph II., qui était
plus pour Pavenir que pour le passé, et le positif [que] pour la chimère,
disait: Que diable faire de Constantinople? On prenait, comme cela,
bien des iles et des provinces, sans faire semblant de rien.“ Das waren
Scherze, aber sie zeugen von der Stimmung Katharinas, die Joseph,
der so kühl und sogar ablehnend — man denke an seinen ersten ab-
fälligen Bericht aus Cherson, dessen Urteile er dann später revidierte
— zu dieser Zusammenkunft gekommen war, mitgerissen hatte.
Man höre u. a. Lignes Beobachtung:“) „Point de réserve entre ces
deux grands souverains. Ils se contaient les choses les plus intéres-
santes....“
Aber noch war Potemkins größtes Schauspiel nicht vorgeführt.
Am 31. Mai war man in Bachlisaraj angekommen, am 2. Juni fuhr
man nach Inkerman gegenüber Sevastopol’ an der berühmten Bucht.
Während des Diners im Hause Potemkins öffneten sich plötzlich unter
Musik die Balkontüren, und Katharina sah die weite Bucht von
Sevastopol’ vor sich, ihre Flotte in Schlachtordnung, auf beiden
81) Ibid. S. 81.
82) Arneth, Anh. S. 361. 1. Juni 1787.
83) Ligne, Lettres. S. 38 f.
se) Ibid. S. 89.
cure 47
Ufern von tatarischen Regimentern, ebenfalls in Kampfstellung,
flankiert. Während die Admiralsflagge gehißt wurde, donnerten
alle Kanonen. Zugleich aber hatte Katharina sich erhoben und
auf das Wohl „du meilleur de ses amis“, Joseph II. getrunken. —
„Cette scene étoit réellement attendrissante“, schreibt Cobenzl an
Kaunitz.”)
Ohne Zweifel hatte der Vorgang Eindruck gemacht, und als jetzt
die Kaiserin eine Schaluppe, eine genaue Imitation des großherrlichen
Schiffes in Konstantinopel, bestieg, verstärkte sich die Wirkung noch
durch die Disziplin und Gewandtheit der Matrosen des Geschwaders,
das aus 3 Linienschiffen, 12 Fregatten, 20 kleineren Schiffen, 3 Bom-
bardierbooten, 2 Brandern bestand. Ségur sagt:“) „C’&tait réellement
un prodige d' activité“, Cobenzl:*) „... Toute l’escadre est munie de
tout ce qu'il lui faut, pour mettre a la voile au premier ordre .. .,
und vor allem Joseph II., der auf mehreren Schiffen war, schreibt
nachdenklich an Lascy:“ ) „ . il faut avouer que ce spectacle était
aussi beau que possible“, während er zu Nassau bemerkt:“) „En
verité, il faut ötre venu ici pour croire ce que je vois... c'est in-
croyable.“
Der Hafen hatte seine natürlichen Vorzüge: „Sevastopol est le
plus beau port que j’aie vu de ma vie... ., schreibt der Kaiser.“) Aber
Potemkin hatte auch angefangen, eine neue Stadt zu bauen. Es gab
in Sevastopol’ schon eine beträchtliche Anzahl von Wohngebäuden,
ein Zeughaus, ein Lazarett, allerdings überfüllt und in schlechtem
Zustand, und einen Palast für die Kaiserin, den Potemkin „Tempe“
nannte, mit einer Terrasse, die der von Versailles glich. Hier hielt
Katharina feierliche Audienzen ab, u. a. auch eine für ihre adligen
mohammedanischen Untertanen in der Krim, wo auch Ligne und
Nassau, die beide Besitzungen erhalten hatten, in der grün-goldenen
Uniform Tauriens, die Katharina eingeführt hatte, erschienen.
küßte in Ligne ein Ritter des goldenen Vlieses der russischen Kaiserin
als Untertan die Hand.
Die kriegerishe Atmosphäre hatte eigentlich alle ergriffen. Zum
erstenmal, stellte Nassau fest, blieben Katharina und der Kaiser jetzt
im Gespräch allein, das sehr eifrig zu sein schien, später wurde Po-
temkin und ein Ingenieur hinzugezogen.
Als abends, wie überall eine große Illumination veranstaltet
wurde (diesmal wurde ein Fort beschossen, das in bengalishen
Flammen aufging), war die Stimmung sehr gemischt. Ligne, Nassau,
die Russen begeistert, Ségur nachdenklich; ihn bewegten die
gleichen Gedanken wie den deutschen Kaiser, er überlegte, daß der
Großherr nur 36 Stunden entfernt in Konstantinopel saß, daß es eim
68) Font. 54, 149. 3. Juin 1787.
86) Ség. II, 66.
87) Font. 54, 149.
88) Arneth, Anh. S. 868. 7. Juni 1787.
89) d’Aragon S. 161 f.
90) Arneth, Anh. S. 868.
48
Leichtes für Katharina war, plötzlich mit ihrer Flotte vor seiner
Hauptstadt zu erscheinen. Dazu beobachtete er Joseph, der nicht im
geringsten daran zu denken schien, einen solchen Verbündeten wie
Rußland verlieren zu wollen.
Katharina entging dies nicht, auch ihre Gedanken gingen ja in
eicher Richtung.) Es freute sie wahrscheinlich, denn sie führte die
eitersten Gespräche. Sie fragte Nassau, ob dies vielleicht dieselben
Schiffe seien, die vor Očakov gelegen hätten, den Kaiser, ob er nicht alle
seine verlorenen Besitzungen wiederzuerobern gesonnen sei. Besonders
bei der Feier des Konstantintages ließ sie ihren Gedanken freien Lauf.
Cobenzl berichtet an Kaunitz:“) „.. . Le jour de la föte du Prince
Costantin qu'on passa à Baktschisarai j ai eu occasion de me con-
vaincre que 5 a plus que jamais en tête l' execution du
grand projet. Elle a beaucoup appuyé sur la singularité de célébrer
cette thee précisément dans l’ancıenne capitale de la Crimée, et tout
d'un coup elle se reprit en me disant a l’oreille, qu’elle n’avoit pas
pris sande que le Comte de Ségur étoit vis-a-vis d’Elle. Au reste,
ajouta S. Mté., il est bon qu'il s’accoutume peu a peu a cette idée.
Je pris occasion de lui dire que le succés de ces vastes idées dépen-
droit de la manière dont la chose seroit entamée, et surtout de |’épo-
que qu'on choisiroit pour cela. L’Impératrice me repliqua qu’à la
facon d’attendre le bon moment, on perdroit bien des moments.“
Auch der Kaiser, dem sie beim Anblick der Flotte gesagt hatte:
„que ce seroit dommage que tout cela dit pourrir dans le port“, “)
verstand sie sehr wohl. Er schrieb an Lascy:“) ,,L’Impératrice est
fort extasi¢ée de tout ce qu'elle voit et du nouveau degré de puissance
qui en résulte pour l’Empire russe. Le prince Potemkin est dans ce
moment tout-puissant et fété au-delà de l’imagination. Si je pouvais
ötre aussi pres de Berlin et que les Prussiens fussent d’aussi grands
bénéts que le sont les Turcs, je vous avoue que je ne résisterais point
à la démangeaison de me défaire de pareils voisins.“
Mehr als diese einigermaßen verständnisvolle Stellungnahme des
Kaisers hatte Katharina nicht gewollt. Sie ließ am nächsten Tag die
Ausbringung der Gesundheit aus dem offiziellen Journal streichen.“)
Es folgte, bevor sie nach Bachtisaraj zurückkehrte, noch ein Be-
such auf einem Gute Potemkins, der, nach Joseph,“) „pour nous faire
voir un bouc et une chévre d’Angora“, die ganze Gesellschaft auf
schlechten Wegen umherfiihrte. Man kam nachts in Bachlisaraj an.
Am 26. Mai verließ man endgültig die orientalische Hauptstadt,
in der sie, nach Ligne, gelernt hatten, wie alle übrigen Mohammed
1) Sborn. 27, 411. Kath. an Konstantin Pavlovič: “. . . Tyr BCHOMHHIR
MEI gro An Ilerep6ypra 65110 BepcMm% THCAIH NOATOPH, a XO Iaparpaza
CYTEH XB0e MopeM%2.“
en) Font. 54, 158. 8. Juni 1787.
es) Ibid. 154.
66) Arneth, Anh. S. 864. 8. Juni 1787.
%) Chrapov. 28. Mai.
6) Arneth, Anh. S. 865. Jos. an Lascy. 7. Juni 1787.
49
anzurufen. Während die Kaiserin die Hauptroute innehielt, machten
Joseph, Ligne, Nassau, einmal auch Ségur, gelegentliche Abstecher.
Joseph II. besichtigte den alten Hafen Balaklava. Ligne und Nassau
aber unternahmen einen romantischen Ritt in die Berge an der Küste,
um ihren Besitz kennen zu lernen. Ligne, dessen Eigentum der alte
Dianatempel geworden war, in dem Iphigenie gelebt haben sollte,
verbrachte dort nach seinem Bericht (Lettre V), der fast von Lara oder
Werther geschrieben sein könnte, die schönsten Stunden seines Lebens.
Die Kaiserin berührte in rascher Folge Akmetet, Karasubazar und
Staryj-Krym. Überall vergingen die Tage in Audienzen, Festen, Illu-
minationen, die oft bis zehn Meilen im Umkreis alles beleuchteten.
Überall ließ die Kaiserin reiche Geschenke zurück. Besonders in
Karasubazar, wohin eine neue, ausgezeichnete Straße führte und wo
Potemkin ein. prachtvolles Haus mit einem englischen Garten besaß,
die er scheinbar überall angelegt und für die er den größten Teil
seiner Mittel verbraucht hatte, wurde die Kaiserin noch einmal in der
Krim gefeiert. Aus Türken, Tataren, Armeniern gemisch:e Reiter-
schwärme empfingen sie. Sie besichtigte und lobte die Kasernen und
das Arsenal mit 50 Kanonen. Abends erleuchtete das größte Feuer-
werk der ganzen Reise den Garten und die Stadt, die Berge waren
bis 20 Werst hinaus in drei riesigen Feuerkreisen, die in der Mitte den
Namenszug Katharinas trugen, illuminiert. Potemkin hatte eine
Kompagnie Petersburger Bombardiers eigens dazu kommen lassen, die
die Reise zu Fuß machen mußten.
„Tout est possible dans ce pays-ci“, sagte Joseph II., “) halb
neidisch. Ein kurzer Besuch in dem zerstörten Kaffa beendete die
Reise, „. . . Pinfortuné et célèbre Théodosie“, schreibt Ségur,*”) „le
silence de la destruction y régnait.“ Katharina verweilte nicht lange.
Störte es sie, daß das Ende ihrer Reise durch ihr neu erworbenes
Gebiet eine zerstörte Stadt war?
Die Fahrt durch die Krim hatte nur elf Tage gedauert. Sie
sollte ursprünglich noch weiter ausgedehnt werden, bis Kerč und
Taganrog. Warum sic verkürzt wurde, ob Potemkin nicht vor-
bereitet war, dariiber berichten die Quellen nichts. Um der Krim
willen war die Reise angetreten worden, und doch hatte gerade sie
die kürzeste Zeit in Anspruch genommen. Hatte Sevastopol’, die in
Europa bekannt gewordene Erregung der türkischen Hauptstadt, die
Nachdenklichkeit Josephs II. der Kaiserin genügt?
In diesem zweiten Teil, dessen Höhepunkt Sevastopol’ war, war
das politische Element ganz an die Oberfläche emporgestiegen und
vorherrschend geworden, alles andere trat zurück. Es hatte sich eng
mit der Wunder- oder Märchenstimmung verbunden und war fast
etwas wie ein gefährliches Rauschmittel geworden.
Das Nachspiel, die Rückfahrt, die längere Zeit in Anspruch
nahm, näherte sich wieder der gewöhnlichen Reiseart. Schon am
31. Mai fuhr die Kaiserin durch die Tore von Perekop, die die Auf-
schrift trugen: Hpeanocaaaa eTpaxr n npunnecna wun: 1787“.
97) Ség. II, 77.
50
Am 2. Juni trennten sich die beiden Monarchen unter Freund-
schaftsversicherungen in Berislav. Joseph II., der so kühl und ab-
lehnend gekommen war, zeigte sich als bester Verbiindeter. Es wurde
sogar ein neuer Besuch des Kaisers in Petersburg verabredet, der aller-
dings nie zustande kam.
Die Fahrt wurde über Krementug (15. Juni), Poltava (18. Juni),
Chafkov (21. Juni) fortgesetzt. In Poltava erwartete ein großes
Schlußtableau Potemkins die Kaiserin. Kurz vorher schon war sie an
11 000 Rekruten für das Südheer voriibergefahren; Potemkin hatte
es sich nicht versagen können, auch sie noch vorzuführen. Jetzt
krönte das große und prachtvolle Schauspiel der Schlacht Peters des
Großen gegen Karl XII. den Triumphzug dieser „voyage aussi
romanesque qu historique“. )
Potemkin hatte der Herrscherin also alle ihre Machtmittel vor-
geführt, um ihr abschließend verheißungsvoll das Bild eines großen
russischen Sieges vorzuhalten.
„Alors“, sagte Ségur,”) „son coup de théatre a eu lieu, la toile
est baissée; il va s'occuper d'autres scènes“ (der Regisseur Potemkin
nämlich). Vorher aber erhielt er den Lohn seiner kaiserlichen Zu-
schauerin. Eine Medaille mit seinem Bild wurde geprägt, auf der
sein Name den Beinamen „Tavriteskij“, der Taurier, trug.
Am 8. Juli zog Katharina in Moskau ein. Seufzend schreibt
Ligne: “) „Ce n’était plus Cléopâtre à Alexandrie. D'ailleurs César
nous avait quittés pour s’en retourner chez lui. Le roman disparut
et fit place à la triste réalité . . . Les fêtes s’arrétérent. La bienfaisance
vint remplacer la magnificence, et le lux céda a la nécessité. On
ne jeta plus l’argent, on le distribua..... Un nuage obscurcit un
instant le front auguste et serein de Catherine le Grand.“ In
mehreren Gouvernements waren Hungersnöte ausgebrochen. Die
Feste brachen jäh ab. Nach diesem Vorspiel war der Vorhang wirk-
lich gefallen.
Wohl stiegen wahrscheinlich in Katharina beim Anblick dieser
trüben inneren Lage augenblickliche Bedenken auf, ihre Pläne jetzt
zu verwirklichen und den Krieg zu wagen. Aber sie waren kaum
von Dauer. Man höre nur u. a. den entschlossenen Ton Bezborodkos,
den mam für genau unterrichtet halten muß. Er schreibt im August
1787 an Voroncov:') „. . . y Hach BCe TOTOBO H roToBhe, (but BL
1768 roay. . .“
Joseph II., einer der kritischsten Zuschauer der Fahrt, faßt seine
Eindrücke so zusammen:“) „On nous a menés d’illusions en illusions.
Ce qui est intérieur ici a de grands défauts, mais l' extérieur a autant
de réalité que d’éclat.“
ve) Ség. II, 85.
e) Ibid.
10°) Ligne, Lettres. S. 90.
161) Sborn. 26, 189
102) Ség. II, 85.
51
So komme ich wieder zu meiner anfänglichen These über den
Zweck der Reise zurück. Die offizielle Ankündigung bei ihrem Be-
ginn wie die nach dem Abschluß geprägte pomph Erinnerungs-
medaille mit der Inschrift: “IIyrs ma IImay lassen auf eine
Inaugenscheinnahme der im russischen Süden durchgeführten
europäisch-zivilisatorischen Reformen als den eigentlichen Reisezweck
schließen. Wo aber ist in Wahrheit davon die Rede? Wo sahen die
Reisenden das neugeschaffene Europa? Im nördlichen Rußland ent-
deckte man das alte Moskowien, in den Steppen das Kosakenreich,
in der Krim die Trümmer des alten orientalischen Reiches. Bei
keinem von den Teilnehmern finden sich Berichte über wirkliche,
erfolgreiche Neuerungen und Fortschritte, sei es der Verwaltung, des
Handels, der Siedlung — fast das Wichtigste für die entvölkerten
neuen Gebiete — oder der Bodenkultur. Ist Europa in dem kriege-
rischen Firnis, mit dem Potemkin, der alles andere als ein Europäer
war, alle Schäden verdeckte? Europäisch war nur die Herrscherin
selbst, und europäischer Geist lebte nur in dem kleinen Kreis von
Menschen, der sich um sie gebildet hatte, und das waren fast durch-
weg — Nichtrussen. Die meisten jener europäischen Reformen
standen nur auf dem Papier.
Katharina aber wollte stets nur den Ruhm: „J'aurais tout
risqué pour chercher la gloire“, sagte sie zu Ségur und ihrer Gesell-
schaft.“) Da er durch Arbeit im Innern nicht in dem erwünschten
Maße kam, war diese nun in den Hintergrund geschoben und hatte
mehr und mehr einer größeren Glanz verheißenden Außenpolitik
Platz gemacht, und sie fand dafür eine ideale Entschuldigung: „. . On
peut les (ihre Untertanen) croire heureuses ... Je ne sais pas, si,
en les civilisant, comme je l'ai voulu je ne les aurais pas gat ae
In dieser äußeren Politik tat sie folgerichtig einen Schritt na
dem anderen. So ist auch ihre Siidreise zu betrachten. Sie ist eine
Manifestation der Politik Katharinas, ein Ausdruck ihrer Macht auf
dem Höhepunkt ihrer Regierung, eine allgemeine Demonstration
ihres Ruhmes, und eine spezielle Demonstration gegen die
Türken, womit sich die Festigung Südrußlands als der militärischen
Operationsbasis für den demnächstigen großen Krieg gegen das
Osmanenreich verbindet.
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103) Ség. II, 34.
108) Ibid. II, 82 f.
52
— w w " 2 wr "e — ag
be
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Aë Starina: XXXI (1890), XXXII—XXXV (1891), XXXVI—XXXVII
Ikonnikov, V. S.: Kiev v 1654—1855 gg. Istoriteskij oëerk. Kiev 1904.
53
NEUE EINBLICKE IN LEBEN UND WERKE
ZIESZKOWSKIS
Aus unveröffentlichtem Nachlaß.
Von Walter Kühne.
I.
Von den deutschen philosophischen Werken Cieszkowskis.
Im Zeitalter des deutschen Idealismus war Graf August
Cieszkowski bekannt durch seine deutschen Schriften „Prolegomena
zur Historiosophie“ (Berlin 1838) und „Gott und Palingenesie
(Berlin 1842) sowie durch die Begründung der Philosophischen Gesell-
schaft in Berlin in Gemeinschaft mit dem ihm befreundeten Professor
Carl Ludwig Michelet von der Universität Berlin.
Man konnte aus diesen Schriften Cieszkowskis erkennen, wie sein
Ringen danach ging, aus dem Geiste der Philosophie Hegels heraus
mit Hilfe ihrer eigenen Methode die Intuition als Organ für die
realen geistigen Grundlagen der Innenwelt und der Außenwelt zu
entwickeln. Nach seiner Auffassung blieben die Hegelianer in der
Sphäre der allgemeinen Gedanken stecken, drangen aber nicht zu dem
wahrhaft Wesenhaften, wie es z. B. das reale geistige Ich des Einzel-
menschen ist, vor. Die Kraft der Intuition beruhte nach ihm auf
einer Ausbildung des Willens aus dem reinen Denken heraus, das
durch die Philosophie Hegels auf die Höhe seiner Entwicklung ge-
bracht worden war.
Cieszkowski gliederte die Entwicklung der Weltgeschichte in drei
Perioden: die des Altertums bis auf Christus, die wesentlich das
menschliche Fühlen und die aus ihm hervorgehende Sphäre der Kunst
ausgebildet habe, die Epoche der Moderne, die das Element des
Denkens und die Sphäre der Philosophie entwickelt habe, und die Zu-
kunft der Menschheit, in der die Willenssphäre, das Tun in den ein-
zelnen Menschen und der Gesellschaft einen eigenen phänomeno-
logischen Prozeß durchmachen werden und die wahrhaften sozialen
Institutionen geschaffen würden.
Im dritten, 1852 erschienenen, Gespräch seiner philosophischen
Trilogie: „Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes“, das
unter dem Titel „Die Zukunft der Menschheit und die Unsterblich-
keit der Seele“ erschien, läßt Michelet Cieszkowski Anschauungen
aussprechen, die eine Weiterbildung seiner Lehre von der Intuition
54
und dem realen Ich zeigen: Cieszkowski schrieb diesem Ich wieder-
holte Erdenleben zu und setzte durch seine Ideen über die Palin-
genesie eine Ideenrichtung fort, die Lessing in seiner „Erziehung des
Menschengeschlechtes‘“ begonnen hatte, wie Cieszkowski völlig be-
wußt war.
Michelet berichtet zwar in seinem Werke „Wahrheit aus meinem
Leben“ vom Jahre 1884, daß Cieszkowski mit jener Darlegung seiner
Ichlehre in dem Werke von 1852 sehr einverstanden gewesen sei,
einige Jahrzehnte später aber war es in polnischen Kreisen, die für
Cieszkowski ein Interesse bewahrt hatten, in gewissem Sinne frag-
lich geworden, ob Michelets Darstellungen auch authentisch gewesen
sei. Für denjenigen, der sich mit der inneren Gedankenrichtung, der
Denkart, dem tätigen Denken Cieszkowskis in seinen Werken
„Prolegomena zur Historiosophie“ und „Gott und Palingenesie“ zu
verbinden weiß, kann es allerdings keinem Zweifel unterliegen, daß
die Cieszkowski von Prof. Michelet in den Mund gelegten Auße-
rungen über das reale Ich und die wiederholten Erdenleben ganz und
gar in der Konsequenz der beiden Werke von 1838 und 1842 lagen.
Alle Bedenken müssen aber vollends verschwinden, da wir jetzt
einen Einblick in den jahrzehntelang verschollenen Briefwechsel
zwischen Cieszkowski und Michelet haben. Ich fand nämlich bei
meinen Arbeiten im Nachlasse Cieszkowskis Abschriften von 18 seiner
Briefe an Michelet und 26 Originalbriefe Michelets an Cieszkowski,
aus denen u. a. hervorgeht, daß Michelet in höchstem Alter mit
Cieszkowski über die Herausgabe ihres ausgewählten Briefwechsels
verhandelte.
In seinem Briefe vom 13. Dezember 1850 nun legt Michelet dar,
wieweit er ın der Ausarbeitung der literarischen Darstellung der Ideen
Cieszkowskis gelangt sei, welche Methode er dabei verfolgt habe und
welche Stellung er in dem Gespräch dem Freunde eingeräumt habe.
Er bittet ihn dann, ihm einige Notizen über die Palingenesie, die
Seelenwanderung oder vielmehr die Verwandlung des Körpers, über
den Chor der Seligen usw. zur Verfügung zu stellen, damit er mit
größerer Sachkenntnis diesen Ideen antworten könne
Die Antwort Cieszkowskis hierauf vom 28. Dezember 1850 ent-
hält im wesentlichen eine Entschuldigung für die verspätete Beant-
wortung und dafür, daß er sich nicht ausführlich auf die Fragen
Michelets äußern könne, weil er sich jetzt seinem bei ihm weilenden
Vater widmen müsse, auch habe er sich durch seine mannigfaltigen
anderen Beschäftigungen in den letzten Jahren fühlbar von dem
spekulativen Boden entfernt. Zwar bleibe er durchaus bei seiner
Grundüberzeugung auf diesem Felde stehen, aber er müsse doch
manche Notiz erst wieder durchlesen, manche Studien wieder auf-
nehmen, um sich in den Gegenstand wieder einzudenken, bevor er
die gewünschten genauen Ausführungen übermitteln könne. „Noch
dazu“, so schreibt er (ich übersetze seine Darlegungen hier wörtlich
aus dem französischen Text), „würde ich Gefahr laufen, Ihnen Einzel-
angaben zu machen, die Sie schon kennen — sei es direkt aus meinen
55
früheren Schriften oder unseren verschiedenen Unterhaltungen, oder
sei es indirekt durch Ihre Schlußfolgerungen aus meinen Gedanken
— oder im Gegenteil das auszulassen, was Sie mehr interessieren
würde. Wenn wir das alles wohl erwägen, so ist also das Beste, was
wir tun können, daß wir die Angelegenheit bis zu meiner sehr nahe-
liegenden Ankunft in Berlin verschieben. Und wenn Sie dann die
Güte hätten, mir die Argumente mitzuteilen, die Sie mir in den
Mund gelegt haben und die sicherlich viel durch einen solchen Inter-
preten wie Sie gewonnen haben werden, so werde ich mich beeilen,
Ihnen alle mir möglichen Aufschlüsse zu geben.“
Bei der Durchsicht der Briefe Cieszkowskis für die geplante
Herausgabe hat Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts Michelet
die folgende Randbemerkung gemacht: Ich glaube, daß sich dieses be-
zieht auf mein drittes Gespräch von 1852.
Also noch im Jahre 1851 hat Cieszkowski die gewünschten
näheren Mitteilungen über seine Ideen an Michelet gegeben, dieser
hat sie in der Cieszkowski in den Mund gelegten Rede verwertet, und
zwar nach seiner gewissenhaften Art, die uns in seinen Briefen und
Schriften deutlich entgegentreten, so daß Cieszkowski völlig damit
einverstanden sein konnte.
Es will sogar scheinen, als habe Cieszkowski im Jahre 1851 selber
seine Anschauungen niedergeschrieben, zum mindesten ist eine Ein-
leitung für einen Beitrag zu den philosophischen Gesprächen Michelets
noch erhalten, aus der ich eine sehr bemerkenswerte Stelle hier ab-
drucken möchte, die von Michelet nicht verwendet worden ist:
„Meine hochgeehrten Herren! Lassen Sie mich zuerst eine Bitte
an Sie richten — ich weiß, an wen ich sie richte und darum weiß ich
zum Voraus, daß sie genehmigt wird. Ich will frei sprechen — ich
will frei ohne Rückhalt meine Überzeugung über die hier ver-
nommenen Ansichten ausdrücken.
Ich bin der jüngste unter Ihnen. Sie sind fast alle durch Wort
oder Schrift meine Lehrer gewesen, ich bin mit einem warmen Ge-
fühl von dankbarer Pietät gegen die meisten von Ihnen erfüllt, und
doch wird mich dieses Verhältnis keineswegs verhindern, meine volle
Überzeugung Ihnen gegenüber auszusprechen — amicus Plato sed
magis amica veritas. Beschuldigen Sie mich nicht eines jugendlichen
Übermutes. Mich zwingt meine klare und feste Überzeugung, mich
zwingt die Begeisterung der Wahrheit. Dürfte ich sie nicht in vollem
Maße und klar aussprechen, so verzichte ich augenblicklich auf das
1 denn kapitulieren und sich akkomodieren ist meine Sache
nicht.“
Deutlich und offen drückt hier Cieszkowski seine innige Ver-
bundenheit mit den Hegelianern aus, dabei jedoch die Freiheit seiner
eigenen Meinung ganz und gar betonend. Diese Haltung war lebens-
länglich für ihn charakteristisch.
Alles in allem ist jetzt das deutsche philosophische Gesamtwerk
Cieszkowskis in den drei Veröffentlichungen „Prolegomena zur
Historiosophie“ von 1838, „Gott und Palingenesie“ von 1842 und
56
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Darlegungen in Michelets Werk „Die Zukunft der Menschheit und die
„Unsterblichkeit der Seele“ als eine tatsächliche Einheit gesichert.
II.
Die Entstehung von Cieszkowskis erster Schrift „Prologomena zur
Historiosophie“.
Ein zweiter wichtiger Punkt im Lebenswerke Cieszkowskis, der
Zweifeln ausgesetzt scin konnte, war der Zeitpunkt der Abfassung
seiner ersten deutschen Schrift „Prolegomena zur Historiosophie“,
die 1838 in Berlin erschien.
Cieszkowski hatte nämlich seinem Sohne und literarischen Erben
kurz vor seinem Tode Mitteilungen gemacht, die ich hier wieder-
geben möchte:
Nach der beendeten Niederschrift der „Prolegomena“ hatte
er diese seinem Vater zu lesen gegeben. Der habe ıhr einen sehr
hohen Wert beigemessen und beschlossen, in einer besonderen Messe
dem Himmel zu danken, der seinen Sohn mit einem solchen Werke
und ihn, den Vater, mit einem solchen Sohne begnadet habe. Der
Vater sei daher mit ihm zur Kirche gefahren, um eine Messe lesen
zu lassen. Während nun sein Vater dem Gottesdienste hingegeben
gewesen sei, habe er für sich das Vater-Unser rezitiert — und dabei
sei ihm wie durchsichtig geworden und sei ihm das aufgegangen, was
auszuarbeiten er sein weiteres Leben bestrebt gewesen sei: sein Werk
das „Vater-Unser“ (der „Ojcze-Nasz“).
Auf Grund dieser Mitteilungen blieb es immer noch ungewiß,
wann die Niederschrift der „Prolegomena“ beendet wurde und wann
das für Cieszkowskis Lebenswerk entscheidende Erlebnis, der Aus-
gangspunkt seines polnischen Hauptwerkes also, eingetreten war.
Die Prolegomena selber führen allerdings Werke an, die 1837
erschienen sind, wie Hegels Vorlesungen über Philosophie der Ge-
schichte, die Ed. Gans herausgegeben hat (auf S. 48, 49 und 121), und
Karl Ludwig Michelets „Geschichte der letzten Systeme der Philo-
sophie von Kant bis Hegel“ I. Bd. auf S. 103. Aber es könnte immer
noch die Behauptung Platz finden, daß die Prolegomena bedeutend
früher verfaßt wären — wie ich denn tatsächlich auch in Polen selbst
gehört habe —. Es könnte die Annahme bestehen, daß das Hinein-
arbeiten dieser Anführungen kurz vor der Drucklegung des an sich
älteren Manuskriptes geschehen sei, ohne den Text weitgehend zu
ändern, da Hegels Lehren ja auch bekannt gewesen wären, bevor
seine Vorlesungen von seinen Schülern herausgegeben worden seien.
Über diese Fragen habe ich manche Unterhaltungen mit polni-
schen Gelehrten gehabt, für die Cieszkowskis Leben und Werk von
entscheidender Bedeutung für ihr eigenes Leben geworden sind.
Eine genauere Datierung und damit ein genauerer Einblick in
Cieszkowskis innere Entwicklung ist mir jetzt jedoch möglich ge-
worden durch eine Anzahl von Funden in seinem Nachlasse, die mir
durch wiederholte schwierige Nachforschungen geglückt sind.
57
Es kommen da zunächst zwei Briefe Cieszkowskis aus dem Jahre
1836 in Betracht, die seine damalige geistige Arbeit und seine literari-
schen Pläne ganz deutlich erkennen lassen: er rang mit einer kriti-
schen Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels, die er aus
ihren eigenen Voraussetzungen und ihrer eigenen Methode da fort-
führen wollte, wo Hegel nach seiner Meinung nicht ganz auf der
Höhe seiner sonstigen Werke und hauptsächlich seiner Logik sei: näm-
in der Naturphilosophie und vor allem der Philosophie des
eistes.
Er plane unter anderem, so schrieb er selbst am 30. 6. 1836 an
Michelet, eine „Dialektik der Geschichte“, die Hegels Philosophie der
Geschichte fortführen und die Geschichtsphilosophie auf neue Grund-
lagen stellen wolle. Er müsse dabei natürlich die Werke seiner Vor-
gänger und besonders die Hegels zur Hand haben und werde wohl
auf die Herausgabe (der Hegelschen Philosophie der Geschichte) durch
Ed. Gans warten
In einem weiteren Briefe vom 10. Oktober 1836 aus Warschau
teilt er Michelet mit, daß er sich noch nicht ganz ernstlich mit dem
Werke beschäftige, von dem er ihm geschrieben habe. Er beschränke
sich auf kleine Niederschriften, da er das Ganze möglichst in einem
Zuge verfassen möchte. Die Art, wie Michelet seinen Plan einer
Dialektik der Geschichte interpretiert habe, werde ihn zur Wahl
eines anderen Titels fiir sein beabsichtigtes Werk veranlassen... Zwar
könne er nicht ausführlich seinen Plan entwickeln, weil das den
Rahmen eines Briefes iiberschreiten werde, aber immerhin wolle er
die Ausgangspunkte ganz kurz behandeln, weil Michelet dann schon
weiter denken werde.
Im ersten Teile gedenke er das System der Prinzipien zu be-
handeln, auf die sich die einzelnen geschichtlichen Systeme stützen,
im zweiten Teile die Verwirklichung der Prinzipien in der Zeit, den
Faden der Ereignisse und den Gang der Geschichte in seiner organi-
schen Totalität und schließlich im dritten Teile die höhere Einheit
beider: die Früchte des Baumes der Geschichte, der in dem zweiten
Teile sich entfaltet habe und dessen Keim in dem ersten Teile gelegt
worden sei... Nach dem Wie werde er das Was und dann das
Warum der Geschichte darlegen. —
‚In diesem Programm der Gliederung seines geplanten Werkes
haben wir die Kapiteleinteilung der „Prolegomena zur Historio-
sophie“ von 1838 vor uns: nur hat der Verfasser im gedruckten Werk
mit dem zweiten Teile seines urspriinglichen Planes begonnen, dann
den ersten Teil folgen lassen und mit dem dritten auch tatsächlich
seine Prolegomena beschlossen.
Auf diese Mitteilungen hin muß Michelet seinen jungen polni-
schen Freund recht aufgemuntert haben, wie aus einem sehr langen
Briefe Cieszkowskis an Michelet vom 18. März 1837 hervorgeht.
Dieser Brief ist zwar zum größten Teil bereits im Jahre 1892 in
französischer Sprache veröffentlicht worden — und zwar in einer
Sammlung von 8 Abhandlungen, die Karl Ludwig Michelet zu seinem
58
ci. „ OR. BA wir:
ki Fi ta ted
90. Geburtstage dargebracht wurden, aber diese Veröffentlichung ist
anz verschollen. Nicht einmal dem Sohne Cieszkowskis war sie
kannt, welcher das nachgelassene Hauptwerk seines Vaters heraus-
gegeben und ins Französische, die deutschen und französischen Werke
seines Vaters ins Polnische übertragen hat und wohl mit allen Ver-
ehrern der Werke seines Vaters noch heute in Verbindung steht.
Cieszkowski schreibt in jenem Briefe, daß er noch nicht endgültig
an seinem Werke arbeite, aber doch von Zeit zu Zeit einige Blätter
seinem Stoß vorbereitender Materialien zufüge.
Es ist mir auch gelungen, den größten Teil dieser Notizen auf
Zetteln, die in ihrer Gesamtheit etwa als Cieszkowskis wissenschaft-
liches Tagebuch von 1832—1838 und später bezeichnet werden
können, aufzufinden. Einige Notizen behandeln den Aufbau der ge-
planten Schrift und stimmen überein mit den neuen Erklärungen über
sein Werk, die er in seinem Briefe von 1837 dem befreundeten
Professor gibt und in denen er beginnt mit der Dialektik der Ge-
schichte, die Kategorien der Geschichte anschließt und mit dem
Organismus der Geschichte endigt. Schon deutlich erhellt aus dem
Briefe wie aus den Notizen, daß er auf dem Wege ist, die Geschichts-
philosophie Hegels im Sinne der Methode Hegels selber fortzuführen
oder auch positiv zu überwinden. Und man muß die Sicherheit be-
wundern, mit der er auf den phänomenologischen Prozeß der Willens-
entfaltung als dem Prozeß der Entfaltung des bewußten Denkens
folgend hinweist. Die Formulierungen der Notizen
a) Humanität. Ästhetische Bildung. Piekne [Das Schone],
b) Selbstbewußtsein. Theorie. Prawdziwe [Das Wahre],
c) Selbsträtigkeit. Spontaneität. Dobre [Das Gute]
enthalten schon fast wörtlich diejenigen der Prolegomena über die
drei Sphären des geschichtlichen Lebens.
Der Brief an Michelet zeigt vor allem, wie die innere Gliederung
des Werkes in Cieszkowski heranreift, die Notizen weisen mehr auf
die Höhe seiner Spekulation, seines tätigen Denkens und vor allem
auf die Intuition hin, die in ihm die Keime seiner eigenen Welt-
anschauung hat aufleuchten lassen. In dieses innere Tun des Geistes
bei Cieszkowski Einblick zu gewinnen, ist geschichtlich von großer
Bedeutung, weil wir den Keim seiner eigenen Philosophie und den
mé polnischen Hegelianismus dabei geradezu greifbar nahe vor uns
aben.
Es kommt ihm darauf an, über die Sphäre der allgemeinen
Gedanken Hegels in den Geist als Selbst, als lebendige Indivi-
dualität einzudringen. Er will das schöpferishe „Hervor-
bringen“ aus sich selbst, keineswegs aber das Herausgehen oder sogar
das Herausbleiben außer sich, oder das Außersich-seyn, wie er selbst
in einer seiner Notizen schreibt. Die Stelle enthält im Keime die
Ablehnung solcher Tendenzen, wie sie später sein Zeitgenosse Adım
Mickiewicz, der einen außerordentlichen Einfluß auf das polnische
Geistesleben ausgeübt hat, mit dem Lob der Exaltation im Sinne des
59
Gefühlsüberschwanges als der geistigen Grundkraft des Polentums
propagierte. Cieszkowski erstrebte von vorhinein die Erhöhung der
Ichkräfte, die Eroberung des tätigen Geistes, das Selbsttun, während
in Mickiewicz’ Leben, Werken und Lehre die Exaltation zur Selbst-
entfremdung, zum Ichverlust und zur Besessenheit führte.
Auf einem weiteren Notizblatt findet sich eine besonders ſeb-
hafte Auseinandersetzung mit Hegels Stellung zum Praktischen, zum
Tun. Er tadelt, daß Hegel es eine Seite des Theoretischen, als
einen Filialausfluß des Denkens sozusagen betrachtet, während es doch
eine Stufe des Geistes für sich, ganz abgesondert und sogar die höchste
sei. — — Cieszkowskis Auffassung geht aus seinem Gesichtspunkt
hervor, daß die eigentliche Willensentfaltung bisher noch gar nicht
eingetreten sei, daß die Denkentfaltung die Menschen gleichsam be-
herrscht habe, und es ihnen schwer falle, sich von der Eigenart des
Willens eine Idee zu machen: In seiner Reinheit konnte er erst
hervortreten, nachdem das denkende Bewußtsein auf die Höhe seiner
eigenen Entwicklung gelangt war, wozu Hegel entscheidend und so-
zusagen abschließend gewirkt habe.
Man kann immer wieder erkennen, daß Cieszkowski eine
tätige Erkenntnis anstrebt und gleichsam vor Augen hat, welche
wirklih aus dem Willen des ich, aus dem Selbst, hervorgeht,
schöpferisch ist und nicht bloß vorhandene Elemente
verbindet. Die Philosophie Hegels bleibt dabei stehen, die von außen
gegebene Welt der Natur und die von innen gegebene Welt des
Gedanken zu verbinden; er möchte dagegen eine Erkenntnisweise, die
sich Neues erobert, für die die Vereinigung des objektiven und des
subjektiven Elementes im Sinne Hegels SE de ein Ausgangspunkt,
nicht der Endpunkt, ist. In dieser Richtung liegt eine Notizstelle:
„Wenn nach Hegel alles geistige Thun nur diesen Zweck hat, sich
der Vereinigung des Sub- und Objektiven bewußt zu werden, so
könnten wir gerade umgekehrt mit demselben Rechte behaupten,
daß alles Bewußtseyn nur diesen Zweck hat, diese Vereinigung aus
sich thätig zu realisieren. (Ph. d. G. S. 38.)
Diese Notiz ist in all ihren Wendungen in die Ausführungen der
Prolegomena auf S. 120 und 121 übergegangen. Für unsere Unter-
suchung ist der Hinweis der Notiz auf Hegels Vorlesungen über die
Philosophie der Geschichte wichtig, der übrigens auch in die Prole-
gomena übernommen worden ist, da eben diese Vorlesungen in der
Redaktion von Ed. Gans erst 1837 erschienen. Cieszkowski wartete
laut seinem Briefe an Michelet vom 30. Juni 1836 auf dieses Werk;
nach seinem Erscheinen 1837 wurde es sicher bald von ihm gelesen:
die Notiz ist dadurch einwandfrei datiert.
Es ist hiernach gar keine Frage mehr, daß sich Cieszkowski in
den Jahren 1836—1838 mit den kommenden „Prolegomena zur
Historiosophie“ beschäftigte; sie konnten noch nicht fertig sein und
er konnte noch nicht direkt an den Anfängen des „Ojcze-Nasz“
arbeiten, wenn man seine Äußerung zu seinem Sohne berücksichtigt.
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Da Cieszkowski das Grunderlebnis in der Kirche beim
Rezitieren des „Vater-Unser“ in die Formen der Philosophie Hegels
eingekleidet hat, die eben damals die entwickelteste Terminologie
bot, so ist allerdings eine wesentliche Vorarbeit für den „Ojcze-Nasz“
mit der Arbeit an den ersten Entwürfen und der eigentlichen Nieder-
schrift der Prolegomena von ihm geleistet worden. Ja, man wird
sagen können: der schöpferische Funke, der in sein tätiges Denken
fill und ihn zum Weiterdenken der Philosophie Hegels führte, ist
schon eine Vorstufe des als ein so entscheidend empfundenen Er-
lebnisses in der Kirche, der „mystisch tätigen Intuition“, um in
Cieszkowskis späterer Sprache zu reden.
Außer den Briefen vom Jahre 1836 und den Notizen
konnte ich noch eine un veröffentlichte Vorrede zu den
Prole gomenis auffinden, die meine bisherigen Darlegungen be-
kräfti Sie ist in der Handschrift eines seiner Berliner Studien-
freunde, Carl Lehmanns, erhalten, der Jahre lang sein Sekretär und
Jahrzehnte lang sein getreuer Helfer war, wie aus einem ziemlich um-
fangreichen ebenfalls von mir aufgefundenen Briefwechsel zwischen
beiden Männern und noch anderen Dokumenten des Nachlasses
hervorgeht.
Der Text dieses wichtigen Dokumentes, das zwar nicht datiert
ist, sich jedoch selber datiert, lautet folgendermaßen:
Vorrede.
Lange vor dem Erscheinen der Hegelschen Vorlesungen über die Philosophie
der Geschichte waren die Hauptresultate derselben ziemlich bekannt geworden,
teils durch Hegels wichtige Andeutungen in verschiedenen seiner Werke, teils durch
seine und seiner Schüler öffentliche Vorträge. Jedoch hat man, um diesem Gegen-
stande näherzutreten und entweder durch Entgegentretung die Entwick-
lungslinie dieser Wissenschaft selbst fortzubilden und gleichsam zu verlängern
oder durch Hinzutritt den Standpunkt selbst durch speziellere Ausführungen
auszubilden und gleichsam zu verbreiten, die Herausgabe des viel-
versprochenen und vielversprechenden Werkes sehnlichst abgewartet, da man ver-
langte, auf dieses sich erst bestimmt stützen und den Standpunkt in seiner totalen
Ausführung auffassen zu können. Das Werk ist erschienen, der neue Ausgangs-
punkt ist gewonnen.
Seit dem Augenblicke, wo ich mich mit der Hegelschen Philosophie der Ge-
schichte vertraut machte, fing ich an, mit der Anerkennung ihrer so wichtigen
Schätze, auch zugleich auch ihre Mängel einzusehen und das nicht bloß innerhalb
des Hegelschen Systems selbst, sondern auch außerhalb desselben, d. h. einerseits
fand ich dessen Philosophie der Geschichte nicht ganz dem Standpunkt seiner
Philosophie überhaupt adaequat ausgebildet und zwar sowohl der Form und
Me als auch dem Inhalte nach, — andrerseits aber fand ich umgekehrt seine
Philosophie selbst noch nicht zu dem absoluten Standpunkte der Weltgeschichte
adaequat ausgebildet, also ein gegenseitiger Mangel und ein gegenseitiges Miß-
verständnis machte sich mir fühlbar. Der Entfernung des ersten Mangels, nach
seinen beiden wieder entgegengesetzten Seiten, sind die zwei ersten Kapitel dieser
Schrift bestimmt, sie sind also nur eine Ausbildung des Hegelschen Stand-
reg — von der Abhilfe des anderweitigen Mangels aber handelt das dritte
apital, das insofern eine Fortbildung dieses Standpunktes ausmacht.
Vor einiger Zeit fing ich an, Materialien an der aus diesen Betrachtungen
hervorgehenden Historiosophie zu sammeln und das System derselben zu ent-
werfen. Aus subjektiven und objektiven Gründen aber ging ich nicht rasch zu
61
Werke und jetzt noch bin ich ziemlich von deren gänzlicher Ausführung entfernt.
Ein großer Teil der objektiven Gründe, der auf den Schwierigkeiten beruht, welche
die neuen Forderungen der Historiosophie veranlassen, wird aus diesen
Blättern selbst einleuchten.
Nach dem Erscheinen des Hegelschen Werkes aber habe ich einen Stütz-
kt für diese neuen Forderungen: gewonnen, und darum finde ich mich durch
ieselben objektiven Schwierigkeitsgründe, die mich von der sofortigen Ausführung
meines Werkes abhielten, jetzt umgekehrt veranlaßt, diese Prolegomena erscheinen
zu lassen, einerseits, um in das künftige neue System einzuführen, anderer-
seits (im Text ist hier eine Lücke!)
In diesen Prolegomenis führe ich nichts aus, ich stelle bloß auf. Sie sind
auch teils durch Nachdenken über die Historiosophie, teils durch Fragmente aus
deren begonnenem Baue entstanden. Dieser Bestandteil ist aber der kleinste, denn
sie sollen nicht das System, sondern nur dessen Ansicht darstellen; dasjenige also
auch, was sich aus ihm in ihr befindet, muß nachher im Werke mit ganz anderer
Bestimmtheit auftreten als es hier perspektivisch geschehen kann.
III.
Cieszkowskis Freundschaft mit Michelet.
Wenn auch Cieszkowski in seinen Schriften keinen Zweifel
darüber läßt, daß er dem deutschen Idealismus und der Philosophie
Hegels die Methode der Darstellung und der Gedankenform ver-
dankt, in die er seine Geistesblitze eingekleidet hat, so erscheint doch
lediglich von seinen Werken aus sein Zusammenhang mit dem deut-
schen Idealismus als ein wesentlich ideeller. Aus Michelets bereits
herangezogener Schrift von 1852, in der Cieszkowski redend eingeführt
wird, ließ sich wohl seine Zugehörigkeit zu Michelets Kreis, seine
Freundschaft mit Michelet erkennen — aber sie schien doch wesentlich
philosophish. Daß diese Freundschaft aber eine innigere war, geht
aus den Äußerungen Michelets in seinem Werke „Wahrheit aus
meinem Leben“ von 1884 hervor —, jedoch dieses Werk ist ja auch
so gut wie verschollen.
Michelet schreibt darin auf Seite 522:
„Nicht ohne Absicht habe ich mir vom Grafen Cieszkowski zuletzt zu
sprechen vorbehalten, wenn ich ihn auch in die erste Reihe meiner Freundschaften
stelle. Während des halben Jahrhunderts, in dem wir uns kennen, seit der ersten
Vorlesung, die er bei mir hörte, hat unser Verhältnis keinen Augenblick auch nur
die leiseste Trübung erfahren, ungeachtet unserer philosophischen eren Ei
in mancher Hinsicht abweichend: auch bei der Verschiedenheit unserer Volks-
tümlichkeiten und ihrer Standpunkte, unsere staatlichen und weltbürgerlichen An-
schauungen sich verschiedentlich mögen gestaltet haben. Nicht nur die Philo-
1 Gesellschaft selbst, auch ihr Organ, den Gedanken, half er mir später
gründen.“
Wie beide Männer zueinander standen, zeigt in schöner Weise
ihr von mir aufgefundener Briefwechsel. Schon der erste Brief
Cieszkowskis an Michelet, auf den ich bereits oben eingegangen bin,
behandelt nicht nur Probleme, sondern Leben und Streben beider
Männer im weitesten Umfange. So berichtet Cieszkowski von seinen
vielen Beschäftigungen, seiner Tageseinteilung, seinen Plänen für das
ihm von seinem Vater anvertraute Gut Surhöw bei Lublin, wo er
eine Fabrik für Zucker aus Runkelrüben gründen und die Kultur der
Maulbeerbäume einführen wolle.
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Im zweiten Briefe scherzt er mit Michelet tiber die Be-
stimmung von Michelets erstem Sprößling, schreibt ihm über seine
Ideen von der Ehe, empfiehlt ihm für die gemeinsame Lektüre mit
seiner Frau George Sand, läd ihn ein, einen Teil seiner Ferien in
Polen bei ihm zuzubringen. . .
Im dritten Briefe erzählt er unter anderem vom Karneval
in Warschau, von seinem Plane, durch pseudohistorishe Romane
seine historiosophischen Ideen für das große Publikum zu verdeut-
lichen, beklagt er, daß er die Unterhaltungen mit Michelet entbehre
und tee seinen Brief ungebührlich ausgedehnt habe, um
doch einen schwachen Ersatz für sie zu haben. Und bittet er schließ-
lich Michelet, ihm ja Nachrichten über sein und seiner Familie Leben
zukommen zu lassen.
Und auch Michelet geht in seiner Antwort vom 6. Aprıl 1838
nicht nur auf die Probleme ein, die den jungen Philosophen be-
schäftigen, sondern berichtet ihm unter anderen, daß er bei seiner Frau
mit den geäußerten Ideen über die Ehe etwas in Ungnade gefallen sei
und vieles werde tun müssen, um wieder in Gnaden angenommen
werden zu können
Im November desselben Jahres beantwortete Michelet zwei bis-
her nicht wieder aufgefundene Briefe seines Freundes mit einem Be-
richte von seiner Mitarbeit bei der Korrektur der „Prolegomena zur
Historiosophie“, seiner und seiner Familie Aufenthalt im Seebade und
Ge den neuesten Vorgängen in der Wissenschaft der Natur und des
istes.
Cieszkowski war damals in Paris. Auch hier pflegte er seine
freundschaftlichen Beziehungen zu dem Berliner Professor. Für ihn
besuchte er z. B. mit Michelet bekannte Philosophen wie Cousin,
unterhandelte er mit Verlegern, hielt er Rücksprachen mit Ver-
tretern der Akademie. So wurde sein Brief vom 2. Februar 1839
geradezu ein Bericht über seinen Pariser Aufenthalt.
Der Briefwechsel beruht durchaus auf menschlich-freundschaft-
licher Grundlage. Leider sind viele Briefe verloren gegangen, auf die
in den erhaltenen Antworten angespielt wird: der Austausch von
Mensch zu Mensch, der sich in Berlin vollzog, wo sich die
Freunde besuchten, wurde im Briefwechsel fortgeführt.
Im Jahre 1843 gründeten beide die Philosophische Gesellschaft
zu Berlin und das verband sie noch weiter: diese Gesellschaft war
zwar ihr Lieblings-, aber auch ihr Sorgenkind, ging es doch in thr
nicht um Ideen allein, sondern um 3 von
Menschen mit verschiedenen Ideenrichtungen trotz des gemein-
samen Ausgangspunktes in der Philosophie Hegels.
Dieser Briefwechsel wirft überhaupt ein wichtiges Licht auf die
Geschichte der Schule Hegels und der Philosophischen Gesellschaft in
Berlin. Er läßt erkennen, daß Cieszkowski als Mensch und nicht nur
als Kopf mit dem deutschen Idealismus verbunden war. Der letzte
Brief von ihm in dem Heft der Abschriften ist vom 31. August 1860
sure 63
datiert, der letzte von Michelet erhaltene vom 31. März 1893.
Die Hälfte der Briefe Michelets fällt in die Zeit, für die wir leider
keine Abschriften oder Originalbriefe seines Freundes haben. Diese
Briefe enthalten aber in gleicher oder gar noch stärkerer Weise viele
Zeichen der Sympathie, die beide bedeutenden Männer verband.
Schon Michelet hat in den 80 er Jahren des 19. Jahrh., als er selbst
sich mit den Vorbereitungen für eine Veröffentlichung seines ausge-
wählten Briefwechsels mit Cieszkowski beschäftigte, nicht alles
Material zusammenbekommen können, wie es scheint.
Michelets jüngster Sohn, Dr. George Michelet, hat mir noch per-
sönlich erzählt, daß der größte Teil der Briefe, die im Besitze seines
Vaters waren, nach dessen Tode durch unachtsame Angestellte seines
Schwagers vernichtet worden seien. So bedauerlich diese Tatsache
auch ist, die vorhandenen Briefe reichen völlig aus, zu beweisen, daß
der deutsche Idealismus nicht nur eine Lehre war, die Cieszkowski
aufnahm, sondern vor allem ein Lebensstrom, der ihn durchdrang
und ihn in seinem ganzen Wesen bereicherte. Einen sehr schönen
und vorbildlichen Beweis dafür haben wir in seiner durch mehr als
60 Jahre gepflegten Freundschaft mit seinem Lehrer Michelet.
Wie Cieszkowski in seinen ersten Briefen an Michelet schon
zeigt, blieb er dauernd bestrebt, von den Formulierungen Hegels in
den lebendigen Gedankenstrom einzudringen, dessen Erscheinungen
sie sind: aus ihnen heraus allein konnte er ja Hegel in dessen eigenem
Geiste fortführen wollen. Durch sein ernstes Ringen mit den
Formulierungen, den festgewordenen Formen des Denkens, in dem
Hegel schöpferish lebte, legte Cieszkowski deren Unterstrom frei
and konnte ihn gleichsam in sein eigenes Wesen hineinleiten. Diesen
Umgang mit dem Lebensstrom des deutschen Idealismus kann man
ja gerade bei den slavischen Idealisten überhaupt gut studieren: für
sie hatte z. B. die Philosophie Hegels nicht nur einen ideellen, sondern
vor allem einen Lebenswert. Cieszkowski nahm Hegels Philo-
sophie durchaus als welthistorisches Symptom, sah es also im großen
Zusammenhange der Geschichte der Philosophie nicht nur, sondern
der allgemeinen Kultur überhaupt. Er schritt vom Gedanken,
von dem allgemeinen Gedanken zu den Menschenwesen, den
realen Ichen vor, die in sich die Früchte der Arbeit mit der
Sinneswelt und mit der Gedankenwelt hineinnehmen, und nach seiner
Auffassung von einem Leben in das andere tragen, bis ihre innere
Reife so groß geworden, daß sie den Zusammenhang ihrer Inkar-
nationen überschauen können — und schließlich den letzten Feind,
den Tod, überwinden. —
Die Bedeutung der Cieszkowskischen Ideen kann man in ihrer
17 Klarheit erst dann so recht erkennen, wenn man sich neben
ihnen diejenigen Michelets vergegenwärtigt.
Michelet geht in seiner Weltanschauung davon aus, daß zunächst
dem Menschen eine Fülle von sinnlichen Eindrücken und inneren
64
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Seelenzustinden gegeben -ist, die jeder Ordnung entbehren. Durch
unser Denken entdecken wir die waltenden Ordnungskräfte aller
dieser Gegebenheiten in den Ideen, die die vielen Einzelheiten der
Welt zusammenhalten und durchdringen. In unserem denkenden Be-
wußtsein haben wir dann diese Ideen, die in der Welt wirksam
sind, in begrifflicher Form gegenwärtig. Was in Welt und Leben
als wirksames Gesetz waltet, bringen wir uns zum Bewußtsein. Alle
diese Ideen — und unsere Gedanken haben eine Uridee zu ihrem
Mittelpunkte, die in sich alle befaßt: das ist das Absolute. Auch dieses
Absolute bringen wir uns zum Bewußtsein.
Der Charakter aller Ideen ihrer Wirksamkeit nach in der Welt
und in ihrer begrifflichen Form in unserem Bewußtsein ist ein allge-
meiner gegenüber den zahllosen, zufälligen, mannigfaltigen Einzel-
heiten. Man kann deshalb schlechtweg von dem Allgemeinen als dem
wahrhaft Seienden in den Dingen reden. Und die vielen Allge-
meinen, die vielen Ideen sind dann konzentriert in dem absolut
Allgemeinen.
Nun ist damit, daß wir das Allgemeine und das absolut Allge-
meine uns denkend zum Bewußtsein bringen, nicht bloß für uns
etwas geschehen, daß eben wir uns etwas zum Bewußtsein bringen,
sondern zugleich ein Bewußtwerden des Allgemeinen von
sich, ein Zum-Bewußtsein-Gelangen des Allgemeinen in unserem Be-
tsein. Wir verschaffen dem Allgemeinen ein Bewußtsein, indem
wir es uns bewußt machen.
Dem Allgemeinen gegenüber sind wir einzelne Bewußtseine und
teilen wir die Eigenschaft der Einzelheiten, vergänglich zu sein,
während das Allgemeine bei allem Wechsel der an ihm auftretenden
Einzelheiten sich erhält und fortdauert. Das Bewußtsein, das wir
dem Allgemeinen, auch dem absolut Allgemeinen, verschaffen, bleibt
dem Allgemeinen gleichsam imprägniert, auch wenn wir Einzel-
bewußtseine verschwinden. Gliedweise wecken wir sozusagen das
Allgemeine auf, bringen es zum Bewußtsein — und der historische
Menschheitsprozeß ıst ein Bewußtwerden des Allgemeinen und
Absoluten.
Man könnte im Sinne Michelets etwa sagen, daß die Menschen
in ihren denkenden Bewußtseinen die Gedankensphäre mit Bewußt-
sein gleichsam imprägnieren, daß im Grunde die einzelnen Menschen
nur Organe des absoluten Geistes sind und als solche wieder zugrunde
gehen. Das Absolute inkarniert sich in den vielen Einzelnen, zieht
sich aus ihnen zurück und überläßt sie der Vernichtung, nachdem sie
ihren allgemeinen Zweck erfüllt haben.
Ganz anders ist die Anschauungsweise Cieszkowskis: die vielen
einzelnen realen Menschen-Iche imprägnieren sich mit den Früchten
ihrer Arbeit an der Sinneswelt und an den Gedanken. Sie inkar-
nieren sich in vielen Leben nacheinander, bis die aus den früheren
Leben herübergeretteten geistigen Bestimmungen sich in einem neuen
Leben wiedererkennen, bis in einer der Umgestaltungen des Geistes
65
sein Wille alle Resultate der früheren Stufen gezogen und die Seele
aus ihrem Leibe immer ätherischere, seelenhaftere Keime entfaltet
und ihn zuletzt vollständig durchdrungen und verklärt hat, damit
aber die Seelenwanderung fortfallen kann. („Die Zukunft der
Menschheit und die Unsterblichkeit der Seele.. S. 132/133).
In Michelet lebte unzweifelhaft ein Nachklang der Lehre des
Averroés von der für alle Menschen gemeinsamen Gedankensphäre,
in Cieszkowski der fortgebildete Thomismus, der ja einst heftig die
Lehre des Averroés bekämpft hatte. Und gerade die Leugnung des
geistigen Ichs, die für Michelet so charakteristisch ist, weil sie
wurzelt in seiner Auffassung von dem in den Menschen hinein- und
hinausflutenden allgemeinen Denkleben, erweist ihn als zugehörig
zur älteren Weltanschauungsströmung, die noch nicht mit dem
modernen Individualismus zu rechnen hatte. Cieszkowski dagegen
legte den Hauptwert auf eine tätige Erkenntnis aus dem
Ich heraus, auf das Selbsttun des Geistes und berücksichtigte
so von den ersten Anfängen seiner philosophischen Entwicklung ab
das Auftreten der modernen Individualität.
Er fühlte sich durchaus — und mit vollem Rechte — als Vor-
läufer der Epoche der Menschheit, in der die tätigen Einzelindividuen
durch ihr geistiges Streben die ihnen überlieferten Elemente der Welt-
anschauung und der Kultur auf eine höhere Stufe ihrer Entwicklung
bringen und ein Zeitalter wahren Geisteslebens und wirklich sozialer
I ısticutionen begründen werden.
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MISCELLEN
KSAVER SANDOR GJALSKI
Von J. Mati, Graz.
Ksaver Sandor Gjalski, povodom njegove sedamdesetogodisnjice.
Brastvo XXVII, 34. Knj, Beograd 1927.
1927 vollendete der bedeutendste kroatishe Romanschriftsteller des
19. Jahrhs., Gjalski, sein 70. Lebensjahr. Von den bei dieser Gelegenheit er-
schienenen Festartikeln, Aufsätzen u. Studien verdienen zwei besonderes literar-
historisches Interesse: die oben genannte Studie von A. Barac u. eine Studie des
jungen Agramer Kritikers Ivan Nevistié; Ksaver Sandor Gjalski,
Zagreb 1928, 96 S. Der Wert der Studie von Nevistié wird allerdings durch die
einseitige Einstellung — Nevistic sieht in Gjalski wesentlich nur den feudalen
laudator temporis acti — und eine gewisse Animosität stark beeinträchtigt; dagegen
ist die Studie von Barac als eine grundlegende u. weit ausgreifende vergleichende
Würdigung des literarischen Schaffens des Dichters zu werten. Barac, der bereits
durch seine Senoa-Monographie, ferner durch seine Studien über Harambasié,
Lj. Wiesner (vgl. meine seinerzeitigen Berichte in der Zeitschriftenschau in diesen
Jahrbüchern), ferner durch seine neuen Studien über Vjenceslav Novak
(Savremenik 1928), über Fran Mažuranić (Srpski Književni Glasnik, N.S. XXIV.
S. 114 ff.) u. seine Synthese in der Narodna enciklopedija sich als einer der besten
Kenner und methodisch fortschrittlicheren Literarhistoriker der kroatischen
Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts legitimiert hat, zeichnet in dieser Studie
das Leben und Schaffen, die geistige und literarische Physiognomie des Dichters,
den Stoff und Ideengehalt seiner Werke, seine Stellung und Bedeutung in der
kroatischen Literatur und im kroatischen Geistesleben, ohne dabei auf den all-
gemeinen kultur-, national- und ideengeschichtlichen Hintergrund zu vergessen. —
Allgemeines: In bezug auf nationale Konzeptionen bewegte sich das Leben in
Kroatien im 19. Jahrh. zwischen einem engherzigen Kroatentum, welches nur das
kajkavische Kroatien im Auge hatte, und einem weiten Gefühl für alle Südslaven.
In der Mitte zwischen diesen beiden entgegengesetzten nationalen Konzeptionen
steht die großkroatische Idee Starčević’, die in ihrem Kern eine jugoslavische
Konzeption war. Ausgenommen den Anfang des 19. Jahrhs. entwickelte sich das
nationale Leben Kroatiens im Zeichen der nationalen Einheit der Kroaten und
Serben (illyrische Bewegung, das jugoslavische Programm Stroßmayers u. Ratkıs
in den 60er und 70 er Jahren). In den 70 er und 80 er Jahren ändern sich die
nationalen Konzeptionen im Sinne eines exklusiven Großkroatentums (A. Starčević
u. das pravaötvo — Rechtspartei); die jugoslavisch Orientierten treten in den
Hintergrund, das kulturelle und politische Leben entwickelte sich im Zeichen des
Kampfes zwischen dem Kroatentum u. dem Serbentum, insbesondere im Zeichen
des Kampfes gegen die Träger der illyrischen und jugoslavischen Ideologie. In
dieser Richtung entwickelte sich das nationale Leben auch zu Beginn des 20. Jahr-
bunderts, nur daß jetzt parallel mit der Tätigkeit der kroatisch-serbischen Koalition
immer stärker die Tendenz nach nationaler Einheit der Serbokroaten, besonders
in der jungen Generation, zum Ausdruck kommt. Die soziale Struktur Kroatiens
67
machte im 19. Jahrhundert eine tiefgreifende Umwandlung durch. Durch die
Bauernbefreiung ie) und durch die immer größere Demokratisierung des öffent-
lichen Lebens erhielten die Adeligen, der bisher privilegierte Stand, den Todes-
stoß. Sie verloren die unentgeltlichen Arbeitskräfte, verstanden sich nicht auf die
Verwaltung ihrer Güter u. deren Ukonomisierung in den neuen Verhältnissen,
setzten trotzdem die bisherigen luxuriösen Lebensgewohnheiten fort, stürzten sich
dabei immer mehr bei Banken und Wucherern ın Schulden u. gingen so zugrunde.
Auch die Bauern hatten durch die Bauernbefreiung nicht das bekommen, was sic
erwartet hatten. Ungewohnt an ein selbständiges Wirtschaften verfielen sie in
Streitigkeiten untereinander, ihre Grundbesitze wurden immer mehr zerstückelt
u. sie kamen in Schulden. Aus diesen sozialen Umwälzungen ging gestärkt nur das
Bürgertum hervor, welches jedoch von allen Ständen den nationalen Bedürfnissen
und Problemen am fernsten stand (— ich halte zwar diese Behauptung von Barac
in dieser allgemeinen Form nicht für richtig —), u. seine alten deutschen und
jüdischen Traditionen fortsetzte. Mit Rücksicht auf alle diese Erscheinungen bietet
das kroatische Leben des 19. Jahrh. in seiner inneren psychologischen Struktur ein
außerordentliches reichhaltiges und buntes Bild. In diesem Wechsel politischer
Systeme u. gesellschaftlicher Einrichtungen kam es auch zum Wechsel u. Umbruch
der Charaktere, zum Gesinnungswechsel dem System zuliebe, zur Korrumpierung
usw. In diesem Kampf zwischen den Konservativen u. den neuen Kräften spielten
sich tragische Konflikte zwischen dem Festhalten an der Schönheit der Vergangen-
heit u. dem Geiste der neuen Zeit ab. Das feudale Kroatien hatte einen be-
deutenden kulturellen u. ästhetischen Wert repräsentiert, welcher nach der Bauern-
befreiung vollständig zugrunde ging, ohne sich dafür in der neuen kleinen
Bourgeoisie ein Aquivalent gefunden hätte. Die politischen Kämpfe waren in
Kroatien infolge der so verschiedenen Tendenzen sehr scharf, wurden gewöhnlich
aus der Sphäre der prinzipiellen Gegensätzlichkeit in die Sphäre der persönlichen
Feindschaft u. des persönlichen Kampfes bis aufs Messer getragen. In diesem
Kampfe konnte es vorkommen, daß die radikalsten Träger einer Ideologie aus
Haß gegen den politischen Gegner bewußt oder unbewußt Helfershelfer des
fremden Regimes wurden. Dieses ganz bunte und verschiedenartige Leben, inter-
essant für den Psychologen, Kulturhistoriker und Romanschriftsteller, wurde in
der kroatischen Literatur verhältnismäßig wenig bearbeitet und dargestellt. Die
ganze Literatur des Illyrismus erschöpfte sich in großen nationalen Phrasen und
naiver Erotik. Die Literatur zur Zeit des Absolutismus durfte zich nicht offen
mit den Zeitproblemen beschäftigen, so daß erst die Literatur der 60 er und 70 er
Jahre etwas tiefer in das Leben der Gegenwart einzudringen anfängt. Diese Hin-
wendung zu den realen Problemen des nationalen, kulturellen und sozialen Lebens
vollführte August Sen oa. Dieser warf in einer Reihe von Romanen aus der
Vergangenheit u. Novellen aus dem gegenwärtigen bürgerlichen Leben eine Reihe
nationaler u. soziale Probleme SE die Versuche der Germanisierung un
Magyarisierung, den nationalen Widerstand dagegen, den Verfall des Adels, die
Korruption der Behörden, das Kulturproblem des Bauerntums, die Erhebung des
Kleinbürgertums, die Charakterlosigkeit der eigenen Leute in der Politik, das sinn-
lose Nachäffen fremder Vorbilder. Durch diese charakteristischen literarischen
Eigenschaften steht Senoa an der Grenze zwischen Romantik und Realismus, seine
realistisch konzipierten Romane hüllte er in einen romantischen Schleier. Erst ın
den 80 er und 90 er Jahren, in der sogenannten Periode des kroatischen Realismus,
setzten sich in der Literatur die Tendenzen Senoas voll durch. In den 80 er und
90 er Jahren tauchen eine Reihe Schriftsteller auf, die in zahlreichen Werken die
allseitige Darstellung des sozialen, politischen und kulturellen Lebens Kroatiens
versuchten: Vjenceslav Novak, Eugen Kumilıd, Josip
Kozarac, Janko Leskovar, Antun Kovačić. Der fruchtbarste
Schriftsteller dieser Epoche, der die meisten aktuellen Probleme des sozialen,
kulturellen, politishen und individuellen Lebens der Zeit berührte, war Ksaver
Šandor Gjalski. Barac gibt nun eine kurze biographische Übersicht und eine
Aufzählung der Werke Gialskis (ein Großteil erschien in der Zeitschrift Vijenac
ab Jahrgang 1884, in den Ausgaben der Matica Hrvatska 1884—1906, 1924, einige
in den Ausgaben des Društvo hrvatskih književnika 1906, die gesammelten Werke
begannen 1913 zu erscheinen; einzelne kleinere Arbeiten erschienen in verschiedenen
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anderen Zeitschriften). Neben der literarischen Originalproduktion trat Gjalski
auch in literarischen Kämpfen seiner Zeit aktiv hervor. Er stand zunächst bei
Beginn der literarischen Kämpfe zwischen der BEE Generation, den Vertretern
der sogenannten Moderne, u. den Alten, gegen n Kampf auf u. erklärte sich
als Gegner jeder literarischen Schule und für den nationalen Charakter der
Literatur. Im weiteren Verlauf dieser Kämpfe wurde er jedoch selbst hinein-
gezogen, von den Jungen als Repräsentant ihrer Richtung reklamiert, schrieb
ideologische Aufsätze im Sinne u. in den Organen der Modernisten u. war 1908
bis 1918 Vorsitzender der Vereinigung derselben, des Društvo hrvatskih
književnika. Seiner sozialen Herkunft u. Anschauung nach ist Gjalski ein Glied
einer Familie mit Herrentradition, mit Feudaltradition, die ein verhältnismäßig
hohes Kulturniveau repräsentierte. Seiner nationalen Konzeption nach ist er
als Sohn eines Vaters, der aktiv in der illyrischen Bewegung mitbeteiligt war, er-
zogen in den slavischen und jugoslavischen Ideen. Während er in seinen Mittel-
schuljahren unter dem Einfl er damals um sich greifenden Startevilschen groß-
kroatischen Ideologie sich zum Anhänger der exklusiv kroatischen Idee entwickelt
hatte, kehrte er später wieder zu den Ideengingen des Illyrismus zurück u. seine
weitere Arbeit entwickelte sich im Sinne der jugoslavischen Idee Stroßmayerscher
Prãgung. In diese Richtung fällt auch seine öffentliche politische Tätigkeit auf
Seite der kroatisch- serbischen Koalition zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach
der Einigung u. Staatsgründung kehrte er, abgestoßen und im Innern beleidigt
durch die Zustände im neuen Staate, wieder ostentativ zu der exklusiv kroatischen
Einstellung zurück u. seine Werke aus dieser Zeit (Roman: Pronevjereni ideali,
5 Dolazak Hrvata) geben Zeugnis von dieser Verbitterung. Gjalski,
das Produkt eines Milieus mit herrschaftlichen Traditionen, mußte naturgemäß
von früh auf Sympathien für diese Tradition, für die Schönheit des Herrentums
und eine Aversion gegen die Gemeinheit und Niedrigkeit des Lebens, einsaugen.
Anderseits war sein Intellekt genügend lebendig u. seine Bildung entsprechend weit,
daß er auch das Unzeitgemäße des Feudalismus u. die Ungerechtigkeit der
privilegierten Position einsehen mußte. Und so begeisterte er sich vorübergehend
auch für sozialistische und kommunistische Ideen. Aus diesen Momenten heraus
kam es bei ihm zu einem Zusammenstoß, zu einem Konflikt zwischen Gefühl und
Intellekt, die angeborenen u. anerzogenen Gefühle fesselten ihn an ein Milieu,
sein Verstand führte ihn anderswohin. Diesen gleichen Konflikt zeigen alle seine
nationalen Anschauungen: Die vernünftige Überlegung führte ihn zur jugo-
slavischen Ideologie, doch das Gefühl band ihn an die Tradition des Kroatentums.
In der Literatur trat Gjalski in einer Zeit ein, als Senoa theoretisch bereits den
Realismus begonnen hatte, ihn jedoch nicht in allen Konsequenzen durchgeführt
hatte. Gjalski tritt als der erste ausgesprochene Realist hervor. Als seine literari-
schen Vorbilder betrachtet er Turgenjev, Tolstoj, Balzac, Dostojevski. Er selbst
ichnet als sein wichtiges literarisches Prinzip die realistische Darstellung des
nationalen Lebens und seiner Erscheinungen. Er verfolgte mit seinen literarischen
Arbeiten folgende Tendenz: Das bellerristishe Buch hat dem menschlichen Ge-
danken und dem menschlichen Gefühle zu dienen u. der menschlichen Entwicklung
in der Hebung dieses Gedankens und Veredelung dieses Gefühles zu helfen und
vor allem der Wahrheit zum Siege zu helfen. Er ist ein Gegner jedes ästhetischen
Dogmatismus. Mit diesen Lebenserfahrungen und diesen literarischen An-
schauungen brachte Gj. in seinen literarischen Schöpfungen einen Großteil des
sozialen, politischen und intellektuellen Kroatiens des 19. Jhs. in seinen Haupt-
phasen zur Darstellung.
Gj. erfaßt in seinen Werken vor allem drei große Gebiete: 1. die soziale
Umwälzung, die in Kroatien nach der Aufhebung der Leibeigenschaft eintrat,
2. die kulturelle, politische u. soziale Entwicklung Kroatiens im Laufe des 19. Jhs.,
8. die Probleme des intimsten menschlichen Innenlebens, den Sinn des mensch-
lichen Lebens überhaupt. Barac wendet sich mit Recht gegen die bisher bei den
Literarhistorikern u. Kritikern übliche Einteilung der Werke des Dichters mit dem
Hinweis darauf, daß in der inneren Struktur der Personen in allen Werken Gj.s
ohne Unterschied des Stoffes u. der Tendenz eine große Verwandtschaft herrsche.
Als Dichter des kroatischen Zagoriens stellte Gj. in einem Großteil seiner Werke
jenen sozialen Prozeß dar, der in Kroatien nach der Bauernbefreiung entstand:
69
den Verfall des kroatischen Adels, seine Unfähigkeit, sich den neuen Verhältnissen
anzupassen, den Zustrom der Fremden, den Verfall u. die Verschuldung der
heimischen Wirtschaften. Der kroatische Adel war einerseits durchtränkt von den
Traditionen der Superioritit und des Herrentums, anderseits sicherte ihm seine
privilegierte Lage die ay ee des Kontaktes mit den kulturellen Errungen-
schaften des Westens. das führte dazu, daß der kroatische Adel bei der
kulturellen und wirtschaftlichen Rückständigkeit des größten Teiles der Be-
völkerung eine gewisse Elite sowohl in den äußeren Manieren, in seinen Be-
ziehungen, wie auch in seinem geistigen Leben, repräsentierte. Gj. sah diese
Feudalen in der Zeit ihres Verfalles, als die Erinnerung an die Vergangenheit noch
zu stark waren, als daß sie sich den neuen Verhältnissen, dem Wirtschaften
ohne unbezahlte Arbeitskräfte, hätten anpassen können; in einer Zeit, als das
Gefühl des Herrentums in ihnen noch zu tief eingewurzelt war, als daß sie in
ihrer schweren materiellen Lage den bisherigen Lebensgewohnheiten entsagen und
ihre Not hätten eingestehen können.
So gingen sie zugrunde, einer nach dem andern, langsam und sicher, ohne
sich helfen zu können u. ohne das, was um sie herum vorging, zu verstehen, u. sie
mußten mit Schmerz sehen, wie ihre eigenen Kinder aus Not und Armut das
Bewußtsein ihrer Stellung verloren und sich mit gesellschaftlich Minderwertigen
mischten. Doch alle repräsentierten in ihren Persönlichkeiten und ihren Gewohn-
heiten ein Leben, in dem eine große Dosis tragischer Größe steckte. Alle diese
zagorianischen Herrenhäuser waren voll von Erinnerungen an die Tage einstiger
Größe und Herrschaft. Diese Erinnerungen, die noch in den Gegenständen und
Leuten lebten, bilden den Kern der zagorianischen Novellistik Gj.s. Gj. ist nicht
ein gewöhnlicher laudator temporis acti, er ist in seinen zagorianischen Motiven
in erster Linie der Dichter jenes Lebens, der Dichter der zagorianischen Herren-
häuser, des Herrenlebens u. seiner hedonistischen Lebensauffassung. Er gestaltete
das Leben dieser Menschen, denen Tage und Jahre vorübergingen zwischen Trink-
sprüchen, Tanzunterhaltungen, Kurmachereien, lang dauernden Gelagen, die jedoch
gleichzeitig Repräsentanten des konservativen Kroatiens waren, das stolz und hart-
näckig an seiner Konstitution festhielt. Gj. ist der Dichter der zagorianischen
Landschaft, der Idylle des häuslichen Herdes, der zagorianischen Hügel, der
romantischen Liebschaften und Tragödien, die sich in dieser von Vergangenheit
durchsättigten Umgebung abspielten. Diese zagorianischen Adeligen konnten i
hörigen Bauern gegenüber kleine Tyrannen sein, doch gleichzeitig gab es unter
ihnen Anhänger Voltaires, der französischen Enzyklopädisten und der französi-
schen Revolution. Doch auch die Bauern wußten sich nach ihrer Befreiung von
der Adelsherrschaft in der ncuen Ordnung vielfach nicht zu helfen, da sie eben-
sowenig wie der Adelige darauf vorbereitet waren, u. gingen vielfach zugrunde.
Als Dichter dieser Verfallserscheinungen bringt Gjalski selten seine persönliche
Meinung zum Ausdruck, der Dichter in ihm ist stärker als der Ideolog, die Poesie
stärker als die These. Die Lebensbeschäftigung in den Mannesjahren führte Gj.
in die Bürokratie u. brachte ihn in Verbindung mit den politischen Verhältnissen
Kroatiens. Damit erweitert sich seine Belletristik von den zagorianischen Motiven
zu allgemein nationalen Gesichtspunkten; seine Novellen und Romane werden
damit ein Dokument der kroatischen politischen und kulturellen Zustände des
ganzen 19. Jhs., vom Illyrısmus über den Bachschen Absolutismus bis zum Regime
des Banus Khuen Hedervary, und es kommt jetzt eine bestimmte politische u.
kulturelle Ideologie zum Ausdruck. In dieser Novellistik des politischen Lebens
Kroatiens unterscheiden sich scharf die historischen Romane Osvit, Za materinsku
riječ von den Romanen und Novellen aus dem gegenwärtigen Leben. In den ersten
beiden Romanen bringt der Dichter ein groß angelegtes Bild der illyrischen Be-
wegung u. der kroatischen Gesellschaft dieser Zeit in ihrem Verhältnis zu den
neuen Ideen der nationalen Wicdergeburt. Im Rahmen erdichteter Fabel gibt er
Idealportraits jener Leute, die die Grundlagen des modernen Kroatiens schufen
(Janko DraS’kovit, Ljudevit Gaj, Stanko Vraz u. al Parallel mit den „Illyriern“
zeichnet Gj. objektiv auch die Verteidiger magyarischer Tendenzen in Kroatien
u. die Verteidiger der alten kroatischen Konstitution, der lateinischen Sprache u.
der Privilegien des Adels. Gj. zeichnet ferner die einzelnen Regimes, die nach dem
Illyrismus in Kroatien kamen u. deren gemeinsames Prinzip darin bestand, eine
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möglichst verläßliche Bürokratie zu schaffen. Er schildert die Tragik der Leute,
die an eine Gerechtigkeit im Staate Usterreichs glaubten, die Tragödien der
Familien, deren Ernährer sich etwas freiheitlich gebärdeten u. deshalb den Kriechern
und Dienern des Regimes gegenüber zurückgesetzt wurden. (Zur einseitig un-
historischen, austrophoben Interpretation dieser Epoche, wie sie Barac gibt, möchte
ich kritisch bemerken, daß jede andere Regierung sich feindlich gegen jene
Elemente wendete, die gegen das herrschende System waren, im Interesse der Selbst-
erhaltung, u. daß es auch im heutigen S.H.S.-Staat seit 1918 nicht anders ist, wie,
um nur ein Beispiel zu erwähnen, die Behandlung der republikanischen u. „kom-
munistischen™ Intellektuellen beweist.) Gj. zeichnet ferner unverhüllt alle mög-
lichen Erscheinungen der Korruption, des Nepotismus, gibt anderseits aber auch
eine scharfe Analyse der nationalen Moral u. eine Anklage der nationalen Kreise.
In der Zeit, als Gj. am meisten literarisch schaffend tätig war, nahm die
Starte vicsche groß kroatische nationalpolitische Ideologie immer mehr überhand,
der sich fast die ganze junge Generation zuwendete. Durch die politische Kampfes -
weise des Führers Starčević drang in die politischen Debatten an Stelle des mehr
akademischen Tones der Anhänger der Stroßmayerschen Ideologie ein brutaler Ton
der persönlichen Beleidigung und Herabsetzung. Das politische Leben dieser
Epoche der 80 er Jahre, den phrasendrescherischen radikalen Patriotismus der
Universitätsjugend, der im schärfsten Gegensatz stand zu ihrer späteren Haltung
im Beruf und im Leben, schildert Gjalski in dem Roman U noći. Im ganzen ist
das politische Bild Kroatiens bei Gjalski schwarz gezeichnet. Doch auch das Bild
des kulturellen Kroatiens ist nicht viel lichter. Die kroatische Gesellschaft der 80 er
1 hat keinen Sinn u. kein Interesse für die höheren kulturellen Bedürfnisse,
ümmert sich nicht um die Literatur mit der Ausrede, daß nach noa keine
kroatische Literatur bestünde. Dem Menschen der kroatischen bürgerlichen Ge-
zellschaft imponierte nur das Fremde, während er auf die Leistungen der
nationalen Kultur mit Verachtung herabsah. Der kroatische Literat fand für seine
Arbeit nicht nur keine Anerkennung, sondern mußte noch mit heimtückischen
Angriffen auf Schritt und Tritt rechnen. Während das kulturelle und politische
Zentrum aus seichten Journalisten, charakterlosen Politikern, literarischen
Kandidaten und ambitidsen Bürokraten bestand, war die kroatische Provinz ein
gewaltiger Sumpf, in dem das Denunziantentum und Pamphlete herrschten u.
jeden vernichteten, der seine Umgebung überragte. (Kritisch wäre dazu zu be-
merken, daß die quantitativen und qualitativen kulturellen, wissenschaftlichen
Leistungen dieser Zeit eine Verallgemeinerung dieser pessimistischen Behauptungen
nicht rechtfertigen.)
Die gesamte Belletristik Gj.s hat bei aller Heterogenität des Stoffes dennoch
ein einheitliches Merkmal im intimen Bau der Gestalten: Die Hauptpersonen sind
nicht nur Protagonisten der Handlung und Träger einer Ideologie, sondern
gleichzeitig mehr oder minder Träger einer Tebensohilossphie und diese Lebens-
philosophie ist zum größten Teil eine pessimistische: Die Träger der Handlung
gehen zugrunde im Kampfe mit einer inferioren Umgebung, die Tüchtigen und
Gesunden gehen zugrunde u. die Dummen und Verdorbenen bleiben. Als primäres
Motiv tritt diese Auffassung im Roman anne Borislavié zum Vorschein. Au
die Analyse des Lebensproblems an sich führt bei Gj. zu einer pessimistischen
Lösung. Es gibt nichts, das den Menschen vollständig zufrieden stellen könnte.
Die Analyse der Liebe zeigt, daß der tierische Trieb ihre Grundlage ausmacht;
die Verserkung in die Wissenschaft zeigt, daß uns alle Wissenschaften zusammen
keine endgültigen Ausblicke gewähren. Um sich vor der Verzweiflung des Pessi-
mismus zu retten, sucht Gjalski die Verbindungen zwischen dem irdischen und dem
überirdischen Leben u. gelangt damit mit seinem Schaffen zu den Novellen okkul-
tistischen Inhalts.
Gj.s allgemein literarhistorische Bedeutung: Als Gj. in die kroatische Lite-
ratur eintrat, gab es keinen fruchtbareren u. ausgeprägteren Schriftsteller. 1889
war Senoa gestorben, der fruchtbarste unter den ee kroatischen Literaten,
der durch den künstlerischen Wert seiner Werke den literarischen Dilettantismus
unmöglich gemacht hatte, durch sein reiches und verschiedenartiges Schaffen das
literarische Publikum vergrößert u. dadurch die Aktualität seiner Ideen wie durch
dıe epischen Eigenschaften seiner Produkte seine Leser dauernd gefesselt hatte. Von
71
den kroatischen Realisten, die später zu Ansehen kamen, zeigte in dieser Zeit
nur Vjenceslav Novak in seinen Skizzen neue literarische Merkmale.
Das Auftreten Gj.s ist literarhistorisch wichtig wegen der Weite des Stoff-
umfanges seiner Belletristik, wegen der Aktualität der Ideen u. wegen des geistigen
Niveaus, das diese Belletristik in den 80 er u. 90 er Jahren des vorigen Jahrhunderts
veranschaulicht. Bis Šenoa erschöpfte sich die kroatische Novellistik in pseudo-
historischen Novellen, romantischen Liebesgeschichten u. Hajdukenmotiven. Senoa
brachte — mit Tomié — eine Erweiterung durch den historischen Roman, durch
die Novelle aus dem bürgerlichen u. dem feudalen Leben, blieb jedoch im wesent-
lichen ein Darsteller seiner bürgerlichen Gesellschaft. Gjalski bot schon als lite-
rarischer Anfänger dem kroatischen Publikum einen Einblick in das innere, intime
Leben der Adelsgesellschaft, ging dann auf den politischen, Kultur- und Gesell-
schaftsroman über, um damit gesamte kroatische Gegenwartsdasein aus der
Nähe des gewöhnlichen Alltags zu umfassen. Er schuf schließlich die ersten psycho-
logischen Romane u. Novellen. Noch größer ist Gj.s Bedeutung in bezug auf die
Aktualität seiner Werke. War schon Senoa in seiner Belletristik bestrebt, in
Verbindung mit den Tendenzen des kroatischen Gegenwartslebens zu sein — in
den historischen Romanen indirekt und eingekleidet —, so wagte es doch Gj. als
erster, die Erscheinungen u. Verhältnisse seiner Zeit gleichzeitig u. parallel mit
ihrem Auftreten literarisch zu gestalten (die Misere der kroatischen literarischen
Verhältnisse im: Radmilović, den Phrasenpatriotismus der Omladina in: U noći
usw.). Auch seine historischen Romane Osvit u. Za materinsku riječ waren
letzten Endes aus aktuellen Bedürfnissen entstanden. Einen bedeutenden Fort-
schritt gegenüber Šenoa bedeutet Gj.s Auffassung des historischen Romanes. Gi.s
Roman erschöpft sich nicht mehr in der Fabel mit bestimmter Tendenz, sondern
er wird — wie im Westen — ein universelles literarisches Spiegelbild der geistigen
Strömungen u. der Veränderung in der Struktur der Gesellschaft seiner Zeit. Gj
war der gebildetste Erzähler seiner Zeit u. brachte sich in seinen Werken ganz mit
seinem geistigen u. emotionalen Lebensgehalt zum Ausdruck. Er besaß unter
allen kroatischen Realisten eine verhältnismäßig hohe Kultur, las deutsch, russisch,
italienisch u. französisch, verfolgte neben der Belletristik auch die philosophische
u. naturwissenschaftliche Literatur. Eine weitere Bedeutung der Bellerristik Gj.s
liegt darin, daß Gj. in einer Zeit, als die freie publizistische, Gleiser
Meinungsäußerung sowie die politische Freiheit unterbunden war, offener u. frei-
mütiger als irgendein anderer Erzähler das kroatische Milieu, die Gesellschaft u.
das Regime mit all den Schatterseiten zeichnete. Gj. war einige Jahre nach seinem
literarischen Auftreten der populärste kroatische Erzähler. Die bedeutendsten
Literaturkritiker der 80 er Jahre — M. Srepel u. J. Cuka — brachten ihm größtes
Interesse u. auch frühzeitig vollste Anerkennung entgegen. T. Grabowski widmete
ihm einige Zeit später ein eigenes Buch (Współczesna Chorwacya 1906). Eine
Reihe seiner Arbeiten wurden in verschiedene slavische u. westeuropäische Sprachen
übersetzt. Die junge Modernistengeneration, die zu Beginn des 20. Jhs. auftrat,
feierte Gj. als einen der ihren, weil er spezifisch künstlerische Maßstäbe u. euro-
päische Gesichtspunkte in die Literatur hineintrug. Im Lauf des ersten Dezenniums
unseres Jhs. ging das unmittelbare Interesse an Gj. etwas zurück. —
Das Neue im literarischen Schaffen Gj.s besteht darin, daß er bestrebt war,
möglichst viel Leute aus dem Alltagsleben zu gestalten, u. daß er seine Werke mit
den aktuellen Ideen seiner Zeit durchtränkte; daß er Schluß machte mit den bisher
üblichen erklügelten u. erdichteten Fabeln, daß er das ihn umgebende Leben be-
trachtete u. beobachtete u. das nationale Leben u. seine Poesie darzustellen ver-
suchte. Der Realismus, wie ihn die kroatischen Schriftsteller der 80er Jahre
interpretierten, hat sehr verschiedenen Charakter. Gj.s Realismus erschöpft sich
in der Darstellung der realen Lebenstatsachen u. in der Betonung der aktuellen
Probleme des nationalen Lebens. In der Kombination dieser realen Tatsachen,
im Bau der Fabel, überwiegt jedoch die intime, die Gefühlsseite über die konsequent
realistische Auffassung des Lebens. Er feiert die Schönheit der Vergangenheit im
Verhältnis zur Häßlıchkeit der Gegenwart. Die Tragik eines Großteiles seiner
Personen liegt in der Disharmonie zwischen der idealen u. schönen Welt der Vor-
stellung u. der Welt der Wirklichkeit. Seine ganze zagorianische Novellistik ist
im wesentlichen eine Glorifikation der alten Zeit. Ein eigentlicher Bazarov-Typ,
12
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der Träger einer rationalistischen u. realistischen Weltanschauung (David Hermann
in: Na rodjenoj grudi) erscheint als antipathische Karikatur. Sein sozialer
Exklusivismus macht sich — ebenso wie in vielen Werken des soeben (80. August
1929) verstorbenen ragusäischen Dramatikers Ivo Vojnovié — in seinen
literarischen Werken sehr bemerkbar, ebenso wie die aus seinem Lebensmilieu
erwachsene Neigung zur schönen Phrase u. Geste. Trotz seiner Beamtenkarrierc
blieben seine Interessen u. sein Arbeitsgebiet im feudalen Kreise. Die Personen, die
in seinen Werken das nationale Leben repräsentieren, sind vorwiegend Adelige
(daneben Beamte) oder Nachkommen heruntergekommener Adelsfamilien, ihre
cise ist wesentlich die des Adels. Seine Männergestalten sind vorwiegend
Salonlöwen, seine Frauen sprechen von ihren Zusammenkünften mit Komtessen u.
Gräfinnen. Sein Realismus ist auf der Höhe, wenn er ein Adels- oder Patrizier-
haus u. das Leben in ihm beschreibt. Er verfällt jedoch in Pathos u. wird unwahr,
wenn er Menschen oder Gegenstände beschreibt, die ihm unsympathisch sind.
Seine Frauen sind außerordentliche Schönheiten — oder Karikaturen. Ganz reale
Männer und Frauen sind bei ihm selten.
Das Innenleben der Haupthelden Gj.s besteht aus vielen großen Ambitionen,
großer Empfindlichkeit u. Willensschwäche. Sie fühlen sich unglücklich, weil sie
von ihrer Umgebung nicht verstanden werden. Diese Grundnote der Romane
Gj.s ist auch gleichzeitig eine persönliche Note des Autors. Ein Mann mit Manieren,
mit großer Bildung, mit Traditionen u. damit mit Aspirationen auf gesellschaftliche
Stellung mußte seın Leben in einer Zeit verbringen, in der Gewalt über Recht,
Dummköpfe u. gewöhnliche Kreaturen über die Intelligenten u. Vornehmen
herrschten. Dadurch wurde seine Seele empfindlih u. leicht verwundbar. Mit
dieser wesentlich lyrischen seelischen Disposition u. mangelhafter Aktivität war
er stärker in der Analyse als in der Ideologie. Im inneren Aufbau seiner Werke
sieht man häufig einen Bruch: Er wendet sich von der angefangenen These u.
läßt sich von der Fabel — zum Schaden der psychologischen Klarheit u. Glaub-
würdigkeit — auf einen neuen Weg verführen. Auch in seinen Helden sicht
man das mehr Iyrische, aber nicht kontemplative Temperament des Autors. In
sciner Weltanschauung liegt etwas Zerrissenes, eine Spaltung zwischen Gefühlen u.
Verstand, zwischen der Logik des ideellen u. der Logik des emotionalen Lebens.
Den größten Umfang nehmen die Liebesfabeln ein. Der Schönheit der Frauen
werden Hymnen gesungen. In der Schilderung herrscht auch bei Gj. wie bei Senoa
die Schwarz-Weiß-Technik, also von einem konsequenten Realismus noch keine
Rede. Der echte Gj. ist nur in den Motiven aus dem Leben des zagori-
anischen Adels zu finden. Hier ist er ein Dichter seiner Landschaft, ein Dichter
einer im Vergehen befindlichen Lebensform. Hier zeigt er sich als wirklicher
Künstler. Hier waltet eine Poesie ähnlich der zagorianischen Lyrik eines Dragutin
Domjanić und der Poesie der Dubrovacka trilogija von Ivo Vojnović. Kinen
Großteil der Werke schrieb Gj. nach eigenen Aussagen der Tendenz wegen, in
einer Zeit, als er als anerkannter u. routinierter Erzähler seine Meinung über
aktuelle Probleme des nationalen Lebens zum Ausdruck bringen wollte. Daher
finden sich in diesen Werken viel papierene Elemente, viel Konstruiertes, viel
psychologisch Unglaubwiirdiges, viel künstlerisch nicht voll Erlebtes und Aus-
gereiftes. Gj.s philosophische Erudition ging mehr in die Weite als in die Tiefe.
Daher zeigen die literarisch behandelten philosophischen u. wissenschaftlichen
Probleme mehr feuilletonistische Leichtigkeit als wissenschaftliche und künstlerische
Vertiefung. Bei alledem liegt Gj.s große literarische Bedeutung — durch den
großen Motivenreichtum, durch die Aktualität und Kühnheit seiner Ideen u. durch
die philosophische Fundierung seines Schaffens — in der Tatsache, daß er nach
oa am meisten Elemente des kroatischen nationalen (politischen u. geistigen)
Lebens in seinen Verken konzentrierte. Durch seine relativ weite philosophische
Bildung wurde Gj. geistesgeschichtlich auch insoweit von Bedeutung, als erst durch
seine Werke eine Reihe moderner philosophischer Ideenginge — Schopenhauersche,
ferner die darwinistischen positivistisch- naturwis senschaftlichen, okkultistischen An-
schauungen u. Denkweisen — in die weitere kroatische Offentlichkeit eindrangen.
Die Beobachtungsgabe des Dichters ist verhältnismäßig einseitig; es überwiegen
gleiche Typen in verschiedenen Variationen. Stil u. Komposition: Der Stil ist in
den meisten Erzählungen ohne besondere persönliche Note, nicht voll durchgebildet.
18
In der Wortwahl sind ihm nur die Vorstellungsinhalte wichtig, auf den
emotionalen Gehalt wird nicht viel Gewicht gelegt. Attribute u. Epitheta werden
nicht individualisierend gewählt. Unter den kroatischen Realisten haben Kozarac,
Leskovar u. Novak einen viel mehr ausgeprägten Stil. In einem großen Teile seiner
Werke kämpfen der Denker, Erzähler u. der Ideolog mit dem Künstler, häufig
zum Nachteil des Künstlers. Die Quantität des Erlebnisgehaltes ist bei manchen
Erzählungen gering. Gegenüber den vielfach konstruierten, im Stil unpersönlichen
Romanen erweist er sich dort, wo er aus vollem Innenleben schöpft, als vorzüg-
licher Kompositor. Mit der patriotischen Tendenz in seinen Werken wurden ın
Kroatien einige Generationen der Jugend ım Geiste des nationalen Widerstandes,
im Streben nach Charakterhaftigkeit u. im Streben nach Europa, europäischer
Geisteshaltung erzogen. Gj. bedeutet in der kroatischen Literatur u. im kroati-
schen nationalen Leben ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den romantisch-
nationalen Stimmungen u. Bestrebungen Kroatiens der 60 er u. 70 er Jahre u. dem
modernen Leben. Als Künstler gehört er nicht in die Reihe der größten jugo-
slavischen Dichter — Njegoš, Kranjčević, Bor. Stanković, Ivan Cankar — kommt
aber gleich nach ihnen in der Reihe derer, die wichtige Abschnitte der jugoslavischen
literarischen u. allgemein nationalen Vergangenheit charakterisieren (Preradovié,
Lazarević, Šenoa).
BULGARISCHE HISTORISCHE BIBLIOTHEK
(Blgarska istoričeska biblioteka. Redaktori prof. Dr. V. N. Zlatarski,
prof. Dr. P. Nikov. Urednik-Stopanin Strašimir Slavčev, Sofija 1928.)
Von Josef Matl.
Der Plan zur Herausgabe dieser Historischen Bibliothek ist dem schon zu
Beginn der bulgarishen Wiedergeburt erwachten und lebendig gewordenen, die
nationalkulturelle Wiedergeburt und Aufbauarbeit gestaltenden Bewußtsein ent-
sprungen, daß die eingehende Kenntnis der kulturellen und politischen geschicht-
lichen Leistung des eigenen Volkes in der Vergangenheit und die damit geweckte
Tradition eine Existenz- und Kraftgrundlage des nationalen Lebens, Seins,
Schaffens für die Gegenwart und Zukunft bedeute. Eine Wandlung ist auch hier
bei den kleinen slavischen Völkern — wenn auch nicht in dem Ausmaße, wic bei
den älteren, reiferen und dadurch kritischeren und skeptischeren großen west-
europäischen Völkern — nur insoweit eingetreten, daß der im wesentlichen aus
dem romantischen Organismusgedanken entstandene Historizismus durch die er-
nüchternden kritisch-positivistischen, empirischen, evolutionistischen Strömungen
in der Wissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den illusions-
reichen Höhen naiv-romantischer Idealisierung herabgestiegen und sich zu einer
auf kritische Beurteilung der Quellen beruhenden nüchternen Betrachtung der
historischen Zusammenhänge und Tatsachen gewandelt hat. Wir in Westeuropa,
die wir heute schicksalsmäßig in einer vielleicht für Jahrhunderte entscheidungs-
vollen geistigen und politisch-sozialen Umstellungskrise darinnen stecken, sind in
letzter Zeit etwas kritisch geworden gegenüber dem Übergewicht des Historizismus
— ich denke hier vor allem an die in der deutschen und französischen Offentlich-
keit zu hörende Losung: Los vom Historizismus — aus dem Bewußtsein und
Gefühl heraus, daß uns die seit über 100 Jahren gepredigte Rückschau in das Ver-
gangene in ihren Auswirkungen zu einer Last zu werden beginnt, die Handlungs-
und Urteilsfreiheit gegenüber den Aufgaben der Gegenwart und Zukunft manch-
mal schon mehr beschwert als erleichtert. Dies nebenbei. Diese allgemeine
kritische Randbemerkung ist nicht als Vorwurf gegen diese vorzüglich redigierte
Bulgarische Historische Bibliothek gedacht, für deren Qualität uns die Namen der
hier vertretenen führenden bulgarischen Historiker und Fachleute gel vor
allem der Name V. N. Zlatarskis, der durch seine bisherigen grundlegenden
74
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Arbeiten zur bulgarischen Geschichte Proben seines wissenschaftlichen Kritizismus
und seines europäischen wissenschaftlichen Niveaus gegeben hat. —
Wie schwer sich in der südslavischen Geschichtswissenschaft aus den gegebenen
schwierigen Entwicklungsumständen auf dem Wege zum freien Volk und freien
Staat, aus der Tatsache, daß das primum est vivere, deinde philosophari und
damit das nationalpolitisch zweckbetonte Geschichtsforschen und Geschichts-
schreiben bis in die neueste Zeit dauerte, eine streng kritische Auffassung der
nationalen Geschichte durchsetzt, möge nur eines illustrieren: Man beobachte die
Genesis und Bedeutung der naiv-romantisch-nationalistischen Auffassung und These
vom „Erbfeind“, unter dem jeweilig der Türke, Germane oder Italiener verstanden
wird. Diese Auffassung, die in den weiten Kreisen der Intelligenz bis heute noch
nicht überwunden ist — die führenden kritischen Historiker wie L. Haupt-
mann, F. Silik, N. Radojtié, V. N. Zlatarskıu. a. sind ja darüber
hinaus —, ist zu einer Mentalität, Psychose geworden, die den Blick und den
Villen für eine kritische objektive Bewertung der historischen Zusammenhänge
und der geschichtlich durch die jeweiligen Kräfte verhältnisse gegebenen Macht- und
Abhängigkeitsrelationen trübt durch das Hineintragen von uld problemen und
angeblichen Haßtendenzen und für den gegenwärtig notwendigen Neuaufbau die
Atmosphäre vergiftet. Daher denn auch bis heute die Vorherrschaft der politi-
schen Geschichte, daher denn auch die gegenüber der polnischen, Cechischen und
russischen geschichtsforschenden Tätigkeit auffallende mangelhafte systematische
komparative Erforschung der rechts-, wirtschafts-, sozial-, kulturgeistesgeschicht-
lichen Entwicklung. Eine Wandlung zum Besseren ist erst in den letzten Jahren
zu bemerken. Ich verweise hier nur auf die Untersuchungen und programmati-
schen Arbeitspläne des Serben Dušan Popović (Belgrad), des Slovenen Cremoßnik
(Sarajevo), des Kroaten Matasovié (Skoplje), des Slovenen L Hauptmann u. a.
Immerhin wird es wohl noch eine Weile dauern, bis eine Geschichte der Süd-
slawen in der Art Kljulevskijs Geschichte des russischen Volkes wird geschrieben
werden können. Eine Reihe wertvoller Bausteine für eine derartige Geschichte
der Südslaven bringt die neue Bulgar. Historische Bibliothek. —
Der erste Jahrgang (godina prva) 1928 der neuen Blgarska Istorideska
Biblioteka enthält in 4 Bänden folgende Studien, teils in Form populär gehaltener
Dessen ung ohne wissenschaftlichen Apparat, teils (nur in wenigen Fällen) mit
pparat:
Bd. I (Tom prvi): Prof. Gavr. J. Kacarov gibt einen Abriß der Ge-
schichte und des Wesens des alten Thrakiens (Očerk na istorijata i bita na drevna
Trakija. God. I, T. I, S. 1—21). Prof. Bogd. Filo zeichnet die Geschichte
und die Bedeutung der römischen Herrschaft in Bulgarien (Rimskoto vladigestvo
v Bigarija. T. I, S. 22—48). Der Sprachforscher Prof. St. Mladenov unter-
sucht auf Ain Better erer Grundlage die Stellung der Bulgaren Asparuchs
in der Reihe des türkischen Zweiges der ario-altaischen Völker (Polozenieto na
Asparuhovité Blgari v reda na tjurskija klon ot ario-altajskité narodi. T. I,
S. 49—78) und bringt dabei einen kritischen Überblik über die bisherigen Thesen
der Herkunft und Zugehörigkeit der Bulgaren (hunnisch, türkisch usw.). Den
historischen Prozeß der Formierung des bulgarischen Volkstums — im Wege des
Zusammenfließens zweier ethnischer Elemente, des bulgarischen und des slavischen,
seit den 3 des 8. Jahrh. — schildert V. N. Zlatarski in der
außerordentlich interessanten und aufs chluß reichen, die politischen, rechtlichen,
sozialen und istigen Komponenten aufhellenden Studie (Obrazuvane na
bigarskata narodnost’. T. I, S. 74—112).
In die bedeutungsvollste und schicksalsschwerste Epoche der Balkangeschichte
führt uns Prof. P. Niko in dem Aufsatz, der die einzelnen Etappen der
Eroberung Bulgariens durch die Türken und das Schicksal der letzten Silmanen
behandelt. (Turskoto zavoevanie na Blgarija i sadbara na poslednit& Silmanovei.
T. I, S. 118—59). In die leider noch immer wenig bekannte und zu wenig ge-
würdigte Geschichte der Volkskunst der Balkanslaven, die übrigens vor kurzem
durch das epochale Werk des Wiener Kunsthistorikers Strzygowski über die alt-
kroatische Kunst (herausgegeben von der Matica Hrvatska) eine wertvolle Be-
reicherung erfuhr, leuchtet der Aufsatz des Prof. Kr. Mij ate v über die Kunst-
75
handwerke bei den alten Bulgaren hinein. Die im e beigegebenen
XVI Bildtafeln vermitteln die nötige Veranschaulichung (H eni zanajati
u starité Bilgari. T. I. S. 160—84). Den Unterschied zwischen der 55
schen und bulgarischen Renaissance er Wiedergeburt) zeigt aus gründlicher
Kenntnis der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte der 1928 zu früh dahin-
geraffte Prof. Iv. D. 8 iImanov in einem kurzen, aber inhaltsreichen Aufsatz
(Zapadnoevropejskoto i blgarskoto vzrakdanie. T. I, S. 185—98). Die Be-
E des Lebenswerkes des Neofit Hilendarski-Bozveli (1785—1848) in der
Geschichte der geistigen und nationalen Befreiung der Bulgaren beleuchtet die
gründliche Arbeit des berufenen Kenners Prof. M. Arnaudov (Neofit Hilen-
darski-Bozveli. T. I, S. 194—224). — Bd. II (Tom vtori). Auf Grund der Ergeb-
nisse der Ausgrabungen der letzten Zeit gibt uns Iv. Velkov ein Bild von
Pliska, der ersten bulgarischen Residenz, mit Bildern und SE
(Pliska — prvata blgarska stolica. T. II, S. 1—26). Der Wirtschaftshistoriker
Iv. Sakizov, dessen bulgarische Wirtschaftsgeschichte vor nicht langer Zeit im
Grundriß der slavischen Philologie erschienen ist, bringt zusammenfassend über-
sichtlich die ethnischen Verhältnisse und die soziale Schichtung im mittelalterlichen
Bulgarien zur Darstellung (Naselenie i vlast’ v srédnovékovna Bigarija. T. II.
S. 27—68). Die religiösen und politischen Ursachen der Kreuzzüge im allgemeinen
und den ersten Zug der Kreuzfahrer durch das Balkangebiet im einzelnen schildert
Prof. Sv. Georgiev (Prviat krstonosen pochod i blgarskitě zemi. T. II.
S. 60—117). Die Persönlichkeit und die politisch-militärische Tätigkeit des aus
der südslavischen epischen Volksdichtung gut bekannten „guten Helden“ aus dem
Rhodope Momčilo (Momäil Voevoda) zeigt uns im Licht der Geschichte V. N.
Zlatarski in seinem Aufsatz (Rodopskijat junak Momtil Voevoda. T. II,
S. 118—81). Einen wertvollen Einblick in die geistige Lage und die religiösen
Strömungen in Bulgarien im 14. Jh. vermittelt uns V. SL Kiselkov in einer
monographie Studie, die das Leben und Wirken und die Lehre Theodosius’ von
Trnovo, eines der bedeutendsten Repräsentanten der damaligen bulgarischen
Intelligenz, schildert (Kilifarskijat otielnik Teodosij. T. Il, S. 18264) Als
Fortsetzung der Lebens reibung des hl. Ivan von Rila, verfaßt vom Patriarchen
Euthymij, ist uns in der altbulgarischen Literatur eine Erzhlung von der Über-
tragung der Gebeine des hl. Ivan v. Rila aus Trnovo ins Rila-Kloster von Vladislav
dem Grammatiker erhalten, die ein getreues Bild der bulgarischen Verhältnisse in
der Mitte des 15. Jhs. gibt und in rein literarischer Hinsicht zu den interessantesten
Literaturdenkmälern jener Zeit gehört. Prof. P. Ni k o v gibt eine literatur- und
kulturgeschichtliche Einleitung zu dieser Erzählung und eine Übersetzung der-
selben ins Neubulgarische (Vladislav gramatik — Prenasjane moštitě na sv. Ivana
Rilski ot Trnovo v Rilskija monastir. T. II, S. 165—87).
Bd. III (Tom treti): In die Prähistorie der bulgarischen Gebiete führt uns
der allgemeine Oberblick über die Kultur en in der Vorgeschichte Bul-
on von R. Popov (Obst pregled na kulturnité epochi v predistorijata na
Igarija. T. III, S. 1—21). Einen Abriß der Religion der alten Thraker gibt
illustriert durch Bildtafeln Prof. D. Detlev (Olerk na religijata na drevnicé
traki. T. III, S. 22—55). Die kirchen- und gei ichtlich, wie auch politisch-
und sozialgeschichtlich bedeutungsvolle Bogomilenbewegung steht noch im Vorder-
rund des Interesses und ist Objekt verschiedener Deutungsversuche (ich verweise
ier auf die bulgarischen und serbokroatischen Arbeiten der letzten Jahre von
Ivanov, oev, V. Glušac, V. Klaić, Iv. Pilar). Prof. Iv. Sn&garov versucht
das Auftauchen, Wesen, die Glaubenslehre und die Bedeutung der Bogomilen-
bewegung vom kirchengeschichtlichen Standpunkt aus klarzulegen (Pojava, so$tnost’
i značenie na bogomilstvoto. T. III, S. 58-75). Die diplomatische Aktion des
Zaren Kalojan zur Annäherung an Rom schildert eingehend P. Nikov in dem
Aufsatz über die bulgarische Diplomatie seit Beginn des 18. Jahrhunderts (Blgarska
diplomacija ot nagaloto na XIII věk. T. III, S. 76—108) V. I Zlatarski
legt in dem Beitrag zur Geschichte und politischen Bedeutung der ersten bulgari-
schen Deputation nach Rußland (Atanas Nikolaev u. Ivan Atanasov Zambin
1864 in Petersburg) die Anfänge der bulgarisch-russischen politischen Beziehungen
im 19. Jh. klar (Prvitk „bulgarski deputati“ v Rusija. T. III, S. 109—190). In
76
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das gleiche Gebiet leuchtet die Studie des Prof. M. G. Poprukenko über die
Rolle Rußlands in der bulgarischen Wiedergeburt des 19. fhs. hinein sowie über
das Interesse russischer Kreise an den Bulgaren (Rusija i blgarskoto vzraZdane.
T. III, S. 180—147). In gewissem Sinne ergänzend zur vorigen Studie zeigt der
en A Gs audc si die Haltung der ete Ik Intelli 5 zu ege
i ildun rebungen im inn des 19. Jhs. sowie die eutung der
jechischen ee en Wiedergeburt für die bulgarische Kultur (Grcka i
Igarska prosvéta v načaloto na XIX. věk. T. III, S. 148—76). Einen weiteren
Beitrag zu den russisch-bulgarischen Beziehungen liefert J. Trifunovs Aufsatz
über den russischen Anteil in der bulgarischen Kirchenfrage (Rusko ulastie v
blgarskija crkoven vipros. T. III, S. 176—87). —
Bd. IV (Tom četvrti): Der 4. Band des ersten Jahrganges ist dem Zaren
Simeon und seiner Epoche anläßlich der Milleniumsfeier gewidmet. Er enthält
folgende Studien: V. N. Zlatarski zeichnet auf breiter Grundlage die politi-
sche Tätigkeit des Zaren Simeon (893—927) (Polititeskata dejnost’ na Car Simeona.
T. IV, 8—48). Einen sehr willkommenen sprachgeschichtlichen, zusammen-
fassenden Überblick über die Entwicklung der bel e Sprache von der Zeit
Simeons bis zur Gegenwart gibt uns der berufendste Kenner St. Mladenov
(Hiljado godini blgarski ezik—ot Car Simeona do dnes. T. IV, S. 49—78).
Was Zar Simeon und die durch ihn inaugurierte Litcratur und Kultur in der
Geschichte der kirchenslavischen und speziell bulgarischen Literaturgeschichte be-
deutet, legt eingehend M. Genov in einer Studie dar (Car Simeonovija vék v
literatura. T. IV, S. 79—121). Eine anschauliche geistes- und kultur ichtliche
Darstellung des geistigen Lebens und der Kultur (Bildung) bei den Bulgaren zur
Regierungszeit Simeons gibt J. Trifunov (Duchoven Zivot i prosvéta u.
Blgaritě v caruvaneto na Simeona. T. IV, S. 122—47). Das besondere Interesse
der Kunstgeschichtler verdient die durch Illustrationen veranschaulichte Arbeit
Prof. Kr. Mijatevs über die Kunst bei den Bulgaren im 9. und 10. Jh.
(Izkustvoto na Blgaritk prez IX i X v. T. IV, S. 148—79). Die als Quelle
wichtige Korrespondenz des bulgarischen Fürsten Simeon mit dem kaiserlichen
Delegierten Magister bringt V. N. Zlatarski in bulgarischer Übersetzung mit
erläuternden Erklärungen (Prepiskata na blgarskija knjaz Simeona s imperatorskija
delegat Lva Magistra. T. IV, S. 180—92). Diesen Simeon-Band eröffnet ein
Porträt des Zaren Simeon von Prof. Sim. Velkov, ferner im altkirchenslavischen
Text und neubulgarischer Übersetzung das Lobgedicht auf den Zaren Simeon, das
uns in einem Sbornik aus dem Jahre 1078 erhalten ist.*)
1) Den Inhalt jener Beiträge der Blgarska Istoriteska biblioteka, die von all-
emeinerem Interesse sind, werde ich gelegentlich in der Zeitschriftenschau aus-
ührlicher wiedergeben.
77
II
LITERATURBERICHTE
DIE MARXISTISCHE GESCHICHTS WISSENSCHAFT
IN DER SOVETUNION SEIT 1927
Von
Fritz Epstein (Hamburg).
1:
Chronik der Entwicklung.
Inhaltsübersicht.
Vorbemerkung.
Die Kommunistische Akademie. — Das Lenin-Institut (und Istpart). — Das
Marx-Engels-Institut.
M. N. Pokrovskijs 60. Geburtstag. — Der Kampf der marxistischen
Historiker gegen die Repräsentanten der „bürgerlichen“ Geschichtswissenschaft
D. M. PetruSevskij und E. V. Tarle. — Das Institut für Geschichte der RANION.
Die Konferenz der Osteuropa-Historiker in Warschau. — Die Russische
Historiker-Woche in Berlin. — Die russische marxistische Geschichtswissenschaft
und der VI. Internationale Historiker-Kongreß in Oslo. — Die I. Konferenz der
marxistischen Historiker der gesamten Sovetunion in Moskau.
Das Verhältnis der marxistischen Historiker zur Akademie der Wissen-
schaften der Sovetunion.
Die Begründung des Forschungsinstituts für Geschichte bei der Kommunisti-
schen Akademie.
Die marxistische Geschichtswissenschaft in der Ukraine.
Die Konferenz für den Unterriht in den marzistischen historischen
„ Disziplinen: „Geschichte der Kommunist. Partei“, „Leninismus“ und „Geschichte
der Kommunist. Internationale“.
Über zwei Jahre erstreckt sich das Erscheinen der zehn letzten
Hefte des „Istorik-Marxist“, der in der Sovetunion für das „marxi-
stisch-leninistische“ historische Denken maßgebenden Zeitschrift.“)
1) „Istorik-Marxist“. Žurnal obščestva istorikov-marxistov pri Kommunisti-
¢eskoj Akademii CIK SSSR (izd. Kommunist. Akademii; Moskva 19, Volchonka 14).
Heft 5 (1927) 802 S.; 6 (1927) 819 S.; 7 (1928) 810 S.; 8 (1928) 262 S.;
9 (1928) 250 S.; 10 (1928) 275 S.; 11 (1929) 278 S.; während der Korrektur wurden
einige Hinweise auf H. 12, 18 und 14 eingeschaltet, eine eingehende Berücsichti-
gung der drei Hefte für den vorliegenden Bericht war indessen nicht mehr möglich.
Die vier ersten Hefte des „Istorik-Marxist“ habe ich 1928 in diesen Jahrbüchern
(N.F. IV, 277—294) angezeigt.
Die in den Anmerkungen gebrauchten Abkürzungen sind: Izvestija =
Izvestija CIK Sojuza SSR i Vseross. CIK Sovetov Rab., Krestj. i Krasnoarm.
Deputatov (Moskauer Tageszeitung); Pravda — Organ Central’n. Komiteta 1
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Parolebuch des Generalstabs der marxistischen Geschichtsforschung,
der ,,Gesellschaft der marxistischen Historiker bei der Kommunisti-
schen Akademie“ in Moskau, weisen die neuen Hefte in unvermin-
derter Schärfe die beispiellose Eigenart auf, daß ein ausgesprochen
litisches Kampforgan die Geschichtswissenschaft im heutigen Ruß-
and repräsentiert. Die historische Forschung und der Geschichts-
unterricht sind bewußt in den Dienst der Politik, d. h. der herrschen-
den Partei, gestellt.) Die marxistische Geschichtsschreibung ist Aus-
druck der Parteipolitik; Streben nach Unparteilichkeit bedeutet Ab-
Moskovsk. Kom. V. X. P. (b.), Mosk. Tageszeitung; Vestnik Komakad. — Vestnik
Kommunistileskoj Akademii; Vochenbericht — Wochenbericht der Gesellschaft
für kulturelle Verbindung der Sowjetunion mit dem Auslande; Trudy I und
Trudy II = Trudy pervoj vsesojuznoj konferencii ıstorikov-marksistov Bd. I und
II (Mosk. 1880). — Verweisungen auf den „Istorik-Marxist“ erfolgen in der Regel
ohne Nennung der Zeitschrift, wobei die voranstehende Ziffer (1 bis 14) die Nr.
des zit. Heftes bezeichnet.
In meiner Übersicht bleibt die methodisch-didaktische Abteilung der Zeit-
schrift außer Betracht, die nicht unabhängig von der Stellung des historischen
Materialismus im System der marxistischen Wissenschaftslehre und nur in ihrem
Zusammenhang mit der Aufgabe der Geschichte im Rahmen der Soverpädagogik
richtig eingeschätzt werden kann. Ebenso sind Hinweise auf die sehr zahlreichen
Kußerungen zur nichtrussischen Geschichte fast völlig unterblieben, soweit für die
Erwähnung nicht besondere Gründe sprachen; auf einige Beiträge zur west-
europäischen Geschichte in den letzten Heften des „Istorik-Marxist“ habe ich in
der Histor. Zeitschrift Bd. 140 (1920), S. 196 und 692 hingewiesen.
Um das in der Zeitschrift „Istorik-Marxist“ aufgespeicherte bibliographische
Material zu erschließen, führe ich häufiger als in meinem ersten Bericht auch be-
merkenswerte Rezensionen an. Die Übersicht stützt sich in erster Linie auf die
mir durch das Osteuropäische Seminar der Hamburgischen Universität, das
Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv, das Hamburger „Institut für Auswärtige
Politik“ und das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt a. M.
zugänglichen Materialien.
2) Einige Offenherzigkeiten der Redaktion im Anschluß an eine Aus-
einandersetzung Pokrovskijs mit dem Akademiker E. V. Tarile über dessen
Werk „Westeuropa in der Epoche des Imperialismus“ (Evropa v epochu imperia-
lizma; s. unten S. 109) verdienen Beachtung, weil sie den Klassenkampfcharakter
des Organs, die Bestimmung der Zeitschrift, als „Kampfmittel der marxistischen
Historiker im Kampf mit feindlichen Ideologien“ (Minc 11, 277) zu dienen, in
ungewöhnlicher Schärfe betonen. Tarle hatte sich gegen die persönlich verletzende
Art gewandt, in der an seinem Werke Kritik geübt worden war, — daß in
Pokrovskijs Polemik gegen T. ein spöttischer Unterton mitschwingt, den man
als absichtlich kränkende Mißachtung der Überzeugung des Angegriffenen emp-
finder, ist nicht zu leugnen. Was die Redaktion Tarle erwiderte, ist bei aller
persönlichen Färbung durchaus von prinzipieller Bedeutung: „Des — ist der Ton,
ın dem wir immer mit unseren nfeinden uns auseinandersetzen werden.
Ob Sie zufällig oder absichtlich, mit oder ohne Willen unter deren Zahl geraten
sind, das ist eine Frage, die genau so müßig ist wie die Frage nach der moralischen
Verantwortung Wilhelms oder Greys für den Krieg. Wir können uns zu cinem
r uns so lebendi en Faktum, wie es der Imperialismus ist, nicht mit „aka-
demischer™ Leidenschaftslosigkeit verhalten. Europa in der Epoche des Im-
mus darf für Sie nicht ein Thema wie die ägäische Kultur sein. Mit unseren
feinden werden wir immer in dem gleichen Ton sprechen, wie mit ihnen
Marx und Engels, Plechanov und Lenin gesprochen haben. Wem dieser Ton nicht
beh der soll sich nicht in den kampf einmischen und es bleiben lassen,
den Standpunkt dieser oder jener Imperialisten gegen die marxistische Analyse in
Schutz zu nehmen . . . (9, 109).
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fall, Abgleiten ‘ins Biirgerliche, und umgekehrt wird der Vorwurf,
den sih M. N. Pokrovskij vor langen Jahren von Kiese-
wetter zuzog: er degradiere die ganze Geschichte zur Partei-
polemik, ihm von seinen Anhängern als Verdienst angerechnet.“
In zäher und zielbewußter Arbeit liefert die Kommunistische
Akademie beim Zentralen Vollzugsausschuß der Sovetunion, die
1918 errichtete Hochburg des „Marxismus- Leninismus“, für
die einzelnen „Sektoren“ der sog. dritten, der „ideologischen“ oder
Kulturfront (nach der „politischen“ und der „ökonomischen“ Front)
die geistigen Waffen.“) „Die marxistischen Historiker bilden eine Ab-
teilung der leninistischen Armee, die gleichzeitig auf mehreren
Fronten kämpft“; ) sie fühlen sich als der Stoßtrupp auf dem vielleicht
wichtigsten Abschnitt der „ideologischen“ Front, auf der mit geistigen
Waffen der Kampf zweier Welten, der bürgerlichen und der prole-
tarischen, ausgekämpft wird.)
In der Unterrichtung über die historische Arbeit in der Sovet-
union sieht sich der Osteuropa-Historiker heute vor einer gegen die
Zeit vor dem Kriege völlig neuen Lage: eine beachtenswerte
historische Literatur in ukrainischer,") weißrussischer,®) armenischer, “
„Man muß es deutlich aussprechen, daß marxistischer Historiker nicht sein
kann, wer sih von der litischen Praxis zurückhält; für den marxistischen
Historiker erscheint sein politisches Wirken als die Quelle wissenschaftlich-schöpfe-
rischer Arbeit.. Es verstehy sich von selbst, daß außer der praktischen iti-
schen Tätigkeit für den marxistischen Historiker noch zureichende Kenntnis der
Geschichtstatsachen und Beherrschung der Forschungstechnik der bürgerlichen
historischen Wissenschaft gefordert wird.“ P. Gorin, Na istori¢eskom fronte:
Pravda Nr. 272 (4104) v. 28. Nov. 1920.
„Die Geschichtswissenschaft — ein Blinder, der das nicht sieht! — ist ein
Stück Klassenkampf“: V. Seltzer (Zel’cer) 10, 251.
„Geschichte ist immer Klassengeschichte, nicht nur deshalb, weil ein Historiker
mitunter auf dem Klassenstandpunkt steht, sondern deshalb, weil der Historiker
immer den Interessen seiner Klasse dient“: S. Piontkovskij, Oktjabf i
russkaja istoriceskaja nauka: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2 S. 112; vgl. diese Jahr-
bücher N. F. III (1927), 584—536.
3) Rubinstein 9, 77. — Die deutsche Geschichtswissenschaft, die sich
eben zur Abwehr der „Historischen Belletristik“ — Histor. Ztschr. Bd. 188 (1928)
— aufraffte, wird selbst — von Ranke angefangen bis zu den Teilnehmern am
VI. Internat. Historikerkongreß — vom Führer der marxistischen Historiker als
„Belletristik, die den Interessen ihrer Klasse diente“, abgetan! Vorrede Pokrov-
skijs zur Schrift von G. Serebrjakova, Zen&iny epochi Francuzskoj revol-
jucii (1929), nach S. Gorodeck ij: Izvestija Nr. 186 (8672) v. 16. Juni 1929.
ta) Die „Kulturfront“ steht traditionell an dritter Stelle; vgl. A. V.
Luna ars kij, Tretij front. Novye zadaci i puti narodnogo obrazovanija
(Moskau 1924), der die „kommunistische“ und die „militärische“ Front an erster
und zweiter Stelle nennt (S. 27).
) Pokrovskij 11, 217: P. KerZencev, Bofba na ideologileskom
fronte: Kniga i revoljucija 1929 Nr. 12.
42) C. Friedland (Fridljand). Ob ideologit. borbe na istorič. frorte:
Kommunistiéeskaja revoljucija 1929 Nr. 23/24.: ;
5) Über die Geschichtsforshung in der Ukraine s. unten S. 145.
©) Vgl. Vlad. Piéeta, La littérature historique blancheruthéne: Bulletin
d'information des sciences historiques en Europe Orientale I (1928), 214—222;
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georgischer) Sprache und in anderen mitunter erst in den letzten
Jahren zu Schriftsprachen erhobenen Nationalsprachen“) ist im Ent-
sehen. Die Sprachenfrage, in der sich der tiefgreifendste
litische Unterschied des alten und neuen Rußland, wohl das wesent-
ichste und sicher ein bleibendes Ergebnis der bolschevistischen Um-
wälzung, die Verwirklichung des Nationalitätenprinzips bis ins
Extrem auf dem Territorium der Sovetunion, ) nach der kulturellen
Seite auswirkt, ist in ihrer Gefährlichkeit für die Zukunft der deut-
ders., Die weiß russische Geschichtsforschung 1922—1928: Slavische Rundschau
1. Jg. (1929), 661—666 und 828—827.
Eine „Weißrussische Gesellschaft der marxistischen Historiker“ (Belorusskoe
ob3lestvo istorikov-marksistoo) wurde im Jahre 1927 begründet; in ihrer
Vortragstätigkeit stehen Themen aus der Geschichte der revolutionären Be-
wegungen in Weißrußland im Vordergrund, z. B. über die Beteiligung am polni-
schen Aufstand 1868, die revolutionären Zirkel in Weißrußland in den siebziger
Jahren, die Oktoberrevolution in Weißrußland usw. Die Gesellschaft bereitet
Veröffentlichungen über die Geschichte der revolutionären Bewegung in Weiß-
rußland (S. Agurskij, Revoljucionnoe dviZenie v Belorussi, 1868—1907.
Istpart_ CK VKP(b)B, Minsk 1928; vgl. dazu M. Jugov: Ist.-Marxist 18,
254—259), die Geschichte der Partei (Knorin) und die Geschichte der revo-
lutionären Bewegungen in Weißrußland in den sechziger Jahren vor. — :
Panke vi &, O rabote belorusskogo obS&estva istorikov-marksistov: Vestnik
Komakad. 27, 294; ebda. 32, 240, Istorik-Marksist 10, 268; vgl. die Referate über:
„Rok 1863 na MinszczyZnie“ (Minsk 1927) und ,,Socyjalistyény ruch na Belarusi
u proklamacyjach 1905 g.“ in diesen Jahrbüchern N.F.V. (1929) 95 f. und 96.
S. auch Anm. 118 a.
Bei der ersten Heerschau der marxistischen Historiker, der Moskauer
Historikerkonferenz im Dezember 1928, blieb die Marxistische Geschichtswissen-
schaft der weißrussischen Bundesrepublik völlig im Hintergrund; in der Ver-
öffentlichung der auf der Konferenz gehaltenen Vorträge ist die Geschichte Weiß-
rußlands nicht vertreten. Über die Tagung vgl. unten S. 128.
7) Vgl. A. Zor’jan, Sostojanie armjanskoj istoriografii: 11, 245 f.;
Trudy I, 472—488 und II, 621; der Vortrag wurde auf Deutsch gehalten.
8) Vgl. Die historische Wissenschaft in Sowjetgeorgien: Wochenbericht
4. Jg. Nr. 80/81 (28. 7. bis 4. 8. 1928), S. 14—16; M. Poliewktow, Die Ge-
ichtswissenschaft in Georgien in den Jahren 1917—1927: Osteuropa 4. Jg.
(1928—29), 171—188.
sa) „Die Geschichte des Volkskommissariats für die Angelegenheiten der
Nationalitäten (Narodnyj komissariat po delam nacional’nostej) ist noch nicht
ieben. Es ist zu wünschen, daß dies geschehe“: Skrypnik in der Sitzung
Präsidiums des Nationalitätenrats Zentralen Exekutivkomitees der
UdSSR am 11. Febr. 1930 im Glückwunsch an Stalin zum fünfzigsten Ge-
burtstag (Izvestija Nr. 45/3892 v. 15. Febr. 1980). — Vgl. N. Popov, Stalin
und die nationale Linie der Leninschen Partei: Internat. Presse-Korrespondenz
10. Jg. Nr. 2 (7. Jan. 1980); S. Di manite jn, Stalin kak bol’Sevistskij teoretik
nacional’nogo voprosa: Revoljucija i nacional’nosti Nr. 1 (1930).
®) Vgl. z. B. Th. Menzel, Der I. Turkologische Kongreß in Baku: Der
Islam 16 (1927), 1—76 und 169—228; Ch. Gabidullin, Perechod tjurko-
tatarskich narodnostej na latinskij alfavit: Izvestija Nr. 138 (8674) v. 19. Juni
1929; A. Tagi-zade, Latinizacija pis’mennosti narodov SSSR: Pravda
Nr. 158 (4287) v. 7. Juli 1929; S. Budrjanskij, Rez. über: Kul’turnaja
revoljucija na vostoke. Novyj tjurkskij alfavit v Sovetskom Sojuze. (Moskau-
Baku 1930) in der Pravda Nr. 9 (4454) v. 9. Jan. 1980; Sovet Nacional’nostej o
tov. I. V. Staline: Izvestija Nr. 45 (3892) v. 15. Febr. 1930; Bericht über die
Beratung der Historiker des Orients während der Moskauer Konferenz der
marxist. Historiker: Ist.-Marxist 12, 824—838
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schen und der westeuropäischen Osteuropaforschung noch kaum er-
kannt. Der Vorgang der Auflösung des den europäischen Osten und
Südosten umspannenden Begriffs „Geschichte des Slaventums“ in nur
von Spezialisten noch völlig zu beherrschende Nationalgeschichten
der slavischen Völker erfährt eine grotesk anmutende Wiederholung
und Steigerung und scheint unvermeidlich ein vielfältiges neues
Spezialistentum zu erfordern.“) Die Auflösung in Geschichten der
Nationalitäten, die zusammengehalten werden durch die Fessel der
marxistischen Methode, bildet die Signatur der heutigen Lage der
Geschichts wissenschaft in der Sovetunion.
Aus der Zersplitterung der ehemaligen „ Russischen“ Geschichte
in eine Vielzahl von „Geschichten der Völker der Union der Sozia-
listischen Räterepubliken“ ergeben sich gleichzeitig für die fernere
Behandlung der osteuropäischen Geschichte schwierige methodische
Fragen von großer Bedeutung:“) bereits ist in Rußland im Zu-
sammenhang mit der Sprachenfrage eine Diskussion darüber im
Gange, daß die Geschichte der orientalischen Völker der Union mehr
und mehr in die Sphäre und Domäne der Orientalistik rückt.“)
Es wird immer zweifelhafter, wieweit es in Zukunft möglich sein
wird, außerhalb Rußlands eine gewisse Übersicht über die historische
Arbeit auf dem Gesamtgebiet der Union zu behalten. Aus dieser
Schwierigkeit aber ergibt sich, daß — ungeachtet seiner ideologischen
Einseitigkeit — der Wert des „Istorik-Marxist“ für die nichtrussische
Forschung sich in dem Maße steigern muß, wie es der Redaktion
gelingen wird, für die Zeitschrift als Organ einer das gesamte Gebiet
der Union umspannenden Historikervereinigung””) eine regelmäßige
und EE Berichterstattung über die historische Forschung
Sovetrußlands, zumal über die in nationalen Sprachen abgefaßten
Arbeiten, ) zu organisieren und damit den Aufschwung der heimat-
10) Über die Auswirkung der Dezentralisation der Verwaltung und der
Sprachenpolitik in der Wirtschaft: H. v. Eckardt, Zur Problematik des Natio-
An Archiv für Sozial wissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927), 410.
10) Die notwendige Folgerung für den akademischen Unterricht hat als
erster V. L Piceta in seiner „Einführung in die russische Geschichte“ (Vvedenie
v russkuju istoriju, Moskau 1922) =e ; die nordostrussische, die weißrussische
und die ukrainische Quellenkunde und Geschichtsschreibung sind jede für sich
11) Vgl. A. Samojlovié, Kavkaz i tureckij mir: Izvestija ob-va obsledo-
vanija i izulenija Azerbajdžana ( Bulletins de soc. scientif. d’Azerbaidjan)
Nr. 2 (Baku 1926), 3—9; W. V. Barthold, „Über das Studium der Geschichte
der Türkvölker“ und Ubajdulin (Baku), Die augenblickliche Lage und die
nächsten Aufgaben der Erforschung der Geschichte der turko-tatarischen Völker
bei den Türkvölkern Rußlands selbst, — bei Th. Menzel, Der erste turko-
logische Kongreß in Baku: Der Islam 16 (1927), 88—40 und 41—46.
12) Vgl. unten S. 181.
13a) Im Kreise der marxistischen Historiker ist man sich bewußt, daß in der
gegenwärtigen Entwicklung für die geforderte einheitliche Auffassung des histo-
rischen „Schemas auch eine Gefahr liegt: Ein Artikel P. Gorins gegen
Javor$kyj — Izvestija Nr. 61 (3908) v. 3. März 1980 — mißt Javorskyjs
Gebrauh der ukrainischen Sprache, deren Kenntnis unter den marxisti-
schen Historikern außerhalb der Ukraine wenig verbreitet sei, die Hauptschuld
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kundlichen historischen Forschung”) für umfassendere und zu-
sammenfassende Betracht nutzbar zu machen.
Bei regelmäßiger Verfolgung der russischen Presse und der Zeit-
1 gewinnt man freilich immer stärker den Eindruck, daß in
den letzten ein bis zwei Jahren der Kampf um den Primat des
marxistischen Denkens in der russischen Geschichtswissenschaft cine
derartige Ausdehnung und Verschärfung erfahren hat, daß selbst ein
zentrales Organ wie der „Istorik-Marxist" von den Äußerungen,
Formen und Phasen der Auseinandersetzung der marxistischen
Historiker mit der nichtmarxistischen Forschung im eigenen Lande
und in der übrigen Welt nur eine unvollkommene Vorstellung ver-
mittelt. Der „Istorik-Marxist‘ unterrichtet zwar rasch und zuverlässig,
aber nicht umfassend genug über die historische Arbeit der russischen
marxistischen Gelehrten und über organisatorische Veränderungen,
die für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft ın der Sovetunion
von Bedeutung sind.
Auf der Berliner Russischen Historiker- Woche und auf dem
Internationalen Historikerkongreß in Oslo, den ersten Veranstal-
tungen, auf denen die marxistischen Historiker der Sovetunion 1928
im Ausland als scharf ausgeprägte Richtung in der Geschichtswissen-
bei, daß jener jahrelang die Führung der marxistischen Wissenschaft in der Ukraine
habe usurpieren können; über die Angelegenheit vgl. S. 148 f.
18) Vgl. z. B. D. Zelenin, Die russische (ostslavische) volkskundliche
Forschung seit 1914: Zeitschrift für slav. Philologie I (1924), II (1925) und IV
1927), s. auch „Etnografija“ Nr. 1—4 De S. Nikola je v, Die Heimat-
orschung in der Sowjetunion: Wochenbericht 5. Jg. Nr. 9—10 (11. März 1929),
S. 16—18; Das Heimatkundeinstitut im Süd wolgagebiet (angegliedert an die
Staatsuniversität in Saratov): ebda. A Jg. Nr. 14/15 (7.—14. April 1928), 13 f.;
A. M. LadyZenskij, Die ethnographische Erforschung der kaukasischen
Völker: ebda. 5. Jg. Nr. 7/8 (25. Febr. 1929), 8—6; Die Heimatforschung im
Nordkaukasischen Gebiet: ebda. 5. Jg. Nr. 21/22 (8. Juni 1929), 5—9; im Istorik-
Marxist: G. Kokiev zu V. P. Pozidae v, Gorcy Sev. Kavkaza (1926): 3,
289—241; ders. zum Sbornik materialow dlja opisanija mestnostej i plemen
Kavkaza, vyp. 45 (1926): 4, 264 f.: N. J. Jakovlev zu G. Kokie v, Ocerki
istorii Osetii I (Vladikavkaz 1926, Os etinskij nau£no-issledovatel’skij institut
edenija): 5, 270—278. — H. Findeisen, Neue russische Literatur zur
Kultur- und Völkerkunde (Gebiet der unteren Volga): Asia Major II (1925),
; K. Azadovskij, Irkutskij universitet i izucenie mestnogo kraja
1918—1928: Desjatiletie Irkutsk. universiteta 1918—1928 (Irkutsk 1928), 26—41;
Wissenschaftliche Tätigkeit in Sibirien: Slav. Rundschau 1 (1929), 177—182;
Weifruss. Landeskunde und Ethnographie: ebda. 607 f.; Sumackıj, Pobeda
marksistskogo kraevedenija: Bol’Sevik 1929 Nr. 20; Wangenheim, Central’noe
bjuro kraevedenija: Archivnoe Delo 20 (1930), 28 f.; meine Referate: „Severnaja
Azija“ in diesen Jahrbüchern N. F. 8 (1927), 495—504 und über Publikationen
der „Gesellschaft zur Erforschung des Gouvernements Moskau“: ebda. N.F. 5
(1929), 122ff.; die Zeitschriften „Sever“ (Vologda), „Turkmenovedenie“
ee „Tatarovedenie“ (Kazań) usw. Das Dilettantentum in der landes-
ichen historischen Forschung wird scharf abgelehnt; vgl. I. Makarov in
Pečat’ i revoljucija 1927 H. 6, 202 f. . .
Zu Beginn des Jahres 1980 setzte das Zentraibiiro für Landeskunde für die
besten virtschaftsgeschichtlichen Arbeiten von lokaler Bedeutung (2. B. Mono-
phien über einzelne Industriebetriebe) mehrere ziemlich hohe Preise aus; vgl.
Evarin Nr. 810 (8846) v. 80. Dez. 1929.
83
schaft hervortraten, begegnete man ihnen eher mit abwartender
Skepsis oder mit Anerkennung als prinzipiell ablehnend. Die „Gesell-
schaft der marxistischen Historiker wurde seit 1927 immer mehr die
treibende Kraft in der historischen Forschung. Ihr Gewicht und ihre
Wirkung im kulturellen und politischen Leben verstärkte sich derart,
daß erst eine Übersicht über ie wissenschaftliche Leben in der Union
1927—1929 fiir das Teilgebiet der marxistisch orientierten Geschichts-
wissenschaft die richtige Einschätzung ihres Hauptorgans ermöglicht.
Ein Versuch, die Stellung der marxistischen Geschichtswissenschaft
im eigenen Lande zu umreißen, ihre besonderen innerrussischen welt-
anschaulichen und politischen Voraussetzungen und Auseinander-
setzungen aufzuzeigen, die auf die historischen Fragestellungen, die
Art ihrer Beantwortung und die Organisation der wissenschaftlichen
Forschung entscheidenden Einfluß ausüben, stößt auf eine besondere
Schwierigkeit. Sie besteht darin, daß die „wissenschaftlichen Ergeb-
nisse“ des Marxismus in den sog. Gesellschaftswissenschaften, die das
Ausland (von den geschworenen Anhängern des Kommunismus ab-
gesehen) als relative Wahrheiten entgegennimmt, dem Inlande gegen-
über stets zugleich absolute und politische sind; sie stellen absolute
Erkenntnisse vor, indem eine „streng marxistische“ Erklärung grund-
sätzlich als die einzige „wirklich wissenschaftliche“ ausgegeben wird,“)
——
18) „Für unsere Zeit ist eine Wissenschaft ohne Marxismus etwas ähnliches
wie die kirchliche Weltanschauung, als sie die Lehre Galileis ablehnte. Sie ist ein-
fach eine Halb wissenschaft. Das Proletariat kann sich natürlich mit einer Wissen-
schaft nicht begnügen, die von der bürgerlichen Gesellschaft für ihre Bedürfnisse
zurechtgemacht ist“: A. Luna K ars kij, Der Kampf um das Bündnis der
Wissenschaft mit der Arbeit: Das Neue Rußland 6. Jg. (1929), H. 1—2 S. 54 (Ober-
setzung des Artikels: „Neuvjaska“ v Akademii Nauk, in den Izvestija Nr. 29
[8565] v. 5. Febr. 1929).
C. Friedland (8, 126): „Marxismus ist, allgemein gesprochen, nicht eine
politische Theorie, er ist nichts anderes als das einzige und kog Wort echter
Wissenschaft; steht etwas mit dem Marxismus nicht in Einklang, dann auch nicht
mit der Wissenschaft in ihren höchsten Ergebnissen“; vgl. auch die Einleitung Fried-
lands zu seiner „Geschichte Westeuropas 1789—1914“ (Istorija Zapadnoj Every
1789—1914. C. I: Evropa v epochu promySlennogo kapitalizma, 1789—1871),
1928, und seinen programmatischen Aufsatz „Očerednye zadači marksistskoj
istoričeskoj nauki“: Byulleten’ zaoëno - konsul’tacionnogo otdelenija Instituta
Krasnoj Professury Nr. 4 (März 1980), 9—16.
„Man muß sich immer wieder klarmachen, daß es cine „objektive historische
Wissenschaft“ bei der Bourgeosie nicht gibt und nicht geben kann. Die einzige
objektive, wissenschaftliche Methode, die zur Erklärung dessen führt, was existiert,
ist die marxistische. Außer der marxistishen Geschichtswissenschaft gibt es eine
andere als Wissenschaft nicht“: M. Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i
SE front“ in der Pravda Nr. 260 (4092) v. 7. Nov. 1928.
Charakteristisch ist, daß der Verfasser des oftiziellen Berichts im „Istorik-
Marxist“ (H. 9) über die Berliner Historikerwoche, Minc, später zwei Stellen,
die zu unrichtigen Auslegungen Anlaß geben könnten, eine scharfe Interpretation
nachschickte. Er wandte sich dagegen, daß seine Ausführungen als Herabminder-
ung des Kampfcharakters des Marxismus und seiner Bedeutung als der herrschen-
den Weltanschauung aufgefaßt würden und unterstrich, daß die Methode, mit
deren Hilfe die „Bourgeoisie“ historische Tatsachen erläutere, nicht wissen t-
ich sei; einzig und allein der Marxismus sei die wissenschaftliche Methode: 11,
277. — Die Gleichung „wirklich marxistische Geschichte = einzige echt wissen-
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während in politischer Hinsicht die Feststellungen des Historikers
möglichst als eine nach zwei Seiten geschliffene Waffe, sowohl gegen
die „Klassenfeinde im bürgerlichen Lager wie gegen Opponenten in
den eigenen Reihen, verwertbar sein sollen.
Bei zahlreichen historischen Urteilen ist ihre Abhängigkeit von
aktuellen politischen Spannungen, wie der Auseinandersetzung Stalins
mit der Opposition, offensichtlich; z. B. wenn Rezensenten von der
„Streikbrecherrolle Zinov’evs und Kamenevs 1917“ sprechen.“) Der
Eindruck drängt sich auf, daß unter den Mitarbeitern des „Istorik-
Marxist“ literarische Ausfälle gegen das verfemte oppositionelle
Triumvirat Trocij-Kamenev-Zinov’ev eine Zeitlang geradezu Attri-
bute der Gesinnungstüchtigkeit bildeten.“) Die Politiker der Trockij-
Opposition wurden gewarnt: Sie sollten nicht wagen, ihre Haltung
„Wissenschaftlich“ mit Berufung auf die französische Revolution zu
begründen.“) Vie bekannt, gipfelten die Anklagen gegen die troc-
kistische Opposition im Verdammungsurteil, der Resolution des
15. Parteitags, in dem Vorwurf der „faktischen Verneinung der
schaftliche“ wird fortwährend aufgestellt: 7, 206 (Jugov), 8, 128 (Fried-
land); vgl. auch Anlage 2 und 4.
15) „Itrejk-brecherskaja rol’ Zinov’eva i Kameneva v 1917 godu: 8, 808
(L. Mamet); I. Frolov, Anzeige des 20. und 21. Bandes von Lenins Werken:
Pravda Nr. 250 (4308) v. 7. Nov. 1929.
10) 8, 159 (Bacvskij); 9, 20 u. 29 (Kin); 9, 88 (Gorin); 11, 218:
A. Mühlstein (Milštejn); vgl. auch: E. Kee Bol’teviki v
oktjabre: Prolet. revoljucija Nr. 68 — 1927 H. 10; J. Jakovlev, Voprosy II
Vserossijskogo s’ezda sovetov: ebda. Nr. 71 — 1927 H. 12. Zu den Anklagen
vgl. Leo Trotzki, Die Fälschung der Geschichte der russ. Revolution (Berlin:
Volkswille [1928)).
Das Protokoll des Referats von Skrypnik über das Ukrainische Institut
für Marxismus auf der Konferenz der marxist.-leninist. Forschungsinstitute 1928
verzeichnet folgenden Vorfall: Als Rjazanov bei der Erwähnung von Vaganjans
Theorie der nationalen Kultur Zustimmung bekundete, bemerkte Pokrovskij als
Vorsitzender spitz: „Ich lege Wert auf die Feststellung, daß der Zwischenruf vom
Marx-Engels-Institut, nicht etwa von der Kommunistischen Akademie ausgeht“,
worauf der Berichterstatter fortfuhr: „Ich bedauere sehr, daß jenes die Ansicht
des Marx-Engels-Instituts ist und bin sehr froh, daß der Präsident der Kommu-
nistischen Akademie der Sovetunion davon einen Trennungsstrich zieht; denn wir
sind der Ansicht, daß die betr. Richtung nicht marxistisch, nicht leninistisch,
sondern ihrem Wesen nah trockis tis ch ist und daß man sie theoretisch mit
allen Kräften bekämpfen muß“: Vestnik Komakad. 27 S. 811 (auch Prapor
Marksizmu 4 — 1928 Nr. 8 S. 228). Es wirkt beinahe komisch, daß die Redak-
tion der offiziellen Geschichte der Kommunist. Partei („Istorija VKP (b)“ . Pod
Em. Jaroslavskogo) einen Irrtum in der Zählung der „Attacken des
Trockismus gegen die bolschevistische Partei“ (Bd. IV, S. 451) durch eine öffent-
liche Erklärung in der Presse richtigstellte, damit ja keine übersehen werde:
Pravda Nr. 140 (4274) v. 21. Juni 1929. Vgl. auch D. Kin, Bor’ba na dva
fronta v istorii partii (Pravda Nr. 27/4472 v. 28. Jan. 1980): „Die Geschichte des
Ischevismus ist die Geschichte des schonungslosen Kampfes mit dem Oppor-
tunismus in allen seinen Erscheinungsformen, mit dem Rechts-Revisionismus und
der kleinbürgerlichen Revolutionierung eoue onno) — S. Agurskij,
Bor’ba protiv uklonov na istoričeskom fronte (K voprosu ob istoričeskoj roli
Bunda): Prolet. revoljucija 1929 Nr. 11.
17) Zacher 7, 811.
85
proletarischen Diktatur in der UdSSSR („Thermidor“) und der
damit verbundenen Kapitulations- und Niederlagenstimmung“.”*)
A. S. Bubnov, bisher Mitglied des Revolutionären Kriegs-
rates, seit September 1929 an Stelle Lunalarskijs Volkskommissar fü
das Bildungswesen in der RSFSR, übermittelte als Sprecher des
Zentralkomitees der Partei auf der Jubiläumsfeier für Pokrovskij
der marxistischen Historikerschaft den Befehl, aktiv am Kampf mit
der Rechtsopposition teilzunehmen: „Nach rechts — Feuer!“)
Bei der „Entlarvung“ von Anschauungen, die mit dem orthodoxen
Marxismus nicht in Einklang stehen, erscheint wesentlicher als die
Behauptung und Sicherung der marxistischen wissenschaftlichen
Position der Nachweis, wie sehr derartige Irrtümer dem Proletariat
politisch schädlich seien.“) In den letzten Jahren löst ein Fall
den anderen ab, in dem die orthodoxe Kritik gegen neue Werke
We Ke historischer Irrtiimer einen organisierten Feldzug in der Presse
und in Zeitschriften führt.)
48) Deutsche Zentral-Zeitung (Moskau) Nr. 146 v. 28. Dez. 1927. Uber die
von der Opposition gegen die Partei erhobene Beschuldigung des „termidor-
janstvo“: O. Hoetzsch, Monatsübersicht über die innere Politik Rußlands,
Okt. 1927: Osteuropa 8 (1927—28), 57—59; siehe auch: „Vor dem Thermidor.”
Revolution und Konterrevolution in Sowjetrußland. Die Plattform der linken
Opposition in der bolschewistischen Partei. Hrsg. von den aus der Kommunist.
Partei ausgeschlossenen Hamburger Oktoberkimpfern (Hamburg [1927]) und
L. Trocki j, Termidor ili partijnaja repeticija termidora? im: Bjulleten’
Oppozicii (Bol’sevikov-lenincev) — Bulletin de l' Opposition Nr. 5 (Okt. 1929), 8 f.
Nicht zufällig wird daher von der Sovetforschung die Periode des ,,Thermi-
dor“ zum Gegenstand eindringlichen Studiums gemacht; vgl. J. M. Zacher,
Problema „Termidora“ v svete novejlich istori&eskich rabot: 6, 286—242. — Eine
populär gehaltene Schrift von V. Kolokolkin und S. Monosov: Cto
takoe Thermidor? (1928) setzte sich zur Aufgabe, neben der Darstellung der
Epoche des Thermidor die Theorie des sog. „russischen Thermidor“ ad absurdum
zu führen. Sie suchte zu zeigen, weshalb die „Gesetzmäßigkeiten“ dieser Epoche
der französischen Revolution nicht auf die russische apse werden könnten.
Der Rezensent im ,,Istorik-Marxist“ bedauerte, daß die Schrift zu spät gekommen
sei, um im Kampf der Stalin-Mehrheit der Kommunistischen Partei mit der
Opposition gegen deren quasi-historische Analogien aus der Epoche der Großen
Französischen Revolution als Waffe zu dienen: 8, 210—212.
19) 10, 270; der „Prikaz Nr. 818“ v. 16. Okt. 1929, durch den der Volks-
kommissar für Heer und Flotte, Vorolilov, die Verdienste Bubnovs als Leiter
der marxistischen Aufklärungsarbeit in der bewaffneten Macht der Union te,
hebt seinen „Kampf mit dem gegenrevolutionären Trockismus“ gebührend
hervor: Pravda 240 (4874) v. 17. Okt. 1929.
10) Gorin: 9, 86; ders., Klassovaja bor’ba v SSSR i sovremennaja istori-
écskaja nauka: Izvestija 23 (8870) v. 24. Jan. 1980.
:ca) Außer der Kritik an Trockij und seinem Kreise, der Bekämpfung Tarles
und Javorskyjs, auf die ich später zurückkommen werde, wurden in der letzten
Zeit derartige Angriffe geführt gegen Bucharin (vgl. z. B. V. G. Sorin, O
razn jach Bucharina s Leninym, 1980), gegen Pereverzev
S. Ščukin, Marksizm-leninizm ili Pereverzev? Pravda Nr. 298 (4482) v.
18. Dez. 1929), gegen P. Ta¥karov und G. El’vov (Ob odnoj popytke
iskaženija marksizma-leninizma, Mosk. 1929; vgl. dazu die Anzeigen in den
Izvestija Nr. 50/3897 v. 20. Febr. 1980 und in der Pravda Nr. 66/4511 v.
8. März 1980), gegen S. M. P (K voprosu o suščnosti ,,aziatskogo“
sposoba proizvodstva, feodalizma, krepostničestva i torgovogo kapitala: Agrarnye
86
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Die wichtigsten Vorgänge, durch die die marxistische Geschichts-
wissenschaft im Bewußtsein der Offentlichkeit zu ihrer heutigen
mächtigen Stellung gelangte — ein Vorgang, von dem die Chronik
der Gesellschaft im „Istorik-Marxist“ nur einzelne Stadien eingehend
würdigte —, waren etwa: die Feier des zehnjährigen Bestehens des
Sovetstaats (1927); der 60. Geburtstag M. N. Pokrovskijs
im Herbst 1928; zwei Konferenzen der marxistisch - leninistischen
Forschungseinrichtungen der Sovetunion (Frühjahr 1928 und 1929);
der Kampf der marxistischen Historiker gegen PetruSevskij und
das von ihm geleitete Institut für Gesch: te der RANION;“ ) die
problemy 1929 Nr. 2 u. sep, Mosk. 1929; vgl. dazu P. Gorin, Klass. bor’ba
v SSSR i sovrem. istor. nauka: Izvestija Nr. 28/8870 v. 24. Jan..1980 und
I. Frolov in der Pravda Nr. 26/4471 v. 27. Jan. 1980), g Teodoro-
vi“: Auffassung der „Narodnaja Volja“ vgl.: VI. Malachovskij, Rez.
zu Iv. Teodorovil, Istori¢eskoe značenie partii ,Narodn. Voli“: Pravda
Nr. 800 (4484) v. 20. Dez. 1929; Teodorovié, Pobol’fe istoriteskoj
ob’ektivnosti V porjadke obsułdenija): Pravda Nr. 806 (4440) v. 26. Dez.;
i
Nr. 41 (4486) v. 11. Febr. 1980; Potal, Spornye voprosy istori-
teskogo znalenija „Narodnoj Voli“: Bjulleten’ zao&no-konsul’tacionnogo otdelenija
IKP (= Institut Krasnoj Professury) Nr. 4 (Mirz 1980), ; vgl. 8
(S „Kre
$. M. Dubrovskogo, und (S. e Ze I. Minc, Protiv mechanisticeskoj postanovki
me D i erte "bk
Dubrovskij. — N. Slepnev, Na den fronta (K itogam diskussi s literaturo-
vedéeskoj Kr ereverzeva): Leningradskaja Pravda Nr. 111
Hohes Interesse bieten die von der Kultur- und Propaganda-Abteilung des
Zentral-Komitees der Kommunist. Partei ausgegebenen parteiamtlichen Richt-
linien, die die zulässigen Anschauungen über die „Narodnaja Volja“ streng fest-
legen: Tezisy k 50-letiju „Narodnoj Voli“, z. B. in der Pravda Nr. 98 (4548)
v. 9. April 1980.
21) d. h. der Rossijskaja Associacija Naučno — issledovatel’skich Institutov
ObStestvennych Nauk = Russische Assoziation der wissenschaftlichen Forschungs-
institute für Gezellschafta wissenschaften. — Der Assoziation gehörten 1928 an:
In Moskau zehn Institute für igs ag Disziplinen: Wirtschaft, Landwirtschaft,
Organisation des Ackerbaus und der Kolonisation, Landverteilung, Philosophie,
Experimentelle ee Sovetrecht, Geschichte, Sprache und Literatur,
Archäologie und Kunstwissenschaft, Ethnische und nationale Kulturen der orien-
talischen Völker der UdSSR; in Leningrad: Die Akademie für Geschichte der
materiellen Kultur; das Leningrader Institut für marxistische Methodologie (vgl.
Anm. 48), Institute für vergleichende Sprach wissenschaft und für vergleichende
Literaturkunde. Vgl. Fritsche, Associacija nauéno-issledovatel’skich institutov-
uéreZdenij: Vestnik Komakad. 27 S. 296—298 und D. A. Magerovskij,
Rossijskaja associacija nautno-issledov. institutov oblè. nauk: Pečat’ i revoljucija
1927 H. 7 S. 276—284.
Gegenwärtig, im akademischen Jahre 1980—31, bestehen nur noch die
folgenden Institute: 1. für Virtschaft, 2. für exper. Psychologie, B. für Sprache
Literatur, 4. für Archäologie und Kunst wissenschaft, 5. für die nationalen und
87
erste marxistische Historikerkonferenz in Moskau um die Jahres-
wende 1928—1929 und die Umwandlung der Gesellschaft in die
„Vsesojuznoe obščestvo istorikov-marksistov“, d. h. in eine die
marxistischen Historiker in der gesamten Union umfassende Organi-
sation; ferner: die systematische Stärkung des marxistischen Einflusses
in der Akademie der Wissenschaften in Leningrad, angefangen von
den Ergänzungswahlen zur Akademie zu Beginn des Jahres 1929 vis
zur Einleitung eines zurzeit schwebenden gerichtlichen Verfahrens
gegen S. F. Platonov; endlich: die Eröffnung eines Kommunist.
Historischen Forschungsinstituts bei der Kommunistischen Akademie
im Herbst 1929 und die Abhaltung einer Konferenz für die Behandlung
des „Leninismus“, der Geschichte der Partei der Bolscheviki und der
Geschichte der Kommunistischen Internationale (Komintern) als
Unterrichtsfacher im Februar 1930. Neuesten Datums ist M. Ja-
vors kyjs Ausstoßung aus der Partei und Entfernung aus allen seinen
Amtern. In der ukrainischen marxistischen Geschichtsforschung
wird damit eine Periode beendet, für die eiligst das Schlagwort der
„Javorꝭ&ina“ geprägt worden ist.“
In den Kampf der Meinungen über die Anwendbarkeit des Ra-
tionalisierungsplans der Wirtschaft für das Jahrfünft 1928/29 — 1932/33
in der Wissenschaft?) wurde die Geschichte mit hineingezogen;
z. B. für die Arbeiten in den Archiven wurden konkrete Vorschläge
ausgearbeitet..)
Ich beginne meine Ubersicht mit einem kurzen Hinweis auf die
Organisation der marxistischen historischen Arbeit an den drei
Hauptstätten marxistisch-leninistischer Forschung: der Kommunisti-
schen Akademie, dem Lenin-Institut und dem Marx-Engels-Institut.
Die Kummunistische Akademie.
Die Kommunistische Akademie, die wissenschaftliche Haupt-
gründung der Partei — von V. I. Nevskij mit einem „Vivat
Marxismi Academia!“ begrüßt —, ein Komplex wissenschaftlidier
ethnischen Kulturen der Völker des Orients, 6. (in Leningrad) für vergleichende
Geschichte der Sprachen und Literaturen des Westens und des Ostens: Institut
sravnitel’noj istorii literatur i jazykov Zapada i Vostoka = ILJaZV. Die
ademie für Geschichte der materiellen Kultur in Leningrad wird auf Vorschlag
des Akad. Marr der Akademie der Wissenschaften angegliedert.
31a) P. Gorin, Ob odnoj poutitel’noj biografii: Izvestija Nr. 61 (3908) v.
8. März 1930. ur SE
sıb) Vgl. z. B.: V. Miljutin, O nauéno-issledovatel’skoj rabote v
rekons truktivnyj period: Pravda Nr. 257 (4391) v. 5. Nov. 1929; L. Bogo-
le pova, O planirovanii nautnych rabot: Pravda Nr. 279 (4418) v. 29. Nov.
1929; über die Aufstellung von Fünfjahresplänen für die russischen Akademien der
Wissenschaften vgl. Izvestija Nr. 68 (8910) v. 5. März 1930; V. P. Miljutin,
O direktivah po sostavleniju plana rabot Kommunistiteskoj Akademii: Vestnik
Komakad. 32 — 1929 H. 2 S. 217—224.
210) Einzelheiten in meinem Bericht über das Archivwesen in der Sovetunion
im 89. Jahrg. (1930) der Archivalischen Zeitschrift.
21d) Pečat’ i Revoljucija 1928 H. 8 S. 116.
88
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Institute, Kabinette, Seminare, Kommissionen, Gesellschaften, bildet
heute das Zentrum der theoretischen marxistisch-leninistischen
Arbeit.”) In der Organisation der russischen Wissenschaft wird ın
der letzten Zeit immer stärker die Tendenz bemerkbar, die Arbeit
anderer führender wissenschaftlicher Einrichtungen der Union wie des
Marx-Engels-Instituts und der Unionsakademie der Wissenschaften
noch der Kommunistischen Akademie abzustimmen.
Als ähnliche Organisationen wie die „Gesellschaft der marxisti-
schen Historiker“ bestehen bei der Kommunistischen Akademie die
Gesellschaften der materialistischen Biologen, der materialistischen
Psycho-Neurologen, der marxistischen Statistiker, der marxistischen
Pädagogen, der Zirkel der materialistischen Physiker und Mathe-
matiker, die Untersektion der kommunistischen Kritiker bei der
Sektion der Akademie für Literatur, Kunst und Sprachwissenschaft
usw. Außerhalb des eigentlichen „historischen Sektors“, den die Ge-
sellschaft der marxistischen Historiker und das Historische Instit at
der Akademie“) bilden, leisten historische Arbeit noch eine Reihe
von „Dependenzen“:
Zum 70. Geburtstag von Klara Zetkin wurde 1927 eine
Sektion für Erforschung der Theorie und Praxis der internationalen
(Arbeiter-) Frauenbewegung (Sekcija po izuleniju teorii i praktiki
meZdunarodnogo Zenskogo dviZenija) begründet, die u. a. die Teil-
nahme der Frauen an den verschiedenen Formen des Klassenkampfes
untersucht. Als erste Veröffentlichung ließ die Sektion eine Über-
setzung von Klara Zetkins Geschichte der Arbeiterinnenbewegung in
Deutschland erscheinen.“) — Das Institut für Weltwirtschaft und
Weltpolitik (Institut mirovogo chozjajstva i mirovoj politiki) gibt
u. a. eine Serie: „10 Jahre der Union e sozialistischen Raterepubliken
in kapitalistischer Einkreisung‘“*) heraus und bereitet die Herausgabe
einer Serie diplomatischer Dokumente vom Ende des 19. Jahr-
22) A. Udal’cov, Oterk istorii Soc. Akademii (1918—1922 gg.): Vestnik
Komakad. 1 (1922), 18—87; Ustav Komm. Akad. pri CIK SSSR: ebda. 19 (1927),
200—276; E. PaSukanis, Kommunisti&eskaja Akademija: Pečat’ i revoljucija
1927 H. 7 S. 250—256; Die Kommunist. Akademie des Zentralexekutiv-Komitees
der Sowjetunion: Wochenbericht 8. Jg. Nr. 9—10 (11. März 1927), Bt:
Dejatel’nost’ Kommunisti&eskoj Akademii 1918—1928 (Mosk. 1928); O. Lozovij,
Do 10—riččja Komunistitnoi Akademii: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 2
S. 175—188; G. Thorbecke, Die Kommunistische Akademie: Moskauer Rund-
schau Nr. 35 = 2. Jg. Nr. 1 v. 5. Jan. 1980.
22a) Siehe unten S. 140.
23) Vgl. Vochenbericht der Gesellschaft für kulturelle Verbindung der
Sowjetunion mit dem Auslande Nr. 89/40 v. 4. Okt. 1927; Vestnik Komakademii
31 — 1929 H. 1 S. 245; „Die Frau“ 36. Jg. (1928—29), 681. — Kl. Zetkin,
Celi i zadati sekcii po izueniju teorii i praktiki meZdunarodnogo Zenskogo
dvizenija: Vestnik Komakademii 27 (= 1928 H. 3), 240—251.
24) SSSR za 10 let v kapitalistiteskom okruzenii. — Den großzügigen Plan
einer Kollektivarbeit der Sektion iiber die Vereinigten Staaten in der Niedergangs-
Periode des Kapitalismus (, Soedinennye Staty v period zakata kapitalizma“)
entwickelte E. Varga im Julihefe 1929 (S. 122—125) des Organs der Sektion
„Mirovoe chozjaijstvo i mir. politika“.
89
hunderts bis zum Jahre 1917 vor.“) — Von der Kommission zur Er-
forschung der Nationalitätenfrage (Komissija po izuteniju nacio-
nal'nogo voprosa) wurden Materialien zur Nationalitätenfrage in
Rußland in der Periode der provisorischen Regierung 1917 — in
Finnland, der Ukraine, Pend: Estland, Weißrußland, bei den
Völkern der unteren Wolga, in den Gebieten der Tataren und
Baschkiren, im Kaukasus, in Transkaukasien und Mittelasien — zum
Druck vorbereitet; eine weitere Veröffentlichung ist über die Agrar-
lanes der nationalen Regierungen in der Epoche des Biirger-
riegs in Aussicht genommen.“) — Eine 1928 gegründete Korn-
mission für Religionsgeschichte (Komissija po istorii religii) — ein
Zentrum des wissenschaftlichen Kampfes auf der „antireligiösen
Front“ — arbeitet über religiöse Fragen im Geiste der marxistischen
Methode und har mit der Gesellschaft der marxistischen Historiker
Fühlung genommen, um mit ihr dem Beschluß des 12. Parteitages über
die Einführung von religionsgeschichtlichem Unterricht an den kom-
munistischen Hochschulen Geltung zu verschaffen.“) — Schließlich
sind Sektionen für Geschichte der Philosophie und für historischen
Materialismus im Philosophischen Institut der Kommunist. Akademie
zu nennen.
Im Mai 1929 wurde von der Akademie ein Redaktionskollegium
für die Herausgabe der Werke des im Oktober 1928 verstorbenen
führenden Mitgliedes der Partei I. I. Skvorcov-Stepanov”)
gebildet; die Edition der historischen Schriften Skvorcovs wurde
25) Vgl. Vestnik Komakad. 26 (1928), S. 24.
28) Erschienen Anfang 1980: Revoljucija i nacional’nyj vopros. Dokumen
i materialy po istorii nac. vopr. v Rossii i SSSR v XX veke. Pod red.
S. M. Dimandtejna, Bd. III (1917, Febr. —Okt.).
20a) Vestnik Komakad. 30 1928 H. 6 S. 261 f.
37) Vestnik Komakad. 80 1928 H. 6 S. 262. — Eine Schrift eines der
Hauptanreger der Sektion, des Prof. M. A. Reissner (t 1928): „Ideologii
vostoka. Oterki vostoënoj teokratii“ (1927) stellt nach dem Urteil ihres
Rezensenten im „Istorik-Marxist“ (9, 197—200), A. Lukalevskij, einen der
ersten Versuche vor, eine marxistische Analyse des Klassengehalts der Religionen
des Orients zu geben; z. B. wird das Entstehen des Islam aus der Bewegung des
arabischen Handelskapitals im 7. Jahrhundert hergeleitet.
„Wir alle, die wir Materialisten sind, erklären auf das bestimmteste, daß jede
religiöse Lehre, von wem sie auch kommen mag, von einer beliebigen Sekte bis
zu Tolstoj einschließlich, ihrem Wesen nach reaktionär ist. Indessen die Lehre
des N.N. ist reaktionär nicht nur deswegen, weil alle derartigen Lehren reak-
tionär sind, sie ist.. gegenrevolutionär“: Die leitende Idee der marxistischen
religionsgeschichtlichen Forschung in Rußland hat in dieser zugespitzten Form ein
Gelehrter ausgesprochen, von dem eine derartige Formulierung nach seiner wissen-
schaftlichen Vergangenheit überrascht und befremdet; weiter konnte der bekannte
Sektenforscher V. D. Boné-Bruevié, als er unlängst in einem Prozeß gegen
den geschlechtlich abnorm veranlagten Begründer einer religiösen Sekte als Sach-
verständiger zugezogen war, den Tendenzen der Prozeßleitung schwerlih ent-
gegenkommen. Vgl. Pravda Nr. 61 (4506) v. 8. März 1980: Delo kontrrevolju-
cionera i sadista ...
26) Vgl. M. Pokrovskij, Ivan Ivanovič Skvorcov-Stepanov (1870—1928):
Vestnik Komakad. 90 = 1928 H. 6 S. 8—6.
90
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Pokrovskij, die seiner Publizistik zur Geschichte der Partei
N. L. Me$lterjakov und Sorin übertragen.“) — Die Sektion
für Geschichte der Agrarrevolution und von GE
(Sekcija istorii agrarnoj revoljucii i agrarnych dviZenij) — ursprünglich
nur eine Kommission zur Erforschung der Agrarrevolution beim
Agrarinstitut der Kommunistischen Akademie”) — hat zunächst die
Geschichte der sogenannten Komitees der Dorfarmut (Komitety
bednoty = ,,Kombed“), der Bannerträger der sozialistischen Revo-
lution im Dorfe, nach Archivalien der Kreise Tambov, Penza und
Ivanovo-Voznesensk in Angriff genommen.)
Die Wissenschaftsgeschichte, für die in der Union zuerst die
Akademie der Wissenschaften in Leningrad eine besondere Kom-
mission (Komissija po istorii znanij) bildete,”®) besitzt neuerdings in
einem Kabinett für Geschichte der Naturwissenschaft (Kabinet istorii
5 bei der Kommunistischen Akademie eine eigene
marxistische Pflegestatte. Außer Übersetzungen und Bearbeitungen
klassischer natur wissenschaftlicher und mathematischer Werke (z. B.
von Galileis Discorsi, Kleins Vorlesungen über die Geschichte der
Mathematik u. a.) wird das Institut eigene Forschungsarbeiten heraus-
bringen: Prof. Mil ko vi & arbeitet über die Geschichte der Geologie
im Zusammenhang mit der Romantik und Naturphilosophie am
Anfang des 19. Jahrhunderts.“)
Durch Entschließung des Vollzugsausschusses des Zentralexekutiv-
komitees der Union vom 12. Juni 1929 wurde die Organisation eines
einheitlichen Instituts zur Erforschung von Fragen des Staats, des
Rechts und des Sovetaufbaus gutgeheiffen. Das neue Institut —
Institut gosudarstva, prava i sovetskogo stroitel’stva CIK SSSR i
VCIK — wurde durch Verschmelzung der Sektion fiir Recht und den
Staat (Sekcija prava i gosudarstva) der Kommunistischen Akademie
und des bisherigen Instituts für Sovetaufbau (Institut sovetskogo
3°) Izvestija Nr. 108 (8689) v. 9. Mai 1929. |
20) Komissija po izuleniju posledstvij agrarnoj revoljucii: Vestnik Komakad.
26 S. 274,
sea) Als erster Band der „Trudy Komissii po izuč. agrarnoj revoljucii“ er-
schienen 1928: Materialy po istorii agrarnoj revoljucii v Rossii. Pod obšč. red.
L. N. Kricmana (Nebent.: Matériaux sur histoire de la révolution agraire.
Réd. en chef L. Kritzman).
seb) Vgl. M. Bloch, Die Kommission für Geschichte des Wissens an der
Akademie der Wissenschaften der Sovetunion: Mitt. zur Geschichte der Medizin
und Naturwissenschaften 26 (1927), 281 f.
81) Vgl. Vestnik Komakad. 26 (1928), 24 und 81 (1929), 244 f.; „Die Not-
wendigkeit der Gründung einer russ. Gesellschaft für Geschichte der Medizin und
Natur wissenschaften und eines Forschungs instituts“ (Referat über einen Vortrag
von P. P. Lazarev, Dez. 1926): Mitt. zur Gesch. der Med. u. Naturwiss. 26
(1027), 227—281; H. Zeiß, Das neugegründete Forschungs institut für Geschichte
der Natur wissenschaften in Moskau: Archiv für Geschichte der Mathematik, der
Natur wissenschaften und der Technik Bd. 11 (1929), 808—816. Unlängst erschien
eine Bibliographie der russischen Arbeiten zur Geschichte der Medizin seit 1789:
D. M. Ross ijs ki j, Bibliografiteskij ukazatel’ russkoj litertury po istorii medi-
ciny s 1780 do 1928 g. (Mosk. 1929).
91
5 gebildet.) Die Aufgabe des Instituts wird in seiner
Satzung folgendermaßen umrissen: „Die Aufgabe des bei der Kom-
munistischen Akademie bestehenden Institut gosudarstva, prava i
sovetskogo stroitel’stva CIK SSSR i VCIK“ besteht in der theoreti-
schen Bearbeitung der Grundfragen der marxistisch - leninistischen
Lehre vom Staat, vom Recht und der Diktatur des Proletariats und
darin, auf dieser Grundlage aus dem ganzen praktischen Versuch auf
dem Gebiete des Riteaufbaus und des Rechts die wissenschaftlichen
Folgerungen zu ziehen.“ Seine wissenschaftliche Arbeit gründet das
Institut auf einen Entwurf Lenins für eine Broschüre „Über die
Diktatur des Proletariats“, “) der die wichtigsten staats- und ver-
waltungsrechtlichen Fragen skizziert, die mit der Verwirklichung der
Liktatur des Proletariats auftauchten.
Das neue Institut gliedert sich in sieben Sektionen: 1. für allge-
meine Rechts- und Staatslehre; 2. für die Diktatur des Proletariats;
3. für die zentralen Organe und den Staatsapparat; 4. für den Aufbau
des Bundes, der Bundes- und autonomen Republiken; 5. für die Stadt-
und Dorfrate; 6. für revolutionäre Gesetzlichkeit und konkretes
Recht; 7. für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Man darf das neuerdings als Institut prava i sovetskogo
stroitel’stva bezeichnete Rechtsinstitut bis zu einem gewissen Grade
als historisches Institut auffassen. Nicht nur gehört die Erforschung
der Entwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts Sovetrußlands zu
den Aufgaben fast aller Sektionen; die Errichtung einer histori-
schen und einer Rayonierungs- Kommission bringen den
Doppelcharakter des Instituts, — auf der einen Seite der Begründung
einer marxistischen Staats- und Verwaltungslehre und wissenschaft-
licher Erforschung der Ausbildung des Sovet-Staatsapparats, auf der
anderen Seite den praktischen Erfordernissen der Gegenwart und
Zukunft zu dienen —, am klarsten zum Ausdruck.“
*) Vgl.: Wochenbericht der Gesellschaft für kulturelle Verbindung der
Sowjetunion mit dem Auslande Nr. 18/19 v. 5. u. 12. Mai 1929; Reorganizacija
Instituta sovetskogo stroitel’stva v prezidiume CIK Sojuza SSR: Izvestija Nr. 133
(8669) v. 18. Juni 1929; I. Černjak, V nastuplenie na fronte teorii prava i
gosudarstva: Izvestija Nr. 157 (8698) v. 12. Juli 1929.
33) V. I. Lenin o diktature proletariata. Cernovye nabroski i plan
nenapisannoj broSjury. 1919—20: Leninskij Sbornik III (1925), 489—518. Bereits
1924 ließ die Sektion für Sovetaufbau der Kommunist. Akademie eine Sammlung
von Äußerungen Lenins über die Sovetorganisation erscheinen: Lenin o sovetskom
stroitel’stve. Sost. V. Maksimovskij.
3) Schon im „Institut sovetskogo stroitel'stva“ bestand seit dem Frühjahr
1926 eine ständige Historische Kommission, um gemeinsam mit dem Istpart die
Geschichte der Zentral- und Lokalverwaltung der UdSSR zu erforschen; unter
dem Titel: „Materialy po istorii sovetskogo stroitel’stva“ hat sie wertvolle Doku-
mentensammlungen zur Geschichte der Arbeiterräte im Jahre 1917, über die Räte
während der Oktoberrevolution und in der Epoche des Kriegskommunismus ver-
öffentlicht; vgl. Pravda Nr. 51. (4185) v. 2. März 1929; s. auch Istorik-Marxist 6,
302 f. Als Veröffentlichungen der Histor. Kommission werden 1930 erscheinen:
1. Peterburgskij sovet v 1917 g.; 2. Krest’janskie organizacii v 1918 g.; 8. Sara-
tovskij sovet rab. deputatov v 1917 g. — S. auch Berman: e delo
92
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In engster Verbindung mit der Kommunistischen Akademie
tagten in Moskau 1927 bis 1929 mehrere wissenschaftliche marxisti-
she Kongresse. Außer einer Fachtagung, der „Konferenz der
marxistischen Historiker“, ) erlangten für die fernere Entwicklung
der marxistischen historischen Forschung Bedeutung die beiden Kon-
ferenzen der marxistisch-leninistischen Forschungsinstitutionen der
Sovetunion im Frühjahr 1928 und 1929, eine Konferenz der Gesell-
schaft der kämpfenden materialistischen Dialektiker und eine Kon-
ferenz der marxistischen Spezialisten für Agrarfragen.
Die I. Konferenz der marxistisch-leninistischen wissenschaftlichen
Forschungseinrichtungen der Sovetunion fand in Moskau vom 22. bis
25. März 1928 statt;“) ihr gab Pokrovskijs denkwürdige Zu-
sammenfassung: „Zehn Jahre Gesellschaftswissenschaften in der
UdSSR“) das Gepräge, wobei er auch über die Leistungen der
marxistischen Geschichtswissenschaft im ersten Jahrzehnt der Räte-
republik Rechenschaft ablegte.
In dem Vortrag unterstrich der Redner eingangs den Klassen-
charakter aller Wissenschaften**) und charakterisierte die Gesellschafts-
wissenschaften sowohl als „Klassenkampf, gespiegelt in wissenschaft-
lichen Formen“ (S. 18) wie als „Waffe des Klassenkampfes“ (S. 6).
Fiir die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stellte er Lenin als
reinen Vertreter der proletarischen und Pobedonoscev als typischen
Vertreter der „feudalen“ Ideologie einander gegenüber; der Klassen-
und politische Kampf werden vom Kampf der Ideologien umhüllt.
Ausgezeichnet erläuterte Pokrovskij die Wandlung von klein-
bürgerlichen, durch die Philosophie von Mach und Avenarius stark
beeinflußten Auffassungen, die für den Moskauer Teil der bolsche-
vistischen Fraktion noch 1905 offizielle Geltung besessen hätten, zu
einer „wirklich proletarischen Ideologie“ nach der Revolution von
1905, — eine Entwicklung, die Schriften Lenins (Agrarnaja pro-
gramma socialdemokratov; ) Materializm i empiriokriticizm“) u. a.)
20 (1929), 26f.; Vestnik Komakad. 88 — 1929 H. 8 S. 274 f., ferner
A. Angarov, Otdelenie prava i gosudarstva Instituta Krasnoj Professury:
Izvestija Nr. 299 (8835) e 19. Dez. 1929.
26) Siehe S. 128 ff.
20) Vgl. Vestnik Komakad. 26 — 1928 H. 2 S. 238—294 und 27 — 1928
H. 3 S. 288—816.
87) Obščestvennye nauki v SSSR za 10 let: Vestnik Komakad. 26 = 1928
H. 2 S. 8—80.
Das Sammelwerk: Obščestvennye nauki SSSR 1917—1927. Sbornik pod. red.
V. P. Volgina, G. O. Gordona, I. K. Luppola (Moskau 1928) mit Beiträgen von
P. F. Preobraženskij EE B. S. Zuko (Archäologie), M. V.
Ne€kina (Russ. Geschichte), S. F. Oldenburg (Regionale Forschungen), M. N.
Peterson (Linguistik) war mir nicht SE
38) Z. B. erklärt er Astrologie und Alchimie für typische feudale Wissen-
schaften; die Entstehung der Nationalökonomie war an die kapitalistische Gesell-
schaftsstufe gebunden.
38) Vgl Lenin, Agrarnaja programma russkoj social-demokratii. Per-
vonacal’ny} tekst rukopisi $ zamelanıjami avtora, G. V. Plechanova, P. B
Aksel’roda, V. IL. Zasuli& i Ju. O. Martova: Leninskij sbornik III (1925), 303—395.
93
entscheidend beeinflußt haben. Sodann ging Pokrovskij auf einige
Werke, die nach der Oktoberrevolution in verschiedenen Disziplinen
einer marxistischen Gesellschaftswissenschaft auf streng materialisti-
scher Basis die Bahn gebrochen hätten, näher ein. An die Spitze
stellte er drei Werke: Leni.ns „Staat und Revolution“ (Gosudarstvo
i revoljucija),*) ferner Bucharins „Wirtschaft der Übergangszeit“
(Ekonomika perechodnogo perioda“), endlich Kritzmanns
„Geroiteskij period našej revoljucii (Die heroische Periode unserer
Revolution),"*) welches der erste Versuch einer theoretisch haltbaren
Wirtschaftsgeschichte der Revolutionsjahre gewesen sei (S. 14). Die
Oktoberrevolution erscheint als der Ausgangspunkt aller Richtungen
der heutigen marxistischen Gesellschaftswissenschaft, für die die
Erforschung der Oktoberrevolution im Mittelpunkt stehe; d. h.: von
der Aufhellung der lokalen Bedingungen für die sozialistishe Revo-
lution in Rußland schritt sie fort zur Untersuchung der gesellschaft-
lichen Zustände vor dem Kriege, während als letztes Ziel die Er-
klärung des ganzen russischen „historischen Prozesses“ — gesehen von
der Warte der Oktoberrevolution — vorschwebt.
Nur kurz verweilte Pokrovskij bei den Hauptvertretern der
nichtmarxistischen Richtungen in der Geschichtswissenschaft des
heutigen Rußland: bei Platonov, der zum reinen Individualis-
mus als Erklärungsprinzip gelangt sei und z. B. in seinem „Boris
Godunov“ (1924) alle Züge des Klassenkampfes im Moskauer Staat
am Ende des 16. und im Anfang des 17. Jahrhunderts getilgt habe; bei
„Vipperianischen Richtungen“ (Vipperovskie nastroenija), indem
Vippers „Krisis der historischen Wissenschaft“ (Krizis istorileskoj
nauki,**) als Manifest der idealistischen Richtung hingestellt und
PetruSevskijs „Skizzen aus der Wirtschaftsgeschichte des Mittel-
alters) als literarisches Hauptsymptom dafür angeführt wurden;
endlich bei dem als „Pseudo-Marxisten“ aus dem marxistischen Lager
a) Neudruck in Bd. XIII der 8. Ausgabe von Lenins Werken (Lenin, Soči-
nenija), auch in der vom Lenin-lastitut autorisierten deutschen Ausgabe (,,Simt-
liche Werke“, Verl. f. Literatur und Politik) ebenfalls als Bd. XIII (, Materialismus
und Empiriokritizismus. Krit. Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie“);
vgl. die Anzeige von F. Haase in diesen Jahrbüchern N.F. 4 (1928), 451 f.
41) Neue deutsche Ausgabe: Marxistische Bibliothek Bd. 19 (1929). — „Lesen
und analysieren wird man es Jahrhunderte, Jahrhunderte wird man es kommen-
tieren“ (Pokrovski)).
41a) Liev Natanovit) Kricman (deutsche Namensform: L. Kritsman).
Die heroische Periode der Groben Russischen Revolution 5 period
velikoj russkoj revoljucii). Ein Versuch der Analyse des sog. „Kriegs-
kommunismus“, erschien 1929 als Bd. 16 der ,,Marxistischen Bibliothek“.
42) Zur marxistischen Beurteilung der publizistisch philosophischen Schrift-
stellerei des universal gerichteten Althistoriker: W i p pe r, eines der interessantesten
Köpfe der durch den Marxismus verdrängten russischen Gelehrtengeneration, seit
1918 vgl. C. Friedland, Krugovorot professora istorii: Pečat’ i revoljucija
1928, H. 6 S. 8—19.
42) D. M. Petrule vs ki j, Oterki iz ekonomiteskoj istorii srednevekovoj
Evropy (Moskau 1928); vgl. im Folgenden S. 106 ff.
94
heftig befehdeten Tarle“) als einem anderen Vertreter der histo-
rischen Reaktion.
Dem hohen Lied Pokrovskijs auf die Ergebnisse der marxistischen
historischen Forschung ist nicht bedingungslos zuzustimmen, da
aus den eigenen Reihen skeptischere Stimmen gleichzeitig laut
wurden. Wenn Pokrovskij z. B. rühmend hervorhob: „Auf dem
Gebiete der westlichen Historiographie haben wir eine solche Menge
Arbeiten zur Geschichte des Klassenkampfes in der neuesten
Zeit, daß sie wahrscheinlich völlig alles aufwiegen, was darüber in
Rußland vor der Revolution gearbeitet worden ist“ und als Spezia-
listen „N. M. Lukin, Monosov, Friedland, Séegolev,
Zacher u. a.“ nannte (S. 27), so ist demgegenüber Rochkins ge-
dämpfteres Urteil wohl richtiger und ehrlicher, daß wissenschaftlich
für die Geschichte des Westens in den ersten zehn Jahren nach der
Revolution lediglich das Werk von Lukin „PariZskaja kommuna“,
die einzige streng marxistische Arbeit über die Pariser Commune,
einen wirklich großen Fortschritt und Erfolg bedeute.“)
Keiner der von Pokrovskij weiterhin genannten marxistischen
Spezialisten für die Geschichte des Sozialismus (V. P. Volgin), für
die Geschichte der antiken Welt (A. I. Tjumenev, P. F. Preo-
brazenski)), für das Mittelalter (E. A. Kosminskij)") kann
sich an Ansehen im Ausland auch nur entfernt mit D. B. Rjazanov
und seinem Mitarbeiterkreis am Marx-Engels-Institut messen.
Mit berechtigtem Stolz konnte Pokrovskij darauf hinweisen,
daß auf dem Gebiete der russischen Geschichte eine Reihe historischer
Probleme sowohl durch Materialveröffentlichungen wie durch die
marxistische Betrachtungsweise in den letzten Jahren gefördert
worden sind; es genügt, an den Pugalev-Aufstand, die Dekabristen,
das Jahr 1905, die Bauernbewegung 1905—1907 und 1917, die
marxistische Beleuchtung der russischen Geschichtsschreibung des
19. Jahrhunderts zu erinnern.“)
40) Siehe im Folgenden S. 109.
) Vestnik Komakad. 26 — 1928 H. 2 S. 284.
) Von ihm s. Russian work on english economic history: The economic
history review I (1927), 208—288. Vgl. auch Anm. 188.
.) Da sich der russische Beitrag zu den Gesellschaftswissenschaften und die
Leistung russischer Gelehrter in der Geschichtswissenschaft seit 1918 nicht aus-
schließlich in der wissenschaftlichen Arbeit innerhalb der Grenzpfähle der Sovet-
union erschöpft, erscheint hier als notwendige Ergänzung zu Pokrovskijs Über-
blik ein Hinweis auf den Anteil der Emigration an der historischen Forschung
im letzten Jahrzehnt berechtigt: Außer zwei Übersichten von A. Florovskij,
La littérature historique russe (Emigration). Compte-rendu 1921—1926: Bulletin
d'information des sciences historiques en Europe Orientale I, 1—2 (Varsovie 1928),
88—121 und: The work of russian émigrés in history (1921—1927): Slavonic
Review VII (1928—29), 216—219 — vgl. auch in der „Bibliothèque de la Revue
Historique“ im Sammelwerk: Histoire et historiens depuis cinquante ans. Méthodes,
Organisation et résultats du travail historique de 1876 à 1926, Bd. I (Paris 1927),
den im wesentlichen als Epilog auf die bürgerliche Geschichtsschreibung Rußlands
im angegebenen Zeitraum abgestimmten Beitrag „Russie“ von N. Kareev
(S. 841—870); s. ferner A. Kizevetter (Kiesewetter), Histoire de Russie.
Be des savants russes émigrés 1918—1928: Rev. Histor. 163 (1930),
7 ur 6 95
Auf der zweiten Konferenz im März 1929 waren u. a. vertreten:
die Kommunistische Akademie, das Marx-Engels-Institut, das Lenin-
Institut, das Institut der Roten Professur, das Leningrader Institut für
Marxismus;) aus der Ukraine das Ukrainische Institut für Marxis-
mus und Leninismus in Char’kiv und das Katheder für Marxismus
und Leninismus bei der Ukrain. Akademie der Wissenschaften in Kiiv,
ferner weißrussische Forschungsstellen. Diese Tagung — im
Gegensatz zu der des Vorjahres — einen betont philosophischen und
naturwissenschaftlich - theoretischen Charakter;**) Referate des Aka-
demikers A. Deborin über die Probleme der Philosophie des
Marxismus und von O. J. Sch mi dt über die Aufgaben der Marxisten
in den Natur wissenschaften standen im Mittelpunkt. Deborins Vor-
trag war bestimmt, Klarheit zu schaffen über die Aufgaben der
marxistisch-leninistischen Einrichtungen im Kampf für den dialekti-
schen Materialismus; er polemisierte gegen den Idealismus und jeg-
0 Ober die historische Abteilung des Leningrader Instituts für Marxismus
(Leningradskij nau¢no-issled. institut marksizma), in die die Leningrader Filiale
des Moskauer Instituts für Geschichte der RM ON umgewandelt wurde, be-
richtete auf der Moskauer Historikerkonferenz Seidel are): vgl. 11, 226 f.
Die Abteilung besteht aus einer Sektion für die ichte Rußlands und einer
Sektion für den Westen. In der Sektion für russische Geschichte arbeiten Gruppen
über Geschichte der Agrarverhältnisse; die Narodnikibewegung; die Ausstands-
bewegung; die Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung und über Quellen-
kunde; in der zweiten Sektion bestehen Gruppen für Altertum, Mittelalter und
die materielle Kultur; für Geschichte der französischen Revolution, die Geschichte
der Industrie-Revolution und die Geschichte der II. Internationale. Die Abteilung
beabsichtigt, das vor einigen Jahren cingegangene, vom Petrograder Gouverne-
mentsrat der Gewerkschaften angeregte „Archiv fiir Geschichte der Arbeit in Ruß-
land“ (Archiv istorii truda v Rossii) zu erneuern. — Siehe auch Vestnik Komakad.
27 — 1928 Nr. 8 S. 291
Das Leningrader Wissenschaftl. Forschung: · Institut für Marxismus ist seit
kurzem der Kommunistischen Akademie als ihre Leningrader Filiale angeschlossen;
vg. Pokrovskij, Na den fronta: Leningradskaja Pravda Nr. 66/4445 v.
8. März 1980 und S.Gonikman, Licom k socialistiteskoj praktike (Oterednye
zadali Leningradskogo otdelenija Kommunistideskoj Akademii): Ebda. Nr. 70/4449
v. 12. März 1980. — Vgl. Anm. 99.
Karev (Das Problem einer marxistischen Geschichte der We ger behandelt
werden: Mitt. der Pravda v. 20. Jan. 1980. — Vgl. auch S. Alichnjan, Za
TESA marksistsko-leninskij istoričeskij materializm: Kniga i revoljucija
Nr.
96
un 24.
Awe HR By.
WAR
D * iy
lihen Revisionismus, insbesondere gegen die Mechanisten, die sich
von der marxistisch-leninistischen Linie in der Philosophie abgewandt
hätten. —
Bedeutung für die russische Agrargeschichte hatte L. N. Kritz-
manns Vortrag: „Analyse des Bauernhofes“, eine Betrachtung der
„inneren Struktur und der inneren Veränderungsprozesse des Bauern-
hofes als des konstitutiven Elements des bäuerlichen Produktions-
systems“, im wesentlichen auf Grund der aus dem Agrarinstitut der
Kommunistischen Akademie hervorgegangenen Untersuchung von M.
Kubanin: „Die Klassennatur des Zerstückelungsprozesses der bäuer-
lichen Virtschaft..)
Eine nachhaltige Einwirkung auf die Leninforschung und
die marxistische Theorie dürften philosophische Fragmente aus
Lenins Nachlaß (Auseinandersetzungen mit Hegel, Plechanov, Marx)
ausüben, über die V. V. Adoratskij vortrug.
In einer Resolution bestätigten sich die Konferenzteilnehmer,
der dialektische Materialismus sei die einzige wissenschaftliche
Theorie, die dem Proletariat eine umfasende Veltanschauung und
eine Waffe im Kampfe für die proletarische Diktatur und die
sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft gebe. Pokrovskij er-
klärte in seinem Schluß wort u. a.: „Nicht zufällig haben wir uns im
gegenwärtigen Moment der sozialistischen „Rekonstruktion“, im
Moment eines auß erge wöhnlichen Aufschwungs, der an die Oktober-
revolution erinnert, zur Erörterung der theoretischen Fragen zu-
sammengefunden. Ich meine, daß die Beherrschung der Naturwissen-
schaft durch Kommunisten die dringendste Aufgabe ist. Wie einst-
mals die Losung ausgegeben wurde: ,,Proletarier — aufs Pferd!“
so sollte jetzt die Losung gegeben werden: „Kommunisten — zur
Natur wissenschaft!“ Solange wir nicht die Natur wissenschaften be-
herrschen, werden wir uns in Abhängigkeit von Leuten befinden, die
uns ideologisch fremd sind. Die Tatsache, daß wir in den
Gesellschafts wissenschaften den Taktstock in
unseren Hin den halten, ist ein Zeichen dafür, daß wir auch
*
s) „Klassovaja suStnost’processa droblenija krest’janskich chozjajstv.“ Vstup.
stat ja L. Kricmana. (Moskau 1929); vgl. dazu A. Sochin in der Pravda Nr. 121
(4255) v. 80. Mai 1929.
51) Vgl. Adoratskij, V. I. Lenin o. gegelevskoj logike i dialektike: Pro-
letarskaja revoljucija Nr. 87 = 1929 Nr. A — Mit der Veröffentlichung von
Lenins kritischen Bemerkungen zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ (mit einer
Einleitung von A. Deborin, dtsch. in den „Philosoph. Heften“, hrsg. von Max.
Beck, II. Jg. H. 1, (Berlin-Wannsee 1929) hat die „Geschichte des Marxismus-
ini “ den wertvollsten Beitrag seit Jahren empfangen: V. I. Lenin, Kon-
spekt knigi Gegelja „Nauka logiki“ (1914) im: Leninskij sbornik IX. Izd. Instituta
Lenina pri CK VKP (b), Mosk. 1929; s. auch I. Podvolockij, Leninskij kon-
spekt „Nauki logiki“ i problemy materialisti¢eskoj dialektiki (I): Vestnik Komakad.
81 = 1929 H. 1 S. ITI—XLVII und 82 — 1929 H. 2 S. 30—78; V. V. Ado-
ratskij, O rabotach Lenina po filosofii: Ebda. 32 S. 198—210; M. Mitin,
Lenin i gegelevskaja dialektika: Revoljucija i kul’tura 1929 Nr. 7; P. Demczuk,
Lenin und Hegel: Der Rote Aufbau 2. Jg. (1929), 271—273.
97
auf dem Gebiete der Naturwissenschaften die Aufgabe bewältigen
werden... .“
An die Konferenz schloß unmittelbar eine eintägige Zusammen-
kunft der Gesellschaft der kämpfenden materialistischen Dialektiker™)
an. Die Gesellschaft besteht erst seit der Jahreswende 1928—29
und ist durch Verschmelzung der Be? allen Mechanisten und Freud-
Anhängern gereinigten) Gesellschaft der kämpfenden Materialisten™)
und der Gesellschaft der materialistischen Freunde der Dialektik
Hegels**) entstanden. Als ihre Hauptaufgabe betrachter die Gesell-
schaft das Eintreten für die prinzipielle Reinheit des marxistisch-leni-
nistischen dialektischen Materialismus und atheistische Propaganda.
Die theoretische Arbeit der Gesellschaft verdient Beachtung auch von
seiten der Historiker; bereits von der alten Gesellschaft der kämpfen-
den Materialisten wurden atheistische Kampfschriften des 18. Jahr-
hunderts wieder ausgegraben und neu herausgegeben..) Der dritte
Absatz des $ 1 in der Satzung der Gesellschaft der materialistischen
Dialektiker lautet: „Die Gesellschaft betrachtet als ihre Aufgabe
auch den Kampf gegen falsche Auslegungen des orthodox-dialektischen
Materialismus (ortodoksal'nyj dialekticeskij materializm) in den
historischen, den Wirtschafts-, Natur- und anderen Wissen-
schaften“ und $ 2 führt unter den besonderen Aufgaben der Ge-
$2) Pravda Nr. 86 (4220) v. 14. April 1929.
Zu einer weiteren Veröffentlichung aus Lenins philosophischem Nachlaß:
Konspekt lekcij Gegelja po istorii, konspekt istorii filosotü (I i II tomy) (Leninskij
sbornik XII, 1980) vgl. Nik. Karev in der Pravda Nr. 62 (4507) v. 4. Marz 1990.
Vgl. auch I. K. Luppol, Lenin i filosofija. K voprosu ob otnofenii filosofii
k revoljuciju. M.-L. ? 1929.
53) Oblẽestvo Voinstvujustich Materialistov-Dialektikov, abgekürzt: OVMD.
Sitz: Moskau, OstoZenka 58. Institut Krasnoj Professury.
88) Ob&estvo voinstvujuscich materialistov.
56) Obščestvo materialisticeskich druzej gegelevskoj dialektiki.
86a) Areisticeskie pamflety XVIII stoletija. Pod red. A. M. Deborina.
Die Protestbewegung der christlichen Kirchen gegen die vor allem vom Bund
der Atheisten (Sojuz Bezbo2nikov SSSR) betriebene antireligiöse Propadanga in
der Sovetunion, insbesondere das Hervortreten des Papstes durch seinen Brief an
den Cardinal Bas. Pompilj vom 2. Februar 1990 (vgl. l’Osservatore Romano
Nr. 88/21188 v. 9. Febr. 1980) rief die marxistische Wissenschaft zu Gegenkund-
N auf den Plan. N. Bu char in führte den Gegenschlag in einem 21 Spalten
angen (auch als Sonderdruck verbreiteten) Pamphlet „Finansovyj kapital v mantii
papy“ in der Pravda Nr. 65 (4510) v. 7. März 1980, einer historischen Übersicht
über die „finstere Institution“ des Papsttums.
Ein „Offener Brief“ russischer Astronomen an den Papst (, Otkrytoe pis mo
sovetskich astronomov pape Piju XI“), der am 27. März 1980 in der Pravda
(Nr. 85/4530) und in den Izvestija veröffentlicht wurde, bringt eine eigenartige
Note in die Diskussion mit der katholischen Kirche. Der Brief sucht die Geschichte
der Astronomie, die Haltung der Kurie gegenüber Giordano Bruno, Galilei,
Copernicus, Tycho de Brahe, Kepler „und viele andere Märtyrer der Wissenschaft“,
gegen das Papsttum auszuspielen und fordert die Offnung der Geheimarchive der
Inquisition, in denen der Welt bisher vorenthaltene Schriften Galileis zu vermuten
on ... Merkwiirdigere Verfechter der „Freiheit der Wissenschaft" hat es nie
gegeben.
98
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sellschaft die Beschäftigung mit Fragen des historischen Materialismus
auf.
KS der Tagung der marxistischen Agrartheoretiker (Konferencija
agrarnikov-marksistov) am 25. Mai 1929 wurden auch Sektionen fiir
die Geschichte der Agrarrevolution und fiir die Agrarfrage im Orient
gebildet;“) A. Heister (Gajster) trug über „Die Ergebnisse der
Agrarrevolution in Rußland“ vor.
Das Lenin - Institut.“)
Das Lenin- Institut, das sämtliche gedruckten und handschrift-
lichen Materialien, die sich auf Lenin beziehen, vereinigt, besteht seit
1923. Seine Aufgabe ist die Bearbeitung von Lenins Nachlaß, die
Erforschung der Geschichte der Russischen Kommunistischen Partei
und der Kommunistischen Internationale. Bereits im Herbst 1920
wurde eine „Kommission für die Geschichte der Kommunistischen
Partei Rußlands und der Oktoberrevolution“ ) eingesetzt. Die Kom-
mission, die mit einem Netz von Filialen arbeitet, hat sich um die
Sammlung und Herausgabe von Materialien zur Geschichte der Ok-
toberrevolution und der russischen revolutionären Bewegung in den
letzten Jahrzehnten ein großes Verdienst erworben. Der weitgehende
Parallelismus der Aufgaben der parteigeschichtlichen Kommission und
des Lenin-Instituts führte 1928 zur Vereinigung der beiden Ein-
richtungen.
se) Vgl. Ustav Ob kes tva voinstvujul& ich materialistov-dialektikov (OVM O):
Vestnik Komakad. 81 — 1929 Nr. 1 S. 248—253; M. B. Mit in, O voinstvujulèem
dialektièeskom materializme: Pravda Nr. 29 (4168) v. 5. Febr. 1929; Pravda
Nr. 76 (4210) v. 8. und Nr. 89 (4228) v. 18. April 1929.
87) Vgl. Vestnik Komakad. 81 — 1929 H. 1 S. 240; Pravda Nr. 60 (4208)
v. 26. März 1928: K agrarnikam-marxistam.
se) „Das Lenininstitut“: Wochenbericht 8. Jg. Nr 4 (28. Jan. 1927): E.
Sallaj, Institut V. I. Lenina pri CK VKP (b): Pečat’ i revoljucija 1927 H. 7
S. 270—275; (E. L.), Das Lenin-Institut: Moskauer Rundschau 1. Jg. Nr. 27/28
v. 17. Nov. 1929. — Das Institut gibt drei Reihen heraus: den „Leninskij sbornik“
(bisher 18 Bände) zur Veröffentlichung von Lenin-Materialien, „Leniniana“ (bisher
5 Bände, Bibliographie der russ. Lenin-Literatur 1924—1928), „Zapiski Instituta
Lenina (bisher 8 Bände), außerdem die speziellen Istpartorgane: „Proletarskaja
revoljucija“ und „Z pola walki“ (Žurnal, posvjašč. istorii revoljucionnogo dviZenija
v Polk, in polnischer Sprache). — M. Savel’ev, Rabota Instituta Lenina:
Trudy I, 28—85; ders.: Vestnik Komakad. 82 — 1929 H. 2 S. 225—229.
se) Otdel CK VKP (b) po izuteniju istorii Oktjabr’skoj Revoljucii i VKP (b)
= „Istpart“; vgl. P. LepeSinskij, Objasnicel’naja zapiska k programme po
istorii RKP: Proletarskaja revoljucija 1922 Nr. 5 S. 45—91; N. Bel & i ko v
(Literatura po archivnomu delu 1917—1928): Archivnoe delo H. 2 (1925), 158 bis
157: Archiv revoljucii; S. Piontkovskij, Oktjabf i russkaja istori&eskaja
nauka: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2 S. 112—121; V. I. Nevskij, Cto sdelano
po istorii revoljucionnogo dviZenija za desjat let (1917—1927 g.): Pečat’ i revol-
jocija 1924 H. 8 S. 62—69. — Über die Tätigkeit der Polnischen Kommission des
Istpart vgl. St. Bo bins ki j, Materialy po istorii pol’skogo bol“ Jevizma: Ist.
Marxist 7, 255—260.
99
Ausführungen Savel’evs über die Aufgaben des Lenin-
Instituts und die Filialen des Istpart, mit denen Anfang Januar 1929
eine an die Konferenz der marxistischen Historiker anschließende
Tagung der Vertreter der lokalen Istpartbureaus im Lenin; Institut
eröffnet wurde,“) entwickelten das durch die Verschmelzung er-
weiterte Programm der „Hochschule der revolutionären Strategie“,
wie Trockıj das Institut einmal genannt hat.“) Außer seiner
Hauptaufgabe, der beschleunigten Fertigstellung der Gesamtausgabe
von Lenins Werken, wird das Institut — um eine vom 15. Parteitag
empfangene Direktive zu erfüllen — die Vorbereitung einer wissen-
schaftlichen Geschichte der Partei in Angriff nehmen. Savel’ev
kündigte ferner eine neue Zeitschrift, ein „Archiv instituta Lenina“
zur Veröffentlichung von Dokumenten aus der Geschichte der Partei
an.) Der zweite Redner (Essen) erläuterte die speziellen Aufgaben
der lokalen Istpart - Organisationen,“) u. a. wies er auf den unbe-
friedigenden Stand der Literatur zur Geschichte der Partei in der
Epoche der Reaktion nach 1905 hin. Den Abschluß der Tagung
b SE: ein Referat über die parteigeschichtliche Arbeit in Lenin-
gi ad.“
) I. vsesojuznoe sovedtanie zavedujußlich mestnymi Istpartami: Izvestija
Nr. 6 (8542) v. 8. Jan. 1929; Pjatoe vsesojuznoe soveščanie istpartrabotnikov 5
do 7 janvarja 1929 g. (Stenografil. order), Mosk. 1929; vgl. auch Sa vel evs
Bericht über das Lenin-Institut auf dem Moskauer Historikerkongreß: Istorik-
Marksist 11, 225 f. und Trudy I, 28—85.
D Rede zum fünfjährigen Bestehen der Sverdlov-Universität: Izvestija
Nr. 185 v. 10. Juni 1923.
62) Die Istpart-Organisation bildet einen der beachtenswertesten Versuche,
—
historische Arbeit zu popularisieren. Ein Artikel von M. Essen Gstpartovskaja
ob&estvennost’: 5, 278—282) berichtet über ein eigenartiges, anscheinend geglückte:
Experiment, aus alten Mitgliedern der Partei der Bolscheviki Gruppen zu bilden,
um die Arbeit der für die Geschichte der Partei gebildeten Kommissionen zu
prüfen und zu ergänzen und namentlich da einzuspringen, wo in der Doku-
mentierung der Geschichte der revolutionären Bewegung Lücken vorhanden sind. —
Um die Erinnerung an die Revolutionsbewegung, illegale Propagandatätigkeit,
Gefängnis, Katorga und Strafverbannung wachzuhalten, wurde durch die „Gesell-
schaft der ehemaligen politischen Strafgefangenen und Verschickten“ ein revolu-
tions-historisches Wandertheater begründet: Izvestija Nr. 200 (8786) v. 81. August
1929. Ober die Bemühungen, im russischen historischen Film den Stil der Ver-
gangenheit getreu zu rekonstruieren, vgl. die Beispiele des Regisseurs J. Tar id:
Wochenbericht 4 Jg. Nr. 18—19 (5.—12. Mai 1928), 19 f. — Als typische Kritik
der Aufführung eines historischen Bühnenstücks, von A. Tolstojs „Peter I.“,
führe ich aus der Pravda Nr. 69 (4514) v. 11. März 1980 an: „Es ist nichts von
jenem Hauch des Handelskapitalismus zu spüren, der die reformatorische Tätig-
keit Peters umweht und der die bewegende Kraft seiner Reformen war“
(L. Cernjavski)).
) Über einen Skandal im Krim-Istpart im Zusammenhang mit der Ver-
öffentlihung von P. V. Makarov, Ad’jutant generala Maj-Maevskago. Iz
vospominanij nač. otrjada Krasnych partizan v Krymu (Leningrad 1929); vgl.
Rul’ (Berlin) Nr. 2681 v. 24 Juli 1929.
68) Vgl. Izvestija Nr. 6 (3542) v. 8. Jan. 1929.
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Das Marx - Engels - Institut.“)
Verhältnismäßig wenig ist bisher im „Istorik-Marxist“ über die
Tätigkeit des Marx-Engels-Instituts zu finden;“) auch auf der
marxistischen Historikerkonferenz wurde nur über Lenin-Institut
vorgetragen. Das Marx-Engels-Institut ist das „marxistische
Arsenal“ und erhebt den Anspruch, das einzige „wissenschaftliche
Laboratorium“ der Welt für „Marxkunde“, für die Geschichte des
wissenschaftlichen Sozialismus und die Geistesgeschichte der Neuzeit,
die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf des Proletariats im
Westen zu sein.“) Die Ausstattung des Instituts mit wissenschaft-
lichen Hilfsmitteln — allein die Bibliothek zählt bereits
330 000 Bände — sucht in der Welt ihresgleichen.“ )
€s) Die Begründung dieses Instituts (wie auch des Lenin-Instituts) wurzelt
in dem Glauben, „daß die auf breitester wissenschaftlicher Grundlage vollzogene
Errichtung eines Marx-Engels-Kultus einen ideellen Gewinn für die Festi
die Sicherung und das Ansehen der Sowjet-Republik bedeutet. Nach den Kaisern,
Königen, Feldherren der militärischen Epoche, nach den Entdeckern, Erfindern,
Unternehmern des bürgerlichen Zeitalters, nach den Heiligen und Märtyrern
ubenserfüllter Epochen werden nun sozialistische Theoretiker die Staats-
ıdeologen einer großen Nation“: A. Meusel in den „Kölner Vierteljahrsheften
für Soziologie“ 6 (1926—27), 299.
se) Die eingehende Würdigung der Publikationstätigkeit des Instituts, die
bereits 1926 in der ersten Nummer der Zeitschrift verheißen worden war —
institute K. Marksa i F. Engel’sa pri CIK SSSR: 1, 828—825 —, steht heute
noch aus; lediglich Bd. III des „Archiv K. Marksa i E. Engele: (1927) wurde
in Heft 7 (S. 279—281) besprochen.
Die monumentale Ausgabe der Werke von Marx und Engels in 27 Bänden
(X. Marks i F. Engel’s, Sotinenija), die das Institut unter der Redaktion von
D. Rjazanov erscheinen läßt und die 1982 abgeschlossen vorliegen soll, um-
faßt in Bd. I—XIV Publizistik, Philosophie und Geschichte, in Bd. XV—XX
wirtschaftliche Untersuchungen, in Bd. XXI—XXVII Briefe; die Bände 1—8,
5, 8, 21—28 sind bereits erschienen. Außerdem sind die Vorarbeiten für eine
„akademische“ Ausgabe der Werke von Marx und Engels im Gange. — Das
Institut hat ferner mit der Veröffentlichung der Werke Hegels (bisher Band I, 1:
Encik] ija filosofskich nauk. Logika, mit Einl. von A. Deborin: Hegel i
dialekti¢eskij materializm), G. V. Plechanovs, K. Kautskys und P. Lafargues be-
gonnen und gibt neben den Zeitschriften: „Archiv K. Marksa i F. Engel’sa“ und
den „Letopisi Marksizma“ mehrere Serien heraus: „Biblioteka nautnogo
jalizma“, ,,Issledovanije po istorii i teorii marksizma“, „Issledovanija po istorii
proletariata i ego klassovoj bofby“, „Biblioteka materializma“, iki
socializma“, „Klassıki političeskoj ekonomii“, „Biblioteka marksista“.
Uber die Publikationstätigkeit des Instituts im Jahre 1929 vgl. G. Seidel
(Zajdel), Prodvinem v massy aktiva idejnoe nasledie Marksa i Engel’sa: Lenin-
gradskaja Pravda Nr. 285 (4859) v. 10. Dez. 1929.
67) Vgl. E. Czobel, Institut K. Marksa i F. Engel’sa: Pečat’ i revoljucija
1927 H. 7 S. 257—200; G. Lenz, Das Marx-Engels-Institut in Moskau: Histor.
Zeitschrift Bd. 187 (1928), 498—501; F. Schiller, Institut K. Marksa i
F. Engel’sa v Moskvi: Prapor marksizmu 1929 Nr. 4 S. 188—189; A. Bern-
feld, Das Marx-Engels-Institut: Moskauer Rundschau Nr. 26 v. 8. Nov. 1929.
Das Marx-Engels-Institut: Marx-Engels-Archiv I 3 448—400; über das
Archiv des Instituts: Archivnoe delo 20 (1929), 24— ie Kee Bestim -
mungen des im Sommer 1929 bestätigten neuen Statuts teile ich im Anhang
(S. 190 £.) in Übersetzung mit.
eva) Vgl. den Bericht Rjazanovs vor dem Zentralexekutiv-Komitee der
UdSSR am 8. März 1980: Izvestija Nr. 62 (8909) v. 4. März 1980.
101
Zum 60. Geburtstag D. B. Rjazanovs, des Begriinders und
Leiters des Instituts, im März 1930*”°) erschienen mehrere bemerkens-
werte Kundgebungen: A. I. Rykov erklärte die Marxkunde
als einen neuen Wissenszweig, der aufs engste mit dem revolutionären
Kampf des Proletariats für den Sozialismus verbunden sei,“) das
Lenin-Institut erkannte das Marx-Institut als einen der wichtigsten
Vorposten im Kampfe der Kommunistischen Partei für die möglichst
weite Verbreitung der marxistisch-leninistischen Ideen an“) und das
Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale rühmte
Rjazanovs Institut als eine Stütze aller Sektionen der Komintern in
ihrem Kampf mit den Verdrehungen, denen der Marxismus durch die
Inspiratoren der Zweiten Internationale ausgesetzt sei. Im Glück-
wunsch der nächsten Mitarbeiter des Jubilars, der Parteizelle und des
„Kollektivs“ der Mitarbeiter des Marx-Engels-Instituts, hieß es:
„Die Aufgaben und die Rolle des Instituts wachsen mit jedem Tag. Soeben, in
der Periode der tiefen Krisis der bürgerlichen Wirtschaft, Politik und Kultur während
des gleichzeitigen grandiosen Aufbauens des einzigen Landes der Welt mit der
Diktatur des Proletariats, erscheint die marxistisch-leninistische Theorie als die
Kraft, mit deren Hilfe das Proletariat alle großen Aufgaben des Aufbaus des
Sozialismus in unserem Lande und in der internationalen proletarischen Revolution
löst. Die wissenschaftlihe Aufgabe der Arbeiten von Marx und Engels... ,
ebenso die ganze wissenschaftliche Forschungsarbeit des Instituts... dienen diesen
großen Aufgaben "ef
Eine Entschließung des Präsidiums des Exekutiv-Komitees der
UdSSR auf Grund von Rjazanovs Bericht über die Tätigkeit des
Instituts 1928/29 erachtet als notwendig, „daß in der gegenwärtigen
Periode der Verschärfung des Klassenkampfs und der verstärkten Ent-
wicklung der wissenschaftlichen Tätigkeit in der UdSSR, insbesondere
auf dem Gebiet der Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, und
beim Anwachsen der wissenschaftlichen Cadres das Institut alle Mög-
lichkeiten im höchsten Maße ausnutze, um das Hauptzentrum der
Forschungs- und Popularisierungsarbeit auf dem Gebiet der Marx-
kunde zu werden, indem es seine Arbeit mit der Tätigkeit der
Kommunistischen Akademie und des Lenin-Instituts in Einklang
bringe“; die Resolution regt an (oder nimmt eher wohl eine An-
regung Rjazanovs auf), das Institut solle periodische Konferenzen der
eb) Vgl. E. Czobel D. B. Rjazanov, kak marksoved: Izvestija
Nr. 68 (3915) v. 10. März 1990; M. Pokrovskij, D. B. Rjazanov v sovetskom
stroitel’stve: Pravda Nr. 69 (4514) v. 11. März 1930; I. Ran, Revoljucioner i
ulenyj: Pravda Nr. 81 (4526) v. 23. März 1980; V. Kirpotin, David
Borisovič Rjazanov: Leningradskaja Pravda Nr. 88 (4462) v. 25. März 1980;
G. Seidel (Zajdel’), D. B. Rjazanov—revoljucioner i ucenyj: Ebda. Nr. 86
(4465) v. 28. März; ders., Rjazanov-istorik: Problemy marksizma (Organ Lenin-
gradskogo Otdela Kommunist. Akad.) 1990 Nr. 2.
ec) Pravda Nr. 68 (4518) v. 10. März 1980.
67d) Ebda.
eze) Pravda Nr. 70 (4515) v. 12. März 1930.
ef) Pravda Nr. 68.
102
„Spezialisten fiir Marxkunde“ (specialisty-marksovedy) aus der ganzen
Union veranstalten..)
Fiir die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung sind
die Arbeitsgebiete des Marx-Engels-Instituts und des Lenin-Instituts
derart abgegrenzt, daß die Epoche der II. Internationale bis zum
Ausbruch des Weltkriegs zur Aufgabe des Marx-Engels-Instituts ge-
hört, während die Sprengung der II. Internationale durch den Krieg
und die III. EE vom Lenin-Institut bearbeitet werden.
M. N. Pokrovskij.
Der 60. Geburtstag Pokrovskijs“) wurde als Paradetag der
russischen marxistischen historischen Wissenschaft, als ein Jubiläum
marxistischen historischen Denkens gefeiert. Mit den von der Gesell-
schaft der marxistischen Historiker vorbereiteten Kundgebungen des
25. Oktober 1928, der als Tag der offiziellen Feiern festgesetzt
worden war, läßt sich keine Ehrung vergleichen, die einem Historiker
in einem anderen Lande je zu Lebzeiten zuteil geworden ist. Zum
Lobe Pokrovskijs als marxistischer Gelehrter, Revolutionär und
Politiker und als Organisator der Wissenschaft bleibt nichts mehr zu
sagen übrig. Aus unzähligen Kundgebungen einige markante Bei-
iele: „Sie, der Sie ihr ganzes Leben mit dem revolutionären Kampf
es Proletariats er haben, schreiten in der ersten Phalanx der
Kämpfer und halten hoch das Banner Marx-Lenins. . . . Sie schufen die
einzige Schule der Welt von revolutioniren marxistischen Historikern
und gelten mit vollem Recht als ihr Haupt, als Leader dieser Schule“
heißt es im Glückwunsch seiner Garde, der „Gesellschaft der marxisti-
schen Historiker“, nach einer eindringlich formulierten Wiirdigung
von Pokrovskijs Verdiensten.“) „Ihnen gehört in der Geschichts-
wissenschaft das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert des Sieges des
Proletariats“, verkündete die Glückwunschadresse der Leningrader
67g) Zadači Instituta K. Marksa i F. Engel’sa. Postanovlenie prezidiuma
CIK SSSR: Pravda Nr. 78 (4523) v. 20. März und Izvestija Nr. 88 (3980)
v. 25. März 1980; s. auch oben Anm. 67 a.
ei Geb. am 29. August 1868; über Pokrovskijs Lebensgang vgl. außer den
biographischen Notizen Anm. 73, die aus Anlaß von Pokrovskijs Kandidatur zum
Mitgliede der Akademie der Wissenschaften geschriebene Würdigung seines Lebens
und Werkes durch P. Gorin („M. N. Pokrovskij“) in den Izvestija Nr. 238
(8472) v. 12. Okt. 1928; s. auch diese Jahrbücher N. F. 4 (1928), 283. — Kurz
und bündig begründete der Wahlvorschlag der „Sektion der wissenschaftlichen
Arbeiter“ die Präsentation Pokrovskijs zum ord. Mitgliede der Akademie der
Wissenschaften mit dem einzigen Satz: „Weil seine Arbeiten den festen Grund
für die marxistische Methodologie der russischen Geschichte gelegt haben und weil
er gegenwärtig als das allgemein anerkannte Haupt der russischen Schule der
marxistischen Historiker anzusehen ist“: Izvestija Nr. 282 (8466) v. 5. Okt. 1928.
Zum Pokrovskij-Jubiläum vgl. die Veröffentlichung des „Komitet po
oznamenovaniju O0-letijja M. N. Pokrovskogo“: Na boevom postu
marksizma. Stenogramma torzestvennogo zasedanija, posvjalk. 60-letiju so
185 . i 35-letiju naučnoj dejatel’nosti M. N. Pokrovskogo (Mosk. 1929).
Spa) Na boevom postu marksizma 61—63.
103
Universität.) „Das ideelle Zentrum, das Frankreich vor hundert
Jahren war, befindet sich heute bei uns, an den Ufern der Moskva
und der Neva.) Ein stolzer Überschwang spricht aus Worten
Lunalarskijs, die Spezialisten Europas beneideten Rußland um
die hohe Stufe, die dort die Sicherung der Archivalien und das
Editionswesen erreicht hätten.“) Eigentümlich berührt die Be-
hauptung Sestakovs im Jubiläums-Hauptartikel des „Istorik-
Marxist“, die bürgerliche Geschichts wissenschaft fahre „aus völlig
verständlichen Ursachen“ fort, Pokrovskij tot zu schweigen“) —,
nachdem man es wenige Vochen zuvor gegenüber dem Führer der
russischen Historiker- Delegation in Berlin und Oslo an Aufmerksam-
keit und Aufmerksamkeiten gewiß nicht hatte fehlen lassen.“)
e) 10, 267.
70) Archivnoe delo 17 (1928), 75.
71) Izvestija Nr. 249 (8483) v. 25. Okt. 1928.
72) 9, 8.
73) Es würde zu weit führen, hier auf die Außerungen zum Pokrovskij-
Jubiläum näher einzugehen; ich begnüge mich mit einigen Hinweisen.
Im „Istorik-Marxist" wurde von A. V. Šestakov („M. N. Pokrovskij
— istorik-marxist“: 9, 8—17) Pokrovskij als Bahnbrecher des revolutionären
Marxismus in der russischen Geschichtsschreibung, von P. Gorin („M. N. Po-
krovskij kak istorik pervoj russkoj revoljucii“: 9, 84—57) als Historiker der
ersten russischen Revolution von 1905, von D. Kin, („M. N. Pokrovskij kak
istorik Oktjabr’skoj revoljucii“: 9, ae) und von N. Rubinstein
(„M. N. Pokrovskij — istorik vneinej politiki“: 9, 58—75) als Historiker der
äußeren Politik Rußlands gewürdigt. Eine nüchterne biographische Notiz
(M. N. Pokrovskij. Kratkaja biografiteskaja spravka“: 9, 79—88) brachte vor
allem die beispiellose wissenschaftsorganisatorische Leistung des Jubilars seit der
Oktoberrevolution zur Anschauung und eine durch die Bibliothek des Instituts
der Roten Professur zusammengestellte Bibliographie seiner Veröffentlichungen
(„Materialy k bibliografii M. N. Pokrovskogo 1896—1928“: 9, 218—281) schuf
für die „Pokrovskij-Forschung“, von der man heute schon sprechen kann und
der die Gefahren einer Pokrovskij-Philologie drohen (vgl. 9, 42 Anm. 1!) die
sichere Grundlage.
„Izvestija“ und „Pravda“ brachten am 25. Okt. 1928 besondere Pokrovskij-
Beilagen mit Beiträgen u. a. von Lunalarskij, V. Polonskij („P. als
Künstler“), V. Fritsche („Der Schöpfer der proletarischen Kultur“), A. Sesta-
kov („Der proletarische Historiker P.“), Evg. Krivolein az („Der kämpfende
bolschevistische Historiker“): Izvestija Nr. 249 (3488); N. Bucharin („Der
Professor mit der Pike“), D. Kin („Der Historiker der proletarischen Revo-
lution“), A. Sidorov („P. und die russische Geschichte“), N. Rubinstein
(„Der Historiker der äußeren Politik“): Pravda Nr. 249 (4081); P. Gorin („Der
kämpfende marxistische Historiker“) und S. Dubrovskij („Die Agrarfrage
in den Arbeiten von P.“; vgl. A. Heister [Gajster], M. N. Pokrovskij —
istorik agrarnoj revoljucii: Na agrarnom fronte 1928 Nr. 10 S. 8—6): Pravda
Nr. 250 (4082) v. 26. Okt. 1928; A. S. Bubnov („Der Theoretiker der
leninistischen Schule“): Izvestija Nr. 251 (8485) v. 27. Okt. 1928 (vgl. dazu
Istorik-Marxist 10, 270). — Weitere Würdigungen z. B. im Vestnik Komak. 29
= 1928 H. 5 (Lunalarskij, V. Miljutin), Proletarskaja revoljucija
Nr. 81 = 1928 H. 10 (P. Gorin, Die historische Begründung der Oktober-
revolution in P's Arbeiten), Pečat’ i revoljucija 1928 H. 7 (V. I. Nevskij,
Istorik-materialist), Nauènoe slovo 1928 Nr. 10 (J. Min c); Novyj vostok
Nr. 25 (1929): V. Gur ko- Krja zin („M. N. Pokrovskij und die Er-
forschung der Geschichte des Orients“, S. 29—46) und A. E. Chodorov
(„M. N. Pokrovskij und die Erforschung des Fernen Ostens“, S. 1—28); Mirovoe
104
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Der Abstand zwischen der dogmatisch gebundenen marxistischen
und einer freien und tiefen Auffassung der Wechselwirkung zwischen
dem Individuum und der Gemeinschaft, die sich in Pokrovskijs Dank-
rede auf dem offiziellen Festakt“) zur maflosen Verherrlichung der
Klasse des Proletariats als der Wurzel seiner Leistung und der Quelle
seiner Kraft vereinfacht, läßt sich kaum schärfer andeuten als
durch Gegenüberstellung von Rankes Bekenntnis aus einem ähnlichen
Anlasse, ın seiner Dankrede am neunzigsten Geburtstag.
Der Kampf der Schule Pokrovskijs egen die bürgerliche Geschichts-
wisse 3
Den Kampf der marxistischen Historiker gegen die geringen
Überreste des alten bürgerlichen Professorentums an Hochschulen und
wissenschaftlichen Forschungsinstituten macht kein Vorgang der
letzten Jahre deutlicher, als die Auseinandersetzungen, die sih an
D. M. PetruSevskijs „Skizzen aus der Wirtschaftsgeschichte
Europas im Mittelalter“) knüpften. Das Werk, das sich erkenninis-
theoretisch an Rickert und Max Weber orientiert, wurde in einer
ausgedehnten Diskussion in der Soziologischen Sektion der Gesell-
schaft der marxistischen Historiker am 30. März und 6. April 1928
von mehreren Mitgliedern (Pokrovskij, C. Friedland, P. I. Kušner,
chozjajstvo i mirovaja politika 1928 Nr. 11 (F. Rotstein, P. als Historiker der
internationalen Beziehungen), Archivnoe delo 16 — 1928 H. 8 (V. Maksakov,
P. und die Frage der Archivorganisation), s. auch Arch. delo 17, 68—75; Ost-
europa 4 (1928—29), 308 f. — Sogar dem Schicksal, vom gefeiertsten Schmied
marxistischer Verse, Dem jan Bednyj, angedichtet zu werden, entging
Pokrovskij nicht: ,,Kul’turnejlemu“ — in der Pravda v. 25. Okt. 1928.
Frau M. V. Nelkina, die die Unvorsichtigkeit begangen hatte, 1919 als
Studentin nicht ganz parteifromm „Die russische Geschichte in der Beleuchtung
des ökonomischen Materialismus“ (vgl. diese „ N. F. IV, 287 Anm. 23),
im wesentlichen eine Gegeniiberstellung Rozkovs und Pokrovskijs, zu schreiben
(s. dazu V. Nevskij in Pečat’ i revoljucija 1928 H. 7 S. 181—188), und der
diese Jugendsünde namentlich zur Zeit des Pokrovskij- Jubiläums wiederholt vor-
gehalten wurde (vgl. A. V. Šestakov, M. N. Pokrovskij — istorik- marks ist:
H. 9; N. Stepanow zu M. Cvibak, Rokkov-istorik, Taškent 1927: 9,
183—187), leistete öffentlich Abbitte, indem sie in einer Erklärung die zahl-
reichen Irrtümer und Fehler der Arbeit auf ihre damalige ungenügende marxi-
stische Vorbereitung schob (11, 277 f.); sie ist inzwischen längst eine fleißige
und „ideologisch untadelhafte Mitarbeiterin des „Istorik-Marksist“ geworden.
— Bei der Verfeinerung der historischen Kritik des Marxismus durch
Unterscheidung des ökonomischen, historischen und dialektischen Materialismus
— wobei der ökonomische Materialismus als „Materialismus minus Dialektik“
(Pokrovskij) an letzter Stelle rangiert, während „das Wesen des dialektischen
Materialismus geradezu darin besteht, alles historisch zu betrachten“ (Rja za -
nov: Vestnik Komakad. 26 S. 251) — mußte sich das Urteil über die Arbeit von
Frau Netkina im Lauf der Jahre ständig verschlechtern. — Vgl. A. V. Šesta-
k'o v, Proletarskij istorik — M. N. Pokrovskij: in den „Izvestija“ Nr. 249 (4383)
v. 25. Okt. 1928 und im „Istorik-Marxist“ H. 9.
74) Siehe unten Anlage 2.
78) Siebe Anm. 48; über Petrulevskij 3. E. A. Kos mins ky, Russian
. = english economic history: The economic history review Bd. I (1927),
6—21
105
S. S. Krivcov, V. D. Aptekar) völlig verworfen, während sich
A. I. Neusychin und E. A. Kosminskij mit vielen Vorbehalten dafür
einsetzten.
Das Stenogramm der Diskussion ist ein klassisches Dokument
zugleich der russischen und der deutschen Wissenschafsgeschichte:
Es gibt in der russischen historischen Literatur kein aufschlußreicheres
Zeugnis für den deutschen Einfluß in den russischen „Gesellschafts-
wissenschaften“, für die Auseinandersetzung der beiden Lager der
russischen Wissenschaft, des marxistischen und des nicht nicht-
marxistischen, mit der deutschen Philosophie und Soziologie der
letzten Menschenalter und mit der Forschung der Schule Dopschs über
das Mittelalter. *) Um sich vor dem Marxismus zu retten, erklärte
Friedland, nähmen die bürgerlichen idealistischen Historiker zu
den „extravagantesten Theorien des geschichtsphilosophischen
Denkens im Westen“, zu Max Weber und Troeltsch, ihre Zuflucht,
während auf dem Gebiete des konkreten historischen Wissens für sie
Dopsch maßgebend sei;“) und er versicherte: „Wir werden einen
hartnäckigen Kampf führen gegen den barbarischen Überfall auf den
Marxismus durch die in Mode stehenden westeuropäischen philo-
sophischen Schulen und ihre russischen Schüler.“ w)
Nur in der Gesellschaft der marxistischen Historiker konnte es
geschehen, daß durch PetruSevskijs Untersuchung hervorgerufene
Differenzen über Agrarkommunismus bei den Germanen sich zu
einem Streit um die richtige Interpretation einer Stelle in Engels
„Ursprung der Familie“ zuspitzten“), und nicht weniger typisch
78) Disput o knige D. M. Petrulevskogo: 8, 79—128: S. S. Krivcov
79—85; C. Friedland 85—90, 126—128; E. A. Kos mins kij 90—95,
117—119; A. D. Udal’cov 9%—90; A. I. Neusychin 99—104, 119—126;
P. I. KuSner 104—115; V. D. Aptekar 115—117; vgl. Histor. Ztschr. 140
(1929), 196. — Siehe auch die Rez. von A. Kiesewetter: Rul’ Nr. 2828
v. 25. Juli 1928.
mea) Vgl. N. N. Rosenthal (Rozental), Problemy zapadno-evropejskoj
sredne-vekovoj istorii v osvedtenii Dopla-Petrulevskogo: Im Sbornik 2 der
nr marksizma (Izd. Leningradsk. nautno-issledov. instituta marksizma),
1929; Friedland, Markzism i zapadno-evropejskaja istoriografija ere
einandersetzung mit Tröltsch): Istorik - Marxist 14, 17—21; V. Rudaf,
Vozmoinost’ i charakter istoriteskoj nauki (gegen Rickert): Bjulleten . . IKP
(s. oben Anm. 20a),
77) 8, 104.
78) 8, 127; „die Modetheorie der Soziologie Max Webers“: Udal’cov in
einer Diskussion über die marxistische Auffassung der Soziologie (12, 207).
7) Kosminskij und Kušner: 8, 88 und 106f.
Wann werden die marxistischen Historiker dahin kommen, das Gutachten
zu beherzigen, das Albert Einstein zur Herausgabe von Friedrich Engels
„Dialektik und Natur“ im II. Band des Marx-Engels- Archivs“ (herausg. von
D. Rjazanov, Frankfurt a. M. 1927) erstattete? Einstein schrieb: „Wenn dieses
Manuskript von einem Autor herrührt, der als historische Persönlichkeit nicht
interessierte, würde ich zu einer Drucklegung nicht raten; denn der Inhalt ist
weder vom Standpunkt der heutigen Physik noch auch für die Geschichte der
Physik von besonderem Interesse. Dagegen kann ich mir denken, daß diese
106
1 m GE: m e uw. ER EE BD
—
. „ „ P gf eg
offenbarte sich die Kanonisierung von Marx in einer abwehrenden
Bemerkung Neusychins:®) „Gen. Friedland gab D. M. PetruSevskij
den Rat, die „Deutsche Ideologie“ von Marx zu lesen. Ein sehr ver-
nünftiger Rat. Aber welche Belehrung für die mittelalterliche Ge-
schichte vermag er aus einer Arbeit zu schöpfen, die in den vierziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben ist? Er kann daraus
interessante Ideen, reiche Impulse auf dem Gebiete der Methodologie
entnehmen, aber Tatsächliches zur Frage, ob es bei den Germanen
die Gemeinde gegeben hat oder nicht, findet man im Text des Tacitus
und nicht in einer — überdies in den vierziger Jahren geschriebenen
— philosophischen Arbeit, wenngleich sie von Marx selbst herrührt“,
— eine Ketzerei, mit der der Redner seine Geltung als Marxist aufs
Spiel setzte.
A. D. Udal’cov*) argumentierte u. a.: Petrusevskijs Werk
sei ein Buch, von dem einer der Diskussionsredner mit Recht sagen
konnte, daß es seiner Art nach völlig außerhalb aller der Streitfragen,
aller der Diskussionen, aller der Interessen stehe, die den Inhalt der
heutigen russischen marxistischen Wissenschaft bilden; es sei nach
Westen orientiert und wende sich im Grunde an den Westen. Das
Buch sei ein Produkt der westeuropäischen wissenschaftlichen Ent-
wicklung; die marxistischen Historiker müßten es überwinden,
indem sie an ihm die eigene marxistische Methode schärften und
Schrift für eine Publikation insofern in Betracht käme, als sie einen interessanten
Beitrag für die Beleuchtung von Engels’ geistiger Bedeutung bildet“ (S. 141).
Professor KraZeninnikov (Voronež), der es wagte, bei den Neu-
wahlen der Hochschullehrer im Frühjahr 1929 freimütig einzugestehen, er sei
nicht Marxist, sei es nie gewesen und könne es nicht werden, und fortfuhr:
„Auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft haben Marx,
Engels und Lenin nichts geleistet“, empfing die „gebührende Ant-
wort“ durch Entfernung aus dem Amt: Pravda Nr. 187 (4271) v. 18. Juni 1929.
Die angeblichen Außerungen von Professoren des Pädagogischen Instituts in
Jaroslav, die ein Artikel von A. Vyšinskij in den Izvestija Nr. 3 (3850) v.
3. Jan. 1980 anführte: „Newton hat seine Gesetze auch ohne den Marxismus
entdeckt (Prof. Znamenskij), „Botaniker können auch ohne den Marxismus
auskommen“ (Prof. Sludskij) oder eine Erklärung des Professors am Kiever
Institut für Volkswirtschaft Ptucha: „Mit Politik befasse ich mich nicht.
Statistik ist keine politische Wissenschaft“ (Pravda Nr. 271/4405 v. 21. Nov. 1929;
dagegen: Sovetskaja statistika dolžna stat’ boevym oruliem! Pravda Nr. 24/4469
v. 25. Jan. 1980) werden als Beweise für „reaktionäre Gesinnung“ angesehen.
Im Glückwunsch der Aspiranten des Instituts für die nationalen Kulturen
des Sovet-Orients an Stalin zu seinem fünfzigsten Geburtstag, der die Aus-
wirkung der bolschevistischen Nationalitätenpolitik unter den orientalischen
Völkern der Sovetunion rekapitulierte, fehlte in der Aufzählung der Wider-
stände gegen das „Vordringen der sozialistischen Epoche“ nicht ein Hieb gegen das
„reaktionäre Professorentum“; man warf ihm vor, es versuche z. B. die Er-
forschung der Sprache oder Literatur von der Erforschung der Entwicklung der
materiellen Kultur, die Erforschung der Geschichte von der Erforschung der Ent-
wicklung der sozialökonomischen Formation zu trennen; vgl. Europ. Gespräche 8
(1980), 117.
s) 8, 102.
81) Vgl. Friedlands Replik 8, 127.
2) 8, 95, 90.
107
dadurch, daß sie dieser konkreten historischen Untersuchung eine
Reihe marxistischer konkreter Untersuchungen entgegenstellten.
Dagegen fand Kos mins k ij“) daß in Petrulevskijs Unter-
suchungen alle Grundkonzeptionen der Mittelalter - Forschung von
einem Gesichtspunkt aus behandelt worden seien, der ihre Uber-
setzung in die „ marxistische Sprache“ sehr leicht mache!
In anderem Zusammenhang äußerte Friedland in der
Campagne gegen PetruSevskij: Wenn PetruSevskij sich in seinem Auf-
satz: „Strittige Fragen der mittelalterlichen Verfassungs- und Wirt-
schaftsgeschichte“® gegen Büchers Schema wende, so kämpfe er damit
in Wirklichkeit gegen den Marxismus, der nach seiner Ansicht im
Grunde das Schema Büchers wiederhole.) — Petrulevskijs Er-
Srterungen, — hervorgegangen aus allgemein bekannter, langjähriger
Beschäftigung mit dem Gegenstand, ınsbesondere mit dem Feuda-
lismus™) —, bieten weder für seine weltanschauliche Stellung Über-
raschendes, noch sind sie in einem die marxistische Forschung ver-
letzenden oder herausfordernden Ton vorgetragen. Es bleibt das
Geheimnis seiner marxistischen Gegner, wie von ihnen gerade jener
Aufsatz als ein „antimarxistisches Manifest) einge-
schätzt werden konnte. ö
Pokrovskijs ußwort in der Diskussion“) ist die denkbar
schärfste Abrechnung des Seniors der marxistischen Historiker Ruß-
lands gleichzeitig mit zwei hervorragenden Vertretern der nicht-
83) 8, 95.
88) Zeitschrift für die gesamte Staats wissenschaft Bd. 85, 1928, S. 468—490
= Übersetzung des 1. Kapitels der ,,Ocerki iz ist. srednev. Evropy“: O neko-
torych predrassudkach i sueverijach, tormozjaščich razvitie nauki srednevokovoj
istorii, was dort nicht angegeben ist.
84a) Vgl. unten S. 197 Pokrovskijs Ausfall gegen Dopsch in seiner Rede am
25. Okt. 1928.
85) Zum Begriff des Feudalismus bei Petrulevskij vgl. Kosminskij 8,
93 f. und P. I. Kušner 8, 104—108; über den Feudalismus in Rußland vgl.
I. Trockij: 8, 188f. S. auch P. B. Struve über die Stellung von
N. P. Pavlov-Sil’vanskijs „feudaler Theorie“ in der russischen Rechtsgeschichte:
L. L’vov, Beséda s P. B. Struve-ulenym: Rossija i slavjanstvo Nr. 88 v.
17. August 1920; Struve, Feodal’nye elementy v gosudarstvenno-obXest-
vennom stroé udél’noj Rusi, im Sbornik russkago instituta v Pragé I (1929). —
E. A. Kosminskij, Pomestnyj stroj pozdnego srednekov’ja: Bjulleten’ . . .
IKP (s. oben Anm. 20 a), 54—62.
Die russischen Historiker haben sich jetzt zu O. Hintzes universal-
historischer Anschauung und Einordnung eines russischen feudalen (terminologisch
prazis definierten) Imperialismus und seines Zusammenhangs mit der Kultur und
dem Imperialismus von Byzanz zu äußern; vgl. Hintze, Wesen und Ver-
breitung des Feudalismus: Sitzungsberichte der Preuß. Akad. d. Wiss., Philol.-hist.
Kl. Jg. 1929, S. 840f.
e) Friedland: Pod znamenem marksizma 105; s. auch E. Krivo-
Zeina: Izvestija Nr. 200 (8588) v. 25. Dez. 1928.
sea) Sehr scharf wandte sich unlängst N. Majorskij in einer Besprechung
von Petrulevskijs „Olerki po istorii Anglijskogo gosudarstva i obščestva v srednie
veka“: Bjulleten IKP (s. oben Anm. 20 a), 92—96, gegen den Autor.
#7) Novye tecenija v russkoj istoriceskoj literature: 7, 8—17; vgl. Histor.
Ztschr. 140 (1929), 196
108
NN „ Z n is
E
marxistischen Geschichtsschreibung, — außer mit PetruSevskij, dessen
historisch-methodologische Anlehnung an Rickert und Max Weber als
Ausdruck bürgerlich-reaktionärer Gesinnung gebrandmarkt wurde,
mit dem Mitgliede der Akademie der Wissenschaften Professor
E. V. Tarle. Tarle stelle sich zwar in seinem Werke „Westeuropa
in der Epoche des Imperialismus) auf den Klassenstandpunkt, allein:
„Marxist ist nur, wer nicht nur den ökonomischen Faktor in der Ge-
schichte und den Klassenkampf anerkennt, sondern auch die unaus-
weihlihen Konsequenzen annimmt, die sozialistische Revo-
lution und die Diktatur des Proletariats.“ )
Von Differenzen in Einzelpunkten abgesehen, 2. B. in der Beur-
teilung der englischen Arbeiterbewegung und der Aussichten auf eine
sozialistische Revolution vor dem Weltkrieg,“) erscheint wesentlich
(und im allgemeinen zutreffend) die Charakterisierung Tarles als
eines russischen Sekundanten der Entente in der Kriegsschuldfrage.™*)
„Die Seiltänzerei, zu der der geehrte Historiker seine Zuflucht nimmt,
um die These: „Deutschland ist der Angreifer!“ zu retten, vermag
wahrlich die besten Rekorde des Goscirk”) zu überbieten.“ Zum
Beweise an. Pokrovskij Tarles Darstellung der Rolle Hartwigs
in der Vorbereitung des Balkanbunds, des Verhältnisses der serbi-
schen Regierung zu den Verschwörern von Sarajevo,“) der russischen
88) Zapadnaja Evropa v epochu imperializma.
8°) In ver röberter Form nahm auf Grund der Erklärungen Pokrovskijs
P. Gorin in der Presse den Kampf gegen Tarle auf: „Na istori¢eskom fronte“
in der Pravda Nr. 272 (4104) v. 23. Nov. 1928.
%) Po. ovskij erklärt einmal den Weltkrieg zum „Präventivkrieg der
Bourgeosie, in erster Linie der englischen, gegen die sozialistische Revolution“:
»Klassovaja botba i „ideologiteskij front“ in der Pravda Nr. 260 (4092) v.
7. Nov. 1928. Zu Pokrovskijs „Imperialistskaja vojna“. Sbornik statej (1915 bis
1927), Mosk. 1928 vgl. Istorik-Marxist 8, 218—220; vgl. auch das Referat in
diesen Jahrbüchern N. F. III (1927), 588 f. über Pokrovskij, Der historische Sinn
des Februar (Carismus und Bourgeoisie in der Februarrevolution).
ea) Tarle hat sich z. B. die Kritik von Bourgeois an der deutschen Akten-
publikation kritiklos zu eigen gemacht: „Man druckt nur das, was Deutschland
nützen kann. Das, was die Angriffspolitik des deutschen Imperialismus in der
Wei arg charakterisiert, druckt man nicht“: Aus einem Vortrag Tarles
(Archivnoe delo na zapade), Archivnoe delo 11—12 (1927), 100.
81) Gosudarstvennyj cirkus, Staatlicher Zirkus.
em Als Vorabdruck aus einem Werke, das in der Diskussion über die
Kriegsursachen und den Kriegsausbruch bald eine Rolle spielen dürfte, veröffent-
lihte N. P. Poletika ein Kapitel über den Mord von Sarajevo als diplo-
matischen Anlaß zum Kriege: Otvetstvennost’ za mirovuju vojnu (K analizu st.
281 Versal’skogo mirnogo dogovora): Saraevskoe ubijstvo kak diplomaticeskij
vod k vojne: 11, 49—82. Das Buch ist Anfang 1980 erschienen. — Aus um-
assender Materialkenntnis gelangt Poletika in einer Kardinalfrage — der Frage
der Mitwisserschaft der serbischen Regierung am Attentat — zu folgenden, von
der modernen russishen Forschung (Pokrovskij 7, 14; Rubinstein 11,
158 f.; Bol’$aja Sovetskaja Enciklopedija Bd. 14, 638 f.: N. G. 8 [Hartwig )
weitgehend geteilten Schlußfolgerungen: Es bestehen keinerlei Zweifel daran, daß
die serbische Regierung vorher von dem bevorstehenden ‚Attentat gewußt und sich
zu ihm fördernd verhalten hat. Ernsthafte Gründe liegen vor zu glauben, daß
einige Agenten der russischen Regierung (der russische Gesandte Hartwig in Bel-
109
Mobilmachung, des Eintritts Englands in den Krieg, des Friedens von
Brest-Litovsk, des Eingreifens der Vereinigten Staaten. In dem Ab-
schnitt über Brest-Litovsk sind die Akzente scharf gesetzt; in der
Wahl der Ausdrücke: „Überfall Deutschlands auf Sovetrußland“,
„reines Raubmanöver Ludendorff-Hoffmanns“ bricht die Bitterkeit
der persönlichen Erinnerungen des Autors als Mitglied der russischen
Delegation in Brest-Litovsk durch.“)
Man hat den Eindruck, daß Pokrovskijs massiver Angriff
sich nicht bloß gegen die beiden Gelehrten, gegen Einzelpersonen,
richtete, sondern daß zugleich die Institutionen, denen sie angehörten,
das in den Kreisen der marxistischen Historiker mit unverhohlenem
Mißtrauen beobachtete RANION-Institut für Geschichte und die
Leningräder Akademie der Wissenschaften getroffen und blofgestellt
werden sollten.“)
Das historische Institut der RANION.")
Das Institut für Geschichte der RANION (Institut istorii
RANION) wurde neben anderen Forschungsinstituten durch cine
Verordnung des Rats der Volkskommissare vom 4. März 1921 be-
grad und der russische Militarattaché Oberst Artamonov sicher, Sazonov und der
russische Generalstab möglicherweise) ebenfalls von dem geplanten Anschlag gewußt
haben. Nicht ausgeschlossen ist die Möglichkeit, daß man von dem bevorstehenden
Attentat auch in Regierungskreisen Frankreichs und Englands wußte (S. 82). Für
den letzten Punkt vermag Poletika jedoch außer sehr vagen Vermutungen nichts
anzuführen, was die Annahme rechtfertigt. |
®3) Vgl. diese Jahrbücher N.F. IV, 288 Anm. 15.
*) Es muß anerkannt werden, daß die Redaktion dem hart Angegriffenen
die Spalten der Zeitschrift zu einer längeren Entgegnung — „in ihrer ganzen Un-
antastbarkeit“, wie es allerdings spöttisch in einer redaktionellen Vorbemerkung
hieß —, öffnete: K voprosu o načale vojny. Otvet M. N. Pokrovskomu (Zur
Frage des Kriegsanfangs. Antwort an Pokrovskij): 9, 101—107. Tarles Replik —
eine gewundene und gekünstelte, nicht besonders glückliche Interpretation
seiner von Pokrovskij beanstandeten Formulierungen — bedeutet, darin kann man
dem Nachwort der Redaktion beipflichten, eine Milderung seiner parteiischen
Einstellung zur Frage des Kriegsausbruchs. Im Grunde ist eine Verständigung der
streitenden Parteien unmöglich, da Tarles Schwankungen auf einen teilweisen
Wandel seiner Ansicht über die moralische Verantwortung für den Kriegsausbruch
beruhen; der Marxismus dagegen beschränkt in der Frage der Kriegsursachen seine
Analyse im Kerne auf die Erkenntnis der im Imperialismus der Vorkriegszeit
wirksamen nationalen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren, aus deren inter-
nationalen Spannungen der Weltkrieg notwendig habe hervorgehen müssen. Die
Diskussion über die Entstehung des Weltkrieges ist durch das Duell Pokrovskij-
Tarle nicht gefördert worden.
N. Rubinstein konnte bei seiner Kritik der Behandlung des Kriegsaus-
bruchs in der 2. Auflage von Tarles Buch (Otstuplenie v boevom besporjadke: 11,
157—162) mit Recht von einer Vermengung konkret-historischer Fragen mit dem
Problem der moralischen Verantwortung für den Krieg sprechen. — Die Be-
sprechung der 2. Auflage von Tarles „Oderk novej3ej istorii Evropy (1814—1919)“
Leningrad 1929, in der Pravda Nr. 281 (8465) v. 6. Okt. 1929 zeigt, daß der Kampf
gegen T. in unverminderter Schärfe andauert, ebenso eine Rez. von S. Monosov
ım „Istorik-Marxist“ 13, 285—238.
DI Vgl. Anm. 21.
110
gründet und war 1921—1925 der Fakultät für Gesellschaftswissen-
schaften der ersten Moskauer Staatsuniversität“) angeschlossen. Bei
den Lehrstiihlen für Geschichte der damaligen Fakultät für Gesell-
schaftswissenschaften wurde damals die wissenschaftliche Forschung
von der Lehraufgabe der Katheder abgetrennt. Im September 1925
wurde die Verbindung des Instituts mit der Universität gelöst und das
Institut ein Glied der oben genannten Russischen Assoziation wissen-
schaftlicher Forschungsinstitute für Gesellschaftswissenschaften.
Ursprünglich bestanden im Institut fünf Sektionen für 1. alte,
2. mitte alterliche, 3. neue, 4. russische Geschichte und 5. für Ge-
schichte der außereuropäischen Gesellschaften und der Kolonial-
politik; die fünfte Sektion wurde bald mit der Sektion für neue Ge-
schichte vereinigt. Bei der Verschmelzung des Instituts für Sozio-
logie mit dem Institut für Geschichte (1923) erhielt das Institut eine
neue Sektion für Ethnologie, während bei der russischen Sektion 1926
eine Unterabteilung für neueste russische Geschichte (19. und 20. Jahr-
hundert) unter dem Vorsitz von V. I. Nevskij gebildet wurde.
Im Frühjahr 1928 wurden die Sektionen für russische und neue
russische Geschichte vereinigt unter kollegialer Leitung von
M. N. Pokrovskij (Präsident), V. I. Nevskij, A. E. Presn-
jakov, S. V. BachruSin und S. A. Piontkovskij
(Sekretär).*) Die Verwaltung des Instituts besorgte ein Kollegium
unter dem Vorsitz von D. M. Petru3evskij, dem Direktor des
Institut seit der Gründung. Jede Sektion hat ihr eigenes Präsidium.
Die wissenschaftlichen Kräfte im Institut (etatsmäßige und nicht etats-
mäßige) zerfielen ın wirkliche Mitglieder und in wissenschaftliche
Hilfsarbeiter erster und zweiter Stufe.“
Der Zweck des Instituts war ein doppelter: Auf der einen Seite
Forschungstätigkeit durch systematische Bearbeitung bestimmter
e der Geschichté und Ethnologie; andererseits die Ausbildung
qualifizierter Lehrkräfte in diesen Wissenschaften für die Hochschulen
und wissenschaftlicher Arbeiter für Forschungsunternehmen. Die Ein-
führung der ,,Aspirantur“ beim RANION-Institut für Geschichte,
wodurch die Ausbildung der künftigen Hochschullehrer nicht aus-
schließlich marxistischen Kräften überantwortet war, erklärte und ver-
teidigte Pokrovskij einmal durch Berufung auf den Satz Lenins:
„Wir müssen verstehen, den Kommunismus mit den Händen von
#0) I. Moskovskij gosudarstvennyj universitet = I- j MGU.
7) S. meine Notiz in der „Histor. Vierteljahrsschrift“ (1930), und
den Nachruf von A. Kiesewetter: Sovrem. Zapiski 41 (1980).
se) 9, 212.
6) Im Frühjahr 1927 wurden in Leningrad gleichzeitig eine Zweigstelle des
Instituts (Leningradskoe otdelenie instituta istorii) und ein Institut zur Erforschung
des Marxismus und Leninismus ins Leben gerufen; den Vorsitz im Leningrader
Kollegium und in der Sektion für russische Geschichte führte A. E. Presnjakov,
die Sektion für allgemeine Geschichte wurde von E. V. Tarle geleitet. Die Lenin-
grader Filiale wurde später aufgehoben und die Zweigstelle zur historischen Ab-
teilung des Leningrader Instituts für Marxismus umorganisiert: 5, 278; 11, 226 f.
— Vgl. Anm. 48.
u 111
Nicht-Kommunisten aufzubauen . . .) Die historischen Sektionen
stellten sich die folgenden Hauptaufgaben:
Sektion für alte Geschichte: Grundfragen der sozialwirtschaft-
lichen Geschichte des Altertums unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte
der Agrarverhältnisse; Geschichte des Städtewesens; religionsgeschichtliche Fragen in
der Epoche des Synkretismus (Urchristentum!) und ihre sozialen Voraussetzungen.
Sektion für Geschichte des Mittelalters: Grundfragen der
Wirtschafts- und Sozialgeschichte der mittelalterlichen Gesellschaft:
1. Aufhellung des Begriffs „Feudalismus“ als einer soziologischen Kategorie
durch Untersuchung der konkreten Besonderheiten der Feudalordnung in
verschiedenen Ländern des mittelalterlichen Europa unter Heranziehung des
Materials über feudale Verhältnisse in außereuropäischen Ländern, bei
heutigen Primitiven und bei Völkern des Altertums; |
2. Untersuchung der Agrarverhältnisse und des Städtewesens im Mittelalter,
insbesondere Verfolgung der Anregungen von Dopsch.
Sektion für neue Geschichte: Die Entstehung des Kapitalismus;
Sozialgeschichte Englands, Frankreichs und Deutschlands im 18. und 19. Jahr-
hundert; internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert; Geschichte der
ersten und zweiten Internationale.
Sektion fürrussishe Geschichte: Vorlina-Wirtschaft und Leib-
eigenschaft; Geschichte des Handels und der Industrie vom 17.—20. Jahrhundert;
Geschichte der äußeren Politik Rußlands im 18. und 19. Jahrhundert; Geschichte
der revolutionären Bewegungen vom 17.—20. Jahrhundert; Herstellung eines
historisch-geographischen Atlasses.
Auf die Institutstätigkeit — die Themen der Vorträge 1927 bis
1929, das Programm der Kollektivarbeit 1928—1929, Publikationen
usw. — kann hier nicht näher eingegangen werden.“)
Von den im „Istorik-Marxist“ beprochenen Veröffentlichungen
des Instituts“) wurden als Mängel das Fehlen einer „bestimmten
Konzeption“, das Vorhandensein reaktionärer Prinzipien und die
Schwäche der soziologischen Analyse betont;™) Petrulevski; ‚wurde
in seinem Nachruf für Savin eine Wendung Ber verübelt, die dem
Verstorbenen als Vorzug die Haltung des Wissenschaftlers nach-
rühmte, der die Wissenschaft nur um ihrer selbst willen getrieben
habe;“) rund heraus wurde geagt: „Die allgemeinen Ideen, die
100) Vgl. M. N. Pokrovskij, O nautno-issledovatel’skoj rabote istorikov:
Pravda Nr. 69 (4197) v. 17. März 1929.
101) Vgl. E. Morochovec: 5, 276—278; 6, 206—802; 9, 204— 212.
163) Trudy instituta istorii, Sbornik statej I (Pamjati A. N. Savina), 1926;
Uč. zapiski II (1927): 5, 211—217; vgl. auch Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2 S. 151
bis 158 (P. Preobraženskij). Über dieselben Bände vgl. das Urteil der
Emigration (A. Kiesewetter und P. Bicilli): Sovrem. Zapiski 84 (1928),
e 4 ;
193) S, 210, 214.
168) S, 210. — Die absolute Gegnerschaft der marxistischen Wissenschaft gegen
einen Begriff der „reinen“ Geschichte und der Wissenschaft „um ihrer selbst willen“
kommt in der folgenden Kußerung V. D. Aptekars in der Petrulevskij-
Diskussion drastisch zum Ausdruck: „Mir kommt es eigentiimlich genug vor,
man in den Mauern der Kommunistischen Akademie, auf einer Sitzung der
marxistischen Historiker Zeit mit der en der Ansicht des Gen. Neusychin
verliert, es könne am Ende des dritten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts einen
Historiker geben, der — von der objektiven Wirklichkeit völlig abgewandt — gar
112
historischen Themata und Konzeptionen der besprochenen Autoren
lassen sich sozusagen mit den Prinzipien der marxistischen Methodo-
logie nicht messen; sie vom Standpunkt der letzteren kritisieren,
bedeutet die idealistische Konzeption der russischen Geschichte kriti-
dieren“; ) trotz alledem wurde freimütig als unzweifelhaftes Ver-
dienst der Mehrheit der Aufsätze Überfülle an neuen, bis dahin
nicht veröffentlichten Quellen, die äußerste Sorgfalt in der Bear-
beitung des dokumentarischen Materials und die große, durch um-
fassende Heranziehung der einschlägigen Literatur bekundete Gelehr-
samkeit der Autoren anerkannt. Bie „Duldsamkeit“ der marxisti-
schen Kritik gegenüber den „Sammlern historischer Fakten“, als die
ihnen die Mehrzahl der nicht- marxistischen RANION- Historiker galt,
besteht eben darin, daß sie, wie Pokrovskij am Beispiel von A. I.
Zaozerskij „Caf Aleksej Michajlovič in seiner Wirtschaft‘)
hervorgehoben hat, keineswegs die Benutzung der historischen Fakten
eines selbst „1000 km vom Marxismus entfernten“ Sammlers ver-
schmäht, wenn sie nur nicht verfälscht seien und zur Unterstützung
der marxistischen Auffassungen verwandt werden können.“)
Trotz der starken Vertretung der marxistischen Forschung in
der Leitung des Instituts machte sich in den letzten zwei Jahren eine
wachsende Unzufriedenheit in marxistischen Kreisen mit dem Er-
scheinen nicht- marxistischer Untersuchungen von Institutsmitgliedern
geltend.“) Seitdem die erbitterte Diskussion um Petrusevskijs
„Skizzen aus der Wirtschaftsgeschichte Europas im Mittelalter“ die
Geschlossenheit der Phalanx der marxistischen Historiker einer harten
Belastungsprobe unterworfen hatte, wurde von marxistischer Seite
darauf hingearbeitet, einen deutlichen Trennungsstrich zwischen der
marxistischen Forschung und dem RANION-Institut für Geschichte
als Sitz und Hort der „wissenschaftlichen Reaktion“ zu ziehen. Diese
Bestrebungen sipfelten in der Begründung des Historischen For-
. i der Kommunistischen Akademie im Frühjahr
Die marxistische Geschichtswissenschaft und das Ausland.
Die russische marxistische Geschichts wissenschaft, deren Wege
in der ersten Dekade der Räterepublik das Ausland nur wenig
nicht mit dem politischen Leben verbunden ist, der ausschließlich in den Reichen
(v empirejach) des reinen Wissens schwebt auf der Suche nach der absoluten
Wahrheit — —“: 8, 115 f.
106) S. 217.
186) Caf Alekskj Michajlovič v svoem chozjajstvé = Zap. istoriko-filol.
fakul’teta imp. Petrogradskago universiteta Bd. 185 (1917).
1,4
108) Vgl C. Friedlands Anzeige der von Mitgliedern des RANION-
ituts bearbeiteten ,,Chrestomatija po social’no-ekonomileskoj istorii Evropy
v novoe i novejice vremja. Pod V. P. Volgina (1929): 11, 184—187; S. 185:
„Soll die Chrestomathie den Studenten helfen, sich von der Diktatur der
5 „dogmatischen“ Schemata zu befreien” — Vgl. auch
Anm. 823.
118
beachtet hatte, trat im Beginn ihres zweiten Jahrzehnts durch die
Russische Historiker-Woche in Berlin vom 7. bis
14. Juli 1928 und die mit ihr verbundene Ausstellung historischer
Literatur, wenig später durch die Teilnahme einer russischen
Historikerdelegation am VI. Internationalen Historikerkongreß in
Oslo — „délégation, celle qui a fait le plus sensation, parce Ou on
s’attendait à peine à la voir *) — vor die Veltöffentlichkeit. )
„Berlin“, „Oslo“ und — durch die I. marxistische Historiker-
konferenz am Ausgang des Jahres 1928 — „Moskau“ gelten als Sym-
bole für den e der Sovet wissenschaft“, demgegenüber Symp-
tome des unleugbaren und unaufhaltsamen Verfalls und Niedergan
(„zakat“, ,,upadotnidestvo’) der bürgerlichen Geek duswinen dial
aufgezeigt werdan. )
Der Niedergang der bürgerlichen Geschichts wissenschaft ist nur
eine Teilerscheinung im Bankrott der bürgerlichen Kultur überhaupt.
Kein Geringerer als Kalinin, der Präsident des Zentral-Exekutiv-
Komitees der Union, hat im März 1929 in einer Rede vor dem
Unions-Kongreß der Arbeiter für Bildungswesen (Vsesojuznyj s'ezd
rabotnikov prosvestenija) über die äußere und innere Lage des Staates
in diesem Sinne einen Vorgang der Zeitgeschichte, die Lateran-Ver-
träge vom 11. Februar, interpretiert. Die offizielle „ materialistische“
Wertung jenes Ereignisses, die schon als einzigdastehende Kundgebung
eines fremden Staatsoberhauptes in dor italienischen Konkordatsfrage
Beachtung verdiente, gebe ich im Anhang in wörtlicher Ubersetzung
als a fiir die ganz offizielle Lehre vom ,,Untergang des Abend-
andes“.
Warschau.
Als ersten Versuch, die russischen Historiker für die inter-
nationale Zusammenarbeit zu gewinnen, ließ 1927 das Warschauer
Organisationskomitee für die Konferenz der Historiker Osteuropas
106) M. Lhéritier, Le Vie congrès internat. des sciences historiques:
Revue de la Société des études historiques Bd. 94 (1928), 840—874.
100) Vor dem Auftreten russischer Historiker in Berlin und Oslo liegt eine
engere Fühlungnahme zwischen den skandinavischen Archivverwaltungen und dem
Centrarchiv, die im März 1928 auf einer Konferenz in Stockholm zur Einsetzung
einer internationalen Kommission zur Erforschung der Beziehungen zwischen
Skandinavien und Rußland führte; näheres in meinem Aufsatz über das russ.
Archivwesen in der Archival. Zeitschr. Bd. 89 (1960), 806.
1) Z. B. Gorin 11, 219; Mine 11, 277.
116) S. 197. — Die slavophile und die russische sozialistische Heilslehre sprechen
dem Westen gegenüber die gleiche Sprache: „Lenin hatte Recht, als er sagte, d
die Europäisierung unseres Landes im Grunde genommen mit der Oktober-
revolution begonnen habe. Doch indem wir von der Europäisierung sprechen,
geben wir uns davon Rechenschaft, da ie europäische
Kultur durch und durch verderbt ist. Wir sckicken uns nicht an,
Europa im Schlepptau zu folgen. Wir gehen einen anderen Weg. Die e
Kultur nehmen vir kritisch an und werfen aus ihr alles, was untauglich und
schädlich ist, heraus“: Aus einer Rede Luna K arskijs auf dem 14. „All-
russischen“ Rätekongreß. Pravda Nr. 110 (4244) v. 17. Mai 1929.
114
und der slavischen Linder Einladungen an wissenschaftliche Institu-
tionen auch der Sovetunian ergehen. Dieser Schritt stieß — wohl
auf einen Wink der Regierung — auf kühle Ablehnung. An der
Konferenz, die vom 26. bis Juni 1927 in Warschau und Krakau
tagte und einen Verband der historischen Gesellschaften Osteuropas
gründete, nahmen keine Vertreter aus der Sovetunion teil. Am
Eröffnungstage der Konferenz begründete A. Boreckij in den
vestija ) das Fernbleiben der Sovethistoriker ar überzeugend
damit, es sei zu befürchten, daß auf der Konferenz die unbedingt
reaktionäre“ panslavistische Idee Macht gewinne; in der Organisation
der osteuropäischen Geschichtsforschung wolle Polen sich den Vorrang
sichern, um ihn in politische Propaganda umzusetzen; vor allem aber
mache die Einladung von russischen Emigranten den Historikern der
Sovetunion die Beteiligung an der Veranstaltung unmöglich. In der
Schlußsitzung der Konferenz wies M. Handelsman den Vorwurf,
Polen strebe in den Wissenschaften nach einer Suprematie, entschieden
zuruck.
In der polnischen Initiative zur Einberufung der Konferenz kam
(wie 1928 in dem erfolgreichen Bemühen, daß der Siebte Internat.
Historikerkongreß in Warschau stattfinden solle) das gehobene Selbst-
tsein der befreiten Nation und das Bedürfnis der polnischen
Vissenschaft nach internationaler Geltung zum Ausdruck; der Vor-
gang konnte gerade bei Russen die Erinnerung an den 1903/04 von
Russischen Akademie der Wissenschaften vorbereiteten I. Kon-
greß der slavischen Philologen und Historiker wachrufen, der damals
„en vue des circonstances politiques“ hatte abgesagt werden
müssen..)
Die russische Publizistik verfolgt bei der dauernden Spannung
zwischen Polen und der Sovetunion die Tätigkeit des Ukrainischen
Instituts in Warschau und des am 23. Februar 1930 eröffneten Ost-
europa- Instituts in Wilna) mit unverhohlener Feindseligkeit. Zur
Wl ie des Wilnaer Instituts: Erforschung des Gebiets und der
Völkerschaften zwischen dem Schwarzen und dem Baltischen Meer,
schrieb D. Zaslavskij in einem gehässigen Artikel in der
Pravda***) folgenden Kommentar: „Vom Meer zum Meer —, das
ist die alte traditionelle Lösung der polnischen kriegerischen Szlachta,
die Losung der Eroberung von Gebieten und Staaten. Unter dieser
Losung erwuchs das historische polnische Köni und unter der
gleichen Losung ging es in Trümmer.“ — Erst die Zukunft kann er-
1108) S'ezd istorikov v Varšave: Izvestija Nr. 148 (8077) v. 26. Juni 1927.
116b) Conférence des historiens des Etats de l’Europe Orientale et du Monde
slave. Varsovie, le 26—29 juin 1927. Il-me partie: Compte-rendu et communi-
cations (Varsovie 1928), 41; s. auch: I. M., Die Konferenz der Historiker Ost-
europas und der slavischen Länder, in der Prager Presse v. 9. Juli 1927.
110c) Vgl. Pervyj s’&zd slavjanskich filologov i istorikov. I. Materialy po
organizacii s’ 1. avgust 1908—maj 1904. (St. Pbg. 1904.)
1104) Vgl. Osteuropa 5 (1928—29), 284.
419) Vedra so sporami...: Pravda Nr. 6 (4451) v. 6. Jan. 1980.
115
weisen, ob in Wilna ein Gegenstück zum „Westslavischen Institut”
der Universität Posen und dem ,,Baltischen Institut“ in Thorn ge-
schaffen worden ist, deren Tätigkeit wiederholt die deutsche Wissen-
schaft zu kritischer Abwehr genötigt hat.
Berlin.
Die Berliner Russische Historiker-Woche gab nach Jahren der
Isolierung dem Auslande zum ersten Mal eine Anschauung vom Stand
der Geschichtsforschung in der Sovetunion; sie war in den Jahren nach
dem Kriege neben der Russischen Naturforscher-Woche des —
1927 und der Woche der deutschen Technik in Moskau im Januar
1929 die eindrucksvollste Kundgebung zur Erneuerung der inter-
nationalen wissenschaftlichen Beziehungen Deutschlands nach dem
europäischen Osten. In der Veröffentlichung der 5 einer
Reihe hervorragender marxistischer Historiker und von Gelehrten
der Vorkriegszeit, die neben den Vertretern der offiziell herrschenden
Lehre des historischen, dialektischen Materialismus ohne doktrinäre
Bindung weiter im Geiste und mit den Methoden der westeuropii-
schen historischen Forschung arbeiten, stehen Namen der beiden
Richtungen paritätisch nebeneinander.
Ich beschränke mich hier auf Angabe der behandelten Themen:
M. N. Pokrovskij, Die Entstehung des russischen Abeolutismus; 112)
M. J. Ja vori ky j, Die Ergebnisse der ukrainischen Geschichtsforschung in den
Jahren 1917—1927; ders., Westeuropäische Einflüsse auf die Ideengestaltung
der sozialen Bewegung in der Ukraine im zweiten und dritten Viertel des
19. Jahrhunderts ;112)
V. V. Adoratskij, Das Archivwesen in der Russischen Föderativen Sovet-
Republik; 110)
S. F. Platonov, Das Problem, des russischen Nordens in der neueren Historio-
graphie ; 115)
V. A. Jurinec, Der soziale Prozeß im Spiegel der ukrainischen Literatur des
20. Jahrhunderts: 10)
D. N. Egorov, „Zur Kritik der mittelalterlichen Geschichtsschreibung West-
europas 110) und „Das Bibliothekswesen in der Union der Sozialist. Sovet-
Republiken“; ub)
111) Aus der historischen Wissenschaft der Sovet- Union. Vorträge ihrer Ver-
treter während der „Russischen Historiker woche“, veranstaltet in Berlin 1928 von
der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas. Hrsg. von O. Hoe tz ch
(= Osteurop. Forschungen N. F. Bd. 6), 1929.
113) S. 1—82.
118) S. 98—105 und 88—97.
118) S. 88—57.
115) S, 189—199; russ. u. d. T. „Problema russkogo severa v novejšej istorio-
grafii“: Letopiś zanjatij archeografičeskoj komissii za 1927—1928 gody = Vyp. 85
(1929), 105—114; von Pokrovskij in seiner Rede zur Eröffnung des om-
munistischen Historischen Instituts als ein „halb-belletristischer Aufsatz“ bezeichnet:
„Istorik-Marzist“ 14 S. 7. — Vgl. oben Anm. 8.
116) Nicht veröffentlicht.
116a) Nicht veröffentlicht.
116b) S. 79—87.
116
B. PaSukanis, Cromwells Soldatenräte;11%)
M. Dubrovskij, Die Stolypinsche Agrarreform;11)
K. Ljubavskij, Die Besiedelung des großrussischen Zentrums ;
IL Pik eta, Die Agrarreform in den östlichen Bezirken des Litauisch - Weiß
i Staates in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahr-
hunderts,11%8)
In der deutschen und in der russischen „offiziellen“ Bericht:
erstattung über die Russische Historiker-Woche treten total ver-
schiedene Einschätzungen der Veranstaltung hervor, die auch dann,
wenn man bei den russischen Äußerungen die unentbehrliche
agitatorische Färbung in Anschlag bringt, auf deutscher Seite einiges
Befremden hervorrufen müssen.
Berichte des Generalsekretärs der Deutschen Gesellschaft zum
Studium Osteuropas, auf deren Initiative die Veranstaltung zurück-
ging, beschränkten sich rein referierend darauf, im Sinne der Veran-
stalter die wissenschaftliche Bedeutung der Konferenz und der damit
verbundenen Ausstellung russischer historischer Literatur zu betonen
und vermieden es peinlich-korrekt, auf die politisch gefärbte Be-
richterstattung eines Teils der deutschen und in der ausländischen
Presse einzugehen.“
118c) S. nr
11
118) S. 106—127; vgl. dazu jetzt: M. K. Ljubavskij, Obrazovanie
osnovnoj gosudarstvennoj territorii velikorussko) narodnosti (Akademija Nauk
SSSR. Arch f. Komissija). Leningrad 1929.
1180) S. 158—188.
110) Ober die Historikerwoche vgl. „Osteuropa 8 (1927—28), 748 f. ro-
ES und Heft 11 (August 1928) des gleichen FA cc ie Die russische
istorikerwoche und die Ausstellung der russischen geschichtswissenschaftlichen
Literatur 1917—27 in Berlin“: S. 745—751 Rede von O. Hoetzsch E auch
seine Einführung der oben Anm. 111 genannten Veröffentlichung), 755—759 Rede
von Pokrovskij in der Eröffnungssitzung (sympathisch wirkte die achtungs-
volle Nennung Th. Schiemanns, des Begründers der osteuropäischen histo-
rischen Arbeit an der Berliner Universität; sie konnte den überraschen, der
Pokrovskijs Urteil über Schiemanns Nikolaus-Biographie kennt: „samoe černo-
sotennoe osvestenie, kakoe možno pridumat“: Pečat’ i Revoljucija 1928 H. 8
S. 102); 751—764 H. Jonas, Bericht über die Tagung; ders., Die Russ. Historiker-
woche: Histor. Ztschr. 189 (1928), 220 f.; R. Foerster, in der Histor. Viertel-
jahrsschrift 24. Jg. (1927—28), 675 f.; R. Salomon, Die Russ. Historiker-Woche
in Berlin: Hamburger Fremdenblatt Nr. 199 v. 19. Juli 1928. Über den an die
Berliner Woche anschließenden Besuch einiger russischer Historiker in Hamburg:
Osteuropa 4, 145 f.
I. Minc, Marksisty na istoriteskoj nedele v Berline i VI meZdunarodnom
kongresse istorikov v Norvegii: Istorik-Marxist 9, 84—96; E. B. Pa$ukanis,
Nedelja sovetskich istorikov v Berline: Vestnik Komakad. 80 = 1928 H. 6
delo 15 — 1 H 2 S. 88—88; M. Javorskij, Nimec’kij „tiZdeA- radjahskoi
nauki“: Prapor marksizmu 4 = 1928 H. 8 S. 229—289.
Zur Ausstellung russischer historischer Literatur aus dem Jahrzehnt 1917 bis
1927: M. Pokrovskij, Vystavka sovetskich istori¢eskich knig i dokumentov
v Nem. Akad. Nauk: Pravda Nr. 168 (8905) e 15. Juli 1928. — „Die Ge-
schichtswissenschaft in Sowjet-RuSland 1917—1927.“ Bibliogr. Katalog, herausg.
von der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas. Mit einem Vorwort
von Prof. O. Hoetzsch (Berlin 1928), — dazu die Besprechung von
A. N. Makarov in diesen Jahrbüchern N. F. 5 (1929), 260—263.
117
In welchem Sinne die russische Delegation sich als politischen
Faktor auffaßte und der Historikerwoche politische Bedeutung bei-
legte, geht besonders klar aus einer Äußerung im Bericht von
I. Minc im „Istorik-Marzist“ hervor, die ihre Spitze gegen die
deutsche Sozialdemokratie richtet; von ihr, die im Wahlkampf kurz
zuvor einen großen Erfolg errungen hatte und zur Regierung gelangt
war, glaubt der Officiosus feststellen zu können: „Die Sovet-
Historikerwoche störte ihre Orientierung zur Entente als eine un-
angenehme Erinnerung der Entente an die Möglichkeit einer An-
1 zwischen Deutschland und der Sovetunion."
Noch weiter gehen Äußerungen, die M. N. Pokrovskij, der
Führer der russischen Delegation in Berlin und Oslo, gé dem
I. marxistischen Historikerkongre in Moskau getan hat und die in
gewissem Widerspruch stehen zu den Mitteilungen über ein Inter-
view durch den Berliner Korrespondenten der „Izvestija“.“)
In seiner Eröffnungsansprache am 28. Dezember 1928 erklärte
Pokrovskij über die Berliner Veranstaltung Folgendes:“) „Wir
selbst drängen uns nicht auf, aber man „zieht“ uns mit Gewalt, mit
allen Mitteln zum Auftreten in Westeuropa; so war es mit der Woche
in Berlin, so war es mit Oslo. Für die bürgerlichen Historiker war
die Einladung unserer Delegationen ein Mitrel, das interessante Tier
mit eigenen Augen zu sehen, “) für uns eröffnete sich damit die
Möglichkeit zu breiter ideologischer Einwirkung nicht nur auf das
europäische Proletariat, sondern auch auf die ihrer Natur nach ewig
schwankenden kleinbürgerlichen Schichten. Taktisch hat das unge-
heuere Bedeutung, da — nach den Vorten Lenins — an der sozia-
listischen Revolution nicht nur proletarische, sondern auch alle mit
dem Kapitalismus unzufriedenen Gesellschaftsgruppen teilnehmen,
darunter das durch seine Masse starke Kleinbürgertum. Um diese
taktische Aufgabe erfolgreich zu Ende zu führen, ist jedoch nötig:
1. die bürgerliche Vissenschaft gut zu kennen, 2. in den eigenen
Reihen völlige Einheit zu bewahren. . In dem kompakten Auf-
treten des kämpfenden Marxismus auf der europäischen Arena liegt
der historische Sinn von Berlin und Oslo.“
Diese öffentliche Erklärung bekennt mit Stolz in charakteristi-
scher Weise die russische marxistische Geschichtswissenschaft als ein
1) Minc 9, 85. — Eine Außerung von Palukanis, der sich
wunderte, daß im „Vorwärts“ vom 14. Juli 1920 über seinen Vortrag
»Cromwells Soldatenräte“ trotz seiner Ausfälle gegen Bernsteins Auffassung der
englischen Revolution objektiv berichtet wurde, verdient in diesem Zusammen-
hang angemerkt zu werden: Vestnik Komakad. 80 — 1928 H. 6 S. 244
131) L. Kajt, Tov. Pokrovskij o nedele sovetskich istorikov: Izvestij
Nr. 165 (8890) v. 18. Juli 1928 (auch SEET 8, 768); vgl. ferner den Berich t
Kajts in den Izvestija Nr. 156 (8890) v. 7. J
132) Istorik-Marxist 11, 216; das Zitat gibt den genauen Sinn von
Pokrovskijs Erklärung; den ausführlicheren Wortlaut nach dem Stenogramm
s. Trudy I, 5f.
CH Vgl. hierzu auch Pokrovskij, „Novye“ tetenija v russkoj
istori¢eskoj literature: 7, 4
118
Instrument jener Politik, die an der Herbeiführung der Welt-
revolution arbeitet; derartige Sätze decken prinzipielle Wesens-
unterschiede der deutschen und der marxistischen historischen Arbeit
auf und dürfen nicht unbeachter bleiben. Bei aller gebotenen Zurück-
haltung, die Tragweite von Pokrovskijs aus besonderem Anlaß
agitatorisch-rhetorisch möglichst wirkungsvoll zugespitzten Formu-
lierungen zu überschätzen, bleibt es tief bedauerlich, daß der
itische Stempel, den die politisch akzentuierten russischen
ußerungen der Berliner Veranstaltung aufdrücken, die ungastliche
Frage der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ ins Gedächtnis zurück-
ruft, die einen Mißton in die Harmonie der Berliner Tage brachte
und der man in deutschen wissenschaftlichen Kreisen damals und für
später nicht eine Spur Berechtigung gewünscht hat.“) Die russischen
Äußerungen werfen einen Schatten auf die Ver tung; aber trotz
dieser Feststellung bleibt es wahr, daß die wissenschaftliche Beschäfti-
gung mit Rußland durch die Russische Historikerwoche bereichert
worden ist und neue Impulse empfangen hat. Die damals teils neu
angebahnte, teils wieder belebte persönliche Fühlungnahme wirkt in
einem fruchtbaren Gedankenaustausch zwischen den Historikern der
beiden Länder nach; auch wer den Marxismus, die materialistische
Geschichtsauffassung, nicht als die allein berechtigte historische An-
schauungsweise anerkennt, konnte sich dem Ernst und dem Eifer, mit
dem eine universal gerichtete marxistische historische Schule in der
Sovetunion arbeitet, nicht verschließen. Die Historikerwoche wird
in der Geschichte der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen
Deutschland und Rußland als eine „historische Woche“ fortleben.**®)
Oslo.
Den „unsichtbaren politischen Einschlag, der überall vorhanden
war“ (W. Goetz) und der dem Kongreß nah Rein dc e- Blochs
Urteil den Stempel einer Zusammenkunft der Nationen statt der
einzelnen Gelehrten 8 empfanden die Russen anders:
Sie standen auf dem Kongreß a der auch ihnen dort nicht
verborgen bleibenden politischen Rivalitäten der Nationen unter-
einander und sahen in Oslo nur den Graben, der Sovet-Rußland vom
ier tibrigen Europa trennt. Es gab in Oslo keine Darbietung,
i der sie nidit — offen oder versteckt — Spitzen gegen den
138) (G. W.), Die russische Historikerwoche. Gesamtbild und Ergebnis:
Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 826 v. 14. Juli 1928; vgl. die Erwähnung des
Artikels in Pokrovskijs Rede an seinem Geburtstag, unten Anlage 2 (S. 192).
135) Nach einer Äußerung Pokrovskijs: Archivnoe delo 15, 88.
198) Vgl. V. Mommsen, Die Historiker tagen: Vossische Zeitung Nr. 208
v. 81. August 1928; W. Goetz, Der internat. Historikerkongreß in Oslo: Frank-
furter Zeitung Nr. 658 v. 1. Sept. 1928; H. Reincke-Bloch, Der sechste
internat. Historikerkongreß zu Oslo: Histor. Zeitschrift 189 (1928), 818—822. —
M. L’héritier: s. oben Anm. 108a; F. L. Gans hof, Le congrès historique
internat. d’Oslo: Revue Belge de Philologie er d’Histoire 7 (1928), 1686-1602:
M. P. Renouvin, Le sixiénie congrès internat. des sciences historiques:
5 1. oct. 1928; besonders drastisch und sarkastisch ist die
ng Pokrovs ki j: Tru iy I, 8. :
119
Marxismus glaubten heraushören zu können.““) Immer wieder stößt
man auf die Behauptung: „Die Bourgeoisie, die ihre Kräfte für diesen
Kongreß mobilisierte, ließ auf ihn natürlich nicht Leute, die dem
Marxismus mehr oder weniger nahe stehen, wie Mathiez u. en
Seiner Zusammensetzung nach sei Oslo der reaktionärste Kongre
gewesen; „ganze Sektionen wurden nur von Pfaffen gebildet.
In den russischen Berichten erscheint die russische Delegation zu
sehr heroisiert als ein kleines Häuflein einer Welt von Feinden
gegenüber. In Wirklichkeit lag dem Kongreß, der Pokrovskij ins
Präsidium gewählt hatte, jegliche Aggressivität gegen die kom-
munistischen Gelehrten fern; vergeblich bemühte sich ein russischer
Emigrant von Weltruf, der jetzt an der Yale-University wirkende
Professor M. I. Rostovcev, die öffentliche Meinung Norwegens
und die Kongreßteilnehmer gegen die russische Delegation einzu-
nehmen.“)
137) „Etwas gegen den historischen Materialismus bei jeder Gelegenheit zu
sagen, ist anscheinend für den europäischen Historiker, der etwas auf sich hält,
ebenso unerläßlich, wie auf dem Bankett im Frack oder Smoking zu erscheinen“:
Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i ,,ideologiteskij front“: Pravda Nr. 260
(4092) v. 7. Nov. 1928. — Indem Minc herausfand, daß ein großer Teil der
Redner in Oslo dem schwach vertretenen Marxismus Schläge zu versetzen suchte,
sah er darin einen Beweis (neben vielen anderen), „wie ak die wissenschaft-
lichen Positionen der idealistischen Geschichtsschreibung sind, wenn sie die ganze
Kraft ihrer Beweise nur zum Kampf gegen die marxistische Methode ver-
wandte“: 9, 95.
Was der Marxist Halvdan Koht, dessen taktvollem Verhalten als Vor-
sitzendem des Kongresses bei der Attacke des Professors Rostovcev gegen
Pokrovskij die Russen hohe Anerkennung zollen, in seinem Vortrag: „Die Be-
deutung des Klassenkampfs in der neueren Geschichte“ — „Résumés“ (siehe
Anm, 188) S. 145; engl.: „The importance of the class struggle in modern history“
im Journal of Modern History I, 8 (1929) und II, 1 (1980) — bot, war
nach revolutionir-marxistischhem Urteil „eine Einführung ins Studium des poli-
tischen ABC“ (vvedenie v izulenie politgramoty“), mehr nicht (ebda.).
138) Evg. Krivolein a: Izvestija Nr. 299 (8588) v. 25. Dez. 1928.
120) Ebenda.
130) Vgl. Samuel N. Harper, A communist view of historical studies:
The Journal of Modern history I, 1 (März 1929), 77 f.
Dem 1925 von der „Akademie für Geschichte der materiellen Kultur“ ver-
legten Werke Rostovcevs ,,Skifija i Bosfor“ zollte sein Kritiker im
„Istorik-Marxist“, S. N. Bykovskij, eingangs zwar widerwillig Anerkennung
als einer für die weitere Erforschung der Skythenfrage grundlegenden und völlig
unentbehrlichen Zusammenfassung, einem „typischen Beispiel bürgerlicher Gelehr-
samkeit“ (er hätte sich sonst in Widerspruch zur autoritären Meinung des als
Begründers einer materialistishen Sprachwissenschaft gefeierten Akademikers
J. Marr setzen müssen). Allein mit der verfänglichen Frage: „Kann Rostovcev
als ein weißer Emigrant und Feind der Sovetunion frei von politischen Tendenzen
sein? vollzog er sodann den Übergang aus der wissenschaftlichen in die poli-
tische Ebene und schrieb diesem nach Oslo bestgehaßten Vertreter des Emi-
grantenprofessorentums die fällige „vernichtende Kritik“ vom Standpunkt der
„marxistischen Ideologie“: 11, 180—182.
Das Urteil A. Kiesewetters in der Rul’ („Chlestakov3£lina“, Rez. des
I. Bandes der ,,Trudy pervoj vsesoj. konferencii istorikov-marksistov) Nr. 2788
v. 22. Jan. 1980 über die Sovethistoriker in Oslo ist ungerecht; wenigstens haben
3 und Volgin nach Auferungen bürgerlicher Gelehrter dort Anerkennung
gefunden.
120
Wenn in einer Vorschau auf Oslo H. Steinacker scharf
pointiert geäußert hatte, Geschichte sei nichts als die Politik der Ver-
gangenheit, “) so leugnete nach Oslo ein kommunistischer Historiker,
C. Friedland, im „bürgerlichen“ Verhältnis von Geschichte und
Politik geradezu den nach rückwärts gerichteten Zug: er fand, daß
für das Bürgertum die Geschichtswissenschaft, die sich ihrer „Un-
eilichkeit brüste und gern den „klassenlosen Charakter der
issenschaft“ betone, in Wirklichkeit stets Politik sei und zwar eine
gegen die Revolution der Zukunft gerichtete Politik.“) Der
Marxismus dagegen sei ehrlicher; hier sei die Geschichtswissenschaft
zur Politik erklärt, hier werde die Geschichte als eine scharfe Waffe
des Klassenkampfes gebraucht.
Der Kampf der alten nicht-marzistischen und der neuen
marxistischen Richtung in der russischen Geschichtswissenschaft trat
in Oslo dadurch in Erscheinung, daß Pokrovskij, der Führer der
russischen Delegation, als Präsident der durch ihn vertretenen Kom-
munistischen Akademie die Vertretung der Sovetunion im „Comité
international des sciences historiques“ beanspruchte und damit die
in Oslo nicht vertretene Akademie der Wissenschaften, die bis dahin
durch ihren ständigen Sekretär S. F. Oldenburg und durch
Professor Tarle Sovet-Rußland im Komitee repräsentiert harte,
verdrangte. Daß die Sovetunion im Internationalen Komitee
künftig marxistisch vertreten sein werde, hob Pokrovskij in seinem
Bericht vor dem Präsidium der Kommunistischen Akademie über
Oslo am 15. Dezember 1928 besonders hervor;“) politische Be-
181) H. Steinacker, Der Internat. Historikertag in Oslo: Köln. Zeitung
Nr. 484 v. 9. August 1928; s. auch St. Wedkiewicz, Przed kongresem
historyków w Oslo: Przegląd Współczesny 7. Jg. Bd. 26 (1928), 105—128.
182) O bor’be za marksistskuju istori¢eskuju nauku v SSSR.: Pod znamenem
marksizma 1929 Nr. 2/8 S. 108.
133) O poezdke v Oslo: Vestnik Komakad. 80 = 1928 H. 6 S. 281—287;
an russischen Berichten über Oslo sind mir außerdem bekannt: I. Minc, Mark-
sisty na 5 nedele v Berline i VI meZdunarodnom kongresse istorikov
v Norvegii: Istorik-Marxist 9, 84—96; M. Ja vor ſkij, Sostij miZnarodnil
kongres istorienij: Prapor marksizmu 5 = 1928 H. 4 S. 216—224; N. Lukin,
Šestoj internacional’nyj kongress istorikov: Pravda Nr. 215 (4047) v. 15. Okt.
1928, — ins Englische übersetzt von S. N. Harper: A communist view of
historical studies, s. oben Anm. 180. Im „Istorik-Marxist“ gab ferner V. Ado-
ratskij (Archivnoe delo na VI kongresse istorikov: 9, 97—100) eine kurze
fassung seines Vortrages iiber die Grundprinzipien der Archiv-Organi-
sation in der RSFSR und über die wichtigsten Bestände der russischen Archive
wor der Osloer Sektion fiir Hilfswissenschaften, Archive und Publikationswesen;
s. auch Archivnoe delo 15 (1928), 60 f. und 16 (1928), 60—62.
In der Veröffentlichung des Organisationskomitees des Kongresses: „Vle
congres international des sciences historiques. Résumés des communications
résentés au congrès Oslo 1928" finden sich Résumés folgender von Mitgliedern
r russischen Delegation in Oslo gehaltener Vorträge:
V. V. Adoratskij, Zentralarthiv RSFSR. (S. 19f.);
B. Bogaevskij, Die Götte der Töpferei des minoischen Kreta (S. 80 f.):
N. A. Dubrovskij, Die Bauernbewegung in Rußland im 20. Jhdt. (S. 144);
M. Javorskyj, Westeuropäische Einflüsse auf die Ideenformung der
121
deutung schreibt er der Beteiligung der Russen an den Arbeiten der
Sektion für Geschichtsunterricht auf dem internationalen Historiker-
schichtsunterrichts nahm an der Tagung des Comité in ti
sciences historiques in Venedig (4.—9. Mai 1929) C. Fried-
Man wird den von Pokrovskij in Berlin und Oslo ange-
kündigten russischen Aktenpublikationen, den „Dokumenten zur
Geschichte des im es“ (Dokumen po istorii
ees bond vojny) und einer russisch Parall publikation zur
99 n O.
Politik im imperialistischen talter“ mit großen Erwartungen und
doch zugleich mit einer gewissen Reserve entgegensehen müssen.)
»Die Archive bilden ein politisches Waffenarsenal, mit dem wir noch
lange Jahre den politischen Kampf mit den Weiß ardisten führen
werden, indem wir ihre Ve angenheit enthüllen uad
werden, die Geschichte und
stellen. , Nicht in Berlin und nicht in Oslo, aber auf der Moskauer
Tagung wurde yon Maksakov betont, man werde den
patriotischen“ publikationen Deutschlands und Englands eine
Dokumentensammlung entgegenstellen, auf die sich die marxistisch-
sozialen Bew in der Ukraine im zweiten und dritten Viertel des
19. Jahrhunderts Be. 290 f.) und Lex Josephoviciana (S. 296);
V. A. Ju ee jisuptstrdmungen in der zeitgendssischen ukrainischen Lite-
E. A. Kos’mins ij, English Village in the thirteenth century (270f.);
M. N. Pokrovskij, Les origines de Pabsolutisme russe au point de vue
du matérialisme historique (7 f.);
P. Kurz obrakenskij, e realistic features in early religions belief
V. P. Volgin, Sozialismus und Egalitarismus in der Geschichte der Sozial-
theorien (280 f.).
ie von A. S. Fedorovskij — „Age de pierre et ige de bronze en
Ukraine d’aprés de nouvelles données“ (s. 62) und „Monuments de l’époque de
la transmigration des peuples en Ukraine“ (S. 126) —, Hrulevékyj
"Ukraine et la situation politique de l'Europe Orientale dans la moitié du
VIIe siècle, S. 187 f.) und E. Tarle (La classe ouvrière en France à la veille
de la révolution de 1848, S. 291 f.) angekündigten Vorträge fielen durch das Nicht-
erscheinen der Redner auf dem Kongreß aus, während die russischen Delegations-
mitglieder N. M. Lukin und V. Pik eta auf dem Kongreß nicht sprachen.
184) Vestnik Komakad. 30, 285.
Ä 133) Izvestija Nr. 108 (8689) v. 9. Mai 1929; C. Friedland, Tret’fa
sessija internacional nogo komiteta istorigeskich mauk: Istorik-Marxist 18, 200—275;
R. Holtzmann » Die Tagung der Internat. Historischen Vereinigung zu
Venedig: Minerva-Zeitschrift 5. Js. (1929), 150—152. |
430) Ober eine Äußerung Pokrovskijs zur russischen Dokumentenveräffent-
lihung auf der Moskauer Historikerkonferenz s, diese Jahrbücher N. F. v
1929), 448; vgl. auch Istorik-Marxist 11, 248; (A. P.), K izdaniju diplomati-
Rich dokumentov: Arch. dels 15 (1928), 20—28,
137) Maksakov: Archivnoe delo 16 — 1928 H. 8 8. 17.
122
leninistische Auffassung des Weltkriegs fest verlassen könne,) und
N. Rubinstein, der wissenschaftliche Sekretär des Redaktions-
komitees, erklärte in einem Vortrag: „Der Krieg der Dokumente“
auf dem zweiten Archivartag der RSFSR Gi s'ezd archivnych
rabotnikov RSFSR) am 30. Mai 1929 als Zweck des Unternehmens:
„Wir können die kunstvoll hergerichteten Publikationen der
Imperialisten zerstören..) Die nichtrussische Kritik der russischen
Dokumentenveröffentlichung wird den leitenden Gesichtspunkt bei
der Auswahl der Dokumente sorgfältig zu berücksichtigen haben.
Politisch ist nicht zu unterschätzen, daß die bevorstehende Veröffent-
lichung der diplomatischen Archive aus den Kriegsjahren das Gewicht
der sovetrussischen Anklage gegen die Zurückhaltung der anderen
Mächte verstärkt“); das russische Beispiel soll für die Kriegszeit eine
ähnliche Wirkung auslösen wie die große deutsche Aktenpublikation
für die Vorkriegszeit.
Die I. Marxistische Historikerkonferenz.
Der „I. allrussische Historikerkongreß““ (Pervyj vserossijskij s’&zd
istorikov), dessen Berufung die Historische Gesellschaft an der Mos-
kauer Universität im März 1917 ins Auge gefaßt hatte, %) wäre zweifel-
los eine machtvolle und stolze Kundgebung der liberalen Intelligenz für
die neu errungene bürgerlich-demokratische Staatsform geworden. Im
Weitertreiben der Revolution und durch den Sieg der Bolscheviki fiel
das Projekt. Die erste ,,Gesamtunions-Konferenz der marxistischen
Historiker“ (Vsesojuznaja konferencija istorikov - marksistov), die
die Gesellschaft der marxistischen Historiker zehn Jahre später
einberief und die in Moskau vom 28. Dezember 1928 bis zum
4. Januar 1929 nicht nur die Historiker Großrußlands, der RSFSR,
128) Dejatel’nost’ Centrarchiva RSFSR: 11, 228; aus Archivnoe delo 20 (1980),
8 ergibt sich, daß Maksakov nur eine Äußerung Pokrovskijs abwandelte:
„Durch diese Serie (Die große Politik der europäischen Kabinette) sicherte Deutsch-
land seinem Standpunkt ziemlich fest die Herrschaft in allen, Arbeiten über inter-
nationale Beziehungen, die in der nächsten Zeit erscheinen werden. Und nur
wir allein in der ganzen Welt sind in der e, dem Standpunkt des deutschen
Imperialismus (jetzt auch des englischen und französischen, soweit bereits Bände
der englischen und französischen Serien diplomatischer Dokumente erschienen
sind) den marxistisch-leninistischen Standpunkt auf diesem praktisch und theo-
retisch ungewöhnlich wichtigen Gebiet der Weltgeschichte entgegenzustellen.“
130) Er fügte hinzu: „Und das wird nicht eine der letzten Voraussetzungen
für den Si es Proletariats bilden.“ — Vgl. „Vojna dokumentov“: Pravda
Nr. 128 (4257) v. 1. Juni 1929 und den in Kniga i revoljucija Nr. 18/14 (20. Juli
1929), S. 17—28 („Vojna v dokumentach“) veröffentlichten Wortlaut.
18) Bereits vor fünf Jahren, bei Eröffnung der Archivkurse des Zentral-
archivs der RSFSR am 21. November 1924, wurde Pokrovskij schr deut-
lich: „Man beachte, wie knauserig die deutsche republikanische Regierung alle
Publikationen über den imperialistischen Krieg gibt. Dieselben Briefe Izvol’skijs
an Sazonov, die wir längst gedruckt haben, läßt sie jetzt mit großer Reklame
und mit Pomp drucken, aber die eigenen Geheimnisse hiitet sie sehr sorgfältig“:
Archivnoe delo H. 2 (1925), S. 5f. i
141) Istori¢eskija Izvöstija“, izdav. Istorideskim obščestvom pri imp.
Moskovskom universitete, 1917 Nr. 1 (Vorwort).
123
sondern auch Historiker aus der Ukraine, Weißrußland, Trans-
kaukasien, Turkmenistan und Uzbekistan vereinigte, bedeutete einen
entscheidenden Schritt auf dem Wege zur wirklichen Hegemonie des
Marxismus im Machtbereich der Gesellschaft: Hier wurde die Bilanz
der historischen Arbeit der russischen marxistischen Gelehrten im
ersten Jahrzehnt der Sovetunion gezogen. Hier wurde allen den
Marxismus umlauernden Gefahren — den offen anti-marxistischen
Strömungen im Anschluß an die bürgerliche Wissenschaft West-
europas (Petrusevskij), den schwer zu entlarvenden „pseudomarzisti-
schen“ Konzeptionen (Tarle) und der „kleinbürgerlichen“, „men-
schevistischen“ Geschichtsschreibung (Rozkov, we) der „rechte
Glaube entgegengehalten. Hier wurde die Aufgabe der Zukunft in
einer programmatischen Erklärung e sas Der Schwur der
Konferenz im Ergebenheitstelegramm an Zentralkomitee der
Kommunistischen Partei,“) den Marxismus und Leninismus in prin-
zipieller Reinheit auf dem Gebiete der historischen Forschung zum
Siege zu führen und keine Kompromisse, keinerlei Versöhnung mit
der bürgerlichen Geschichtsschreibung zu dulden, wird ebenso wie
die Resolution, die offizielle Kriegserklärung der marxistischen
Historiker Rußlands an die „bürgerliche“ Geschichtsschreibung im
eigenen Lande wie in der übrigen Welt, ihren Platz in der Geschichte
unserer Vissenschaft finden.“)
Eine typischere und für den Nicht-Marxisten aufschlußreichere
Selbstdarstellung der russischen „marxistisch - leninistischen Ge-
schichtsforschung als den offiziellen Bericht über die Tagung) gibt
es nicht. Man findet die Feststellung vollauf bestätigt: „Die Kon-
ferenz faßte ihre Aufgaben vor allem als politische auf.. und
unterstrich durch ihre ganze Arbeit, daf das Bündnis der Politik
mit der Wissenschaft jedem marxistischen Historiker als die Haupt-
aufgabe erscheint.“ — — )
Die Sektionen, die auf der Tagung gebildet wurden, lehnten sich
an die Sektionen an, in denen sich die reguläre Arbeit der Gesellschaft
der marxistischen Historiker vollzieht. Die demonstrative politische
Bedeutung der Änderung der ursprünglich in Aussicht genommenen
142) S. Anlage 4a.
288) Ich gebe die Resolution als Anlage 4b im Wortlaut.
re 10 Istorik-Marxist 11, 216—265; 12, 800—888 und Trudy I und II (s. oben
m. 1).
145) Izvestija Nr. 9 (8545) v. 11. Januar 1929. Vielleicht noch besser trägt
zum Verständnis der Tagung der lapidare Satz der boxlustigen Frau Krivo-
Zeina bei: „Dem Angriff der bürgerlichen Wissenschaft setzten die marxistischen
Historiker ihre wissenschaftliche revolutionäre Faust entgegen“ (ebenda). In der
Resolution des Kongresses und in den Zeitschriften- und Pressekommentaren zur
Tagung (jedoch nicht im Anm. 144 erwähnten Protokoll im „Istorik-Marxist“)
wurde der Vorrat an revolutionärer Phraseologie reichlich in Anspruch ge-
nommen; ohne Unterlaß werden die Losungen der Partei: „Kampf für den revo-
lutionären Marxismus!“, „Kampf für die Befreiung des Proletariats in der ganzen
nr und für den Aufbau des Sozialismus!“ als Richtlinien für die historische
rbeit eteuert.
124
Bezeichnung „Sektion für Geschichte Rußlands’*) in „Sektion für
Geschichte der Völker der UdSSR“ ist nicht zu verkennen. Die
weiteren Sektionen waren: eine Sektion für Geschichte des
Vestens, “) eine Sektion für Geschichte der Kommunistischen Partei
(der Bolscheviki), eine Soziologische Sektion und eine Sektion für
Methodik des Geschichtsunterrichts; daneben traten eine Kommission
für die Erforschung der Geschichte der bewaffneten Aufstände, der
Revolutions- und Bürgerkriege, ) eine Kommission für Religions-
geschichte und eine Beratung der Historiker des Orients“ ) zu-
sammen.
An der Konferenz nahmen 123 Delegierte (darunter 10 Frauen)
mit beschließender, 273 mit beratender Stimme teil. Unter den be-
schließenden Stimmen machten die wirklichen Mitglieder der Gesell-
schaft 45,5%, die korrespondierenden Mitglieder 5,7% aus; von den
Kongreßteilnehmern waren nicht weniger als 87,8% Mitglieder der
Partei, 1,7% werden als „Kandidaten“ der Partei, 9,8% als parteilose
Marxisten aufgeführt.“)
Die Eröffnungsansprahe Pokrovski js“) hob in einem
Rückblick auf den Internationalen Historikerkongreß in Oslo aufs
Schärfste den Klassencharakter alles historischen Vissens hervor und
verkündete der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der Sovet-
union das Todesurteil, das von der Resolution am Schluß der Tagung
in aller Form in wurde. In geschickter Regie illustrierten nach
Pokrovskijs Rede außer dem Sekretär der Gesellschaft, Gorin, der
den Rechenschaftsbericht erstattete, ) Vertreter einiger bedeutender
marxistischer historischer Forschungsstätten in Plenarsitzungen den
Aufschwung der marxistischen Forschungstätigkeit im ersten Jahr-
zehnt der Räterepublik.“
188) S. den Aufruf zum Historikertag: 8, 261.
147) In der Sektion wurde der Wunsch geäußert, engere Zusammenschlüsse
derjenigen Marxisten herzustellen, die über die Große französische Revolution
die Arbeiterbewegung in der Epoche der II. Internationale arbeiten.
1072) In der Kommission wurden zwei Vorträge gehalten: B. I. Gore v,
Der Krieg in der Geschichte und der Marxismus; S. Rabinovié, Die Kampf-
organisationen der Bolscheviki im Jahre 1917; vgl. Istorik-Marxist 12, 821
14%) Die Zusammenkunft war ausgefüllt durch eine große Anzahl vom Refe-
raten, die eine Obersicht über die Organisation der orientalistischen Arbeit in der
Sovetunion vermittelten: Istorik-Marxist 12, 8
188) 11, 229. Die Statistik des Moskauer Kongresses läßt weder die ursprüng-
liche soziale Zugehörigkeit noch das Alter der Delegierten außer Acht:
178% waren bäuerliher Herkunft, während 15,4% aus Arbeiterkreisen, 58, 7
aus Kreisen der „Intelligenz im Angestellten verhältnis stammten. Auch die An-
gaben über die Alters- und Berufsschichtung der Delegierten sind nicht un-
interessant, indem ca. 70% im Alter zwischen 25 und 85 Jahren standen und
ebensoviele Teilnehmer als Geschichtslehrer tätig waren; 82%. der Delegierten
hatten gedruckte Arbeiten aufzuweisen (ebenda).
188) Istorik-Marxist 11, 216—218; vgl. oben Anm. 122; der genaue Wortlaut
steht in den Trudy I, 8—15.
180) 11, 218—225; Trudy I, 16—27.
181) Es sprachen: Savel’ev für das Lenin-Institut (11, 225 f.; ar
28—85), Javorskyj für das Ukrainische Institut für Marxismus (11, ;
125
Eine Übersicht über die auf der Tagung behandelten Themen
braucht einen Vergleich mit anderen „nationalen“ Historikertagungen
nicht zu scheuen und vermittelt eine eindringliche Vorstellung von
der Intensität und Vielseitigkeit der politisch-historischen marzisti-
schen Forschung innerhalb des Rahmens der Parteiparolen.“
I. Sektion für die Geschichte der Völker der UdSSR.
Zum Wesen des Lenin - Kults gehört, daß er in der grandiosen
Einseitigkeit und Folgerichtigkeit des revolutionären Heros kein
Genüge findet, sondern ihn auf möglichst vielen Gebieten groß und
bahnbrechend erscheinen lassen möchte.“) Bei Lenins Fruchtbarkeit
als Schriftsteller war es nur eine Frage der Zeit, wann die marxistische
Revision der russischen Historiographie“) dahin gelangen werde,
Lenin als großen Historiker der marxistischen Historikerschaft zu
cooptieren. Nicht als letztes Verdienst wird Pokrovskij kiinfti
angerechnet werden, daß er sich selbst in den Schatten Lenins
Historiker gestellt hat; unvermeidlich wird Lenin nun in die Reihe
der Bees Denker Rußlands einrücken und in der Geschichte
der marxistischen Geschichtsschreibung den Ehrenplatz zugewiesen
erhalten. In Lenins Schrift: „Was sind die Volksfreunde und wie
kämpfen sie gegen die Sozialdemokratie? ) ist nach der Interpretation
durch Pokrovskij in seinem Vortrag vor dem Moskauer
Historikerkongreß „Leninizm i russkaja istorija“ (Der Leninismus
und die russische Geschichte)“) das marxistische Schema der russi-
Trudy I, 86—40), Seidel (Zajdel) für die historische Abteilung des Leningrader
Instituts für Marxismus gi, 226 f.; Trudy I, 41—49), Maksakov für das Centr-
archiv RSFSR (11, 227 f.; Trudy I, 55—66), Rubač über das Archivwesen in
der Ukraine (11, 229; Trudy I, 67—72).
182) Auf eine Anzahl Vorträge gehe ich nach den Sitzungsprotokollen und
nach der ausführlichen Berichterstattung der hauptstädtischen Presse erst im zweiten
Teil dieses Berichts meiner systematischen Übersicht über den Inhalt des „Istorik-
Marxist“ Heft BIL ein; die Trudy . . . . konferencii waren mir bei der Aus-
arbeitung des Berichts noch nicht zugänglich, die Verweisungen darauf sind erst
in der Korrektur eingesetzt.
wr A. Luther zu V. Polonskij, Lenin über Kunst und Lite-
ratur: Osteuropa 8 (1927—28), 894—896; R. Salomon, Lenin und sein Staat:
Der Kreis 6 Jg. (1929), 402.
1532) Vgl. vor allem: Russkaja istorileskaja literatura v klassovom osvedétenii.
Sbornik statej s predisl. i pod red. M. N. Pokrovskogo. I (= Trudy instituta
Krasnoj Professury), Mosk. 1927; II (1980).
184) Cro takoe „druz’ja naroda“ i kak oni vojujut protiv social-demokratov?
(St. Pbg. 1894); jetzt V. I. Lenin, Sotinenija I (1927), 51—222. Vgl. auch
„Internat. Presse-Korrespondenz“ 1928 Nr. 96.
158) Abgedruckt in: Proletarskaja revoljucija 84 — 1929 Nr. 1, Trudy I,
801—817 und Litopis Revoljucii 1929 Nr. 1 („Leninizm ta istorija Rosi), s. auch
Istorik-Marksist 11. 285 f.; ein früherer Hinweis Pokrovskijs auf Außerungen
Lenins zu historischen Fragen: Vestnik Komak. 26 (1928), 268. — Wie zu er-
warten war, hat der Vortrag Pokrovskijs den Anstoß zu spezieller Beschäftigun
mit Lenins historischen Urteilen gegeben; vgl. z. B. V. Nevskij, Lenin istor
revoljucionnogo dvizenija: Pečat’ i revoljucija 1929 H. 1; M. Volin, Lenin jak
istorik partii; Litopis revoljucii 1929 Nr. 2.
126
schen Geschichte — ,,das man richtiger das leninsche nennen sollte“ —
bereits vorgezeichnet; darum: ,,Lenin war in der russischen Geschichte
nicht Spezialist. Hätte sein geniales Büchlein ,,Cto takoe dru2ja
naroda?“ eine Magisterdissertation darstellen sollen, so kann man sich
vorstellen, was das für ein lautes Gelächter unter den akademischen
Historikern hervorgerufen hätte. Und doch steckt in diesem
Biichlein weit m russische Geschichte als in drei Dutzend
(tri desjatki) gelehrter Dissertationen.“
In der Sektion fiir die Geschichte der Völker der Sovetunion
wurde außerdem über die folgenden Themen vorgetragen:
N. Vanag,“") Ober den Charakter des Finanzkapitals in Rußland ;1®)
A. M. Pankratova, Probleme der Erforschung der Geschichte der Arbeiter-
in Rußland; 180)
M. Javors$skyj, Ober die heutigen antimarxistischen Richtungen in der ukrai-
nischen ichts wissenschaft; 100)
M. Kor but, Die Arbeitergesetzgebung in der 8. und A Staatsduma: 10)
P. Galuz o, Die Periodisierung der Geschichte der nationalen Freiheitsbewegung
in Mittelasien; 162)
F. Macharadze, Grusien im 19. Jahrhundert; 105)
Ja. Rathaus er (Ratgauzer), Der soziale Charakter der (azerbajdłanischen)
„Muszavat“ - Partei; 0)
A. Zor ! jan, Der Stand der armenischen Geschichtsschreibung. 168)
II. Sektion für Geschichte Vesteuropas. “
N. Lukin, Das Problem der Erforschung der Epoche des Imperialismus; 197)
C. Friedland, Die Ergebnisse der Forschung über die große französische
Revolution in der Sovetunion; 0)
F. Potemkin, Zur Frage der Methodologie (der Geschichte) der industriellen
Revolution; 1)
A Rosenberg, Kritik der neuesten deutschen Theorie über die Entstehung
der Monarchie Karls V.; 170)
: 5? Pravda Nr. 7 (4141) v. 9. Jan. 1928; vgl. auch die Resolution (unten
187) In diesen Jahrbüchern N. F. V, 448 irrtümlich Vanaga.
188) Istorik-Marxist 11, 281—285; Trudy I, 818—889.
188) Istorik-Marxist 11, 286—288; Trudy I, 890—425; s. auch Archivnoe
delo 17 (1920), 7; vgl. unten S. 144 über die Begründung einer entsprechenden
Sektion im Historischen Institut der Kommunist. ie.
100) Pravda Nr. 8 (4187) v. A Jan. 1920; Istorik-Marxist 11, 239—242;
Trudy I, 426—468.
101) 11, 242.
163) Istorik-Marxist 11, 242—244; Trudy I, 521—554.
168) 11, 244f.; Trudy I, 484-500.
168) 11, 245; Trudy I, 501—520.
168) 11, 245 f.; Trudy I, 470—488.
188) Einen Hinweis auf die Vorträge in dieser Sektion s. Annales historiques
de la Révolution franç. 6 (1929), 218 f.
267) 11, 248—248; Trudy II, 7—52.
388) 11, 248—250; Trudy II, 88—112.
188). 11, 250; Trudy II, 58—82.
178) 11, 251 f.; Trudy II, 289—268 (zu E. Dürrs Forschungen über Kerl
d. Kühnen).
TI 127
O. Weinstein (Vajngtejn), Die französischen Handelskolonien in der Levante
unter dem alten Regime und in der Epoche der Revolution; 171)
K. Dobroljubskij, Die Teuerung in Paris im Jahre 1795 nach der Ab-
schaffung des Maximums; 17)
P. S&egole v, Die „Conjuration des Egaux“;273)
A. Molo k, Der Juniaufstand 1848;174)
G. Seidel (Zajdel’), Die Lehre Babeufs und der Marxismus. 175)
III. Sektion für Geschichte der Kommunistischen
Partei.
V. Nevskij, Die Geschichte der Partei als Wissenschaft;1?®)
Ark. Lomakin, Cernylevskij und Lenin; 17e)
K. Popov, Das Problem des Übergangs einer bürgerlich- demokratischen Re-
volution in eine zoꝛialistische; 177
, Rachmetov, Über den Ursprung der menschevistishen Konzeption des
russischen historischen Prozesses;17®)
. Nevskij, Der Nordrussische Arbeiterverband; ire)
Rabinovié, Die militärischen Organisationen der Bolscheviki im Jahre
1917; e)
. Kramol’nikov, Die Konferenz der Bolscheviki in Tammerfors im
Jahre 1905; 705)
Sochin, Die Gesetzlichkeit in der Entwicklung der proletarischen Jugend-
bewegung. Ac)
> Q V <
171) 11, 252—254; Francuzskie torgovye kolonii na Levante pri starom por-
jadke i v epochu revoljucii: Novyj vostok 25 (1929), 216—285; Trudy II, 118—187.
173) 11, 254; Trudy II, 188—157.
173) 11, 255; Trudy II, 158—182.
178) 11, 256; Trudy II, 218—288.
175) 11, 257 f.; Trudy II, 188—212.
De, Pravda Nr. 8 (4187) v. 4. Jan. 1929; Ist.-Marxist 12, 800—808; Trudy I,
178) 12, 818; Trudy II, 248—264.
117) Vgl. Popov, Istoriteskija uslovija pererastanija burZuazno-demokrati-
eg revoljucii v proletarskuju: Bolieeik 1928 Nr. 21/22 und 28/24, 1929 Nr. 1,
danach „Osteuropa 4 (1928—29), 868 und 625f.; 5 (1929—30), 88f.; Ja. Rez-
vulkin, Lenin o pererastanıı burZuazno-demokratileskoj revoljucii v socia-
listi¢eskuju: Proletarskaja revoljucija Nr. 81—88 — 1928 Nr. 10—12; K. Po po v
und Ja. Rezvulkin, O pererastanii burZuazno-demokratideskoj revoljucii v
socialistileskuju (Učenie Lenina i ego kritika), Mosk. 1980; St. Krivcovs
Pravda Nr. 16 ke v. 19. Jan. 1929; D. Kar dale v, Problema pererastanija
burZuazno-demokratiteskoj revoljucii v socialistiteskuju v svete leninskoj teorii
„amerikanskogo“ i ,,prusskogo“ puti razvitija Rossii: Prolet. revoljucija Nr. 88 ==
1929 Nr. 5. — Istorik-Marxist 12, 808—807; Trudy I, 114—166.
ive) 12, 811 f.: Trudy I, 166—188.
Sé, Pravda Nr. 4 (4188) v. 5. Jan. 1929; Ist.-Marxist 12, 818f.; Trudy I.
area) Trudy I, 184—209.
1755) 12, 807—810; Trudy I, 210—247.
170c) 12, 810 f.; Trudy I, 279—297. — Die „Kommission für Erforschung der
Geschichte der Jugendbewegung in der UdSSR und des leninistischen kommu-
nistischen Jugendbunds der Gesamtunion“ (Komissija po izuteniju istorii juno-
leskogo dvizenija v SSSR i VLKSM [= Vsesojuznogo Leninskogo Kommunisti£.
Sojuza Molodesip), abgekürzt: Istmol CK VLKSM (!), veröftentlichte 1929 das
Stenogramm der dritten allruss. Konferenz des Jugendbundes im Jahre 1928.
128
IV. Soziologische Sektion.“
N. Marr, Der historische Prozeß im Lichte der japhetitischen Theorie; 101)
V. Aptekar, Marxismus und Ethnogeographie; 182)
180) Vgl. G. Lozovik, Do pidsumkiv I vsesojuznoi konferencii istorikiv-
marksistiv: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 1 S. 174—178.
181) 11, 258—261; Trudy II, 267—3815.
Wa, der alten Geschichte des Orients und der Slaven; vgl. — außer dem Abschnitt
„Jatetidologija“ in der „Bibliografija Vostoka“ Vyp. I. Istorija (1917—1925). Pod.
red. D. N. Egorova (Mosk. 1928), S. 18—81 — z.B. V. Aptekar zu I. I.
Meséaninov, Chaldovedenie. Istorija drevnego Vana, vključaja drevnejšie
svedenija o Zakavkaz’e (Baku 1927): 10, 256f. und S. N. Bykovskij, K
voprosu o trech drevnejšich centrach Rusi = Trudy Vjatskogo pedagogič. instituta
im. V. I. Lenina III, 6 (1928). —
Nach dem von Pokrovskij gelegentlich wiedergegebenen Ausspruch eines
Leningrader Kommunisten mug die japhetitische eorie den Marxismus als
ihre allgemeine philosophische und soziologische Basis anerkennen, der Marxis-
mus dagegen die japhetitishe Theorie als seinen besonderen linguistischen Be-
zirk: O tv. nauki v SSSR za 10 let: Vestnik Komak. 26 (1928), 26. —
„Wenn Engels noch unter uns weilte, würde sich jeder Student mit der Marrschen
Theorie beschäftigen, weil sie zum eisernen Bestand der marxistischen Auffassung
von der menschlichen Kulturentwicklung gehören würde“: Pokrovskij (1928) nach
Dresen, Uber die japhetitishe Theorie: Wochenbericht 5. Jg. Nr. 25/26
(1. 7. 1929); Pokrovskij, Zum vierzigjährigen Jubiläum des Akademie-
mitgliedes N. I. Marr: ebda. 4. Jg. Nr. 28/29 (14.—21. 7. 1928), S. 16; A. Gor-
deev: Schidnij wit Nr. 5 (1928), 208—210; I. Borozdin: Novyj vostok
Nr. 22 (1928), 168—168.
Zur Lehre von Marr vgl.: „Japhetitische Studien zur Sprache und Kultur
Eurasiens“ (Stuttgart, Kohlhammer) Bd. I: F. Braun: Die Urbevölkerung
Europas und die Herkunft der Germanen (1922), Bd. II.: N. J. Marr, Der
japhetitische Kaukasus. Aus dem Russ. von F. Braun (1923) und die Rezensionen
von Meillet: Bull. Soc. Linguistique de Paris 27 (1927), Comptes rendus
p. 194 und 28 (1927), Comptes rendus p. 226 ff. — V. Aptekar, Jafetičeskaja
teorija N. J. Marra i marksizm: Novyj vostok 22 (1928), 189—193 und: Na
putjach k marksistskoj lingvistike: Vestnik Komakad. 28 (1928), 254—278;
V. Sereda, Jafetiöna teorija N. J. Marra i movoznavstvo: Schidnij svie Nr. 5
(1928), 211—215. — Jazykovedenie i materializm (Sammelband, hrsg. von
N. Ja. Marr), Leningrad 1929; N. Ja. Marr, Aktual’nye problemy i oderednye
zadati jafeti¢eskoj teorii (Mosk. 1929: Kommunist. Akad ; Sekcija literatury,
iskusstva i jazyka, podsekcija materialist. lingvistiki); E. Boka-
rev, Jazykovedenie i marksizm: Meždunarodnyj jazyk 1929 (Juni-Okt.);
A. P. Andreev, Revoljucija jazykoznanija. Jatetičeskaja teorija akademika
N. Ja. Marra (1929); N. S. Deržavin, Jafetičeskaja teorija akad. N. Ja. Marra:
Naučnoe slovo 1980 Nr. 1 und 2.
Bei der Wiederbesetzung des Akademiesitzes „Sprachen und Literaturen der
europäischen Völker“ nach dem Tode V. M. Fritshes, für den als Kandidaten
N. N. Durnovo, A. V. Lunalarskij, V. F. Pereverzev, V. F. Šišmarev und
L. V. Sčerba vorgeschlagen worden waren (Pravda Nr. 287/421 v. 7. Dez.
1929; gewählt wurde im März 1980 Lunalarskij) stießen die Kandidaturen
Durnovo und Séerba bei Anhängern Marrs auf energischen Widerspruch:
In einer Zuschrift der Dozenten Danilov und Palmbach an die Pravda
hieß es: „Die Sovet-Offentlichkeit hat ein Recht darauf, von einem Vertreter der
129
A. Lukalevskij, Die Erforschung der sozialen Grundlagen der Religion in
der UdSSR ;1®3)
V. Nikol’skij, Das Protoneolithicum;!*)
G. Natadze, Ein Versuch, den landeskundlichen Faktor in historischen Spezial-
untersuchungen anzuwenden (Das, Dorf Kaspi in Grusien); 188)
G. Rochkin, Die Entwicklung der historischen Ansichten von K. Marx. 0)
V. Methodische Sektion.“
S. Krivcov, Methodik und Methodologie der Geschichte 29791 ders., Der Unter-
richt in geschichtlicher Methode auf den Hochschulen; 187b)
L. Mamet, Die Hauptrichtungen in den Fragen des Geschichtsunterrichts;197c)
A. Ioannis iani, Die Organisation des pädagogischen Aufbaus im Geschichts-
unterricht; 187d)
A. Sluck ij, Lehrbücher und Lehrmittel für die historischen Disziplinen. 1876)
Linguistik eine aktive Anwendung der marxistischen Methode in der Untersuchung
der Sprache und in der praktisch- linguistischen Arbeit zu erwarten, die in den
letzten Jahren gerade in der UdSSR einen ungeahnten Aufschwung genommen
hat: Hier wurde zie zum ersten Male in der Geschichte der Linguistik zur ver-
antwortlichsten Mitwirkung am kulturellen Aufbau berufen — zur Verbreitung
der Kunst des Lesens und Schreibens unter den Verktätigen einer ees An-
zahl von Nationalitäten und zur Schaffung von Schriften für bis dahin schrift-
lose Völker.
Welchen Nutzen können im gegenwärtigen Stadium des sozialistischen Auf-
baus, im gegenwärtigen Stadium auch des Aufbaus im wissenschaftlichen Denken
in unserem Lande die Tätigkeit von N. N. Durnovo und L. V. Sterba in der
Akademie der Wissenschaften bringen, an denen nicht nur die historisch-
materialistischen Ergebnisse des Akademikers Marr, der ein strenges System einer
neuen Linguistik geschaffen hat, und einer marxistisch-sprachwissenschaftlichen
Pflanzschule vorbeigegangen sind, sondern auch die Arbeiten der Vertreter einer
sozialen Dialektologie in Rußland, — des Professors Zelenin und des Professors
Karinskij!“ (Pravda Nr. 20/4465 v. 20. Jan. 1980).
Gegen die Kandidatur Sidmarev protestierte die Untersektion für Lite-
ratur des Westens der Sektion für Literatur, Kunst und Sprache der Kommunist.
‚Akademie: Pravda Nr. 20 (4465) v. 20. Jan. 1980.
In einer Zuschrift des Kollegiums des „Forschungsinstituts für vergleichende
Geschichte der Literaturen und Sprachen des Westens und des Ostens“ (s. oben
Anm. 21) an die „Leningradskaja Pravda“ (Nr. 114/4498 v. 25. April 1980) finden
sich die folgenden charakteristischen Sätze: „Das Institut macht sich in seiner Arbeit
die systematische Anwendung der Methode des dialektischen Materialismus in der
Sprachwissenschaft zur Aufgabe und. .. teilt die Ansicht, daß die Erforschung der
Arbeiten von Marx, Engels, Lenin und Plechanov durch gelehrte Linguisten not-
wendig ist... Die japhetitische Theorie ist nach der Ansicht des Kollegiums gegen-
wärtig die einzige von allen linguistischen Theorien, die dem Marxismus nahesteht.“
182) 11, 261 f.; Trudy II, 816—840.
183) 11, 262 f.; Trudy II, 388—421.
194) 11, 268 f.; Trudy II, 360—881.
185) 11, 264 f.; Trudy II, 341—359.
186) 11, 265; Trudy II, 882—897.
187) 11, 221.
187a) 12, 314 f.; Trudy II, 458—478.
187b) 12, 319 f.; Trudy II, 584—608.
187c) 12, 815—317; Trudy II, 479—511.
187d) 12, 317—319; Trudy II, 512—588.
187e) Trudy II, 589—583.
130
Der Moskauer Korigreß betrachtete sich als Vorläufer eines inter-
nationalen marxistischen Historikerkongresses, “) der innerhalb der
nächsten zwei bis drei Jahre einberufen werden soll.
Im Jahre 1918 hätte nach dem Beschluß des Londoner Historiker-
kongresses (1913) in „St. Petersburg“ der 4. internationale Historiker-
kongreß zusammentreten sollen. Der Krieg machte den frühzeitigen
Vorbereitungen dafür ein Ende.) Heute, zwölf Jahre nach dem
Termin, schikt Moskau unter gänzlich veränderten Verhältnissen
sich an, der Internationale der „bürgerlichen“ Geschichtswissenschaft,
deren Weg statt nach St. Petersburg über Brüssel (1923) nach Oslo
(1928) führte, eine Internationale der marxistischen Historiker ent-
gegenzustellen; der Moskauer Historikertag bildete die erste, vor-
läufige Antwort der marxistischen Forschung auf Oslo. Ebenso soll
die auf dem Moskauer Kongreß beschlossene Umwandlung der Gesell-
schaft in eine Organisation der marxistischen Historiker in der ganzen
Union mit Filialgesellschaften in den Republiken“) und der Zeit-
schrift „Istorik-Marxist“ als Zentralorgan nur der erste Schritt zur
Internationalen Marxistischen 11 sein, zu der
man in Oslo mit wenig Glück sondiert hatte.“
In seinem Rückblick auf die Konferenz“) vergleicht Pokrov-
ski j die Aufgabe der marxistischen Historiker mit der Lage, die in
den vierziger Jahren Solov’ev und Kavelin meisterten, indem sie
der alten Schule, deren letzter hervorragender Vertreter Pogodin
188) 11, 225.
180) Nau£nyj istoriceskij žurnal Nr. 2 — I, 2 (1918), 157—161: N. Karecv,
K predstojal᷑emu IV medzdunarodnomu s’ézdu istorikov; ebda. S. 180—188: Pod-
E k predvaritel’nomu s’&zdu istorikov 18—20 dekabrja 1918 goda v Peter-
č; ebda. Nr. 8 = II, 1 (1914), 118—129: Protokoly zasédanij Predvaritel’nago
sov ija po voprosu ob ustrojstvě Meždunarodnago Istoričeskago S’ézda v S.-
Peterburgě v 1918 godu; Le quatrième congrès international d’histoire: Revue
Historique 115 (1914), 468 f.; B. M. Seen Nesostojavlijsja „Vsemirnyj
mer ounarcany)) Istori¢eskij kongress E ) v 1918 g. v Peterburgé“: Uč. zap. ist.-
ilol. fakul’teca Gosud. Dal’nevostotn. Universiteta IV, 1 (Vladivostok 1922),
45—49. S. auch N. M. Bubnov, Ulenyja prava russkago jazyka ege Titres
scientifiques de la langue russe pour l’admission de la langue russe dans les congrés
historiques internationaux). Kiev 1913.
100) Bisher bestehen: Ukrainskoe tovaristvo „Istorik-Marksist“ (Char’kiv);
Belorusskoe obi<estvo istorikov-marksistov (Minsk); Sektionen in Rostov a Don
und Voronež (18, 288); Zakavkazskoe obščestvo istorikov-marksistov (Tiflis):
6, 298; 10, 267; in Baku arbeiter das „Institut istorii klassovoj bor’by v Azer-
bajdZane im. Stepano Saumjana“ (Schaumann-Institut für die Geschichte des
Klassenkampfs in A.) in der Art einer Gruppe der Gesellschaft: 12, 326.
291) Der gescheiterte Propagandaversuch, in Oslo alle marxistischen Gelehrten
zu sammeln und die Griindung von Zweiggesellschaften der russischen Gesellschaft
in anderen Ländern in die Wege zu leiten, wird im „Istorik-Marxist“ in einer
kleingedruckten Anmerkung mit 24 Zeilen eben erwähnt; zur Besprechung waren
außer den Russen nur zwei Personen erschienen: 9, 15; vgl. auch Pokrovskij,
Klassovaja bor’ba i ,,ideologiceskij front“: Pravda Nr. 260 (4092) v. 7. Nov. 1928.
19%) Vsesojuznaja konferencija istorikov-marksistov: 11, 8—11; vgl. auch
Pokrovskijs Vorwort zur Veröffentlichung der auf der Konferenz gehaltenen Vor-
träge: Trudy I, S. VII—XV.
13]
gewesen war, eine neue Auffassung des historischen Geschehens ent-
gegenstellten; der Unterschied von damals und heute sei der, daß
die Neuerer von damals nur Liberale waren, die heutigen — Revo-
lutionäre seien.“)
Man wird die Durchführung der in den Resolutionen nieder-
gelegten Programme, die einen Maßstab für die Beurteilung der
künftigen wissenschaftlichen und organisatorischen Leistungen der Ge-
sellschaft und ihrer einzelnen Mitglieder bilden, mit der größten
Aufmerksamkeit verfolgen müssen.“) Es kann nicht übersehen
werden, daß der marxistischen Forschung der letzten Jahre eine große
Zahl fruchtbarer neuer Fragestellungen zu verdanken ist. Die
notwendig einseitigen Lösungsversuche befriedigen keineswegs;
in der E Produktion herrscht eine Eintönigkeit und
sehr häufig ein Mangel an Niveau, die, je länger je mehr,
die Enge der Auffassung und den Mangel an allgemeiner
Bildung erschreckend hervortreten lassen. Dennoch ist nicht zu
billigen, wenn die marxistische historische Arbeit, wie es
mitunter geschieht, systematisch herabgesetzt wird. Wenigstens
sollte auch bei prinzipieller Ablehnung der in der russischen Ge-
5 gegenwärtig herrschenden Richtung nicht ver-
kannt werden, zu welcher Bedeutung das marxistische historische
Weltbild im öffentlichen Leben der Sovetunion gelangt ist. Das
Beispiel, wie in einem Lande von 150 Millionen ein sehr bestimmtes
und sehr waches historisches Bewußtsein herangebildet wird, hat die
verdiente Beachtung bisher nicht gefunden.)
198) 11, 5.
1%) Resolution über die Aufgaben der marxistischen Historiker (s. unten
Anlage 4b), Resolution iiber methodische Fragen im Geschichtsunterricht und Re-
solution über den Schutz wertvoller historischer Archivmaterialien vor Ver-
nichtung: Trudy II, 600—614; Resolution der Beratung der Orienthistoriker:
Istorik-Marxist 12, 882 f.
1942) Ober den Moskauer Historikerkongreß vgl. Ankündigung und Grund-
züge des Programms: 8, 210f. und Vestnik Komakad. 27: O sozyve vsesojuznoj
konferencii istorikov-marksistov; Evg. Krivo$eina, K vsesojuznoj konferencii
istorikov-marksistov: Izvestija Nr. 200 (8588) v. 25. Dez. 1928 und: Itogi
vsesojuznoj konferencii istorikov-marksistov: Izvestija Nr. 9 (8545) v.
11. Jan. 1929; M. N. Pokrovskij, Vsesojuznaja konferencija istorikov-
marksistov: Istorik-Marxist 11, 8—11; P. Gorin, O pobede marksistov na fronte
nauki: Bol’Sevik 1929 Nr. 2; C. Friedland, O bor’be za marksistskuju isto-
ri¢eskuju nauku v SSSR: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 2/8 S. 101—113;
ders., Ob ideologi¢. bor’be na istori¢. fronte: Kommunistié. revoljucija 1928—29
Nr. 23/24; I. I. Minc, Pervaja konferencija istorikov-marksistov: Nauénoe slovo
1929 Nr. 2 S. 98—102; A. Sestakov, Na istori¢eskom fronte: Novyj mir
1929 Febr., 236—242; vgl. des Referat in diesen Jahrbüchern N. F. 5 (1929), 447 f.;
O. Ju. Germajze, 1—ša Vsesojuzna Konferencija istorikiv-marksistiv u Moskvi:
Visti vseukrains’koi Akademil nauk (= Procès-verbaux de l'Aczd. des Sciences
d’Ukraine) 1929 Nr. 1 S. 12—18; M. Rubad, Vsesojuznaja konferencija isto-
rikiv-marksistiv ta denkt naši čergovi zavdanija: Litopis revoljucii 1929 Nr. 2;
Pravda Nr. 3 (4137) v. A Jan., 4 (4138) v. 5. Jan., 7. (4141) v. 9. Jan. 1929.
132
Das Verhiltnis der marxistischen Geschichtswissenschaft zur Akademie
der Wissenschaften der Sovetunion.
Von den historischen Unternehmungen der Bundesakademie
der Wissenschaften (Vsesojuznaja Akademija Nauk SSSR) in Lenin-
grad wurde im „Istorik-Marxist“ einmal in einem knappen, aber
durchaus sachlich gehaltenen Literaturbericht Notiz genommen.“
Dagegen war von den dauernden Reibungen zwischen der Aka-
demie der Wissenschaften und der Kommunistischen Partei, die stets
an die Machtmittel des Staates appellieren kann, im „Istorik-
Marxist“ außer dem Angriff Pokrovskijs (des Präsidenten der Kom-
munistischen Akademie) gegen den „Pseudomarxismus‘“ des Lenin-
grader Akademikers Tarle **) merkwürdig wenig zu spüren, obwohl
die marxistische Geschichtswissenschaft bei diesen Vorgängen viel
genannt wurde. Es ist notwendig, hier wenigstens diejenigen
Momente in den Differenzen zu rekapitulieren, die dazu beigetragen
haben, die Machtstellung der marxistischen Richtung in der russischen
Geschichtsforschung zu festigen und zu steigern.
Im Auslande mußte das Kesseltreiben befremden, das in der
Sovetpresse im November 1928 wegen der Mitarbeit sovetrussischer
Gelehrter an ausländischen russischen bezw. ukrainischen Zeitschriften
einsetzte und das sich mit besonderer Schärfe gegen ein Mitglied der
Akademie der Wissenschaften, den Althistoriker und Archäologen
S. A. Zebele v,“) und gegen den Kunsthistoriker A. I. Anisi-
mov ) richtete. Zebelev hatte zu der hauptsächlich aus Kreisen
der russischen Emigration hervorgegangenen Prager Gedächtnis-
Sammelschrift für Kondakov einen Beitrag geliefert.“)
108) J. Trock ij, Obzor statej po russkoj istorii v izdanijach Akademii
Nauk SSSR: 5, 221—225.
196) Siehe oben S. 109.
107) Vgl. Izvestija Nr. 271—278 (8505—3507) v. 22.—24. Nov. 1928.
1972) Ebda. Nr. 284 (8518) v. 7. Dez. 1928.
100) Recueil d’études dédiées A la mémoire de N.P. Kondakov (Prag 1926),
S. 1—18: S. A. Zebelev, Ikonografiteskija schemy Voznesenija Christova i
isto¢niki ich vozniknovenija.
Ein Nachspiel zu dieser 5 bildete ein offener Brief, den der
Helsingforser Archäologe A. M. Tallgren, der Mitherausgeber der „Eurasia
septentrionalis ae am 16. Dez. 1928 in der Zeitung „Helsingen-Sanomat“
an die Wissenschaftliche Hauptverwaltung (Glavnauka) richtete; die Akademiker
S Oldenburg, A. Marr und Zebelev selbst hatten die undankbare Auf-
gabe, gegen die von dem finnischen Gelehrten sicher mit Recht, aber mit einigen
ırrıgen Details behauptete Bedrohung der freien Forschung in der Sovetunion —
leichfalls in „offenen Briefen — zu protestieren: Izvestija Nr. 19 (8555) v.
24. Jan. 1929: Pis’mo prof. Tal’grena i dostojnyj otvet sovetskich ucenych. — Der
Unterschied der Voraussetzungen fiir die sogen. „freie Forschung“ in Rußland, wo
der Marxismus den Anspruch auf ausschließliche Geltung erhebt, und der grund-
sätzlich freien wissenschaftlichen Forschung und Lehre im Westen, die nur für
die katholische Forschung er formale Bindungen kennt, kommt in den Ent-
gegnungen der russischen Gelehrten nicht zum Ausdruck. Hier ist an eine Aufe-
rung Pokrovskijs in Berlin zu erinnern: „Wir sind in dem Maße von der Über-
pe unserer Methode überzeugt, daß wir es für eine Herabsetzung derselben
halten würden, ihr durch irgendwelche Zwangsmaßnahmen Ausdehnung zu ver-
138
Von entscheidender Bedeutung fiir das Verhältnis der marxisti-
schen Wissenschaft zur Akademie der Wissenschaften waren Anfang
1929 die Zuwahlen zur Akademie auf Grund ihres neuen Statuts, )
durch die von marxistischen Historikern Michail Nikolaevité Po-
krovskij,) der Direktor des Marx-Engels-Instituts David Borisovič
Rjazanov”") und der Historiker der Pariser Commune Nikolaj
Michajlovič Luk in“) ihren Einzug in die Akademie hielten,“) —
Lukin allerdings erst, als die Akademie das Ergebnis der Haupt-
abstimmung, in der drei der kommunistischen Partei angehörende
Gelehrte unterlegen waren (außer Lukin der Philosoph Deborin und
der Literarhistoriker Fritsche, gest. September 1929), in einer Nach-
wahl korrigiert hatte.“) Neben den drei führenden marxistischen
schaffen‘ (Osteuropa 8, 758). Wer vermag indessen — allein nach marxisti-
shen Zeugnissen — an dem Druck zu zweifeln, unter dem heute in der
Sovetunion alle nicht marxistisch orientierte wissenschaftliche Arbeit, nicht nur die
im historischen Bezirk, steht?
106) Ustav Akademii Nauk Sojuza SSR: Sobranie Zakonov Sojuza SSR
1927 Nr. 85, dazu 1928 Nr. 22 (Verordnung Nr. 195, 197, 198).
200) Vgl. Anm. 78.
701) C. Friedland, „D. B. Rjazanov“: Izvestija Nr. 282 (8466) v. 5. Okt.
1928; Biografija D. B. Rjazanova: Izvestija Nr. 68 (8915) v. 10. März 1980; siche
auch oben Anm. 67 b.
292) S. Monos ov, „N. M. Lukin“: Izvestija Nr. 287 (8471) v. 11. Okt.
1928. — Als Beispiel für Lukins Auffassung der Commune — sein Buch „Pariks-
ka ja kommuna 1871 g.“ erschien 1980 in 8. Aufl. — vgl.: Lukin (-Antono v),
Von der Pariser Kommune zur Oktober- Revolution: „Internat. Presse -Korre-
spondenz 9. Jg. (1929), 555 f. und 570 f.; von Lukin s. auch N. Louki ne, La
revolution française dans les travaux des historiens soviétiques: Annales histo-
riques de la révolution française N.S. 5 (1928), 128—138.
203) Unter den als Kandidaten für die wirkliche Mitgliedschaft nominierten
zwölf Historikern: D. V. Ajnalov, D. I. Bagalej, V. N. Benelevi&, M. S. Hruševś-
kyj, D. N. Egorov, N. M. Lukin, M. K. Ljubavskij, D. M. Petrulevskij, M.N. Po-
krovskij, A. E. Presnjakov, D. B. Rjazanov und A. A. Spicyn marschierten — ein
Beweis für die stramme Organisation der Einwirkung des Parteiapparates auf die
zu Wahlvorschlägen berufenen wissenschaftlichen Körperschaften (vgl. z. B. den
Bericht über die Versammlung der „Sektion der wissenschaftlichen Arbeiter“ in
Kazan zur Aufstellung einer Kandidatenliste: Izvestija Nr. 240/8474 v. 14. Okt.
1928) — Pokrovskij mit 29, Rjazanov mit 16 und Lukin mit 9 Nomi-
nationen weitaus an der Spitze; alle übrigen Anwärter — außer Presnjakov,
der viermal aufgestellte worden war — hatten nicht mehr als eine oder zwei
Nominationen aufzuweisen. Zu berücksichtigen bleibt ferner, daß für einen der
vakanten „sozialökonomischen‘“ Sitze Pokrovskij weitere 2, Rjazanov 15 Nomi-
nationen erhalten hatte, und daß außerdem unter den Vorsclägen für die
„philosophischen“ Sitze einer für Rjazanov abgegeben worden war: Izvestija Nr. 168
402) v. 21. Juni 1928.
204) Ober den Konflikt der Akademie mit der e weder und den Ent-
rüstungssturm gegen die Akademie in der Presse wegen des als antisovetistische
Demonstration eines Teils der früheren Akademiker hingestellten Abstimmungs-
ergebnisses vom 12. Januar 1929 vgl. außer „Osteuropa“ 4 (1928—29), 878 f. und
A. Pierre, En U. R. S. S.: Le conflit entre le gouvernement et l’Académie des
sciences : Le monde slave 6. Jg. (1929), Bd. I (H. 8), 470—480, insbesondere:
J. Larin, Akademiki i politika: Pravda Nr. 20 (4154) v. 25. Jan. 1928;
A. Lunaéarskij, „Neuvjazka“ v Akademii Nauk: Izvestija Nr. 29 (8565)
v. 5. Febr. 1929, deutsch unter dem Titel „Der Kampf um das Bündnis der
134
Historikern wurden die drei Nicht-Marxisten HruSevskyj,
Ljubavskij und PetruSevskij zu ordentlichen Mitgliedern
der Akademie gewählt.“)
Vor und nach den Akademiewahlen ersuchte die Redaktion det
„Izvestija“ zahlreiche russische Gelehrte aus verschiedenen Disziplinen
um Erklärungen über die Bedeutung der Wahlen für die Zukunft der
wissenschaftlichen Arbeit in der Union. In den Zuschriften finden
sich außerordentlich interessante Äußerungen, welche Erwartungen
für die künftigen gesellschaftswissenschaftlichen Aufgaben der Aka-
demie die marxistishen Gelehrtenkreise an die Neuwahlen
knüpften.
Wissenschaft mit der Arbeit“: Das Neue Rußland 6. Jg. (1929), Nr. 1/2 S. 54
bis 56; Mich. Kol cov, Anekdoty: Pravda Nr. 29 (4168) v. 5. Febr. 1929;
„Das Land der Räte braucht die Akademie der Wissenschaften als ein aktives
Kollektiv hochqualifizierter wissenschaftlicher Arbeiter und nicht einfach als einen
Paradesenat emeritierter Gelehrter, der durch Erbschaft an es übergegangen ist“:
S. Romano va, Nekotorye vyvody iz čistki v Akademii Nauk, in den Izvestija
Nr. 208 (8744) v. 10. Sept. 1929.
(8710) v. 1. August 1929. — Presnjakov (vgl. Anm. ) den Pokrovskij
als den bedeutendsten russischen Historiker der auf Platonov folgender Generation
gelten läßt (7, 5), ist am 80. September 1929 gestorben; vgl. die Nachrufe von
A. Kiesewetter in der Rul’ Nr. 2704 v. 17. Okt. 1929 und in den Sovrem.
Zap. 41 (1930).
308) Professor M. L. Schherwindt (Polytechnisches Institut in Leningrad):
„Im Gegensatz zu ihren Leistungen in naturwissenschaftlichen Disziplinen gab die
Akademie auf dem Gebiet der ee Wissenschaften mit seltenen Aus-
nahmen (z. B. dem Japhetischen Institut; ethnographische Arbeiten) sehr wenig
und sie bearbeitet überhaupt kein aktuelles Problem, das unsere Offentlichkeit
interessiert. Wen können z. B. solche Arbeiten interessieren wie: Erläuterungen zu
den Basiliken des Konstantin Porphyrogenetos oder über die literarische Tätigkeit
Epiphanios II., Erzbischofs von Cypern?
Die Aufgabe einer Sovetakademie der Wissenschaften unter den gegen-
wärtigen Bedingungen muß darin bestehen, aktuelle Probleme auf dem Gebiet
der philosophischen und sozialökonomischen Wissenschaften zu bearbeiten. Diese
Aufgabe kann dann erfüllt werden, wenn die Akademie nach Auffüllung ihres
Bestandes mit frischen wissenschaftlichen Kräften einen cadre von Vertretern des
wissenschaftlichen Marxismus, der anerkannten Ideologie der arbeitenden Klasse,
umfassen wird. In der Sovetunion, dem ersten Lande, wo die Diktatur des
Proletariats verwirklicht worden ist, darf es einen solchen Zustand nicht geben,
daß die Akademie der Wissenschaften, die höchste wissenschaftliche Einrichtung,
keine Vertreter des revolutionären Marxismus, der Ideologie des Proletariats, aut-
weist. Diesen Mangel müssen die bevorstehenden Wahlen beseitigen. Ohne den
Einzug von Marxisten in die Akademie der Wissenschaften ist eine fruchtbare
Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Arbeit kaum denkbar“ (Izvestija Nr. 110
8844 vom 18. Mai 1928).
Professor A. K. Luppel, verantwortlicher Sekretär der Sektion der
wissenschaftlichen Arbeiter: „Die neuen Verhältnisse müssen unausweichlich den
bevorstehenden Wahlen ihr Gepräge geben in dem Sinne: daß einzelne Wissen-
schaften, einzelne wissenschaftliche Neigungen und Sympathien fich einschränken
135
Von den neu zu Mitgliedern der Akademie gewählten
Historikern trat im April Hru$evskyj mit dem Vorschlag hervor, bei
der Sektion für Gesellschaftswissenschaften der Akademie ein Institut
zur Erforschung der Geschichte der Ukraine ée po izuleniju
Ukrainskoj Se? zu errichten, indem er auf den Reichtum an
Materialien zur ukrainischen Geschichte in den Leningrader Archiven
und Bibliotheken hinwies.“)
Im Sommer 1929 wies die Akademie den in den „Izvestija“ an
die Adresse des Literarhistorikers V. M. Istrin als Vorsitzenden
ihrer „Kommission zur Herausgabe des Worterbuchs der russischen
Sprache“ (Komissi ja po sostavleniju slovarja russkogo jazyka) ge-
richteten Vorwurf, sie zögere absichtlich, beim Druck des Akademie-
wörterbuchs zur neuen Orthographie überzugehen, “) in einer Zu-
schrift an die Redaktion entschieden zurück.
und Platz machen müssen anderen Vissenschaften, anderen Neigungen und
Sympathien.
Vir wollen diesen Gedanken näher erläutern. Zwei Historiker sind in
formalem Sinne ihrer wissenschaftlichen Qualifikation nach gleich, aber der eine
äftige zich — sagen wir einmal — mit byzantinischer Geschichte, der andere
mit der Geschichte Europas in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen
Revolution. Es wäre doch sonderbar, wenn bei sonst gleichen Voraussetzungen
die bevorstehenden Vahlen dem ersten den Vorzug gäben. — Zwei Philosophen
(werden nominiert): von denen der eine sich um die mittelalterliche Philosophie
müht, um mystischen oder halbmystischen Idealismus, der andere aktuelle Pro-
bleme des dialektischen Materialismus bearbeitet; es ist klar, daß die gegen-
wärtigen Wahlen dem Zweiten den Vorzug geben werden. Wenigstens können
das die lebendigen und aktiven Vertreter der genannten Wissenschaften mit
Recht erwarten‘ (Izvestija Nr. 102/3336 vom 4. Mai 1928).
Professor D. N. Bogole pov: „Fragen des Evangeliums und der bischöf-
lichen ‚Erleuchtungsfabriken‘ (Voprosy . . . eparchial’nych svétnych zavodov — ge-
meint sind das geistliche Schrifttum oder die geistlichen Akademien) müssen
Fragen der heutigen Weltwirtschaft und der Bearbeitung aktueller Probleme des
Marxismus weichen“ (Izvestija Nr. 121/3355 v. 26. Mai 1929).
Sehr absprechend äußerte sih über die von en der Akademie
1922—1927 bearbeiteten philologischen und historischen Themen Ter-
Oganezov in der Pravda Nr. 243 (4075) v. 18. Okt. 1928.
Zwischen der Haupt- und der Nachwahl erklärte ein im Auftrag des Rats
der Volkskommissare in der Wahlangelegenheit nach Leningrad entsandter hoher
Beamter, Gorbunov: „Die reformierte Akademie der Wissenschaften muß
sich aus einer Akademie des überlebten, halbfeudalen Typus in eine Sovet-
Akademie verwandeln, die von der alten Akademie als Erbe alle ihre ungeheuren
wissenschaftlichen Reichtümer übernehmen soll, aber keinesfalls ihre alten Tradi-
tionen, die bei ihr nicht ohne wohlwollendes Zutun der carischen Regierung
entstanden sind“ (Pravda Nr. 28/4162 v. 8. Febr. 1929).
207) Izvestija Nr. 95 (4229) v. 25. April 1929.
208) G. Ry klin, Smelee nazad: Izvestija Nr. 112 (8648) v. 19. Mai 1929.
— Die Behandlung Istrins durch die Presse ist ein Schulfall für die Methode,
mißliebige Gelehrte vor der Offentlichkeit herabzusetzen. Von ihm schrieb
I. P. Podvolockij („Nauka i politika“ in der Pravda Nr. 26/4160 v.
1. Febr. 1929) während der durch die Akademiewahlen verschärften Spannung
zwishen der Akademie und den marxistishen Gelehrten als dem Verfasser
„einer ‚wissenschaftlichen‘ Arbeit von der Sorte: „Die Offenbarung des Methodios
von Patara und die apokryphen Visionen Daniels“ („Otkrovenie Mefodija
Patarskago i apokrifiteskija vidénija Daniila v vizantijskoj i slavjanorusskoj
136
Vom Budgetjahr 1929—30 an wurde die Akademie durch Ein-
führung der „Aspirantur ) zur „Ausbildung hochqualifizierter
wissenschaftlicher Arbeiter“ als Spezialisten fester in das System der
wissenschaftlichen Ausbildungsstätten der Union eingegliedert; von
hundert Aspirantenstellen (75 in der physikalisch-mathematischen,
25 in der humanistischen Abteilung) entfallen auf Linguistik und
Orientalistik je acht, auf Geschichte und Literatur-
geschichte fünf und auf Soziologie und Wirtschaft vier.“) Von
350 Bewerbern wurden Anfang Dezember 57 fest angenommen; nicht
weniger als 33 von diesen Aspiranten waren Mitglieder der Kom-
munistischen Partei. 62 weitere Bewerber wurden vorgemerkt und.
hatten sich einem Kolloquium in den „marxistischen Disziplinen“ zu
unterziehen..)
Die Präponderanz der Natur wissenschaften, wie sie in der Aus-
schreibung des Akademie entgegentrat,”") verstärkt die von mir
früher ausgesprochene Befürchtung um die Zukunft der historischen
Forschung in Rußland,“) vor allem um die Pflege der mittelalter-
lichen Geschichte Rußlands und um das Fortbestehen der
Archäographischen Kommission der Akademie als eines autoritativen
Gremiums dafür.“) Die Zurücksetzung der historischen Wissen-
literatur“). Durch die Art der Zitierung mußte zugleich der Eindruck hervor-
gerufen werden, als werde eine unlängst erschienene Untersuchung angeführt,
während es sich in Wirklichkeit um ein im Anfang von Istrins Laufbahn, vor
bereits mehr als dreißig Jahren (1897 in Bd. 181—188 der „Ctenija v imp.
ob&estv& ist. i drevn. ross. pri Mosk. universitete) erschienenes Werk handelt.
Ober die wissenschaftliche Bedeutung des Gegenstands, den Istrin in seiner wissen-
schaftlichen Arbeit 5 hat (vgl. seine Miszelle „Otkrovenie Mefodija
Patarskogo i Letopi$“: Izv. otd. russk. jaz. i slovesn. ross. Akad. Nauk 1924 g.
Bd. 29, S. 880—882), und über die genannte, jeglicher politischen Wertung
(solite man meinen) entrückte kirchengeschichtlich-quellenkundliche ER
Istrins unterrichtet die Besprechung von C. E. Gleye in der „Byzant. Ztschr.“
(1900), 222—228. Wir wollen es Herrn Podvolockij nicht besonders an-
rechnen, daß er von der jedem Historiker bekannten geistesgeschichtlichen Be-
deutung des Pseudomethodios keine Vorstellung hat.
200) Izvestija Nr. 187 (8678) v. 18. Juni 1929. Unter dem Titel: „Sdelano
na- jat“ nahm D. Zaslavskij in der Pravda Nr. 28 (4468) v. 24. Jan. 1980
die Nörgelei am Akademie-Wörterbuch wieder auf.
10% Vgl.: Vissenschaftlicher Nachwuchs in Sowjet-Rußland: Osteuropa 1
(1925—26), f.
219) Vgl. die Bekanntmachung der Akademie in der Pravda Nr. 224 (4858)
v. 28. Sept. 1929.
2108) Izvestija Nr. 286 (8822) v. 5. Dez. 1929.
211) Die Ausschreibung der Akademie nennt Mathematik, Physik, Seismo-
logie, Geologie, Mineralogie, Chemie, Zoologie, Biologie, Botanik, Mikrobiologie,
Anthropologie, Ethnologie, Ethnographie, Geographie und Expeditionswesen.
213) Diese Jahrbücher N.F. IV, 280 f.
213) Ober die Kommission vgl: Akademija Nauk SSSR za desjat let
1917—1927 (Leningrad 1927), S. 88—95: S. F. Platonov, „Istorija“. — Die
Arbeitspline der Archäographischen Kommission, die am 9. April 1880 in den
„Izvestija" (Nr. 98/8045) bekanntgegeben wurden, kündigen eine Umstellung und
neve Richtung ihrer Editionstãtigkeit an: die Kommission wird Materialien zur
Geschichte der Arbeiter in der Epoche der Leibeigenschaft (feodal’no-krepostnaya
137
schaften im Plan der Aspirantenstellen war nicht in Einklang zu
bringen mit Pokrovskijs Erklärung der Geschichte als einer
„universellen Wissenschaft oder, genauer gesagt, als dem universellen
Zugang zum Verstehen jeden gesellschaftlichen Problems“.
Im Winter 1929/30 spitzte sih das Verhältnis zwischen der
Akademie und der Regierung wie nie zuvor zu. Am 5. November
1929 wurde der ständige Sekretär der Akademie, Professor Sergej
F. Oldenburg, der diesen Posten seit über zwanzig Jahren be-
kleidete, durch einen Beschluß des Rats der Volkskommissare der
Sovetunion seines Amtes enthoben. Mit außerordentlihem Geschick
hatte sich Oldenburg seit 1918 bemüht, die Tätigkeit der Akademie
allmählich den neuen Verhältnissen anzupassen, ohne ihrem wissen-
schaftlichen Rufe etwas zu vergeben. Die überraschende Maß-
nahme der Regierung hatte folgende Vorgeschichte:: ) Am 19. Ok-
tober war der Kommission des Volkskommissariats der Arbeiter- und
Bauern-Inspektion, die den Personalstand der Akademie scharf
revidierte, ) gemeldet worden, daß in einigen Instituten der
Akademie, z. B. in der Akademie-Bibliothek, im PuSkin-Haus und bei
der Archäographischen Kommission, Dokumente von politischer Be-
deutung aufbewahrt würden. Die sofortige Untersuchung bestätigte
die Anzeige; bei den Archivalien, die in der Akademie ausfindig
gemacht wurden, handelte es sich in der Hauptsache um Dokumente
aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie in Rußland, um die
Protokolle der Zentralausschüsse verschiedener Parteien, das Archiv
der Presse-Hauptverwaltung u.s.w. Diese Dokumente dürften in den
ersten Monaten der Revolution in die Akademie in Sicherheit ge-
bracht worden sein, was niemals ein Geheimnis gewesen ist; 1925
wurden von der Akademie Akten der sog. Dritten Abteilung der
Höchsteigenen Kanzlei und des Polizeidepartements „in beträcht-
licher Menge“ an die Archivverwaltung abgegeben. V. Maksa-
kov erwähnte die Ablieferung 1927 in der russischen Archivalischen
Zeitschrift „Archivnoe delo“ und gab zugleich der Vermutung Aus-
druck, daß sich noch weitere derartige Akten bei der Akademie be-
fänden.“ ) Das erstaunlichste an der Auffindung der längst in der
Akademie vermuteten, wie es nun hieß: von der Akademie verheim-
epocha) und zur Geschichte der Städte im 17. und 18. Jahrhundert veröffentlichen
und Materialien für ein Vörterbuch zur Geschichte der Technologie in Rußland
bis zur industriellen Revolution sammeln. Als erster Band einer neuen Serie
„Materialy po istorii ekonomiteskogo razvitija Rossii“ (pod obščej red. M. N.
Pokrovskogo) ist angekündigt: „Krepostnaja manufaktura v Rossii‘:
I. Materialy po istorii tul’skich i kalirskich Zeleznych zavodov (1647—1690 gg.),
pod red. B. GrekovaiS. Tomsinskogo.
314) Obščestv. nauki v SSSR. za 10 let: Vestnik Komakad. 26 (1928), 24.
214) Vgl. Pravda Nr. 258/4392 v. 6. Nov. 1929; weitere Einzelheiten in
meinem Bericht über das russische Archivwesen, Archival. Ztschr. 1930.
214b) Die Zahl der Hilfskräfte, die durch die „Säuberung“ aus dem Dienste
der Akademie entfernt wurden, ging in die Hunderte: Pravda Nr. 284/4418 v.
4. Dez. und Izvestija Nr. 300/3836 v. 20. Dez. 1929.
314c) Archivnoe Delo 18 S. 86 Anm. 1.
138
lichten Dokumente bleibt, daß die Regierung nicht längst eingegriffen
hatte, um Klarheit über die bei der Akademie deponierten Akten-
bestände zu schaffen.
Die Archive der Sovetunion haben, — so ist es in den letzten
Jahren unzählige Male ausgesprochen worden, — die Aufgabe,
Waffen für den politischen Kampf zu liefern; daher war es leicht, die
Nichtanmeldung von Dokumenten zur Geschichte Rußlands in den
letzten Jahren des Carismus, die im Grunde nur ein historisches
Interesse besitzen, zu einem politischen Vergehen zu stempeln.
Außer Oldenburg wurde der Historiker S. F. Platonov, der
Präsident der Archäographischen Kommission und Direktor der
Akademie-Bibliothek und des Pugkin-Hauses, seiner Funktionen ent-
hoben. In Versammlungen „wissenschaftlicher Arbeiter“ und ın der
Sovet-Presse knüpfte an diese Vorgänge eine lebhafte Agitation für
eine völlige Umgestaltung der Akademie an. Die Revisionskommission
beanstandete die wissenschaftliche Qualifikation und die soziale Her-
kunft zahlreicher Hilfskräfte der Akademie. 0
Um die Jahreswende wurde die in den letzten Jahren von kom-
munistischer Seite so häufig geforderte radikale „Reorganisation der
Akademie eingeleitet. Da im Statut von 1927 die besonderen Auf-
gaben der Akademie in der „Periode des Aufbaus“ nicht berücksichtigt
seien, wurde im Februar 1930 zur Ausarbeitung eines neuen Statuts
eine besondere Kommission gebildet, in der die Akademie, der
Oberste Volkswirtschaftsrat, die Plankommission, die Kommunisti-
sche Akademie und das Komitee für wissenschaftliche Angelegen-
heiten beim Zentral- Exekutivkomitee der Sovetunion vertreten
waren. Der Entwurf zum neuen Statut stammt von den Aka-
demikern Bucharin und Deborin. ““) Der am 1. März als
Nachfolger Oldenburgs zum ständigen Sekretär der Akademie ge-
wählte marxistische Historiker V. P. Volgin erklärte am
18. März, % das neue Statut werde sich u. a. vom ‘alten vor allem
dadurch unterscheiden, daß bei Neuwahlen neben der rein wissen-
schaftlichen Qualifikation des Kandidaten seine Mitwirkung an der
sozialistischen Umgestaltung des Landes durch seine wissenschaftlichen
Arbeiten ein Kriterium bilden werde; Mitglieder der Akademie
könnten künftig nur Gelehrte werden, die zur revolutionären Be-
wegung des Proletariats nicht feindlich eingestellt seien.
Ein Übereinkommen, das Anfang März zwischen der Unions-
Akademie in Leningrad, der Allukrainischen Akademie der Wissen-
3144) Vgl. z. B. Izvestija Nr. 266, 269, 271, 282, 284 von 1929, Nr. 5 von
1980; Pravda Nr. 266, 269, 271, 284 von 1929. — Ju. Figat ner, Proverka
ta Akademii Nauk: „VARNITSO“ (Organ Vsesojuznoj Associacii Rabot-
ov Nauki i Techniki dlja sodejstvija socialisti¢eskomu stroitel’stvu SSSR) 1980
Nr. 2.
314e) Leningradskaja Pravda Nr. 59/4488 v. 1. März 1930; s. ebda. Nr. 96/4475
v. 7. April 1980: Zadali rekonstrukcii naučnoj raboty. Doklad. tov. Bucharina
v Akademii Nauk.
216!) Izvestija Nr. 78/8925 v. 20. März 1990.
139
schaften in Kiev und der Weißrussischen Akademie der Wissen-
schaften in Minsk geschlossen wurde, sieht eine planmäßige Reorgani-
sation der Akademien vor, die ihre Tätigkeit in Übereinstimmung
und die wissenschaftliche Forschungsarbeit der Akademien mit den
aktuellen Fragen des sozialistischen Aufbaus in Verbindung bringen
soll; die Akademien der Wissenschaften und die Kommunistische
Akademie sollen organisch miteinander verbunden werden..)
Es läßt sich zurzeit nicht übersehen, wie die tiefgreifenden
organisatorischen Veränderungen in der Leningrader Akademie auf
ihre fernere historische Arbeit und Publikationstätigkeit zurück-
wirken werden.
Aus einer Rede A. I. Rykovs in einer Versammlung wissen-
schaftlicher Arbeiter am 16. Februar 1930**") erfuhr man, daß die
Regierung Beweise dafür zu haben glaubt, daß es in der Unions-
Akademie einen konstitutionell-monarchistischen Kreis gegeben habe,
und daß S. F. Platonov beschuldigt wird, eine Thronkandidatur
des Großfürsten Andrej Vladimirovič propagiert zu haben. Die von
Rykov verlesene Ee Aussage des Professors S. V. RoZdest-
venskij, eines Schiilers von Parona und wissenschaftlichen Be-
amten („Mitarbeiters“) der Akademie, über derartige müßige
Kombinationen einer politisch völlig einflußlosen Gruppe von Ge-
lehrten, die überdies von der „Sovet-Offentlichkeit“ seit langem arg-
wöhnisch beobachtet wird, und die Anklage gegen den hoch ange-
sehenen betagten und kränklichen Führer der nichtmarxistischen
Historiker, der niemals in seinem Leben eine aktive politische Rolle
gespielt hat, muß sehr ernst genommen werden.
Die Begründung des kommunistischen Historischen Instituts.
In den Jahren 1927 und 1928 — im Kampf um Petrulevskij —
verdichtete sich die Opposition der marxistischen Kreise gegen das
historische Ranion-Institut immer stärker zu der Forderung, dem
Institut ein eigenes marxistisches wissenschaftliches Forschungsinstitut
für Geschichte zur Seite oder vielmehr entgegen zu stellen. Die Not-
wendigkeit eines kommunistischen Historischen Instituts als unum-
gänglicher Voraussetzung für eine systematische wissenschaftliche
Forschungsarbeit der Gesellschaft und für die Sicherung eines streng
und rein marxistischen Nachwuchses“) zu erweisen, zog der Sekretär
2148) Izvestija Nr. 68/3910 v. 5. März 1980.
214h) Zadaci inZenerno-technileskich i nauénych sil v period socialistiteskoj
rekonstrukcii: Izvestija Nr. 50 (8897) und Pravda Nr. 50 (4495) v. 20. Febr. 1980.
218) Die Sorge um den wissenschaftlichen Nachwuchs aus Kreisen der Partei
beschäftigte nach der II. Gesamtunionskonferenz der marxistisch-leninistischen
Forschungseinrichtungen im März 1929 wiederholt das Zentralexekutivkomitee
der Parteı und führte zu entsprechenden Entschließungen; vgl.: O meroprijatijach
po ukrepleniju naučnoj raboty: Pravda Nr. 158 (4292) v. 18. Juli 1929;
N. Zimin, Nauönye kadry partii: Izvestija Nr. 157 (8608) v. 12. Juli 1929;
O nautnych kadrach VKP (b): Pravda Nr. 189 (4823) v. 18. Aug. 1920; die
letztere Entschließung forderte zur Erhöhung der Qualifikation der kommu-
140
der Gesellschaft, Gorin, bereits in der Eröffnungssitzung des
Moskauer Historikertags alle Register. Dem Berichterstatter schwebte
in letzter Vollendung eine „Akademie für marxistische Geschichts-
wissenschaft“ als ein Gegenstück zur Leningrader Akademie für Ge-
schichte der materiellen Kultur vor.“) Im Falle der Nicht-
begründung des Instituts für Geschichte werde sich die Gesellschaft
nicht als lebensfähig erweisen.)
Den Zweck des Instituts hat Pokrovskij in einem Vergleich
am Schluß seiner bereits erwähnten Eröffnungsansprache vor dem
Moskauer Historikerkongreß folgendermaßen umschrieben: „Wenn
wir für den Kriegsfall Flugzeuge, Tanks und Maschinengewehre
rüsten, wenn es bei uns Militärakademien und ielle Einrichtungen
gibt, die der Unterweisung in dieser Technik dienen, so müssen wir
auch für den „friedlichen“ Kampf auf der ideologischen Front ent-
sprechend anleitende wissenschaftlich? Einrichtungen schaffen und die
einzige wissenschaftliche Methode zur Erklärung der Geschichte, über
die nur wir, wir Marxisten, verfügen, mit der entsprechenden wissen-
schaftlichen Apparatur waffnen.) In seinem Rückblick auf die
Konferenz unterstrich Pokrovskij die Forderung eines kommunisti-
schen Historischen Instituts als einen der wichtigsten Beschlüsse der
Tagung, mit dem die marxistische Historikerschaft den Willen zu
streng wissenschaftlicher Forschung neben der Popularisierungsarbeit
bekundete: „Es ist Zeit, daß die wissenschaftliche Forschungsarbeit
des Leninismus auf dem Gebiete der Geschichte bei uns die Formen
annimmt, die zu dem Lande passen, wo die Diktatur des Proletariats
herrscht und der Leninismus als die einzige annehmbare Ideologie für
die weitesten Kreise erscheint..)
Das Präsidium der Kommunistischen Akademie beschloß dem-
entsprechend im Frühjahr 1929, bei der Akademie ein Institut für
nistischen wissenschaftlichen Arbeiter u. a. neben Kommandierungen ins Aus-
land den weiteren Ausbau der wissenschaftlichen Kommandos im Inland, be-
sonders aus der Provinz nach Moskau zur Arbeit in den marxistisch-leninistischen
Einrichtungen der Union, vor allem im Marx-Engels- Institut, im Lenin - Institut
und in der Kommunistischen Akademie. — Für häufigere Kommandierungen mar-
xistischer Historiker ins Ausland trat besonders N. Lukin wiederholt ein; vgl.
seinen Bericht über den Historikerkongreß in Oslo: Pravda Nr. 215 (4047) vom
15. Oktober 1928 und Istorik-Marxist 5. 1
10) 11, 222 f.; Trudy I, 24; über die Akademie vgl. N. Marr, Gosud.
akademija istorii material’noj kul’tury: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 7 S. 285—292
und die „Mitteilungen“ (Soobl&enija) der Akademie (I, Leningrad 1926; II 1929).
217) Unter den Gründen, die dazu drängten, eine feste Basis für die kom-
munistische historische Forschungsarbeit zu schaffen, führte Gorin u. a. an:
„In unserer Zeit tritt die nichtmarxistische Geschichtswissenschaft häufig
unter der Flagge formaler Anerkennung des Marxismus auf und verlangt
daher von dem marxistischen Historiker neben der marxistischen Methode noch
eine sehr beträchtliche Summe von Kenntnissen. Sich lediglich auf die Methode des
Marxismus beschränken ohne . Tatsachenkenntnis und ohne die „Technik“
der historischen Forschung geht in jetziger Zeit nicht mehr an.“ (11, 219.) — Vgl.
auch die Rede Pokrovskijs, Anl. 2 (S. 197).
318) 11, 218.
210) 11, 6.
141
Geschichte (Naučno - issledovatel’skij Institut istorii SSSR pri
Komakademii) als Zentrum der marxistischen historischen Forschung
in der Union zu begriinden. Es wurde Vorsorge getroffen, das
Institut eng mit der Arbeit der Gesellschaft der marxistischen
Historiker zu verkniipfen; in ihm sollten diejenigen Einrichtungen
der Akademie, die bisher schon historisch arbeiteten, aufgehen, in
erster Linie die Sektion fiir Methode und Methodologie der Ge-
schichte (Sekcija metodiki i metodologii istorii),”) zu der 1928 die
Sektionen für Geschichte der revolutionären Bewegung (Sekcija istorii
revoljuc. dviZenija) und die methodologisch-soziologische Sektion
vereinigt worden war. Auch eine Verschmelzung des Ranion-Insti-
tuts für Geschichte mit der Neugründung wurde ins Auge gefaßt.
Die „Aspirantur“, d. h. die Vorbereitung des wissenschaftlichen Nach-
wuchses für Hochschulen und wissenschaftliche Forschungsstätten, die
bisher zu den Kompetenzen des Ranion-Instituts gehörte, sollte an
die Neugründung übergehen.“)
Die Offentlichkeit wurde auf den Beschluß des Präsidiums der
Kommunistischen Akademie, ihr ein Institut für Geschichte anzu-
gliedern, nachdrücklich aufmerksam gemacht: ein Artikel von
Pokrovskij selbst, dem präsumptiven Direktor des neuen Instituts,
kennzeichnete wenige Tage später in der „Pravda“ ) Ver-
öffentlichungen zweier Mitglieder des Ranion- Instituts für Ge-
schichte, der Professoren S. B. Veselovskij”) und
P. F. PreobraZenskij,”) und eines Mitarbeiters der ersten
220) Vgl. Vestnik Komakad. 31 — 1929 Nr. 1 S. 289. — Die Sektion trat
1928 zum Cerny3evskij-Jubiläum mit einer fünfbändigen Auswahl aus Cerny$evskijs
Werken hervor; der erste Band (Historische Schriften) bringt den berühmten Auf-
ruf an die herrschaftlichen Bauern (,,Barskim krest’janam“) zum ersten Male in
der originalen, unverkürzten Fassung; vgl. Vestnik Komakad. 80 — 1928 Nr. 6
S. 262; Istorik-Marxist 8, 244.
221) Izvestija Nr. 60 (8596) v. 14. März 1929.
222) O naucno-issledovatel’skoj rabote istorikov: Pravda Nr. 68 (4197) vom
17. März 1929; s. dazu auch M. Pokrovskij, Vse o tom Ze, no neskol’ko drugimi
slovami: Pravda Nr. 112 (4246) v. 19. Mai 1929.
233) Veselovskij, K voprosu o proischo2denii vottinnogo režima
(Mosk. 1926).
234) Preobraženskij, Tertullian i Rim; vgl. V. Sergeev, Krizis
anti¢nogo mira i christianskaja cerkov’: Istorik-Marxist 6 (1927), 227—286 (zurück-
haltend anerkennend); N. I. Deratani: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2. S. 149 f.
Als sich Preobraženskij in einer Einsendung an die Redaktion der
„Pravda“ gegen die wissenschaftliche Disqualifikation und öffentliche Diffamierung
verwahrte, ließ Pokrovskijs Entgegnung an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
„Man kann der ehrlichste Spezialist in Sovetdiensten sein, kann aufrichtig und
eifrig, ohne jede Täuschung für den Sovetstaat arbeiten, ohne dabei Marxist zu
scin: das sind zwei völlig verschiedene Qualifikationen. Wir können die Ver-
dienste dieses oder jenes ehrlichen Spezialisten hoch schätzen, aber daraus folgt
keineswegs, daß wir verpflichtet sind, die Erziehung der künftigen Historiker
Nicht-Marxisten anzuvertrauen. Professor Preobraženskij wie auch einige seiner
Kollegen haben — von allem Sonstigen abgesehen — bis jetzt nicht Begriffen;
daß in der Wissenschaft die ideologische Frage eine politische Frage ist. Wer an
unserer Ideologie zu rütteln sucht, ist unser politischer Feind .. .“ Pravda Nr. 84
(4218) v. 12. April 1929: P. Preobraženskij, Pismo v redakciju. — M.
142
Kategorie (N. Drukinin) *) in auffallend scharfer Weise. als
nichtmarxistische Forschungen.“) Diese Beispiele sollten vor
der Offentlichkeit die jedem marxistischen Historiker bereits ins
Bewußtsein gehämmerte Notwendigkeit eines eigenen Historischen
Instituts für die Ausbildung kommunistischer Historiker noch
schärfer beweisen.“) Indem er an eine bereits angeführte Äußerung
Lenins“) — über den Aufbau des Kommunismus im Anfang mit
Hilfe von Nichtkommunisten — erinnerte, schloß Pokrovskij seinen
Artikel mit einer seiner typischen Lenin-Interpretationen: Lenin habe
so gesprochen, als wir noch nicht genug eigene Hände hatten. „Und
der große Dialektiker würde uns Dummköpfe schelten, wenn er
sähe, daß wir jetzt, wo wir eigene Hände haben, sie nicht aus der
Tasche nehmen und die Arbeit fremden Händen überlassen. . .“
Die Regierung sanktionierte den Beschluß des Präsidiums der
Kommunistischen Akademie und bestätigte im April das Kollegium
des neuen Instituts, — außer M. N. Pokrovskij, als Direktor,
N. N. Vanag, V.P. Volgin, P. O. Gorin, N. M. Lukin, S. M. Monosov,
S. A. Piontkovskij, M. A. Savel’ev, A. D. Udal’cov und C. Fried-
land. Im Institut waren vier Sektionen vorgesehen: für die Geschichte
der Völker der UdSSR; für die Geschichte Westeuropas und
Amerikas; für Geschichte des Orients; ferner eine Sektion für
Soziologie.)
Das Institut wurde im November 1929 eröffnet. Vom Ranion-
Institut für Geschichte, das in dem neuen Institut aufging, wurden
45 Personen übernommen; 13 Aspiranten wurden neu aufgenommen.
Der Aufbau des Instituts entfernte sich etwas von dem ursprüng-
lichen Plan, indem zunächst Sektionen für Methodologie der Ge-
schichte, für die Geschichte des Industriekapitalismus, für Soziologie,
Pokrovskij, Otvet prof. Preobrakenskomu. — In den „Izvestija“ vom
26. März 1980 (Nr. 84/8081) griff F. Teslenko von neuem Preobraženskij,
dem er absprechende Außerungen gegen Engels vorwarf, in schärfster Weise an;
Pr. verwahrte sich dagegen in einer Zuschrift an die Redaktion (abgedruckt in
We bc v. 4. April), Teslenko behielt das letzte Wort (Nr. 98/3945 v.
. April).
338) N. M. Družinin, „Zurnal zemlevladel’cev“ (1858—1860 goda.):
Uden. zap. instituta istorii RANION II (1927), 251—810.
220) Ich halte die Arbeit von Veselovskij, obwohl sich in ihr in der Tat
von "Klassen" -Analyse keine Spur findet und wirtschaftliche Fragen darin stark
zurücktreten, für einen wertvollen Beitrag in der Diskussion über die staatsrechts-
geschichtliche Struktur des Moskauer Rußland.
41 In die Polemik gegen das RANION- Institut für Geschichte fällt auch
Friedland Kritik an einer aus dem Kreise der Mitglieder und Mitarbeiter
des Instituts hervorgegangenen Chrestomathie zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Europas in der neueren und neuesten Zeit (Chrestomatija po social’no-ekonomi-
českoj istorii Evropy v novoe i novejšee vremja, pod red. V. P. Volgina. 1929)
im Istorik-Marxist 11, 184—187; am Schlusse der Rez. heißt es: „Nach alledem
ist offenkundig, daß die Konferenz der marxistischen Historiker nicht ohne Grund
feststellte, daß erst die Heranbildung eigener streng marxistischer Cadres über
die Zukunft unserer Arbeit entscheiden wird“ (S. 187).
238) S. 111 f.
220) Pravda Nr. 98 (4227) v. 26. April 1929.
10 NF 6 143
fiir die Geschichte des Proletariats der Sovetunion und fiir die Ge-
schichte des Orients gebildet wurden. Von der Abteilung fiir die
Geschichte des Proletariats wurde mit Unterstiitzung des Zentral-
verbands der Gewerkschaften eine Vierteljahrsschrift fiir die Ge-
schichte der Arbeiterklasse in der Sovetunion (, Istorija proletariata
SSSR“) begründet.
Schon in den wenigen Monaten, die seit der Einweihung des
Instituts verstrichen sind, ist deutlich geworden, daß das Kollegium
keine Gelegenheit vorbeigehen läßt, die Offentlichkeit zu beein-
flussen, indem es sich in der russischen Geschichts wissenschaft sozu-
sagen oberrichterlihe Funktionen anmaßt. Gleich in der Er-
öffnungssitzung wurde eine Resolution gefaßt, die die Verheim-
lichung von Dokumenten in der Akademie der Vissenschaften
„politische Gegenrevolution und wissenschaftliches Schädlingstum“
brandmarkte.”®) Am 26. Januar 1930 übergab das Kollegium des
Instituts der Presse eine Erklärung zu den bevorstehenden Akademie-
wahlen. Es habe beschlossen, die Kandidatur des Genossen V ol g i n”)
zu unterstützen und spreche sich entschieden gegen die Kandidaturen
Ajnau (Ajnalov), Dovnar-Zapol’skij,”%) Veselov-
skij und Egorov aus; es werde an das Gelehrte Komitee beim
Zentral-Exekutivkomitee der Sovetunion eine motivierte Erklärung
gelangen lassen, warum diese Kandidaturen unerwünscht seien. Es
sei notwendig, auf einer erweiterten Sitzung des Präsidiums der Kom-
munistischen Akademie zu erörtern, in welcher Form die Tätigkeit
der Akademie der Wissenschaften und speziell ihrer kommunistischen
Mitglieder am besten durch die Offentlichkeit kontrolliert werden
könne. Auch werde man bei der kommunistischen Fraktion der
Akademie der Wissenschaften darauf hinwirken, den zweiten
vakanten Sitz eines Historikers vorläufig nicht zu besetzen, da die
Kandidaturen nicht befriedigten. ) Zu dieser auffälligen Kund-
gebung nahm Lunalarskij als Präsident des Gelehrten
32ta) Otkrytie instituta istorii: Izvestija Nr. 270 (8806) v. 20. Nov. 1929.
Pokrovskijs Rede bei der Eröffnung des Instituts („Institut istorii i zadali
istorikov-marksistov“) ist in Heft 14 des „Istorik-Marxist“ gedruckt.
329b) Über Volgin, der in der Frühjahrssession der Akademie zum Mit-
glied gewählt wurde: G. Seidel (Zajdel’), V. P. Volgin, kak istorik socializma:
Izvestiya Nr. 18 (8865) v. 18. Jan. 1980.
22%) Eine Zuschrift an die „Pravda“ („Protiv Dovnar-Zapol’skogo“) bezeich-
nete den Historiker als „typischen Professor einer Provinzial-Universität": Nr. 2
(4468) v. 24. Jan. 1980.
Im Auftrag des Instituts für turkmenische Kultue (Institue turkmenskoj
kul’tury) erklärte V. Karpyé in den Izvestija Nr. 25 (8872) v. 26. Jan. 1990:
„Auf völliges Unverständnis stößt die Aufstellung solcher Kandidaturen zur Aka-
demie wie die des Prof. Dovnar-Zapol’skij, der — nachdem er gesellschaftlich-politisch
und wissenschaftlich-methodologisch in Weißrußland Bankrott gemacht hat —, sich
jezt bemüht umzusatteln (perevooruZit’sja) und sich mit Orientalistik zu be-
schäftigen, insbesondere mit den Problemen des sovetistischen Mittelasien.
Volle Unterstützung finden natürlich solche Kandidaturen wie die der Gen.
Lunalarskij und Volgin.“
229d) Izvestija Nr. 25 (3872) v. 26. Jan. 1930.
144
Komitees in einer Zuschrift an die „Izvestija“ Stellung:) Das
Komitee besitze nicht die Kompetenz, bestimmte Kandidaturen ab-
zuweisen. Kundgebungen wie die des Instituts würden durch die
gemischten Kommissionen aus Vertretern der Republiken und der
Akademie der Wissenschaften zur Kenntnis genommen und auch
durch die wählenden Akademiker selbst. Zugleich gab er bekannt,
daß in der Frage des vakanten Sitzes das Präsidium der Akademie
im Sinne des Wunsches des Instituts für Geschichte
entschieden habe.
Als im Februar 1930 M. Javor$kyj, der bis dahin als Führer
der ukrainischen marxistischen Geschichtswissenschaft gegolten hatte,
aus der Partei ausgeschlossen wurde, nahm das Kollegium des Instituts
öffentlich zum „Fall aad Stellung und gab den ukrainischen
Historikern die Richtlinie für die neue Periode ihrer Arbeit.“ )
Ukraine.
Zentren der marxistischen historischen Arbeit in der Ukraine
sind das 1923/24 gegründete Ukrainische Institut für Marxismus und
Leninismus in Char’kiv”®) und das marxistisch - leninistische
„Forschungskatheder“ bei der Ukrainischen Akademie der Wissen-
aften in Kiiv (Nauéno-issledovatel’skaja kafedra marksizma-
leninizma pri Ukrainskoj Akademii Nauk), mit dem eine Kommission
für Geschichte der Partei verbunden ist und das Sektionen für die
Ukraine und den Westen besitzt;“) außerdem die ukrainische Ist-
320e) Ulenyj komitet pri CIK = Komitet zavedyvaniju utenymi i
uebnymi učreždenijami CIK SSSR. | = we SE?
230!) Nr. 83 (8880) v. 8. Februar 1980.
30g) Siehe Anlage 5. Vgl. dazu die reichlich spi
i dte Entgegnung des
Sekretärs des Zentralkomitees der Kommunist. Partei der Ukraine, S. Kosior,
in der „Pravda“ Nr. 95 7 v. 6. April 1980 und: „Ob Javorščine“. Rezoljucija,
prinjataja sobraniem partkollektiva Ukrainskogo Instituta Marksizma-Leninizma,
in den „Izvestija“ Nr. 101/3948 v. 12. April 1980.
320b) Vgl. Javorskj: Vestnik Komakad. 26 — 1928 H. 2 S. 272 f.; ders.
Ukrainskij institut marksizma (Char’kov): Istorik-Marxist 11, 224; Skrypnik
Ukrainskij institut marksizma i leninizma: Vestnik Komakad. 27 = 1928 H. $
S. 808—311; J. Osersky, Organisation und Stand der wissenschaftlichen Arbeit
in der Ukraine: Osteuropa 4 (1928—29), 229.
2330) Vgl. Levik, Kievskaja marksistsko - leninskaja kafedra: Vestnik
Komakad. 27 — 1928 H. 8 S. 811—316; als Levik in seinem Bericht vor der
I. Konferenz der marxistisch- leninistischen Forschungseinrichtungen erklärte, die
marxistischen Kreise der Ukraine betrachteten die Art dieses Katheders, seine Ver-
bindung mit der Ukrainishen Akademie der Wissenschaften, als eine besondere
Form des Kampfes und als geeignetes Mittel, sich in der Akademie einzunisten,
konnte Rjazanov ob solcher naiver Offenherzigkeiten den Zwischenruf: „Ein
schlaues Volk!“ nicht unterdrücken; das trug ihm von Pokrovskij (als Vor-
sitzenden der Versammlung) eine Rüge ein: „Ich bitte, sich nationalistischer Be-
merkungen zu enthalten!“ (S. 812).
‚Im Sommer 1929 wurde der marxistische Einfluß in der Ukrainishen Aka-
demie der Wissenschaften durch einen „Pairsschub“, der ein Gegenstück zur Lenin-
rader Akademiewahl bildete, beträchtlich verstärkt; zu den am 29. Juni d. J.
inzugewählten 84 neuen Mitgliedern. gehörte im Cyklus der historischen Wissen-
145
art-Organisation mit Filialen in Char’kiv, Kiiv und Odessa, die seit
3 ein eigenes Organ: „Litopis revoljucii“, Zurnal istparta
CK KP(b)U herausgibt.
Im Char kiver Institut, das eine Zeitschrift „Prapor Marksizmu“
(Fahne des Marxismus) erscheinen läßt, entwickelten die historische
Abteilung mit drei historischen Lehrstühlen (für die Geschichte der
Ukraine, die Geschichte des Westens und die Geschichte der Partei
und der Oktoberrevolution), ferner der Lehrstuhl für Soziologie (mit
Kommissionen für den historischen Materialismus und für die Ge-
schichte der „bürgerlichen Soziologie“, — gemeint ist die Geschichts-
auffassung Hrusevsky js) und ein besonderes Katheder für die
ukrainische Nationalfrage eine rege Tätigkeit. M. Ja vor Sky j,
der Inhaber des Katheders für die Geschichte der Ukraine, machte
die größten Anstrengungen, an Stelle HruSevSkyjs „genetischer Ge-
schichte“ — einer Periodisierung, die eine völlig eigene, vom
„Klassen“ standpunkt unberührte historische nationale Entwicklung
des ukrainischen Volkes konstruierte —, einem eigenen „marxisti-
schen Schema“ der ukrainischen Geschichte Geltung zu verschaffen.“)
Von den marxistischen Historikern der Ukraine, die seit dem De-
zember 1928 in der „Ukrainischen Gesellschaft der marxistischen
Historiker“ (Ukrains ke tovaristvo Istorik-Marksist) zusammen-
geschlossen ne) hat in den letzten Jahren keiner einen Beitrag
zur marxistischen historischen Arbeit in der Sovetunion geliefert, der
über die Grenzen der Ukraine hinaus Beachtung verdient hätte.“)
schaften M. Ja. Javorskyj, der Wortführer der ukrainischen marxistischen
Geschichts wissenschaft in Berlin und Oslo 1928 (vgl. Osteuropa 4 (1928—29), 684
und 815 f.); am 30. November wurde Javorskyj zum Mitglied des Präsidiums der
Akademie gewählt.
231) Die Stellung, die Javorskyj der Dekabristenbewegung in der ukrainischen
Geschichte zuweist, wurde von J. Lossky („Neuere ukrainische wissenschaftliche
een zum Dekabristenaufstande‘) in diesen Jahrbüchern N.F. V. (1929), S. 401
gestreift.
232) Bei der Gesellschaft besteht eine Kommission zur Erforschung der West-
ukraine, die Veröffentlichungen über die revolutionären Bewegungen in Galizien
1848 und 1918—19 vorbereitet: Vestnik Komakad. 27 — 1928 H. 8 S. 307.
233) In dieser Hinsicht ist das völlige Fehlen von Besprechungen über aus-
gesprochen marxistische ukrainische historische Publikationen in den elf Heften
des „Istorik-Marxist“ vielsagend. Daß von der außerordentlich umfangreichen und
vielseitigen, international anerkannten (HruSevSkyj-Festschrift!) Editionstätigkeit
der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in dem Moskauer marxistischen
Organ fast keine Notiz genommen wurde — eine Ausnahme bildet I. Trockijs
Anzeige der durch Heranziehung orientalischer Quellen und archäologischen und
linguistischen Beweismaterials bemerkenswerten Untersuchung von Pavlo Smir-
nov, Volz’kij šljach i starodavni Rusi (Der Volgaweg und die alten Russen). Narisi
z ruSkoi istorii VI—IX vv. = Ukrains’ka Akademija Nauk. Zbirnik istori¢no-
filologitnogo viddilu Nr. 75 (1928): 10, 244—246 — ist weniger erstaunlich, als
daß Javorskyj in seinem Vortrag über „die Ergebnisse der ukrainischen Geschichts-
forschung in den EE 1917—1927” in Berlin und Oslo 1928 sich auf die Mit-
teilung der von ihm sehr überschätzten marxistischen „Ergebnisse“ beschränkte.
Die notwendigen Ergänzungen über die nicht marxistisch orientierte ukrainische
Forschung, — mit der Javorskyj auf der Moskauer Konferenz in seinem Vortrag
146
Die Moskauer Historikerkonferenz erhielt fiir das Verhältnis der
„großrussischen“ und der „ ukrainischen“ marxistischen Forschung be-
sondere Bedeutung dadurch, daß Pokrovskij die Ukrainer nachdrück-
lich auf die Gefahren einer „klassovo-nacional'nyj metod“, auf die
Entstellung des Klassenkampfschemas durch allzustarkes Hineinziehen
nationaler (bzw. ethnographischer) Gesichtspunkte hinwies;™*) er
machte die größten Anstrengungen, die Gefahren des Nationalismus
für die Geschlossenheit der marxistischen Historiker-Phalanx zu
bannen: angesichts der einheitlichen Front der „istoriko-kontra-
revoljucionery“ beschwor er die Versammlung, eine feste und ein-
heitliche Front der russischen und ukrainischen Historiker zu bilden
und sofern man von ukrainischen, weißrussischen u. dgl. Traditionen
und Ambitionen sprechen könne, diese eine Zeitlang zurückzu-
stellen.
Unter diesen Umständen bekundete die Zusammenstellung einer
starken, demonstrativ aus den aktivsten Mitgliedern der Gesellschaft
zusammengesetzten offiziellen Delegation des Moskauer marxisti-
schen Historikerkreises für eine geplante ukrainische Historiker-
konferenz) den Willen der „Zentrale“, den nationalistischen Ein-
über die „antimarxistischen Strömungen in der ukrainischen historischen Literatur
von heute“ (s. oben S. 127) abrechnete —, bieten: D. Dorolen ko, Ukrainian
historiography since 1914: The Slavonic Review Bd. III (1925), 288—289; ders.,
„Die Entwicklung der ukrainischen Geschichtsidee vom Ende des 18. Jahrhunderts
bis zur enwart™ in diesen Jahrbüchern N.F. IV (1928), 868—879; ders.,
Die Entwicklung der Geschichtsforschung in der Sowjetukraine in den letzten
Jahren: Mitteilungen des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin H. 2
(1928), 85—56; R. Smal’-Stockyj, The Centres of Ukrainian Learning:
The Slav. Rev. II (1928), 558—566; I. Krypiskie vy, Létat actuel de histo-
riographie ukrainienne: Conférence des historiens des états de l'Europe Orientale
et du Monde Slave, II (Varsovie 1928), 100—114; O. Hermajze, Die ukrai-
nische Geschichtswissenschaft in der USSR: Slavische Rundschau 1 (1929), 368
bis 866; ders. (Germajze), Ukrainsk. istor. nauka 1917—1927, in den ,,Studii z
istorii Ukraini naukovo-doslidéoi katedri istorii Ukraini v Kiivi, Bd. II (Vseukr.
Akad. Nauk. 1929). — Vgl. auch J. Osersky, Organisation und Stand der
wissenschaftlichen Arbeit in der inet Osteuropa 4 Sie 223—226;
O. Kolo da, Die Allukrainische Akademie der Wissenschaften: Das Neue Ruß-
land 6. Jg. (1929), H. 1 S. 20—22. — V. Klinger, Z martyrologji nauki w
Rosyi (die Tragödie Sterbakivskij): Przeglad Wspölczesny 6. Jg. Bd. 23 (1927)
56—64; M. Pakul, Vsevitnja istorija na Ukraini za 1917—1928 r.: Prapor
Marksizmu 1929 Nr. 2 S. 184—206.
Über den Antrag HruSevékyjs, in Leningrad ein Ukrainisches histo-
risches Institut bei der Akademie der Wissenschaften der Sovetunion zu begründen,
s. oben S. 186.
ss.) 11, 8f.
235) Vgl. den Bericht über den Historikertag in der Pravda Nr. 8 (4137)
v. 4. Jan. 1929. Über nationalistische Tendenzen, die in die Beratung der künf-
tigen Organisation der Gesellschaft der marxistischen Historiker hineinspielten,
s. Evg. Krivoleins in den Izvestija Nr. 9 (3545) v. 11. Jan. 1929.
3%) Aufruf zum Ukrainischen Historikerkongreß: Litopis revoljucii 1929
Nr. 1. Beilage; Karetnikova, Ustanovka konferencija Ukrains’kogo tova-
ristva „Istorik-Marksist“: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 1 S. 174.
147
flüssen, die den ukrainischen Marxismus bedrohen, nach Kräften
entgegenzuwirken.“
Bereits im Februar 1929, fünf Vochen nach der marxistischen
Historikerkonferenz, hatte P. Gorins Besprechung der „Istorija
Ukraini v stislomu narisi“ Ja voorSKy js) einen tiefen Gegensatz
in der marxistischen Historikerschaft enthüllt. Gorin fand,
Javor$kyj seine Aufgabe von einem „formal-nationalistischen“ an-
statt vom Klassen-Standpunkt durchgeführt habe, und ging so weit,
das Buch eine „nicht bolschevistische“ Arbeit zu nennen. Dieser
Kuß erung kam durch die Persönlichkeit des Rezensenten besonderes
Gewicht zu, da Gorin als Schriftleiter der Zeitschrift „Proletarskaja
Revoljucija“ und als „Gelehrter Sekretär“ der Gesellschaft der
marxistischen Historiker über großen Einfluß verfügt. Schon in
der Diskussion, die sich an Javorskyjs Vortrag auf der Moskauer
Konferenz über antimarxistische Richtungen in der ukrainischen
Geschichts wissenschaft anschloß, hatte Javorskyj vor Gorins Angriff,
der ihm eine nicht genügend marxistische Formulierung der Ge-
schichte der Revolution von 1905 in der Ukraine vorhielt, kapitu-
lieren müssen.““) Während des ganzen Jahres 1929 setzte sich
Javorskyj gereizt mit seinem unerbirtlichen, ihm dialektisch weit
überlegenen Kritiker, dem in der Gesellschaft der marxistischen
Historiker sekundiert wurde, auseinander;*°) er führte einen ver-
zweifelten Kampf um seine Geltung als marxistischer Historiker, die
durch ein Trommelfeuer von Anklagen erschüttert wurde. Vor-
würfe, die in der Campagne gegen Javorskyj immer wiederkehrten,
waren z. B.: National-Chauvinismus, der für eine nationale „Ab-
weichung nach Rechts“ von der Parteilinie die historische Begründung
liefere; Feindschaft gegen die Ideen des Internationalismus; Ver-
zeichnung der Rolle des Proletariats in der revolutionären Bewegung
der Ukraine und Fehler in der Beurteilung der Ukrainischen Kom-
munistischen Partei; Irrtümer in der Einschätzung des ukrainischen
337) Zu Mitgliedern der Delegation wurden gewählt: M. N. Pokrovskij,
N. M. Lukin, C. S. Friedland, S. M. Dubrovskij, S. S. Krivcov, Evg. Krivoleina,
P. O. Gorin, A. M. Pankratova, P. G. Galuzo, P. I. Kulner, D. Ja. Kin, P. I.
Anatol“ ev: Izvestija Nr. 108 (3639) v. 9. Mai 1929; es handelt sich bei den Ge-
nannten z. T. um hervorragende Spezialisten — Dubrovskij für die Agrarverhält-
nisse Rußlands im 20. Jahrhundert, Lukin und Friedland für die Geschichte der
französischen Revolution, Galuzo für die russische Politik in Mittelasien usw. —,
deren Namen im „Istorik-Marxist“ und überhaupt in der marxistischen historischen
Arbeit häufig begegnen.
238) Pravda Nr. 34 (4168) v. 10. Febr. 1929.
230) Pravda Nr. 8 (4137) v. 4. Jan. 1929; Trudy I, 467 f.
240) Diskussion zwischen Javorskyj und Gorin: Prapor Marksizmu 1929
Nr. 2, S. 207—218 und Nr. 5, S. 227—229; s. auch Ist.-Marxist 12, 884 f. —
Vgl. ferner T. Sk ubickij, Rez. von Javorskyjs „Istorija Ukraini“: Ist-Marxist
12, 282—285; im Dezember 1929 hielt Skubickij in der Gesellschaft der marxist.
Historiker vor der Sektion für die Geschichte der Völker der Sovetunion einen
Vortrag: „Schema istorii Ukrainy v rabotach Javorskogo.“ Vgl. auch V.
Suhino-Chomenko, Na marksists’komu istoriènomu fronti: Bil’dovik
Ukraini Nr. 17—18 (1929), 42—55 und Nr. 19 S. 40—56.
148
Kulakentums und der Zentralen Rada; Idealisierung der kleinen Bauern
im Geiste des Narodniki usw. Die „Irrlehren“ hätte Javorskyj im
schlimmsten Falle abschwören können, wie er in einzelnen Punkten
schon früher seine Ansicht revidiert hatte. Es waren im Grunde nicht
die historischen Streitfragen, die zu Beginn des Jahres 1930 Javorskyjs
politischer und wissenschaftlicher Laufbahn ein jähes Ende setzten;
vielmehr führten Feststellungen über seine politische Vergangenheit,
daß er nach dem Kriege in Galizien im Kampf gegen den
Bolschevismus in vorderster Reihe gestanden hatte, i der
„Säuberung“ der Kommunistischen Partei der Ukraine seinen Aus-
schluß her 2
Die Tiefe dieses Sturzes ermißt, wer sich erinnert, daß Javorskyj
es gewesen ist, der vor zwei Jahren in Berlin und Oslo die ukrainische
marxistische Geschichtswissenschaft repräsentierte, daß er es E
ist, der auf der marxistischen Historikerkonferenz als Sprecher der
ukrainischen Delegation Pokrovskij als dem „Schöpfer und Organi-
sator der einheitlichen ideologischen marxistischen Front in unserer
Geschichtswissenschaft“ unter tosendem Beifall den Glückwunsch der
Versammlung zum sechzigsten Geburtstag entbot.“)
Die marxistische Geschichtswissenschaft der Ukraine, die in den
nächsten Monaten im Zeichen der Bekämpfung der _,,JavorStina“
stehen wird, befindet sich in einer schweren Krise; denn auch ihr be-
kanntester Vertreter nächst Javorskyj, Professor O. Ju. Germajze,
der als Historiker beim Katheder für Marxismus der Ukrainischen
Akademie der Wissenschaften in Kiev arbeitete, wurde bereits vor
längerer Zeit vom Amte suspendiert und befand sich unter den
Hauptangeklagten in dem Hochverratsprozeß, der im März 1930 in
Char’kiv gegen die Mitglieder eines „Bundes zur Befreiung der
Ukraine“ begann; “) am 19. April wurde er zu zwei Jahren Freiheits-
entziehung mit strenger Isolierung und Verlust der Rechte verurteilt.
Die Konferenz für den Unterricht in den marxistischen historischen
Disziplinen.“
Vom 7. bis 9. Februar 1930 veranstaltete die „Sektion für Ge-
schichte der Kommunistischen Partei und des Leninismus“ der Gesell-
der marxistischen Historiker eine Beratung über die Behand-
341) Vgl. A. Seljubskij, Matvej Javorskij — avantjurist: Pravda Nr. 59
(4504) v. 1. März 1980; P. Gorin, Ob odnoj poutitel’noj biografii: Izv. Nr. 61
(8908) v. 8. März 1980; M. Skripnik, Pomilki na vipravlenija akademika
M. Javorskogo: Bil’$ovik Ukraini 1980 Nr. 2. Vgl. auch die bereits oben er-
wähnte Erklärung des Histor. Instituts der Kommunist. Akademie (Anlage 5).
343) Trudy I, 75.
343) Vgl. den Prozeßbericht in der Pravda Nr. 72 (4517) v. 14. März 1930.
34) Pervoe vsesojuznoe sovelèanie po voprosam prepodavanija Leninizma,
istorii VKP (b) i Kominterna; vgl. Pravda Nr. 41 (4486) v. 11. Febr. 1930;
Izvestija Nr. 43 (3890) v. 18. Febr.; Ja. Bronin, Aktual’nye zadali prepo-
davanija leninizma i istorii partii: Kommunistileskaja revoljucija 1930 Nr. 7; ders.,
K itogam soveitanija po voprosam prepodavanija leninizma, istorii VKP (b) i
149
lung der drei nah verwandten parteigeschichtlichen Disziplinen ,,Ge-
schichte der Kommunistischen Partei (der Bolscheviki)“, „Leninismus“
und „Geschichte der Kommunistischen Internationale (= Komintern)“
im Unterricht. Um eine klare Linie der „historischen Front“ für die
Parteigeschichte (,,istoriko-partijnyj front“) herauszuarbeiten, war
Aufgabe der Referate, die Methoden für die Forshung über Fragen
des Leninismus und der Parteigeschichte prinzipiell zu klären. Es
wurden folgende Themen behandelt:
Dic Aufgaben des Unterrichts in der Geschichte der Partei und im Leninismus
(E. Jaroslavskij);
Die Arbeit des Lenin-Instituts (M. A. Savel’ev);
Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Biographie Lenins (V. V. Adoratskij);
Der Leninismus als wissenschaftlihe Disziplin und als Unterrichtsgegenstand
(K. A. Popov);
Die Geschichte der Partei als Wissenschaft (D. Ja. Kin);
Der Gegenstand, die Programme und die Methode des Unterrichts tiber dic Ge-
schichte der Komintern (Bela K u n). 4)
Viel Mühe wurde darauf verwandt, die Geschichte der Partei,
d. h. die Geschichte des Bolschevismus in Rußland, als selbständiges
Fach gegen die Geschichte der Sozialdemokratie überhaupt, die Ge-
schichte der Arbeiterbewegung und die Geschichte der revolutionären
Bewegung und des Klassenkampfes abzugrenzen.
Die Konferenz schlug in Fragen der Theorie des Marxismus die
schärfste Tonart an, verdammte alle Versuche, in der „Toga der
Orthodoxie“ den Marxismus-Leninismus opportunistisch zu ver-
fälschen und bekannte sich unbedingt zu Stalins Definition des
Leninismus:
„Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der
proletarischen Revolutionen. Der Leninismus ist eine geschlossene revolutionäre
Weltanschauung, die die Gesamtheit der Erscheinungen der Natur und der mensch-
lichen Gesellschaft umfaßt und die mit ihrer Spitze auf die revolutionäre Um-
gestaltung dieser Gesellschaft durch das Proletariat gerichtet ist. Als Marxismus
einer bestimmten Epoche setzt er sich aus drei Bestandteilen zusammen: der
materialistischen Dialektik und dem historischen Materialismus, der marxistischen
litischen Okonomie und dem wissenschaftlihen Kommunismus. Der letztere...
ist nichts anderes als die wissenschaftliche Theorie der proletarischen Revolution
und der Diktatur des Proletariats. Der Leninismus als besondere wissenschaft-
liche Disziplin und als besonderer Unterrichtsgegenstand ist die marxistische Lehre
der Epoche des Imperialismus von der proletarischen Revolution und der Diktatur
des Proletariats. Oder, mit anderen Vorten: vom Programm der Strategie, Taktik
und Organisation des Proletariats im Kampf für seine Diktatur und fir die Ver-
Kominterna: Izvestija Nr. 50 (8897) v. 20. Febr.; D. Kin, K itogam odnogo
sovestanija: Pravda Nr. 68 (4518) v. 10. März; „Rezoljucija“: Izvestija Nr. 62
(8909) v. 4. März 1980.
2044) Vgl: E. Jaroslavskij, Zadati izulenija istorii partii: Prole-
tarskaja Revoljucija 1980 Nr. 2—8; V. Adoratskij, K voprosu o
naučnoj biografii V. I. Lenina (ebda.); D. Kin, Istorija partii kak nauka:
Bjulleten’ zao&no—konsul’tac. otdel. Instituta Krasnoj Professury Nr. 4 (1980),
47—538; V. Adoratskij, Ob izučenii partii i leninizma: ebd. S. 44—48,
150
wirklichung seiner Aufgabe d. h. für die Aufrichtung der kommunistischen Gesell-
schaft.“ 18)
Daß die Geschichte der Partei unlösbar mit den Fragen, die heute
die Partei bewegten, mit dem gegenwärtigen Stande des Kampfes der
Arbeiterklasse verknüpft sein müsse, bildete ein Axiom in der Aus-
sprache über die Geschichte der Partei als Vissenschaft. Dem Ein-
wand, daß die Interessen des aktuellen politischen Kampfes eine
wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte der Partei, „Objek-
tivität“ gegenüber parteigeschichtlichen Fragen ausschlössen, be-
gegnete die Konferenz folgendermaßen:
„Dieser Einwand ist seinem Wesen nach unbegründet (nesostojatel’no). Die
Politik der Partei des Proletariats ist errichtet auf dem festen wissenschaftlichen
Grunde des Marxismus-Leninismus und setzt eine strenge wissenschaftliche Er-
forschung der Geschichte der Partei voraus, ohne die eine richtige Politik der
Partei unmöglich ist. Die Partei des Proletariats ist interessiert an der wissenschaft-
lichsten und an der vollständigen Erforschung ihrer eigenen Geschichte. Zugleich
d-mit steht die leninistische Geschichte der Partei der bürgerlichen Objektivität
tern. Indem sie in der Untersuchung den Gesichtspunkt der strengsten Parteilich-
keit anwendet, der allein eine wirkliche Wissenschaftlichkeit der Untersuchung
sichert, dient die Geschichte der Partei ihren Kampfaufgaben der Vernichtung des
Kapitalismus, der Sache des Aufbaus des Sozialismus in unserem Lande und dem
Kampfe für die internationale Revolution.“ de)
Mit anderen Worten: Die kommunistischen Historiker haben
eine leninistische Geschichte der leninistischen Partei zu schreiben.“)
Die Forschungen über die Geschichte der Komintern sollen
die Erfahrungen früherer Kämpfe der Komintern zum Eigentum des
kämpfenden Proletariats der kapitalistischen Länder und der revolu-
tionären Massen der Kolonien machen, sowie die internationale Er-
ziehung des Proletariats und der Werktätigen der Sovetunion ver-
stärken und vertiefen.
Man fand, „daß die Interessen der Welt-Revolutions-Bewegung
gebieterisch die Erweiterung des Cadres marxistischer Historiker im
248) Bronin, K itogam....
Der Glückwunsch des Instituts der Roten Professur umschrieb Stalins histo-
risches Verdienst um die geistige Grundlage des Sovetstaats: „Deine Arbeiten über
den Leninismus sind ein Beispiel für die marxistisch-leninistische revolutionäre
Dialektik, ein Beispiel für schöpferischen Marxismus im Unterschied vom dog-
matischen „Marxismus“, im Unterschied von scholastischen, mechanistischen, quasi-
marxistischen theoretischen Erklärungen, die den Opportunisten eigentümlich sind.
Deine Auslegung der leninistischen Lehre von der Diktatur des Proletariats, der
Lehre vom Klassenkampf, der leninistischen Strategie und Taktik, der leninistischen
Lehre vom Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus und von
der Aufrichtung des Sozialismus in einem einzelnen Lande, Deine Arbeiten über
die nationale Frage sind ein sehr wertvoller Beitrag zur marxistisch-leninistischen
Wissenschaft.“ Nach der Pravda Nr. 802 (4436) v. 22. Dezbr. 1929. — Vgl. auch
V. Adoratskij, I. V. Stalin kak teoretik leninizma: Proletarskaja revoljucija
Nr. 95 = 1929 Nr. 12.
7) Bronin, K itogam....
247) Kin, K itogam....
151
Lande der siegreichen Diktatur erforderten“, und daß die wissen-
schaftliche Arbeit in den Disziplinen, denen die Arbeit der Konferenz
galt, intensiviert werden müsse. Daher soll die Abteilung für die
Geschichte der Partei im „Institut der Roten Professur“ in ein selb-
ständiges Institut für die Geschichte der Partei (Partijno-istoriteskij
institut) mit vier Abteilungen: für die Geschichte der Partei, für den
Leninismus, für die Geschichte der Komintern und für die Organı-
sation der Partei (partstroitel’stvo) umgestaltet werden.
Die umfangreiche Resolution der Tagung, die den Gang der Ver-
handlungen und alle Fragen, die angeschnitten wurden, zusammen-
faßt, formuliert in zwei Sätzen präzis die Bildungsaufgabe und den
Inhalt der parteigeschichtlichen Disziplinen folgendermaßen:
„Unter den Bedingungen der von uns durchlebten Periode des
entschiedenen Kampfes für die Verwirklichung des Sozialismus er-
langen Fragen des Unterrichts des Leninismus, der Geschichte der
VKP(b) und der Komintern eine besonders große politisch-
erzieherische Bedeutung, indem sie als ein machtvolles Mittel für eine
bolschevistische Erziehung der proletarischen Massen erscheinen.
Beim Studium der Geschichte der Partei ist es notwendig, das Haupt-
augenmerk darauf zu richten, daf ihr Studium den Aufgaben des
gegenwärtigen Kampfes der Partei diene.“ — „In der nächsten
Zeit muß die Erforschung und der Unterricht der Geschichte
der Partei und des Leninismus seine Aufmerksamkeit auf die Fragen
der leninschen Auffassung der Theorie des Klassenkampfes in
der Epoche der Übergangsperiode, auf das Problem der „smyčka“
des Proletariats und des Bauerntums, auf die leninsche Lehre über die
Übergangsperiode (Kriegskommunismus, NEP, Aufbauperiode), auf
das Problem der gegenseitigen Beziehungen der Partei und der Klasse,
insbesondere in der Periode der Diktatur des Proletariats,
konzentrieren.“
Abgeschlossen April 1930.
Anlagen*): 1. Das neue Statut des Marx-Engels-Instituts.
2. Auszug aus der Rede Pokrovskijs bei der Feier seines 60. Ge-
burtstags. 3. Auszug aus einer Rede Kalinins. 4. Dokumente
zur I. Marxistischen Historikerkonferenz. 5. Erklärung des
Kollegiums des Historischen Instituts an der Kommunistischen
Akademie zum Fall Javorskyj. 6. Resolution der Konferenz für
den Unterricht in den marxistischen historischen Disziplinen.
II.
Die „Gesellschaft der marxistischen Historiker“ und ihr
Organ „Istorik - Marxist“ 1927—1929.
Inhaltsübersicht:
Tätigkeit der Gesellschaft.
Bericht über den „Istorik-Marxist“:
Alte russische Geschichte. — Russische Geschichte des 18. Jahrhunderts. —
18. Jahrhundert. — 20. Jahrhundert (Russischer Kapitalismus und Imperialismus).
— Geschichte der revolutionären Bewegung und des Klassenkampfes in Rußland
im 20. Jahrhundert. — Weltkrieg und ‘Intervention.
Wirtschafts- und Sozialgeschichte. — Orient.
Zur Geschichte der russischen Geschichtsschreibung. — Zur marxistischen
Forschung über die Geschichte der französischen Revolution.
Der „Istorik-Marxist“ als Rezensionsorgan und bibliographisches Hilfsmittel.
Nur eine Berichterstattung, die in gleicher Ausführlichkeit die
Publikationstatigkeit der Kommunistischen Akademie,“ ) des Marx-
Engels- Instituts“ *) und des Lenin- Instituts (einschließl. „Istpart“), 8)
des „Istprof“, ) der Komintern,“ ) des Revolutionsmuseums der
Union,“ ) des Centrarchiv RSF SR) und etwa der historischen Ab-
teilungen des Internationalen Agrarinstituts, “ ) des Instituts der
Roten Professur“) und der „Gesellschaft der ehemaligen politischen
338a) Vgl. den „Katalog des Verlages der Kommunistischen Akademie beim
Zentralen Vollzugskomitee der Sowjetunion“ (Moskau, Volchonka 14), 1928;
deutsch. (65 S.)
uo i Vgl. „Institut K. Marksa i F. Engel’sa. Katalog izdanij“. Gosizdat. 1929.
2) Vgl. „Institut Lenina pri CK VKP(b). Katalog (dan, Gosizdat.
1929. (60 S.).
2418) — Komissija istorii prof essional'nogo dviženija v Rossii:
Kommission für Er ne der Gewerkschaftsbewegung in Rußland; vgl.
B. Nikolajewsky, Die histor. Literatur in Rußland während der
Revolution: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung
12 (1926), 29.
24) Vgl. „Komintern 1919—1929. Katalog knig“. Gosizdat 1929. (72 S.);
vgl. Anm. 277.
2838) Vgl. „Muzej revoljucii Sojuza SSR. Sbornik“: I (1927); II (1929); vgl.
Istorik-Marxist 14, 215—217 (L. Mamet); Archivnoe delo 20 (1929) 27 f.
(S. I. Mick e vi J).
248) Vgl. „Centrarchiv RSFSR Katalog izdanij“. Gosizdat 1928. (87 S.).
2482) Vgl. „Agrar- Probleme“ (Her. vom Internat. Agrarinstitut, Moskau),
H. 1 (1928), 226 f. über die Arbeiten der im „Kabinett für Landwirtschaft und
Bauernschaft in der UdSSR“ bestehenden Sektion für die Bauernbewegung im
vorrevolutionären Rußland; A. K. Dchiveleg ow (Diivelegov), Die Methoden
des Studiums der Geschichte der Bauernbewegungen: ebenda S. 207—211.
3468) Vgl. insbesondere die Sammelbände: Russkaja istoriòeskaja literatura
v klassovom osveščenii. Sbornik statej s predisl. i pod red. M. N. Pokrovs-
kogo = Trudy instituta krasnoj professury (Mosk. 1927); dazu V. Nevskij
in Pečat’ i revoljucija 1927 H. 6 S. 152—155. — Ocerki po istorii Oktjabr’skoj
153
Strafgefangenen und Verschickten““ ) verfolgte, könnte den An-
spruch erheben, wenigstens der im Zentrum des Staates und am
Sitze der Parteileitung geleisteten, offiziell geförderten marxistischen
historischen Arbeit gerecht zu werden. Bis jetzt ist im Ausland die
Arbeit der marxistischen Historiker der Sovetunion wenig bekannt;
die Beschäftigung mit dem Virken der „Gesellschaft der marxisti-
schen Historiker‘ als der Vereinigung aller Marxisten, die wissen-
schaftlich als Historiker arbeiten,) und als der „breiten Basis
für die Propaganda der marxistischen Historiographie“) und die
kritische Würdigung ihres Organs, des „Istorik-Marxist“, vermag
einen gewissen Ersatz zu bieten. Im Rahmen der zahlreichen von der
Kommunistischen Akademie ausgehenden periodischen Veröffent-
lichungen und Enzyklopädien, *) die das Reservoir marxistischer
wissenschaftlicher Erkenntnis jeweils für die ihnen entsprechenden
geistigen Bezirke zum Gebrauch durch die politische Publizistik und
Propaganda bilden, b) ist die Stellung und Aufgabe der Zeitschrift
„Istorik-Marxist“ eindeutig und unverrückbar festgelegt: marxistische
Bearbeitung historischer Fragen, der historischen Methode und der
Methodik des Geschichtsunterrichts; Kampf für die Reinheit der
marxistischen Prinzipien, gegen die bürgerliche („idealistische“) Ge-
schichtsschreibung, gegen Entstellung und Vulgarisierung der histori-
schen Methode von Marx und Lenin.
Die letzten Hefte zeugen bereits für die Bemühungen der
Redaktion, den Lesern der Zeitschrift eine lebendige Anschauung
revoljucci; pod red. M. N. Pokrovs ko go. Bd. I (1927), dazu P. Gorin:
8, 153—160. — Ober das Institut der Roten Professur: Wochenbericht 3. Ig.
Nr. 7/8 (25. Febr. 1927), S. 10 f.
3478) Vsesojuznoe obStestvo byvlich polititeskich katorinikov i ssyl’no-
poselencev; Veröffentlihungen: Katorga i ssylka. Istoriko-revoljucionnyj vestnik
(10. Jg. 1930); „Istoriko-revoljucionnaja biblioteka“ 5 Unter-
5 Dokumente u. a. Materialien aus der Geschichte der revolut. Ver-
ngenheit Rußlands; vgl. A. Mühlstein [Milštejn], Is toriko- revoljucionnaja
iblioteka ob&estva politkatorkan 1929 goda: Kniga i revoljucija 1929 Nr. 24);
Bio - bibliografiteskij slovar dejatelej revoljucionnogo dviženija v Rossii ot
predSestvennikov dekabristov do padenija carizma“ (vgl. 4, 240); Publik. zum
Dekabristenaufstand (vgl. 11, 201) u. a.
348) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 277.
240) Friedland: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 2—3 S. 105.
a) Ihres „Vestnik“ (Bote) und ihrer Fachorgane: „Na agrarnom fronte“
der Agrarsektion, „Mirovoe chozjajstvo i mirovaja politika (Weltwirtschaft und
Weltpolitik) des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik, „Sovetskoe
gosudarstvo i revoljucija prava“ (Der Rätestaat und die Revolution des Rechts)
des Instituts für Recht und Sovetaufbau, „Problemy ekonomiki“ der Sektion für
Wirtschaft, „Estestvoznanie i marksizm“ (Naturwissenschaft und Marxismus) der
Sektion für exakte und Naturwissenschaft, „Problemy Kitaja“ (Vierteljahrs-
schrift des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für China an der Kommunist.
Universität der werktätigen Chinesen), „Istorija proletariata SSSR“ (Vierteljahrs-
schrift der Sektion zum Studium der Geschichte des Proletariats in der UdSSR am
Institut für Geschichte).
249b) Literaturnaja Enciklopedija; Ekonomičeskaja E.; Filosofskaja E.;
E. gosudarstva i prava; Kratkaja E. meZdunarodnogo 8 viZenija,
154
von der gesamten historischen Arbeit im Gebiete der Union, auch der
nicht marxistisch orientierten Forschertätigkeit, zu vermitteln, — ein
Bestreben, das der Zeitschrift im Ausland besondere Beachtung sichert.
Auffallend wenig berücksichtigt ist in allen bisher erschienenen Heften
die nicht Großrussisch geschriebene Literatur.
Der äußere Aufstieg der Gesellschaft, die im Zeitraum 1927 bis
1929 auf so vorzügliche organisatorische Leistungen wie die Veran-
staltungen zum Pokrovskij-Jubiläum, die Abhaltung der Moskauer
Historiker-Konferenz und die Begründung des kommunistischen
Historischen Instituts zurückblicken kann, Bat sich fortgesetzt; am
Ende des Jahres 1928 zählte sie 345 Mitglieder.“) Die merkwürdige,
im vorliegenden Falle eindeutige Frage nach der „politischen Sr
tät“ dieser wissenschaftlichen Gesellschaft wird durch die Feststellung
beantwortet, daß von den 169 ordentlichen Mitgliedern 136, von den
176 Korrespondenten 133 zugleich der Kommunistischen Parteı an-
gehörten; bei dem nicht der Partei angehörenden geringen Mitglieder-
rest handelte es sich um parteilose Marxisten, ,,die den Marxismus
voll und ganz, ohne jeglichen Vorbehalt angenommen haben, da der
Marxismus seiner Natur nach etwas ist, das keinerlei — noch so ge-
ringe — Vorbehalte zuläßt“.“
Die Gliederung der Gesellschaft in Sektionen, von denen jede
eine Art Sondervereinigung der marxistischen Spezialisten auf be-
stimmten historischen Arbeitsgebieten vorstellt,) ist gegen
früher“) etwas geändert. Gegenwärtig bestehen sechs Sektionen: für
die Geschichte der Partci; die Geschichte Rußlands; die Geschichte
des Westens und Amerikas; die Geschichte des Orients,
eine soziologische und eine methodische Sektion.“) Eine Äußerung
des Präsidiums der Kommunistischen Akademie vom März 1928 auf
Grund des Tätigkeitsberichts der Gesellschaft“) und der Bericht des
Sekretärs der Gesellschaft, Gorin, vor dem 1. Marxistischen Histo-
rikerkongreß im Dezember) lassen erkennen, daß die Tätigkeit der
Sektionen außer auf die Veranstaltung von Vorträgen und Dis-
kussionen sich bis dahin auf die Vorbereitung populär-wissenschaft-
licher historischer und historisch-didaktischer Literatur beschränkte;
irgend welche von den Sektionen organisierte systematische
wissenschaftliche Forschungsarbeit lag nicht vor.
35%) Am 1. Jan. 1926: 29 wirkliche und 11 korrespond. Mitglieder; 1927:
72 wirkl., 89 korresp. M.; 1928: 109 wirkl., 102 korresp. M.; 1929: 169 wirkl. und
176 korresp. Mitgl.; vgl. 6, 297; 11, 218.
351) Gorin 11, 218.
22) Gorin 11, 220.
253) Vgl. 8, 245; 4, 273.
254) 11, 220; 18, 276—281.
255) 7, 308.
sse) 11, 218—225; Trudy I, 16—27. — Ders. (Bericht über die Tätigkeit der
Gesellschaft auf der zweiten Konferenz der Archivarbeiter der RSFSR, Mai 1929):
Archivnoe Delo 20 (1929), 28 f.
155
Uber die von den Sektionen der Gesellschaft ausgearbeiteten
historischen Lesebücher wurde auf dem Kongreß folgendes bekannt-
gegeben: Die Lesebücher für die Geschichte der Kommunistischen
Partei = Knigi dlja &tenija po istorii VKP (b) werden die Geschichte
der Partei in fünf Teilen behandeln: Bd. I. Die Entstehung der
Sozialdemokratie in Rußland; II. Bildung des Bolschevismus und des
Menschevismus; III. Die Partei in der ersten Revolution; IV. Die Partei
zwischen den Revolutionen; V. Die Partei in der Revolution von
1917.) — Die Serie der Lesebücher zur russischen Geschichte
= Kniga dlja Zren po istorii Rossii (unter Redaktion von
M. N. Pokrovskij) wird gleichfalls fünf Bände umfassen: I. 17. und
18. Jahrhundert; II. 19. Jahrhundert; III. Das Ende des 19. Jahr-
hunderts und die Revolution von 1905; IV. Die Jahre der Reaktion
und des imperialistischen Krieges und die Revolution von 1917;
V. Der Bürgerkrieg in Rußland.“) — In der Reihe der Sektion für
Geschichte des Westens (= Kniga dlja &tenija po istorii zapada) sind
vier Bände vorgesehen: I. Die Epoche des Handelskapitals; II. Die
Epoche des Industriekapitals; III. Die Epoche des Imperialismus und
der imperialistische Krieg; IV. Imperialismus und Klassenkampf in
der Nachkriegszeit;?°*) Jie Sektion bereitet außerdem eine Serie
populär wissenschaftlicher Broschüren zur neuesten Geschichte des
Westens (,,Istorija sovremennogo zapada“) vor, in der Bändchen über
„Versailles und der Völkerbund“, das moderne Deutschland, Frank-
reich, Italien, England, Amerika, den Fascismus, die Sozialdemokratie
vorgesehen sind.“) — Die Sektion für Soziologie wird mit einem
Sammelwerk über die heutigen bürgerlichen und antimarxistischen
Tendenzen in der Geschichtswissenschaft (, Sovremennye burZuaznye
i antimarksistskie teòenija v istoriòeskoj nauke“) hervortreten.“ )
In ihrer Forschungsarbeit wird die Sektion für die Geschichte
der Partei sich an andere mit der gleichen Aufgabe betraute
Forschungsstellen, das Lenin-Institut und die Abteilung für Partei-
schichte des Instituts der Roten Professur (Istoriko-partijnoe otde-
enie Instituta Krasnoj Professury), anlehnen können.“)
Neben den Sektionen arbeiten wissenschaftlich zwei Kom-
missionen: 1. Eine Kommission zur Erforschung der bewaffneten
Aufstände und Revolutionskriege (Kom. po izuéeniju voorubennych
vosstanij i revoljucionnych vojn) widmet sich mit Vorliebe der
historischen und militärtechnischen Untersuchung von Vorgängen aus
der jüngsten Vergangenheit, z. B. dem Spartacus-Aufstand 1919, dem
Umsturz in Bulgarıen 1923, den Hamburger Unruhen 1923, dem
257) 11, 220.
258) 11, 221; s. auch 8, 244.
25%) ebda.
260) 6, 298.
261) 11, 221.
262) 11, 220.
Staatsstreich Pilsudskis 1926.2) Die partei-taktische Aufgabe dieser
historischen Kommission, die als Zelle einer besonderen Sektion für
Kriegswissenschaften (Voennaja teorija) an der Kommunistischen
Akademie anzusehen ist,) darf nicht außer Acht bleiben; bei Er-
wähnung eines Aufsatzes von N. Cuk ak über die Arbeit der
Bolscheviki in der Armee wies der Rezensent im „Istorik-Marxist“
darauf hin, welche Bedeutung die wissenschaftliche Beschäftigung der
Kommission mit der Theorie und Praxis der kommunistischen
Propaganda im Heere für die Bruderorganisationen jenseits der
Grenzen der Union haben könne.“)
In der ersten Sitzung der Kommission, am 24. Februar 1928,
gab B. I. Gorev einen Überblick über die theoretische Beschäfti-
gung mit Fragen des Krieges im marxistischen Lager: Voennaja
istorija i marksizm (Kriegsgeschichte und Marxismus).“) Nach
Marx und Engels“) wandten sich erst in der imperialistischen Epoche
eine Reihe führender Marxisten wie Jaurès, Mehring, Pavlovič, Lenin
und Pokrovskij wieder eingehender militärischen Fragen zu, als die
mit großer Achtung genannten Forschungen Hans Delbrücks der
Kriegsgeschichte neue Bahnen gewiesen hatten. Als kriegsgeschicht-
liche Themen, die von der marxistischen Forschung vorzugsweise in
Angriff genommen werden müßten, bezeichnete der Redner — außer
den in der Benennung der Kommission gekennzeichneten speziellen
Aufgabengruppen —: „Der Krieg als soziologisches Problem; seine
Genesis und Evolution; die Rolle des Krieges als eines charakteristi-
schen Moments der Geschichte, als eines entscheidenden Punktes in
der Lösung von Gegensätzen, als eines Moments, in dem die
Quantität in die Qualität übergeht; ferner: der Zusammenhang des
Krieges mit der Virtschaft, Technik und Politik, der Zusammen-
363) 6, 297; 11, 222; über den Hamburger Aufstand im Oktober 1928 vgl.
G. Zin ov ev: Bolšaja Sov. Enciklopedija 14 (1929), 478—481!
2632) „Special'naja sekcija voennoj teorii“; „sie wird kommen, Genossen,
darauf könnt Ihr Euch verlassen!“ Pokrovskij in seiner Rede auf der Fest-
sitzung zum zehnjährigen Bestehen der „Kriegsakademie des Roten Arbeiter- und
Bauern-Heeres“ (Voennaja Akademija R{abote] — Kfrest’janskoj] Kf[rasnoj]
A[rmii]), nach der Pravda Nr. 6 (4140) v. 8. Jan. 1929; s. auch R. Eidemann
(Ejdeman), Voprosy voenno-nauénoj raboty: Pravda Nr. 45 (4179) v. 28. Febr. 1929.
2%) 11, 171: A. Šestakov über N. Cu ak, Bol’Sevistskaja rabota v
armii (Katorga i ssylka Nr. 49 — 1928 H. 12). —
In ähnlicher Weise wird man im Ausklang von Rubinsteins Artikel
über „Pokrovskij als Historiker der äußeren Politik“: an Pokrovskij werde man
die tiefe und feine Analyse der Geschichte der Außenpolitik lernen, „solange nicht
der terminus ‚Äußere Politik‘ selbst ein Anachronismus wird“ (9, 78), eine ge-
schickte Anspielung auf die Weltrevolution sehen müssen, indem nach ihrem Siege
sich die Herrschaft des im Bund der Räterepubliken geeinten Proletariats über die
ganze Erde erstrecken und es nur noch „Innere Politik“ geben wird.
335) 9, 119—124; „Vojna v istorii marksizma“: 12, 821—323. Als Gorev
seinen Vortrag hielt, war noch nicht bekannt, wie eingehend sich Lenin mit
Clausewitz’ Buch „Vom Kriege“ beschäftigt hat; Lenins Auszüge und Rand-
bemerkungen liegen, von Bubnov eingeleitet, im 12. Band des „Leninskii
Sbornik“ (1980) vor.
2658) G. Zinov’ev, Učenie Marksa i Engel’sa o vojne (Moskau 1930).
157
hang von Kriegstechnik und Heeresorganisation; die ‚militärische
Taktik. Die politische Geschichte der letzten Kriege; die 55
Funktion des Krieges; die Politik als Mittel des Krieges, als Mittel
der Isolierung; Einkreisungen des Gegners als Mittel politischer
Rückendeckung u.s. w.“
Die zweite Kommission — Komissija po istorii proletariata
SSSR — arbeitet über die Geschichte der russischen Arbeiter-
bewegung; ) eine Unterkommission stellt Ermittlungen über die
Materialien zur Geschichte der Arbeiterklasse in den Archiven der
Union an.“) Eine dritte Kommission sollte gebildet werden um
das Material für eine wissenschaftliche Geschichte des Weltkriegs zu
sichten und zu systematisieren (Kom. po dokumentacii imperiali-
stiCeskoj vojny 1914—1918 gg.).
Die Zeitschrift wurde in der Berichtszeit weiter von dem ur-
sprünglichen Redaktionskollegium™) redigiert, aus dem V. P. Polonskij
ausschied, während 1927 N. M Lukin (- Antonov) und Em.
M. Jaroslavskij (von Heft 6 ab) und 1928 D. J. Kin und I. I. Minc
(von Heft 7 ab) j neu eintraten. Der lange erwogene Plan, neben
dem „Istorik-Marxist“ als dem streng wissenschaftlichen Organ der
Gesellschaft eine kleinere, populär gehaltene historische Zeitschrift für
die breiten Massen herauszugeben, “i) scheint seiner Verwirklichung
entgegenzugehen; es soll beabsichtigt sein, darin u. a. Dokumente des
en zur Vorgeschichte des Weltkriegs zu veröffent-
ichen.
Wiederum erfolgte auf zufällige äußere Anlässe hin wie bei
früheren Gelegenheiten (den Jubiläen, die an die Revolutionen von
1905 und 1917, an die Namen Pugatev, Bakunin und Stapov an-
kniipften),?") stoßweise die Produktion über bestimmte Fragen;
286) 11, 222.
#07) Archivnoe Delo 17 (1929), 7.
208) 11, 222.
70) S. diese Jahrbücher N. F. IV, 277.
270) 7, 811.
371) 8, 202; 6, 267; 7, 270.
272) Poslédnija Novosti (Paris) Nr. 8080 v. 28. Aug. 1929; nach der Mos-
kauer Tageszeitung „Velernaja Moskva“ v. 25. August.
» Historische Makulatur“ bildeten die wenigen Lieferungen eines von der
»Krasnaja gazeta“ seit Dezember 1927 in Riesenauflagen hergestellten illustrierten
istorischen Almanachs „Minuvlie dni“ (Vergangene Tage), eines auf Sensation und
die Instinkte der Masse berechneten Machwerkes, das mit einem angeblichen Tage-
buch der Freundin der letzten Carin, Frau A. A. Vyrubova (Verfasserin da
„Stranicy iz moej žizni“, Paris 1922), aufwartete; A. A. Sergeev vermochte
das Tagebuch im „Istorik-Marxist“ ohne Mühe als eine Fälshung zu erweisen
(Ob odnoj literaturnoj poddelke. Dnevnik A. A. Vyrubovoj): 8, 160—172;
s. auch 6, 270; 7, 276 f.; P. O. Gorin, Ob odnoj vylazke bul’varščiny: Pravda
Nr. 61 (8893) v. 11. März 1928.
273) Vgl. diese Jahrbücher N. P. IV, 278. —
Selbst in marxistischen Kreisen wird die Gewohnheit, daß im heutigen Rug-
land die Erforschung bedeutender revolutionärer Erscheinungen stark von ihren
Jubiläen abhängig geworden ist, als unerfreulich empfunden. Frau Nelkina
153
bereits beginnt sich eine Wellenbewegung der Schriften über
jubiläumswürdige Gegenstände abzuzeichnen; nach dem Abebben der
Literatur zum zwanzigjährigen Jubiläum der Revolution von 1905
machen sich jetzt die Vorboten des fünfundzwanzigjährigen im
nächsten Jahre bemerkbar. Gefeiert wurden in der Berichtszeit so-
wohl die 30. Wiederkehr des ersten Kongresses der russischen sozial-
demokratischen Arbeiterpartei“) (30. März 1898) wie das fünfund-
zwanzigjährige Jubiläum ihres zweiten Kongresses, von dem die
bolschevistische Partei ihren Ursprung genommen hat;“) in die Be-
richtszeit fielen ferner die Gedenktage der „Prozesse der 50“ und der
„193“ vor fünfzig Jahren,“) das Jubiläum des zehnjährigen Be-
stehens der Kommunistischen Internationale, “) der Plechanov-
Gedenktag, ) der ,,Cerny$evskij-Tag*.?”) Den Höhepunkt der
Jubiläumskundgebungen und Schriftstellerei aber bildeten ohne
Frage die in Selbstverherrlichung der marxistischen historischen Idee
aufgehenden außerordentlihen Ehrungen Pokrovskijs zu seinem
60. Geburtstag.“)
Alte russische Geschichte.
In den Heften 5 bis 11 tritt die ältere russische Geschichte
wiederum völlig zurück. Es wiederholt sich das Bild der ersten vier
Hefte: keine selbständige Untersuchung handelt über ein Thema,
das zeitlich vor der großen französischen Revolution liegt. Dem
Ausbau des bibliographischen Teils ist zu verdanken, daß die russische
Geschichte bis zum 18. Jahrhundert trotzdem nicht vollständig leer
ausgeht. Eine Übersicht über historische Arbeiten in den periodischen
Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften, Mitteilungen
über die Tätigkeit des „Instituts für Geschichte der RANION“
und ein Literaturbericht von I. Trockij stellen zusammengenommen
eine vorzügliche Orientierung vor. Trockij,’) zu dessen Über-
fand heraus, daß die „bürgerliche Historiographie“ an diesem Zustand schuld sei:
ihre Hinterlassenschaft an Fragen sei zu groß, als daß sie von den marxistischen
Historikern auf einmal in Angriff genommen werden könnten; man müsse nach
irgend einer Ordnung vorgehen; diese — zum Glück wenigstens als reichlich
„elementar empfundene „Ordnung“ — schaffen die Jubiläen! (8, 173).
e ae Russkaja social - demokratičeskaja rabočaja partiją = R. R. D. R. P.;
s. 7, 269.
375) Vgl. N. Lj usin: 9, 178 f.
2378) Vgl. L. Kulezycki, Geschichte der Russischen Revolution Bd. II
(Gotha 1911), 228 f.
277) Kommunistiteskij Internacional — Komintern; vgl. 10 let Kommunistides-
kogo Internacionala. Tezisy APO IKKI i APPO CK VKP(b) dlja doklad¢ikov:
Pravda Nr. 49 (4188) v. 28. Febr. 1929; Desjat let Kominterna 1919—1929: Pravda
Nr. 52 (4186) v. 3. März 1929; G.S., Čto čitat’ po istorii Kominterna: Pravda
Nr. 58 (4187) v. 5. März 1929.
378) Vgl. unten Anm. 359 u. 360.
2379) Vgl. Osteuropa 4 (1928—29), 217.
sea) Vgl. oben S. 108—105.
280) Osnovnye voprosy drevnej russkoj istorii v literature poslednich let:
8, 182—191.
11 NF 6 159
sicht die Redaktion anmerkt, sie behalte sich vor, auf die besondere
Problematik zurückzukommen, die eine marxistische Würdigung
der älteren Perioden der russischen Geschichte in sich schließe, be-
spricht die russische Literatur seit 1920 zur Geschichte der russischen
Besiedlung und der Entstehung des russischen Staats, zur Kolonisation
des russischen Territoriums, schließlich Beiträge zur Sozial- und Wirt-
schaftsgeschichte des alten Rußland, insbesondere zur Frage des
russischen Feudalismus.“
Die im Referatteil der Zeitschrift nunmehr angebahnte
systematische Einbeziehung der älteren russischen Geschichte, die Be-
rücksichtigung der byzantinischen Geschichte“) und die immer
stärkere Anwendung der marxistischen Betrachtungsweise auf nicht-
russische Geschichte, wofür die früher angezeigten Hefte lediglich
Beispiele aus der Geschichte der französischen Revolutionen seit 1789
und aus der neuesten Entwicklung des nahen und mittleren Ostens
darboten, wird allmählich die bereits öffentlich geforderte ausdrück-
liche Berücksichtigung des Altertums) und der mittelalterlichen Ge-
schichte im Programm der Zeitschrift herbeiführen.“) Der plan-
mäßige Ausbau der Zeitschrift im angedeuteten Sinne ist nur eine
Frage der Zeit; der ,,Istorik-Marxist wird damit erst, in vollem Maße
nicht nur zum „Handbuch des marxistischen Historikers“, 0) sondern
zur unentbehrlichen Enzyklopädie der marxistischen historischen
Forschung überhaupt werden. “
281) Vgl. Anm. 85.
282) Die russische Byzantinistik ist durch Beiträge von G. Lozovik ver-
treten: einen Nachruf auf den „größten russischen Byzantinisten“ Fedor Ivanovič
Uspenskij (1845—1928): 9, 110—114; Anzeige von Ernst Steins, Geschichte
des spätröm. Reichs Bd. I: 14, 197—199. Zu Lozoviks Übersicht über die Arbeit
der russischen Byzantinisten in der Kriegs- und Revolutionszeit, die zugleich der
künftigen marxistischen Byzantinistik die Wege weisen und bereiten will (7 [1928],
228—238: Desjat let russkoj vizantologii) — vgl. auch I. Sokolov, Russkaja
literatura po vizantinovedeniju s 1914 po 1927 g.: Slavia 7 (1928), 418—426 und
682—700, und V. Waldenberg (Val’denberg): „Byzantion“ IV (1927—28),
1929, S. 481—504 über die russische Byzantinistik 1924—1929.
283) Um auf dem „Poehlmann und seinen ideologischen Genossen vertrauten
Gebiet der Altertumswissenschaft“ (S. Lurje im „Marx-Engels-Archiv“ II, 810)
ein marxistisches Paroli zu bieten.
_ 384) Seidel (Zajdel’): 11, 227. — Die gleichzeitig gewünschte besondere Ab-
teilung über den modernen Orient würde den ,,Istorik-Marxist mit einer speziellen
Aufgabe der neuen russischen orientalistischen Zeitschriften vom Charakter des
„Novyj vostok“ (Der neue Orient, Moskau) oder „Schidnij svit (Die Welt des
Orients, Char’kiv) in Konkurrenz treten lassen; vgl. Mich. Pavlovié
(-Vel’tman), Zadalı Vserossijskoj Naučnoj Associacii Vostokovedenija: Novyj
vostok 1 (1922), 3—15.
285) Gorin: 11, 219.
286) Daneben kann nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden,
welche Fundgrube die in ihren historischen Partien von Pokrovskij redigierte
Bol’$aja Sovetskaja Enciklopedija für den Historiker bildet, um die offizielle
orthodox-marxistische Lesart besonders in Fragen der neueren und neuesten Ge-
schichte, der revolutionären und Arbeiter-Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert
und der Geschichte des Sozialismus kennen zu lernen; zur Behandlung der Ge-
16)
Russische ‘Geschichte des 18. Jahrhunderts.
Zur Geschichte des Pugatev-Aufstandes lieferte einen wertvollen
Beitrag S. G. Tomsinskij: „Über den Charakter der
Pugadcevséina.“**’)
Die Abhandlung stellt eine Abrechnung vor mit den 1926 von
G. E. Meers on („Eine frühe bürgerliche Revolution“) aufgestellten
Thesen: 1. Die Pugačevščina war eine frühe bürgerliche Revolution.
Sie war der politische Ausdruck des Konflikts zwischen den beiden
historischen Typen der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation:
der monopolistischen und der vom Monopol durch handelskapita-
listische Tendenzen freien Ausbeutung unmittelbarer Unternehmer;
2. Die Niederwerfung der Pugačevščina ist zurückzuführen auf die
Verschiedenartigkeit der beiden Typen bäuerlicher handels-kapita-
listischer Akkumulation in Rußland im dritten Viertel des 18. Jahr-
hunderts, derjenigen im Zentrum (der metropolen) und der
kolonialen; 3. das Rätsel der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit
Rußlands, sein Abstand von den Ländern Westeuropas rührt aus der
Vernichtung des amerikanischen Typus der Entwicklung des Kapitals
in den carischen Kolonien her.
In einer Vorbemerkung setzt sich T. mit Meerson begrifflich
auseinander; mit auß erordentlicher Beherrschung des gesamten ein-
schlägigen Materials untersucht er die gegenseitigen Beziehungen
der Klassen im eigentlichen Rußland und in den „Kolonien“ Groß-
rußlands (unteres Volgagebiet und das Land jenseits des Ural). Seine
Analyse der Gesellschaftsordnung in den Gebieten der Kirgisen und
schichte in der Sovet-Enzyklopidie vgl. A. Sidorov: Vestnik Komakad. 20
(1927), 274—278; G. Seid el (Zajdel’): Ist.-Marxist 7, 239—244; Rich.
Salomon, Die Große Sowjet-Enzyklopädie: Osteuropa 8 (1927—28), 613 f.
und „Hamburger Fremdenblatt“ Nr. 194 v. 14. Juli 1928; I. Fendel, Novejlaja
istorija Zapada v Bol’$oj Sovetskoj Enciklopedii: Kniga i Revoljucija 1980 Nr. 2.
Am 2. Februar 1980 stieß G. K ru min in der „Pravda“ Nr. 32 (4477) einen
Alarmruf aus wegen des farblosen Artikels von I. Rubin iiber Lujo Brentano
in der Großen Sovet-Enzyklopädie (, Bol ie ostoro2nosti i bol’$evistskoj četkosti!“).
Die Aufgabe der Enzyklopa ie wird von ihm folgendermaßen umschrieben: „Sie
ist dazu bestimmt, ein Geschlecht im Geiste des konsequenten Leninismus
heranzubilden, im Geiste des revolutionären Marxismus, sie ist bestimmt, glühenden
Haß gegen die bürgerliche Ordnung einzuflößen, gegen ihre Verteidiger und
Ideologen, sie ist berufen, eine sharf geschliffene Waffe der marxistisch-
leninistischen Theorie in die Hände derer, die für den Sozialismus kämpfen und
ihn aufbauen, zu legen, sie ist bestimmt, das Banner der bolschevistischen Unver-
söhnlichkeit gegen jede Abweichung, gegen den geringsten Revisionsversuch, hoch
zu halten, sie ist bestimmt, eine ungeheure Rolle bei der Bildung des neuen
Menschen zu spielen, der von dem schweren und abscheulichen Erbe einer
Ordnung, in der das private Eigentum herrscht, befreit ist.“
387) O charaktere pugacevidiny: 6, 48—78.
288) Rannjaja burZuaznaja revoljucija v Rossii (Pugacev$tina): Vestnik
Komakad. 18 (1925), 34—107; in einer neuen Arbeit setzt sich Meerson mit einigen
seiner Kritiker (Ljaščenko, Piontkovskij, Kušner, Pokrovskij u. a.) temperament-
voll auseinander (K istoriko—sociologileskomu sporu o Pugatevsdine: Utenye
zapiski Saratovskogo gosud. imeni N. G. CernySevskogo universiteta Bd. VII,
Lief. 8 [Pedagog. fakul’cer], 149—172).
161
Baschkiren zerstört Meersons Vorstellung von einem „amerikanischen
Entwicklungstypus“, einer Art Farmertum in jenen Kolonialgebieten;
die einzige „Kolonie“ Rußlands, wo man von einem Farmertum
sprechen könne, sei das später besiedelte Neu-Rußland gewesen, dessen
Kolonisation ausländische Kolonisten — Deutsche, Schweden, Bul-
garen, Griechen, Juden und Mennoniten — die Signatur gaben.
Mit seiner Definition des Pugalev-Aufstandes als eines Bauern-
krieges gegen die weitere Ausdehnung der Leibeigenenwirtschaft und
gegen die Ausbeutung des Bauerntums in den russischen Grenz-
gebieten im 18. Jahrhundert macht sich Tomsinskij Pokrovskijs
Erklärung zu eigen.“) In einem Abschnitt: „Die Niederringung des
Aufstands“ faßt Tomsinskij die Gründe für das Scheitern der Be-
wegung (wie der Bauernaufstände in der russischen Geschichte über-
haupt) zusammen. Als Entgegnung auf den letzten Punkt Meersons,
über den Grund der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit Rußlands
und der langen Dauer der carischen a wird lediglich auf
Lenin verwiesen. „Wenn sich der russische Kapitalismus an keiner
Stelle über die Grenzen des Gebietes ausdehnen könnte, das er schon
zu Beginn der Periode nach der Reform eingenommen hatte, dann
hätte dieser Widerspruch zwischen der kapitalistischen Großindustrie
und den veralteten Einrichtungen der Landwirtschaft (Fesselung der
Bauern an die Scholle usw.) rasch zur völligen Beseitigung dieser Ein-
richtungen, zur völligen Freilegung des Weges für den landwirtschaft-
lichen Kapitalismus ın Rußland führen müssen. Aber die Möglich-
keit für den Fabrikanten, in den kolonisierten Randgebieten einen
Markt zu suchen und zu finden, und die Möglichkeit für den Bauer,
auf neues Land zu gehen, schwächt die Schärfe dieses Widerspruchs
ab und verzögert seine Lösung.“)
1929 erschien nach längerer Pause der zweite Band der von S. A.
Golubcov besorgten Quellenveröffentlichung des Zentralarchivs
zur Geschichte des Pugadevaufstands.””) Von der Kritik wurde die
verkürzte Wiedergabe zahlreicher wichtiger Akten beanstandet. Eine
Anzeige des Bandes durch S. Tomsinskij in der „Pravda“ ) läßt
die Virtuosität erkennen, mit der einer Publikation von Dokumenten
zur russischen Geschichte des 18. Jahrhunderts eine ganz aktuelle,
propagandistisch verwertbare Seite abgewonnen wird: Tomsinskij hob
289) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 285 Anm. 19.
200) Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland: Sämtl. Werke
(deutsche Ausgabe) III, 553 (Anm.).
291) Pugalevilina, Bd. II: Iz sledstvennych materialov i oficial’noj perepiski.
Centrarchiv. Materialy po istorii revoljucionnogo dvizenija v Rossii XVII ı XVIII
vv. pod obitej red. M. N. Pokrovskogo.) Zu Bd. I (1926) vgl. Centrarchiv
RSFSR: Katalog izdanij (1928), S. 10 (Hinweis auf die Rezensionen), außerdem die
Anzeige von A. Kiesewetterg in den „Sovrem. Zapiski“ 29 (1926), 497—500.
— Vgl. auch B. H. Sumner, New material on the revolt of Pugachev: Slav.
Review VII (1928—29), 118—127 und 838—348 (in Nr. 19 u. 20 der Ztschr.).
292) Nr. 121 (4255) v. 30. Mai 1929; vgl. auch Tomsinskijs Anzeige in der
Zeitschrift: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 4.
162
die Verwendbarkeit darin enthaltener Dokumente iiber die Nationali-
tatenpolitik Katharinas als Agitationsmaterial hervor, da sie bis zur
Februarrevolution Bedeutung gehabt hätten.“)
Russische Geschichte des 19. Jahrhunderts.
Die Dekabristenbewegung ist nur in Rezensionen vertreten,)
wenn man von einer Äußerung Pokrovskijs absieht, durch die
er Untersuchungen bürgerlicher Gelehrter (Grekov, Presnjakov,
Cernov) den marxistischen Historikern als Spiegel vorhielt; er machte
aus dem Verdruß über die originale Fragestellung Cernovs, der als
erster auf die „Ideologie“ der einfachen Soldaten eingegangen sei,
kein Hehl, — der „damit eine Aufgabe löste, deren Entscheidung mit
Recht alle von unseren geschworenen marxistischen Historikern er-
warten durften“.
205
Die in den Ge Jahren erschienene "Tagebuch, Memoiren-
und biographische Literatur zur russischen Geschichte des 19. und im
Beginn des 20. Jahrhunderts aus beiden Lagern ist im Besprechungs-
teil der Zeitschrift reichlich vertreten.
Russische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Die Beschäftigung der marxistischen Historiker mit der Ge-
schichte Rußlands in unserem Jahrhundert empfängt ihre Signatur
durch die Frage nach der besonderen Struktur des russischen Kapi-
talismus und der Rolle des ausländischen Kapitals in Rußland; in
302) Zur marxistischen Behandlung des Pugatev-Aufstands vgl. auch diese
Jahrbücher N. F. IV, 285; ferner I. Berkman zu G. Ladoca, Razin&tina
i Pugacevixina (1928): Istorik-Marxist 9, 187 f.; S. TchorZevskij ,Krest’-
janstvo i Pugačevščina: Zapiski nau¢nogo obščestva marksistov 1928 Nr. 4; A.
CuloSnikov, Kazak-kirgizskie kotevye ordy i Pugatevitina (1778—1774 g.):
Novyj vostok Nr. 25 (1929), 201—215.
2%) Rez. zu M. V. NeEkina, Obilestvo Soedinennych Slavjan. Centr-
archiv 1927: 6, 278 f. (A. S-ch.); Frau Nelkina über: „Vosstanie dekabristov“
Bd. III V (Centrarchiv): 5, 217—220 und „Dekabristy i ich vremja“. Mee)
Moskovskoj ı Leningradskoj sekcii izuceniju dekabristov i ich vremja, I. .
Obšč. politkatorZan i ssyl’no-poselencev: 11, 201—208. — Vgl. auch Zygm.
Z boruck i, Dekabryci w świetle najnowszej historjografſi: Kwartalnik;
historyczny 42 (1928), 656—670.
308) „Novye“ te&enija v russkoj istori¢eskoj literature: 7, 5.
90) Vgl. z. B. A. Se bunin zu A. FE. Tjut & e va, Pri dvore dvuch im-
peratorov I (1928): 9, 188 f.; I. Volkovik er zum „Dnevnik E. A. Peretca
1880—1888“ gl 5, 252; P. Preobraženskij zum „Dnevnik V. N.
Lamzdorfa (1886-1890: 8, 232 f.; N. Rubinstein zu Jurij
Solov’ev, 25 let moej diplomatiteskoj služby (1898—1918): 9, 190 f. (eine
vollauf berechtigte ungeschminkte Verwerfung): E. Morochovec zu J.
Steklov, M. A. unin. Ego Zizh i dejatel’nost’ 1814—1876: 5, 249—251
( auch 9, 176 zu V. Polonskijs Veröffentlichung: Politièeskaja ispoved’
unina); E. Morochovec zu den ,,Vospominanija L’va Tihomirova
st 6, 281—288; B. Koz min zu Nikolaj Morozov, S oružiem v
III (1928): 9, 191 f.; S. Ajnzafe zu B. P. Koz min, S. V. Zubatov
i ego korrespondenty (1928): 9, 192 f.: L. Mamet zu I. K. Mihajlov,
Cetvert’ veka podpol Kiko (1928): 10, 258 u. a.
163
engstem Zusammenhang damit stehen die Fragen nach dem Charakter
des russischen Imperialismus (verbunden mit der russischen „Kolonial-
frage“) und nach den tieferen Gründen der Teilnahme Rußlands am
Weltkriege. In der Erforschung der Periode des „imperialistischen
Krieges“ — des marxistischen terminus technicus für den Weltkrieg
— sind die leitenden Gesichtspunkte sein Verstehen als Vorgeschichte
der Oktoberrevolution, die Aufhellung der Tätigkeit der Partei in
den Jahren 1914—1917 und die Bedeutung des Krieges und der Inter-
vention der Alliierten für das Verständnis des Verlaufs der Um-
wälzung seit dem Februar 1917.
Die von N. Rožkov™ und A. Finn-Enotaevskij™)
vertretene Anschauung von der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit
Rußlands und der Langsamkeit im Tempo seiner kapitalistischen
Entwicklung vor dem Kriege und der Revolution, d. h. die Behaup-
tung einer weitgehend selbständigen wirtschaftlichen und politischen
Entwicklung, wird als menschevistische Legende abgetan.“) Die An-
sicht, daß sich Rußland in den letzten Jahren vor dem Kriege in der
E e des Finanzkapitalismus befunden habe, ist zu einer ziemlich
allgemein angenommenen festen Stufe im marxistischen Schema der
russischen Geschichte geworden; über den Charakter des Kapitalis-
mus im Rußland der Vorkriegszeit, die Rolle des in Rußland vor
dem Kriege investierten ausländischen Kapitals und sein Verhältnis
zum einheimischen gehen indessen die Meinungen der marxistischen
Wirtschaftshistoriker weit auseinander. Über diese Fragen ist in der
Sovetunion eine Literatur im Entstehen,“ ) die für die Klärung des
207) Russkaja istorija v sravnitel’no-istori<eskom osveStenii Bd. XII.
298) Finansovyj kapital i kapital proizvoditel’nyj.
29) Gorin: 3, 152.
300) Vgl. z. B. Ronin, Inostrannyj kapital v Rossii (1926); Vorwort von
Kritzmann, l. F. Gin din über M. Gol’man, Russkij imperializm.
Oterk razvitija monopolisti¢eskoj kapitalizma v Rossii I. II (1927): 5, 191—196;
ders., Nekotorye itogi v oblasti izucenija finansovogo kapitala v Rossii (zu E. L.
Granovskij, Monopolisti¢eskij kapitalizm v Rossii, Leningrad 1929):
Vestnik Komakad. 88 = 1929 H. 3 S. 185—199. — Ark. Sidorov zu I. E.
Gindin, Banki i promy$lennost’ v Rossii do 1917 g. (1927): 6, 288—286; N.
Vanag, O charaktere finansovogo kapitala v Rossii: 11, 1—235; Trudy I,
818—389; ders., Puti kapitalistièesxogo razvitija sel’skogo chozjajstva vo
vtoruju polovinu XIX i v nadale XX vv. v Rossii: Bjulleten’ . . IKP G oben
Anm. 20 a), 63—68; M. Ju(gov) zu Z. Serebrjanskij, Ot Kerenščiny k
proletarskoj diktatury. Očerki po istorii 1917 g. (1928): 9, 1 196; P. Gorin
zu A. Sidoro v, Vlijanie imperialističeskoj vojny na ekonomiku Rossii (im
Sammelwerk: Očerki po istorii Oktjabr’skoj revoljucii. Pod red. M. N.
Pokrovskogo, izd. Istpart CK VKP (b), 1927): 8, 158—158; Pokrovskij,
Obščestv. nauki SSSR za 10 let: Vestnik Komakad. 26 — 1928 H. 2 S. 17 f.; ders.,
Vsesojuznaja konferencija istorikov-marxistov: 11, 5; siehe auh M. Tajc, O
diskussii po finansovomu kapitalu v Rossii (Kniga i revoljucija 1929 Nr. 21) und
das Referat zu Heister (Gajster). „Produgol“. K. voprosu o finansovom
kapitale v Rossii (im „Krasnyj Archiv“ 1926, H. 18 S. 119—148), in diesen Jahr-
büchern N.F. 5 (1929), 443. Methodische Fragen zur Erforshung der Geschichte
des Finanzkapitals in Rußland stellen Vanag, Gindin und Granovskij
in H. 12 des „Istorik-Marxist“ zur Diskussion.
164
Zusammenhangs zwischen der Wirtschaftslage des Landes und der
äußeren Politik des caristischen Rußland oder — um in der gebräuch-
lichen marzistischen Terminologie zu sprechen — zwischen dem
russischen Kapitalismus und dem Imperialismus des Carismus —
bereits Wertvolles geleistet hat; für manche Fragen der auswärtigen
Politik der Großmächte seit der Jahrhundertwende ist der Schleier,
der bisher über der Einwirkung der internationalen Finanzkreise auf
den Gang der internationalen Politik lag, durch russische Veröffent-
lichungen der letzten Jahre mehr geliiftet worden als durch alle Publi-
kationen diplomatischer Dokumente außerhalb Rußlands; in dieser
Hinsicht wird man von der vorbereiteten Aktenpublikation wesentlich
Neues erwarten können.“)
Die russische Imperialismus-Diskussion sucht vorwiegend den
von Lenin herausgearbeiteten eigentlichen Zug des russischen
Imperialismus: die eigentümliche Verflechtung von „kapitalistischem“
und „militärisch-feudalem‘ Imperialismus unter der Herrschaft des in
Rußland nach der Revolution von 1905 ausgebildeten Systems des
monopolistischen Kapitalismus und seine Wandlung im Kriege mög-
lichst konkret zu erfassen.
In zweifelloser Überschätzung der Rolle des ausländischen
Kapitals in Rußland vertreten Kritzmann (Kricman) und seine
Richtung (Ronin, Vanag) die sog. „Theorie der Denationali-
sierung des russischen Kapitalismus“ vor dem Kriege; infolge Über-
fremdung der russischen Banken durch ausländisches Kapital sei das
System des russischen Finanzkapitals kein nationales, russisches mehr
gewesen und Rußland in eine Kolonie des westeuropäischen Impe-
rialismus verwandelt worden. Einen spezifisch russischen Imperialis-
mus habe es nicht gegeben, man dürfe lediglich einen französischen
und englischen Imperialismus, der auf dem Territorium des ehe-
maligen russischen Reichs operierte, anerkennen. Indem Rußland
durch die bolschevistische Revolution aufhörte, der Tummelplatz des
englischen und französischen Imperialismus zu sein, hatte die Um-
wälzung den Charakter einer Weltrevolution. Vanags Folgerungen,
die auf der Schätzung basierten, daß % des ganzen Banksystems Ruß-
lands vom ausländischen Kapital kontrolliert worden seien, haben sich
301) Se Anm. 90a, 92, 186—140. Kein Werk trägt z. B. über die wirt-
schaftspolitischen und finanziellen Hintergründe der russischen Politik im Fernen
Osten um die Jahrhundertwende mehr bei als die ausgezeichnete Serie von Unter-
suchungen, die B. Romano v unter dem Titel: „Rossija v Mankkurii“ (1892 bis
1906). Ocerki istorii vneinej politiki samoderkavija v epochu imperalizma) =
Izd. Leningradskogo Maien i Instituta imeni A. S. Enukidze 26 (Leningrad
1928) hat erscheinen lassen; vgl. dazu A. Popov: 14, 178—182. Weitausholend
und in ähnlicher Weise grundlegend ist das Werk von B. A. Bor’jan: Armenija,
meZdunarodnaja diplomatija i SSSR I (1928), II (1929).
ber die besonderen Aufgaben ener Bearbeitung der gedruckten Quellen
zur Geschichte der internationalen Beziehungen in der Neuzeit vgl. 11, 247 und
Trudy II, 7—52 das Referat über einen Vortrag N. M. Lukins auf dem
Moskauer Historikertag: „Problema izucenija epochi imperializma“, in dem er
den Zeitraum von den achtziger Jahren bis 1900 als Übergangsepoche, die Zeit-
spanne 1900—1914 als die Epoche des klassischen Imperialismus charakterisiert.
165
starke Korrekturen gefallen lassen miissen. Nach Gorin hat die
gegenseitige Konkurrenz der ausländischen Kapitalien in Rußland
dazu geführt, daß daneben das einheimische Kapital weitgehend seine
Selbständigkeit behaupten konnte, wodurch zugleich die Beherrschung
der russischen Industrie durch das ausländische Finanzkapital ver-
hindert wurde. Daher erscheint den Anhängern der „nationalen“
Natur des russischen Finanzkapitals der russische Imperialismus vor
dem Kriege selbständig, mit eigenen Zielen; sie erkennen einen — dem
französischen, englischen, deutschen analogen — eigenen russischen
„keim- und bastardhaften“ Imperialismus an. Vanag und Ronin
hätten den methodischen Fehler begangen, das einheimische Kapital
und das in Rußland investierte ausländische Kapital einander gegen-
überzustellen, ohne dabei die Spannungen und die Konkurrenz inner-
halb des „ausländischen Sektors“ zu berücksichtigen.
Die Entwicklung während des Krieges stellt Gorin in ihren
Grundzügen folgendermaßen dar: Nach dem industriellen Auf-
schwung 1910—1913 machte sich seit Anfang 1914, als sich die
Hoffnungen auf eine Verbreiterung des inneren Marktes durch die
Stolypinsche Reform nicht erfüllten, sondern im Gegenteil die
Proletarisierung des Bauerntums reißend fortschritt, die Anzeichen
einer wirtschaftlichen und sozialen Krise bemerkbar; nur der Kriegs-
ausbruch und die Kriegskonjunktur der Wirtschaft ließen sie nicht in
voller Schärfe sichtbar werden. Dadurch, daß die russische Re-
gierung den Krieg hauptsächlich mit Hilfe von Auslandsanleihen
inanzierte, änderte sich das Vorkriegsverhältnis des russischen und
ausländischen Kapitials. Nicht nur, daß Rußland in die Schuldknedht-
schaft des westeuropäischen Imperialismus geriet: die ausländischen
Gelder, die durch Vermittlung der caristischen Regierung in be-
deutendem Maße der russischen Bourgeoisie zuflossen, verknüpften
deren Interessen aufs engste mit denen der Regierung und ließen die
russische Bourgeoisie zu einem politisch bedeutungslosen und in der
Revolution des Jahres 1917 hilflosen Faktor herabsinken.
Geschichte der revolutionären Bewegung und des Klassenkampfes
in Rußland im 20. Jahrhundert.
Einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der politischen Organı-
sierung des Bauerntums in der 1. und 2. Revolution, 1905—1907 und
1917, liefert A. Šestakov: „Der Allrussische Bauernverband“
in Form einer Polemik gegen die Rehabilitierungs-Publizistik des
ehemaligen Vorsitzenden des Verbandes Semen P. Ma-
z uren ko.“ )
303) Vserossijskij Krest’janskij Sojuz: 5, 94—128.
308) Semen Mazurenko, Krest’jane v 1905 g. Mosk. 1925; Semen und
Vas. Mazurenko, K istorii krest’janskogo dvizenija 1905g. in den
„Puti revoljucii“ (Žurnal vseukr. soveta vsesojuznago ob%. politkatorZan i
ea Eno-Bosclence>) Nr. 7 = 1926 H. 4 S. 11—48; S. P. Mazurenko, Krest’-
janstvo v 1917 g.: Ebda. Nr. 10 = 1927 H. 1.
166
Die Bauernrevolution 1905 vollzog sich im Gefolge der prole-
tarischen; von ihr wurde sie befruchtet, von ihr übernahm sie die
Kampfformen und -Methoden; im Verständnis der Aufgaben und
der Bedeutung des politischen Kampfes stand sie weit hinter der
proletarischen zurück. Während das Proletariat in der Revolution
von 1905 für den Sozialismus kämpfte, verfolgte die bäuerliche
Revolution begrenztere Ziele. Sie beschränkte sich darauf, die Ab-
schaffung der Gutsherrschaft und politische Reformen zu fordern
und erschien damit als eine typisch bürgerlich-demokratische
Revolution, die vom Proletariat im eigenen Interesse gefördert
wurde. S. wendet sich gegen Mazurenkos Darstellung, die das
Hauptverdienst am Entstehen des Verbandes der Dongruppe der
ukrainischen Sozialdemokratie beimißt. Nach S. entstand die Idee
des Bauernverbands in der Moskauer landwirtschaftlichen Gesell-
schaft.“) In der Geschichte der Revolution von 1905 muß der Ver-
band seiner Struktur, seinem Programm und seiner Taktik nach
durchaus als eine politische Partei unter Führung kleinbürgerlicher
Demokraten bewertet werden, die für das Bauerntum ein gewalt-
sames Vorgehen, den bewaffneten Aufstand, ablehnten. Auf dem
zweiten Kongreß des Verbandes in Moskau vom 6. bis 10. November
1905, zu dem die Bauern von 23 Gouvernements ca. 200 Delegierte
entsandt hatten, wurde erbittert über die einzuschlagende Taktik ge-
stritten. Šestakovs Bericht über den Kongreß, “) dem er selbst als
Vertreter des Moskauer Komitees der Partei der Bolscheviki bei-
wohnte, verhehlt nicht seine tiefe Unzufriedenheit mit der Mäßigung
der Einberufer, denen er nicht verzeiht, daß sie sich nicht die Losung
des bewaffneten Aufstandes der Bolscheviki zu eigen machten.
Die Erwähnung der Anknüpfungen zwischen den Führern des
Bauernverbandes und dem Petersburger Arbeiterrat und seinem
Vorsitzenden L. D. Trockij biegt 5. zu einem massiven Angriff gegen
Trockijs Taktik in der ersten Revolution ab, der anstatt der einfachen
und klaren Parole des bewaffneten Aufstands lediglich den General-
streik propagiert habe.“) „Genosse Trockij stand im Jahre 1905
in der Bewertung des allgemeinen litischen Streiks als ent-
scheidender Waffe der Revolution und der gegenseitigen Beziehungen
zwischen der Arbeiterklasse und dem Bauerntum nicht zu den
Bolscheviki, sondern zu ihren Gegnern, den Menscheviki.“ “) Die
Gründe, die für die Umbildung des Verbands in eine politische Partei
sprachen, wurden bald nach der Novembertagung in einer Broschüre
von Serg. Odinokij: Vserossijskaja (zemledel českaja) partija (St.
Pbg. 1906) formuliert. Der Kongreß hatte sich für den Boykott der
I. Duma ausgesprochen; ein Mitglied des Hauptkomitees, Šapošni-
kov, schied jedoch aus dem Verband aus und ließ sich in die Duma
308) S. 97; Zeugnis von A. I. Peres.
208) S. 99—105.
see) S. 106.
207) S. 107.
167
wahlen. Er wurde Mitbegriinder der Fraktion der Trudoviki, die
in ihre Anträge manche Forderungen des Bauernverbandes auf-
nahmen. — Mit dem Siege der Regierung löste sich der Verband in
Rußland auf; einige Vertreter setzten — von den Menscheviki ge-
fördert — im Ausland als „Ausländisches Bureau des Bauern-
verbandes ihre Tätigkeit fort.
Im jahre 1917 organisierten die Brüder Mazurenko mit Unter-
stützung der Provisorischen Regierung den Bauernverband aufs Neue,
wobei sie weitgehend auf die führenden Mitarbeiter der Bewegun
im Jahre 1905 zurückgriffen. Am 12. März 1917 trat der Verban
mit einem programmatischen Aufruf „An die gesamte Bauernschaft“
(K vsemu krest’janstvu!“) hervor. In seinen Grundzügen entsprach
die Erklärung der politischen Linie der bürgerlichen Regierung. Da
der Verband sich als alleinberechtigte Vertretung der Bauernschaft
gebärdete, mußte er zu den bolschevistischen Bauernräten und der
bolschevistischen Agitation unter der „Dorfarmut“ in einen unüber-
briickbaren Gegensatz geraten. Durch Aufstellung eigener Kandidaten
zu den Wahlen zur 5 Versammlung (,,Uéreditel’noe
sobranie“) bekundete er seinen Parteicharakter. Mit dem Siege der
Bauernräte-Idee in der Oktoberrevolution war seine Rolle aus-
gespielt.“)
Heft 5 des „Istorik-Marxist“ war der Zehnjahrfeier der Oktober-
revolution gewidmet.“)
Pokrovskij sprach in einem einleitenden Beitrag: „Die Ok-
toberrevolution in den Darstellungen der Zeitgenossen“) das Ver-
dammungsurteil gegen Trocij als Historiker der Oktoberrevolution,
indem er in weit ausholender Beweisführung Lenins Schema der
Oktoberrevolution kanonisierte: nach dem gleichen Schema, wie sie
sich vollzogen habe, müsse die Geschichte der Oktoberrevolution auch
geschrieben werden (eine vom Schema abweichende Darstellung ver-
diene nicht den Namen Geschichte). Ausgangspunkt jeder marxisti-
schen Konzeption der Oktoberrevolution müsse die berühmte Stelle
1 Nachwort zu seiner Broschüre „Die beiden Taktiken“ “)
ilden:
308) Zur Geschichte des Jahres 1905 vgl. ferner: V. Mala chovskij über
„1905 g. Istorija revoljucionnogo dvizenija v otdel'nych oterkach“. P red.
M. N. Pokrovs ko g o. III. 1 Izd. Komissii CIK SSSR po organizacii
prazdnovanija 20-letija revoljucii 1905 g. Istpart CK VKP (b) 1927: 5, 257 bis
259; N. A. Bu bin der zu: „1905 g. Evrejskoe rabotee dvizenie.“ Obzor
materialy i dokumenty (1928): 7, 289 f.; E. Jugov über M. Bala ban ov:
Or 1905 k 1917 g. Massovoe rabodee dvizenie (1927): 7, 296—299 (in der Schrift
sei das menschevistische Schema in der Beurteilung der Arbeiterbewegung nach
der 1. Revolution, die Trennung der wirtschaftlichen und der politischen Be-
wegung, aufgegeben und im Grunde der Anschluß an die bolschevistische, leninisti-
sche Auffassung vollzogen).
300) Über die in Heft 1 bis 4 enthaltenen Aufsätze zur Geschichte des
Jahres 1917 vgl. diese Jahrbücher N.F. IV, 292.
310) Oktjabr’skaja revoljucija v ızobraZenijach sovremennikov: 5, 8—885.
311) Dva taktiki (Juli 1905).
163
„Der volle Sieg der jetzigen Revolution wird das Ende der demokratischen
Umwälzung und der Beginn des entschiedenen Kampfes für eine sozialistische
Umwälzung sein. Die Verwirklichung der Forderungen des Bauerntums, die
völlige Zerstörung der Reaktion, die Eroberung der demokratischen Republik
wird das völlige Ende des Revolutionären in der Bourgeoisie und sogar des
Kleinbürgertums bedeuten, wird den Anfang bedeuten des wirklichen Kampfes
des Proletariats für den Sozialismus. Je vollständiger die demokratische Um-
wälzung sein wird, um so schneller, breiter, reiner, entschiedener wird der neue
Kampf durchgefochten werden. Die Losung „Demokratische Diktatur“ bringt
bereits den historisch begrenzten Charakter der jetzigen Revolution (1905) zum
Ausdruck und die Notwendigkeit neuen Kampfes e der Ge der neuen
Verhältnisse für eine völlige Befreiung der Arbeiterklasse von jeglichem Druck
und jeglicher Ausbeutung. Mit anderen Worten: Wenn das demokratische
Bürgertum oder das Kleinbürgertum bereits eine niedrige Stufe heraufsteigt,
wenn nicht nur die Revolution, sondern der volle Sieg der Revolution Tat-
sache wird, dann werden wir es fertigbringen, an die Stelle der Losung „Demo-
kratische Diktatur!“ die Losung der sozialistischen Diktatur des Proletariats d. h.
der vollständigen sozialistischen Umwälzung zu setzen. 112)
Hiermit und mit einer konkreteren Prognose in den „Er-
gebnissen der Diskussion über die Selbstbestimmung) habe Lenin
das historische Schema der Oktoberrevolution bereits vor der Revo-
lution geliefert. Bei gleichbleibenden Grundüberzeugungen verstand
es Lenin, in seinem Schema Realitäten, die die Entwicklung der Dinge
in seinem Sinne in unvorhergesehener Veise beeinflußten, — wie dem
„imperialistischen Krieg“, dem Sturz der Monarchie in Rußland —,
in vollem Maße Rechnung zu tragen.
Mit Lenin ist jede historische Situation nach dem besonderen
jeweiligen Kräfteverhältnis der Klassen zu beurteilen. Trockij da-
gegen („Uroki oktjabrja“) rechne mit einem für die ganze Epoche
der Revolution gleichbleibenden unabänderlichen Kräfteverhältnis der
Klassen. Die Geschichte des Bauerntums, der Bauernrevolution und
der bäuerlichen Ideologie werde von Trockij weder gekannt noch ver-
standen (S. 23). Trockijs „Oktoberrevolution“ wird so als nicht-
marxistisches Werk gestempelt, das ebensogut ein Nichtmarxist hätte
schreiben können.“)
Drei Aufsätze handeln über den Eindruck der Oktoberrevolution
in England, Deutschland und Frankreich:“!
F. Rotstein, der Verfasser des ausgezeichneten Artikels über
England der Großen Sovet- Enzyklopädie,“) spricht auf Grund per-
sönlicher Erinnerungen über die Einstellung der englischen Regierung
und der Parteien zur Sovetunion in den Jahren 1917-1920.
3118) Vgl. Anm. 177.
313) Itogi diskussii o samoopredelenii (Okt. 1916).
2122) Vgl. Anm. 16.
313) Entsprechende marxistische Veröffentlichungen über den Eindruck der
Februarrevolution in den westlichen Ländern sind in diesen Jahrbüchern N.F. 4
(1928), S. 127 f. angezeigt.
313a) Bd. 9 (1928).
31) F. Rotstein (Kotltejn), Anglija i Oktjabr’skaja revoljucija; 5,
36—48.
169
Aus dem Deutschen übersetzt ist der Beitrag von P. Frölich:
„Die russische Revolution und Deutschland“:“) 1. Die Februar-
revolution; 2. Die Februarrevolution und die Politik der deutschen
Regierung; 3. Die Oktoberrevolution; 4. Der Brester Friede; 5. Brest-
Litovsk und die Sozialdemokratie; 6. Der Feldzug gegen das revo-
lutionäre Rußland.
Friedland) verfolgt die Stellungnahme der führenden
französischen Blätter, vor allem des ‚Temps‘, des ‚Matin‘, des, Figaro
und des ‚Petit Journal‘ zu den Vorgängen in Rußland vom Juli bis
Dezember 1917; zugleich im Hinblick auf die französische Arbeiter-
bewegung im Jahre 1917 wird die sozialistische Presse (, Humanité“,
‚Journal du peuple‘) eingehender behandelt. Die Regierungsbildung
durch Clémenceau am 8. November 1917 — das „Ministerium des
weißen Terrors“, die „Diktatur des Bajonetts und der Peitsche“ —
stellt Fr. als die direkte Antwort der französischen Bourgeoisie auf
den Oktoberumsturz in Rußland hin (S. 79, 93).
M. Jug ov bespricht in seiner Kritik des 1926 vom Zentral-
archiv herausgegebenen Sammelwerks: „Die Arbeiterbewegung im
Jahre 1917“ (Rabodee dvikenie v 1917 godu) ausführlich die
Materialien über die Einführung des Achtstundentags und das Ver-
hältnis der Arbeiterräte zu den Berufsverbänden; er vermißt einen
Hinweis auf die Arbeit der Kriegsgefangenen, die in manchen
Industrien des Donbezirks und des Ural einen beträchtlichen Prozent-
satz der Arbeiterschaft ausmachten (S. 183), und auf die fremd-
stämmigen Arbeiter (Chinesen!) im Ural und in Sibirien.“)
A. V. Sestakov (Der Block mit den linken Sozialrevolu-
tionären) bespricht das Zusammengehen der Bolscheviki im ersten
Vierteljahr nach der Oktoberrevolution mit den linken Sozial-
revolutionären, der politischen Organisation der bäuerlichen und
kleinbürgerlichen Demokratie. Die Spaltung innerhalb der Partei
über der Koalitionsfrage und die wochenlangen Verhandlungen über
die Regierungsbildung sind eingehend dargestellt.“)
Von einer Inhaltsangabe der sonstigen Mitteilungen des „Istorik-
Marxist“ zur Geschichte der Oktoberrevolution und Bürgerkrieges
sehe ich ab. Die Geschichte der Kommunistischen Partei und der
Oktoberrevolution ist heute eine mit besonderen Lehrstühlen ausge-
stattete historische Disziplin geworden; die einschlägigen Unter-
suchungen und vielfach sehr eingehenden Rezensionen sind nur mit
dem Gang der Ereignisse, mit den Parteien und mit den handelnden
Personen der Revolutionsperiode gut Vertrauten völlig verständlich.
Hinzukommt, daß die im „Istorik-Marxist“ enthaltenen Arbeiten und
Besprechungen zur Geschichte der Oktoberrevolution nur einen ver-
315) Russkaja revoljucija i Germanija: 5, 49—70 und 6, 8—20.
a bi C. Friedland (Fridljand), Francuzskaja pečat’ ob Oktjabre: 5,
317) K istorii rabocego dviženija v 1917 godu: 5, 172—183.
318) Blok s levymi eserami: 6, 21—47.
170
schwindenden Bruchteil des für einen Ausländer unübersehbaren
Materials darstellen, das in Büchern und Zeitschriften über jene
Periode bereits vorliegt und das fortwährend wächst.“)
A. Sestakov, der die Bilanz der zum Zehnjahrstag der Ok-
toberrevolution erschienenen Zeitschriftenaufsätze zog, gelangte zu
dem pessimistischen Urteil, daß sich die Journalistik der ihr durch
das Jubiläum gestellten Aufgabe nicht gewachsen gezeigt habe: „Es
ist Grund vorhanden, zu behaupten, daß mit der historischen
Journalistik und insbesondere mit den Problemen der Revolution des
Jahres 1917’ bei weitem nicht alles gut bestellt ist. Vor allem fällt
in die Augen der begrenzte Kreis von Personen, die über diese Fragen
arbeiten, und das Fehlen von Planmäßigkeit in den ihnen über-
tragenen ‚sozialen Auftragen‘.“***)
Weltkrieg und Intervention.
Der Weltkrieg erscheint Pokrovskij für Rußland — nach L. N.
Kritzmann — als der Übergang des „militärisch-feudalen Imperialis-
mus“ (voenno-feodal’nyj imperializm) ( der äußeren Politik des
handels-feudalen Staats) zum Imperialismus der Periode der
kapitalistischen Monopole (= der äußeren Politik des Finanz-
kapitals).“ “)
Nach russischer Auffassung lag die kriegspolitische Bedeutung des
Friedens von Brest-Litovsk weniger in der Beendigung des Krieges mit
der mitteleuropäischen Mächtegruppe als im Bruch mit der Entente
mit seinen weitreichenden Folgen.“) In großen Zügen schildert ein
Rückblick von I. Minc auf die Periode der Intervention vor zehn
Jahren“) unter Verwertung einiger jetzt im Archiv der Oktober-
revolution befindlicher Stücke aus den Archiven der gegen-
revolutionären Bewegung die Vorgeschichte und den Verlauf der
Intervention der Alliierten.“)
Mit der Februarrevolution setzten Einwirkungen der Organe der
Alliierten auf die Führung des russischen Feldheeres ein, um den Zer-
all der russischen Armee aufzuhalten; am Kornilovputsch nahmen
zum russischen Heere kommandierte Offiziere der Verbündeten Ruß-
lands aktiven Anteil. An Hand der stenographischen Berichte der
Parlamentsdebatten geht M. der Ausbildung des Interventions-
gedankens in England nach, als die bolschevistische Regierung durch die
319) Vgl. „Die Geschichts wissenschaft in Sowjet-Russland 1917—1927“ (Berlin
1928), S. 51 ff.
$29) 5, 231.
$21) Vgl. 6, 264 f. nah Pokrovskij, Oktjabr’skaja revoljucija i Antanta:
Proletarskaja revoljucija 69 = 1927 H. 10; wiederabgedruct u. d. Titel: „Vychod
Rossii iz romy in dem Sammelband: M. N. Pokrovskij, Imperialistskaja
vojna. Sbornik statej 1915—1927 (1928); s. dort S. 268 f.
32) Pokrovskij, Imperialistskaja vojna. Sbornik state; 1915—1927
(Mosk. 1928), 270.
333) K desjatiletiju neudači intervencii: 11, 88—99.
334) Vgl. auch diese Jahrbücher N.F. IV, 291 über Gurko-Krjažin,
Anglijskaja intervencija 1918—1919 g. g. v Zakaspii i Zakavkaze.
171
Annullierung der in den Ländern der Entente aufgenommenen Staats-
anleihen (10. Februar 1918) und den Sonderfrieden an der Sache der
Alliierten „Verrat“ geübt hatte. Als Gründe für das Scheitern der
Intervention führt M. die Kriegsmüdigkeit der Interventionstruppen,
die Gegensätze im Lager der Alliierten“) und die zweifellos über.
schätzte Entwicklung der „revolutionären Bewegung“ in den Inter-
ventionsländern an.)
335) Ablehnung von Mannerheims Vorschlag im Juli 1919 — zur Zeit der
höchsten Bedrohung der Sovetmacht durch Denikin, Koléak und Judenié —, mit
vier frischen Divisionen Leningrad zu erobern; vgl. dazu auch: „Znajukxij“,
Nelepaja vychodka finskich aktivistov, in den Izvestija Nr. 182 (8718) vom
10. August 1929.
#38) Zur Geschichte Rußlands während des Weltkrieges, zur Geschichte des
Jahres 1917 und der Periode der Intervention und des Bürgerkrieges finden sich
in Heft 1 bis 11 des „Istorik-Marxist“ bemerkenswerte Rezensionen der nach-
folgenden Veröffentlichungen:
S. D. Sazonov, Vospominanija. Berlin 1927: 8, 230—282 (N. R.);
M. V. Rodzjanko, Krulenie imperii (1927): 5, 200 f. (E. Gekkin q:
Carskaja Rossija v mirovoj vojne (Centroarchiv 1926): 2, 278—280 (G. B.
Sandomirskij); Buržuazija nakanune fevral’skoj revoljucii (izd. B. B.
Grave 1927): 7, 294 f. (S. Sef); V. P. Semennikov, Politika Romano-
vych nakanune revoljucii. Ot Antanty k Germanii (1926): 8, 280 f. (I. Mi nc);
Perepiska Nikolaja i Aleksandry (1916—1917 g.) Bd. V (1927): 4, 248—250 (S.
Piontkovskij); B. Grave, K istorii klassovoj bor’by v Rossii v gody
imperialisti¢eskoj vojny.t Jul’ 1914 8. — fevral’ 1917 g. Proletariat i buržuazija
1: 1, 812f. (A. Sestakov); M. G. Fleer, Peterburgskij komitet bol’
vikov v gody vojny 1914—1917 g. (1927): 7, 200—204 (D. Bacvskij); E. I.
Martynov, Carskaja armija v fevral’skom perevorote (1927): 4, 250—258
(S. Rabinovid); Z. Serebrjanskij, Ot Kerenktiny k proletarskoj
diktature. Očerki pe istorii 1917 g. (1928): 9, 198—196 (M. Ju); Oktjabf v
belogvardejskoj osveščenii (I Steinberg, Ot fevralja po oktjabf 1917 g.; V.
Cernov, Konstruktivnyj socializm I; P. Miljukov, Rußlands Zusammen-
bruch, — vgl. diese Jahrbücher N.F. IV, 292; P. Struve, Razmyllenija o
russkoj revoljucii; Th. Masaryk, Weltrevolution): 5, 184—190 (S. G.
Tomsinskij); A. M. Pankratova, Fabzavkomy i profsojuzy v revol-
jucii 1917 g. (1927): 6, 287 f. (M. Jugov); Vserossijskoe soveščanie sovetov
rabotich i soldatskich deputatov (Centroarchiv 1928): 8, 282—284 (M. Jug o v):
Rabočij klass Urala v gody vojny i revoljucii. Red.: A. P. Tanja ev (Sverdlovsk
1927): 6, 286 f. A. S-ov); M. Kubanin, Machnovščina. Istpart. Otdel po
izučeniju istorii Oktjabr’skoj revoljucii i VKP (b). Istorija graždanskoj vojny
8 6, 201—204 (I. Kizrin); P. S. Par fenov (Altajskij), Na
s0tzlalatel'skich frontah (zur Geschichte der Republik des Fernen Ostens), 1927:
5, 265—268 (K. Molotov); zu Parfenovs Arbeiten vgl. auch B. S um ja & ij
in der Pravda Nr. 110 (8942) v. 18. Mai 1929. — Al. Gukovs ki j, Literatura
o sojuznoj intervencii v Rossii v gody koj vojny: 6, 242—258 (1. Die
Intervention der Franzosen in Südrußland 1918—1919: S. 248—249; 2. Die eng-
lische Intervention in Transkaspien und Transkaukasien 1918—1919: S. 249—253);
D. Kin, DenikinSina. Istpart CK VKP(b). Istorija gra2danskoj vojny Niall
6, 288—291 (Al. Gukovskij); Poslednie dni Koltakovitiny. Sborni
dokumentov (Centrarchiv 1926): 8, 288 f. (N. Rubinstein); Z.L Mirkin,
SSSR, carskie dolgi i nali kontr-pretenzii (1928): 10, 254 (Al. Gukovs k ij);
S. L. Danisevskij, Opyt „ Oktjabr’skoj revoljucii: 8, 227—280
(M. Jug o v): V. S. Dragomireckij, Cecho-slovaki v Rossii v 1914—1920
godu (1828): 11, 269 (A. Gukovskij). — Vgl. auch die Referate in diesen
Jahrbüchern N. F. 5 (1929), 444 f. zu D. Kin, K istorii francuzskoj intervencii
na juge Rossii . . . 1919 g. und I. Mi nc, Anglitane na severe (1918—1919 gg.
ferner Anm. 824 in dieser Übersicht.
172
Wirtschafts- und Sozialgeschichte.
Die russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte ist in den vor-
liegenden Heften hauptsächlich durch Rezensionen vertreten.“) Aus
einer eingehenden Besprechung der „Geschichte der russischen Volks-
wirtschaft“ von Lj a l& enk o) durch Frau M. Ne€kina ist
folgendes hervorzuheben:
Das streng nach dem Entwicklungsschema von Marx ge-
gliederte Lehrbuch der russischen Virtschaftsgeschichte ist die einzige
russische Gesamtdarstellung von den ältesten Zeiten bis zur Oktober-
revolution, solange das Werk von Kuliber ““) nicht zu Ende geführt
ist. Am Beispiel von Lja$&enkos Abgrenzung der Epoche des Handels-
kapitalismus gegen die Epoche des Industriekapitalismus wird deut-
lich, wie die allzu schematische Gliederung dem Verständnis von
Übergangszeiten in der Wirtschaft schadet. Als letzte Stufe der
kapitalistischen Entwicklung Rußlands ist das ursprüngliche Schema
um die Stufe des Finanzkapitalismus erweitert, den L. (nah Vanag,
Finansovyj kapital v Rossii nakanune mirovoj vojny, 1925) v. J. 1905
an datiert. Die Rez. hebt die Behandlung der bäuerlichen Wirtschaft
in der Epoche des Handelskapitalismus und der Moskauer Agrarkrise
im 16. Jahrhundert hervor; wesentliche Punkte, in denen das Werk
sich ergänzen ließe, seien: stärkeres Eingehen auf die Lage der ncben
den gutswirtschaftlichen Verhältnissen in der Forschung zu wenig be-
rücksichtigten bäuerlichen Wirtschaft vor der Reform von 1861; die
27) Vgl. L. Trockijs Anzeige seit 1920 erschienener Beiträge zur alt-
russischen Wirtschaftsgeschichte: 8, 190 f.; eine instruktive Übersicht über wirt-
schaftsgeschichtliche Veröffentlichungen aus den Jahren 1922—1926 gab
V. Pit eta: Sovremennaja literatura po istorii narodnogo chozjajstva (Minsk
1927, 14 S.).
328) P. I. Lj aK en ko, Istorija russkogo narodnogo chozjajstva (M.-L.
1927): 6, 221—227; vgl. auch N. L. Rubinstein (Rubin&tejn), Do istorii
rosijskogo narodnogo gospodarstva: Prapor marksizmu 5 — 1928 Nr. 4 S. 64—87.
Der „Istorik-Marxist“ brachte eingehende Besprechungen von drei wirt-
schaftsgeschichtlichen Chrestomathien (die besonderen Voraussetzungen für die
immer größere Verfeinerung dieses verbreiteten Arbeitsinstruments der Hoch-
schulpädagogik wurden in diesen Jahrbüchern N. F. IV, 279 f. angedeutet):
M. Ne&kina zu B. D. Grekov und I. M. Trockij, Istorija russkogo
narodnogo chozjajstva (Materialy dlja laborat. prorabotki voprosa). I: Promyl-
lennyj kapitalizm (doreformennyj period), L. 1926: 4, 287 f.; Ark. Sidorov
zu A. M. Bol“ la Kkov und N. A. RoZkov, Istorija chozjajstva Rossii v
materialach i dokumentach III (1926): 4, 244 f.; ders. zu N. Vanag und
S. Tomsinskij, Ekonomiteskoe razvitie Rossii I. SS promy3lennogo
kapitalizma, II. Epocha finansovogo kapitalizma: 8, 220—222.
320) I. M. Kuli ler, Istorija russkogo narodnogo chozjajstva (1925), von
Ljaščenko im „Istorik-Marxist“ 8, 225 f. besprochen; über das Verhältnis
der deutschen zur russischen Ausgabe stelle ih Anm. 80 meines ersten Berichts
über den „Istorik-Marxist“ (N. F. IV, 292) nach frdl. Mitteilung des Herrn
Herausgebers des „Handbuchs der Wirtschaftsgeschichte“ dahin richtig, daß K.
seine russische Wirtschaftsgeschichte in deutscher Sprache für das Handbuch
der Wirtschaftsgeschichte verfaßt hat und daß die deutshe Ausgabe
das Original ist. — Über die erheblichen Änderungen der (nicht autori-
sierten) russischen Ausgabe, namentlich in den Foie Ge Partien des
Werkes, vgl. das Vorwort.
173
Aufhebung der Leibeigenschaft in ihrer Bedeutung fiir die Entwick-
lung der proletarischen Landarbeiterschaft; das caristische Rußland
als Kolonialmacht (in Sibirien, dem Kaukasus, in Mittelasien) nach den
Anregungen M. N. Pokrovskijs in seinem Buche: Der Marxismus und
die Besonderheiten der historischen Entwicklung Rußlands (Marksizm
i osobennosti istori¢eskogo razvitija Rossii, 1925, S. 110 ff.); Er-
gänzungen zur Geschichte der Wirtschaftstechnik in Rußland; Re-
vision der Bibliographie.
Man wird nicht zuweit gehen, wenn man im Vortrag von Frau
Pankratova über die Erforschung der Geschichte des russischen
Proletariats“) mit seiner Aufstellung eines marxistischen Schemas und
einer Fülle, in einer lebhaften Diskussion erörterter Anregungen die
Grundlage für eine Teildisziplin der marxistischen Geschichtsforschung
sieht. Pokrovskij konnte die Bedeutung gerade dieses Vortrags nicht
deutlicher machen, als indem er nach der Konferenz schrieb: ,,Die Ge-
schichte unseres Proletariats in ihrer ganzen Eigentümlichkeit ver-
stehen heißt die Eigenart unserer proletarischen Revolution ver-
stehen.“) Da Frau Pankratova jedoch nur ein System für die Ent-
wicklung der Arbeiterbewegung aufstellte und nur solche Fragen an-
schnitt, die mit der Tndosteärbeiterschaft zusammenhängen, vermißt
man in Pokrovskijs Formulierung einen Hinweis auf die russische
Bauernbewegung, da die Eigenart der russischen Revolution in der
Verbindung der Bauern- und der Arbeiterbewegung liegt. Eine Reihe
von neueren Untersuchungen läßt erkennen, wieviel die Erforschung
der Voraussetzungen für die Oktoberrevolution durch Aufhellung der
Bauernbewegung in Rußland im 19. und 20. Jahrhundert gefördert
wird.“)
330) Vgl. Anm. 159 und das erste Heft der Zeitschrift: Istorija proletariata
SSSR (1980).
331) 11, 10.
392) Vgl. die Thesen von S. M. Dubrovskijs Vortrag über „Die
Bauernbewegung in Rußland im %. Jahrhundert“ in Oslo im oben (Anm. 188)
angeführten „Résumé“; ders., Die Stolypinsche Agrarreform (Vortrag auf der
Russ. Historikerwoche in Berlin; s. auch A. Sidorov zu I. I. Litvinov,
Ekonomileskie posledstvija stolypinskogo agrarnogo zakonodatel’stva (RANION,
Institut ekonomiki): 11, 204—207. — Dubrovskij ist Verfasser einer für
das Verständnis der Oktoberrevolution grundlegenden Monographie: Krest’-
janstvo v 1917 g., deutsch u. d. Titel: S. Dubrowski, Die Bauernbewegung
in der russischen Revolution 1917 = Beiträge zum Studium der internationalen
Agrarfrage (herausgeg. vom Internat. Agrarinstitut, Moskau) Bd. I (Berlin 1929).
— Zur Agrarfrage 1917 vgl. ferner: Krest’janskoe dviZenie v 1917 godu.
Centrarchiv („1917 g. v dokumentach i materialach“), pod. red. M. N. Pokrovs-
kogo i J. A. Jakovleva (dazu A. Šestakov: 5, 262 f.): Agrarnaja
revoljucija, II: Krest’janskoe dviženie v 1917 godu; pod red. V. P. Miljutina.
Izd. Komakad., Agrarnaja sekcija (dazu O. Lidak: 7, 299—302);
A. Šestakov zu O. Čaadaeva, Pomeščiki i ih organizacii v 1917 godu:
9, 196 f. — M. Kubanin ergänzt seine frühere Darstellung der Umteilung des
Gutsbesitzerlandes im Jahre 1917. Die Schilderung zeigt die vielfach anarchischen
Formen der Liquidation des lebenden und toten — ım Prinzip nationalisierten
oder kommunalisierten — wirtschaftlichen Gutsinventars in der Periode vor dem
Siege der sog. „Dorfarmut“. Der Vorteil der kleinen Hofbesitzer gab den Aus-
schlag: K istorii Oktjabrja v derevne 7, 18—35; ders., Pervyj peredel zemli:
174
Ro!:kovs Bemühungen um Aufhellung der „Geschichte der
Arbeit“ in Rußland im 19. Jahrhundert ließ Pokrovskij durch die
Bemerkung: „Was Rokkov in seinen letzten Lebensjahren für eine
„Biographie“ der russischen Arbeiterklasse getan habe, mache eine
Menge seiner alten Sünden wieder gut“,) Gerechtigkeit widerfahren.
Eine posthume Veröffentlichung: „Die Manufaktur Prochorov
in den ersten vierzig Jahren ihres Bestehens“ ) bildet die Illustration
zu den von Rozkov in seinem Vortrag: „Zur Methodologie der Ge-
schichte industrieller Unternehmen“) entwickelten methodischen
Gesichtspunkten für die wissenschaftliche Auswertung von Fabrik-
archiven weniger als Materialien zur Geschichte der russischen In-
dustrie, der Arbriterbeweruns oder eines Einzelunternehmens als eines
bestimmten wirtschaftlichen Organismus als vielmehr zur Erkenntnis
der Fabrik als Wirtschaftsorganisation. Die allgemeine Charakteri-
sierung der Manufaktur in den dreißiger Jahren auf Grund der in
mühseliger Forschung gewonnenen Betriebsstatistik zeichnet das
Unternehmen als Wirtschaftsorganisation des handelskapitalistischen
Typus auf der Schwelle zur Umwandlung in eine Fabrik des betriebs-
kapitalistischen Typus.
Orient.
Die Versuche, eine marxistische Methodologie für die Geschichte
des Orients, insbesondere für die Geschichte Russisch-Mittelasiens zu
begründen, wofür Ansätze bereits in den früher besprochenen Heften
vorlagen,“) werden in engstem Zusammenhang mit der Erörterung
der „Kolonialpolitik“ des caristischen Rußland in Mittelasien und der
Erforschung der nationalen Freiheitsbewegung und der Oktober-
revolution in Turkestan energisch fortgesetzt..) Ihrer Natur nach
führen die hier auftauchenden Fragen tief in wenig geklärte und
heftig umstrittene völkische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse
des Orients, weshalb ich nur an einem Beispiel nach den Ausführungen
Agrarnaja revoljucija 5. — Zur Haltung des Bauerntums vom März bis Mai 1917
vgl. auch die Referate in wiesen Jahrbüchern N. k. 8 (1927), 274 f. über
M. Martynov, Agrarnoe dvizenie v 1917 g. po dokumentam Glavnogo
Zemel’nogo Komiteta (Krasnyj Archiv 1926, H. 14, S. 182—226) und N. F. 4
(1928), 180 über den von J. Jakovlev im Krasnyj Archiv Bd. 15 heraus-
gegebenen „Obzor poloZenija Rossii za trimesjaca .. .“.
Die Literatur zur Geschichte der Bauernbewegung in Rußland im Zeitraum
1801—1924 hat E. Morodhovec früher im Vestnik Komakad. — 8 (1923),
415—422; 4, 465—472; 5, 276—290; 6, 451—474; 7 (1924), 421—444; 12 (1925),
398—408 — zusammengestellt.
333) 11,9; s. auch Ark. Sidorov, Istorileskie vzgljady N. A. Ro ko va:
13, 184—220 und diese Jahrbücher. N.F. IV, 286 f.
334) Prochorovskaja manufaktura za pervye 40 let ee suStestvovanija
(1799—1889/40): 6, 79—110; 3. auch M. K. RoZkova, Opyt raboty nad
arhivom Trechgornoj Manufaktury, und: Sostav raboti Trechgornoj
Manufaktury (vo vtoroj polovine XIX veka): Istorija proletariata SSSR 1 (1930).
338) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 287 f.
$36) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 290 f.
13 HF 6 176
eines der Pioniere dieses marxistischen Forschungszweiges, P.
Galuzo, auf die Problematik der bisherigen Untersuchungen hin-
weisen möchte.
Galuzo, der in einem Vortrag vor der Sektion für die Geschichte
des Orients den Kapitalismus der turkestanischen Kolonie in der
Zeit vor der Revolution von 1917 untersuchte,) packte das tur-
kestanische Kolonialproblem rein wirtschaftlih an und sah bewußt
von der gi foc ares Bedeutung Mittelasiens gegen England-Indien
ab. Auf dreifache Weise habe sich die koloniale Ausbeutung Tur-
kestans vollzogen: Turkestan sei der Tummelplatz des wucherischen
russischen Handelskapitals beim Baumwollaufkauf und in der Kredi-
tierung der Baumwollwirtschaft gewesen. Das Land sei einem unred-
lichen und bestechlichen staatlichen Verwaltungsapparat ausgeliefert
worden. Die dritte Art der Ausbeutung des Landes habe in der Be-
drohung des Besitzes an bewässertem und bebautem Land der ein-
geborenen Bevölkerung durch die russischen Einwanderer be-
standen.“)
Ob die Anwendung der Kategorien des marxistischen Schemas
auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Mittelasiens in den
letzten Jahrzehnten zum Verständnis Turkestans als Kolonie des
kaiserlichen Rußlands — abgesehen von Differenzen im eigenen
Lager“) — entscheidend beizutragen vermag, erscheint bei einer
Art Gegenprobe, einem Vergleich mit nichtmarxistischen Begrün-
dungen der kolonialen Rolle Turkestans, etwa durch O. H o e t zs dh.
und G. Cle in ow, “ zum mindesten zweifelhaft.“) —
337) Kolonial’naja politika carskogo pravitel’stva v srednej Azii: 9, 128—183;
N. Ja. Vi tkind, Bibliografija po Srednej Azii (Ukazatel’ literatury po
kolonial’noj politike carizma v Srednej Azii). Pod red. A. V. Šestakova
= Trudy nautno-issledovat. associacii pri Kommunist. universitete trudjaߣichsja
vostoka im. I. V. Stalina vyp. IV (1929). S. auch Anm. 842
338) Gegen die unkritische Übernahme der marxistischen Darstellungen von
der Kolonialpolitik des kaiserlichen Rußland in diesem Punkte durch Hans
Kohn, „Geschichte der nationalen Bewegung im Orient“ (Berlin 1928) erhebt
P. Vitte k im „Archiv für Sozialwiss. und Sozialpolitik“ 62 (1929), 144 f. Ein-
wendungen.
339) Vgl. außer der Diskussion zu Galuzos Vortrag vor allem M. Cviba k,
Klassovaja bor ba v Turkestane: 11, 190—144 und 150 f.
40) Russisch - Turkestan und die Tendenzen der heutigen russischen
Kolonialpolitik: Schmollers Jahrbücher 37. Jg. (1918), 903—941 und 1427—1473.
341) Die Grundlagen der Nationalitätenpolitik in Russisch-Zentralasien:
Osteuropa 4 (1928—29), 559—578; vgl. auch Cleinows methodisch wichtigen Be-
merkungen: „Deutsche Rußlandforschung“ in der Zeitschrift: Das Neue Rug-
land 6. Jg. (1929), Nr. 1—2 S. 64 f.
342) Siehe ferner: Olerki revoljucionnogo dvizenija v Srednej Azii. Sbornik
state} (Moskva, Naučn. Assoc. Vostokoved. pri CIK SSSR, 1926); P.G.Galuzo,
Voorukenie russkich pereselencev v Srednej Azii (Taškent 1926: Izd. Sredne-
Aziatskogo Kommunist. universiteta im V. I. Lenina), dazu S. Tomsinskij: Peca t“
i revoljucija 1927 H. 3 S. 137 f. und E. Zel’kina: 3, 241 f.; Galuzo,
Peres elen&eskaja politika carskogo pravitel'stva v Srednej Azii, dazu
A. Sestakov: 6, 267 und 7, 311 Galuz o, E eg ee Olerk
istorii Turkestana ot zavoevanija russkimi do revoljucii 1917 goda = Trudy
176
„Irandust“, Fragen der Revolution in Giljan.™)
Nach den üblichen Versuchen, den Stand der nationalen Freiheits-
bewegung im vorderen Orient (Arabien, Türkei, Persien) gegen den
Imperialismus schematisch zu klassifizieren,“) wird die revolutionäre
Bewegung in der persischen Provinz ijan 1911—1921 nicht als ein-
fache Fortsetzung des Kampfes um die persishe Verfassung (sog.
„persische Revolution“ 1905—1909), sondern als ihre höchste Stute
sowohl in der Ausbildung der Klassengegensätze wie ihrem Programm
nach charakterisiert: „Die Hauptbedeutung der Revolution in Giljan
besteht darin, daß in sie diejenigen sozialen Schichten verwickelt
waren, die an den vorigen Etappen der revolutionären Bewegung
nicht teilgenommen hatten, die Bauernschaft und das Proletariat“
(S. 127). I. kennzeichnet die in der Epoche 1905—1909 sich ab-
lösenden Träger der politishen und sozialen Bewegung in Persien
(S. 126—131) und erblickt in der Revolution in Giljan die Aufein-
anderfolge einer nationalen Befreiungsrevolution gegen den Im-
perialismus, einer bürgerlich-demokratischen Revolution gegen den
Feudalismus und einer proletarisch - kommunistischen Revolution
gegen die Bourgeoisie. In einem chronologischen Schema der revo-
lutionären Entwicklung in Giljan endigt die „Vorgeschichte“ mit dem
Kampf des. Komitees Ittechad -e Islam mit Khan Kučik an der
Spitze gegen die englische Okkupation Persiens 1918—19; die eigent-
liche Revolution in Giljan läßt I. mit der Bildung der revolutionären
Regierung Giljans unter Khan Kutik im Mai 1920 ihren Anfang
nehmen, die eine unmittelbare Folge der Wiederaufrichtung der
nau£no-issledovatel’skoj associacii pri Kommunistieskom universitete trudja$lichsja
Vostoka imeni I. V. Stalina, vyp. I (1929), dazu Vl. Larent’ev: 14, 210—212;
Galuzo zul. Rezcov, Oktjabf v Turkestane. Taškent 1927: 7,
ders. zu P. Alekseenkov, Krest’janskoe vosstanie v Fergane. Taškent 1927
8, 284—288; Šestakov zu L. Rezcov, K voprosu o roli russkogo kapitala
v Turkestane: 7, 275; ders. zu P. Alekseenkov, Nacional’naja politika
vremennogo pravitel’stva v Turkestane v 1917 g. (in: Prolet. Revoljucija 1928
H. 8 = Nr. 79): 9, 175; Galuzo, O periodizacii nacional’no-osvoboditel’nogo
dviženija v Srednej Azii: 11, 242—244 und 7 Trudy I, 521—554), Ja Rachauser
(Ratgauzer) Social’naja suščnost’ partii musavatizma: 11, 245 und Trudy I,
501—520. — VI. Sumilin zu V. Bartold, Istorija kul’turnoj Zizni
Turkestana: 7, 302 f.; I. Chodorov, K voprosu ob istoriteskoj evoljucii
zemlevladenija v Turkestane: 10, 121—158.
P. Galuzo forderte am 12. Mai 1930 in der Pravda Vostoka (Taškent)
Nr. 106 (2207), daß die Arbeit des Istpart in Mittelasien reorganisiert und ein
Mittelasiatisches Institut für die Geschichte der Revolution (Sredne-Aziatskij
institut istorii revoljucii) errichtet werde. Er erklärte u. a: „Barthold und
seine Freunde und Verehrer sind noch nicht von ihrem Piedestal gestürzt, sie
gelten noch weiter als Autorität nicht nur bei der parteilosen und oft kolonisa-
torisch gestimmten Intelligenz, sondern sogar bei einigen Mitgliedern der Partei.
Mehr als das: der Einfluß ihrer Auffassungen ist mitunter sogar in den Schriften
von Marxisten wahrnehmbar.“
343) Voprosy giljanskoj revoljucii: 5, 124—146.
344) z. B.: Der von Kemal eingeschlagene Weg ist der Weg der bürger-
lichen Entwicklung, der sich gegen den Imperialismus und die Reste des Feuda-
lismus richtet und durch bürgerliche Reformen eine Agrarrevolution hintanzu-
halten sucht.
177
Herrschaft der Sovets in Baku war. — Die Arbeit ist ein sehr lehr-
reiches Beispiel fiir die marxistische Behandlung eines Themas aus der
neuesten Geschichte des Orients.“)
S. Majzel, Saad Zaghlul Pascha und seine Rolle in der
nationalen Freiheitsbewegung Agyptens.“)
Wie andere Führer der nationalen Freiheitsbewegungen im
Orient — Gandhi für Indien, Kemal Pascha für die Türkeı, Ab-ul
Kerim für Marokko, Al-Atrasch für Syrien —, so wird Zaghlul für
Agypten als Personifizierung des Protests und des Kampfes gegen den
Imperialismus aufgefaßt. Als Ideologe der ägyptischen Bourgeoisie
habe er die nationale Befreiung vorbereitet, de eine andere Klasse,
die Masse der Arbeiter und Bauern, vollenden werde.
Zur Geschichte der russischen Geschichtsschreibung.
Heft 8 und 10 des „Istorik-Marxist“ standen im Zeichen des
CernyS$evskij- Jubiläums, das von einer besonderen Kommission
unter dem Vorsitz Pokrovskijs organisiert wurde.“)
An erster Stelle steht die Wiedergabe von Pokrovskijs
Vortrag über CernySevskij als Historiker“) in der Gesellschaft der
marxistischen Historiker und der daran anschließenden Diskussion.“)
-Pokrovskij führte etwa folgendes aus:) Mit vollem Recht lasse
sich auf CernySevskij Lenins Wort anwenden, daß der Publizist der
Gegenwarts-Historiker sei. „Publizistik und Geschichte durchdringen
sich bei Cerny3evskij fortwährend gegenseitig; wenn er von Ver-
gangenem sprach, hatte er ständig die Gegenwart im Auge und ständig
suchte er die Gegenwart historisch zu erklären . . . .“ Unrichtig sei,
CernySevskıj heute zu einem russischen „nationalen Marx“ zu
stempeln; wie Plechanov bereits dargelegt habe, sei Cernylevskij auf
dem Gebiete der Geschichte unzweifelhaft Idealist gewesen. So ent-
wickelte er in einer Polemik gegen Herzen („Über die Ursachen von
Roms Niedergang“) den Gedanken, daß die Vorwärtsbewegung der
Kultur ausschließlich der Anhäufung und der Entwicklung des Wissens
345) Vgl. auch 1, 142—158: M. P. Pavlovič, Revoljucija 1905 g. i vostok;
sie he diese Jahrbücher N. F. IV, 290. SES ie:
%%) Saad Zaglul Pala i ego rol’ v nacional’no-osvoboditel’nom dviženii
Egipta (1860—1927): 6, 175—194.
gg 33 Kommissija po jubileju Cernylevskogo pri prezidiume CIK SSSR:
348) N. G. CernySevskij kak istorik: 8, 8—26; deutsch:
N. G. Tscher nyschewski als Historiker, in der Zeitschrift: „Unter dem
Banner des Marxismus“ (Verlag für Literatur und Politik, Berlin und Wien)
H. 7 = 2. Jg. H. 4 (März-Nov. 1928), 488—465. — Über das gleiche Thema vgl.
C. Friedland in den „Letopii marksizma“ Nr. 7/8 (1928) und
A. Nifontov, K voprosu ob istoriteskich vzgljadach Cernylevskogo: Pod
znamenem marksizma 1929 Nr. 11.
349) 8, 185—152.
350) Mein Referat lehnt sich in einigen Formulierungen an die Zusammen-
ung in der Internat. Presse-Korrespondenz 9. Jg. Nr. 9 (29. Jan. 1929),
. 171 an.
178
zu verdanken sei; in einem anderen Aufsatz (, Der Aberglaube und
die Regeln der Logik“) verfocht er die „schroff bürgerliche, schroff
anti-marxistische und anti-leninistische Theorie“, daß das lange Be-
stehen der Leibeigenschaft durch die schlechte Verwaltung verursacht
war. Ähnlich führte er in seinem Aufsatz über „Lessing, seine
Zeit, sein Leben und Werk“ die Entwicklung des deutschen Volkes im
Beginn des 19. Jahrhunderts lediglich auf die Literatur zurück. Die
Uneinheitlichkeit von Cerny3evskijs historischer Auffassung versucht
P. aus der Entwicklung von CernySevskijs Weltanschauung, wie sie
sich in seinen Tagebü ern verfolgen läßt, zu erklären. Sicher ist,
daß die Revolution von 1848 auf Cerny3evskij starken Eindruck
machte.)
In seinen Ansichten über westeuropäische oder orientalische
Geschichte scheint Cernylevskij am ehesten dem Marxismus nahe zu
stehen; allein seinem „Marxismus“ war die Vorstellung durchaus
fremd, daß die Proletarisierung (proletariatstvo) ein notwendiges
Stadium der sozialen Entwicklung ist, ohne das es keine sozialistische
Revolution geben kann. Eine Gegenüberstellung der Charakteristik
der Junischlacht bei C. (, Cavaignac“) und bei Marx („Klassenkämpfe
in Frankreich“) zeigt den Unterschied in der Behandlung der Ereig-
nisse. Wenn gewisse Äußerungen CernySevskijs zur Geschichte
des Westens vielleicht eine milde Beurteilung nur als ärgerliche „Ab-
weichungen“ von der im allgemeinen richtig durchgeführten materi-
alistischen Linie zulassen, so stehe es um seine Stellungnahme zu
russischen Ereignissen viel schlimmer. Hier gehe ihm der Klassen-
instinkt mitunter völlig ab und — in einer außerordentlichen Verall-
gemeinerung materialistischer Anschauungen — beginne er von
Dingen zu sprechen, die mit Materialismus gar nichts zu tun haben
und die völlig die Charakteristik CernySevskijs durch Plechanov recht-
fertigen, der ihn für einen idealistischen Historiker erklärte. Am
deutlichsten sei dies aus den „Briefen ohne Adresse“ (Pis’ma bez adres,
1861) zu erkennen, wo sich Cerny3evskij zu der Behauptung verstieg,
solange es in Rußland den Absolutismus gebe, könne es keinen
Klassenkampf geben. Politisch waren die Briefe außerordentlich
kühn, seit Radi§tevs Zeiten hatte die russische Druckpresse ähnliches
nicht gesehen. Obwohl die Revolution von 1848 C. die Tatsache des
Klassenkampfes und seine gewaltige Bedeutung für die europäische
Geschichte hatte erkennen lassen, blieb er gegenüber den Er-
scheinungen des Klassenkampfes in der russischen Geschichte, — in
der Zeit der Wirren, den Aufständen Razins und Pugalevs, den
Bauernunruhen und Ermordungen von Gutsbesitzern zu seiner Zeit —
merkwürdig blind. Der russische Absolutismus hat den russischen
Klassenkampf vor C. verhüllt.
Auf den schwachen Seiten von CernySevskijs historischer An-
schauung beruhte die Lehre der Narodniki. Ein glänzendes Beispiel
351) Als Lücke empfindet man hier, daß Pokrovskij weitere westliche Ein-
flüsse auf Cerny$evskij, z. B. seine Beschäftigung mit der deutschen Geschichts-
schreibung (Gervinus, Schlosser, Georg Weber), nicht berücksichtigt.
179
seiner historischen Urteilskraft habe C. aber damit bewiesen, daß er
1857 in seinen ,,Zamétki o Zurnalach“ bereits die Bedingungen fiir die
Entfaltung des Kapitalismus in Rußland weitschauend entwickelte.
In der Kommission für die Geschichte der Revolutionskriege
und bewaffneter Aufstände hielt B. Gorev einen Vortrag über
„CernySevskiji und die Revolutionskriege“. ““) Cerny3evskij stand
militärischen Fragen eine Zeitlang besonders nahe, indem ihn das
Kriegsministerium in der liberalen Reorganisationsperiode der im
Krimkrieg maßlos kompromittierten Heeresverwaltung 1858 in die
Redaktion des fortschrittlichen militärischen Fachorgans „Voennyj
Sbornik“ berief. Gorev verglich CernySevskijs Urteile über „Re-
volutionskriege“ seiner Zeit — den Juniaufstand von 1848, über die
revolutionäre Bewegung in Italien 1859 während des österreichisch-
französischen Krieges (Garibaldi!) und über den amerikanischen
Bürgerkrieg — mit der Auffassung der gleichen Vorgänge durch Marx
und Engels. — Die Diskussion, in der Svelin und Pokrovskij sprachen,
spitzte sich auf die Frage zu, wie der von Marx als „bürgerliche Re-
volution“ systematisierte amerikanische Bürgerkrieg wirtschafts-
geschichtlich zu beurteilen sei.
Seine Eröffnungsrede auf der offiziellen großen Cerny3evskijfeier
benutzte Pokrovskij zu einem wuchtigen Vorstoß gegen die bis-
her in der Literatur vertretenen Auffassungen über die Haltung des
Bauerntums vor jener Epoche, die heute „zum Glück“ nicht mehr den
Namen „Epoche der großen Reformen“ trage.“)
Aus den im Archiv der III. Abteilung der „Höchsteigenen
Kanzlei“ des Caren aufbewahrten Gendarmerie-Rapporten der Jahre
1858—1860 gehe hervor, daß die bürgerliche Geschichtsschreibung
(Vas. Iv. Semevskij, Ivanjukov) in der Entstehungsgeschichte der sog.
„großen Reformen“ einen wesentlichen Zug völlie beiseite gelassen
oder als unerheblich betrachtet habe. In einem Auszug aus einem
Bericht des Chefs der Gendarmerie an den Caren aus dem Jahre 1858
wird unumwunden die Gärung unter den Bauern zugegeben, die im
Laufe des Jahres in 25 Gouvernements zu Unruhen geführt habe und
dem Caren nicht die Schuld verhehlt, die Übergriffe der Gutsbesitzer
an diesem Zustand trügen; ) ein Bericht der Gouvernementsver-
waltung von Tvef enthüllt empörende Einzelheiten. Ein Gen-
darmeriebericht aus Saratov weist auf die Gefahr hin, die darin liege,
daß die bessergestellten Staatsbauern mit leibeigenen Bauern gemein-
same Sache machten und daß sogar Teile des Kleinbürgertums, untere
Beamte, Studenten und kleine Hofbesitzer mit den unruhigen Ele-
menten sympathisierten.**) Die Gärung unter der Bauernschaft gegen
die Branntweinpächter führte außer der Demolierung zahlreicher
Kneipen in weıten Bezirken eine überraschend ernsthafte Enthaltsam-
352) Cernylevskij i revoljucionnye vojny: 10, 178—196.
353) Černyševskij i krest’janskoe dviZenie konca 1850-ch godov: 10, 8—12.
154) S. 3.
355) S. 7—9.
180
keitsbewegung herbei. Neben der Unzufriedenheit im Dorfe machten
der Regierung Unruhen der am Bau von Eisenbahnen beschäftigten
Arbeitermassen beträchtlich zu schaffen. .
Pokrovskij betrachtet Cerny3evskijss „Materialy dlja rebenija
krest janskogo voprosa“ (Materialien zur Entscheidung der Bauern-
frage) als „ein prächtiges, ein erstaunliches Beispiel einer Kriegslist“
(„voennaja maskirovka“)**) und erklärt sie als die auf die Zensur be-
rechneten „geschickt maskierten Losungen der Bauernbe wegung.)
Aus den Werken CernySevskijs schlage einem die glühende Atmo-
sphäre jener Jahre entgegen. „Durch ihn, durch seine Schriften blickt
auf uns die Revolution, die in Rußland in den Jahren 1859 — 1861
ihren Anfang nahm, die 1905 in heller Flamme aufloderte und im
Jahre 1917 siegte..)
Em. Gaz ganov: „Die historischen Anschauungen Plecha-
novs“ ) treibt Plechanovs Theorien über den Kampf des westlichen
Einflusses und des Orients, mit anderen Worten: der Prinzipien der
Revolution und der Reaktion in der russischen Geschichte schematisch
auf die Spitze: auf der einen Seite die Menscheviki, die Aufklärer,
die „Vestler“ (zapadniki), die petrinische Reform, der Westen —,
auf der anderen: die Bolscheviki, die Narodniki, die Slavophilen, das
Moskauer Rußland = „Orient“. Indem Gazganov Plechanov zum
„Narodnik-bakunist“ erklärt, geht er weiter als Lenin, der Plechanovs
200) S. 4
387) S. 12.
358) Heft 8 des „Istorik-Marxist“ bringt über Cernylevskij ferner: den in
der t der marxistischen Historiker nicht ohne Widerspruch aufge-
nommenen Vortrag von |: M. Steklov, dem Biographen CernySevskijs
N. G. Cernylevskij, Ego Zizh i dejatel'nost“; zur 2. Aufl. des I. Bandes vgl.
V. Kirpotin: 11, 162—160), über das Thema: ,,Cerny$evskij und seine
politischen Anschauungen“ (C. i ego polititeskie vozzrenija): S. 129—141; einen
Beitrag von V. Kirpotin (S. 27—40): ,,Cerny$evskij i marksizm“, der C.
nachsagt, er habe die Bedeutung des Klassenkamptes verkannt; einen Literatur-
bericht zum Cernylevskij- Jubiläum von M. Netkina (S. 178—179; Forts.:
10, 211—221; s. auch Kniga i revoljucija 1929 Nr. 1): die bedeutendste Erscheinung
war der erste Band von Cernylevskijs literarischer Hinterlassenschaft (Literaturnoe
nasledie N. G. Cernylevskogo, 1928) mit Cernylevskijs Tagebuch 1849—1858. Der
Grundzug der Jubiläumsliteratur war natürlich, das „einzig richtige“, ein „korrekt
marxistisches Verständnis“ Cerny3evskijs als des „Ideologen“ der bäuerlichen
Revolution Rußlands in den fünfziger und sechziger Jahren zu verbreiten;
vgl. insbesondere Ark. Lomakin, Cerny%evskij-predteta našej partii: Izvestija
Nr. 271 (8505) u. 272 (8606) v. 22. und 28. Nov. 1928. Immerhin empfand man
seine „Bolschevisierung‘‘ durch Steklov, der aus ihm eine Art russischen Marx ge-
macht habe, als bedenklich und als einen unrichtigen Maßstab; dem Urteil,
Plechanovs Arbeit über Cernylevskij (Nik. Gawr. Tschernyschewski, Stuttgart
1894) habe durch die neuere Forschung an Bedeutung verloren (8, 173) ist die
fortwährende Bezugnahme darauf in der marxistischen Cernylevskijliteratur
— sei es auch nur, um Widerspruch gegen Plechanov anzumelden — entgegen-
zuhalten. — Vgl. auch B. Gore v über Bd. I der Izbrannye solinenija N. G.
Cernylevskogo: 18, 252 f.; A. Skafty mov, Das Jubiläum N. G. Cerny-
Yevskijs (Bibliograph. Übersicht): Slav. Rundschau 1 (1929) S. 171—177, und die
Referate von Veröffentlichungen über Cernylevskij in diesen Jahrbüchern N. F. 3
(1927), 174 f. und 528 f.; N. F. 5 (1929), 125 f. und 488.
850) Istoriceskie vzgljady Plechanova: 7, 69—116.
181
Deutung des Moskauer Staats als Ubertreibung der von den Narod-
niki vertretenen Ansichten bezeichnet hatte.“)
D. Kin: N. N. Baturin (1877—1927) als Historiker der
Partei.“)
Baturins Hauptwerk, seine populäre, jedoch durch ihr streng bol-
schevistisch-leninistisches parteigeschichtliches Schema bemerkenswerte
„Skizze der Geschichte der Sozialdemokratie in Rußland“ (Oéerk istorii
socialdemokratii v Rossii, zuerst 1906 — einer der frühesten Versuche,
die Geschichte der russischen Sozialdemokratie im Sinne des bolsche-
vistischen Flügels zu schreiben — wurde ursprünglich der inter-
nationalen Bedeutung des Bolschevismus nicht ganz gerecht; spätere,
bisher nicht veröffentlichte Vorlesungen Baturins hätten jedoch in
dieser Hinsicht durchaus der bolschevistishen Konzeption ent-
sprochen. In seiner Periodisierung der Geschichte der russischen
Sozialdemokratie in der Periode vor der „Iskra“ lehnte sich Baturin
streng an den Schluß abschnitt von Lenins Schrift: ,,Cto delat’ an.
Kins Ausführungen über die Anfänge des russischen Marxismus und
der russischen Sozialdemokratie sind beachtenswert, da er zu be-
stimmen sucht, inwiefern Herzen, Belinskij, Cerny3evskij und die Re-
volutionäre der siebziger er als Vorläufer der russischen Sozial-
demokratie angesehen werden können.
V. Gurko-KrjaZin: M. P. Pavlovič als Historiker.“)
Der im Juni 1926 verstorbene marxistische Historiker der inter-
nationalen Beziehungen in der Epoche des Imperialismus sah im Im-
perialismus eine wirtschaftliche Kategorie, durch die alle kapitalisti-
schen Staaten hindurchgehen müßten, wobei er besonders den Einfluß
der Schwerindustrie auf die innere Wirtschaft und auf die äußere
Politik der imperialistischen Staaten zu zeichnen suchte (Pavlovits sog.
„metallurgische Theorie“). Die Überschätzung eines einzelnen öko-
nomischen Faktors hatte gewisse Einseitigkeiten in Pavlovids histori-
schen Arbeiten zur Folge; z. B. erschien ihm der deutsch-französische
Gegensatz im wesentlichen als „klassischer metallurgischer Konflikt“.“)
Pavlovičs Hauptwerke sind zusammengefaßt unter dem Obertitel:
„Die Grundlagen der imperialistischen Politik und der Weltkrieg
1914—1918“ (Osnovy imperialisti¢eskoj politiki i Mirovaja vojna
1914—1918) — das vierbändige Werk: „Der Imperialismus und der
Kampf um die Weltstraßen“; der „Imperialismus, die Internationale
des Todes und der Zefstörung“, „Militarismus, Marxismus und der
Krieg 1914—1918“ und „Der französische Imperialismus“, ferner:
„Die RSFSR in imperialistischer Einkreisung“ (RSFSR v imperialisti-
českom okruZenii, 4 Bände).
369) Zur heutigen Beurteilung Plechanovs vgl. auch Sestakov (7, 271)
und den Hinweis auf die Plechanov- Bibliographie der Zeitschrift Katorga 1 ssylka
1928 Nr. 5: 8. 201.
361) N. N. Baturin kak istorik partii: 6, 195—201.
362) M. P. Pavlovič, kak istorik: 5, 147—152.
203) Siehe auch 8, 218.
182
Seine intensive wissenschaftliche und agitatorische Beschäftigung
mit Orientfragen im weitesten Sinne und persönliche Fühlung mit den
Kreisen, die als Träger der orientalischen Freiheitsbewegungen im
Jahrzehnt vor dem Kriege erscheinen, ließ Pavlovič nach der Oktober-
revolution zum Pionier einer neuen marxistischen, vor allem auf die
Gegenwart und die sog. „Realien“ eingestellten Orientalistik
werden,“) die in ihm eine organisatorische Kraft ersten Ranges ver-
lor, — den Anreger der „Wissenschaftlichen Assoziation für Orient-
kunde“ (Nautnaja associacija Vostokovedenija), den Rektor des Mos-
kauer Instituts für Orientkunde und Bevollmächtigten des Zentralen
Vollzugsausschusses beim Leningrader Orient-Institut.™)
Zur marxistischen Forschung über die Geschichte der Großen
Französischen Revolution.
Meine früheren Mitteilungen über die Rolle der Großen Fran-
zösischen Revolution in der russischen marxistischen Forschung“)
ergänze ich durch einige prinzipielle russische Äußerungen, weil dieser
Zweig der Auslandsgeschichte in der Berichtszeit, wie bereits erwähnt,
für den politischen Tageskampf unmittelbar die Schlagwort-Analogie
des „termidorjanstvo“ geliefert hat.“)
N. Lukin: Die Große Französische Revolution in Arbeiten von
Sovethistorikern.“)
Seiner überaus sorgfältigen Ubersicht über nur streng wissen-
schaftliche Arbeiten schickt Lukin eine Einleitung voraus, in der er
das ausschließliche Interesse der sog. „Russischen Schule“ unter den
Erforschern der Französischen Revolution vor dem Kriege (Karéev,
Kovalevskij, Ludickij, Tarle u. a.) ) für die Lage des französischen
Bauerntums am Vorabend der Großen Revolution aus dem Zu-
sammenhang jener Forscher mit den Fragestellungen der russischen
Narodniki-Intelligenz der siebziger Jahre und von der Bedeutung, die
die Agrarfrage für Rußland um die Jahrhundertwende, insbesondere
in der Revolution von 1905 erlangte, herleitet; ihr verhältnismäßi
schwaches Interesse für die Epoche der Jakobinerdiktatur oder für die
Lage der Arbeiterklasse und zu den Keimen sozialistischer Bewegungen
in der Epoche der Großen Revolution führt er außer auf die Schwäche
der Arbeiterbewegung in Rußland bis in die neunziger Jahre auf die
et) Vgl. R. Salomon, Die Neuorganisation der orientalistischen Studien
in Rußland: Der Islam Bd. 14 (1924), 878—880; Th. Menzel, Das heutige
Rußland und die Orientalistik: Ebda. Bd. 17 (1928), 88; N. I. Borozdin,
The Progress of Orientology in the USSR: Pacific affairs Nr. 6 (June 1929),
. Ober Pavlovič: Novy Vostok 18 (1927), V—LXXVIII, auch: Wochen-
bericht 8. Jg. Nr. 26—27 (8. Juli 1927), 8—11.
388) Diese Jahrbücher N. F. IV, 282.
%7) Siehe oben Anm. 18.
i 200 Velikaja francuzskaja revoljucija v rabotach sovetskich istorikov: 5,
see) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 282, Anm. 14a.
183
Zusammensetzung des Lehrkörpers der Universitäten aus liberalen
oder Narodniki-Anschauungen zuneigenden Elementen zurück.
Seit dem Umsturz 1917 ist in Rußland eine Gruppe junger
marxistischer Historiker im Wachsen, die sich für die Geschichte
Frankreichs am Ausgang des 18. Jahrhunderts spezialisiert hat und die
z. B. in den Schätzen des Marx-Engels-Instituts an Büchern und Archi-
valien einzigartige Arbeitsmöglichkeiten 5 Die Anziehun
kraft der Epoche der Großen Französischen Revolution — neben der
Pariser Commune von 1871 — erklärt Lukin folgendermaßen: „Bei
aller Verschiedenheit der sozial- ökonomischen Grundlagen der Großen
Französischen und der russischen proletarischen Revolution des
20. Jahrhunderts gibt es zwischen beiden unzweifelhaft in einigen
Zügen Ahnlichkeiten, die Parallelen zulassen zwischen der Lage der
französischen Republik in den Jahren 1793—1795 und der Sovet-
republik in den Jahren des Bürgerkriegs und der Intervention, der
Ernährungs- und Finanzpolitik in der Epoche der Jakobinerdiktatur
einerseits und unserer Virtschaftspolitik in der Epoche des Kriegs-
kommunismus andererseits, zwischen der Reorganisation der be-
waffneten Kräfte des Konvents und dem Aufbau der Roten Armee
usw. Die Jakobinerorganisation selbst — mit ihrem streng zentralisti-
schen Apparat, ihren Reinigungen, ihren Parteimobilisierungen und
der festen Verbindung mit den Massen — erinnert in vielem an die
Kommunistische Partei der Bolscheviki.“ “)
Unter den Urteilen Lukins ist bemerkenswert die Charakteri-
sierung des Kapitalwerks von Karéev: „Die Historiker der Fran-
zösischen Revolution““) als eines Werks höchster Erudition und als
eines unentbehrlichen Hilfsmittels für die Arbeit auf dem Gebiete der
Französischen Revolution; zugleich aber bringt er seine Enttäuschung
über den von ihm unbedingt abgelehnten „historischen Idealismus“
des Autors zum Ausdruck.
In seinem Nachruf auf A. Aulard (1849—1928)*”) unter-
läßt Lukin, der A. als den bedeutendsten Vertreter der bürgerlich-
demokratischen Tradition in der Erforschung der Französischen Re-
volution gerecht und sympathisch würdigt, nicht, den Gründen für
Aulards Ablehnung der Oktoberrevolution und seine unverhüllte Ab-
neigung gegen die Räterepublik nachzugehen und bedauert wegen
Aulards nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die öffentliche
Meinung in Frankreich seine engen Beziehungen zur russischen Emi-
pranon Am deutlichsten nahm Aulard zum Bolschevismus in einer
roschiire: „La théorie de la force et la révolution française“ Stellung,
370) Siehe oben S. 101 und Anl. 1 (S. 190).
371) S. 197.
312) Istoriki francuzskoj revoljucii Bd. I: Die französischen Historiker der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; II: Die französischen Historiker der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts; III: Die Erforschung der Revolution außerhalb
Frankreichs (deutsche, belgische, italienische, ehe und russische Historiker).
Leningrad 1924.
373) 10, 71—88.
184
durch die er nachzuweisen suchte, daß die Bolscheviki sich zu Unrecht
auf das Beispiel des Konvents beriefen; die Theorie der Gewalt und
der Diktatur sei dem ganzen Geist der Französischen Revolution völli
fremd gewesen und nie durch ihre Führer geteilt worden. D
Mathiez *) in der Erforschung der Französischen Revolution dem
Begriff des Klassenkampfes Eingang verschafft habe, daß er Robe-
spierre und damit das Regime der Diktatur und des Terrors rehabili-
tiert habe, bedeute vom Standpunkt Aulards und seiner Schule aus
nichts anderes als den Kommunisten Vorschub leisten.
Friedland’) bezeichnete als das wichtigste Feld der fran-
zösischen Revolutionsgeschichte für die marxistischen Historiker die
allzusehr vernachlässigte Virtschaftsgeschichte der Revolution,
daneben das in den letzten Jahren stark hervortretende spezielle Ein-
peen etwa auf den Klassenkampf in Frankreich in der Epoche des
errors, auf die Emigrantenfrage und auf die sozialen Lehren des
18. Jahrhunderts (, Egalitarismus“).“ ) Den Historikern der alten
„Russischen Schule“ in der Erforschung der Französischen Revolution
habe es am richtigen Verständnis für den Zusammenhang zwischen
= N Verhältnissen und dem sozial- politischen Kampf
gefehlt.
Der „Istorik-Marxist“ als Rezensionsorgan und bibliographische
. Hilfsmittel.
In zahlreichen Referaten tritt das Leninsche Schema als Norm
in befremdender Selbstabdankung der Autoren vom Mute zu eigener
Verantwortung als Kritiker entgegen; Rückzug auf Lenins Autorität
an Stelle des Versuchs einer sachlichen Widerlegung ist in der marxisti-
ee Kritik ein häufig angewandtes bequemes Auskunfts-
mittel.
374) Vgl. auch diese Jahrbücher N. F. IV, 282, Anm. 14a; der Titel von
Aulards Beitrag im „Golos minuvlago na čužoj storond“ N.S. 1 (1926), 7—9
lautet: Russkoe vlijanie v izudenii francuzskoj revoljucii.
874a) Vgl. unten Anlage 2 Anm. 2a und 9.
_ ) Icogi izulenija Velikoj francuzskoj revoljucii za 10 let i zadali
sstorikov-marxistov, vgl. Anm. 168.
76) S. Anm. 183.
877) Z. B. 9, 195 (M. je: „Wir denken, daß es in unserer Mitte genügt,
festzustellen, daß diese Ansicht den Ansichten Lenins widerspricht“; G. Reich -
berg zu P. Kurc (Russko-kitajskie snogenija v XVI, XVII i XVIII stoletijach.
1929: 11, 212) Ot Anwendung des Begriffs „imperialistisch“ auf die russische
und chinesische Eroberungspolitik ım 17. und 18. Tabchunder egen die zwischen
beiden Reichen wohnenden Völkerschaften: „Das widerspricht der Leninschen
Auffassung des Imperialismus“; V. Rachmetov zu S. Piontkovskij
(Očerki po istorii Rossii v XIX—XX v. v., 1928): „Der Autor geht mit dem
revolutionären Marxismus-Leninismus in einer Reihe prinzipieller Fragen ausein-
ander“: 7, 228; O. Lidak gegen V. P. Miljutins Spaltung des Leninis-
mus im „reinen“ Leninismus (= Diktatur des Proletariats) und „bedingten“:
Leninismus auf Rußland bezogen — Theorie der Diktatur des Proletariats in
einem Lande mit Überwiegen des Bauerntums (7, 299) usw.
185
Unter der alarmierenden Überschrift: „Die Landeskunde in den
Händen bürgerlicher Gelehrter“ besprach V. Seltzer (Zel’cer) eine
Veröffentlichung der Gesellschaft zur Erforschung des Gouvernements
Moskau, “) über die ich früher in diesen Jahrbüchern referiert
habe.“) Diese Anzeige ist ein Muster verbissener, denunziatorischer
Nörgelei an der wissenschaftlichen Arbeit einiger nichtmarxistischer
Gelehrter, „die das Leben des Führers der Revolution, des Proletariats,
noch nicht zu interessieren vermochte“ ($. 250). Der Sammelband
entspreche nicht den aktuellen Forderungen, weder methodisch noch
thematisch. S. erklärt, das Netz der provinzialen wissenschaftlichen
Einrichtungen, Lehranstalten, Gesellschaften, Museen usw. diene als
Zuflucht für die „bürgerliche Professur“ und ihre Schüler, wo sie völlig
unkontrolliert, wenn auch sehr vorsichtig, die bürgerliche Ideologie
konservierten; es sei an der Zeit, daß die marxistischen Historiker
diesen Verhältnissen größere Aufmerksamkeit schenkten.)
DierussischeZeitschriftenschau des „Istorik-Marxist“ )
vermittelte weiterhin einen vollständigen kritischen Überblick über
die folgenden, vorwiegend der Geschichte der revolutionären Be-
wegung in Rußland und der Geschichte der bolschevistischen Partei
dienenden Periodica: „Proletarskaja revoljucija“ (Institut Lenina pri
. ) Moskovskij kraj v ego prošlom. Olerki po social’noj i ekonomiteskoj
istorii XVI—XIX vekov. Pod. red. prof. S. V. BachruSina =
en izucenija Moskovskoj gubernii, vyp. I; vgl. Istorik-Marxist 10,
370) N. F. 5 (1929), 122—125.
360) Daß Seltzer das Nichtvorkommen des Wortes „Klasse“ bei Bach-
ruin beanstandet (10, 246 — die gleiche Feststellung in Seltzers Besprechung
des I. Bandes der „Zapiski istoriko-bytovogo otdela gosud. russkogo muzeja“: 8,
227) führt auf einen sonderbaren Auswuchs orthodox-marxistischer ideologischer
Splitterrichterei an den Arbeiten von Nichtmarxisten. In ähnlicher Weise teilte
Friedland in der Diskussion um PetruSevskij magere Ergebnisse seiner
Jagd auf das Wort „Klassenkampf“ in einem Werk von Petrulevskij mit
Andererseits wird als „ideologische Eroberung“ selbstgefällig registriert,
wenn Historiker der alten Schule — mitunter „vielleicht ohne es selbst zu
merken“ — ihre Auffassungen dem offiziellen Geschichtsbild anzunähern scheinen;
vgl z. B. A. Sestakov über N. N. Firsov: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 8
S. 189—141; Javorskyj über Bagalej: Vestnik Komakad. 26 (1928),
272. — „Aus der allmählichen Annäherung an den Marxismus resultiert die Frucht-
barkeit von A. E. Presnjakovs wissenschaftlicher Arbeit und der Erfolg
seines methodologischen Vorgehens“: I. Tatarov über A. E. Presnjakov (als
Kandidaten für die Zuwahlen zur Akademie): Izvestija Nr. 240 (8474) v. 14. Oke.
1928; vgl. Krivolein a: Izvestija Nr. 209 (8533) v. 25. Dez. 1928; dem
Akademiker Petru$evskij, der sich von den marzistischen Lehren immer
weiter entferne, trug dieses Verhalten von seiten Pokrovskijs die Kenn-
zeichnung: „eine Art umgekehrter Presnjakov“ ein (Novye telenija v russkoj
istoriceskoj literature: 7, 5).
381) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 293. — Beachtenswerte Ausführungen
über das russische historische Zeitschriftenwesen brachte die Pravda Nr. 118 (3945)
v. 17. Mai 1929 (A. P.): „Istorikeskie i istoriko - revoljucionnye Zurnaly v
1928 g.
186
CK VEP [b],”) „Katorga i ssylka“ (Istoriko-revoljucionnyj vestnik;
izd. ob3lestva byvSich politkatorZan i ssyl' no- poselencev),“ ) ,,Kras-
naja letopi$“ (Organ Leningradskogo istparta)ꝰ ) ,,Litopis revoljucii“
(Zurnal Istparta CK KP[bJU; Zeitschrift des Ukrainischen Istpart),“)
»Kommunističeskaja Mysl“ (Organ Sredne-Aziatskogo Kommunisti-
českogo universiteta imeni V. I. Lenina, TaSkent)***) ferner über das
in diesen Jahrbüchern regelmäßig berücksichtigte und im Ausland von
allen russischen historischen Organen weitaus am häufigsten zitierte
„Krasnyj Archiv“.“)
Ein erstaunliches Novum bildet in H. 11 unter der Uberschrift
„Im weißen Lager“ ) der Beginn von Literaturberichten über histori-
sche Veröffentlichungen der russischen Emigration; angezeigt sind
zunächst nur periodische Veröffentlichungen und Sammelbände.“ )
Der Versuch, die marxistische Forschung mit der historischen Arbeit
der russischen Emigration bekanntzumachen, erscheint — wenn auch
zunächst nur ein geringer Bruchteil erfaßt ist“) — um so beachtens-
werter, als demgegenüber die Organe der russischen Emigration in der
Unterrichtung ihres Leserkreises auch nur über die wichtigsten peri-
odischen räterussischen Veröffentlichungen durchweg versagen; diesen
empfindlichen Mangel an Kontakt mit der Publizistik des heutigen
Rußland kann die politische Tagesschriftstellerei der Emigration durch
382) 1927 H. 6—9 (= 65—68): 5, 231—234; 10 und 11 (= 69, 70): 6
264—266; 12 (71) und 1928 H. 1 und 2 (= 72, 73): 7, 270—272; 3—5 (=
es 8, 199 f.; 6—8 (= 77—79): 9, 175 f.; 9—12 (= 80—83): 11,
383) Den Hauptinhalt dieser Zeitschrift der Organisation unmittelbarer
Teilnehmer an der revolutionären Bewegung im kaiserlichen Rußland bilden
Memoiren und autobiographisches Material: 1927 H. 4—6 (= 33—35): 5, 236 f.;
7 (86): 6, 267; 8 (= 37) und 1928 H. 1—3 (= 88—40): 7, 272 f.; 4-5
(= 41, 42): 8, 200 f.; 6, 7 (= 48, 44): 9, 176; 8—12 (= 45—49): 11, 171.
ss) 1927 H. 2 (= 23): 6, 266; 8 (24) und 1928 H. 1 (25): 7, 278 f.;
2 (26): 9, 176 f.; 3 (27): 11, 172 f.
205) 6. Jg. (1927), H. 2—4: 5, 235 f.; 5—6. und 7. Jg. (1928), H. 1: 7, 274 f.;
H. 2: 8, 201 .
see) 1926/27 H. 1—3: 5, 287 f.; H. 5: 6, 267; H. 6: 7, 275; die Zeitschrift:
„Revoljucionnyj vostok“, hrsg. von der Nauéno-issledovat. associacija pri Kom-
munist. Universitete trudjalk. Vostoka im. I. V Stalina, wurde bisher nicht be-
riicksichtigt.
387) In H. 5—11 des „Istorik-Marksist“ wurden die Nummern 20—30 des
KA angezeigt.
388) A. Gukovskij und J. Troc&kij, V belom stane: S. 266—275.
389) „Beloe delo“ H. 4—6 (1928) mit den Aufzeichnungen des Generals
Vrangel (vgl. dazu auh V. Mjakotin in den „Sovrem. zap.“ Nr. 38
S. 587—544); „Archiv russkoj revoljucii 19 (1928), „Volja Rossii“ H. 8—11;
„Irudy russkich udenych za granicej“, I und II (Berlin 1922/23); „Istorik i
sovremennik“ rlin 1922/24), „Na ¢uzoj storone“ (1923—1925), »Golos
minuvlago na čužoj storoně“ (1926—1928), „Ulenye zapiski“, osnov. russkoj
učebnoj kollegiej v Pragt I (1924), „Zapiski instituta izučenija Rossii“ I, II (Prag
1925). Eine erhebliche Lücke klafft in dem Bericht durch Nichterwihnung der
„Sovremennyja zapiski“ (seit 1920) mit einer Fülle von historischen Beiträgen.
3%) Vgl. oben Anm. 47, den Hinweis auf die Übersichten über die russische
historische Literatur, die der Emigration verdankt wird.
187
noch so aufmerksame Verfolgung und Exzerpierung der russischen
Tagespresse nicht ausgleichen, weil die wesentlichen geistigen Aus-
einandersetzungen innerhalb der bolschevistischen Partei und der
„bolschevistischen Elite“ mit ihren ausländischen Gegnern in Zeit-
schriften — außer in den oben aufgeführten Organen der Kommu-
nistischen Akademie in historischen Zeitschriften und Rezensions-
organen, vor allem im „Bol’$evik“, in „Pod znamenem marksizma“,
in der „Kommunistileskaja revoljucija“, im „Prapor Marksizmu“
(ukrain.) u. a. — ausgetragen werden. Die systematische Unter-
schätzung und Nichtbeachtung einer der geistigen Säulen des Sovet-
regimes, der politisch-historischen Periodica, durch „das andere Ruß-
land“ berührt eigentümlich und ist aus der Absorption durch die
Auseinandersetzungen im Lager der Emigration selbst allein nicht zu
erklären.
Die Übersicht über die historischen Zeitschriften des Aus-
landes***) berücksichtigte deutsche, italienische, französische und eng-
lische Organe und beachtete von deutschen Zeitschriften jetzt neben
der „Historischen Zeitschrift“ (Bd. 135—137, 139) und dem „Archiv
für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ auch
das „Historische Jahrbuch“ (Bd. 46 und 47), das Archiv für Sozial-
wissenschaft und Sozialpolitik“ (Bd. 55—57) und die „Zeitschrift für
die gesamten Staatswissenschaften“ (Bd. 82 und 83).**) In diesen
Übersichten fehlen wieder nicht manche grundfalschen, den deutschen
Leser grotesk anmutende Werturteile; z. B. mit M. Braubachs
Eintreten für eine gerechtere Beurteilung der Aufklärung („Die Eudä-
monia“ 1795—1798. Ein Beitrag zur deutschen Publizistik im Zeit-
alter der Aufklärung und der Revolution“: „Historisches Jahrbuch“
Bd. 47) wird der russische Leser folgendermaßen bekanntgemacht:
Die kunstvoll aufgesetzte Maske der Objektivität kann indes nicht
über die offenbare Sympathie des Autors mit seinen Gesinnungs-
genossen in der fernen Vergangenheit hinwegtäuschen.“) F.
Meine ckes Abhandlung: „Kausalitäten und Werte in der Ge-
schichte“ (,, Histor. Zeitschrift“ Bd. 137) wurde als „Manifest der
idealistischen und politischen historischen Schule“ gekennzeichnet.
„Meinecke greift an und verteidigt sich, gestützt auf solide Gelehr-
samkeit. Die Analyse und Kritik dieses Aufsatzes wäre unserer
Meinung nach eine vortreffliche Obung für einen jungen Marxisten:
Der eigentümliche Dualismus, die Fetischisierung des Staats und die
Verbindung des Idealismus mit Voluntarismus fallen leicht unter den
Schlägen des dialektischen Materialismus.“ )
Die Berichterstattung über die monographische historische
Literatur des Auslandes wurde stark ausgebaut; über die nichtrussische
historische Arbeit im marxistischen Spiegel wird einmal besonders
301) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 298.
302) 6, 260 ff.; 11, 173—179.
30) A. Vas jutinskij: 6, 260.
304) Ders.: 11, 178.
188
zu sprechen sein. Sehr zahlreichen Rezensionen und zusammen-
fassenden Literaturberichten™) tritt seit einiger Zeit nr ausge-
wählte, sorgfältig gegliederte Bibliographie der in Deutschland, Eng-
land, Fr eich, den Vereinigten Staaten und in der UdSSR er-
schienenen historischen Literatur zur Seite.
Zusammenfassend wird man sagen können: Die russische
marxistische Geschichtswissenschaft hat in der Berichtszeit die ersehnte
internationale Resonanz gefunden. Vor allem bedeutete
die Zeitspanne im eigenen Lande die Aufrichtung der nahezu unbe-
schränkten Herrschaft der orthodox ,,marxistisch-leninistischen“, dem
Stalinkurs unbedingt loyal ergebenen, organisatorisch festgefügten
und bewährten „Družina“ Pokrovskijs, der „Gesellschaft der marxisti-
schen Historiker“. Noch erscheint das Stadium der Annexion und
Erschließung von Teilgebieten der historischen Forschung für die
marxistische historische Arbeit nicht beendet.“) Die Begrenzungen
des Blickfelds in der nach Universalität strebender Arbeit der russi-
schen marxistischen Historiker durch ihre dogmatische Gebundenheit
und eine Fülle den Nicht-Marxisten befremdender Züge vornehmlich
in der marxistischen Polemik spiegelt am reinsten und vielseitigsten
der „Istorik-Marxist“ wieder, dem in der Geschichte des marxistischen
historischen Denkens unter allen periodischen Organen zweifellos
die erste Stelle zukommt.
395) 2, 250—257: (I. Zvavil, state Ivanič: diese Jahrb. N. F. IV, 208,
Anm. 81) Geschichte der äußeren Politik Englands; 5, 205—210: (A.
Kudrjavcev) Die Ostindische Compagnie — das englisch-holländische Handels-
kapital; 6, 286—242 (J. M. Z a ch e r): Problem des „Thermidor“ im Licht
der neuesten historischen Arbeiten; 6, 258—260 (L. Tor da j): Der Zerfall
Osterreichs; 10, 221—288 (V. A. Vas jutins ki j): Die Industrierevolution in
England in der neuesten historischen Literatur.
3%) Für das 1. Halbjahr 1926: H. 4 280—287; 5, 285—802 und 6, 804—3810,
für Juli bis Dezember: H. 6, 811—819; 8, 248—260; 9, 282—250; davon Ruß-
land: 5, 291—802; 8, 259 f.; 9, 282—289.
In Heft 7—11 ist in der Zeitschrift auf die Zitate in fremden Sprachen
große Sorgfalt verwandt, so sinnlose Buchstabenanhäufungen wie in Heft 5 und 6
wiederholen sich nicht mehr; z. B. 5, 229 und 244; 6, 254 und 270; 6, 259:
„Heirich Richter Sveick“, EA ist — Heinrich Ritter von Srbik als Rezensent
von Viktor Bibls „Zerfall Usterreichs“ im 180. Bd. der „Histor. Zeitschrift“.
397) Vgl. z. B. über die Aufgaben einer marxistischen Erforschung der
Musikgeschichte A. A. Ostrecov zu S. M. Cemodanov, Istorija muzyki
v svjazi $ istoriej ob$lestvennago razvitija: Vestnik Komakad. 27 (1928), 252—269;
A. a a Marksistskaja istorija estetiki: Literatura i marksizm 2
(1929); U. Focht, Problematika sovremennoj, marksistskoj istorii literatury:
Pečať’ i revoljucija 1927 H. 1 S. 61—72 und H. 2 S. 78—92; R. Beljakov,
Istorija russkoj literatury XIX veka v svete leninskogo udenija: Na literaturnom
postu 1980 Nr. 2 usw.
189
Anlagen.
1. Das neue Statut des Marx-Engels-In..ıtuts.
(Zu S. 101.)
Das am 12. Juli 1929 in den „Izvestija“ Nr. 157 (8608) als Verordnung des
Präsidiums des Zentralexekutivkomitees vom 28. Juni veröffentlichte Statut
regelt in 28 Paragraphen die allgemeinen Aufgaben ($ 1—5), den Aufbau ($ 6—8),
die Verwaltung ($ 15) und die Sonderrechte ($ 16—28) des Instituts.
II.
III.
IV.
Die Aufgabe des Instituts wird folgendermaßen definiert:
I. Das Karl Marx- und Friedrich Engels-Institut stellt die höchste wissen-
schaftliche Forschungseinrichtung des Gesamtbundes dar, deren Haupt-
aufgaben sind:
1. Erforschung des Entstehens, der Entwicklung und der Ausbreitung des
Marxismus und
2. Erforschung der Geschichte des Proletariats und seines Klassenkampf;
Das Marx-Engels-Institut besteht beim Zentralexekutivkomitee des Bundes
der sozialistischen Räterepubliken und erstattet alljährlich dem Präsidium
des Zentralen Bundes-Exekutivkomitees einen Rechenschaftsbericht über
seine Tätigkeit.
Zur Aufgabe des Marx-Engels-Instituts gehören:
a) Erforschung des Marxismus und Mitwirkung bei seiner Erforschung;
b) Erforschung der Geschichte der internationalen Arbeiter- und der
kommunistischen Bewegung und Mitwirkung bei ihrer Erforschung:
c) „ Propaganda des Marxismus unter den breiten arbeiten-
en Massen.
Das Marx-Engels-Institut sucht diese Aufgaben zu verwirklichen durch:
a) Sammlung, Systematisierung, Aufbewahrung und Erforschung von Hand-
schriften, Dokumenten, Büchern und Materialien jeder Art, die Be-
ziehung haben zum Leben, zur Lehre und zur Tätigkeit von K. Marx
und F. Engels und überhaupt zur „Marxkunde“ (marksovedenie), das
Vort in weitem Sinne genommen;
b) Herstellung günstigerer Bedingungen für Forscher und issenschaftliche
Arbeiter zur Erforschung des Marxismus, wozu Bereitstellung eines Lese-
saals mit einem Nachschlage- und wissenschaftlichen Hilfsapparat gehört;
c) Herausgabe sowohl einer vollständigen akademischen Ausgabe wie auch
einer Ausgabe ausgewählter Werke von K. Marx und F. Engels in
5 Sprache und in fremden (westlichen und orientalischen)
prachen;
d) Ausgabe von Serien: 1. Bibliothek des wissenschaftlichen Sozialismus,
2. B. des Marxisten, 8. B. des Materialismus, 4. B. der Klassiker der
Volkswirtschaft, 5. B. der utopischen Sozialisten, 6. B. der Geschichte
der Arbeiterklasse und ihres Klassenkampfes, 7. B. der Geschichte der
litischen Theorien, 8. B. von Dokumenten zur Geschichte des Sozia-
ismus und der Arbeiterbewegung, 9. B. der Denkmäler der Geschichte
des Klassenkampfs und des Proletariats usw.
e) Herausgabe von Zeitschriften und Sammelwerken über Fragen der
Marxismusforschung;
f) Unterhaltung eines für die breiten Arbeiter- und Bauernmassen ge-
öffneten Museums für Marxkunde und für Geschichte der internatio-
nalen Arbeiter- und der kommunistischen Bewegung;')
g) Organisation besonderer Dauer- und zeitweiliger Ausstellungen über
einzelne Perioden der Arbeiter- und kommunistischen Bewegung, über
1) Vgl. H. Huppert, Das Museum des Marx-Engels-Instituts: „Das Neue
Rußland“ 5. Jg. (1928
190
„H. 9 S. 82—835.
einzelne Revolutionsepochen und bestimmte Strömungen des gesell-
schaftlichen Denkens, ebenso von Vorlesungen und Diskussionen auf
Grund der Ausstellungsgegenstände; Unterstützung der Organisation
von Museen derselben Art ın den Bundesrepubliken;
h) Veranstaltungen öffentlicher Sitzungen, Berichte und Dispute über
Fragen, die zum Bereich der wissenschaftlichen Tätigkeit des Instituts
gehören; |
i) Aufnahme und Pflege der Verbindung mit gelehrten Unternehmungen,
wissenschaftlichen Einrichtungen und Unterrichtsanstalten sowohl in der
UdSSR wie in anderen Ländern.
V. Das Marx-Engels-Institut steht im Staatshaushalt im allgemeinen Vor-
anschlag des Zentralexekutivkomitees der UdSSR.
Bestand des Marx-Engels-Instituts:
VI. Das Marx-Engels-Institut besteht aus:
a) der wissenschaftlichen Forschungs-Abteilung,
b) der Bibliothek,
c) dem Archiv,
d) dem Museum für Geschichte der revolutionären Bewegungen, des Klassen-
ns des Proletariats und fiir das Leben und Werk von Marx und
ngels,
e) einer Bio - Bibliographischen und einer wissenschaftlichen Auskunfts-
Abteilung,
f) einer Redaktions-Abteilung der internationalen akademischen Ausgabe
der Werke von Marx und Engels mit zwei Unterabteilungen: für Aus-
gaben in russischer Sprache und solche in fremden en
g) der Verwaltungs-Abteilung.
VII. Die wissenschaftliche Forschungs-Abteilung besteht aus folgenden 18 Kabi-
netten, von denen jedes das eine oder andere Problem der Geschichte des
Marxismus oder der Entwicklung des Marxismus und der Arbeiter- und
kommunistischen Bewegung in einzelnen Ländern erforscht:
a) Karl Marx- und Friedrich Engels-Kabinett;
b) K. für Geschichte der ersten und zweiten Internationale;
c) K. für Philosophie und Geschichte der Wissenschaft;
d) K. für Volkswirtschaft und Geschichte der wirtschaftlihen Verhält-
nisse;
e) K. für Soziologie und Geschichte der gesellschaftlichen Formen;
f) K. für Geschichte des Rechts und der politischen Theorien;
g) K. für Geschichte der sozialistischen und kommunistischen Lehren;
h) K. für Geschichte der revolutionären Bewegungen und des Klassen-
kampfes des Proletariats in den germanischen und skandinavischen
Ländern;
i) wie h für Frankreih und Belgien;
k) wie h für die südromanischen Länder;
I) wie h für England und die angelsächsischen Länder;
m) K. für Geschichte der internationalen Politik;
n) K. für Geschichte des Marxismus in Rußland und in slavischen Ländern.
Die dem Institut im vierten Abschnitt des Statuts zugebilligten Privilegien
sind einzigartig: Das Institut besitzt nicht nur das Verlagsmonopol für die
Herausgabe der Werke von Marx und Engels ($$ 17 und 18), sondern $ 17
sichert sein absolutes Anrecht auf alle Original-Dokumente, die sich unmittelbar
auf das Werk von Marx und Engels bezichen; das Institut ist ermächtigt, allen
staatlichen Stellen auf dem Gebiet der Räterepublik derartige Dokumente ab-
zufordern. Von allen Neuerscheinungen über Fragen des Marxismus und der
Marxkunde, ebenso über „sozialökonomische, philosophische, historische un
andere Fragen, die zum Tätigkeitsbereih des Instituts gehören“, erhält das
Institut Pflichtexemplare usw.
13 NF 6 191
2. Aus der Rede Pokrovskijs bei der Feier seines 60. Geburtstages.
(Zu S. 105 und Anm. 78.)
Das Stenogramm der Rede ist in der Anm. 68 verzeichneten Veröffent-
lichung „Na boevom postu marksizma“ S. 82—48 enthalten; der in Heft 10 des
„Istorik-Marxist“ veröffentlichte Wortlaut weist einige Verschiedenheiten auf.
In den einleitenden Worten seiner Rede auf der Jubiläumsveranstaltung am
25. Oktober 1928 erteilte Pokrovskij den Photographen eine Lektion, indem er
die Unsitte geißelte, anders als in Westeuropa von einem Redner während des
Vortrags (anstatt vorher oder nachher) Blitzlichtaufnahmen zu machen. Dann
fuhr er fort:
Ich bin ein prinzipieller Feind nicht allein dieser Unkultur von uns —
achtet, Genossen, dabei auf die Dialektik der Geschichte: eine ungeheuere Er-
rungenschaft der Kultur, die bei uns zu antikultureller Anwendung gelangte —
. . ..ich kann es Euch nicht verhehlen, ich bin ein prinzipieller Feind der Alters-
jubilien .... Was ist Individuelles daran, daß ich sechzig Jahre werde? Auf
der Welt kann man einige tausend Sechzigjährige finden. Nicht ohne
Schrecken empfing ich als disziplinierter Mensch die Direktive des Zentral-
komitees, noch weitere sechzig Jahre zu leben
Ich werde Euch gleich einen kleinen Bericht darüber geben, vie ich Marxist
wurde, und Ihr werdet sehen, daß mich die Masse dazu machte. Schon aus tiefer
Dankbarkeit gegen die Massen mußte ich vor ihren Vertretern erscheinen
Uns stehen neue Kämpfe bevor . . . Kämpfe u. a. auch auf dieser Front,
auf der Front der Geschichts wissenschaft. Manche beschuldigen uns der Unduld-
samkeit, revolutionärer Bubenhaftigkeit und anderer mehr oder weniger zweifel-
hafter Handlungen, weil wir uns in der letzten Zeit in schneidender ideologischer
Kritik gegen die Auferungen der bürgerlich- historischen Weltanschauung wenden,
die in der letzten Zeit, fast möchte ich sagen, immer häufiger zu vernehmen sind.
Ich werde mich nicht hinter einem „Verteidigungskrieg“ verstecken, wie man
es in den internationalen Beziehungen zu tun pflegt, allein es ist tatsächlich bei-
nahe ein Verteidigungskrieg. Uffnet eine beliebige deutsche Zeitung der Rechten,
welche Losung werdet Ihr darin finden? Die Losung des Kampfes mit dem
Marxismus. Das kehrt bei ihnen beinahe in jeder zehnten Nummer wieder. Als
uns nach Berlin gerade die deutsche rechtsstehende Professorenschaft einlud, die die
„Deutsche Allgemeine Zeitung“ herausgibt, da mußte man das Jammergeschrei
gerade dieser Zeitung hören, die sich damit selbst tadelte: „Vas tun wir, wir
machen für die Kommunisten Reklame.“ )
Nehmt den Internationalen Historischen Kongreß in Oslo, auf dem ich
hervortreten mußte. Vor mir trat Dopsch auf, im Ausland die bedeutendste
Größe auf dem Gebiet der Geschichte des Mittelalters. Im Verlauf der ihm zu-
stehenden halben Stunde erledigte er — man muß schon sagen, er besorgte es
ründlich — Karl Bücher. Ich hörte zu und sagte: Das berührt mich nicht; ich
in kein Anhänger Büchers (bjucherianec). Trotzdem bezeichnete man mich in
der Polemik als Anhänger Büchers, aber man nannte mich auch einen Anhänger
Struves (struvianec), — beleidigen konnte mich das nicht . . “)
1) Vgl. oben Anm. 124. ,
2) P. B. Struve, der bekannte Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker,
gehört zu den schärfsten Gegnern des Sovetregimes; vgl. seine in Paris seit Be-
ginn des Jahres 1929 erscheinende Wochenschrift: „Rossija i slavjanstvo“. Organ
nacional’no - osvoboditel’noj bor’by i slavjanskoj vzaimnosti. Über von Struve
vorbereitete historische Arbeiten („Vvedenie v ekonomiteskuju istoriju Rossii v
svjazi s obrazovaniem gosudarstva i kul’turnym razvitiem strany“ u. a.) vgl.
L. L’vov, Besäda s P. B. Struve - udenym: „Rossija i slavjanstvo“ Nr. 88 v.
17. August 1929.
Zur Äußerung Pokrovskijs eine Bemerkung Lenins: „Nach seinen Schwan-
kungen zwishen Bücher und Marx, zwischen der liberalen und der sozia-
listischen Okonomie, ist er (Struve) zum liberalen Bourgeois von reinstem
Wasser geworden. Schreiber dieser Zeilen ist stolz darauf, nach Kräften zur
Säuberung der Sozialdemokratie von solchen Leuten beigetragen zu haben“:
Lenin, Sämtl. Werke (deutsche Ausg.) III, 511 (Anm.).
192
Und nun, Genossen, wo. die Verhältnisse so liegen, daß die französische
Delegation auf diesen Kongreß nach Oslo nicht Mathiez mitbrachte, den König
der Geschichte der französischen Revolution seit dem Tode des alten Königs
Aulard, ) sondern den Monseigneur Baudrillart, der etwas wie eine kirchliche
Predigt vorlas, jetzt. . . macht sich die Verschärfung des Klassenkampfes immer
fühlbarer. Es ist nicht zweifelhaft, uns stehen Kämpfe bevor; auf uns hoffen
in diesen Kämpfen die wenigen Marxisten, die es in Westeuropa und in Amerika
gibt, sie bemühen sich, sich um uns zu scharen und wir wären, von allem sonstigen
abgesehen, Erzverräter, wenn wir den Fehdehandschuh, der uns von allen Seiten
hingeworfen wird, nicht aufnähmen und den Kampf eröffneten. Und wenn
jemand eine so süßliche Vorstellung hat, es wäre möglich, daß die bürgerliche
Geschichte und die marzistische Wissenschaft nebeneinander bestehen könnten, daß
tie, wie Löwe und Lämmchen, friedlich nebeneinander liegen und sich ab und
zu lecken könnten, — der muß alle diese Hirngespinste kategorisch fahren
Wir sind zum Kampf herausgefordert und wir werden diesen Kampf durch-
fechten. Ich schließe mich durchaus dem an, was Gen. Bubnov über das „Feuer
nach rechts“ sagte.) Unbedingt müssen wir das Feuer nach rechts eröffnen, wir
haben es, in Wirklichkeit bereits eröffnet und werden es natürlich fort-
setzen ...
Was für ein Revolutionär bin ich? Ich bin gar kein Revolutionär, wahr-
lich, — ich bin nur ein Sprachrohr der Massen auf dem Gebiet, das für uns
wirklich notwendig ist, auf dem Gebiete der Auslegung der Geschichtswissenschaft.
Erlaubt mir, Euch zu erzählen, wie es gekommen ist, daß ich ein der-
dE Sprachrohr wurde. Ich stamme, wie Euch Anatolij Vasil’evit Lunedarskij
erzählt hat, aus kleinbürgerlichem Milieu, aus dem Bürgertum, und ich muß sagen,
daß nichts besser als dieses Bürgertum mich zur Annahme gerade des historischen
Materialismus in seiner elementarsten Form präparierte, weil nirgends die mate-
riellen Motive des menschlichen Handelns in gleichem Maße klar sind wie bei
dem wenig sichergestellten, halbarmen Kleinbürgertum ... Einerseits, daß sich
das Kleinbiirgertum um materieller Vorteile willen die Augen einander aus-
kratzt, und auf der anderen Seite die Abneigung gegen den bürgerlichen Libera-
lismus führten dahin, daß bei mir der Grund zur allerersten Weltanschauung
gelegt wurde, zu einer im höchsten Grade, bis zur Abgeschmacktheit naiven. Ihr
wißt, daß ich aus Abneigung gegen den bürgerlichen Liberalismus auf den histo-
rischen Idealismus verfiel, — eine kuriose Sache, aber es war so. Der damalige
bürgerliche Liberalismus liebäugelte sehr mit dem Materialismus und Plechanov
schickte nicht ohne Grund an Miljukov als einen der unseren nach Moskau einen
Gruf*) . . . Ich setzte das solange fort, bis ich das erste Mal vor der Masse auf-
trat. Diese Masse waren Studentinnen (kursistki).5)} Ich kam hin und fing an
idealistischen Unsinn®) zu verzapfen über die Philosophie Platos, den Idealis-
mus usw. Sie hörten mich leider an, aber ich merkte deutlich genug, daß ich
nicht das sagte, was nötig war, daß ich ein tiefes Unbefriedigtsein hinterließ und
zur folgenden Vorlesung begann ich mich anders vorzubereiten, d. h. ich be-
mühte mich, dem Auditorium diejenigen historischen Tatsachen zu vermitteln, die
dieses Auditorium brauchte. Und so kam ich unausweichlich zum historischen
Materialismus. “)
za) „M., der jetzige König der Historiker der französischen Revolution“:
Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i ideologi&eskij front: „Pravda“ Nr 260 (4092) v.
7. Nov. 1928.
3) Siehe oben S. 86 und Anm. 19.
) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 285.
5) Hier steht im „Istorik-Marxist“ der Satz: „Vor 85 Jahren, als ich noch
nicht Marxist war, unterrichtete ich an den Frauenkursen und hielt dort Vor-
lesungen über Geschichte.“
e) Ist.-Marxist: das gewöhnliche „ideologische Geschwätz“.
7) Ist.-Marxist: „Die ernsthafte Beschäftigung mit den historischen Tat-
sachen machte mich von allein zum materialistischen Historiker. Denn nur durch
193
Ich knüpfte an Leute an, die man nicht dessen verdächtigen kann, daß die
Bolscheviki für sie Propaganda treiben, ich knüpfte an an den alten
Machiavelli — der Mann lebte im 16. Jahrhundert —, des Marxismus kann man
ihn wahrlich nicht verdächtigen. Aber lest die Geschichte von Florenz, — es
ist ein marxistisches Buch; der Klassenkampf zieht sich als roter Faden durch
das ganze Buch. Man braucht es fast nicht in die marxistische Sprache zu über-
setzen, es ist schon marxistisch.
Nehmt unsere historishen Denkmäler aus der Zeit der Wirren, den
Avraam Palicyn, s) den „Chronographen“. ea) Nach Palicyn stellt sich die ganze Zeit
der Wirren dar als Episoden aus der Geschichte der Getreidepreise, des Kampfs
mit der Teuerung, — völlig nach der Schablone von Mathiez letztem Buch a
Und das ist im 17. Jahrhundert geschrieben, so daß ich jetzt gerade bei der tiefen
Überzeugung beharre, daß jeder Historiker, der ernsthaft historische Tatsachen
verstehen will, unausweichlich materialistischer Historiker wird. l
Wenn Ihr Dopsch tiefer studiert, so wäre es nicht schwierig, auch bei dem
Dopsch, der seinen Vortrag mit einem Ausruf gegen den historischen Materialis-
mus enden ließ, den materialistishen Untergrund zu finden; man kann ihn finden
bei einem so rechtsstehenden Manne wie Eduard Meyer, trotzdem er selbst mit
Bewußtsein tausend Verst jedem historishen Materialismus fernsteht.
Auf solche Art machte die erste Masse, mit der ich zusammentraf, die
Masse der Studentinnen, mich zuerst zum historischen Materialisten, nicht zum
Marxisten im heutigen Sinne des Worts, eher zum ökonomischen Materialisten.
Sie machte mich gleichzeitig auch zum Demokraten.
Ich bestreite nicht, daß ich ein bürgerlicher Demokrat gewesen bin, und es
wäre lächerlich, es leugnen zu wollen, aber wenn mir jemand daraus einen Vor-
wurf macht, so sage ich, daß auch Marx und Engels von der bürgerlichen Demo-
kratie zum Sozialismus gekommen sind. Wie hätte ich es machen sollen? Man
kann mir sagen, es sei eine Schande, sechzig Jahre nach Marx seine Geschichte
zu wiederholen, daß die Menschen seitdem etwas gelernt hätten, — aber es gibt
kein Geschlecht, das Lehren der Geschichte. weniger annimmt als die Historiker.
Es kam das Jahr 1905 ... Ich schloß mich der einzigen revolutionären
Partei an, die es gab, — der Partei der Bolscheviki. Alle übrigen waren nicht
wirkliche revolutionäre Parteien und hier beginnt für mich die gegenseitige Be-
rührung mit den Arbeitern. Diese Arbeitermassen gaben mir kolossal viel
Ich trat vor die Arbeiter als Propagandist, aber faktisch lehrten sie mich; erst
im Arbeiterkampf 1905 sah ich vor mir wirklich die echte Massenbewegung
Hier sah ich den echten Klassenkampf, und das Büchlein .. „Russische Ge-
schichte in gedrängter Form“ (Russkaja istorija v samom sZatom oterke) ent-
stand in den Moskauer Propagandakursen im Jahre 1906, als ich für Arbeiter
„Musiktheorie“ las, — so nannte sich das, über anderes durfte man nicht Vor-
lesung halten. Damals erinnerte ih mich, daß man mich als Kind einmal im
Klavierspiel unterrichtet hatte. Zwar war davon außer meiner Abneigung gegen
das Instrument nichts haften geblieben, nichtsdestoweniger hoffte ich, indem ich
irgendwelche Erinnerungen zusammenkramte, vor denen, die etwa zur Kontrolle
kämen, den Musikanten zu spielen. Doch leider kamen sie nicht; sie errieten
einfach, womit wir uns beschäftigten, und schlossen diese Kurse.
Das war meine erste Berührung mit den Arbeitermassen. Ich kam mit
ihnen daneben außerdem in Berührung während des Wahlfeldzuges zur zweiten
Staatsduma und auf dem Londoner Kongreß unserer Partei. Und sie machten
das scharfe Messer der Lehre von Marx und Engels kann man den Gang der Ge-
schichte und die Zukunft aufzeigen.“
8) Skazanie Avraamija Palicyna. Izd. Archeograf. Komissii: „Russkaja
Istoric. Biblioteka“ XIII u. sep.
sa) Povest’ kn. I. M. Katyreva - Rostovskago vo vtoroj redakcii: Russkaja
Istoriceskaja Biblioteka XIII (1909), Sp. 625—712.
°) Vgl. N. Lukin, Der Kampf mit der Teuerung und die sozialistische Be-
wegung in der Epoche des Terrors: „Istorik-Marxist“ 10, 203—210.
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mich aus einem ökonomischen Materialisten und bürgerlichen Demokraten — zum
echten Marxisten
Das ist der große Kummer auf meine alten Tage: daß ich einfach wegen
meines Alters, meiner Schwäche, wegen Krankheit mit den Massen ausschließ-
lich dann in Berührung komme, wenn es etwa gilt, vor den Arbeitern aus An-
laß der Zwanzigjahrfeier des Jahres 1905 zu sprechen usw. Das wirkt möglicher-
weise auch auf meine schriftstellerische Arbeit sehr schlimm zurück. Ich hoffe,
daß mit den Massen zusammenzukommen mir noch in großem Maße beschieden
sein wird, — es ist charakteristisch, daß jedesmal, wenn ich irgendetwas Nütz-
liches nicht nur im historischen Denken, sondern auch außerhalb meiner Beruf,
arbeit getan habe, es immer von diesen selben Massen seinen Anstoß empfing.
Man hat hier von den Arbeiterfakultäten gesprochen. Ich sagte bereits,
daß die Arbeiterfakultäten entstanden sind aus dem Bündnis der kommunistischen
Studentenschaft des Plechanov-Instituts, des damaligen Marx-Instituts, und der
Metallarbeiterschaft des Moskauer Bezirks. Man kam zu mir mit der Idee, ich
iff sie und fing an, sie ins Leben umzusetzen. Das beweist nur, daß ich
kein stumpfsinniger Biirokrat bin, aber mein Gedanke sind sie keinesfalls. 10)
Das Institut der Roten Professur entstand ebenso
Das größte Ungliick, das einem Menschen begegnen kann, die Trennung
von der Masse, — natürlich nicht die physische Trennung (physisch bin ich
selbst in bestimmtem Maße abgetrennt), sondern die moralische Trennung —, die
Trennung von der Stimmung der Massen, von der Weltanschauung der
, das ist das Schlimmste. 11)
Die marxistische historische Wissenschaft, deren Begründung bei uns im
Lande einige meiner . . Biographen mir zuschreiben, verdankt ihre Entstehung
dem Proletariat. Die Begründung einer marxistischen Wissenschaft war un-
zweifelhaft einfach eine Funktion, ich bin nur ein Sprachrohr der aufsteigenden
Massen, die ihre Erklärung in der Geschichte verlangten
Daß unsere Arbeiterklasse sich. .. eine eigene Wissenschaft geschaffen hat,
ist ein unbezweifelbares Faktum, daß sie sie schuf, — das ist meiner Meinung
nach einer der klarsten Beweise dafür, daß diese Klasse die völlige Reife besitzt,
um die Macht in die Hand zu nehmen, und für die völlige Gesetzmäßigkeit jener
Oktoberrevolution, von der man versucht hat, sie lediglich als einen Soldaten-
aufstand usw. hinzustellen. Der wirkliche proletarische Historiker wird der sein,
der den Entwicklungsprozeß unserer Arbeiterklasse schildert, wie sie entstand,
10) Vgl. auch Pokrovskijs Zuschrift an die Redaktion der „Pravda“ (Nr. 102
— 4286 v. 8. Mai 1929): „Aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens der Arbeiter-
fakultiten empfing ich und empfange ich weiter eine Menge Glückwünsche.
Wieder und wieder kann man sich davon überzeugen, daß es ein dankbareres und
empfänglicheres Herz nicht gibt als das proletarische. Was tat ich eigentlich vor
zehn Jahren? Als an mich der Gedanke der Arbeiterfakultäten herantrat, — er
stammt nicht, zwanzigmal habe ich das schon erklärt, von mir —, da wies ich
ihn nicht von mir, ich bürokratisierte ihn nicht, sondern verhalf ihm zur Ver-
wirklichung, soweit es in meinen Kräften stand. Das heißt, ich erfüllte meine
Pflicht gegen die Partei und den Staat (partijnyj i sovetskij dolg), — weiter
nichts. Und zehn Jahre erinnern sich die Leute daran! Ich kann nur kurz
wiederholen, was ich auf der Jubiläumssitzung gesagt habe: Nicht die Arbeiter-
fakultäten sind mir irgendwie verpflichtet, sondern ich bin den Arbeiterfakultäten
verpflichter dafür, daß mein Name mit einem der kühnsten und erfolgreichsten
Unternehmen der Arbeiterklasse verknüpft erscheint.“
11) Dazu eine Äußerung Rankes am 21. Dezember 1885, seinem 90. Ge-
burtstag: „Das ist eben das Bedeutende, daß die Zeitgenossenschaft eine unend-
lihe Wirkung auf das Individuum übt, und zwar nicht durch persönliche Ein-
flüsse allein, sondern durch den Zug der Dinge und die einander berührenden
Elemente des äußeren und inneren Lebens in ihrer Gesamtheit, für die Lebens-
kräfte im Ganzen, die, in stetem Kampf gegen einander, doch zuletzt mit einander
zich wieder vereinigen in Höherem und zu vereinigen trachten“: Sämtliche
Werke Bd. 51/52 (1888), S. 596.
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wie sie sich in der Klemme des caristischen Regimes in eine Klesse verwandelte,
wie sie dieses caristische Regime zertrümmerte, wie sie die Macht ergriff. Wenn
man dieses grandiose Bild vor Euch zeichnen wird. so wird man einen solchen
Menschen den proletarischen Historiker nennen müssen und als den proletarischen
Historiker ehren müssen. Aber Leute, die nur unter dem revolutionär-
marxistischen Gesichtspunkt das Material umbauten, das stets in den Kursen
Russischen Geschichte bearbeitet wurde —, die kann man nur noch Vorläufer
nennen und sogar nicht Johannesse, sondern Vorläufer selbst eines Johannes
Die Chancen werden immer geringer, daß das das Werk eines Einzelnen
sein wird. Auf demselben Kong in Oslo spielte sich eine sehr interessante
Szene ab —, es trat ein Gentleman auf, der sich dann als ein naher Verwandter
des Völkerbunds enrpuppre Ih mug Euch sagen, daß auf den Kongreß nach
Oslo zu gehen sich schon deshalb verlohnte, um zu sehen, wie das geehrte b
liche Publikum sich zum Völkerbund verhält. Als auf dem Bankett sich der Ver-
treter des Völkerbunds erhob, da hörte ihm kein Mensch zu, noch konnte man
ihn hören. Man sah, daß auf der Tribüne ein Herr in Frack und weißer Binde
stand, der den Mund öffnete, allein was er sagte, konnte niemand vernehmen,
— man af, trank, klapperte mit Messern und Gabeln, und nicht ein Laut war
zu verstehen. Nie in meinem Leben habe ich eine derartige Mißachtung gesehen.
Eine andere Episode, die sich nicht auf dem Bankett, sondern in einer
Sitzung der Methodologishen Sektion abspielte: Es trat der Vertreter des
Völkerbunds auf und fing an davon zu sprechen, daß die Zeit der individuellen
Arbeit in der Geschichte längst vorbei sei, und daß man künftig die Geschichte
nur kollektiv bearbeiten könne. Als der geehrte Vertreter des Völkerbunds
dies aussprach, erklärte ich, daß es wirklich so sei und daß bei uns das dop so
gemacht werde, sodaß ich sehr erfreut darüber sei, daß ich hier Nachfolger
unserer Theorie fände.
Genossen, trotzdem das der Vertreter des Völkerbundes sagte, sagte er die
Wahrheit. Das individuelle Schaffen auf dem Gebiet der Geschichte, wie auch auf
jedem anderen Gebiete, nähert sich seinem Ende, es wird ersetzt durch ein kollek-
tives Schaffen und es war von mir eben keine flüchtige Bemerkung, daß es bei
uns geschieht. Alle die letzten Arbeiten über die Revolution von 1905, 1) über die
Revolution von 1917,32) über den Bürgerkrieg, 10) über die russische Geschichts-
schreibung!5) — sie alle waren Kollektivarbeiten, alle sind sie Sammelbände von
Menographien. Erstens ist es für einen Einzelnen unmöglich, mit dem historischen
Material fertig zu werden, das jetzt vorliegt, und zweitens 5 wir uns jetzt
daran, kollektiv zu arbeiten. Für bürgerliche Gelehrte ist es schwierig, so zu arbeiten,
daher mußte der Völkerbund zur Kollektivarbeit aufrufen. Ich erinnere mich gut
daran, daß ein Mensch, der in der alten Zeit interessantes Archivmaterial erlangt
hatte, es hinter sieben Schlössern versteckte, damit nicht sogleich irgend ein ge-
ehrter Kollege käme, das Material klaue und unter seinem Namen veröffentliche.
Das ist eine Tatsache, die, denke ich, nicht einer von den alten Historikern be-
streiten wird. Auf Schritt und Tritt begegnete Derartiges. Bei solchen Gepflogen-
heiten war es natürlich unmöglich kollektiv zu arbeiten.
Aber wenn bei uns Leute ins Archiv gehen, eine ganze Herde (tabun), und
anfangen zu arbeiten, dann empfängt man ein völlig anderes Bild, und ich denke,
daß auch die künftigen Historiker unseres Proletariats, aller Wahrscheinlichkeit
nach, Kollektiv-Historiker sein werden, und wenn man einstmals für sie Jubiläen
veranstalten wird, so wird vor Euch ein Chor auftreten in der Art der „Blauen
Bluse“, auf jeden Fall nicht ein einzelner Mensch.
Werte Genossen, Ihr seid alle wohlversehen mit vorzüglicher Munition
die bürgerliche Ideologie. Das ist ausgezeichnet. Allein man muß auch wirklich alle
Vorteile dieser Lage ausnutzen, wir- Ahr theoretisch stärker als Euere bürgerlichen
Vorgänger seid. Wie sehr wir theoretisch stärker sind, das bewies auf dem Kongreß
der Angriff einer so grandiosen Größe wie Dopsch. Er ist der größte Spezialist
12—16) Vgl. die Hinweise in Anm. 245, 246, 826 und 882 im II. Teil meines
Berichts.
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auf dem Gebiete der Geschichte des Mittelalters, — allein Bücher unterscheidet er
nicht von Marx. ... Ihr müßt das nehmen, was sich jeder Historiker notwendig
aneignen muß und worin man uns auf der alten Universität unterwies,
— arbeiten über Dokumente, sich kritisch zur Quelle verhalten, analysieren usw.
In bezug auf die Technik gab mir viel Vinogradov, in geringerem —
Kljucevskij. Kljulevskij war ein inner licher Mensch und von ihm konnte
man weniger übernehmen, aber Vinogradov war ein westeuropäischer Historiker
und er unterwies mich darin
Ich rufe auf zu freundschaftlicher kollektiver Arbeit, zur kollektiven Arbeit
eines neuen Typus, wie jede Arbeit von uns, einer Arbeit, die einen Teil in der
allgemeinen Arbeit des sozialistischen Aufbaus bilder. In dieser Arbeit bedient Euch
der Waffe, die wir schon längst von unseren Klassenvorgängern uns hätten
aneignen sollen; mit dieser Waffe können wir uns von diesen Klassenvorgängern
endgültig befreien. Nur auf diesem Wege. Reißt Euch niemals von den
Massen los. Haltet immer fest an der klaren revolutionären Linie, die uns die
Arbeiterklasse und ihre Partei gibt, und macht nicht Halt vor dem Guten, das
man vom Gegner nehmen kann. Die ersten Tanks, die ich im Kreml sah, waren
ranzösische, bei Odessa erbeutete Tanks, — aber jetzt besitzen wir so viele eigene
Tanks, wie es uns beliebt. laßt uns die Geschichte mit den Tanks auch in
unserer historischen Arbeit en!
8. Der Niedergang der bürgerlichen Welt.
Aus einer Rede Kalinins vor dem Unionskongreß der Arbeiter für Aufklärung.
(Zu S. 114)
„Ich bin der Ansicht, daß der Faschismus einer von den kühnen Versuchen
ist, die Mittel ausfindig zu machen suchen, wie es möglich wäre, die Interessen der
Arbeiter und des Kapitals zu versöhnen.
Unlängst wurde in Rom ein Übereinkommen zwischen dem Faschismus und
dem römischen Papst geschlossen. Dieses Ereignis ist bei uns unbemerkt vorüber-
gegangen. Von mir aus muß ich sagen: Es handelt sich hierbei um einen un-
geheueren prinzipiellen Vorgang. Dieser Vorgang bedeutet, daß einer der kühnen
Reformatoren, der sechs Jahre daran arbeitete und sich mühte, eine zugleich
Arbeiter und Kapitalisten umfassende Organisation zu schaffen, zur Vergeistigung
dieser Organisation zum römischen Papst gegangen ist. Das bedeuter, daß die
Bourgeoisie eigene Ideen nicht besitzt. 140 Jahre sind es her, seitdem die Bour-
geoisie (erinnert euch der Großen Französischen Revolution) alle Heiligenbilder
als unnützen Plunder für die entstehende bürgerliche Gesellschaft wegwarf. Da-
mals war in der Bourgeoisie viel Leben, kreisten in ihr viele innere Säfte und die
Bourgeoisie hatte in jenem Moment ihre fortschrittliche Rolle begriffen. Aber
jetzt, in ihrem Untergang, ist die Bourgeoisie zum römischen Papst gegangen,
sozusagen nach Canossa, — wie vor 852 Jahren der deutsche Kaiser Heinrich IV.
nach an ging, in grober Kleidung und barfuß, um vom Papst Verzeihung
zu erflehen.
Ich bin der Ansicht, daß der Faschismus zum römischen Papst nicht aus
eigenem Willen gegangen ist, sondern unter dem Druck der objektiven Logik der
Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, die, ungeachtet ihrer materiellen
Herrschaft über den Menschen, ungeachtet des Anwachsens ihrer Herrschaft über
die Natur, durch Fäulnis im Geistig-Politischen gelähmt wird. Diese Gesellschaft
strebt geistig rückwärts, sie strebt nach dem Mittelalter, sie sehnt sich nach der
geistigen Herrschaft des römischen Papstes, des Haupts der Katholischen Kirche.
it ist vor Euch meiner Ansicht nach der klarste Beweis für die Degradierung
der bürgerlichen Welt im Geistigen und Politischen?) geliefert.“: „Izvestija“ Nr. 55
(8501) v. 7. März 1929.
1) „HAB60266 ApPREË NoRasaTexb Neno — NOANTHYECKOR Aerpaxannn CypRy-
asHoro MEPA.”
197
4. Dokumente zur I. Marxistischen Historikerkonferenz.
(Zu S. 124.)
a) Telegramm an das Zentralkomitee der Kommunistischen
Partei.
Die erste Gesamt-Unions-Konferenz der marxistischen Historiker, die den
Methoden des Leninismus treu sind, die in ihrer Wissenschaft nicht eine aka-
demische Bücherweisheit, sondern eine der stärksten Waffen des Proletariats im
Kampf für seine Befreiung und eines der machtvollsten Mittel für den Aufbau der
neuen sozialistischen Welt sehen, sendet den wärmsten Gruß dem Führer aller
Kämpfer und aller auf diesem Gebiet aufbauend Tätigen, — dem Zentralkomitee
der Kommunistischen Partei der Union. Lenin hat uns gelehrt, die theoretische
Analyse mit revolutionärem Wirken zu verbinden. Lenin hat alle Materialisten
aufgerufen, kämpfende Materialisten zu sein. Wir materialistischen Historiker wollen
uns auf den Standpunkt Lenins stellen und werden den ideologischen Kampf durch-
führen gegen alle, die die Leninsche Lehre verderben und entstellen, die der Ideo-
logie des Proletariats die Ideologie der Klein- oder Großbourgeoisie entgegenstellen.
Nur der durch Lenin von allen Schlacken und Beimischungen gereinigte Marxismus
ist wirkliche Wissenschaft, und nur der, der mit Lenin geht, kann wirklich die
Wissenschaft vorwärtsbringen, kann wirklich die Wahrheit erobern. Keine Ver-
söhnung, keine Neutralität, keine pseudo-„objektive“-Gelehrsamkeit!
Es lebe die Partei der Bolscheviki, die unerschütterlich die Prinzipien der
einzig richtigen Geschichtsauffassung wahrt, — des Leninismus!
Die erste Gesamt-Unions-Konferenz der martistischen Historiker.
Im Auftrage der Konferenz:
M. Pokrovskij.
Nach den „Trudy“ II, 609.
b) Resolution der Konferenz.)
1. Die Gesamt-Unions-Konferenz der marxistischen Historiker, die noch ein-
mal die ungeheuere Bedeutung der marxistischen Geschichtswissenschaft als eines
der wichtigsten Teile des ideologischen Kampfes des Proletariats für den Sozialis-
mus konstatiert, weist darauf hın, daß in unserem Lande ein beträchtliches Kon-
tingent von Historikern vorhanden ist, die auf dem Standpunkt von Marx, Engels
und Lenin stehen, die verstehen, die Methode des historischen Materialismus zu
beherrschen, und die bedeutende Erfolge aufzuweisen haben sowohl auf dem Ge-
biete der wissenschaftlich-forschenden wie der wissenschaftlich-popularisierenden und
der methodischen Arbeit. Man kann mit vollem Recht von einer Sovet-Schule der
marxistischen Historiker sprechen, die sih mehr und mehr durch frische junge
Kräfte ergänzt, die ihrer Ideologie nach mit der Arbeiterklasse fest verschweißt sind,
die nicht selten aus dem Kreise der Arbeiterschaft stammen, und die die Methode
des historischen Materialismus voll und ganz ohne jede Einschränkungen und Vor-
behalte anwenden. Der Einfluß dieser Schule geht weit über die Grenzen der
historischen Wissenschaft im engen Sinne des Worts hinaus und erstreckt sich mehr
und mehr auf Nachbargebiete (Linguistik,?) Archäologie usw.). Nach der Qualität
(znalitel’nost’) ihrer 5 Produktion hat diese Schule der marxisti-
schen Historiker, die als Ausdruck der Ideen des revolutionären Marxismus und
Leninismus erscheint, nicht nur lokale, sondern auch Weltbedeutung, was u. a. be-
wiesen wird durch die Übersetzungen von Werken der bedeutendsten Vertreter
dieser Schule in fremde Sprachen.
2. Als Mängel der Schule der marxistischen Historiker der SSSR erscheinen:
a) Das Fehlen einer allgemeinen Organisation der marxistischen Historiker
für das ganze Land.
b) Das Fehlen eines zentralen Organs.
1) „Pravda“ Nr. 4 (4138) v. 5. Januar 1929, „Istorik-Marxist“ 11, 230 f.
2
und „Trudy“ II, 609—612.
2) Vgl. Anm. 181.
198
c) Das Fehlen richtig geordneter internationaler Verbindungen.
d) Die Belastung einer ganzen Reihe von Vertretern der Schule durch
allerlei Nebenarbeit, die mit ihrer Wissenschaft nichts gemein hat und
die nicht gleichzeitig politischen Charakter trägt.
e) Die Schwäche der Entwicklung kollektiver Arbeit in einigen Teilen der
Geschichtswissenschaft, insbesondere auf dem Gebiet der Geschichte des
Westens.
D Die Zersplitterung und Unorganisiertheit derjenigen marxistischen
Historiker, die auf dem Gebiet der Erforschung der Geschichte des
Orients jenseits unserer Grenzen wie auch über die Völkerschaften,
die zum Bestand der UdSSR gehören, arbeiten.
8. Im Zusammenhang damit erachtet die Konferenz als notwendig:
a) Die Umgestaltung der Gesellschaft der marxistischen Historiker bei der
Kommunistischen Akademie in eine die gesamte Union umspannende
Organisation mit Bildung von Gesellschaften der marxistischen Histo-
riker in den verschiedenen Republiken mit den Rechten von Sektionen
der Gesamt-Unions-Gesellschaft bei der „Komm. Akademija CIK SSSR“,
wobei die Gesellschaften der Republiken in den Rat der Gesellschaft
der marxistischen Historiker Vertreter entsenden sollen.
b) Erklärung des „Istorik-Marxist“ zum Zentralorgan einer die gesamte
Union umspannenden Organisation der Gesellschaft der marxistischen
Historiker, mit Umwandlung in eine monatlich erscheinende Zeitschrift.
c) Hervortreten von marxistischen Historikern der Sovetunion auf
ausländischen Kongressen und Konferenzen, sowie Organisation einer
internationalen Konferenz der marxistischen Historiker und der mit
dem historischen Materialismus sympathisierenden wissenschaftlichen
Arbeiter in Moskau im Lauf der nächsten zwei bis drei Jahre.
d) Entlastung des Grund-Cadres der marxistischen Historiker in weitestem
Maße von jeglicher Arbeit, die nicht mit ihrer Spezialität zu-
sammenhängt und die nicht für eine erfolgreiche Vervollständigung
ihrer historischen Vorbereitung erforderlich ist.
e) Herausgabe einer populären historischen, auf die lesende Masse (wört-
ich: den Massenleser, massovyj čitatel’) berechneten Zeitschrift.“)
f) Die Konferenz erachtet als äußerst wichtig die Bearbeitung der Pro-
bleme, die mit der Kolonialpolitik der Imperialisten im Orient zu-
sammenhängen, und die Erforschung der dem Proletariat feindlichen
Ideologien des Orients.
g) Die Erfüllung der praktishen Wünsche der Konferenz wird dem Rat
der Gesellschaft der marxistischen Historiker übertragen.
4. Unabhängig von den oben aufgezählten Mängeln organisatorischen Cha-
rakters offenbarte die Konferenz gewisse ideologische Unvollkommenheiten in
unserer Arbeit. Als die wichtigsten davon erscheinen: Erstens, eine gewisse aka-
demische Art einzelner unserer Arbeiter, die Neigung, ihre Arbeit nicht als Teil
des allgemeinen proletarischen Kampfes auf einem bestimmten Frontabschnitt an-
zusehen, sondern als eine „objektive wissenschaftliche“ Tätigkeit, die man sogar
der Politik gegenüberstellt; zweitens, eine Lebensfremdheit und mitunter, auf Grund
der Belebung kleinbürgerlicher Ideologie, manchmal auch die Belebung nationalisti-
scher Anschauungsweisen der Geschichte bis zur Ersetzung der Klassen-Erklärung
durch die „ethnographische“. Die Konferenz fordert die marxistischen Historiker
entschieden auf, mit den alten „professoralen“ Gewohnheiten zu brechen und sich
zu erinnern, daß — bei aller Wichtigkeit akademischer Vollendung (vyderZannost’)
unserer Schriften — Vorbild für uns nicht die Persönlichkeiten der akademischen
Welt sein dürfen, die immer Diener der ausbeutenden Klassen waren und im
besten Falle in der „Objektivität“ Zuflucht vor der Politik suchten, sondern die
Gelehrten-Revolutionäre, deren Typ in unserem Lande in der Vergangenheit
Cernylevskij repräsentierte, in der neuesten Zeit aber Lenin, der für das Ver-
3) Vgl. Anm. 282 meines Berichts.
193
ständnis des russischen historischen Prozesses mehr getan hat als alle Inhaber aller
historischen Katheder an allen „russischen“ Universitäten.)
Die Konferenz erinnert alle marxistischen Historiker daran, daß wir
kämpfende Marxisten sind, deren erste Pflicht besteht im Kampf mit dem Marzis-
mus fremden und dem Proletariat klassenfeindlichen Ideologien und ihren Ab-
legern, worin sie auch immer bestehen mögen, und wer auch immer ihr Verbreiter
sei. Ein solcher Kampf erscheint im ge Ste po Augenblick besonders dringend,
wo die Vertreter von Ideologien, die dem Proletariet fremd sind, das Haupt er-
heben und zum Angriff übergehen. In dieser Hinsicht kann keine „Neutralität“,
kënnen keine Konzessionen, kann nicht irgendwelcher Opportunismus durch unsere
Schule geduldet werden, für die es nicht genügt, nur eine materialistische zu sein,
— materialistische Historiker besaß und besitzt die Bourgeoisie —, sondern die eine
inistische im vollen Sinne dieses Worts sein muß, indem sie alles dem Hauptziel
unterordnet, — dem Kampf für die Befreiung der Proletariats in der ganzen Welt
und der Aufrichtung des Sozialismus.
5. Resolution des Kollegiums des Instituts für Geschichte der Kommunistischen
Akademie in der Angelegenheit M. Javorikyj.
(Zu S. 149.)
Das Kollegium des Instituts fiir Geschichte der Kommunistischen Akademie,
das von dem Fall M. Javorskyj Kenntnis genommen hat (siehe „Pravda“ v. 1. März
d. J.), gibt aus Anlaß dieses Faktums seiner Entrüstung darüber Ausdruck, daß
M. Javorskyj, ein politischer Hochstapler, während einer Reihe von Jahren sich mit
der Bezeichnung als Mitglied der Kommunistischen Partei der Ukraine — KP(b)U —
und als marxistischer Historiker der Ukraine decken konnte, während er ideologisch
eae wirkte und die marxistische historische Wissenschaft der Ukraine dis-
editierte.
Das Kollegium des Instituts für Geschichte ist nichtsdestoweniger überzeugt,
daß das schädigende Verhalten M. Javorékyjs, das ein schwerwiegendes Faktum für
die heutige marxistische Geschichtswissenschaft ist, keinesfalls einen Schatten auf
alle marxistischen Historiker der Ukraine und auf die Kommunistische Partei der
Ukraine werfen kann, die einen entschiedenen Kampf mit ihren Klassenfeinden
beim Werke des sozialistischen Aufbaus führt. Das Kollegium des Instituts für
Geschichte der Kommunistischen Akademie kann nicht umhin, die Aufmerksam-
keit darauf zu lenken, daß M. Javorskyj nur infolge des Fehlens bolschevistischer
Selbstkritik lange eine repräsentative Rolle als marxistischer Historiker der Ukraine
spielen konnte; erst als Ergebnis des erbitterten Kampfes im letzten Jahre ist es
der Gesellschaft der marxistischen Historiker an der Kommunistischen Akademie
gemeinsam mit dem marxistischen Historikern der Ukraine gelungen, die pseudo-
marxistische Ideologie M. Javorskyjs zu enthüllen.
Das Kollegium des Instituts für Geschichte ist überzeugt, daß die marxisti-
schen Historiker der Ukraine, die auf ihren Schultern den Kampf mit Javorikyj
getragen haben, indem sie diese Erfahrung beherzigen, das Erbe Javorskyjs restlos
ausroden und das Resultat seiner ideologisch schädlichen Wirksamkeit, die er
während einer Reihe von Jahren entfaltet hat, liquidieren werden.
Das Institut für Geschichte der Kommunistischen Akademie ist überzeugt,
daß die marxistischen Historiker mehr als je zuvor, indem sie beständig Lenin
studieren, einen entschiedenen Kampf für das marxistische Schema der Geschichte
der Ukraine führen werden und daß sie ebenso nationaldemokratische wie Groß-
macht-Tendenzen enthüllen werden, die man im Zusammenhang mit dem F
1 versucht wieder wirksam werden zu lassen. Die marxistischen Historiker
önnen nicht die geringsten Konzessionen an die Revisionisten zulassen, indem sie
sich erinnern, daß die marxistische Geschichts wissenschaft ein organischer Bestand-
a) Vgl. S. 127.
200
teil der proletarischen revolutionären Theorie ist, ohne die es, wie Lenin es mehr-
fach ausgesprochen hat, keine revolutionäre Praxis gibt.
1. März 1980.
Der Direktor des Instituts für Geschichte der Kommunistischen Akademie:
M. Pokrovskij.
Der Gelehrte Sekretär des Instituts:
P. Gorin.
(Aus den Izvestija Nr. 61/8908 v. 8. März 1900.)
6. Resolution der Ersten Gesamt-Unionsberatung für Fragen des Unterrichts
Leninismus, der Geschichte der Kommunistischen Partei (Bolscheviki) und der
Kommunistischen Internationale.
(Zu S. 152.)
Die von der Gesellschaft der marxistischen Historiker einberufene Erste
Gesamt-Unionsberatung für Fragen des Unterrichts im Leninismus, der Geschichte
der VKP (b) und der Komintern stellt fest, daß unter den Bedingungen der von
uns durchlebten Periode des entschiedenen Kampfes für die Verwirklichung des
Sozialismus die Fragen des Unterrichts im Leninismus, der Geschichte der VKP (b)
und der Komintern eine besonders große politische Bedeutung erhalten, indem sie
eine machtvolle Waffe für die bolschevistische Erziehung der proletarischen Massen
darstellen. Das Studium des Leninismus, der Geschichte der VKP (b) und der
un muß den aktuellen Aufgaben des heutigen Kampfes der Arbeiterklasse
enen.
Angesichts der Verschärfung des Klassenkampfes des Proletariats erhält die
revolutionäre Theorie besondere Bedeutung als sein machtvolles Mittel im Kampfe
für den Sozialismus. Nur wenn es sich auf die marxistisch-leninistische revolutio-
näre Theorie stützt, vermag das Proletariat der Führer zu werden für die brei-
testen Massen der armen und mittleren Bauern bei der Ausrodung der Wurzeln des
Kapitalismus und der Vernichtung des Kulakentums als Klasse, womit die Kollekti-
vierung der Landwirtschaft als ein notwendiges Erfordernis für den sozialistischen
Aufbau verbunden ist. Nur die revolutionäre Theorie bietet die notwendige Waffe
für den Kampf mit jeglichen opportunistischen Einflüssen auf das Proletariat.
Deshalb ist es notwendig, jedes Nachlassen im Kampf für die Reinheit der revo-
5 Theorie, ebenso Versuche, sie opportunistisch auszulegen, schonungslos
zu enthüllen.
Bereits zu der Zeit, als die bolschevistische Partei sich bildete, warnte Lenin,
man solle niemals einen charakteristischen Zug des Opportunismus vergessen, —
seine „Unbestimmtheit, sein Zerflicßen, seine Nichtfaßbarkeit; immer entferne sich
der Opportunismus seiner Natur nach von der bestimmten und unwiderruflichen
Fragestellung, suche die Resultante, er schlängele sich wie eine Natter zwischen ein-
ander ausschließenden Gesichtspunkten, bemühe sich um „Übereinstimmung“ mit
dem einen sowohl wie mit dem anderen, indem er seine Widersprüche in kleine
Korrekturen, Zweifel, fromme und unschuldige Wünsche usw. ausmünden lasse
usw.“ (Lenin, Bd. VI, S. 320.)
Dieser Kampf mit den opportunistischen Tendenzen erhält eine besonders
große Bedeutung unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats, wo eine
Revision des Leninismus in ihrer weiteren Entwicklung unausweichlich zu einem
gegen revolutionären Faktor an wächst. Daher ist es notwendig, Abweichungen und
Versuche aller Art, den Leninismus zu revidieren, entschlossen zu enthüllen. Es
ist nötig, mit aller Entschiedenheit den Kampf mit der im gegenwärtigen Augen-
blick besonders gefährlichen Rechts-Ab weichung zu unterstreichen und ebenso auch
eine systematische Enthüllung der „linken“ trockistischen Abbiegungen vorzu-
nehmen. Indem wir die Vergangenheit erforschen, müssen wir den Kampf der
Bolschevismus feindlichen Gruppen und ihrer Versuche, das Klassenbewuftsein
des Proletariats zu zersetzen, enthüllen, müssen wir die historischen Wurzeln des
heutigen Opportunismus in allen seinen Spielarten aufdecken und den Prozeß auf-
201
hellen, wie oppositionelle Gruppen in der Partei (antipartijnye gruppy) sich in anti-
sovetistische gegenrevolutionäre Gruppierungen verwandeln (der Trockismus).
Das reiche Erbe Lenins und der bolschevistischen Partei müssen wir benutzen,
um zu zeigen, wie Resultat eines unversöhnlichen Kampfes die revolutionäre
Theorie geschmiedet und die mächtige Kommunistische Partei geschaffen wurde.
Das Bekanntwerden mit der Erfahrung des früheren Kampfes der Partei erhält
um so größere Bedeutung, je mehr wir sehen, daß zahlreiche Kaders sich am Werk
des sozialistischen Aufbaus zu beteiligen beginnen, die nicht die Bürde des Kapi-
talismus und des unterirdischen Kampfes getragen haben und die nicht durch die
Schule des Bürgerkrieges hindurchgegangen sind („Die Jugend“). Unter diesen Be-
dingungen erhält die Heranziehung der alten Parteikaders für die bolschevistische
Erziehung, um die Erfahrungen des früheren Kampfes der Partei weiterzugeben,
eine ungeheure Bedeurung.
Im Kampf mit den Entstellungen des Leninismus erhält im gegenwärtigen
Augenblick ein vertieftes Studium der leninistischen Lehre von der Dialektik im
historischen Geschehen eine besondere Bedeutung. Es ist notwendig, den anti-
leninistischen Gesichtspunkt eines revolutionären mechanischen Wechsels der gesell-
schaftlichen Formationen (Genosse Dubrovskij)i) entschlossen zu enthüllen,
ebenso auch die nichtleninistische Einschätzung einer historischen Evolution der
„bei der das Bauerntum als eine historisch beständige und unveränderli
Klasse von kleinen Produzenten angesehen wird. Nicht weniger gefährlich ist die
Auferweckung der Ideologie der Narodniki und den Idealisierung der kleinen Pro-
duzenten, die dahin geführt hat, den Kulak als revolutionär anzusehen (Javorskyj,
der jetzt aus den Reihen der VKP (b) ausgeschlossen ist). In Verbindung damit
erhält die leninistische Auffassung der gegenseitigen Beziehung des utopischen un
des wissenschaftlichen Sozialismus und die Frage nach den Ursprüngen des Bolsche-
vismus besondere Bedeutung. Die breit ausgedehnte Diskussion über die „Narod-
sik Volja“ offenbarte bei einigen Genossen das Bestreben, dic Rolle des Narod-
nicestvo zu idealisieren (Genosse Teodorovit)*), was unter den gegenwärtigen Be-
dingungen seinerseits auf eine Idealisierung des kleinen Produzenten herauskommt,
Die Beratung erkennt die Wichtigkeit eines vertieften Studiums der Geschichte der
VKP (b) als einer selbständigen Wissenschaft an.
In Fragen, die die Methode der Parteigeschichte anlangen, muß der Kampf
geführt werden auf der einen Seite gegen einen vereinfachten mechanistischen
„naturwissenschaftlichen“ Erklärungsversuch der gesellschafts-geschichtlichen Vor-
gänge, bei dem man den spezifischen Charakter der Vorgänge ignoriert;
auf der anderen Seite gegen die zur Idealisierung führenden Anschauungen,
die auf dem Gebiet der Parteigeschichte das Problem der Gesetzlichkeit der
Entwicklung in Frage stellen und es durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit er-
setzen. Entschiedener Kampf ist nötig gegen Versuche, die Geschichte des Bolsche-
vismus und die Geschichte der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
(RSDRP) zu vermengen, überhaupt gegen die Versuche, die leninistische Partei als
eine Synthese des Bolschevismus und des Menschevismus mit allen seinen Spielarten,
darunter auch dem Trockismus, hinzustellen. Die Geschichte der Partei kann eine
wissenschaftliche Disziplin nur unter der Bedingung sein, daß sie im strengen Geiste
der marxistisch-leninistischen Methode betrieben wird. Nur wenn die reiche Er-
fahrung des leninistischen Kampfes für die revolutionäre Theorie im Geiste strenger
Parteilichkeit erforscht wird, können wir jeglichen Versuchen, die leninistische Lehre
zu entstellen und zu vulgarisieren, Widerstand leisten. (S. das Buch: El’vov
und Ta!karov, „Über einen Versuch, den Leninismus-Marxismus zu entstellen“,®
die Antwort auf einen ebenso mißglückten Versuch diese Fragen zu erläutern, a
das Buch des Genossen Xenophontov: „Die Grundfragen der Strategie und
Taktik der VKP (b)“).)
1) S. oben Anm. 20 a.
2) Vgl. oben Anm. 20a.
2) Ob odnoj popytke iskaZenija leninizma-marksizma; vgl. oben Anm. 20 .
) Ksenofontov, Osnovnye voprosy strategii i taktiki VKP (b).
202
Eine Anzahl Fehler, die in der letzten Zeit in der Erforschung der Partei-
geschichte hervorgetreten ist, stellt uns mit aller Schirfe vor die Notwendigkeit,
Lenin sorgfältig zu studieren und die leninistischen Thesen bei der Bearbeitung
von Fragen, die heute aktuellen Charakter haben, anzuwenden. In der nächsten
Zeit muß sich die Aufmerksamkeit besonders konzentriereg auf die leninistische
Auffassung der Theorie des Klassenkampfs in der Epoche der Übergangsperiode (I),
auf das Problem des Zusammenschlusses („smyčka“) zwischen Proletariat und
Bauerntum, auf eine leninistische Erforschung der Übergangsperiode, auf. das Pro-
blem der gegenseitigen Beziehungen zwischen Partei und Klasse, im besonderen in
der Periode der Diktatur des Proletariats, auf die Bedeutung der Weltrevolution
und der kolonialen Freiheitsbewegungen, sowohl für die Festigung unserer Union
wie für den Fortgang der Weltrevolution. Die Erforschung dieser Fragen muß
unter dem Gesichtspunkt der praktischen Aufgaben des heutigen sozialistischen
Aufbaus betrieben werden, indem dabei diejenigen Anschauungen stracks (neu-
klonno) enthüllt werden, die der leninistischen Lehre fremd sind (der Trockismus
und die Ideologie der Rechts-Abweichung).
Die Fragen des Unterrichts im Leninismus, in der Geschichte der VKP (b)
und der Komintern, die eine ungeheure politisch-erzieherische Bedeutung haben,
heischen die Durchführung einer Reihe unaufschiebbarer konkreter Maßnahmen:
1. Die Hochschulen und die kommunistischen Hochschulen haben sich in
ihrem Verhalten zum Unterricht im Leninismus, der Geschichte der VKP (b)
und = Komintern als selbständiger grundlegender Lehrfächer entschieden um-
zustellen.
2. Auf die Ausbildung hochqualifizierter Kaders für Forschung und Lehre
im Leninismus, der Geschichte der VKP und der Komintern ist ernste Aufmerk-
samkeit zu richten, da konstatiert werden muß, daß die Zahl der Kaders offen-
sichtlich unzureichend ist. Dies gilt insbesondere für den Unterricht in der Ge-
schihte der Komintern, wo es um Kaders völlig unbefriedigend steht; dazu
kommt, daß die Erforschung und der Unterricht der Geschichte der Komintern
unter den heutigen Bedingungen, beim Anwachsen der Weltrevolutionsbewegung,
einen der wichtigsten Hebel für eine internationale Erziehung der breiten prole-
tarischen Massen bildet.
8. Auf das fast völlige Fehlen von Literatur zur Geschichte der Komintern
und der ausländischen kommunistischen Parteien ist ernste Aufmerksamkeit zu
richten; deswegen wird der Gesellschaft der marxistischen Historiker aufgetragen,
zusammen mit dem Lenin-Institut ein kollektives Lehrbuch zur Geschichte der
Komintern herauszugeben, ebenso in Form von Lehrmitteln Dokumente zur Ge-
schichte der ausländischen kommunistischen Parteien und der westeuropäischen
proletarischen Revolutionen zu veröffentlichen.
Es wird festgestellt, daß die von der Gesellschaft einberufene Beratung für
Fragen des Unterrichts im Leninismus, der Geschichte der VKP (b) und der
Komintern bedeutenden Einfluß auf eine Verbesserung des Unterrichts in diesen
Disziplinen haben muß; daher erscheint die Einberufung einer Gesamt-Unions-
konferenz der wissenschaftlichen Arbeiter, die auf diesen Gebieten arbeiten, sehr
erwünscht; auf einer solchen Konferenz sollen eine Reihe von Referaten gehalten
werden, die die wichtigsten und aktuellsten Fragen behandeln.
(Aus den Izvestija Nr. 62/8909 v. 4. März 1930; vgl. auch „Istorik-Marxist“ H. 14.)
203
BUCHERBESPRECHUNGEN
Josef Schränil: Die Vorgeschichte Böhmens und Mährens, mit
einem Einleitungskapitel über die ältere Steinzeit von Hugo
Obermaier. — Grundriß der slavischen Philologie und Kultur-
geschichte, herausgegeben von R. Trautmann und M. Vasmer.
Se Leipzig, Walter de Gruyter & Co., 1928. 375 S. mit
eln.
Lange Zeit hindurch konnte die Vorgeschichtsforschung in Böhmen mit dem
allgemeinen Fortschritt der Vorgeschichtswissenschaft nicht Schritt halten. Einen
großen Aufschwung hatte sie vor Jahrzehnten durch die Arbeiten des Prager
Museumsdirektors Pit erfahren, der mit 5 Eifer für die Bekanntgabe der
wichtigeren böhmischen Bodenfunde in Bild und Schrift Sorge har. Pid
ist es aber auch hauptsächlich zuzuschreiben, daß die böhmisch e Forschung der
Vorkriegszeit sich in eine Sackgasse verrannt hat. Er versuchte ein System von
Bevölkerungsgruppen vor allem auf Grund der Bestattungsformen in Böhmen auf-
zustellen, dem zuliebe er die methodischen Grundlagen der neuzeitlichen Boden-
forschung, Chronologie und Typologie, beiseite schob. Zeitlich und kulturell
völlig verschiedene Fundgruppen suchte er zusammenzuschweißen, wenn sie aus
gleichartigen Grabformen herstammten. Eine solche Fehlkonstruktion, die be-
sonders nachhaltig und verderblich gewirkt hat, war die Verknüpfung der bronze-
zeitlichen Urnenfelderbevélkerung mit der germanischen Hinter t der
ersten Jahrhunderte nach Chr. Geburt zu einem einheitlichen Volk der Urnen-
gräber, das als urslavisch angesprochen wurde. Während die Unhaltbarkeit der
Pitschen Aufstellungen in Deutschland bald erkannt wurde, ließ die große
Autorität von Pit in Böhmen selbst erst verhältnismäßig spät eine kritische Be-
handlung seiner Theorien aufkommen, die geeignet war, der Bodenforschung in
Böhmen den Weg zu ungestörter Entwicklung wieder frei zu machen.
Diese Krisis in der Geschichte der böhmischen Vorgeschichtsforschung ist jetzt
ücklicherweise völlig überwunden. Die böhmischen und mährischen Ce ien
mühen sich mit anerkennenswertem Erfolge, das verlorene Terrain im wissen-
schaftlichen Wettkampf wieder aufzuholen. Ein schönes Beispiel hierfür ist die
Darstellung der Vorgeschichte des Sudetenlandes aus der Feder Schränils, der so-
eben als Nachfolger von Stocky die Leitung des Prager Museums übernommen
hat, welchem Pie dereinst auch vorgestanden hatte. Eine dem neuen Stande der
Forschung entsprechende Schilderung der gesamten Vorgeschichte Böhmens und
Mährens ist lange gefordert und entbehrt worden. 1925 veröffentlichte der
mährische Forscher Cervinka zusammen mit Rzehak und Obermaier im zweiten
Bande des Ebertschen Reallexikons der Vorgeschichte auf knapp 50 Seiten eine
Übersicht über die Vorzeit der beiden Sudetenländer, die sich bewußt die Ergeb-
nisse der 55 zunutze macht und in den Hauptzügen ein treffendes
Bild zeichnet. So wertvoll und anregend diese kurze Behandlung ist, so nachteilig
ist es, daß sie nach der Gesamtanlage des Lexikons mit dem Beginne unserer Zeit-
rechnung abschließen und die gesamte germanische und slavische Frühgeschichte
ausschließen mußte.
Ein Jahr später brachte der Wiener Universitätsprofessor Menghin eine Ein-
führung in die Urgeschichte Böhmens und Mährens im Sudetendeutschen Verlage
Franz Kraus (Reichenberg) heraus. Auf 118 Seiten gibt er eine Darstellung in
einem Guß von der Altsteinzeit bis zur Merowinger Zeit; nur die slavische Epoche
findet also in seinem Buche keine Berücksichtigung. Sein Bestreben geht weniger
dahin, ein eingehendes, lückenloses Bild der Fundgruppen des Sudetenlandes zu
bieten, als diese in die Entwicklung der gesamteuropäischen Kulturen richtig einzu-
ordnen. Menghin ist mit dieser Lösung dem allgemeinen Bedürfnis glücklich ent-
egen gekommen, wenn auch naturgemäß ein solches Werk, das viel Neuland zu
N hat, nicht ganz schlackenlos ausfallen kann.
204
Wieder ein Jahr später begannen die Lieferungen von Schränils Vorgeschichte
Böhmens und Mährens. Schränil erfaßt in seinem Buche zum ersten Male die ge-
samte Vor- und Frühgeschichte einschließlich der slavischen Periode. Er packt
seine Aufgabe anders an als Menghin. Mit großer Sorgfalt und Genauigkeit sucht
er alle Kulturen des Sudetengebietets und ihre Einzelformen dem Leser vorzu-
führen. So nimmt sein Text nicht nur den dreifachen Raum des Menghinschen
Buches ein, sondern wird auch von einer erfreulich reichen Zahl von Abbildungen
begleitet, die auf 74 Tafeln vereinigt sind. Dieser Bilderatlas ist ein überaus
wertvoller Bestandteil des Werkes. Die Abbildungen sind mit Geschick und Ver-
ständnis ausgewählt und in der Hauptsache nach guten Photographien hergestellt.
Nur ein Mangel macht sich verschiedentlich bemerkbar. Der Verfasser hat dem
begreiflichen Wunsche, möglichst viele Gegenstände darzustellen, oft zu sehr auf
Kosten der Klarheit der Wiedergabe nachgegeben, die bei dem kleinen Maßstabe
naturgemäß leiden muß. Aus der Arbeit spricht in allen ihren Teilen die enge
Vertrautheit des Verfassers mit dem Quellenstoff. Bei der eingehenden Be-
schreibung der Fundtypen leitet ihn aber auch wieder eine bisweilen übertriebene
Genauigkeit; daher ist der Text zu stark mit reinen Formenschilderungen belastet
und insbesondere für Fernerstehende in diesen Teilen zu spröde und schwer lesbar.
Freilich muß zugegeben werden, daß bei dem oben berührten Stande der Boden-
forschung in Böhmen und Mähren viele Vorarbeiten in diese Gesamtdarstellung
aufgenommen werden mußten, die in anderen Gebieten bereits durch Einzelunter-
suchungen erledigt sind. Auf alle Fälle hat die gewissenhafte Art der Darstellung
Schränils den Vorteil, daß man sein Buch stets gern und nutzbringend als Nach-
schlagewerk zu Rate ziehen wird.
Die ältere Steinzeit ist ebenso wie bei der Cervinkaschen Behandlung Böhmens
und Mährens Obermaier übertragen worden. Leider ist keine Gelegenheit ge-
nommen worden, durch neue Abbildungen den großen Aufschwung der mährischen
Paläolichforschung zu illustrieren. Die übrigen Vorzeitepochen hat Schränil
selbst bearbeitet. Bei der jüngeren Steinzeit kann er sich vor allem auf die um-
fassenden Untersuchungen Stockfs stützen. In dem Abschnitt über die ältcste
Bronzezeit fällt an ply auf, daß sich Schränil von seiner in einer früheren Ab-
handlung aufg ten absoluten Chronologie, die wenig Anerkennung gefunden
hat, jetzt lossagt. Setzte er bisher die ältere Stufe der Aunjetitzer Kultur in die
Zeit von 1700 bis 1500 und die jüngere von 1500 bis 1200, so nähert er sich nun-
mehr den allgemein gebräuchlichen höheren Zahlenwerten. Eine gewisse Unsicher-
heit scheint bei ihm in dieser Frage noch zu bestehen, weil er einmal (S. 92) den
beiden Stufen das 19. bis 17. und 17. bis 15. Jahrhundert v. Chr. einräumt, sie
dann aber wieder (S. 115) in die Zeit von 1900 bis 1700 und von 1700 bis 1500
v. Chr. stellt. Ist die älteste Bronzezeit Böhmens und Mährens recht gut erforscht,
so bleiben bei den folgenden Stufen der Bronzezeit und ältesten Eisenzeit noch
viele Fragen zu beantworten. Schränil sieht für sein Arbeitsgebiet noch keine
Möglichkeit, die bronzezeitliche Kultur des sogenannten Lausitzer Typus aus der
Aunjetitzer Stufe abzuleiten, wie es bei den nahe verwandten Erscheinungen in
Schlesien nachgewiesen worden ist. Er versucht vielmehr das Auftreten der Lau-
sitzer Kultur durch eine Einwanderung aus dem Norden zu erklären. Dabei gibt
er selbst zu, daß die Nachkommen der Aunjetitzer Kultur in Böhmen, die er —
hier ganz nach altem Pitschen Muster — allein an dem Bewahren der alten
Körpergrabform erkennen will, in der Lausitzer Kultur aufgegangen sind. Wie
Schränil selbst hervorhebt, bedarf es noch vieler sachgemäßer Grabungen, ehe man
die einzelnen Bronzezeitstile in Böhmen schärfer und sicherer voneinander scheiden
kann. Insbesondere bleibt die Herausarbeitung einer genaueren relativen Chrono-
logie der Stilgruppen noch eine Aufgabe der Forschung. Alsdann wird sich auch
erweisen, ob z. B. die Kultur der jüngsten Bronzezeit in Ostböhmen wirklich durch
Einwanderung aus Schlesien zu erklären ist. Der mährischen Podolerkultur, die
von Červinka richtig erkannt, von Menghin aber fälschlich der Frühhallstattzeit
zugeschrieben wurde, weist Schränil wieder ihren richtigen Platz in der Spät-Hall-
stattzeit an. Mit erfreulicher Klarheit und triftigen Gründen deckt er die Fehler
der bereits oben erwähnten Urslawentheorie auf. Die Kultur der Urnenfelder-
bevölkerung verschwindet auch nach ihm im 5. Jahrh. v. Chr. und zeigt keinen
205
Zusammenhang mit der mehr als ein Jahrtausend später aufkommenden slavischen.
Recht verwirrend ist es, daß Schränil ın der kelti Besiedlungsepoche ohne be-
sondere Begründung die beiden, seit Tischler allgemein als Früh-Latönezeit und
Mirtel-Laténezeit bezeichneten Stufen zusammenfassend als „Mittel-Latène-
Be aufführt. Die in Böhmen so reich vertretene Früh-Latènezeit ist auch
i der Auswahl der Abbildungen außerordentlich stiefmütterlich behandelt
worden. Die germanische Epoche der Sudetenländer wird von Schränil kurz, aber
in den Hautpzügen treffend geschildert. Mit Recht wendet er zich — ebenso wie
vor ihm Preidel — gegen die falschen Folgerungen, die Simek auf Grund histori-
scher Nachrichten über die Sitze der Markomannen zicht.
Von besonderem Werte ist Schrénils Behandlung der slavischen Zeit (600 bis
1100 n. Chr.), weil, wie bereits erwähnt wurde, eine zusammenfassende Dar-
stellung dieser Epoche bisher völlig gefehlt hat. Obwohl er die germanische Be-
siedl bis zur Wende des 6. zum 7. Jahrhundert andauern läßt, möchte er die
essten Slaven schon vor dem 6. Jahrhundert nach Böhmen einwandern lassen. Für
diese zu frühe Ansetzung kann er jedoch keine archäologischen Beweisstücke auf-
führen. Die tschechischen Slaven kamen nach Schränil aus ihrer Heimat nördlich
der Karpathen über das Weichsel- und Odergebiet nach Mähren und Böhmen. Der
ältere Abschnitt der slavischen Besiedlun e bis zum Ende des 9. Jahr-
hunderts ist ebenso wie in ganz Ostdeutschland durch Funde schlecht zu belegen.
Wichtig sind hier die awarischen Einsprengsel, insbesondere Schmucksachen, in den
slavischen Kulturresten. Weit zahlreiher und entwickelter sind die Funde des
10. und 11. Jahrhunderts, also der Zeit der Begründung der Herrschaft der
Przemysliden. Mit der Einführung des Christentums und dem Verbot der heid-
nischen Bestattungssitten hört auch das wichtigste tage des Archäologen
auf. Die reichen Gräber von Kolin und Schellenken mit ihren eigenartigen
Schmuckstiicken bilden den Schlußstein für die auf den Bodenfunden fußende
Forschung. Sie zeugen von den starken damaligen Beziehungen der Sudeten-
länder mıt dem Osten Europas. Die beiden Goldanhänger aus Namiest in Mähren
freilich, die Schrénil auf Tafel XLIX, 15 und 17 abbildet, gehören nicht in die
ee Zeit, sondern entstammen einem germanischen Funde aus der Zeit um
400 n. Chr.
Für eine etwa notwendig werdende Neuauflage möchten wir den Verfasser
bitten, seinem wichtigen Handbuch dann auch Siedlungskarten der einzeinen
Epochen beizugeben. Die kulturellen Unterschiede innerhalb des Sudetengebietes,
insbesondere die fast während der ganzen Vorzeit bestehende Kulturgrenze
zwischen Süd- und Nordböhmen könnten dann dem Leser viel eindringlicher und
augenfälliger nahegebracht werden.
Breslau. M. Ja hn.
Dr. Blažena RyncSov4: Listäf a listinäf Oldřicha z Rožmberka z let
1418—1462, sv. I, 1418—1437 (Brief- und Urkundensammlung
Ulrichs von Rosenberg 1418—1462, Band I, 1418—1437).
Herausgegeben 1929 im Auftrage des Tschechoslovakischen Histo-
rischen Instituts in Prag. Prag 1929.
Das böhmische Geschlecht der Rosenberge ging aus dem Stamm der Witko-
witze hervor, deren Name den deutschen Historikern durch die Hypothese ihrer
deutschen Herkunft bekannt ist. Das Gebiet der südböhmischen Herrschaft der
Witkowitze, bzw. Rosenberge reichte mit einigen Gütern in das benachbarte
bayerische und österreichische Land und die gegenseitigen Beziehungen wurden
durch Heiraten von Angehörigen des rosenbergischen Geschlechts mit 0
der ober österreichischen Familien Wallsee und Schaumburg schon seit dem 13. Jahr-
hundert befestigt. Aber nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Ver-
kehr pflegte besonders der bedeutsame böhmische Politiker des 15. Jahrhunderts
Ulrich von Rosenberg mit Bayern und Osterreich. Es ist anzunehmen, daß die
Herausgabe seiner Korrespondenz eine Menge Material für die Geschichte der
bayerisch- böhmischen Beziehungen bringt, da ja gerade er eine wichtige Rolle in
der Frage der bayerischen Kandidatur auf den böhmischen Thron nach König
Albrechts II. Tode gespielt hat. Bereits im obenerwähnten I. Bande begegnet man
206
mehreren Stücken, die private wie auch öffentlich politische Beziehungen Ulrichs
von Rosenberg mit den bayerischen Herzögen und Passauer Bischöfen aufzeigen.
Ein reicheres Material für diese Beziehungen wird erst der bald erscheinende II. Band
dieser Edition bringen. Deshalb wird der über die deutsch-bömischen Beziehungen
im 15. Jahrhundert arbeitende deutsche Historiker zu dieser Edition greifen müssen,
welche neben den auf Bayern bezugnehmenden Dokumenten auch solche hat, die
die Beziehungen Böhmens zu Oberösterreich 5 S
Prag. I. B. Novak,
Vorstand des Cechoslovakischen historischen Instituts.
Šrobár, Dr Vavro: Osvobodené Slovensko. Pamäti z rokov
1918—1920. Sväzok prvý. — Prag, „Čin“, 1928. 480 S., ein
Photo, eine Landkarte.
Vavro Šrobár, Mitunterzeichner des ersten Prager Gesetzes vom 28. Oktober
1918, dann čechoslovakischer Gesundheitsminister und bevollmächtigter Minister
für die Slovakei, hat ein Buch geschrieben, das als Material außerordentlich wert-
voll, in der Art seiner Anlage weniger befriedigend ist. Es sind keine bloßen
persönlichen Memoiren (pamäti); aber die Erweiterung zu einer Gesamtdarstellung
wird nur stellenweise und dann so unvollständig versucht, daß wichtigste Ereig-
nisse wie die Maifeier von Liptovský Svätý Mikuláš, das Pittsburger Abkommen,
die Deklaration von Turčiansky Svätý Martin bei weitem zu kurz kommen. Auch
der polemische Gehalt des Buches schwankt nach Stärke und Deutlichkeit außer-
ordentlich.
$robär ist entschieden Unitarier. In einer historischen Einleitung bemüht er
sich um den Nachweis, daß seit dem Falle des großmährischen Reiches im Grunde
alle Zechischen nationalen Bestrebungen auch die Slovakei mit einbezogen hätten.
Überzeugender ist S. jedoch, wenn er die £echoslovakische Einheit nicht als histori-
sches Faktum, sondern als Postulat verficht. Noch jetzt und auf ein weiteres
Jahrzehnt hinaus könne von einer slovakischen Autonomie schon deshalb nicht die
Rede sein, weil das Magyarische sich als Umgangssprache, namentlich bei den „Neu-
slovaken“, noch stark behaupte (wofür € eine amüsante indirekte Bestätigung
liefert, indem er es nicht für nötig hält, magyarische Ausdrücke zu übersetzen).
Hierzu Simmt auch das von S. in extenso mitgeteilte Verzeichnis national-
slovakisch gesinnter Persönlichkeiten, das die kgl. ungarische Regierung 1918 auf-
stellen und 1918 ergänzen ließ, und das nur wenige hundert Namen umfaßt. Š.
ist sich offenbar dessen bewußt, daß auch in einer demokratischen Welt politische
Neuordnungen meist von einer kleinen, aber energischen Minderheit gemacht und
erst nachträglich durch die Mehrheit legalisiert werden, und sieht demgemäß in
i Konstatierung kleiner Zahlen keine Diskreditierung der nationalen Be-
EEN sondern im Gegenteil eine Mahnung zu energischerem Vorgehen.
Als seine Gegenspieler betrachtet 5. neben den Magyaren (deren verzweifelte
Bemühungen um Rettung der Slovakei auch unter Kérolyis Herrschaft durch dieses
Buch erneut bestätigt werden) vor allem Hlinka und Hodža. Hlinka erscheint
weniger als individuelle Persönlichkeit denn als Exponent einer klerikalen Rich-
tung, die, ohne gegen nationale Interessen gleichgültig oder ablehnend zu sein, sie
jedoch immer hinter den kirchlichen zurücktreten läßt. Diesen Primat religiöser
Erwägungen findet man übrigens nicht nur bei den Katholiken, sondern auch
bei den Juden der Slovakei, die laut zahlreichen Belegen des Srobdrschen Buches in
völliger Verkennung der machtpolitischen Situation und ihrer wohlverstandenen
eigenen Interessen sich eigensinnig hinter ein Magyarentum stellten, das damals
freilich noch durch den Namen Károlyi symbolisiert wurde. Ganz persönlich zu-
itzt sind Š.s Angriffe gegen Hodža, den „politischen Dichter“. Während des
Krieges habe er zweı Eisen im Feuer gehabt. Als er aber nach dem Umsturz am
22. November 1918 als echoslovakischer Vertreter (delegát; er selbst nannte sich
bezeichnenderweise vyslanec, Gesandter; vgl. hierzu Beneš, Světová válka, Bd. III,
Dok. Nr. 224) und Nachfolger Emil Stodolas nach Budapest geschickt wurde, da
habe er — wirft 5. ihm vor — das von Prag in ihn gesetzte Vertrauen ent-
täuscht. Indem er von der ungarischen Regierung die Anerkennung eines auto-
nomen „Imperiums des Slovakischen Nationalrates“ verlangte, habe er Fragen an-
14 NF 6 207
geschnitten, die nicht mehr zur Kompetenz Budapests, sondern zu der Prags, evtl.
erjenigen der Friedenskonferenz gehörten, und sei so Vater des hungaristischen
Autonomismus in der Slovakei geworden, den er später so oft habe selbst be-
kämpfen müssen. Insbesondere aber verurteilt S. natürlich Hodžas Demarkations-
linien-Abkommen vom 6. Dezember 1918. Hierin wird ihm die historische Kritik
recht geben müssen. Hodžas Rechtfertigung dieses eigenmächtigen Schrittes (Beneš,
a. a. O., Dok. Nr. 226) als einer dringenden Notwendigkeit des Augenblicks und
nur des Augenblicks vermag nicht zu überzeugen, wogegen die Gefahr einer Be-
einträchtigung der definitiven &echoslovakischen Grenzlinie durch den moralischen
Eindruck dieser Abmachung sehr erust war. Allerdings hätte 5. seine Kritik auch
auf diejenigen Kreise in Prag ausdehnen müssen, welche trotz der wiederholten
egenteiligen Weisungen des in Paris befindlichen Außenministers (Beneš, a. a. O.,
Dok. Nr. 214, 216) Hodža auf den von Stodola geräumten Posten nach Budapest
schickten und dort beließen.
Außer diesen hochpolitischen Fragen wird auch die politische Tagesarbeit
durch §.s Buch, namentlich durch die darin enthaltenen Originalprotokolle der von
ihm als Minister für die Slovakei geleiteten Sitzungen, wirksam beleuchtet. Störend
ist, daß neben solchen Originaldokumenten sich ein Dokument aus zweiter Hand
ungebührlich breit macht: Kristöffys Buch „Magyarország Kälväridja“, welches den
ganzen, die Zersetzung der österreichisch-ungarischen Monarchie schildernden,
ersten Teil fast ausschließlich beherrscht. S.s Werk schließt einstweilen mit dem
Anfang des Jahres 1919 ab; ein zweiter Band ist versprochen.
Berlin. LeopoldSilberstein.
NOTIZEN
Vom 10, bis 14. Juni fand in Breslau die XXII. Tagung des Allgemeinen
Deutschen Neuphilologen-Verbandes statt. Der schon seit einiger Zeit disku-
tierte Gedanke der Gründung einer slavistischen Sektion hatte auch gerade bei
den im praktischen Schuldienst befindlichen Slavisten deshalb eine günstige Auf-
nahme gefunden, weil die ganz westlich eingestellte preußische Schulreform für
den Unterricht in den slavischen Sprachen keine angemessene Berücksichtigung bietet.
Breslau war seiner Lage nach der gegebene Ort, den Versuch der Gründung
einer slavistischen Sektion zu machen. Wir sind dem Deutschen Neuphilologen-
Verbande auch äußerst dankbar, daß er uns Gelegenheit bot, uns seiner um-
fassenden Organisation einzugliedern. Zu den vorbereitenden Sitzungen waren
Prof. Diels- Breslau und der Unterzeichnete vom Ausschuß der Tagung hinzu-
gezogen worden. Das Vortragsamt für die slavische Philologie wurde Prof.
Diels übertragen. Ein wissenschaftliher und ein die praktischen Fragen des
Schulbetriebes behandelnder Vortrag wurden vorgesehen. Den vissenschaftlichen
Vortrag hielt Prof. Dr. Gesemann- Prag am Mittwoch den 11. Juni um
17 Uhr über das Thema: „Vom Wesen des Volksliedes, auf-
gezeigt an epischen und lyrischen Volksliedern der Slaven
(mit Grammophon beispiele n).“ Der Vortrag fand im voll besetzten
Raume des Auditorium maximum unserer Universitit statt und erregte mit
seinen reichen Anregungen das lebhafteste Interesse aller Zuhörer.
Die konstituierende Sitzung der neuen Sektion wurde dann am Donners-
tag, den 12. Juni, im Auditorium V um 17 Uhr mit den Ausführungen des
Studienrats Dr. Dittrich - Görlitz über die „Aufgaben des slavis chen
Unterrichts“ eingeleitet, an den sich eine sehr lebhafte Debatte anschloß. Diese
zeigte aber, wie doch in den für diesen Unterricht grundlegenden Fragen die Meinungen
noch stark auseinandergehen und einer weiteren Klärung bedürfen.
Die Beteiligung war erfreulich groß. Von den Anwesenden traten 17 der
neuen Sektion bei. Auf den Vorschlag des bisher prisidierenden Prof. Diels
wurde als 1. Vorsitzender der Sektion der Unter zeichnete, als Schrift-
führer Studienrat Dr. Dittrich gewählt. Nach den IIniversitätsferien wird
sich der Vorstand mit den Fachgenossen in engere Fühlung setzen.
E. Hanisch
208
OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU
JAHRBUCHER
FOR
KULTUR UND GESCHICHTE
DER SLAVEN
IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS
HERAUSGEGEBEN VON
FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-
BRESLAU, ROBERT HOLTZMANN-BERLIN, JOSEF
MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ,
KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER- WIEN,
WILHELM WOSTRY-PRAG
SCHRIFTLEITUNG:
ERDMANN HANISCH
*
N. F. BAND VI HEFT II UND III
1930
— — . «ö ͤ ««««« ? ' ⏑ꝗ—⏑t,.lt ü
PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG
BRESLAU, RING 58
INHALTS-VERZEICHNIS
I
ABHANDLUNGEN
Dobrovsky als Orientalist und sein Weg zur Slavistik von Dr. Theodor
Feinki !!!!! Ss a ES OB dei e E a o
Der Messianismus bei den Slaven von Prof. Dr. I. Mirtschuk ... .
II
MISCELLEN
Sophie Kovalevskij von Helene Simon- Eckardt.
Conférence des Historiens des Etats de Europe Orientale et du monde Slave
von Dr. Otto Forst- Battaglia¶a 2 2 0.
III
LIT ERAT URB ERICH T E
Neue Ausgaben siidslavischer poetischer Literatur und Quellen zur Kultur-
und Geistesgeschichte von Josef Mattl
Die Quellen zur Cechoslovakischen Geschichte in den ersten zehn Jahren der
Cechoslovakischen Republik von V4clavHruby .......
Neuere Literatur zur Kirchengeschichte Polens von Karl Völker
Archeion von St. Zagaczkowski (Lemberg) ........2..
Przegląd Bibljoteczny von E. Koschmieder...........
Drei Polnische Festschriften von Dr. Otto Forst- Battaglia
VI
BÜCHERBESPRECHUNGEN
IV
ZEITSCHRIFTENSCHAU .....
V
NOTIZEN
Jan Ptasnik von A. Wagner (Lemberg) - . . . 2: 2 2 2 2 2 2 2.
1
ABHANDLUNGEN
—— EAEE
DOBROVSKÝ ALS ORIENTALIST UND SEIN WEG
ZUR SLAVISTIK
Von
Dr. med. und phil. Theodor Frankl, Prag.
I
Es ist kaum einem Menschen vergönnt, am Anfang seiner Lauf-
bahn seine Lebensaufgabe klar vor sich zu sehen und einem einmal
gesteckten Ziel auf gerader Bahn entgegenzustreben. Auch ein genial
Begabter muß oft lange tasten und suchen, ehe er zu einem eigent-
lichen Arbeitsgebiet gelan Und so bildet auch die Entwicklung
Joseph Dobrovskys durchaus keine Ausnahme. Vas aber bei
Betrachtung des Lebenslaufs dieses großen Forschers, der zu den Be-
ründern der tschechischen und slavischen 5 gehört,
nders auffällt, sind die Schwierigkeiten, die er überwinden mußte,
um überhaupt studieren zu können und dann die Umwege, auf detien
er zu der Arbeit gelangte, die ihn zu einem der bedeutendsten
Männer des tschechischen Volkes werden ließ.
Merkwürdig ist schon seine Herkunft. Seiner Abstammung
nach ist Dobrovsky zweifellos Tscheche (seine Vorfahren und auch
sein Vater lebten Generationen hindurch in Solnice in Böhmen), er
wurde aber am 17. August 1753 bei Gyatmat in Ungarn geboren,
eine Tatsache, die auch den ungarischen Schriftstellern dann Anlaß
ab, ihn später, als er schon brühmt war, zu den Ihrigen zu rechnen.“)
rigens ist es eine Tatsache, daß er auch in den Schulzeugnissen
als „Ungarus Jermetensis“ bezeichnet wird, was uns beweist, daß das
Kind Dobrovsky eben als richtiger Ungar betrachtet werden kann.
Sogar sein ursprünglicher Name Doubravsky wurde vom ungarischen
Geistlichen zum heute bekannten „Dobrovský“ entstellt.
Schon während der ersten Lebensjahre Dobrovskys verließ sein
Vater das Militär und ließ sich in Böhmen zwar, aber im deutschen
Bischofteinitz, nieder, wo der Knabe natürlich vollkommen deutsch
erzogen wurde. Bis jetzt also Nichts, was den Jungen auf den Weg
1) Fr. Palacky,
209
des Tschechentums oder gar der Slavistik bringen könnte. Wie
Palack selbst zugibt, wurde Dobrovsky mit Recht zu den
Deutschen gezählt, zu denen er auch wirklich nach seiner Erziehung
und seinen Schriften viel mehr gehört, als zu den Tschechen.
In Bischofteinitz war der Vater D.s inzwischen gestorben und
er erhielt im zweiten Manne seiner Mutter, einem eingedeutschten
Kroaten einen grausamen Stiefvater. Das einzig Gute, das D. seinem
Stiefvater nachträgt, ist, daß er ihm ein Paar Brocken Kroatisch,
also immerhin eine slavische Sprache beigebracht hat.“) So hat D.
bis zu seinem 10. Lebensjahr keine Ahnung vom Tschechischen ge-
habt und es ist auch jetzt nur ein Zufall, der ihn in die tschechi -
sche Stadt Deutsch-Brod gebracht hat.
Wie gesagt, konnte D. mit 10 Jahren kein Wort Tschechisch.
Sein Stiefvater hätte sich kaum um seinen Stiefsohn weiter ge-
kümmert, den er höchstwahrscheinlich in die Lehre gegeben hätte,
aber D.s Mutter, die für ihn litt, und der Pfarrer, der die glänzenden
Fähigkeiten des Jungen sah, haben den Mann überredet, den Knaben
doch in die Mittelschule zu geben. Und nun geschah es, daß der
Stiefvater einen Schuldner in Deutsch-Brod hatte, der nicht zahlen
wollte, und daher auf die glänzende Idee kam, den jungen Dobrovsky
nach Deutsch-Brod in die Schule zu geben, wo er die Schuld „ab-
zuessen“ hätte. So ist der künftige Slavist schließlich doch in eine
tschechische Umgebung geraten (1763), wo man in der Schule zwar
lateinisch unterrichtete, aber sich doch oft mit Tschechisch ausge-
holfen hat, ebenso wie man sich in den Schulen der deutschen
Gegenden, wohin Dobrovský sonst gekommen wäre, wenn er über-
haupt hätte in eine Schule kommen können, mit Deutsch auszuhelfen
gesucht hat.“
In Deutsch-Brod wurde Dobrovský nur als Deutscher behandelt.
In einem Briefe an Hanka vom 30. 8. 1828 schreibt Dobrovsky
von seinem Leben in der Schule:“
„Als ich in Deutschbrod in die Schule ging (etwa 1764, 1765)
schoben (suli) die böhmischen Knaben na némce (d. i. mich) manchen
Bubenstreich; sie selbst aber spotteten, indem sie mir wiederholt
nachschrien: „Němec brouk, hrnce tlouk, pod lavici je házel“; auch
warfen sie mir Steine nach und schlugen meinen Kopf blutig (Ted’
mužové mně o mozek pfipraviti chtzih. Woher nun meine Liebe
für Böhmen? Auf * Wohltaten gründet sie sich keines-
wegs.
Als Dobrovsky die vier Klassen der „Lateinischen Schule“ in
Deutsch-Brod absolviert hatte, kam er nach Klattau an das höhere
Gymnasium, und zwar wieder nur deshalb, weil sein Vater auch hier
einen nicht zahlenden Schuldner hatte. Und auch dieser neue Zufall
hat auf das ganze Leben Dobrovskys nachgewirkt. Vahrscheinlich
2) Fr. Palacky.
3) Ivan Snegirev 20 (s. S. 14, Anm. 1).
) Casopis keho Musea, 1870, S. 887.
210
hat Dobrovsky dieser Schule, die von den Jesuiten geleitet wurde,
den ersten Gedanken zu verdanken, Theologie zu studieren, Jesuit zu
werden und in den Orient (Indien) als Missionär zu ziehen. Wir
werden noch unten sehen, was fiir eine wichtige Rolle die Theologie
in der weiteren Entwicklung von D.s wissenschaftlicher Tätigkeit
spielte und vielleicht wan es die od ea Reise nach dem Orient, die,
neben der Theologie, seine besonders eifrige Beschäftigung mit den
orientalischen Sprachen veranlaßte, ein Studium, das ihm später zur
slavischen Sprachwissenschaft brachte.
Im Jahre 1768 wurde D. auch mit dieser Schule glänzend fertig.
Da aber sein Stiefvater scheinbar keine Schuldner mehr hatte, zu-
mindest keine unpünktlichen, so dachte er natürlich gar nicht daran,
den Jungen noch weiter studieren zu lassen. Dobrovsky war aber
on zu weit gekommen, um sich von Brotschwierigkeiten ab-
schrecken zu lassen. Er verließ das Haus seiner Eltern und zog na
Prag, wo er seine Bedürfnisse durch Privatunterricht deckte und sich
so auch weiter den Studien widmen konnte. |
1771 hatte Dobrovsky die Vorklassen, die philosophischen Kurse,
als einer der besten Magister absolviert und trat in die theologische
Fakultät ein. Seine Erziehung bei den Jesuiten und die allgemeinen
Zustände jener Zeit, wo Theologie beinahe das einzige Studium dar-
stellte, dürften ihn dazu bewogen haben. Auch hier zeichnete er sich
im Studium und Diskussionen aus, lenkt die Aufmerksamkeit des
Jesuiten Prof. Stepling auf sich, der es verstand, den jungen Studenten
zu überreden, die Universität zu verlassen und in den Jesuitenorden
einzutreten. So eine tüchtige und abte Kraft wollte man sich
nicht entgehen lassen. Dobrovsky gehorchte, und nicht ungern.
Unter dem Einfluß Steplitz nämlich, der zwar Jesuite, aber Vor-
kämpfer der neuesten Ideen war, sah Dobrovský nunmehr die sach-
liche Erklärung der Bibel, die Hermeneutik, als seinen Lebensberuf
an. Und am Eisen konnte man sich diesen Studien widmen,
wenn man Priester wurde.“) Und so finden wir den 19 jährigen“
Dobrovský 1772 in seinem Noviziate in Brünn, mit Vorbereitungen
für die Missionärstätigkeit und für eine Reise nach Indien be-
Aber noch bevor das Noviziat D.s abgelaufen war, traten Er-
eignisse ein, die seine ganze künftige Laufbahn änderten.
II
Im Jahre 1773 gab der Papst Klemens XIV. der allgemein ver-
breiteten Verbitterung gegen den Jesuitenorden nach und hob den
Orden durch das Breve „Dominus ac Redemptor“ für die ganze
Kirche auf. In verschiedenen Ländern wurde der Orden schon vor-
her gewaltsam unterdrückt (Portugal 1759, Frankreich 1764, Spanien
3) J. Vilek, Dějiny české Literatury, druh, dílu část. prvni S. 175 unten.
©) Dobrovský war schon älter, als es für das Noviziat vorgeschrieben war,
aber Stepling hat durch seinen Einfluß diese Schwierigkeit zu beseitigen gewußt.
211
und Neapel 1767), jetzt aber mußten die einst allmächtigen Ordens-
brüder auch in Osterreich, bzw. Böhmen, weichen. Der Fall der
Jesuiten, der den Plan D.s, fenn zu werden und sich der Missions-
tätigkeit zu widmen, gewaltsam durchkreuzte, aufhob, übte auch
durch seine Nachwirkung auf die Prager theologische Fakultät, wohin
sih Dobrovský nadh Abbruch seines Noviziates begeben hat, einen
weiteren Einfluß auf D.s Studien und Laufbahn aus. Die Ex-Jesuiten
wurden natürlich vom Lehrerbestand der Universität ausgeschlossen,
zumindest diejenigen unter ihnen, die der alten unproduktiven
Scholastik ergeben waren. Wenige sogenannte Neu-Jesuiten, zu denen
übrigens auch Stepling gehörte, wurden aber belassen. Zum Haupt
der Theologishen Fakultät wurde der berühmte Scholastenfeind
Rautenstrauch ernannt, der auch 1774 mit den Reformen an der
Fakultät begonnen hat. Unter den neugegründeten Lehrkanzeln
wurde besondere Aufmerksamkeit der Hermeneutik des Alten und
Neuen Testaments geschenkt,’) einer Wissenschaft, die gerade zu
dieser Zeit großartige Fortschritte gemacht hat. Schon die Pietisten
haben gegen Ende des 17. Jahrhunderts das Prinzip der Gleich-
wertigkeit der Bibel in allen ihren Teilen durchbrochen, indem
zwischen den einzelnen Biichern nach dem Grade ihrer Erbaulichkeit
unterschieden wurde. Die Deisten dann drängten auf die Unter-
scheidung zwischen Kirchenlehre und Bibel. Der englische Mathe-
matiker William Whiston erklirte (1722) in seinem ,,Essay towards
restoring the true text of the Old Testament“ den massoretischen
Text für eine Fälschung und machte Vorschläge zur Wieder-
herstellung des hebräischen Urtextes auf Grund des samaritanischen
Pentateuchs, der Septuaginta und anderer Übersetzungen und Zitate.
Der Reformierte Alphons Turreth schließlich stellte in seinem „De
Sacrae Sripturae interpretatione tractatus bipartibus“ (1728) den
Grundsatz auf, daß die Heilige Schrift wie alle Bücher zu verstehen
sei. „Das Alles vereinigte sich, um etwa mit der Mitte des 18. Jahr-
hunderts eine neue Periode in der Geschichte der Bibelwisenschaft
heraufzuführen. Die Textkritik gewann immer mehr einen wissen-
schaftlichen Charakter.“)
Dobrovsky wurde von den neuen Richtungen und Gedanken
mitgerissen. Und wohl dank seiner besonderen Begabung fiir Sprach-
wissenschaft, einer Begabung, die sich später auf dem Gebiete der
Slavistik so glänzend zeigen sollte, hat er sich besonders für die
Hermeneutik interessiert, die engstens mit Sprachwissenschaft zu-
sammenhingt. Man merke sich wohl, daß Dobrovsky nie seinen
Neigungen nachgegeben hätte, um Sachen nur deshalb zu studieren,
weil sie ihn interessierten. Er war vor allem Theologe und studierte
7) Auch Dobrovsky selbst sagt darüber (in den Abhandlungen d. königl.
böhmischen Ges. d. Wissensch., 1802, I. Bd. S. 35, siehe auch S. 7 unten): „Nach
Aufhebung der Jesuiten sollten dem Rautenstrauchischen Plane gemäß die bibl.
Sprachen eifriger betrieben, werden.“
6) Bertholet in „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“, herausg. von
F. M. Schiele, Tübingen 1900, S. 1206.
312
semitische Sprachen nur, weil er damit der Theologie zu dienen
glaubte. Seine Neigungen und Begabungen werden ihn nur dazu ge-
racht haben, gerade für diesen Zweig der Theologie mehr Interesse
zu empfinden.
Dobrovsky beginnt nun, Hebräisch und Arabisch mit Fleiß und
Eifer zu betreiben. Die Bibelwissenschaft, die, wie wir oben sahen,
gerade zu dieser Zeit besonderen Fortschritt zu verzeichnen hatte,
war inzwischen schon weit genug gelangt, um die Wichtigkeit des
Studiums der semitischen Sprachen für das Verständnis des Alten
Testaments zu erkennen. Dobrovsky begnügt sich nicht damit, was
ihm die Fakultät beim Studium geben kann, sondern arbeitet tage-
lang selbständig und allein. Und auch hier hat seine besondere
Tüchtigkeit auf diesem Gebiet die Aufmerksamkeit aller auf ihn
gelenkt, und als Dobrovsky 1775 zu Fortunat Durych als Hörer
des Hebräischen kommt, findet dieser sofort an dem eifrigen
Studenten Gefallen, der für eben dieselben Dinge solch ein Interesse
zeigt, für die er, Durych, selbst seit langem eine besondere Schwäche
empfindet. Es entsteht nun zwischen den beiden eine Freundschaft,
die für die wissenschaftliche Entwicklung Dobrovskys entscheidend
werden sollte.
III.
In den Abhandlungen der königl. böhmischen Gesellschaft der
Wissenschaften 1802, Band I, S. 31 ff. finden wir eine Biographie
Durychs aus Dobrovskys Feder, die uns nicht nur sehr wichtige Auf-
schlüsse über das Leben des Gelehrten gibt, sondern auch von hohem
Werte für das Verstandnis des Verhältnisses zwischen den beiden
Männern ist. Nach dieser Biographie war Durych „zu Turnau in
Böhmen am 28. September 1735 geboren“ (S. 31), war also um
18 Jahre älter als Dobrovsky. 1758 hielt er die Priesterweihe und
nach einigen Jahren lehrte er als Lektor seine Ordensbriider, „nach-
dem er sich nicht wie gewöhnlich aus einigen Kapiteln, sondern aus
der ganzen hebräischen Bibel unterzogen hatte, die Theologie und
insbesondere die morgenländischen Sprachen zu Wien: 1765—67 zu
München, seit 1767 durch mehr als zehn Jahre zu Prag“. Wir lesen
dann auf Seite 35: „Nach Aufhebung der Jesuiten sollten dem Rauten-
strauchschen Plane gemäß die bibl. Sprachen eifriger betrieben werden.
Er ward bei dieser neuen Einrichtung des theologischen Studiums
zum königlichen Examinator der griechischen und hebräischen
Sprachen . . ernannt. Dieses Amt versah er durch 10 Jahre bis 1784
und supplierte dabei gelegentlich den Professor der hebräischen
Sprache.
Durych war also, wie Dobrovsky, ein Theologe, der hauptsäch-
lich für orientalische Sprachen Interesse hatte. Wohl gemerkt, ein
Theologe. Wir dürfen auf keinen Fall vergessen, daß es nur die
Theologie war, die sowohl Durych, als auch Dobrovsky die Mög-
lichkeit gab, ohne Gewissensbisse ihrer Neigung zur Sprachwissen-
schaft nachzugehen. Und wenn beide später das ursprüngliche Ziel
213
ihrer Sprachstudien vergaßen und sich mit slavischer Sprachwissen-
schaft ohne jeglichen Zusammenhang mit Theologie befaßten, so
konnte dies nur die Frucht einer Entwicklung sein, die von der
Theologie über semitische Sprachwissenschaft und theologische Sla-
vistik (etwa Untersuchungen über die slavischen Übersetzungen der
Bibel) zur reinen Slavistik führte.
Wenn Durych nun 1775 einen Hörer bekommt, der mit solchem
Eifer den Studien desjenigen Faches oblag, dem er selbst seit langem
ergeben war, so müssen wir uns nicht wundern, wenn zwischen den
beiden Männern ein engeres Verhältnis entstand, als es gewöhnlich
zwischen Lehrer und Schüler zu bestehen pflegt: Sie konnten nämlich
gemeinsame Studien betreiben.
„Schon ein Mann von mehr als vierzig Jahren“ — schreibt weiter
Dobrovsky (S. 33) — „lernte er mit mir die arabische Sprache. Bald
suchten wir alte hebräische Grabschriften auf, bald verglichen wir
hebräische Handschriften, wenigstens in wichtigen Stellen, für de-
_ Variantensammlung.... Gleiche Studien verbanden uns immer
näher.“
De-Rossis „Variae lectiones Vet. Testamenti“ (Parmae 1784) er-
schienen viel später. Tatsächlich aber hat diese gemeinsame Arbeit
von Dobrovsky und Durych schon viel früher Früchte getragen. Wir
befinden uns nämlich in einer Zeit, wo die Textkritik darin bestand,
aß man aus verschiedenen Varianten den Originaltext heraus-
zubekommen suchte. „Kennicott verglich in Gemeinschaft mit
mehreren Gelehrten gegen 1200 hebräische Handschriften und legte
die Ergebnisse der Vergleichung in seinem zwei Foliobinde um-
fassenden „Vetus Testamentum hebraicum cum variis lectionibus“,
Oxonii 1776 und 1780, nieder: Die Ergebnisse brachten ziemliche Ent-
täuschung: denn die mit Eifer aufgespürten Handschriften erwiesen
sich alle als ziemlich jung, waren reich an Schreibfehlern, aber arm
an wichtigen Varianten. Bestätigung fanden diese Ergebnisse durch
de-Rossi in seinen vier Quartbände umfassenden „Variae lectiones ex
immensa MSS congerie haustae, Parmae 1784—88“. Damit war end-
gültig erwiesen, daß auf dem Wege der Vergleichung hebräischer
Handschriften für die Hauptfehler des alttestamentlichen Textes keine
Heilung zu schaffen war. Um so mehr schenkte man den übrigens
schon von Kennicott mitabgedruckten samaritanischen Texte des
Pentateuchs und vor allem der Septuaginta Beachtung.“)
Aber noch lange, bevor all diese Enttäuschungen ans Licht
kamen, als man noch alle Hoffnungen gerade auf Zusammensuchen
und Vergleichen hebräischer Handschriften legte, haben sich die beiden
gelehrten Theologen alle Mühe genommen, auch die ihnen zugäng-
lichen Handschriften zu durchsuchen. Die Bibliothek des Klemen-
tinums und die Privatsammlungen in Prag wurden durchstöbert.
Dobrovsky hat sich eine sehr interessante Sammlung von Fragmenten
von Bibelhandschriften angelegt, die aus bei Juden beschlagnahmten
2) S. 6, Anm. 2.
214
Handschritten besteht, die man zum Binden christlicher Bücher und
zum Beschreiben verwendete. Diese Sammlung befindet sich noch
heute im Landesmuseum in Prag und die von Dobrovsky und Durych
herausgefundenen Varianten des Bibeltextes in einigen dieser Frag-
mente sind die erste Publikation Dobrovskys (wobei er sich sogar
genierte, seinen Namen zu nennen) in der Orientalist. Bibliothek
von Michaelis, Göttingen 1777, Band XII S. 106—111 unter dem
Titel „Pragische Fragmente hebr. Handschriften“. “)
So hat Dobrovsky begonnen. Es war das erste, wissenschaftlich
unbedeutende Werk eines Gelehrten, der kurz darauf, nachdem er
seinen richtigen Weg in der Wissenschaft gefunden hatte, die ganze
Welt von sich reden machte.
IV.
Während des schon oben (S. 213 unten) erwähnten zweijährigen
Aufenthalts Durychs in München ist aber das geschehen, was Durych,
und später auch Dobrovskf, einen Schritt näher zu ihrem eigent-
lichen Lebensberuf — der Slavistik — bringen sollte. In seinem für
die Kenntnis der Beziehungen von Durych und Dobrovsky sehr
interessanten Aufsatz „O počatcich slovanské filologie v Cechach,
zvlaště o Fortunatovi Durichovi a jeho poměru k Dobrovskému“
in Časopis Musea Království Ceskeho 1896 S. 67—80 sagt F. Pastrnek:
„Durych byl povahy povidy klidné nanejvy$ opatrhe, ba
zrovna bäzlive; z jeho péra nevyšlo slovo ostřejší. Avšak jeho nitro
zahříval onen svatý ohen lásky ku všemu českému a slovanskému,
která každé oběti a největších činů schopna jest. Jiskřička stačila, aby
tento oheń roznítila v zápal trválý. Tato jiskra zasáhla vznětlivou
mysi Durichovu v Mnichově, jak sám v předmluvě ku své knize
»Bibliotheca slavica“ p. XII vypravuje. Jako člen řádu sv. Frautiška
de-Paula byl Durych v. r. 1765, jsa 30 rokü stár, poslán do Mnichova,
aby tam bratřím svým předńašel theologii a ak jazyk hebrejsky.
Když pak záhy zašel do dvorní knihovny, přijal jej tam velmi
vlídně tehdejší bibliothekář, slavný bavorský dějepisec Ondř. Felix
Oefele. Rozmluva obrátila se brzy na literárné dějiny rozmanítých
národů, a Oefele, vida před sebou vědychtivého čecha, toužil na to,
že takových literárních dějin slovanských dosud není a počal
Durichovi domlouvati, aby on se věci chopil a o literatuře české a
též ostatnich slovanů soustavně F Hned mu též návod dal,
jak si má pe tom počínati, a slíbil, Ze mu potřebné knihy zaopatfi.
Appell slavného učence bavorského . . . neminul se s u&inkem.
Durich jal se hned sbirati vědecký materiál, a když se po dvouletém
pob v Mnichově navrátil do Prahy, přinesl si již některá
„Adversaria“ z byzantských spisovatelů. V Praze pak podařilo se
10) Die Fragmente, denen diese Varianten entnommen sind, u. zw. I. Sam, 15,
: A 16—86; 45, 18—46, 1; 48, 10—27; I. Regum 7, 18—26;
7, 08, 1; II. Regum 12, 1—2; von denen Hanuš nicht weiß, wo sie hin-
Kee sind natürlich ebenfalls im Museum und in dieser Sammlung zu
inden.
215
mu sep? povzbuditi Adankta Voigts, aby domácí literatuře se
věnoval.“
Wie den Voigt, so hat Durych auch Dobrovský immer wieder
auf die Slavistik aufmerksam zu machen gesucht. Dobrovský selbst
sagt darüber in seiner schon erwähnten (S. 213) Biographie
Durychs (S. 33): i
„Allein so lieb ihm auch die Betreibung hebräischer Philologie
war, so hatte er doch mehr Hang für slavische Literatur und einen
lange gefaßten Vorsatz, sich dieser bei müßigern Stunden ganz zu
vidma. Er unterließ es auch nie, mich auf dieses sein Lieblingsfach
nebenher aufmerksam zu machen und dafür immer mehr und mehr
einzunehmen.“
All dies Zureden hat zunächst nicht viel genützt. Dobrovsky
war vor allem Theologe und nur als solcher hat er sich erlauben
können, sich mit Sprachwissenschaft abzugeben, die aber in diesem
Falle nur die semitische Sprachwissenschaft sein konnte. Um etwas
mehr Interesse für slavische Sprachwissenschaft zu bekommen,
hat Dobrovsky erst darauf kommen müssen, daß sich auch auf diesem
Gebiet für die Theologie arbeiten läßt. Zunächst hielt er aber nach
seinen eigenen Worten die Beschäftigung mit slavischer Sprach-
wissenschaft und Literatur für überflüssig, Übrigens können
wir denselben Prozeß auch bei Durych verfolgen, der, obzwar er
schon seit 1765 Interesse für Slavistik hat, doch erst 1777 sein erstes
Werk auf diesem Gebiete veröffentlicht (De slavo-bohemica sacri
codicis versione dissertatio Fortunati Durich . . . Pragae 1777), und
auch dies ist ein Werk, das sich direkt auf Theologe bezieht. Außer-
dem hat es sih Durych vorgenommen, sich der Slavistik „bei
müßigern Stunden“ und „nebenher“ zu widmen, wie sich Dobrovský
(S. 11 unten) ausdrückt. Man sage uns nicht, Durych sei mit seinem
Brotberuf — Hebräerunterriht — beschäftigt gewesen: noch im
ahre 1775 treibt ihn die Energie und der Fleiß dahin, Arabish zu
ernen, was uns zeigt, daß er immer noch ein lebendiges Interesse
für semitische Sprachen hegte. Und sein Vorsatz, sich der Slavistik
nur „bei müßigern Stunden“ zu widmen, gehört eben dieser Zeit
an, da ja Dobrovský Durych vor 1775 gar nicht kannte. Diese
Theologen konnten eben Slavistik noch nicht als Hauptberuf und
-zweck betrachten. Dagegen haben sie es beide schon bald ver-
standen, daß sich die Slavistik sehr gut bei den Untersuchungen alter
Quellen zur Geschichte des Bibeltextes verwerten ließe. Dobrovský
läßt sich von Durych Slavisch beibringen, aber nur „jakožto nového
nezbytného prostředku k výkladům textův biblických“ (Vlček 176)
und so wurde schließlich das Gebiet der Slavistik berührt und ein
Bindeglied hergestellt zwischen der Theologie und der „reinen“
slavishen Sprachwissenschaft.
V
Im Jahre 1776 kommt Dobrovsky ins Haus des Grafen Nostiz.
In dessen Bibliothek sucht er vor allem hebräische Handschriften und
216
Varianten aus, so eine hat er noch viel später (1784) in de-Rossis
Variantensammlung veröffentlicht (vgl. S. 9 oben). Vir sehen, wie
er ncch immer neben seiner slavischen Tätigkeit, die er schon 1779
aufnimmt (siehe noch unten), ergebener Theologe und Hebraist bleibt.
Im Hause Nostiz trifft Dobrovsky den Historiker Peltzel an, der
sich schon seit langem mit der Geschichte Böhmens beschäftigte,
und dieser hat den ihm untergegebenen Dobrovsky veranlaßt, für
ihn Material für seine Geschichtswerke zu sammeln. Was für eine
Art „Veranlassung“ diese war, läßt sich kaum mehr feststellen. Alle
Biographen sprechen von der Bereitwilligkeit, mit der Dobrovsky
dem „Freund Peltzel“ half, höchstwahrscheinlih aber war es eine
Art Sekretärarbeit.e Was aber feststeht, ist, daß Dobrovský beim
Suchen und Stöbern nicht nur Material für sich selbst und nach
seinem Geschmack finden konnte (auch auf seine Fragmente
hebräischer Handschriften, siehe oben, dürfte er dabei gestoßen
sein), ) sondern daß er auch Sachen kennen lernte, für die er sonst
vielleicht nie Interesse gehabt hätte. Das Gebiet der Slavistik, das
er ursprünglich zumindest für überflüssig hält, wenigstens insofern,
als es nicht als Hilfsmittel für die Theologie diente, gewinnt lang-
sam, aber sicher, an Boden. ,,Prozkoumévaje hraběcí knihovnu
domácí“ sagt Vlček (176) — „biblioteku strahovskou, klementinskou
a jiné a sbíraje i vypisuje také pro přítele Pelcla látku z dějin
domácích, zahloubal se do starého českého jazyka, do staré české
literatuty, do staré české historie, a záhy poznal to že je pravým
a vlastním jeho polem. Tak Dobrovský vlastně jiz 1778 z pouhého
vykladatele bible stal se jazykospytcem, dějespytcem i hystorikem
literárním.“
Und richtig hat Dobrovský schon 1778 sein „Fragmentum
Pragense evangelii S. Marci, vulgo autographi“ herausgegeben, ein
Werk, das eben am besten zeigt, wie er auch für Werke, die nicht
zur semitischen Sprachwissenschaft gehören, Interesse hatte, wenn
sie nur von einer bestimmten Wichtigkeit für die Theologie waren.
Bei dieser Arbeit hat sich Dobrovský auch der slavishen Texte be-
dient, wobei ihm Peltzel behilflich war. Auch hier sehen wir, daß
das Slavische zunächst nur als Hilfswissenschaft für Dobrovský von
Wert ist. Aber schon enige Jahre seines Aufenthaltes in Prag und
Zusammenarbeit mit Durych, als auch das Zusammentreffen mit der
Gesellschaft der Vorkämpfer der tschechischen kulturellen Selb-
ständigkeit, die kennen zu lernen er im Hause Nostiz’ reichlich Ge-
legenheit hatte, die Zusammenarbeit mit Peltzel schließlih — all
dies hat ihn bald in die Reihe dieser Patrioten eintreten lassen.
„Ilpesparu YMCTBCHHATO u maniomaxbmaro mpoO6yxaxeHia’ — sagt
Snegirev'”) — IHPNBIeRZN BHWMaHie JloOposckaro E BhsBaau ero Kr
Raten CGOBPEMEHHATO COCTOSHIA npocghmenia BI OTEuecTBt.
11) 1774 erschien sein erstes Werk „Kurzgefaßte Geschichte von Böhmen“.
19) Vgl. V. Flajähans, Pisemnictvi české slovem i obrazem, Praha 1901,
S. 458 unten.
18) Ivan Snégirev, I. Mo06popcril, ero ZHEHL, YHEHN-AUTEPATYPHHIC TPYALL
N SAcıyTrE Mus Aansnonh Anis, Kagans. 1884. S.
217
Euy xoTbIOCL BHACHHTA COCTORHIC YYCÓHHXb gane nenin, crenenb paz-
BATİA HAYWHOH M AHTepaTypHOH XBATeALHOCTH, cocTOsHie 6HOLIOTERE
u BOOGme cOcTOsHic HAyKb H mCKyccTBD. CB dsTOH TIL OHS
npexnpanaap IIospenennoe nananie . . cTaHOBACh army H3XAHİOMb
BE bAXb TOTAAMHAXS OTEIECTBOBLAOBL. JloSposesii ne O6HAPYZHBALL
noxa IIPCHMYIICCTBEHHOR CKAOHHOCTH Kb KAKOÄ-AHÓO cneniazpbHOC TH BP
HOBOH ug Hero OOAACTH . . . opt CTPeMHäcH OBAAABTL BCHÄ prof
oGnacrbw, Bb HAUPABACHIAXT: HC TOPHUECKOMB, HCTOPHKOANTE
par ypRHOMT H A3bIKO BEAHOMP.
(Die. Zeichen der geistigen und nationalen Renaissance haben
die Aufmerksamkeit Dobrovskys auf sich gelenkt und ihn ver-
anlaßt, die Kulturzustände seiner Zeit in seinem Vaterlande zu be-
obachten. Er wollte sich den Zustand der Lehranstalten klar machen,
die Höhe der Entwicklung der wissenschaftlichen und literarischen
Tätigkeit, den Zustand der Bibliotheken und überhaupt den Stand
der Wissenschaften und Künste. Zu diesem Zwece hat er die
„Periodische Ausgabe“ unternommen . . ,) sich dadurch in die Reihe
der damaligen Vaterlandsforscher stellend. Dobrovský zeigte keine
besondere Bevorzugung irgendeines Spezialfaches auf dem für ihn
neuen Gebiete ..., er erstrebte das ganze Gebiet, und zwar nach den
historischen, literar- historischen und sprach-
wis senschaftlichen Richtungen hin zu beherrschen.)
In diesen von 1779 an regelmäßig erscheinenden Sammelschriften
über „Böhmische Literatur zeigt sich schon das außerordentliche
Interesse, das Dobrovsky gerade den Zuständen in Böhmen entgegen-
brachte. In diesen Sammelschriften sollen, und werden auch, alle in
Böhmen erscheinende Schriften besprochen, die böhmischen, deutschen,
lateinischen und sogar hebräischen, für die Dobrovsky, wohl als Er-
innerung an seine früheren Lieblingsstudien, ein besonderes Interesse
14) Gemeint ist die „Böhmische Literatur auf das Jahr 1779“, s. S. 16 oben.
15) Auch V, Jagić schreibt die „Umsattlung“ Dobrovskys dem Einfluß der
tschechisch patriotischen Umgebung zu. Im Aufatz „Slovjensko jezikoslovje“ (in
„Knjizevnik“, Časopis za jazik 1 poviest hrvatsku i srbsku, u Zagrebu 1865,
S. 857—358) sagt er: „Borba plemenitih muževa, kakovi su bili Fr. Kinski,
Fr. Pelcel, Karlo Tham i Alois Hanke iz HankeSteina, koji se digole, da brane
najveću svetinju svakoga naroda, zatim podvostruéena revnost i nastojanje nekih
književnika, kano ti su: Pelcel, Prochazka, Rulik, Tomsa itd. oko narodnoga
jezika, kojemu je pogibelj prietila — to bijahu pojavi, koje ni su mogli ostati
ba upliva na njihov (des Duryh und Dobrovský nämlich) naučnı pravac
i znanstveno zanimanje. Tako se može protumačiti, zašto su, jeden i drugi,
odustali od nauka bogoslovnih, kojimi su se od prije izključivo bevili, te se s
većom pomnjom stavili na nauke slovjenske.“ (Der Kampf angesehener Männer,
wie es Fr. Kinski, Fr. Pelcel, Karlo Tham und Alois Hanke aus Hankestein
waren, die sich erhoben, um das größte Heiligtum eines jeden Volkes zu ver-
teidigen, dann der Eifer und Standhaftigkeit einiger Schriftsteller, wie z. B. Pelcel,
Prochazka, Rulik, Tomsa usw. für die Sprache des Volkes, der eine Gefahr drohte
— das waren Erscheinungen, die nicht ohne Einfluß auf ihre (des Durich und
Dobrovský nämlich) wissenschaftliche Richtung und bleiben konnten. So kann
man es sich erklären, warum sich beide von der Theologie abgewendet haben, mit
der sie sih ursprünglich beschäftigt haben, um sih mit einer um so größeren
Aufmerksamkeit der slavishen Wissenschaft widmen zu können).
218
hatte. Aber nur seine außerordentliche Liebe für sein Volk und
Land hat ihn die Zeitschrift so leiten lassen können, daß er sogar
Verfolgungen seitens der Beamtenschaft ausgesetzt war. Der Genius
hat endlich das Feld gefunden, auf dem er seine schier unerschöpf-
baren Kräfte entfalten kann. Von nun an beschäftigte sich Dobrovsky
sehr wenig mit den von ihm erst vor kurzem so geliebten semitischen
Sprachen. Er arbeitet mit Peltzel, veröffentlicht mit ihm gemeinsam
Werke, und wenn er 1783 doch noch sein übrigens vereinzeltes
richtiges wissenschaftliches Werk auf dem Gebiete der Orientalistik
veröffentlicht (Josephi Dobrovsky, De antiquis hebraeorum charac-
teribus Dissertatio, Pragae 1783), so müssen wir darin nicht etwa
(wie bei Durychs Arabischstudien, s. S. 12 Mitte) ein Zeichen eines
noch immer bedeutenden Interesses für die Orientalistik sehen. Auf
dringenden Rat seiner Freunde Peltzel und J. L. Von-Gay (des
Bischofs von Königgrätz), die besonders nach einem Jagdunfall mit
Dobrovskf'*) um ihn besorgt waren, hat Dobrovský nämlich ver-
suchen wollen, doch zu einem festen Posten zu gelangen, indem er
eine Professur aus Hebräisch und Hermeneutik (die allein bei den
damaligen Zuständen auf den Universitäten für Dobrovsky in Be-
tracht kamen) an einer Universität annehme. Um so einen Lehr-
posten zu erreichen, hat Dobrovsky eben die oben angeführte Disser-
tation schreiben müssen. Als aber auch tatsächlich dem Gelehrten
eine Lehrkanzel an der Universität Lvov angeboten wurde, hat er
sie kurz entschlossen abgelehnt und hat das weitere ruhige Leben
im Hause Nostiz’ in Prag, wo er weiter Slavistik und tschechische
Sprachwissenschaft betreiben konnte, vorgezogen. Die Orientalistik
war nunmehr für Dobrovsky nur insofern von Wert, als sie seine
slavistischen Studien bedeutend förderte und ihm das genaue und
gründliche Verständnis der grammatischen Phänomene der slavischen
Sprachen“) ermöglichte. Sonst aber war schon Dobrovský weit
genug, um einzusehen, daß er nur mit seinem Volke und für sein
Volk in dieser für die Tschechen so wichtigen Zeit arbeiten dürfe
und daß kein Interesse der Wissenschaft oder der Theologie mehr
berechtigte Ansprüche auf seine Fähigkeiten und Kräfte habe, als sein
Volk und dessen Zukunft. Dobrovsky gehört nunmehr nur der
Slavistik und der tchechischen Renaissance an: Das Interesse für sein
Volk und Land hat endgültig das Interesse für seinen Gott und für
die Religion verdrängt.
VI.
Und so hat Dobrovsky mit seiner Vergangenheit gebrochen.
Weder seine Treue zur Theologie, noch seine Begeisterung für die
semitischen Sprachen sind erhalten geblieben. Von allen Fesseln be-
freit, hat sich der geniale Mann endlich frei und für immer einer
heißgeliebten Wissenschaft widmen können. Aber auch Dobrovskys
rise wurde nämlich bei einer Jagd durch einen Schuß verletzt.
Siehe darüber Svétozor, 1880, čislo 16, p. 191.
17) Siehe darüber Kap. VI.
219
18 NP 6
Lehrjahre, die ersten Jahre seiner Entwicklung, die er, wie wir eben
geschen haben, ganz ohne Zusammenhang mit seiner kü en
Tätigkeit verbrachte, waren keine verlorene Zeit gewesen. e
Araber waren die Ersten, die die Grammatik ihrer Sprache be-
arbeiteten. Erst von ihnen lernte man diese Kunst in Europa. Und
keine geringe Rolle bei der Anregung regelmäßiger Beschäftigung
mit der jeweiligen Muttersprache haben überall die sprachwissen-
schaftlichen Übungen der Gelehrten gespielt, die aus theologischen
Gründen auf dem Gebiete der semitischen Sprachen tätig waren.
Wir haben gesehen, es auch im Falle Dobrovsky die semi-
tische Sprachwissenschaft war, die ihn zur Slavistik brachte. Aber
nicht nur die Tatsache seiner „Bekehrung“ haben wir der Semitistik
zu verdanken, sondern auch in einem sehr hohen Maße die Gründ-
lichkeit und Kunst, mit der auf seinem neuen wissenschaftlichen Ge-
biet, der Slavistik, arbeiten konnte. Sehr interessant ist, was wir bei
V. Jagić (s. S. 15, Anm. 2 von diesem Einfluß von Dobrovskýs
RE en Studien auf seine spätere slavistische Werke lesen
(S. :
„Dobrovsky posveti se već za rana s osobitom voljom dubljemu
nauku istočnih jezika (tako se i upoznao s Durichom), Zeleéi zadobiti
učiteljsku stolicu ovih jezika na nekojem bogoslovnom učilištu: to
nebijaše bez velike važnosti za njegova ostala jezikoslovna izpitivanja
u području slovjenskem. Ja barem držim zbilja u Dobrovskoga za
neposredan upliv nauka evrejskih poznatu težnju, do koje je osobito
mnogo držao i on sam i njegovi ini suvremenici, da u etimologiji
(t. j u tvorenju rieči) svagda najprije razluči i izvadi korjenike
wörter); jer baš o tom znali su slovjenski gramatici prije
Dobrovskoga ili veoma malo, ili upravo ništa. Za dokaz navadjam,
što se već njegov prvi strogo jezikoslovni spis bavio ovim predmetom:
to je godine 1799 izdana razprava.“ „Die Bildsamkeit der slavischen
Sprache, an der Bildung der Subst. und Adj. dargestellt.“ Istomu je
predmetu razmjerno mnogo mjesta ustupio i u gramatici českoj
(Lehrgebäude, 1809), a osobito u gramatici staroslovjenskoj -
stitutiones, 1822); napose pako govori još o tom malena knjižica
„Entwurf zu einem allgemeinen Etymologikon“ (1813), i jedan
zastavak u „Slovanki“ (1814, str. 27—54).“
[Hat sich doch Dobrovský schon bald mit besonderem Eifer den
tiefen Studien der orientalischen Sprachen gewidmet (so hat er auch
den Durich kennen gelernt), beabsichtigend eine Lehrkanzel für diese
Sprachen auf irgendeiner theologischen Schule zu erhalten: das war
nicht ohne Wichtigkeit für seine spätere sprachwissenschaftliche
Forschungen auf dem Gebiete der Slavistik. Ich zumindest glaube in
jener Forschungsrichtung den unmittelbaren Einfluß der Hebräischen
Wissenschaft zu erkennen, von der sowohl er, als auch seine anderen
Zeitgenossen so viel hielten, u. zw. daß sie in der Etymologie (d. i.
die Bildung der Sprache) erst immer die Wurzelwörter herausfinden.
Davon wußten die slavischen Grammatiker vor Dobrovsky entweder
sehr wenig, oder gar nichts. Zum Beweis erinnere ich, daß sich sein
220
erstes streng wissenschaftliches Werk mit diesem Gegenstand befaßt.
Das ist die 1799 erschienene Abhandlung „Die Bildsamkeit“ etc.
Außerdem wurde dem Gegenstand verhältnismäßig viel Raum in der
tschechischen Grammatik (Lehrgebäude, 1809) überlassen und be-
sonders in der alt-slavischen Grammatik; endlich handelt auch darüber
ein kleines Büchlein „Entwurf“ etc. und ein Aufsatz in der „Slo-
Dieser Aufsatz in der „Slovanka“ heißt: „Wie und mit welcher
Vorsicht soll man die Wurzelwörter und Stammsylben aus den vor-
handenen Wörterbüchern aufsuchen und sammeln,“ In der Rezension
Kopitars (Kleinere Schriften, Wien 1857, S. 275) zu diesem Aufsatz
lesen wir weiteres vom Zusammenhang dieser Wurzelwörterstudien
Dobrovskys mit seinen früheren Studien auf dem Gebiete der Orien-
talistik. Es heißt dort:
„In Verbindung mit dem besonders gedruckten und bereits im
vorigen Jahrgange dieser Blätter von einem anderen Rezensenten an-
gezeigten „Entwurfe zu einem allgemeinen Etymologikon der slavi-
schen Sprachen“, Prag 1813, ohne Vergleich der köstlidiste Aufsatz
der ganzen „Slovanka“, “) und Rezensent fürchtet, keinem Slavisten
zu nahe zu treten, wenn er behauptet, daß, wenn die übrigen mit ge-
höriger Aufmerksamkeit auch eın anderer hätte machen können,
dieser nur von einem so tiefen und umfassenden“) Sprach-
forscher wie Dobrovsky erwartet werden konnte.“
Und dann noch weiter:
„Adelung bemerkt in der Einleitung zu seinem „Mithridates“,
daß nur die volle Einsicht in den Bau einer Sprache, d. i. die Auf-
lösung derselben bis in ihre einfachen Wurzeln uns in den Stand
setzt und berechtigt, über sie zu urteilen; daß aber diese Auflösung
bisher nur an drei Sprachen sei versucht worden: an der hebräischen,
wo aber unzeitige Ehrfurcht für rabbinischen Quersinn vom wahren
Wege abgeleitet habe; an der griechischen, wo man aber, ungeachtet
Hemsterhuis und seine Schüler das wahre geahnt, eben auch den
Hebraisten zu Gefallen, auf halbem Wege stehen geblieben; und end-
lich an der deutschen seit Wachter . . . Gewiß hätte Adelung, wenn
er auch noch Slavist gewesen wire, nach Durchlesung des Entwurfes
und dieses Artikels der „Slovanka“ ausgerufen: „Hier ist mehr als
Hemsterhuis und Wachter“ .. .“
Wir sehen, Dobrovskfs gelehrte Zeitgenossen waren sich voll-
ständig darüber klar, welch einen hohen Wert Dobrovskys Studien
auf dem Gebiete der Orientalistik für seine slavistische wissenschaft-
liche Tätigkeit hatten. Kopitar ist überzeugt, daß Dobrovsky „mehr
als Hemsterhuis und Wachter“ ist. Er meint, daß diese Gelehrten
eben nur in den Anfängen einer „Auflösung“ ihrer Sprachen in ihre
einfachen Wurzeln waren, während „von einem so tiefen und
18) Wir haben gesehen (S. 19, oben), daß auch V. Jagić diese zwei Werke zu-
sammenstellt und als zusammenhängend betrachtet.
10) Von mir gesperrt.
221
umfassenden”) Sprachforscher wie Dobrovsky (wobei er natür-
lich an Dobrovskys frühere orientalistische Studien denkt) viel mehr
„erwartet werden konnte“. So faßt auch Jagić (s. S. 15 Anm. 2) die
Worte Kopitars auf (S. 358 Anm. 2 Schluß):
„To su rieči Kopitarove od godine 1815; iz njih može čitatelj
uvidjeti, kolika su vaZnost i drugi jezikoslovci onoga vremena
stavljali u etimologiju Dobrovskovu, isto tako osvjedotiti se, da je u
tom cielom pitanju zbilja bila glavna poluga — evrejltina.
[Das sind Kopitars Worte vom Jahre 1815; der Leser kann
daraus sehen, welch eine Wichtigkeit auch andere Sprachwissen-
schaftler jener Zeit der Etymologie Dobrovskýs zuschrieben und
sich auch überzeugen, ob in dieser ganzen Forschung der Haupthebel
geblieben ist — das Hebräisch e.]
Durch ihren Zusammenhang mit der Theologie haben die
semitischen Sprachen Dobrovský zum Sprachwissenschaftler gemacht,
aber auch auf den Slavisten Dobrovský haben sie anregend und be-
fruchtend gewirkt.
0 Von mir gesperrt.
222
DER MESSIANISMUS BEI DEN SLAVEN
Von
Prof. Dr. I. Mirtschuk.
Unter Messianismus versteht man allgemein den Glauben an
eine besondere, ungemein wichtige und vom Schicksal allein vorher-
bestimmte Sendung eines auserwählten Volkes, welches als Träger
einer neuen Idee seine Rolle in der Geschichte der Menschheit zu er-
füllen hat. Die messianistische Idee, noch im essen wurzelnd,
E erst im 19. Jahrhundert wieder an Bedeutung, in Deutsch-
and zur Zeit der Befreiungskriege, in Frankreich um die Wende des
Jahrhunderts unter dem unmittelbaren Einfluß der Revolution; die
stärkste Entfaltung fand der Messianismus jedoch zweifellos unter
den Slaven, deren tiefe Religiosität und der damit verbundene Mysti-
zismus den geeigneten zur Aufnahme dieser Ideen bildete.
Eine starke Förderung erfuhr diese Bewegung unter den Slaven seitens
der deutschen historiosophischen Schulen, hauptsächlih durch
Herder,') welcher auf. den Fleiß, die Friedensliebe und andere in der
Psyche der Slaven schlummernden Vorzüge hinweisend, ihnen eine
herrliche Zukunft versprach, sowie durch Hegel, dessen Idee der
Wiederkehr, dessen Prinzip der wiederholten Offenbarung des
Geistes der Geschichte in den einzelnen Völkern und Stämmen ganz
unwillkürlich der Verbreitung des Glaubens an eine von der Vor-
sehung bestimmte Mission der Slaven Vorschub leistete. Hegel selbst
hat sich nur ein einziges Mal, und zwar eher negativ als positiv, über
die Zukunft der slavischen Stämme ausgesprochen: „Es haben zwar
diese Völkerschaften Königreiche gebildet und mutige Kämpfe mit
den verschiedenen Nationen bestanden; sie haben bisweilen als Vor-
truppen, als ein Mittelwesen in den Kampf des christlichen Europa
und unchristlichen Asien eingegriffen, die Polen haben sogar das be-
lagerte Wien von den Türken befreit, und ein Teil der Slaven ist der
westlichen Vernunft erobert worden. Dennoch bleibt diese ganze
Masse aus unserer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie bisher nicht
als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Ver-
nunft in der Welt aufgetreten ist. Ob dies in der Folge geschehen
werde, geht uns hier nicht an; denn in der Geschichte haben wir es
1) Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte, Sechzehntes Buch, V, S. 23.
Berlin, Hempel.
223
mit der Vergangenheit zu tun.“) Diese eine Bemerkung Hegels,
welche in Wirklichkeit die Frage der zukünftigen Rolle der Slaven
offen läßt, genügte, um slavische, unter dem dominierenden Einfluß
des deutschen Idealismus stehende Philosophen, hauptsächlich Polen
und Russen, zu veranlassen, auf der Grundlage der Philosophie
Hegels eigene slavophile Konstruktionen zu schaffen. Die Idee des
slavischen Messianismus, welche slavischen Völkern in der Gestaltung
der weiteren geschichtlichen Ereignisse eine prominente Rolle zu-
weist, hängt natürlicherweise mit allen Prophezeihungen und
Theorien über die zukünftigen Schicksale des menschlichen Ge-
schlechtes eng zusammen.
Die prägnantesten und charakteristischen Formen des Messianis-
mus bietet uns die polnische Literatur des 19. Jahrhunderts. Eine
konsequente, auf dem Hegelschen System a ute Konstruktion
des Messianismus in Verbindung mit der Schilderung der nächsten
Epoche der Weltgeschichte finden wir bei dem polnischen Philo-
sophen August Cieszkowski.”) Als treuer Schüler Hegels übernimmt
er von seinem Meister das trichotomische Prinzip, ‘cas Prinzip der
These, der Antithese und der Synthese, trachtet aber gleichzeitig,
über seinen Lehrer hinausgehend, seine Inkonsequenz in der prak-
tischen Durchführung des dialektischen Gesetzes in der Geschichte
aufzuzeigen und zu korrigieren. Während Hegel im Widerspruch
mit seinem eigenen Prinzip die Weltgeschichte in vier Hauptperioden
zerfallen läßt, und zwar in die orientalische, griechische, römische
und germanische Welt, ohne sich über die Zukunft des menschlichen
Geschlechtes den Kopf zu zerbrechen, teilt Cieszkowski, von messia-
nistischen Erwägungen getrieben, die bisherige Geschichte in zwei
große Epochen: in die Epoche des materiellen, sinnlichen Seins im
Altertum, die Thesis, und in die Antithesis, das Christentum, als die
Epoche des rein geistigen Lebens. Vor Christi Geburt fühlte der
Mensch seine Einigkeit mit der Natur, es gab keinen Zwiespalt, keine
Trennung von Subjekt und Objekt, infolgedessen nur einen schwach
entwickelten individualistischen Zug; in der Religion herrschte der
Pantheismus, im sozialen und im Staatsleben der Despotismus.
Christus hat als erster den engen Zusammenhang des Menschen mit
der Natur gesprengt, indem er auf seine höhere Bestimmung hinwies.
Durch die Betonung des alleinigen Wertes des Lebens im Jenseits
untergrub er die Bedeutung des diesseitigen Daseins, welches für die
alten Griechen und Römer im Gegensatz zur schattenhaften Existenz
nach dem Tode allein erstrebenswert war. Die heidnische Absorp-
tion des Individuums durch die Gesellschaft wurde in der christlichen
Epoche von der Absorption der Gesellschaft durch das Individuum
ersetzt. Aber damit ist die Weltgeschichte nicht zu Ende, das tricho-
tomische Prinzip Hegels verlangte außer der Thesis und Antithesis
2) Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam-Ausgabe,
3) „Prolegomena zur Historiosophie.“ „Ojcze nasz“, 4 Bde. „Gott und
Palingenesie.“
224
nach einer dritten Epoche, nach der Synthesis. Und in diesem
Momente kommt die messianistische Einstellung des Philosophen zum
Ausdruck. Indem er nachweist, daß die beiden bisherigen Perioden
der menschlichen Geschichte eine starke Einseitigkeit an den Tag
legten und einen bereits überwundenen Standpunkt darstellten,
kiindet er in seinem Hauptwerke „Vater unser“ den Anbruch der
dritten und letzten Epoche an, welche als Synthese die diesseitige
5 des klassischen Altertums mit dem christlichen Streben
nach dem allein wertvollen Leben im Jenseits zu einem harmonischen
Ganzen vereinigt und auf diese Weise Gottes Reich auf Erden
schafft. Im Zeichen dieser Epoche setzt die Mission der Slaven ein,
welche die Führung der Menschheit auf dem Vege zu dieser glück-
lichen Zukunft übernehmen sollen.
Die Berechtigung zu dieser Auffassung sieht Cieszkowski in der
besonderen Eignung der Slaven, diese Mission zu erfüllen, nadidem
in ihrem Charakter, in ihrem ganzen Vesen jene Haupteigenschaften
vertreten sind, welche den beiden früheren Perioden den Stempel
ihrer Eigenart aufgedrückt haben. Der Weltanschauung des Alter-
tums entnahmen die Slaven die Affirmation des diesseitigen Lebens,
gleichzeitig aber und trotz dieser positiven Einstellung gingen sie
einen tiefen, innigen Kontakt mit der christlichen Kultur ein. Diese
im Verhältnis zu den beiden früheren Epochen keinesfalls negierende
Position sichert den Slaven den Vorrang bei der Besetzung einer
dominierenden Rolle in der dritten Epoche.
Der Messianismus der Slaven drückt sich selbstverständlich auch
in ihrem Verhiltnis zu anderen europäischen Stimmen aus, welches
Problem von Krasiński in seinem Traktat: „Über die Stellung Polens
aus menschlichen und göttlichen Riicksichten“ behandelt wurde. Die
historische Eigenart der Slaven sucht Krasinski durch ihre Zu-
sammenstellung mit dem romanischen Stamme und seinen Haupt-
vertretern, den Franzosen, und den Germanen plastisch zu unter-
streichen. Die Franzosen haben noch immer den lebendigen geistigen
Zusammenhang mit der antiken Welt aufrechterhalten, indem sie
ihren politischen und praktischen Sinn sowie eine Vorliebe für
praktische Schönheit von ihr übernahmen. Die Germanen lehnen
die sinnliche Mannigfaltigkeit in der Wirklichkeit ab und streben
nur nach idealer Einheit. Den Ausdruck dieses Strebens bildet die
„idealistischeste, die abstrakteste, die am feinsten ausgearbeitete
Philosophie“ der Welt. Die Aufgabe der Slaven besteht nun darin,
diese divergierenden Richtungen zu einer neuen und höheren Syn-
ese zu vereinigen. Ohne in den einseitigen Realismus der Fran-
zosen oder den ebenfalls einseitigen Idealismus der Deutschen
Pas zu verfallen, wandten die Slaven ihre größte Aufmerksam-
it der Pflege von zwei Haupteigenschaften ihrer Psyche zu, und
zwar der tieten Religiosität, welche in dem Glauben an den fort-
währenden Verkehr der überirdischen und der irdischen Kräfte
wurzelt und des Gefühls der allgemeinmenschlichen Bruderschaft,
welches nach außenhin sich in der uneingeschränkten Nächstenliebe
225
manifestiert. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Menschen kann
man als den ewigen Sinn ihres Lebens betrachten. Im Vergleich mit
dem politischen Stamm der Romanen und dem philosophischen
Stamm der Germanen bilden die Slaven ım vollsten Sinne des
Wortes den religiösen Stamm, welcher das Sein mit der Idee, das
irdische Gesetz mit dem göttlichen Gesetz, die Politik mit der christ-
lichen Liebe in einer vollkommenen Synthese vereinigt.“
Denselben Gedankenkomplex finden wir auch bei einer ganzen
Reihe polnischer Schriftsteller, wie bei Alexander Tyszynski in
seinem „Historischen Abriß der Bildung der Slaven“, weiter bei Karl
Libelt und bei Trentowski. Eine gesonderte Stellung unter den
polnischen Messianisten nimmt der große Theoretiker Hoene-
Wronski’) ein, welchem das Verdienst gebührt, den Terminus
„Messianismus“ eingeführt zu haben. In seiner Proklamation vom
Jahre 1848 verkündet er der Velt, daß die Mission der Slaven in
der endgültigen Erkenntnis der absoluten Vahrheit liege. Die ein-
zige Möglichkeit der Erschließung dieser Wahrheit bildet die
messianistische Doktrin, eine definitive Union der absoluten Philo-
sophie mit der absoluten Religion oder die seit Jahrtausenden von
ristus selbst angekündigte Ankunft des Paraklets oder des Geistes
der Wahrheit. Die westeuropäische Welt, welche von dem Glauben
an die Unmöglichkeit, die absolute Wahrheit zu erkennen, durch-
drungen ıst, war nicht imstande, die messianistische Idee auf-
zunehmen, zu ihrer Übernahme und weiteren Entwicklung sind nur
urwüchsige Völker berufen, deren Gefühle, von dem alles zersetzenden
Kritizismus noch nicht berührt, die Fähigkeit besitzen, das Wort
Gottes zu erfassen. Diesen Bedingungen entsprechen aber am besten
die mächtigen, dabei tief religiös veranlagten slavischen Völker,
deren Aufgabe durch Erschließung des inneren Inhaltes (Wesens) des
Absoluten (l’essence intime de l’Absolu) erfüllt werden wird. Diese
Völker bewirken dann eine gänzliche Reform des menschlichen
Wissens (la reforme absolue du savoir humain) und ermöglichen auf
diese Weise die weitere Entwicklung der Menschheit, welche bis nun
durch die destruktive Philosophie des Westens aufgehalten wurde.
Die messianistische Doktrin, formuliert in den Werken Hoene-
Wronskis, bildet für das Slaventum den sichersten Beweis seiner
Mission, welche in der Realisierung messianistischer Prinzipien ihre
Vollendung findet. Hier wurde der Messianismus der Slaven nicht
aus dem ihnen eigenen Mystizismus abgeleitet, sondern vom Stand-
punkte des philosophischen Systems Hoene-Wronskis als eine ge-
schichtliche Notwendigkeit begründet.
Von dem historiosophischen Messianismus Cieszkowskis, von
dem philosophisch fundierten Messianismus Hoene-Wronskis gehen
) Z. Klarneröwna: Stowianofilstwo w literaturze polskiej lat 1800 do 1848.
Warszawa 1926. Rozdziat X.
) Hoene-Wronski: 1. „Prodromme du Messianisme.“ 2. „Metapolityka
messjaniczna.“ 3. ,Apodyktyka messjaniczne.“ 4. „Prolegomena do Messja-
nizmu. 5. „Adresse aux nation slaves sur les destinées du monde.“ Paris 1848.
226
wir zu der rein religiösen Begründung der messianistischen Idee über,
welche in der polnischen Literatur ihre stärkste Formulierung bei
solchen Schriftstellern, wie Jahski,") Krélikowski,’) hauptsächlich aber
bei Andreas Towianski®) und unter seinem unmittelbaren Einfluß bei
dem großen Genius der polnischen Nation, bei Adam Mickiewicz
gefunden hat. Im Lichte der Lehre Towianskis bildet den Grund
der menschhchen Seele das religiöse Gefühl, welches als Quelle der
inneren Glut den unmittelbaren Verkehr mit Gott vermittelt. Von
allen europäischen Völkern haben bloß die Slaven diesen wahren
Schatz der Seele in vollkommener Reinheit bewahrt, und zwar
weniger ihre höheren intellektuellen Kreise, welche im Verkehr mit
dem verdorbenen Europa ihre ursprüngliche Reinheit einbüßten, als
das einfache, seit Jahrhunderten unterdrückte und verfolgte Volk.
Dieses Volk ist natürlich nicht imstande, mit anderen europäischen,
intellektuell höher stehenden Nationen auf dem Wege des Pro-
gresses gleichen Schritt zu halten oder gar zu wetteifern, dafür aber
ist es berufen, das wahre religiöse Leben hier in dieser Welt zu
fördern. Inzwischen hat sich Gott der in jahrhundertelanger Knecht-
schaft darbenden Völker erbarmt und ihnen eine neue religiöse
Offenbarung zuteil werden lassen, welche die heilige Offenbarung
von Christus vervollständigen soll. Mit dieser neuen Offenbarung
steht eine neue Epoche der Geschichte der Menschheit im Zu-
sammenhang, in welcher es dem Slaventum vergönnt sein wird, die
in den Tiefen seiner Psyche verborgenen Qualitäten zur vollen Ent-
faltung zu bringen.
Unter dem ausgesprochenen Einfluß dieser Lehre stand Adam
Mickiewicz zur Zeit, als er im „College de France“ seine Vor-
lesungen über slavische Literaturen hielt. Der große Dichter, gänz-
lich von der tiefen Reiigiositit durchdrungen, welche vom Meister
Towianski auf ihn hinüberzuströmen schien, sieht die Bestimmung
der Slaven in der Herbeiführung einer neuen höheren Phase des
Christentums auf Erden, in der Überwindung der passiven Religio-
sität des Mittelalters und in der Festigung der neuen Kirche des
triumphierenden Christus. Ihre Befähigung zur Erfüllung dieser
Aufgabe glaubt er auf ganz originelle Art und Weise begründen zu
können, indem er die Geburtsstunde der Slaven zum historischen
Dasein ziemlich spät ansetzt und behauptet, daß sie zu allerletzt das
Land der Geister verließen und daher noch ganz frische Erinnerungen
an dieses Dasein behielten. Ohne auf die Details dieser messia-
nistischen Auffassung näher einzugehen, möchte ich nur kurz be-
tonen, daß in dieser Gruppe polnischer Messianisten die religiösen
Momente beinahe gänzlich das Feld beherrschen und andere Töne
nur als Begleitung dieses einen mächtigen Grundtons ganz schwach
mitklingen.
) Bogdan Jański: „Polska w związku z powszechną pracą chrzescijanstwa.“
7) „Polska Chrystusowa“, pismo poświęcone zasadom społecznym.
Paryż 1942.
) List Chodźki do cesarza Mikołaja I, złożony przez Towianskiego.
227
Im Lichte der polnischen messianistischen Literatur erscheint die
Mission der Slaven mittels der dialektischen Methode aus historio-
sophischen und rein philosophischen Konstruktionen hergeleitet oder
aber von einzelnen durch Gott selbst inspirierten Individuen mit
prophetischer Überzeugungskraft a priori der Menschheit verkündet.
Es muß aber schon jetzt mit vollem Nachdruck hervorgehoben
werden, daß auch die philosophisch fundierte Richtung des lachen
Messianismus nur vielleicht mit Ausnahme von Hoene-WroAski
einen ausgesprochen religiösen Geist atmet. Wir können uns über-
zeugen, daß z. B. bei Cieszkowskı trotz seiner dialektischen Aus-
gestaltung der messianistischen Theorie die tieferen Wurzeln dieser
philosophischen Spekulationen in seiner Religiosität liegen, was nach
außenhin bis zu einem gewissen Grade in der Betitelung und Kon-
struktion seines Hauptwerkes nach den Worten des Gebetes „Vater
unser“ deutlich genug zum Ausdruck kommt. Die Genesis aller
messianistischen Systeme der polnischen Romantiker wurzelte im tiefen
religiösen Glauben, welcher den Unterbau für die erst darauf ruhende
historiosophische Auffassung, für die Interpretation der geschicht-
lichen Mission des Slaventums bildet; nur so ist es zu erklären, daß
diese im Irrationalen des religiösen Pathos wurzelnde Auffassung im
krassesten Widerspruche mit der Wirklichkeit stand und sich trotz-
dem von den sonst zwingenden Argumenten dieser Wirklichkeit
weder zur Aufgabe noch zur Anderung ihres Standpunktes ver-
leiten ließ.
Der Messianismus der Slaven tritt uns noch in einer ganz
speziellen Form entgegen, welche bei den Polen im 19. Jahrhundert
nach den schweren Schicksalsschlägen der Nation günstige Aufnahme
fand und jetzt wieder in der neuesten russischen Literatur, auch durch
eine nationale Katastrophe verursacht, eine gewisse Rolle zu spielen
beginnt.) Nach dieser Auffasung war Polen nur das Opfer für die
Sünden der Menschheit, welches gebracht werden mußte, um eine
Erlösung derselben herbeizuführen. Mickiewicz behauptet nämlich
in seinen „Ksiegi Narodu“, daß die Menschheit bereits zweimal sich
zur Vergewaltigung des göttlichen Willens verstiegen hat, und zwar
einmal, da sie Christus ans Kreuz schlug und ein anderes Mal, da sie
die politische Selbständigkeit Polens vernichtete. Aber wie auf die
Tragödie von Golgatha nicht nur die Auferstehung Christi, sondern
auch die Auferstehung des menschlichen Geschlechtes fol wird
auch der politische Tod Polens sowohl seine baldige Wiederaufrich-
tung, wie auch die Erneuerung der Menschheit nach sich ziehen.
Diese ausgeprägteste, wenn auch eng begrenzte Auffassung des
Messianismus, nach welcher ein Volk die Rolle des Erlösers über-
nimmt, entspringt beinahe ganz dem religiösen Vorstellungs-
komplexe, obzwar sie in ihren praktischen Auswirkungen auch
nationalen und staatlichen Interessen dient. Denn wie für das Volk
2) „Eurasien“ — eine Wochenschrift über Fragen der Kultur und Politik.
Paris. Nr. 1: Karsavin: Über den Sinn der Revolution.
228
Israel die Weissagungen über das Kommen des Erlösers Messias den
mächtigen Antrieb zum Festhalten an dem theokratischen Prinzip
und eine reiche Quelle des Trostes in den Jahren der Not und des
Leidens bildeten, so war damals der Messianismus für die polnische
Nation und jetzt teilweise für die Russen ebenfalls eine gewaltige
Stütze in den Zeiten des nationalen Ungliicks. Diese in religiösen
Gefühlen wurzelnde Idee bekommt unter dem Druck der konkreten
Wirklichkeit eine andere, eine neue Färbung.
Der russische Messianismus ist in der Literatur unter dem Namen
des Slavophilentums bekannt, welches die uns schon bekannten Ideen
einer besonderen Bestimmung der Slaven in der Entwicklungs-
geschichte der Menschheit enthielt. Um die ganze Mannigfaltigkeit
der mit diesen Konstruktionen zusammenhängenden Probleme besser
verstehen zu können, müssen wir uns vor Augen halten, daß jede
Form des Messianismus eine Art Revolution, eine Verkündung
neuer Ideen sowie die Lösung der im Mittelpunkt des historischen
Interesses stehenden Fragen mit sich brachte. Der Messianismus
konnte daher keinesfalls in der Sphäre des rein abstrakten Denkens
bleiben, sondern mußte notwendigerweise in engster Beziehung zum
konkreten Leben stehen. Slavophile Konstruktionen sind daher eine
in den Tiefen des religiösen Gefühls fußende Zusammenfassung der
aktuellen Fragen des Tages, in welchen die nationalen Kontroversen,
die sozialen Konflikte innerhalb des Slaventums sich wie in einem
Spiegel abbilden. Die enge Beziehung dieser Spekulationen zum
konkreten Leben des Augenblicks bilder auch einen der Gründe,
weshalb der Messianismus vornehmlich unter den Slaven eine so
starke Verbreitung fand, da die Umsetzung der Theorie in die
Praxis, die Konkretisierung des Denkens zu den grundlegenden Eigen-
schaften der slavischen Psyche gehört.
Die slavophilen Ideen vertrat in Rußland hauptsächlich Chom-
jakov, ein Mann von großer Bildung und Willenskraft, weicher an
die providentielle Sendung seines Vaterlandes glaubte. Als offizieller
Verkünder dieser Richtung klammerte er sich mit allen Kräften
seiner starken Individualität an die Tradition und behütete mit
schonender Sorgfalt das von der Vergangenheit überlieferte Erbe.
Diese Gefühle bildeten die Grundlage seines ganzen Philosophierens
und fanden in einer sich schrankenlos hingebenden Liebe zu der
allein seligmachenden griechisch-orthodoxen Kirche seinen äußeren
Ausdruk. Religion und Vaterland sind in seinem Bewußtsein so
eng miteinander verflochten, seine Nationalgefühle wurzeln so tief
in seinem religiösen Bewußtsein, daß eine Trennung dieser beiden
Grundelemente seiner Weltanschauung ein Ding der Unmöglichkeit
ist. Den Inhalt seiner Religiosität bildet die bereits erwähnte,
schrankenlos hingebende Liebe zur Orthodoxie, die er wieder als
sicheres Unterpfand der künftigen Größe seines Vaterlandes hielt.
Die erste Darstellung der Lehre der Slavophilen finden wir in
dem von Ivan Kirejevskii unter dem Ttiel: „Übersicht über den
gegenwärtigen Zustand der Literatur“ veröffentlichten Artikel
229
(1845).*°) Der Verfasser übt scharfe Kritik an dem geistigen Inhalt
des westeuropäischen Lebens, dem er Überzeugungsschwäche und
innere Entzweiung vorwirft. Die Schuld daran trägt der in West-
europa übermächtige Rationalismus, welcher alles für bedeurungslos
und nichtig erklärt, was sich in den strengen Regeln der Vernunft
nicht ausdrücken läßt. Nachdem die Herrschaft des Rationalismus
im heutigen Moment ihren Höhepunkt überschritten hat und der
Mensch zur Überzeugung gelangt ist, daß der Verstand allein nicht
imstande ist, die tieferen Bedürfnisse seiner Seele zu befriedigen,
sucht man nach neuen Prinzipien, welche die weitere Entwicklung
der Menschheit ermöglichen würden. Der Weg der Rettung aus
dieser aussichtslosen Situation führt aber nach dem Osten, nach Rug-
land, welches nicht blindlings die westlichen Muster nachgeahmt,
sondern auf Grund der Eigenheiten seiner psychischen Struktur sich
eigene Prinzipien des Lebens geschaffen hat. Das Hauptproblem der
Gegenwart, dem wir unsere ganze Aufmerksamkeit zuwenden sollen,
da von seiner richtigen Lösung die Zukunft des menschlichen Ge-
ner abhängt, ist deshalb das Verhältnis des Westens zum
sten.
Gerade diese Frage des Verhältnisses zwischen dem Osten und
dem Westen behandelt Chomjakov nur in einer weiteren Form
einer geschichtsphilosophischen Studie, in seinen nach dem Tode des
Verfassers erst erschienenen „Bemerkungen über die Weltgeschichte“.
Zur Bildung der neuzeitlichen Staaten Westeuropas trugen nach der
Ansicht Chomjakovs drei Faktoren bei, deren strenge Analyse er
durchzuführen sich bemüht, und zwar: Rom, das Christentum und die
Barbaren. „Rom — der erste und wichtigste Faktor — hat dem
Abendlande eine neue Religion, die Religion eines Sozialkontraktes
gegeben, welcher für ein unantastbares Heiligtum, das keiner weiteren
Bestätigung von draußen bedurfte, galt, eine Religion des Gesetzes,
— und vor diesem Heiligtum, das aller höheren Aufgaben und Ziele
bar war, aber das materielle Wohl sicherte, neigte die Welt ihr
Haupt, nachdem sie einen anderen, edleren und ren Glauben
verloren hatte. — Das Christentum, der zweite Faktor in der staat-
lichen und kulturellen Entwicklung Westeuropas, konnte dem Westen
keine neuen geistigen Werte bringen, nachdem es von dem letzteren
falsch, im Sinne der römischen Staatsraison begriffen wurde. Dies
hatte zur Folge, daß die Kirche unter der starken Abhängigkeit vom
Staate litt; später strebte sie selbst eine Machtstellung an und wurde
nach langen Kämpfen, welche ihre Organisationskraft auf die Probe
stellten, zum selbständigen Staate mit einem uneingeschränkten Herr-
scher an der Spitze und den Geistlichen als verläßlichen Organen in
seiner Hand. Indessen liegt das Ideal der Menschheit nicht in der
Verstaatlichung der Kirche, sondern in der Verkirchlichung des
Staates, wenn man sich so ausdrücken darf, also in dem Zustande, in
10) Auch im Briefe I. Kirejevskijs an Grafen E. Komarovskij „Ober den
Charakter der Bildung Europas und ihr Verhältnis zur Bildung Rußlands“ (1862).
230
welchem der Staat die Prinzipien der Kirche zu seinen Grundpfeilern
macht. — Die Barbaren schließlich als der dritte Faktor haben wohl
mit physischer Gewalt das römische Imperium bezwungen, unterlagen
aber selbst der kulturellen. und zivilisatorischen Macht des alten Rom
und wurden von seinem Geiste ganz beherrscht. Sie haben zwar große
Taten vollbracht, aber die Entzweiung zwischen Staat und Kirche,
zwischen Staat und Volk konnten sie nicht aus der Welt schaffen.
Den Gegensatz zum Westen, welcher durch die romanisch-ger-
manischen Völker repräsentiert wird, bildet der slavische Osten.
Ähnlich wie die polnischen Messianisten beruft sich auch Chomjakov
auf das Zeugnis von Herder und wiederholt die schon von den alten
Schriftstellern beglaubigte Tatsache, daß die Slaven ein arbeitsames,
freiheitsliebendes, 1 und der Musik ergebenes Volk
seien. Nachdem sie außerdem in erster Linie sich dem Ackerbau
widmeten und widmen und das Kriegsge werbe wenig und nur im
Notfalle ausübten, bildete sich bei hen eine demokratische Ge-
sinnung aus, die ihnen für die Zukunft den Vorrang unter anderen
europäischen Nationen garantiert.
„Wenn die Verbindung der Völker, wenn das Wahre und Gute
kein leerer Wahn sind, sondern eine lebendige, niemals absterbende
Kraft, so sind die Keime der künftigen Kultur nicht bei dem aristo-
kratischen und eroberungssüchtigen germanischen Stamme, sondern
bei den Slaven zu suchen. Der Slave als Landmann und Demokrat
hat ehrenvolle Aufgaben und eine glänzende Zukunft vor sich.“ Als
konkrete Realisierung dieses demokratischen Prinzips wurde von den
russischen Slavophilen auf die gemeinsame Bodenverwaltung im
russischen Gemeindewesen hingewiesen.
Aber geradeso, wie seinerzeit die polnischen Denker im Rahmen
des polnischen Messianismus eine Sonderstellung für ihr Volk bean-
ruchten, trachtete auch Chomjakov den ersten Platz innerhalb des
Slaventums für die Russen zu reservieren. Denn die Westslaven waren
viel zu lange dem unmittelbaren Einfluß der europäischen Kultur-
sphäre ausgesetzt, weshalb sie die wesentlichen Eigenschaften ihrer
Psyche aufgeben und sich den geistigen Strömungen des Westens an-
sen mußten. Nur die Ostslaven, vor allem aber die Russen
onnten mit Hilfe der griechisch-orthodoxen Kirche und der byzan-
tinischen Kultur diesen Einflüssen einen entsprechenden Widerstand
entgegensetzen und auf diese Weise ihr innerstes Wesen unverändert
bewahren. Die Pflege dieser von der Zivilisation unverdorbenen
Eigenheiten der slavischen Seele wurde den Russen durch die griechisch-
orthodoxe Religion ermöglicht, welche im Vergleich mit dér katho-
lischen oder protestantischen Konfession als die einzig wahre Religion
und die östliche Kirche als die „Kirche schlechthin“ von Chomjakov
bezeichnet wird.
Diese, das ganze Problem unter dem Gesichtswinkel religiös-
kirchlicher Interessen behandelnden Ausführungen Chomjakovs
wurden in historischer Hinsicht von Konstantin Aksakov ergänzt,
welcher die Geschichte Rußlands (inbegriffen auch die Geschichte des
281
Kiever Staates) als Realisierung jener Prinzipien darstellt, die von
Herder und nach seinem Beispiel von allen Messianisten den Slaven
zugeschrieben wurden.
Auch die Kunst, hauptsächlich die schöne Literatur stellte sich
in den Dienst der mit der Zeit populär gewordenen Ansichten Chom-
jakovs, die in Dostojevskij einen würdigen Interpreten fanden. In
seinem Roman „Brüder Karamazov“ treten uns der slavophilen
Richtung ähnliche Tendenzen, nur mit der Genialität eines großen
Meisters dargestellt, ganz deutlich entgegen.
Auch eine Art Messianismus, nur revolutionären Charakters,
schuf eine dem Slavophilentum entgegengesetzte Richtung der Westler
mit Aleksander Herzen an der Spitze. Scheinbar jeglichen religiösen
Gefühls bar, glaubte Herzen weder an Gott, noch an ein Jenseits und
schien sogar nicht anzunehmen, daß andere aufrichtig daran glauben
können. Aber Religiosität im Sinne einer GE Disposition,
glauben zu wollen, fehlte ihm keinesfalls, was ihn unter anderem trotz
seiner westlichen Orientierung zu einem echt russischen Denker
stempelt. Nachdem er ohne Glauben nicht leben konnte, klammerte
er sich daran, was ihm in Rußland besonders wertvoll erschien, fest
und zwar an die russische Gemeinde mit ihren kommunistischen Prin-
zipien, und redete sich selbst ein, daß darin die von seinem Vaterlande
der Menschheit gebrachte Rettung liegen müsse. Er glaubt an die Ver-
wirklichung sozialistischer Ideale, glaubt an die diesbezügliche Mission
seines Volkes und dieser Glaube wurzelt in seiner von ihm selbst
stark bekämpften Religiosität. Im Gegensatz zur Lehre der Slavo-
philen, welche letzten Endes von der Orthodoxie als der russisch-
nationalen Kirche und von ihrem Haupt und Repräsentanten, dem
Zaren die Erlösung der Menschheit erhofften, setzt Herzen seine ganze
Hoffnung auf die russische Revolution und ihren Hauptträger, den
Bauer. In dieser messianistischen Anwandlung Herzens ist die Tat-
sache interessant, daß Herzen anfangs vom Westen stark angezogen,
mit Begeisterung den russischen Boden verließ, um jedoch später nach
schweren Enttäuschungen und nach einer schonungslosen und ver-
nichtenden Kritik Europas, die er in seinem Buche „Vom anderen
Ufer“ gab, sein geistiges Auge wieder gegen Osten zu richten. Zu
diesem Resultate gelangte Herzen auf dem Wege des gänzlichen
Anarchismus und Nihilismus, welcher später in vielleicht nur noch
krasserer Form bei Tolstoj tonangebend ist. Die Zusammenstellung
dieser zwei großen Russen bringt uns dem Gedanken nahe, daß die
tiefere Quelle der revolutionären Stimmung und des Messianismus
Herzens das nach außen hin sich negativ offenbarende religiöse Pathos
gewesen ist.
Die slavophile Bewegung fand einen gefährlichen Gegner und
einen rücksichtslosen Kritiker in der Person des bedeutendsten russi-
schen Philosophen und Denkers des 19. Jahrhunderts, Vladimir
Solovjev. Der frühere ziemlich scharfe Kampf zwischen Slavophilen
und Westlern finder ın der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue
Repräsentanten in den Personen des allgemein bekannten Denkers
232
Tolstoj und des weniger bekannten aber mindestens den gleichen
Ruhm verdienenden Philosophen Solovjev. Wenn auch zwischen
ihnen gewaltige Differenzen bestehen, so stimmen sie beide in einer
Sache vollkommen überein, und zwar in der Überzeugung, daß die
religiöse Frage, deren Beantwortung sie ihre Kräfte widmen, für den
Menschen von der allergrößten Bedeutung sei. Und auf diesem all-
gemeinen Hintergrunde der religiösen Interessen erscheint in ent-
sprechender Beleuchtung der Messianismus Solovjevs, dessen Haupt-
motive wir dem Vortrag über die „ russische Idee“) entnehmen.
Die Frage, welche hier im Vordergrunde seiner scharfsinnigen Er-
wägungen steht, ist die nach dem Sinn des historischen Daseins Ruß-
lands. Trotz seiner kritischen Einstellung seinem Vaterlande gegen-
über begcistert er sich doch für dieses Riesenreich, welches während
der letzten zwei Jahrhunderte mit größerem oder geringerem Erfolg
in die Schicksale Europas einzugreifen versuchte; er fragt nach dem
idealen Prinzip, welches diesen Staatskörper beseelt, fragt nach dem
neuen Vorte, welches das russische Volk der Menschheit zu ver-
künden habe. Die Beantwortung dieser Frage sucht Solovjev in der
ewigen Wahrheit der Religion. „Denn die Idee einer Nation ist nicht
das, was sie selbst von sich denkt in der Zeit, sondern das, was Gott
von ihr denkt in der Ewigkeit.“ Es ist hier ungemein wichtig, die
Tatsache zu unterstreichen, daß gerade der Messianismus Solovjevs
mit der Religion in engster Verbindung steht. Er interessiert sich nur
dafür, was Rußland zu tun hat im Namen des christlichen
Prinzips, welches es sein eigen nennt und was es der ganzen
christlichen Welt bringen kann, der es angehört. Als letztes
Ziel, welches im Einvernehmen mit anderen Nationen angestrebt
werden soll, erachtet Solovjev die Einheit des menschlichen Ge-
schlechtes, deren Grundlage die christliche Kirche bildet. Die russische
Idee kann nach Solovjev nichts anderes sein, als eine bestimmte Form
der christlichen Idee, welche erst dann mit voller Klarheit erfaßt wird,
wenn man den wahren Sinn des Christentums begreift. Und dieser
wahre Sinn des Christentums ist die Dreieinigkeit auf Erden, der
harmonische Zusammenschluß der Kirche, des Staates und der Ge-
sellschaft zu einer großen Einheit. Die russische Idee als ein Aspekt
der allgemein christlichen Idee äußert sich nach außen hin ın dem
Bestreben, das Bild der göttlichen Dreieinigkeit hier auf Erden zu
realisieren.
Nur der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, daß
Solovjev einen Vorläufer und Gesinnungsgenossen in P. Tschaadajeff
rt hatte, welcher seine Propaganda für die Union mit der römisch-
atholischen Kirche damit begründete, daß Rußland nur nach An-
eignung der Errungenschaften der westlich-katholischen Kultur im-
stande sein wird, die unfaßbare geistige Tat, zu welcher es berufen
ist, zu vollbringen und zwar die Lösung aller in Europa bestehenden
11) „La Russie et l’Eglise Universelle“, Paris 1888; außerdem „Geschichte und
Zukunft der Theokratie.“
233
Streitfragen zu geben. Ein ausgesprochener Messianismus, welcher
hier mit einem tiefen Mystizismus Hand in Hand geht.
Nun bleiben diese Gedanken nicht auf einzelne Persönlichkeiten
oder ihren größeren oder geringeren Anhang beschränkt; sowohl in
Rußland wie auch in Polen greifen diese Ideen auf weitere Bevölke-
rungsschichten, hauptsächlich die der Intelligenz über, erleiden da-
durch eine Verflachung, werden aber auf diese Veise zum Gemein-
gut der ganzen Nation.
Auch bei anderen slavischen Völkern fand der Messianismus
günstige Entwicklungsmöglichkeiten, wenn auch keine so originellen
und bedeutenden Vertreter wie bei den Russen und Polen. Eine Er-
scheinung mit messianistischem Unterton ist der sogenannte Illy-
rismus, eine national- politische Bewegung unter den Südslaven, welche,
durch den kroatischen Schriftsteller Ljudovit Gaj um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts (1835) hervorgerufen, dem ganzen siidslavischen
Stamme des illyrischen Dreiecks eine gemeinsame Sprache zu geben
versuchte. Viel weiter ausgreifende messianistische Tendenzen zei
unter den Ukrainern mehr weniger um dieselbe Zeit (1846) die
Cyrillo- Methodische Bruderschaft in Kiev, welche außer der nationalen
Viedergeburt des ukrainischen Volkes, außer der Organisation des
ganzen Slaventums auf föderativen Prinzipien allgemein- menschliche
und soziale Ideale in ihre Statuten aufnahm. Der tschechische Messi-
anismus mit Masaryk als seinem Repräsentanten an der Spitze ist nur
der Erneuerer derjenigen Ideen, welche das tschechische Volk bereits
vor Jahrhunderten beseelten und der Menschheit neue Horizonte
eröffneten. In der Reformationsbe wegung, welche mit dem Ende des
14. Jahrhunderts einsetzte, im Kample fi die Freiheit des Denkens
und der Überzeugung übernimmt das tschechische Volk die Führer-
stelle. Ihm gebührt der Ruhm, zum ersten Male für das neue Ideal
des religiös und sozial freieren Menschen den Kampf gegen die bis
nun unbezwungene Autorität der Kirche mit Erfolg aufgenommen
zu haben. Dieser Kampf ist jedoch nicht gegen die Religion gerichtet,
denn die religiöse Weltanschauung, die religiöse Gesinnung und Ge-
fühlsweise bleiben auch weiter die eigentlichen Grundlagen der
tschechischen literarischen Produktion. Matéj von Janov, Jan Žižka
von Trocnov, Jan Hus, Jakübek von Mies, Peter Chelticky und viele
andere — aus welchem Lager sie auch kommen mögen —, sie atmen
alle tief religiösen Geist. Im Hussitismus nun und in den Gemeinde-
organisationen der tschechischen Brüder lebt, wenn vielleicht nicht mit
vollem Bewußtsein, die messianistische Idee, welche in dem festen
Glauben ihren Ausdruck findet, daß das tschechische Volk, das oft für
heilig erklärt wird, von Gott ausgewählt worden ist, um an der Ver-
wirklichung eines neuen christlichen Lebensideals zu arbeiten. Diese
Ideen waren im tschechischen Volke bis zur Hälfte des 17. Jahr-
hunderts, d. i. bis zur Zeit der ärgsten Reaktion nach der Schlacht
am Weißen Berge sehr lebendig, verstummten aber dann immer mehr,
en 5 der neuesten Zeit in Masaryk und seiner Schule wieder auf-
zuleben.
284
Die Zusammenstellung der Erfolge, welche der Messianismus
unter den einzelnen slavischen Völkern sowie auch im übrigen Europa
zu verzeichnen hatte, wirft ganz unwillkürlich grelles Licht auf einen
enhang kausaler Natur, welcher zwischen der Idee der pro-
videntiellen Send eines Volkes und seiner Staatsidee besteht.
Messianismus als Glaube an eine besondere höhere Mission des
eigenen Volkes tritt in erster Linie bei Nationen auf, welche sowohl
in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart ihr eigenes Staats-
leben führten, oder aber auch bei Nationen, welche vor kurzem zwar
ihre staatliche Selbständigkeit einbüßten, aber den zur Wieder-
herstellung des verlorenen Vaterlandes strebenden Geist in voller
Kraft und Energie bewahrten. Der Messianismus der Deutschen
während der Napoleonischen Kriege, der Italiener bis zum Jahre 1859,
der Polen nach den Teilungen und zwischen den beiden Insur-
rektionen, der jetzt einsetzende Messianismus in der sogenannten
eurasischen Richtung der russischen Emigration, das Verstummen
messianistischer Ideen bei den Tschechen nach der staatlichen Kata-
strophe des Jahres 1621 — alle diese und noch andere Tatsachen
bestätigen die frühere Behauptung in vollem Umfange.
Mich interessiert aber eine andere Seite dieses Phänomens und
zwar die ziemlich verbreitete Ansicht, daß der Messianismus im all-
gemeinen und der slavische Messianismus im besonderen trotz seiner
Vermengung mit religiösen Vorstellungen und Elementen einem
anderen Gedankenkomplex entstammt und seine Quellen in erster
Linie in der N des erwachenden National ins zu suchen
sind. Der tiefere Grund der Verbannung der messianistischen Idee
gewöhnlich als Produkt der polnischen Kultur angesprochen wird,
Eefühl als Hauptelement der nationalen
lehrtenwelt populär gemacht und fand ihre Anhänger nicht nur im
Slaventum sondern auch im übrigen Europa, umsomehr, da dieser
Ansichr sich der sonst so kritische und tiefe Denker Solovjev anschloß.
Indem nu. Solovjev dieser Meinung beipflichtet, widerspricht er in
erster Linie sich selbst, denn sein Messianismus ist keinesfalls politisch
oder nationalistisch, sondern durch und durch religös fundiert.
Im Gegensatz zu Solovjev und zu der allgemeinen Auffassung
erlaube ich mir die Meinung auszusprechen, daß der Messianismus
trotz des vielleicht Borger d äußeren Scheins in dem bei allen
Slaven vorherrschenden religiösen Gefühl tief verankert ist, und nur
in seinen Auswirkungen nicht so sehr mit dem Nationalismus, als eher
mit der Staatsidee, mit dem Bewußtsein von der unumgänglichen
Notwendigkeit der eigenen Staatlichkeit eine innige Verquickung
eingeht, was seinen wirklichen Charakter in einem anderen Lichte
erscheinen läßt. Was die Religiosität als Charaktereigenschaft der
Ostslaven allein anbelangt, so muß mit vollem Nachdruck hervor-
gehoben werden, daß das religiöse Gefühl und noch dazu in großer
Potenz nicht nur bei den Russen und Ukrainern, also den Ostslaven,
sondern nicht weniger stark bei den Westslaven, also den Polen und
Tschechen, den Hauptbestandteil der national-psychischen Struktur
bildet. Es ist überhaupt ganz zwecklos, von diesem Standpunkte aus
eine Differenzierung der Slaven in eine westliche und östliche Gruppe
vorzunehmen, nachdem die Grundlagen des psychischen Le
aller Slaven gleiche Züge aufweisen. Man kann natürlich von ver-
schiedenen Einflüssen sprechen, unter welchen die einzelnen slavischen
Völker gestanden sind, aber in diesem Falle werden wir nicht nur
zwei, sondern mehrere Gruppen bekommen.
Diese Teilung in West- und Ostslaven ist seinerzeit aus politischen
Gründen erfolgt, um auf diese Weise die nahe Verwandtschaft der
Groß- und Kleinrussen zu beweisen und ihren Zusammenschluß zu
einer großen russischen Nation organisch zu begründen. Heute ist
der Traum der russischen Politiker aus den Zeiten vor dem Welt-
kriege von den Ereignissen auf der Weltbühne weit überholt und die
Wirklichkeit hat am besten seine Haltlosigkeit bewiesen. Auch die
Arbeiten solcher Gelehrten, wie Smal-Stockyj auf dem Gebiete der
Philologie, Scerbakivskyj in der Archäologie, Antonovyé in der Kunst-
geschichte, soziologische Arbeiten von Starosolskyj u. a. lassen keinen
Zweifel mehr zu, daß zwischen den Russen und Ukrainern (abgesehen
von rein äußerlichen Ähnlichkeiten, welche durch das Zusammenleben
innerhalb des russischen Imperiums bedingt wären) absolut keine
tieferen geistigen Zusammenhänge bestehen, wie zwischen Ukrainern
und anderen slavischen Völkern wie Tschechen, Polen, Jugoslaven
usw. Was nun die Religiosität anbelangt, so ist sie zweifellos allen
slavischen Nationen ohne Ausnahme eigen. Zur Zeit des stärksten
Aufblühens des Messianismus im 19. Jahrhundert wurde nur von der
slavischen Psychik im allgemeinen ohne jedwede Differienzierung ge-
sprochen und die Religiosität als ihr Hauptelement angenommen.
Die diesbezüglichen Arbeiten ın erster Linie polnischer Verfasser,
wie Maciejowski, Tyszynski, Olszewski, Cieszkowski, Mickiewicz,
Krasinski u. a., unterstreichen alle als einen Hauptzug in der Menta-
lität nicht nur der jetzigen Slaven, sondern auch der Urslaven das
Uberwiegen des Emotionellen und die große Rolle der religiösen
236
Gefühle in ihrem psychischen Leben. Die nähere Bekanntschaft mit
der geistigen Produktion der Westslaven läßt uns auf den ersten
Blick konstatieren, daß bei den Polen z. B., in ihrer Literatur, in
ihrer Philosophie, ja sogar in ihrer Kunst das religiöse Moment
domirierend wirkt. Die ganze polnische Nationalphilosophie trägt
einen durch und durch religiösen Charakter. Nehmen wir als Bei-
spiel die Philosophen Cieszkowski, Libelt, Hoene-Wroäski oder die
großer Dichter Mickiewicz, Krasiński und Słowacki — bei jedem
von diesen Denkern ist ein ausgesprochen religiöser Einschlag ganz
unverkennbar. Und bei den Tschechen, welche arı stärksten den
westlichen Einflüssen ausgesetzt waren, wiederholt sich dieselbe Er-
scheinung. Die markantesten Gestalten des geistigen Lebens bei den
Tschechen, wie Hus, Chellickf, Komenský in der Vergangenheit und
Masaryk als Vertreter des modernen Tschechentums verraten alle
gleiche Tendenzen. Wenn man die Grundlagen der philosophischen
Weltanschauung Masaryks untersucht, muß man zur Überzeugung
kommen, daß darin der Religion eine grundlegende Bedeutung zu-
fällt. Seine ganze Philosophie erschöpft sich in dem Streben nach
der wahren Religion. Das sind Momente, welche jedem in die
Augen fallen, der sich mit dem Gegenstande vertraut macht.
Auf die religiös-geistigen Quellen des Messianismus weisen auch
jene Erscheinungsformen hin, in welchen er im Laufe der Geschichte
aufgetreten ist. Der älteste Boden, welchem der Messianismus seinen
Ursprung und seinen Namen verdankt, ist das Judentum, also die
Traditionen jenes Volkes dessen ganzes Sein und Nichtsein auf der
Religion aufgebaut war, dessen Hauptrolle in der Geschichte der
Menschheit darin bestand, das bedeutendste religiöse System hervor-
gebradit zu haben. Hier bei den Juden ist der Begriff des Messia-
nismus mit religiösen Vorstellungen aufs engste verbunden. Wenn
es in der Geschichtsphilosophie allgemein anerkannte Wahrheiten
gibt, so muß man als solche die Behauptung betrachten, daß die ganze
Bestimmung des jüdischen Volkes, der tiefere Sinn seines Daseins mit
der messianistischen Idee, und in einer weiteren Bedeutung mit dem
Christentum verbunden ist. In diesem Falle waren die Juden gegen
ihren eigenen Willen Träger einer neuen Lehre, welche durch ihre
Vermittlung mit der alten messianistischen Idee in Zusammenhang ge-
bracht wurde.
Den Völkern des klassischen Altertums war eine solche Idee
fremd, sıe fand und konnte auch keinen Resonanzboden finden, aus
dem einfachen Grunde, weil die antiken Völkerschaften ihre Nach-
barn, die Barbaren viel zu wenig kannten und an ihrem Schicksal
ein zu geringes Interesse zeigten, um ihnen gegenüber eine Führer-
rolle übernehmen zu wollen. Erst die christliche Religion mit ihrem
stark ausgeprägten Begriff der Nächstenliebe war in erster Linie ge-
eignet und berufen, auch den Messianismus in dieser Fassung aus-
zubilden, daß ein auserkorenes Volk nicht nur bereit ist die ganze
Menschheit einer besseren Zukunft entgegenzuführen, sondern auch
im Notfalle gewisse Opfer dafür zu bringen. Auf diese Weise er-
237
scheint uns der Messianismus als ein Phänomen der christlichen
Nächstenliebe, übertragen auf die großen Komplexe der Nationen.
Gerade so wie jeder Mensch verpflichtet ist für seinen Nächsten zu
sorgen, ihn zu führen, wenn dies auch mit Opfern verbunden wäre,
so besteht dieselbe Pflicht auch für ganze Völker. Also nicht das
Gefühl der Überhebung, das Bewußtsein einer Ausnahmestellung
anderen gegenüber, eine Form, welche infolge der menschlichen
Schwächen historische Realität geworden ist, sondern die Liebe zum
schwächeren, ärmeren Bruder und Filfsbereitschaft bis zum
Aufersten sollte den Grundton für den Messianismus bilden. Daraus
ist zu verstehen, daß dieser Gedankenkomplex nur mit der christ-
lichen Religion im Zusammenhange steht, während andere religiöse
Systeme keine ähnlichen Erscheinungen aufzuweisen haben. Daraus
ist auch zu erklären, daß im Mittelalter trotz der starken Prä-
ponderanz der christlichen Religion der Messianismus im vollen
Sinne des Wortes nur schwer zu konstatieren ist, da in dieser Zeit
die Nächstenliebe zur Pflicht eines jeden einzelnen Menschen gehörte
und der Begriff der Nation als eines Kollektivs noch fehlte. Es gab
nur eine Kirche mit den für sie geltenden Geboten. Spuren von
Messianismus können wir wohl in der mittelalterlichen Philosophie
konstatieren. Plotin aus der rgangszeit zum Mittelalter,
Eriugena und der von ihm abhängige Meister Eckhardt weisen ähn-
liche Gedanken auf. Auch während der Kreuzzüge findet die
messianistische Idee im Sinne der Aufopferung für die Befreiung des
heiligen Landes aus den Händen der Heiden ihre Realisierung.
enge zum größten Aufschwung kommt der Messianismus eigent-
ich erst im 19. Jahrhundert, also zur Zeit, da die Idee der Nation
infolge der französischen Revolution lebendig wurde und die
Nächstenliebe als religiöses Element sich vom Individuum auf ein
ganzes Kollektiv übertrug. Jedoch nicht in ganz Europa konnte der
Messianismus feste Wurzeln fassen; nur bei den Slaven mit ihrer
Religiosität und ihrem Mystizismus erreichte er größere Verbreitung
und wurde zu einer Art slavischer Religion, welche das geistige Leben
dieser Völker bis zu den Träumen über die Weltrevolution in
größerem oder geringerem Maße beherrscht.
238
II
MISCELLEN
SOPHIE KOVALEVSKIJ
Von Helene Simon-Eckardt.
Am 15. Januar 1880 wäre Sophie Kovalevskij 80 Jahre alt geworden. Die
en wissenschaftliche Welt hätte sie an diesem Tage mit Ehrungen überhäuft,
‚Frauen aller Länder sie als eine der ersten Vorkämpferinnen für Freiheit und
Gleichberechtigung gepriesen, alle sozialistisch gesinnten Kreise Europas ihr für
ihre Mitarbeit an der Verwirklichung der sozialistischen Idee gedankt. Sie selbst
hätte alle Feierlichkeiten und Glückwünsche mit der schmerzlichen Resignation
über sich ergehen lassen, mit der sie stets ihren äußeren Erfolgen gegenüberstand.
Man begreift jene Frau nicht ganz, wenn man in ihr ein geistiges oder gar nur ein
mathematisches Phänomen sieht — man verkennt ihr Wesen, wenn man sie für
eine bewußte Vertreterin der Frauenemanzipation hält. Es ist endlich an der Zeit,
die Legenden zu zerstören, die durch die einseitige, allzu subjektiv geschriebene
Biographie von Charlotte Leffler-Edgren und durch die romanhafte Darstellung
Klara Hofers entstanden sind und die das Bild Sophie Kovalevskijs zum Teil ent-
stellt und verdunkelt haben. Es sei verstattet, ihr Gedächtnis durch einige bisher
unveröffentlichte Briefe und Erinnerungen zu erneuern, die Sophie Kovalevskijs
Tochter und ihre Freundin Therese Gyldén liebenswürdigerweise zur Verfügung
gestellt haben. Einige kurze biographische Notizen mögen die mitgeteilten Briefe
ie Kovalevskij hat in ihren leider nicht beendeten „Erinnerungen“ — der
besten für ihr Leben und ihre Persönlichkeit — ihre Herkunft, Heimat und
Kindheit eindringlich beschrieben. Ihr Vater, Ivan Sergeeviè Corvin-Krukovskij,
war russischer Offizier und verheiratet mit Elena Pavlovna Baevskij, einer
Enkelin des deutschen Astronomen v. Schubert.
Bald nach Sonjas Geburt ziehen Krukovskijs aufs Land. Der General über-
nimmt selbst die Verwaltung seines Gutes Palibino im Gouvernement Vitebsk. In
den ersten Jahren ist das Kind fast ausschließlich der Dienerschaft anvertraut,
wächst also in unmittelbarer Nähe der Gesindestuben auf. Selten kommt es zu
den Eltern hinauf. Doch oft genug, um schon früh die unüberbrückbare Kluft
zwischen Oben und Unten, zwischen herrschender und dienender Klasse zu emp-
finden. In der Einsamkeit, zu der Sonja bereits in der Kindheit durch ihre tiefe
Empfänglichkeit und Leidensfähigkeit früh verurteilt ist, gibt ihr nur das Ver-
wen in einem Reich heimlicher Träume und Phantasien Trost. Fünfjährig
macht sie zum erstenmal Verse, zwölfjährig bedichtet sie einen „Beduinen und
sein Pferd“ und „die Gefühle eines Seemanns, der nach Perlen taucht“. Seitdem
zweifelt sie nicht mehr daran, daß sie zur Dichterin geboren ist.
Wer sind nun die ersten, die geliebten Vorbilder ihrer Jugend — außer Ler-
montov und Pulkin, deren Dichtungen sie schon früh heimlich liest? Näher als
der Vater, dem sie scheue Verehrung entgegenbringt, 'näher als Onkel Peter
Sergeevié, der ihr zuerst die geheimnisvolle Wissenschaft der Mathematik aus der
Ferne zeigt, steht ihr die sechs Jahre ältere Schwester: die schöne, vielgeliebte,
begabte Anjuta. Diese, kaum siebzehnjährig, hat den Mut, ohne Wissen der
Eltern eine selbstverfaßte Novelle an 3 zu schicken, mit dem Erfolg,
daß sie in der „Epoka‘ veröffentlicht wird. Sonja berichtet in ihren Erinnerungen
über den Sturm, den dieses Ereignis im Hause Krukovskij hervorrief und
schildert ihre Begegnungen mit dem Dichter, für den sie vom ersten Augenblick
an eine leidenschaftliche, wenngleich unerwrderte Neigung erfaßt: — „So wunderbar
es klingen mag: ich, das 14 jährige Mädchen, verstand Dostoevskij wirklich. Ich
ahnte ın seinem Herzen eine ganze Welt von zärtlichen warmen Gefühlen; er
war für mich nicht nur der geniale Dichter, sondern mehr noch der Mensch, der
so viele Leiden erfahren hatte. Hätte Dostoevskij in mein Herz sehen
können, so hätte ihn sicher tiefe Rührung ergriffen; aber das ist eben das Unglück
der sogenannten Flegeljahre, in denen auch ich mich jetzt befand, daß man tief
fühlt, fast so tief wie die Erwachsenen und zugleich seine Gefühle auf so kindische,
ja, lächerliche Weise äußert, daß es den Erwachsenen schwer wird, sich vorzu-
stellen, was in dem Gemüt eines 14 jährigen Mädchens vorgeht.“
Anjutas kühner Schritt in die Welt bedeutet für die Schwestern den Anfang
zur Befreiung vom Elternhaus, von den dort herrschenden politischen und gesell-
schaftlichen Vorurteilen, die den Mädchen bisher jeden Verkehr mit Anders-
denkenden und jede zielbewußte geistige Betätigung verwehrt hatten. Eines Tages
erklären beide dem Vater ihre Absicht, im Ausland studieren zu wollen. Man
muß gerecht sein: General Krukovskij war alles andere als ein engherziger Mann
mit Standesvorurteilen: geistig vielseitig interessiert, widmete er sich in seiner freien
Zeit fast ausschließlich naturwissen tlichen Studien, verfolgte mit seiner Gattin
aufmerksam die politischen und literarischen Strömungen seiner Zeit. Der Schlag,
mit einemmal beide Töchter verlieren zu sollen — an ein abenteuerliches Bohème-
leben, wie ihm scheint — trifft ihn hart. Energisch widersetzt er sich. Da greifen
die Mädchen zu einem damals in Rußland häufig geübten Mittel: sie erzwingen
ihre Freiheit durch eine Scheinehe. Der Student der Geologie, Woldemar
Kovalevskij, erklärt sich, vor die Wahl zwischen die ältere und jüngere Schwester
estellt, bereit, Sonja zu heiraten. Als der General Erkundigungen einzieht, er-
ährt er, daß dem jungen Mann von seinen Universititslehrern eine glänzende
wissenschaftliche Zukunft prophezeit wird.
Ein kneppes Jahr bleibt das Ehepaar Kovalevskij noch in Petersburg, 1869
begeben sich beide nach Heidelberg. Und nun beginnt für Sonja das unstete
Wanderleben, das sie seitdem mehr oder weniger bis zu ihrem Tode geführt hat
— das Leben in Gasthöfen und Mietszimmern, zwischen fremden Möbelstücken,
angewiesen auf bezahlte Freundlichkeit. Über ihr persönliches Ergehen in den
ersten Studienjahren wissen wir nicht viel. Einer der wenigen aus dieser Zeit er-
haltenen Briefe folgt hier. Er ist an Sonjas Jugendfreundin Julia Lermontov ge-
richtet und ist für uns auch deshalb wertvoll, weil er die Stellung beleuchtet, die
damals Universitäten und Dozenten dem Frauenstudium gegenüber einnahmen.
Heidelberg, 28. April 1869.
Liebe Julia! .
Ich schreibe Ihnen meine Eindrücke, nachdem ich eben aus der ersten Vor-
lesung, der ich in Heidelberg beigewohnt habe, zurückgekommen bin. Ich konnte
nicht eher schreiben, da sich erst gestern mein Schicksal endgültig entschieden hat —
gewiß waren Sie schon ungeduldig.
Aus Petersburg fuhren wir direkt nach Wien, wo ich sofort zu Professor
Lange (Physiker) ging, um ihn um Erlaubnis zu bitten, seine Vorlesungen zu be-
suchen. Er ließ sich ziemlich leicht dazu bestimmen, aber nach einiger Über-
legung entschieden wir uns, doch nicht in Wien zu bleiben. Erstens gibt es
hier keine guten Mathematiker, zweitens ist das Leben hier sehr teuer, und so
entschlossen wir uns, nach Heidelberg zu fahren, wovon ich immer geträumt habe
und das mir immer als ein auserlesener Fleck Erde erschienen ist. Ich fuhr mit
meiner Schwester dahin; mein Mann blieb in Wien, da wir die Absicht hatten,
zurückzukehren, wenn uns die Verhältnisse in Heidelberg rt erscheinen
sollten. Am ersten Tage verzweifelte ich beinahe, so unglücklich verlief alles.
Professor Friedrich, den ich persönlich etwas kannte, war nıcht in der Stadt, so
ging ich allein zu Professor Kirchhoff. Dieser, ein kleiner Greis auf Krücken, war
sehr erstaunt, daß ich, eine Frau, seine Vorlesungen besuchen wollte und erklärte,
mich ohne Einwilligung des Prorektors der Universität (Professor Kopp) nicht zu-
lassen zu können. Indessen war Professor Friedrich zurückgekehrt, zum großen
Glük für mich. Er war sehr liebenswürdig und gab mir eine Empfehlung an
den Prorektor. Dieser erklärte mir wiederum, daß er in eine so ungewöhnliche
240
Bitte von sich aus nicht einwilligen könne ohne Zustimmung der einzelnen
Professoren. So mußte ich noch einmal von vorne beginnen und mich zu Professor
Er sagte mir, daß er nichts gegen meinen Wunsch habe und
mit Professor Kopp sprechen wolle. Sie können sich denken, wie empört ich über
alle diese Verzögerungen war. Am nächsten Tag teilte mir Kopp seinen Beschluß
mit: er wollte een, nied einer besonderen Kommission vorlegen. Wieder
war ich zu untätigem warten verurteilt, Indessen hatte ich gehört, daß man
Auskünfte über mich einholte, und daß eine Dame, die mich gar nicht kannte,
erzählt hatte, ich sei Witwe. Da der Professor sich über die Verschiedenheit
meiner und ihrer Angaben wunderte, mußte ich meinen Mann, der inzwischen auch
gekommen war, persönlich zu ihm schicken, um ihn von der Wahrheit meiner Aus-
zu überzeugen. Endlich entschloß sich die Kommission, mich zu den physi-
kalischen und mathematischen Vorlesungen zuzulassen. Damit war mein Wunsch
erreicht. Heute habe ih nun mit meinen Studien begonnen. Ich werde
18 Stunden in der Woche hören; das genügt vollständig, denn ich muß auch viel
zu Hause arbeiten. Nur eins befriedigt mich nicht ganz: nämlich, daß ich die
Erlaubnis nur ausnahmsweise erhalten habe, daß Sie „ wenn Sie kommen, die
ganze ichte noch einmal selbst durchmachen müssen. Das zweitemal wird es
aber wahrscheinlich leichter sein.
Ih kann mir wohl vorstellen, mit welcher Ungeduld Sie, meine liebe Julia,
den Herbst erwarten. Mögen nur Ihre Verwandten ihren Entschluß nicht
ändern! Schreiben Sie mir bitte bald und erzählen Sie mir, womit Sie sich jetzt
beschäftigen. Ich rate Ihnen nach den bitteren Erfahrungen, die ich gemacht
habe, die deutsche Sprache möglichst gut zu lernen. Die wissenschaftliche SP
ist leicht zu verstehen und die Vorlesungen machen mir keine Schwierigkeiten,
aber in den Gesprächen mit den Professoren fühle ih mich immer sehr gehemmt.
2. Mai. ich konnte den Brief neulich nicht beenden, so füge ich heute noch
einiges hinzu. Ich bin sehr beschäftigt und besuche die Vorlesungen. Die
Studenten benehmen sich ausgezeichnet. Sie lassen es sich nicht anmerken, daß sie
die Anwesenheit einer Frau verwundert. Heidelberg selbst ist so entzückend, daß
man es nie mehr verlassen möchte. Sie werden hier sehr gut studieren
können.
Leben Sie wohl. Ich umarme Sie herzlich und bitte Sie, Ihren Eltern meine
Empfehlungen zu übermitteln. Meine Schwester ist noch hier, fährt aber schon
morgen nach Paris und wird dort bis Anfang Juli bleiben.
Ihre S. Kovalevskij.
Mit einer unerhörten Energie und Ausschließlichkeit vertiefte sich die kaum
Neunzehnjährige in mathematische Studien. Durch ihre Leistungen erregt sie bald
die Aufmerksamkeit Kirchhoffs und Königsbergers. Diese erste Heidelberger
Zeit ist die einzige, in der sich Sonja glücklich ganz erfüllt von ihrer Arbeit
fühle. Noch wachsen der Begeisterung mit jeder neuen Aufgabe neue Flügel.
1870 siedelt Sonja, auf den Rat ihrer Lehrer, nach Berlin über. Weierstraß
erkennt sofort ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten und erteilt ihr — da Frauen
damals als Hörerinnen an der Universität noch nicht zugelassen wurden — zwei-
mal wöchentlich Privatunterricht. Damit ist ihre wissenschaftliche Laufbahn ent-
schieden. Alle ihre in der Folgezeit entstandenen Untersuchungen gehen von An-
regungen Weierstraß’ aus, bauen auf seinen Theorien auf. In Berlin lebt es sich
nicht so leicht wie unter dem heiteren Himmel Heidelbergs, einsiedlerisch vergräbt
sich Sonja in ihre Arbeit. Ihr Mann setzt seine Studien in München und Jena fort
und promoviert, ein bevorzugter Schüler Haeckels, mit einer Dissertation, die ihm
den Ruf eines bedeutenden Paläontologen einträgt. Anjuta schreibt begeisterte
Briefe aus Paris, das ihrer anregungsbedürftigen Natur mehr zusagt als die süd-
deutsche Kleinstadt. Im Quartier Latin, dem Sammelplatz freiheitlich gesinnter
Jugend aus allen Teilen Europas, lerat sie ihren späteren Mann kennen: Victor
aclard, Student der Medizin, Freund und Vermittler Blanquis, des Staatsver-
rechers und Verschwörers, der damals im Gefängnis neue Wege „zu den Sternen
durch die Ewigkeit“ ersann.
1874 erwirbt Sonja den Doktorgrad der EE Fakultät Göttingen
— in absentia, dank der hervorragenden Abhandlungen und der Empfehlungen
241
ihrer Lehrer. Ihre Dissertation „Zur Theorie der partiellen Differential-
gleichungen“ gilt noch heute als eine der besten Arbeiten auf diesem Gebiet.
Unruhige Jahre folgen. Zuerst in Petersburg, wo sich beide Kovalevskijs
treffen. In der Novelle „Vera Voroncov“ (in Deutschland erschien sie unter dem
Titel „Die Nihilistin“) schildert Sonja ihr damaliges Leben, das von Gesellschaften,
Konzerten, Theatern, literarischen Tees ausgefüllt ist. Zu ernsthafter wissenschaft-
licher Arbeit ist sie véier ee jahrelangen Oberanstrengungen nicht fihig. Wie
fast immer in Zeiten des rgangs, drängt nun ihr durch die abstrakte Denktitig-
keit allzulang zurückgehaltenes Gefühls- und Phantasieleben gewaltsam zum Aus-
broch, Ein Roman „Der Privatdozent“ entsteht. Wie ernst es ihr mit diesem
Versuch ist, beweist, daß sie noch zwei Jahre vor ihrem Tode an eine Um-
arbeitung denkt. Daneben schreibt sie Gedichte, Zeitungsaufsätze, Rezensionen
un ilft ihrem Manne bei der Übersetzung von Brehms „Tierleben“ ins Russi-
e.
1877 stirbt Sonjas Vater, dem sie in den letzten jahren besonders eng ver-
bunden war. 1878 vird, in Petersburg, die kleine Sonja geboren. Kurz darauf er-
hält Kovalevskij eine Professur an die Universität Moskau. Ober die Jahre dort,
über die Konflikte, die nach einiger Zeit wieder zu einer Trennung der Ehe
führen, sind wir nur andeutungsweise unterrichtet. Vielleicht wird der dem-
nächst erscheinende Briefwechsel zwischen Sonja und Woldemar Kovalevskij hier
Klarheit bringen.
1881 verläßt Sonja zum zweitenmal Rußland; ihr Kind läßt sie bei Freunden
zurück, Sie begiebt sich — fast flieht sie — ins Ausland. In Paris widmet sie sich
den lange vernachlässigten mathematischen Studien wieder. Damals taucht zuerst,
wenn auch nur als vage Hoffnung, die Möglichkeit ihrer Berufung an die Uni-
versität Stockholm auf. Vorläufig arbeiter sie an einer Aufgabe, die ihr Weierstraß
gestellt hat, lebt aber nicht ganz so einsiedlerisch wie seinerzeit in Berlin. Sie ist
eng befreundet mit einem jungen Polen, einem Mathematiker und Dichter; sie
sehen sich fast täglich, arbeiten, diskutieren und lesen Micievil zusammen. Im
Cake verkehrt sie viel in sozialistischen Kreisen, vorwiegend mit Russen und
olen.
Maria Mendelssohn, cine polnische Sozialistin, berichtet in ihren (bisher un-
veröffentlichten) Erinnerungen über ihre erste Begegnung mit Sonja Kovalevskij in
Paris. Die beiden Frauen lernten sich bei dem bekannten russischen Revolutionär
Lavrov kennen, dem Mittelpunkt eines Kreises sozialistisch gesinnter Intellek-
tueller. „.. die schmutzige Straße St. Jacques, eine unsaubere Treppe führt nach
dem zweiten Stok. Die Wohnung — zwei festlich hergerichtete Zimmer, in
denen zwei russische Lampen brennen. Ein durchdringender Geruch von Feuchtig-
keit und alten Büchern. Aber was hat das bei einem so liebenswürdigen Wirt zu
bedeuten! Lavrov üßt mich mit der gewinnendsten Gastfreundlichkeit.
Auf dem Sofa sitzen bereits zwei Damen, mir wird der einzige bequeme Sessel
gegenüber angeboten. Lavrov geht im Zimmer auf und ab. Zwei Studenten sind
mit dem Samovar beschäftigt. Den Herren werden Gläser mit angeschlagenen
Rändern angeboten, den Damen Tassen. Dann öffnet der Wirt feierlich ein Fach
in seinem Schreibtish. Zwischen allen möglichen beschriebenen Papieren kommt
ein goldumrandeter Teller, der mit Gebäck und Pralinen 3 85 ist, zum Vorschein.
Den Studenten wird bedeutet, daß die letzteren nur für die Damen bestimmt sind.
Von den Damen ist die eine Frau Joudre, als Mitarbeiterin an der von Clemenceau
herausgegebenen sozialistischen Zeitschrift „La Justice“ bekannt, eine kleine zarte
Frau mit hübschen, aber verblühten Zügen. Sie wirkt wie eine Puppe aus
Sasonishem Porzellan, ihre Stimme ist schwach und piepsig. Ihre ganze Art zu
sprechen, erinnert an eine Parodie aus den französischen Précieuses.
Die andere, Sophie Kovalevskij, gleichfalls von kleinem Wuchs, fällt durch
den verhältnismäßig zu großen Kopf auf, der von Locken umrahmt ist. Ihre
Augen — sie sind einmal mit eingemachten Stachelbeeren verglichen worden —
wiken faszinierend. Ihre 1 sind ungemein lebhaft und temperament-
voll, Sie interessiert und fesselt mich sofort. Ich fühle, daß ich einen außer-
gewöhnlichen Menschen vor mir habe. Meine eigene Neugier findet ein Echo bei
Sophie. Ich bin eben aus dem Posener Gefängnis entlassen, in allen Zeitungen ist
unser Fall erörtert worden... .“
342
In diesem Kreise geistiger, vorurteilsloser Menschen, denen die Idee alles,
materielle Güter nichts bedeuten, fühlt sich Sonja wohl. Seit ihrer frühesten
Jugend interessiert sie sich lebhaft für den Sozialismus, begeistert sie sich für eine
die damals die Sache der gesamten studierenden russischen Jugend wer.
Allerdings sind ihre eigenen Kräfte stets zu ausschließlich auf ihre wissenschaftliche
Tätigkeit gerichtet, als daß sic selbst sie je der Allgemeinheit hätte widmen können
und wollen. Doch ihre indirekte Anteilnahme ist nicht weniger wertvoll: ihr warm-
i Verständnis, ihre impulsive Hilfsbereitschaft, die niemals Grenzen kennt.
In allen Schwierigkeiten weiß sie Rat: sie schreibt Empfehlungen, gibt Geld, ver-
mittelt Briefe, verleiht Pässe, bedenkenlos setzt sie Namen und Ruf aufs Spiel.
1888 überrascht sie die verhängnisvolle Nachricht vom Tode ihres Mannes:
Selbstmord auf Grund verfehlter Geldgeschäfte. Fünf Tage lang läßt Sonja keinen
Menschen zu sich, verweigert sie jede Nahrungsaufnahme. Als sie am sechsten
Tage aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht, setzt sie sich, ohne ein Wort zu sagen,
im Bett auf und beginnt auf der Decke Zeichen zu malen. Dann bittet sie um
Bleistift und Papier und ist bald darauf in eine mathematische Aufgabe vertieft —
erstes Anzeichen des wieder in ihr erwachenden Lebensgefühls. Von diesem
Schlag hat sich Sonja nie mehr erholt. Innerlich und äußerlich gealtert, tritt sie
nach diesem Verlust den um sie besorgten Freunden wieder entgegen.
Da erweist sich das Schicksal selten gütig: schon war sie fest entschlossen,
durch Privatstunden für sich und ihre kleine Tochter eine Existenzmöglichkeit zu
schaffen, als sie den Ruf als Dozentin der Mathematik an die Universität Stock-
holm erhält.
Noch einmal darf sie einen Aufschwung erleben, das Lockende einer neuen
unbekannten Zukunft kosten: Glücklich reist sie nach Schweden ab. Damals ist
sie vierunddreißig. Ein Bild aus jener Zeit und die Schilderung einer Freundin
ergänzen sich: (Sie war) . . „von kleiner Gestalt, zart, das Gesicht jedoch voll,
mit kastanienbreunem, lockigem Haar, die Züge ungewöhnlich lebhaft, besonders
die Augen, deren Ausdruck fortwährend wechselte; sıe blickten zuweilen strahlend
lebhaft, dann wieder träumerisch tief. in.
Anfang des Jahres 1884 beginnt sie mit ihren ersten Vorlesungen: „Alge-
braische Einleitung zur Theorie der Abelschen Funktionen.“ Sie liest in deutscher
Sprache. Nebenher beendet sie eine Arbeit über „Die Brechung des Lichts in
einem kristallinischen Medium“.
Drei in mancher Hinsicht interessante Briefe an Maria Mendelssohn geben
ihre ersten Stockholmer Eindrücke wieder:
Meine Liebe! Den 26. Dezember 1888.
Eine ganze Ewigkeit habe ich keinen Brief von Ihnen bekommen und die
letzten Nachrichten, die ich durch unseren Freund Vollmar!) erhalten habe, lauten
nicht sehr günstig. Anscheinend sind Sie noch immer krank und die Sache, die
Sie am meisten erfüllt, hat sich zum Schlechten gewandt.
„Die Morgenröte“ erscheint nicht mehr und Ihrem Freunde Mendelsohn
droht Gefahr, nach Rußland ausgeliefert zu werden, sobald er seine Strafe in
Deutschland abgebüßt har. Wüßten Sie nur, wie traurig ich darüber bin, denn
obwohl ich Ihnen nicht schrieb, habe ich viel an Sie gedacht und hatte stets den
sehnlichsten Wunsch, Sie wieder zu sehen und mit Ihnen so unbefangen zu
plaudern, wie wir es so oft in diesem Sommer getan haben. Erinnern Sie sich
noch daran? Aber wer weiß, ob sich unsere Wege jemals wieder kreuzen
werden?
Ich bin nun also in Stockholm. Meine mathematischen Vorlesungen fangen
in knapp zwei Wochen an und ich denke mit Bangen an die Minute, wo ich zum
erstenmal vor meinen Zuhörern erscheinen werde.
Stockholm ist eine recht hübsche Stadt, Was die Gesellschaft anbelangt, so
ist sie ein Gemisch von neuen freiheitlihen Ansichten und altmodischen echt
deutschen Anschauungen. Es vill mir noch nicht gelingen, mich hineinzufinden.
Ih habe viele Freunde, aber ebensoviele Feinde. Die letzten befinden sich
1) Der Sozialist Georg v. Vollmar, den der bayrische Minister v. Müller ein-
mal „Bayerns ungekrönten König“ nannte.
248
hauptsächlich an der Universität von Upsala. Sie wissen wahrscheinlich, daß die
Send holier Universität erst vor kurzem gegründet worden ist, währena
von Upsala schon seit Jahrhunderten existiert. Gegenwärtig repräsentieren di
beiden Universitäten zwei entgegengesetzte Richtungen: Upsala ist das Zentrum
des konservativen orthodoxen ehrtentums. Nach Stockholm zieht es die
Jugend, alle freidenkenden und rührigen Schweden. Sie können sich wohl vor-
stellen, daß diese beiden Universitäten einen erbitterten Konkurrenzka mit-
einander führen. Doch obwohl Upsala den Studierenden größere materielle Vor-
teile bietet, hat Stockholm die größere Hörerzahl aufzuweisen. Das ist wohl der
Hauptgrund der Verbitterung der Nachbaruniversität. Als meine Vorlesungen in
Stokholm offiziell angekündigt wurden, gaben die Mathematikstudierenden in
Upsala dieselben Anschläge auch in ihrem Verein bekannt. Darüber brach bei den
Professoren große Empörung aus. In einer Sitzung, die einen ganzen Abend lang
dauerte, taten sie nichts, als mich verleumden. Sie sprachen mir jedes wissen-
schaftliche Verdienst ab, und führten die lacherlichsten und er n
Gründe für meine Ubersiedlung nach Stockholm an. Ein derartig lei š
Temperament hatte ich bei den rechtschaffenen und friedliebenden Schweden
ger nicht erwartet. Unglücklicher weise üben einige dieser Professoren aus
Upsala einen sehr großen Einfluß in Schweden aus. Der König, der zuerst die
Universität von Stockholm sehr protegierte, aber jetzt davon überzeugt ist, daß
sie ein Zentrum freisinniger und radikaler Tendenzen werden kann, hat sich von
ihr abgewandt, So stehen also hier die Sachen.
Auf Wiedersehen, meine Liebe! Ich erwarte bald Nachrichten von Ihnen.
Sophie Kovalevskij.
Meine Liebet Stockholm, den 19. Januar 1884.
eine Liebe!
Ih bin sehr gerührt, daß Sie sich meines Aberglaubens erinnert und mir
einen Kalender für das neue Jahr geschickt haben. Ich glaube fest daran, daß er
mir Glück bringen wird. jedesmal, wenn ich ihn öffne, um mir eine Notiz
darin zu machen, gedenke ich Ihrer, und das ist mir immer sehr angenehm.
Wie traurig, daß die Angelegenheiten nicht gut stehen. Die Flucht des raten
Kameraden?) hat mich tief beeindruckt, daß er Anarchist ist, stimmt mit seiner
Individualität und seinem Charakter gut zusammen. Aber selbst wenn man den
Anarchismus als die höchste uid ideellste Form betrachtet, die dem menschlichen
Geschlecht ein friedliches Leben zu sichern vermag, so muß man doch in Anbetracht
des heutigen Zustandes eine langsame Übergangsform für notwendig anerkennen.
Ist das nicht selbstverstindlich? Organisation und strenge Disziplin sind unbe-
dingt in jedem, auch in unserem Kampf die Hauptsache. Die nächste Generation
wird schon einen Schritt weiter sein, sich von den traditionellen Fesseln befreit
und in der Wahl der Regierungsform mit weniger Schwierigkeiten als vir zu
kämpfen haben.
Ich kann mir Dikstein ohne Ihre Hilfe nicht vorstellen. Wer besorgt dern
jetzt die Redaktion der „Morgenröte“? Schreiben Sie mir bitte auch, ob das ge-
nte Abkommen zwischen dem Russen und dem Polen zustandegekommen ist.
Ich habe kürzlich an Lavrov geschrieben und ihn gebeten, mir mitzuteilen, ob neue
Schriften der Narodnajo Volja erschienen sind und wo ich sie erhalten kann, ohne
aber eine Antwort von ihm zu bekommen. Sollten Sie ihn treffen, meine Liebe,
so fragen Sie ihn bitte, ob er meinen Brief erhalten hat, und mir Auskunft geben
kann. Ich habe hier schon viele Menschen getroffen, die sich lebhaft für den
2) Der „rote Kamerad“ ist Simon Dikstein, einer der ersten pol-
nischen Sozialisten. Mit kaum 19 Jahren absolvierte er die Universitat Wa u.
Bald darauf wanderte er aus und arbeitete als Drucker in Hamburg und Paris.
In Paris widmete er sich später wieder naturwissenschaftlichen Studien. Daneben
stand er stets mit anarchistischen Kreisen in Fühlung. Oberempfindlich von
Natur, wurde er immer schwermütiger und nahm sich im Jahre 1884 das Leben.
Sozialismus interessieren, und zwar in Kreisen, in denen man es am wenigsten
hätte erwarten sollen. Vie mir scheint, ist ihre Zahl grof genug in Schweden,
um eine starke sozialistische Partei zu bilden. Das wäre eine Aufgabe für die
244
Deutschen, denn die hiesigen Verhältnisse sind meiner Meinung nach den deutschen
sehr ähnlich, nur daß hier größere Freiheit herrscht, und daß die Schweden, be-
sonders aber die Norweger, edien Gedanken zugänglicher sind als die Deutschen.
Wie sehr fügt sich die letzte Katastrophe, die Ihren Freund Varinskij be-
troffen hat, in das Bild ein, das ich mir auf Grund Ihrer Erklärungen von ihm
gemacht habe. Ich kann es gar nicht glauben — das sollte das Ende seines Schick-
sals sein? Ein so energischer, gewandter und fähiger Mensch wie er, wird doch
eine Möglichkeit finden, sich aus der Falle zu retten! Ich bitte Sie, mir auch über
Mendelsohn zu berichten, sobald Sie etwas über ihn erfahren haben. Sein
Schicksal interessiert mich sehr.
Ich wußte gar nicht, daß die polnischen Zeitungen über mich geschrieben
hatten. Ich freue mich, daß die Polen mich als eine der ihren ansehen, denn was
mich selbst anbelangt, so fühle ich für kein Volk eine so große Vorliebe, wie für
das polnische. In meiner Kindheit habe ich immer davon geträumt, mich an einem
Inischen Aufstand zu beteiligen und — können Sie es mir wohl glauben? — je
änger ich lebe, um so mehr überzeuge ich mich zu meinem eigenen großen Er-
staunen davon, daß ich schon in meiner frühesten Jugend ahnte, was ich später er-
a würde. Wer weiß, vielleicht gehen meine Kinderträume noch einmal in
E ung.
Augenblicklich habe ich sehr viel zu tun, und bin einzig von dem Wunsch
beseelt, meine Song auf der Universität zu befestigen, um auf diese Weise auch
anderen Frauen den Weg dahin zu ebnen.
Die neue mathematische Arbeit, die ich kürzlich begonnen habe, fesselt mich
außerordentlih. Ich möchte nicht cher sterben, als bis ich das Resultat, nach
dem ich suche, gefunden habe. Sollte es mir wirklich gelingen, das Problem zu
lösen, so wird meın Name einst zwischen den berühmtesten Mathematikern stehen.
Nach meiner Berechnung brauche ich noch etwa fünf Jahre, um zum Ziel zu
kommen, aber ich hoffe, daß nach fünf Jahren mehr als eine Frau imstande sein
wird, mich hier zu ersetzen; dann kann ich endlich einer anderen Sehnsucht
meiner Zigeunernatur folgen, und dann, meine Liebe, werden wir uns irgendwo
ereffen. Sie haben jedenfalls versprochen, mich bald in Stockholm zu besuchen,
und ich betrachte dieses Versprechen als ein unumstößliches und bindendes.
Mein persönliches Leben ist so fade und uninteressant, wie Sie es sich gar
nicht vorstellen können. Und was die „Vögel“ angeht, so kann ich mich höchstens
einer Bekanntschaft mit der Eule rühmen. Im Grunde genommen ist ja auch die
Eule ein edles und gutes Geschöpf, das man nicht verachten soll. Sie besitzt
freilich nicht die Federn des „blauen Vogels“, aber man weiß wenigstens, woran
man mit ihr ist, und läuft nicht Gefahr, nach einem Regenguß die Federn ent-
färbt zu sehen, wie es bei dem armen weißen Star von Alfred Musset geschehen
ist. Denken Sie sich eine Maschine, die rechnet und kalkuliert, dann werden Sie
ein getreues Porträt von mir haben. Übrigens habe ich ja den größten Teil meines
in einem solchen Zustand verbracht, bin also an ihn gewöhnt, und doch
glaube ich noch an einen schönen glänzenden Sonnenuntergang in der Zukunft —
gibt es wohl etwas in der Welt, das schöner ist, als ein herrlicher Sonnenunter-
gang? Haben Sie darauf geachtet, wie schön in diesem dene die Sonnenuntergänge
in Paris sind? Hier sind sie ganz prachtvoll. Sie haben wahrscheinlich davon
gehört, daß sich die Laufbahn der Erde mit der eines großen Sternes kreuzt; ist
es nicht sonderbar, sich vorzustellen, daß wir einem Körper ganz nahe sind, der
beld in dem unendlichen Weltall verschwinden wird?
., Wenn ich Ihnen schreibe, glaube ich fast, mit Ihnen zusammen zu sein und
mich mit Ihnen zu unterhalten über dieses und jenes, in bloßen Andeutungen, mit
denen wir uns schon verstehen. Dies um so mehr, als es schon ein Uhr nachts ist,
also eine Stunde schlägt, die für Stockholm, wo alle mit den Hühnern zu Bett
gchen und — leider — mit ihnen aufstehen, unerhört spät ist. So bin ich denn
gez en, von Ihnen zu scheiden. Ich hoffe, Sie lassen mich nicht lange auf
Nachricht warten. Meine aufrichtigsten Grüße an Suterland und Dikstein. Dem
R. sagen Sie, cs sei nicht nett von ihm, sein Versprechen, mir zu schreiben, nıcht
gehalten zu haben, doch kann ihm, wenn er bald schreibt, noch alles verziehen
245
werden. Bitte schreiben Sie mir auch über alle unsere Bekannten aus Paris, die
Sie treffen, oder von denen Sie hören. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie
schön die Erinnerungen an die damalige Zeit für mich sind, und wie teuer mir
alles ist, was damit zusammenhängt. vee Herzen
re
Sonja Kovalevskij.
Meine Liebe! Moskau, den 18. Juni 1884.
Ich danke Dir für Deinen lieben Brief, den ich erst heute erhielt. Eigentlich
war ich etwas böse auf Dich wegen Deines langen Schweigens. Ich dachte, Du
hättest mich vergessen, Ich höre übrigens über Dich durch Julia K., die Braut,
oder besser Frau von Vollmer. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie froh ich darüber
wäre, wenn Du Deinen Plan, nach Stockholm zu kommen, ausführtest. Wie herr-
ich wäre es, wenn wir uns hier alle wiederträfen. Mir scheint es, als hätte ich
Dich eine Ewigkeit nicht gesehen.
Ich selbst habe keinerlei Pläne für die Zukunft, mir fehlt jede Piene um
welche zu schmieden. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mich über die
guten Nachrichten von meinem kleinen Almanach-Talisman freue. Ich hoffe, Du
verrätst meinen Aberglauben an niemanden weiter. Ich bin in der Tat sehr aber-
gläubisch, der Verlust des Almanachs hat mich darin noch bestärkt.
In meinem Berufsleben ist alles in Ordnung und so, wie es sein soll, aber ich
muß Dir gestehen, daß es in meinem Privatleben trübe aussieht, und ich eine große
Leere empfinde. Fordernd und selbstsüchtig hat sich mein kleines Ich in den
letzten Monaten oft empört, es wollte die Minderwertigkeit und Vergänglichkeit
alles persönlichen Glücks gar nicht einsehen lernen. Eıne große Apathie und
Gleichgültigkeit mir selbst gegenüber ist geblieben. Ich wünsche nichts mehr für
mich selbst. Es scheint mir, als hätte ich endlich das Ideal eines unpersönlichen
Lebenszustandes erreicht. Ich bin jetzt so eine Art Krankenschwester: Ich lebe in
Gesellschaft vieler Menschen, die mich eigentlich wenig interessieren, die aber in
ihren größeren und kleineren Kiimmernissen meiner Hilfe bedürfen. Das
Schlimmste ist, daß ich ihnen nicht wirklich helfen kann. Ich bringe aber nicht
etwa ein Opfer, weil ich mit ihnen meine Kanikularzeit verbringe, denn ich sehne
mich nirgends anders hin, Deine Begeisterung für Paris teile ich. Es ist schön
dort zu wohnen, aber nicht nur auf einige Wochen dort zu sein. Wie glücklich
wäre ich, wenn ich dort ein solches Arbeitsfeld wie in Stockholm ommen
könnte, aber daran ist überhaupt nicht zu denken! Die Franzosen werden so
bald keine Frau zum Professor ernennen, obgleich ich von niemandem so zahl-
reiche Komplimente bekommen habe, wie gerade von den französischen Mathe-
matikern. Sie finden das nur im Ausland, aber nicht bei sich selbst schön.
Komme doch nach Stockholm, liebe Maria, um etwas Leben in mich zu
bringen. Ich bin in großer Gefahr, in ein Lehrbuch der Mathematik verwandelt
zu werden, das man nur öffnet, wenn man nach bestimmten Formeln sucht, das
aber sofort aufhört zu interessieren, sobald es auf dem Bücherbrett zwischen
anderen Werken steht. Ja, ich zweifle sogar, ob es selbst Dir trotz Deiner großen
analytischen Fähigkeiten gelingen wird, den Kern zu verstehen, der sich zwischen
den Zeilen dieses alten Lehrbuches versteckt.
Ich lese jetzt Tolstois „Beichte“ und “Was sollen wir tun“. Du hast wahr-
scheinlich auch schon von diesen Büchern gehört, die, obgleich sie in Rußland ver-
boten sind, doch in tausenden von Exemplaren verbreitet werden und in aller
Hände gelangen. Tolstoij sucht den Frieden und endet mit dem Sozialismus. Ver-
zweiflung und Selbstmord, das sind für jeden denkenden Menschen die Folgen von
Verhältnissen, in denen Reich und Arm hart auf einander stoßen.
Genug für heute, liebe Maria. Antworte mir bald und erzähle mir ausführ-
lich von Dir. Ich küsse Dich herzlichst Deine Sonja.
[Berlin1884.]
Meine Liebe!
Vor einigen Tagen erhielt ich Deinen Brief, heute erfuhr ich die traurige
Nachricht vom unerwarteten Tod des armen Dikstein. Vollmar ist sehr besorgt
246
um Dich und ich denke nicht weniger beunruhigt daran, wie Du dies Ungliick er-
tragen wirst. Schreibe mir bald 5 ein paar Vorte, meine Liebe, um uns
zu beruhigen. Du wirst begreifen, Deine Freunde, die Deinen lieben pol-
nischen Hitzkopf kennen, in einer solchen Stunde besorgt um Dich sind.
Was mag den armen Dikstein zu einem solchen Schritt veranlaßt haben?
Es ist ja wahr, das Leben bedeutet kein allzu großes Glück; trotzdem wundern
wir uns jedesmal, wenn es jemand frühzeitig von sich wirft. Hast Du „La joie du
vivre“ von Zola gelesen? Erinnerst Du Dich noch an den Ausruf des armen gicht-
brüchigen Greises, dessen Leben nur noch eine ununterbrochene Agonie war —
seines Ausrufs, als er die Nachricht vom Tode seiner alten Dienerin empfing:
„Wie dumm muß man sein, um sich das Leben zu nehmen.“ Es scheint im
oft so zu sein: Diejenigen Menschen, die viel gelitten haben und nichts mehr vom
Leben erwarten, hängen am stärksten daran und betrachten es als eine Torheit,
sich freiwillig davon loszusagen. Wenn man es recht bedenkt, so ist das Leben
eine recht\ hoffnungslose Angelegenheit; aber nun fange ich an, mich selbst in
düstere Gedanken zu vertiefen, statt Dich zu ermuntern und zu beruhigen.
lch muß leider zugeben, daß ich zur Zeit an einem „Spleen“ leide, ohne
eigentlichen Grund, denn in meinem Leben scheint alles einen guten Verlauf zu
nehmen. Du hast vielleicht aus den Zeitungen erfahren, daß ich zum Professor
ernannt worden bin, und daß ich eine langjährige Arbeit abgeschlossen habe. Ich
habe also allen Gund, mich zu freuen. Und trotzdem fühle ich, wie seit langem
nicht, eine große Leere und Langeweile in meinem Leben. Bitte erwähne das nicht
etwa in Deinem Brief an Vollmar. Ich fürchte, er wird meinen jetzigen Zustand
doch nicht verstehen, und nur betrübt darüber sein. Wahrscheinlich ist es nur
eine natürliche Reaktion. Ich habe übermäßig viel gearbeitet, um ein kleines
Resultat zu erobern, und jetzt scheint es mir, als wäre daa Resultat der großen
Anstrengungen nicht wert gewesen. Hoffentlich ist es nur eine vorübergehende
Stimmung, unter der ich leide, hoffentlih kann ich bald mit neuer Freude an
meine Arbeit gehen. Schreibe mir bald, meine Liebe! Ich bleibe noch ein paar
Wochen in Berlin, dann kehre ich nach Schweden zurück.
Auf Wiedersehen, meine Liebe! Ich erwarte mit großer Ungeduld und Un-
ruhe ein paar Zeilen von Dir. Von ganzem Herzen er
eine 8.
Auf de Dauer kann sich Sonja in Stockholm nicht wohlfühlen. Obwohl
ihre Tätigkeit an der Universität e DECH ist — sie wird noch im ersten Jahre
zum Professor ernannt — obwohl sie von der sonst so konservativen Gesellschaft
vom ersten Tag an gastlih aufgenommen wird. Gerade damals versorgt
Schweden, wie nie mehr vor- oder nachher, Europa mit Vorkämpfern einer neuen
Generation, — junge Kräfte, die das eigene Land stellt, und Flüchtlinge aus dem
Osten, denen es Asyl bietet. Sonja steht mit den bedeutendsten Gelehrten und
Schriftstellern in persönlicher Fühlung, tritt sozialistischen Kreisen nahe, ist eng
befreundet mit Julie Kjellberg (der späteren Frau v. Vollmar), mit Therese Gyldèn
und Ellen Key. Zu allen aktuellen Schul- und Bildungsfragen, zu den Problemen
der Frauenbewegung nimmt sie Stellung, wenn sie selbst auch nie ostentativ hervor-
tritt. Denn ihre Briefe, diese intimsten Selbstzeugnisse, beweisen, daß sie alles
andere als eine emanzipierte Frau war.
So schreibt sie nach der Rückkehr von einem mehrwöchentlichen Ferien-
aufenthalt in Paris an Maria Mendelssohn:
Liebe Maria! [Stockholm, wahrscheinlich 1885.]
Heute früh hatte ich kaum Zeit, herzlich von Dir Abschied zu nehmen und
Dir für alle Gastfreundschaft und Fürsorge, die Du mir in Paris erwiesen hast, zu
danken. Ehe ich das liebe Frankreich verlasse, umarme ich Dich nochmals herzlich
in Gedanken. i
Wie stimmen diese immer neuen Trennungen traurig! Eben hat man sith
warm und innig aneinander angeschlossen, schon naht die Abschiedsstunde wieder.
Du, Marie, bist glücklich, da Du von wirklich treuen Freunden umgeben bist, von
Freunden, die Dich nie verlassen, und mit denen Du so viele gemeinsame Inter-
247
essen hast. Ich selbst fühle, wie ich mit jedem Abschied älter werde. Ich bin ein
armer, ewig umherirrender Jude, und doch wird behauptet, daß gerade der Mathe-
matiker der Ruhe und des Gleichgewichts bedarf. Könnte ich mich doch wenigstens
auf Dein Versprechen, mich in Stockholm zu besuchen, verlassen. Ich bin aber
überzeugt, daß Du mich vergessen wirst, sobald ich mich aus Deiner Sehweite ent-
fernt habe. Wehe Euch, wenn Ihr Euer Versprechen vergessen solltet! Es würde
nur ein Beweis dafür sein, daß die Polinnen heuchlerisch und oberflächlich sind,
und daß es sich nicht lohnt, sich an sie anzuschließen. Aber nein, Du wirst mir das
nicht antun. Ich weiß, Du bist ein guter und aufrichtiger Freund.
Ih drücke allen unseren Freunden herzlich die Hand, besonders dem Pan
Heinrich. Pan Mendelsohn kannst Du sagen, daß er mich wahrscheinlich gern
los sein wollte, und mir deshalb riet, mit dem Achtuhrzug zu fahren.
Ich küsse Dich herzlich und innig. In den letzten Wochen habe ih Dich noch
besser als früher kennen gelernt und liebe Dich noch mehr. Ich fühle, daß wir
einander sehr nahe gekommen und verwandt geworden sind. Auch Du, Maria,
wirst mich ein wenig vermissen; oder wird es den Franzosen gelingen, mich aus
Deinem Herzen zu verdrängen? Schreibe mir bald nach Christiania. Auch Pan
Heinrich muß mir schreiben. Ich küsse Dich viele Male. Von Herzen
Deine Sophia.
Meine Liebe! ` {Juli 1886.]
Gestern Abend bin ich in Christiania angekommen, wo ich schon erwartet
wurde. Ich kam gerade zur rechten Zeit, um noch an den letzten Feierlichkeiten
teilzunehmen. Jedenfalls ist eine genügende Anzahl von Festessen, Reden und
Toasten für mich vorgesehen, so daß ich zufrieden sein kann. Auch meine Freunde
Mittag-Leffler und Frau Edgren sind hier. Wir waren gestern den ganzen Abend
zusammen, um über die Ereignisse der letzten Monate zu plaudern. Hat es nicht
in Deinen Ohren geklungen, liebe Maria? Eigentlich mußt Du sehr starkes Ohren-
klingen gehabt haben. Ich habe überhaupt so viel an Dich gedacht, daß ich ständig
das Bedürfnis habe, Dir zu schreiben. Diese weiten Entfernungen und ewigen
Abschiede sind doch abscheulich, nicht wahr? Sobald ich Paris verlassen hatte,
bemächtigte sich meiner tiefe Traurigkeit und ich denke nur daran, wieder dahin
zurückzukehren. Wann wird endlich die glückliche Zeit der Luftschiffe kommen,
die Zeit, in der räumliche Entfernungen nicht mehr existieren, denn noch sind sie
unerträglich, das versichere ich Dir. Die Fahrt über das Meer war alles andere als
angenehm. Frau Atlantis machte sich über mich lustig und in den ersten beiden
Tagen habe ich mich recht elend gefühlt. Aber nachdem wir das Skagerak erreicht
hatten, nahmen alle meine Leiden ein Ende und so verlief der dritte Tag recht
angenehm. Die norwegische Küste ist malerisch und originell. Leider muß ich
meine Schilderung unterbrechen. Ich werde erwartet und muß mich beeilen.
Dienstag, den 18. Juli.
Ich will den Bief schnell beenden, um ihn heute endlich abzusenden. Der
gestrige Tag war sehr anstrengend, wenn auch erfreulich. Man brachte mir große
Ovationen. Ih wurde zum Vorstand der mathematischen Sektion gewählt.
Während des offiziellen Diners hielt Professor Björkes eine lange Rede mir zu
Ehren, und alle Anwesenden, hauptsächlich Studenten sus Christiania, applaudierten
so stark, daß die Wände zitterten — —“
Liebe Maria!
Erst seit gestern bin ich wieder in einer zivilisierten Umgebung und im-
stande Dir zu schreiben. Unsere Reise in die norwegischen Gebirge dauerte viel
länger, als ich vermutet habe. Als ich in Dyfved ankam, fand ich zu meiner
großen Freude zwei Briefe von Dir vor — der eine war nach Christiania, der
andere nach Dyfved adressiert. Ich danke Dir, meine Liebe, daß Du mich noch
nicht vergessen hast. Wie oft denke ich an Dich! Wie gern möchte ich in Deinem
Salon oder richtiger in Deinem Zimmer sein, mich auf das blaue Sopha setzen und
mit Dir plaudern. Was waren es für liebe Stunden in vertrauten Gesprächen.
Wie gerne hätte ich Dir von meinen verschiedenen Reiseeindrücken erzählt. Es ist
viel schwerer, darüber zu schreiben, obgleich meine Eindrücke keinerlei persön-
248
lichen Charakter haben. Ich verbrachte mehr als eine Woche in einer Landschule
in Norwegen bei einem bekannten norwegischen Sozialisten. Es waren die inter-
essantesten Tage der ganzen Reise. Ich nahm an allem, was ich sah und hörte,
lebhaften Anteil. Ich werde Dir ausführlich darüber schreiben, sobald ich etwas
mehr Zeit habe. Heute habe ich nur noch eine knappe Viertelstunde bis zum Ab-
gang der Post und habe Dir doch noch 30 viel zu sagen.
Ich las in den Zeitungen, daß in Warschau ein sozialistischer Geheimbund
el gra worden ist, der in Beziehungen zu den Emigranten in Paris steht, und
der Führer der Bewegung verhaftet wurde. Ist das wahr, meine Licbe? Mein
Herz schnürte sich zusammen bei der bloßen Vorstellung, daß Deinen Freunden
ein neues Unglück zugestoßen sein könnte. Was macht denn Janovié?
Wie traurig, Vollmar und die anderen Sozialisten in Deutschland ver-
urteilt worden sind, Schlimme Zeiten! Die schwedischen Zeitungen sind aus-
schließlich von der Annäherung zwischen Deutschland und Schweden erfüllt.
Sollte sie wahr werden, so haben wir schöne Aussichten vor uns. Meine Reise
ist noch nicht zu Ende. In zehn Tagen fahre ich nach Rußland, um meine Tochter
zu holen. Meine Freundin, auf die ich gerechnet hatte, kann sie nicht bringen, so
muß ich selbst fahren. Ich werde aber ın den ersten Tagen des September wieder
zurückkehren. Welche Freude wäre es für mich, wenn Du dann kommen könntest.
Bitte schreibe mir gleich darüber und adressiere den Brief nach Stockholm. Ich
küsse Dich innigst. Auf baldiges Wiedersehen von ganzem Herzen
Deine Sophia.
Meine teuerste liebe Marie! (1885.)
Dein Brief hat mich wirklich auf das Tiefste betrübt, denn ich verstehe und
fühle, was Du in diesem Augenblick empfindest. Vor zwei Jahren war ich in
derselben Lage. Damals schien es mir, wie Dir heute, als hätten sich Menschen
und Dinge verabredet, um meinen Kummer zu vermehren, mein Einsamkeitsgefühl
zu verstärken und mir das Leben von der düstersten und verzweifeltsten Seite zu
zeigen. Ist es nicht sonderbar im Leben, daß sich stets, wenn wir von einem
Unglück betroffen sind, zehn andere zur gleichen Zeit bei uns einfinden, von allen
Seiten her, als hätten sie nur auf den günstigen Augenblick gewartet, um auf uns
herabzustürzen. Schon in meiner Kindheit habe ich diese Beobachtung gemacht
und seitdem oft Gelegenheit gehabt, sie in meinem eigenen, wie in dem Leben
meiner Freunde bestätigt zu sehen. Ich kenne alle lite eng mit denen
man diese Tatsache zu erklären pflegt, aber ich muß gestehen, daß mich noch kein
einziger je befriedigen konnte. Ich versichere Dir, ungeachtet aller meiner Kennt-
nisse und Erfahrungen, trotz der philosophischen Weltanschauung, die ich mir zu
bilden versucht habe, ich bin immer noch, wie ein unverbesserlicher Spieler, der
resten Überzeugung, daß sich in jedem Menschenleben Glück und Unglück wie
Flut und Ebbe ablösen. Wie weiß man aber in diesen Augenblicken jeden Freund-
tsbeweis, den man von anderen erfährt, einzuschätzen. Ich werde nie ver-
gessen, liebe Marie, wie gut und zart Du zu mir warst, in der Zeit, als ich so wenige
Freunde hatte, Ich kann auch jetzt noch nicht behaupten, daß ich deren viele habe,
und daß sie alle aufrichtig and, aber ich habe mich an diesen traurigen Gedanken
gewöhnt und nehme ihn ruhiger als früher hin. Wenn Du nur wiiftest, wie
traurig ich darüber bin, Dir meine Liebe durch nichts als durh Worte beweisen
zu können — ja, sogar nur durch einen Brief! Ich weilte so gerne in Deiner Nähe,
wollte, Du könntest fühlen wie ich Dich liebe, und wie teuer Du mir bist! Ein
Glück, daß Du in Paris zwei Freunde hast, die Dir so treu zugetan sind, zwei
Freunde, das ist schon viel, liebe Marie, und doch hast Du n einen Dritten,
der Dir, obgleich er weit von Dir entfernt ist, nicht weniger die Treue hält. Be-
denke nur, wie kalt und traurig das Leben wäre, wenn wir, die wir Dich lieben,
Dich verlieren müßten. Ich hoffe, Du denkst ein wenig daran, und läßt Dich von
diesem Gedanken vor unüberlegten Handlungen zurückhalten. Ich danke Stanislaus
Mendelsohn noch einmal für die Nachrichten, die er mir über Dich gab. In seinem
letzten Brief bittet er mich, auszukundschaften, wie Dein Ergehen in Rußland ist.
Hier habe ich natürlich niemanden, der mir diese Frage beantworten könnte, aber
ich werde einem meiner Freunde in Petersburg schreiben und ihn bitten, mir ganz
ausführlich zu berichten.
249
Du weißt vielleicht, daß ich seinerzeit in derselben Lage wie Du war. Nach
Kovalevskys Tod waren meine Vermögensverhältnisse so verwickelt, lasteten so
hohe Schulden auf mir, daß ich auf keinerlei Rest von meinem Vermögen rechnen
konnte. Das Schlimmste aber war, daß sich sofort Leute einfanden, die meine ver-
zweifelte Lage und meine Gleichgiiltigkeit ausnutzten und meine Lage nach dem
Tod meines Mannes noch verschlimmerten, natürlich zu ihren eigenen Gunsten.
Noch heute bekomme ich keine Kopeke aus Rußland, ich lebe einzig von
meinem Professorengehalt. Es war eine sehr glückliche Fügung, daß ich diese
Stelle gerade in dem Augenblick bekam, als ich es am EE hatte. Es ist heute
so schwer, Existenzmittel zu beschaffen, wenn der Me nicht von Jugend auf
daran gewöhnt ist, ein Grund mehr, weshalb ich Dir materielle Unabhängigkeit
von Deinem Vater wünschen möchte. Es würde Dir gewiß unangenehm sein, auf
Kosten Deines Vaters zu leben. Ich werde versuchen, so rasch wie möglich die
Auskünfte, die Stanislaus haben möchte, zu geben, und Dich sofort benachrichtigen.
Es ist fast überflüssig, Dich zu bitten, mir nur zu nen, worin ich Dir irgenwie
nützen kann. Mit Vollmar sprach ich bereits über Deinen Paß, aber ich hoffe,
Du brauchst keinen. Der Paß von Julia (Kjellberg, spätere Frau v. Vollmar) steht
immer zu Deiner Verfügung; allerdings hast Du so wenig Ähnlichkeit mit einer
Schwedin, daß es nur ein Dummer nicht erraten müßte. Vielleicht wendest Du
Dich wegen eines Passes doch lieber an meine Freundin Z, Ihr Paß ist in Ordnung,
und sie wird ihn Dir gern geben, wenn sie Dir einen Gefallen damit tut.
Telegraphiere mir, wenn Du den Paß brauchst. Ich küsse Dich von Herzen,
liebe Marie. Immer Deine Sonja.
Ich drücke Stanislaus die Hand, leider besitze ich keinen eigenen Paß. Ich
an meinen nach Rußland geschickt, damit ich aus der Untertanenliste gestrichen
werde.
Meine Liebe! Stockholm, den 25. Januar 1886.
Durch unseren Freund W. habe ich zu meinem Kummer erfahren, daf Dein
Ertschluß unerschütterlih ist. Vollmar hat Dich wahrscheinlich benachrichtigt,
daß der Erfüllung Deines schönes Planes keine Hindernisse im W stehen.
Julia K. gibt Dir ihren Paß. Nach alledem wirst Du es wahrscheinlich kindisch
empfinden (um mich gelinde auszudriicken), wenn ich Dich noch einmal frage:
Liebe Maria, hast Du Dir Deinen Plan auch gut iiberlegt, ich kann nicht anders,
als Dir sagen, daß Dich Dein lieber echt polnischer, heißer und entziickender Kopf
wieder einmal den größten Gefahren aussetzt. Ich habe W. ganz ernst gefragt:
‚Sagen Sie mir die Wahrheit, glauben Sie, daß diese Reise Marıas notwendig oder
wenigstens dienlich für die Sache ist? Er hat es verneint. Er ist davon über-
zeugt, daß Du zurzeit auf Deinem Platz notwendiger bist, aber das Gefühl der
scheinbaren Untätigkeit, das Bedürfnis, Dich selbst zu vergessen, und Dich in Ge-
fahren zu stürzen, veranlassen Dich wahrscheinlich zu dieser Reise. Weder ich noch
et werden dazu imstande sein, Dich davon abzuhalten, Da in meinen Adern
anch polnisch-zigeunerhaftes Blut fließt, verstehe ich Dich, liebe Maria. Du selbst
bist Dir nicht klar darüber, welch große Rolle das Bedürfnis nach Selbstauf-
opferung, nach Verklärung im Martyrium und die unauslöschlichen Spuren
bie Ag Exaltationsdranges bei Deinem Entschluß mitspielen, Spuren, denen
weder Verstand noch gesunder Realismus die Wage zu halten vermögen. Liebe
Maria, ich kann es mir einfach nicht vorstellen, daß Du, die Du so nervös, zart und
lebendig bist, zu einem jahrelangen Gefängnisdasein in Sibirien verurteilt werden
könntest, daß Du die Qualen eines unvermeidlichen und langsamen Todes, dem
die politischen Sträflinge in Rußland ausgesetzt sind, ertragen könntest. Ein
solcher Tod ist schlimmer, als der Tod am Galgen, denn er ist viel qualvoller und
eine Hoffnung auf Flucht ist fast aussichtslos. Die wenigen, die von Sibirien
zurückkommen, sind körperlich und geistig vollständig zerbrochen, wie z. B. die
arme Bardina. Ich habe richtige Sehnsucht nach Dir, liebe Maria, ich konnte mich
lange nicht entschließen, Dir zu schreiben, denn alle Gedanken, die aufs Papier ge-
bracht werden, erscheinen fade und leblos im Vergleich zu dem, was ich Dir sagen
möchte. Das einzig Gute an Deinem Plan wäre, daß Du nach Stockholm kämst,
ich hätte dann Gelegenheit Dich zu umarmen,, und mit Dir über Deine Pläne zu
250
sprechen. Schreibe mir bald, meine Liebe, ich erwarte mit Ungeduld Nachricht
von Dir. Von Herzen
Deine S. K.
Ganz unmittelbar und persönlich wirkt trotz der sprachlichen Unbeholfen-
heiten der folgende deutsche Originalbrief an Therese Gyldén über die kleine
Sonja, die bis zum Jahr 1855 bei den Schwestern Lermontov, den Freundinnen der
Mutter, in Rußland lebte.
Liebe, theuere Therese! Moskau, 21. Mai 1884.
Gestern habe ich Deinen Brief erhalten und ich danke Dir herzlich für die
freundliche Teilnahme für mich und meine kleine Sonja, welche aus demselben so
klar hervorgeht und die mir so unaussprechlich theuer ist, Ich muß Dir gestehen
aber, daß Deinen Brief noch Etwas dazu beigetragen hat um diejenige Unent-
schlossenheit in welcher ich mich jetzt befinde noch zu vermehren. Wenn ich
Dir alle die Bewegungsgründe welche mich dazu neigen um Fufi noch für den
nächsten Winter bei den Lermontoff zu lassen, auseinandersetze, wirst Du wahr-
scheinlich auch zugeben müssen, daß dieselben von sehr wichtiger Natur sind. Der
Hauptgrund ist der, daß sie hier so sehr gut, so wohl körperlich wie auch geistlich,
zu gedeihen scheint. Über „großartige“ russische Verhältnisse kann hier zwar
keine Rede sein. Der Wohlstand welcher sie hier genießt steht in keinem grellen
Widerspruch mit dem welchen sie später bei mir in Stockholm finden wird; Du
mußt nicht vergessen aber daß die beiden Schwestern Lermontoff sind zwei der
intelligentesten und besten Mädchen, die man überhaupt finden kann. Meine
Freundin Julia L. ist eine sehr bekannte Chemikerin (Sie hat fast gleichzeitig mit
mir in Göttingen promoviert). Nach allen Anlagen Ihrer Natur scheint sie für
das Familienleben geschaffen zu sein und auf meine kleine Sonja hat sie alle die-
jenige Liebe concentriert, von welchen Ihr Herz fähig ist. Ihre Schwester Sonja
Lermontoff hat von ihren zartesten Jugend eine besondere Neigung für die
Pedagogie gehegt. Sie ist auch viel im Auslande gereist um das Schulwesen dort
zu studiren und auch jetzt nimmt sie einem tätigen Antheil in eine der hiesigen
Schulen. Durch einen sonderbaren Schicksal haben sich diese beiden Mädchen
niemals verheiratet und auch unter ihren nächsten Verwandten finden sich keine
Kinder. Du kannst Dir selbst denken daß die kleine Sonja es unter der Pflege
dieser beiden Mädchen nicht schlecht hat. — Du mußt auch gedenken, wie einsam
meine kleine Sonja und ich, wir in der Welt stehen. Ihr Geburt wurde durch eine
ganze glückliche Familie geehrt worden; 5 Jahre sind bloß seit der Zeit vergangen
und jetzt hat sie weder Vater, noch Großeltern, kurz keine natürliche Stütze außer
mich. Unter solchen Verhältnissen ist es wohl sehr natürlich das den Band
welche sie mit der Familie Lermontoff bindet, mir doppelt theuer ist und daß
ich es nicht leichtsinnig wage denselben, wenn auch nicht zu zerreißen, doch jeden-
falls löser zu machen. Julia Lermontoff wünscht es sehr Fufi noch für dieses Jahr
zu behalten und hat mir versprochen im Anfange des Herbstes 1885 selbst sie nach
Stockholm zu begleiten und wenigstens einen Theil des Winters dort mit uns zu
verbringen. Den vorangehenden Sommer werde ich auch die Möglichkeit haben
mit Fufi zusammen in den Lermontoffs Landgut zu verbringen und werde sie
selbst in der schwedischen Sprache etwas unterrichten können, so daß sie nidit
ganz unvorbereitet nach Schweden kommt, Denke Dir doch wie schrecklich
würden für sie die zwei — drei ersten Monate sein, wenn sie in diesem Jahr schon
mit mir nach Stockholm käme! Auf der andern Seit ist es von der größten
Wichtigkeit für mich die Möglichkeit zu haben mich ungestört diesen Winter
meinen Vorlesungen und meinen mathematischen Arbeiten widmen zu können.
Wenn ich Fufi mit mir nehmen sollte würde ich gezwungen sein dieselbe den
ponien Theile des Tages der Aufsicht einer Bonne zu überlassen, während sie hier
ast beständig in der Gesellschaft einer der Frl. Lermontoff ist. Dazu kommt noch
die Frage des Haushaltes, welche für eine so wenig erfahrene Hausfrau, wie ich
es bin, und in ganz für mich fremden Verhältnissen auch große Schwierigkeiten
darbietet. Alle dies Umstände, die Wichtigkeit von welchen Du wohl anerkennen
wirst, zwingen mich zu dem Entschluß mich von meinem kleinen Mädchen noch
für einen Winter zu trennen. So lange wird unsere Trennung auch nicht dauern,
17 NF 6 261
denn in December werde ich die Möglichkeit haben sie wieder in Moskau aufzu-
suchen. Was nun die Berücksichtigung des „q'en dira-t-on?“ anbetrifft so muß
ich gestehen, daß ich demselben ın der Entscheidung einer so wichtigen Frage
keinen Platz anerkennen kann: Ich bin ganz bereit in allem, was die Kleinigkeiten
des Lebens betrifft, mich nach der Meinung der Welt in Stockholm zu fügen und
in meiner Kleidung, in meiner Lebensweise, in die Wahl meiner Bekannten etc.
etc. alles auf das sorgfältigste zu vermeiden, was dem strengsten Richter, oder
vielmehr der strengsten Richterin Anstoß geben könnte. Wenn aber so wichtige
Interessen wie das Wohl meiner Tochter im Spiele sind, muß ich schon ganz nach
meinem eigenen Verstande handeln und es wäre eine ganz unvergleichliche Schwäche
von mir, andere Berücksichtigung hier beizumischen. — Ich bin überzeugt, daß
Du, liebe theure Therese, welche wohl selbst bei der Erziehung Deiner Kinder
gegen manche Vorurtheile zu kämpfen hast, wirst mir in dieser Beziehung Recht
geben müssen. Ich habe meiner Freundin Julia den Inhalt Deines Briefes mit-
getheilt und wir haben beide lange und ernsthaft darüber nachgedacht, was für die
Kleine das beste sein kann. Wenn wir alle die pro und die contra zusammen-
zichen, denke ich doch, daß das Beste wird das folgende sein: Die Kleine bleibt
bei Julia noch ein Jahr; die beiden Monate Dec. und Jan. werde ich auch in Moskau
verbringen. Den Sommer 1885 werde ich dazu anwenden, die kleine Sonia in der
schwedischen Sprache zu unterrichten; im Herbst 1885 kommt sie nach Stockholm
und Julia begleitet uns und bleibt bei uns den größten Theil des Winters. (In
djesem Jahre würde es ihr, in Folge von verschiedenen Familienumständen un-
möglich sein, für längere Zeit Moskau zu 5 Was mich betrifft, so werde
ich für dieses Jahr eine kleinere Wohnung (von 8 Zimmern) miethen und eine
Köchin nehmen, um etwas mich mit dem Haushalt vertraut zu machen und mich
nicht vollständig in der Macht der Bedienung zu fühlen, wenn ich mich definitiv
mit meiner Tochter zusammen in Stockholm niedersetze. —
Du würdest mir einen sehr großen Dienst machen, theure gute Therese, wenn
Du die Mühe nehmen wolltest, eine solche Wohnung für mich aufzusuchen irgend-
wo zwischen Dir und den Lefflers, genauer kann ich die Ort nicht precisiren, denn
Ihr beiden sind für mich die zwei Anziehungspunkten in Stockholm. Eine der
Zimmern sollte groß, die beiden andern können auch kleiner sein. Wenn die
Küche klein ist, so würde eine Mädchenkammer auch unentbehrlich sein. Für die
Anzahl der Treppen bin ich recht gleichgültig, die Sonne ist aber recht wünschens-
werth. Was den Preis angeht, so denke ich etwas omkring 700—800 kr. Findest
Du Etwas was Dir passend erscheint, so sei so gut und nehme es für mich. Ich
überlasse mich vollständig auf Deine Wahl. Recht bedenklich erscheint mir die
Frage des Ameublement. Ich habe gar keine Ahnung, was eine einfache aber an-
ständige Ameublement von drei Zimmern und Küchengeschirr kosten und wo man
eine solche am besten sich anschaffen kann? Da kann Dir gar nicht denken, theure
Therese, wie grenzenlos unerfahren ich in allen solchen Fragen bin! Bis dem Jahre
1882 haben alle solche Sorgen mich niemals berührt und ich hatte auch niemals
einen Begriff, was eine Sache kosten kann. Seit dem Jahre 1882 habe ich zwar
selbständig und in viel reducirteren Umständen, aber dann immer in hotels
oder in bres meublés gewohnt, so daß ich mit dem Haushalt doch nichts zu
schaffen hatte. — Würde es sehr unbescheiden von mir sein, Dich zu bitten, Dich
etwas über diese Frage zu erkundigen und mir Etwas darüber zu schreiben? Wie
Dir vielleicht die Lefflers erzählt haben, stehen jetzt meine finanziellen Verhält-
nisse so, daß ich cs selbst nicht gut wisse, ob ich einiges Vermögen besitze und
wie viel. D. H. ıch besitze, gemeinschaftlich mit meinem Bruder, ein großes Haus
in Petersbourg; dasselbe ist aber in den letzten Jahren so gut administrirt worden,
aß ich es riskire, für vielen Jahre noch keine Rente davon zu bekommen. Jetzt
hat einer meiner Bekannten in 3 es übergenommen, die Sache etwas
genauer zu übersichtigen; ich weiß aber nicht, ob es ihm gelingen wird die schon
gemachten Fehlern ın Ordnung zu bringen. Jedenfalls muß ich, vorläufig
wenigstens, recht ekonomisch leben und keine unnöthige Ausgaben machen. —
Entschuldige mich, liebe Therese, daß mein Brief so schlecht geschrieben ist.
Die kleine Sonia sitzt neben mir während ich schreibe, und ich muß
mit jedem Augenblick meinem Schreiben unterbrechen, um eine ihren Fragen zu
antworten.
252
In wenigen Tagen werde ich jetzt Moskau verlassen und mich nach Berlin
begeben. Ich bitte Dich so freundlich zu sein, Deinen nächsten Brief auf dic
Ad Linkseraße 88 Professor Weierstraß für Fr. S. Kov. adressiren zu wollen.
In Berlin werde ich mein Möglichstes machen um über die Verhältnissen in Göt-
tingen etwas genaueres zu erfahren.
Sei so gut und grüße herzlich von mir Deinen Mann. Ich habe hier meinen
Manuskript über den Ring von Saturn gefunden und werde Prof. Gylden recht
dankbar sein, wenn er es einmal durchblättern wird. Empfehle mich bitte Frau
Lendaf Hageby und Hennes Mann. Meine Freundin Julia Lerm. bittet mich, auch
Dir Ihren Empfhelung zu überreichen. Ich habe so viel von Dir erzählt, daß sie
hat die Empfinden Dich persönlich zu kennen. Vor allem aber bewahre mir Deine
mir so unaussprechlich theure Freundschaft. Deine Dir ganz ergebene
Sonia Kov.
In den letzten Jahren mehren sich in den Briefen an die Freundin in Paris die
Klagen über ihr Leben in Stockholm. Es ist nicht allein die Abneigung gegen die
wesensfremde Stadt, die sie quilt: je größer ihre wissenschaftlichen Erfolge sind,
desto bitterer empfindet sie die eigene innere Leere und Einsamkeit. Immer
häufiger daher ihre dichterischen Versuche, ihre Flucht in Bezirke, die außerhalb der
rein geistigen Sphäre liegen, dem Menschlichen näher. In diese Zeit fällt die
Herausgabe ihrer Jugenderinnerungen und der Plan zu einem mehr oder weniger
autobiographischen, sozialistischen Roman. Alle ihre literarischen Arbeiten,
niemals von irgendeinem igh oder einer Tendenz bestimmt, sind Zeugnisse
einer reichen Menschlichkeit, die in Gleichnissen von sich sprechen möchte, die
farbiger und blutgefüllter sind als mathematische Formeln,
1886 wird Sonja eine neue Last zu den alten aufgebiirdet: ihre Schwester
erkrankt hoffnungslos. Mehrmals muß sie ihre Arbeit im Stich lassen, um nach
Rußland zu reisen. Einige Zeilen an Therese Gyldén aus dieser Zeit:
Meine liebe gute Theresa! Ich danke Dir so herzlich für die ausführlichen
Nachrichten, die Du mir über meine Sonja gibst und für Deine Fürsorge um sie.
Meine Schwester ist leider in einem sehr traurigen Zustand. Es gibt wirklich
nichts so Furchtbares wie diese langsam schleichenden Krankheiten. Sie leidet
schr, die wichtigsten Organe ihres Körpers sind zerstört, sie selbst hat für nichts
weiter Interesse als für ihre Krankheit. Die Ärzte würden es für ein Wunder
halten, falls sie wieder gesund werden sollte. Und es ist wahrscheinlich, daß sie
noch unbestimmte Zeit unaufhörlich so gequält wird — vielleicht noch Monate,
vielleicht auch Jahre.
Entschuldige, daß ich heute nicht mehr schreiben kann. Ich bin selbst in
einer schr deprimierten Stimmung, ich komme eben von ihrer Seite, sie hat einen
schweren Antall von Atemnot gehabt und sich den Tod gewünscht. Es ist furcht-
bar, einen Menschen so viel leiden zu sehen und außerstande zu sein, nur im Ge-
ringsten zu helfen.
Nochmals Dank, meine liebe gute Theresa. Ein frohes und gutes Weih-
nachtsfest Euch allen.
Deine ergebene Sonja.
‚In dieser Zeit beginnt sie eine Novelle „Vae Victis“ und faßt den Gedanken
an einen Doppelroman „Wie es war — Und wie es hätte sein können“.
Endlich, Anfang 1888, stirbt Aniuta. Nur schwer gelingt es Sonja,
sch nach diesem Verlust wieder zu wissenschaftliher Tätigkeit aufzu-
raffen. Tage und Wochen vergehen, ohne daß ihre Untersuchungen fort-
schreiten. Dabei weiß alle Welt, daß sie sich um den „Prix Bordin
ur les sciences mathématiques“ bewirbt, den die französische Akademie
reits fünf Jahre lang vergeblich ausgeschricben hat. Kurz vor Ablauf des
Termins beginnt sie plötzlich fieberhaft zu arbeiten und führt ihre Abhandlung
zu Ende. Am 24. Dezember 1888 wird Frau Professor Kovalevskij in der feier-
lichen ee der Akademie der Preis zugesprochen. Klein, blaß, völlig
erschöpft steht sie inmitten der ihr zu Ehren enberufenen Versammlung, die
erste von der Akademie preisgekrönte Frau, Europas erste Mathematikerin.
253
Persönlich geht es ihr in dieser Zeit so schlecht wie möglich. L’oiseau bleu
— der „blaue Vogel der Liebe — entführt sie nicht auf leichten Schwingen in
ein erträumtes Wunderland, mit schweren dunklen Flügeln rauscht er an ihr vor-
über: ihre Freundschaft und Liebe zu Maxim Kovalevskij stürzt sie in Unruhe,
Verzweiflung und Melancholie. Dieser Maxim Kovalevskij ist ein Verwandter
ihres Mannes, ein revolutionär gesinnter Sozialpolitiker, von der russischen Ke-
gierung, der er unbequem war, ausgewiesen, — Typ des russischen Bojaren,
klug, gutherzig und großzügig, dabei aber starrsinnig und anspruchsvoll. Er und
Sonja sehen sich in Stockholm eine Zeitlang täglıch, dann reisen sie zusammen —
trennen sich — finden sich wieder. Sonja gesteht, daß ihr in den letzten Jahren
niemand innerlich so nahe gekommen ist, wie dieser Mann. Zwei Jahre des unent-
schlossenen Hin- und Her. Und für Sonja dabei immer angestrengteste Tätigkeit
an der Universität. An Neujahr treffen sie sich an der französischen Riviera und
beschließen, ım Frühjahr endlich zu heiraten. Über Paris und Berlin reist Sonja
nach Stockholm zurück. Sie liest noch zwei Tage mit verzweifelter Anstrengung,
am dritten Tag erkrankt sie an einer Lungenentzündung. Treue Freundinnen —
Therese Gyldén und Ellen Key — pflegen sie. „Zu viel Glück“ hört man sie am
letzten Abend noch murmeln. Gilt das Vergangenem — Zukiinftigem? Am
10. Februar 1891, noch vor Tagesanbruch, stirbt sic. Niemand ist bei ihr außer
einer fremden Schwester.
Tiefe Trauer im Freundeskreis, Beileidsbezeugungen aus Berlin, Paris und
London, von der Petersburger Akademie, von Mädchenschulen aus russischen
Provinzstädten, von Frauen aus ganz Europa. Nachrufe in allen europäischen
Zeitungen, in den Fachblättern.
Ergreifend in ihrer Einfachheit sind die Worte, die L. Kronecker der Toten in
Crelles Journal (in dem seinerzeit ihre Doktordissertation erschien) widmet. Er
schreibt nach einer Würdigung ihrer wissenschaftlichen Verdienste:
„„ . . Sophie von Kovalevskij verband mit einem außerordentlichen
Talent sowohl für allgemeine mathematische Spekulation als auch für die bei
der Ausführung spezieller Untersuchungen notwendige Technik gewissenhaften
unermüdlichen Fleiß, hielt bei intensivster Fachtätigkeit stets ihren Sinn für
andere geistige Interessen offen, bewahrte dabei immer ihre Weiblichkeit und
erwarb und erhielt sich darum im Verkehr auch die Sympathie derjenigen,
die außerhalb ihres fachwissenschaftlichen Kreises standen. Die Geschichte der
Mathematik wird von ihr als einer der merkwürdigsten Erscheinungen unter
den überhaupt seltenen Forscherinnen zu berichten haben. Ihr Gedächtnis wird
durch die zwar nicht zahlreichen, aber wertvollen Arbeiten, welche sıc ver-
öffentlicht hat, in der ganzen mathematischen Welt fortdauern, die Erinnerung
an ihre bedeutende und dabei anmutsvolle Persönlichkeit wird in den Herzen
aller derer fortleben, welche das Glück hatten, sie zu kennen.“
Dieser deutsche Gelehrte hatte — mehr als die meisten ihr Nahestehenden —
begriffen, daß die Größe dieser Frau — weit über ihre wissenschaftlichen
Leistungen hinaus — in der Unteilbarkeit ihres innersten Wesens, in ihrer tiefen
Menschlichkeit lag.
254
CONFERENCE DES HISTORIENS. DES ETATS DE
L’EUROPE ORIENTALE ET DU MONDE SLAVE
Varsovie, le 26—29 juin 1927. Varsovie, Société Polonaise
d'Histoire 1927, 1928. 2 Bde. 8°, unpaginiert bzw. 288 Seiten.
Von
Dr. Otto Forst-Battaglia.
In einem ersten vorbereitenden Heft waren das Programm und die Inhalts-
angaben der fiir den Warschauer Historikerkongreß der osteuropäischen Ge-
schichtsforscher von 1927 geplanten Referate enthalten. Der Hauptband druckt
die tatsächlich vorgelegten Mitteilungen ab. Es fehlen die angekündigten Bei-
träge von Horvath (Projekt einer Geschichte der Balkanländer), Miljukov (Ruß-
land und Europa), während der von Mansikka im vorbereitenden Band nicht
resumiert worden war. Drei Referate sind deutsch (Hanisch, Strzygowski,
Lukinich), sechs französisch (Wharton, Florovskij, Rozwadowski, Krypiakievy!,
Mansikka, Balodis), acht in den eigenen Sprachen der Autoren abgefaßt (russische
von Evreinov, Okunev, Sachanev, Smurlo, Taranovskij, polnisch von Kutrzeba,
ukrainisch von Korduba, &echisch von Novotny). Fast ausnahmslos behandeln
sie wichtige Fragen. Es sind zum Teil Berichte über die Organisation und den
Stand der Forschung: Hanisch schildert die Wirksamkeit des Osteuropa-Instituts,
Korduba die Notwendigkeit einer systematischen Sammlung der slavischen Orts-
namen als Grundlage eines für zahlreiche Zweige der Geschichtswissenschaft
fruchtbaren Inventars. Wharton zeichnet mit angelsächsischer Großzügigkeit das
Programm einer Geschichte des Buchdrucks in Osteuropa. Balodis stellt die von
ihm mit viel Erfolg geleiteten Ausgrabungen längst der lettisch-slavischen
Sprachgrenze als ein Muster dar, wie durch die Archäologie wichtige Streitfragen
der Völkergeschichte entschieden werden können. Krypiakievyés Gesamtbild der
ukrainischen Historiographie von heute ist eine etwas trockene Titelaufzählung,
die jedoch genügt, um die Stagnation der ukrainischen Geschichtsforschung zu
enthüllen, die in noch stärkerem Grade als die polnische sich aufs Nationale be-
schränkt und da wieder dem unmittelbar Aktuellen verhaftet bleibt, sich in
wirtschafts- und ständegeschichtlichen Studien und in Motivenberichten zum
Postulat der völkischen Selbständigkeit äußert. Kein Wunder, denn die ukrai-
nischen Historiker sind über die Länder der Emigration (Berlin, Prag, Bratis-
lava usw.), sowie die polnischen Ostprovinzen zerstreut, ohne eigentliches
Zentrum und ohne genügende Mittel. In der Räte-Ukraina aber darf nichts
als historischer Marxismus produziert werden: also Quellensammlungen zur ein-
seitig gesehenen Sozialgeschichte und historische Propaganda. Immerhin ragt ein
Gel r wie Hruševskyj über die Masse der Zeitgenossen empor. Ganz anders
ist das Bild im kleinen, aber kulturell hochstehenden, wirtschaftlich konsoli-
dierten Finnland. Drei Universitäten, mehrere gelehrte Gesellschaften mit
international angesehenen Veröffentlichungen, vor allem aber — Prüfstein von
entscheidendem Wert — das lebhafte Interesse der Nation für ihre Geschichte,
der Geschichtsforscher für die Geschichte auch der anderen Nationen bekunden
den hohen Stand der Vissenschaft, von der Mansikka in seinem Referat über
den Stand der historischen Forschung in seiner Heimat ein ansprechendes, leider
zu wenig um einzelne Persönlichkeiten und Probleme konkretisierendes Ge-
mälde entworfen hat.
Strzygowskis nur gedruckt vorliegender, nicht gehaltener Vortrag ist viel-
leicht der bedeutsamste des Sammelbandes. Er bietet eine methodologische Aus-
einandersetzung über „Geschichte, Vorgeschichte und Fachforschung“ und spinnt
das in der „Krise der Geistes wissenschaften“ eingeschlagene Thema weiter aus.
Er stellt zunächst die Geschichte der Vorgeschichte gegenüber. Revindiziert für
255
die zweitgenannte als ihr eigentümliche Methoden den Vergleich der Denk-
mäler statt deren unmittelbare Bewertung; eine relative statt der historischen
absoluten Chronologie. An diese nicht so ohne weiteres zutreffende Parallele
(hat denn Strzygowski nichts von der vergleichenden Sprachforschung gehört, die
eine historische Wissenschaft ist, und von relativen Datierungen in der Ur-
kundenlehre, die sich doch zeitlich im geschichtsmäßigen Raum bewegt?), reiht
der originelle und kampfesfrohe Wiener Gelehrte sein System der Kunst-
geschichte. Über die von ihm so genannten Bestandtatsachen, deren Kunde uns
die historischen Quellen vermitteln und denen wir mit einfacher Beschreibung
gerecht werden, stellt er die Wesenstatsachen und die Entwicklungstatsachen, bei
denen es sih um aus Betrachtung erschlossene Werte und um zu erklärende,
wirksame Kräfte handel. Nach Strzygowskis Methoden, de — man kann es
nicht oft genug wiederholen, im Grunde gar nicht so verschieden von denen der
vergleichenden Sprachforschung sind, nur mit weit mehr draufgängerischem
Mut aus zeitlich nur relativ, örtlich nur ungefähr zu enträtselnden Zusammen-
hängen die „Wesenstatsachen“ ableiten, — erfährt die Kunstgeschichte und nicht
nur sie, eine völlige Umgestaltung. Der Gegensatz von Barbaren und Kultur-
menschen wird geleugnet. Es gibt nur Verschiedenheiten und keine Hierarchie
der Kulturen, Verschiedenheiten, die geographisch nr sind und sich auf den
Gegensatz der beiden Zonen, der heißen und der kalten zurückführen lassen,
die sich in einer dritten, der Mittelzone mischen, in der man bisher alle wirk-
liche Kultur beheimatet glaubte. Diese Zonen unterscheiden sich kraft des in
ihnen bevorzugten Rohstoffes (der dann wieder für kleinere Sondergebiete jeweils
verschieden ist. Holz ist im Norden, Stein am Mittelmeer, rstoff in Hoch-
asien zur Hand). Sie unterscheiden sich durch den Zweck des Schaffens: Im
Norden dient es der Erleichterung des Kampfes ums Dasein, den Schutz 4
Kälte; es entsteht die Zweckkunst, bei der auch das Ornament nur sinnbil
bleibt. Im Mittelmeer und im Süden bekundet sich die Freiheit vom unmittel-
baren Naturzwang in der freien Darstellung. Unterschiede weiter in der Gestalt:
Der Norden schmückt geometrisch, der Süden durch die Nachbildung von Mensch,
Tier und der Natur überhau Unterschiede in der Form: Der Norden füllt
Flächen im Sinn des Handwerks; der Süden geht von der Einzelfigur aus. Unter-
schied vollends im Inhalt, im seelischen Gehalt: den Norden beherrscht das Sym-
bol; im Süden dient die Kunst der Macht.
Daß Strzygowskis Theorien, in denen eine Unmenge Erfahrung und geist-
reicher Beobachtung steckt, in ihrer Verallgemeinerung unhaltbar sind, wird von
allen Anhängern der klassischen Kunstgeschichte leidenschaftlich behauptet; daß
sie bis ins kleinste zutreffen, werden auch die aufrichtigen Bewunderer dieses
kühnen Bahnbrechers nicht beanspruchen. Zunächst berührt sich Serzygowskis
Lehre stark mit der vom Anthropologischen herkommenden Geschichts-
auffassung der Rassentheoretiker. Sie hehe nicht im leeren Raum, sondern
sie ist untrennbar von einem Imponderabile, von einem rational nicht weiter
erweisbaren Gefühl, daß der Norden nicht ursprünglich barbari -
über den Mittelmeerrassen minderwertig gewesen sei. Strzygowskis Schema hat
verzweifelte Ähnlichkeit mit einem wohlbekannten, das die kühnen, freien,
heldischen Bekenner der in unendliche Weiten sich verlierenden pantheistischen
Naturreligion den nüchternen, realistischen, erdgebundenen, unterwürfigen, dem
Ritus 3 Theisten gegenüberstellt; nur daß hier nicht der Gegensatz
blonde Arier gegen schwarze Südlinge, Westische e tutti quanti, sondern beim
politisch nicht unmittelbar beeinflußten Strzygowski, Nordmenschen gegen Süd-
menschen lautet. Merkwürdig, daß sich 3 ein paar gesichterte Ergeb-
nisse der Sprach wissenschaft entgehen ließ, die er prächtig 5 könnte,
nãmlich die sich aufschließende Verwandtschaft der N mit den
indoeuropäischen Sprachen und die erstaunlichen Resultate, die einerseits die
nähere Bekanntschaft mit Chetitern, dann mit den Tocharischen Ausgrabungen
gezeitigt hat. Der ausgezeichnete Kunsthistoriker tite gut, das Interesse,
welches er z. B. den zwar genialischen, doch ganz unwissenscheftlichen, nur in
der Blickrichtung bedeutsamen Visionen von H. Wirth und den reichliche Dosis
von Phantasie besitzenden sehr klugen Kombinationen der Etruskologie Mühle-
steins entgegenbringt, auch für die vornehm zurückhaltende, nicht minder
256
pu Arbeit der Meillet und Grammont aufzuwenden, wie er ja schon von
uchardt und Hrožny Notiz genommen hat.
Ohne Zwcifel, und darin liegt die Bedeutung der Strzygowskischen Studien
für uns slavische Historiker im rn, ganz abgesehen von der methodo-
apean, die sie fiir die Geschichtsforschung überhaupt hat, wird sich die Aus-
nung des Blickfelds von den Karpathen und von der Weichsel nicht nur bis
in den europäischen Norden, sondern über die russischen, sibirischen, hoch-
asiatischen Flächen bis an den Stillen Ozean zusammen mit den bahnbrechenden
Entdeckungen der Prähistorie in Vorderasien und in Turkestan, in der Wüste
Gobi und im Jünnan, zusammen mit der philologischen Ernte der beiden letzten
Jahrzehnte und mic der fortschreitenden Vertiefung der anthropologischen
Kenntnisse des Ostens zu einem neuen, zum ersten zutreffenden Gesamtbild von
der aus den gemeinsamen indo-europäischen (weder indischen noch europäischen)
Anfängen sich losschälenden, alsdann in ihren von Peisker mit richtigem Instinkt
und hinkender Logik gewitterten Zusammenhängen mit dem turko-tartarischen
Kulturkreis sichergestellten altslavischen Geschichte entwickeln. Kehren wir
indes nochmals zu Strzygowskis bedeutenden Vortrag zurük. ... An die
Wesenswissenschaft als zweite Stufe der Bestandtatsachenlehre reiht er die Ent-
wicklungsgeschichte an. Beileibe nicht, was die Historiker sonst als genetische
Geschichte bezeichnen. Die Entwicklung: nicht das Nacheinander-, sondern das
Auseinanderhervorgehen der geschichtlichen Erscheinungen, wird durch die Be-
harrung (die natürliche Tendenz, der Masse die ihr eigentiimliche Wesenheit zu
erhalten), durch den Willen (fremder Eroberer oder der eigenen Herrscher, etwas
Neues der Masse aufzuzwingen) und durch die Bewegung (die Veränderungen
der Wohnsitze) bestimmt. Durch die Entwicklung entstehen erst die Varia-
tionen des an sich zum Beharren geneigten Wesens. Nordische Völker kommen
nach Süden, nehmen südliche Wesensbestandteile an, zwingen ihre eigenen Be-
griffe den unterworfenen Südmenschen auf. Hier müssen wir wieder einschalten,
daß Strzygowski, ohne es geradeaus zu wollen, von politischen Zeitströmungen
beherrscht wird. Gehorcht seine Wesenswissenschaft der Rassenlehre, so die Ent-
wicklungskunde dem historischen Materialismus in seiner marxistischen Form und
in seiner Rousseauschen, das Volk vergottenden Variante: die Masse — Natur
verkörpert das Gesunde und das Rechte. Von den verderbten, entarteten
oberen Schichten wird durch. Gewalt, kraft materieller Ausbeutung das Natur-
hafte, Wesenhafte beseitigt.
Strzygowski schaltet dann konsequent die Einzelpersönlichkeit aus der Ge-
schichte, zumal der Kunst, ebenso aus, wie das die Bol3eviken (in der Theorie)
tun. Und die bollevikische Doktrin wird wieder ihre Freude daran haben, wie
der Wiener Gelehrte vom Beschauer (der künftig allein vollkommenen Variation
des historischen Forschers) fordert, er müsse sich in ein „Werkzeug der Sachen“
verwandeln, die er beschaut. Freilich, richtig verstanden, haben diese Objek-
tivisierung schon die bösen Historiker alter Schule gepredigt, wenn sie zeigen
wollten, wie „es“ (maa beachte das unpersönliche „es“!) eigentlich gewesen und
geworden ist. bis zu dem Glauben, der Strzygowski eignet, diese Objek-
tivität werde sich jemals in absolute Wahrheit verwandeln, sei es auch um den
Preis des Verzichts auf Persönlichkeit beim Beschauer, zu diesem Glauben vermag
ich nicht vorzudringen. Auch auf dem Umweg über Wesenskunde und Entwick-
lungskunde wird es kaum gelingen, die Geschichte in eine zeitliche Aufeinander-
folge von Experimenten zu verwandeln, aus deren Überbleibseln sich die ver-
meinten Regeln der menschlihen Natur, also eine Naturgeschichte ergibt.
Dennoch wird man dem Vortrag und dem großangelegten, in vielem Zukunfts-
möglichkeiten erschlicßenden System Strzygowskis nicht die geziemende be-
wundernde Teilnahme versagen.
Von den konkreten Einzelfragen der Geschichte erörternden Themen steht
Rozwadowskis knappe Betrachtung über die Urheimat der Slaven mit dem
Strzygowskischen Aufsatz in engerem Zusammenhang. Die Resultate dieses sehr
vorsichtigen und mit klarer Absicht sich den populären oder zur Popularität be-
stimmten gelehrten Ansichten entgegenstemmenden Artikels sind wesentlich
negativ: wir kennen nicht das Volk, das als Sprache das Gemeinslavische hatte;
wir dürfen nur vermuten, daß diese Sprache ın einer Gegend östlich der von
257
der herrschenden Meinung wie z. B. Niederle angenommenen Urheimat zuhause
war (wobei die Flußnamen wichtige Argumente liefern). Wir wissen nicht, ob
das Gemeinslavische sich zur Zeit Christi oder 1000 Jahre früher vom indo-
europäischen Stamm absonderte. Mit dieser bescheidenen Zurückhaltung knüpft
Rozwadowski an Meillets Haltung gegenüber dem Indoeuropäischen an: ein
Volk X hat zur Zeit X im Raum X eine Sprache X gesprochen, von der wir
nur wissen, daß sie die gemeinsame Mutter der nachweisbar untereinander ver-
wandten Tochtersprachen war. Sehr zu begrüßen ist die Ablehnung der ins
Aktuell-Politische abschweifenden Theorien vom slavischen Ursprung der so-
genannten Lausitzer Kultur (entre le subtil et le ridicule il n’y qu’un pas...
Von den Lausitzer Slavenschwärmern zu den Žunkovič und Konsorten ist's nur
ein Schritt).
Kutrzeba beschäftigt sich mit den westlichen und östlichen Elementen im
slavischen Recht. Er verzichtet darauf, Ähnlichkeiten zu schildern, die sich durch
ähnliche Entwicklungsbedingungen erklären oder noch aus urindoeuropäischen
Zeiten herrühren mögen (also auf die „Phonetik“ und „Morphologie“ des
Rechts) und er beachtet nur den nachweisbaren Import, die den ethymologischen
Entlehnungen vergleichbare Rezeption fremder Bestandteile. Bei den Südslaven
überwiegt byzantinischer, östlicher Einfluß. Doch nur im serbischen und bulga-
rischen Gebiet. Schon die Kroaten und erst recht die Slovenen gehören in die
lateinische (und germanische) Kultursphäre, an deren Ausbreitung mittelbar auch
Ungarn seinen Anteil hatte. Von den nördlichen Slaven haben die Ruthenen
besonders auf kirchlichem Gebiet auf die Stimme von Byzanz gehorcht. Ost-
liches Recht, mit sehr beschränkter Geltung waren auf polnischem Boden ferner
der armenische Kodex des Datastanagirk und die. Vorschriften des Talmud. Im
übrigen herrschten da fast allein die Einwirkungen des germanischen (fränkischen)
und römischen Rechts. Des ersten in den Institutionen und in allem, was
Städtewesen sowie die freibäuerlihe Kolonisation betrifft, das antike römische
Recht im Privatrecht und im Prozeß, das Corpus iuris canonici, in dem natür-
lichen Bereich seiner Geltung. Später kamen dann die französischen und engli-
schen Einflüsse hinzu, die sich seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts leise, seit der
Revolution stark bemerkbar machten. Im allgemeinen reichen die westlichen
Institutionen auf slavischem Boden weiter nach Osten als die Grenzen der west-
lichen Kultur. Allerdings müssen sie sich einer An ng an die örtlichen Ver-
hältnisse unterziehen, und mit bodenständigen GE östlichen Elementen ver-
quicken. In dem stoffreichen Aufsatz haben wir nur das Fehlen eines Hinweises
auf die besonderen Einflüsse des Nordens zu beklagen (das Nordische dürfen
wir nicht ohne weiteres mit dem Vestlichen gleichsetzen). Gerade bei dem von
Kutrzeba gewählten Beispiel der Vappen als einer durch östliche bzw. heimische
Modifikationen veränderten westlichen Institution ergibt sich durch die mangelnde
Unterscheidung des Nordischen ein falsches Bild. Übrigens hätte der Vortrag
auch dadurch gewonnen, venn die niederrheinischen, die sächsischen und die
schwäbischen Elemente innerhalb des „Westlichen“ schärfer herausgehoben
worden wären.
Florovskij untersucht einen Sonderfall innerslavischer Vechselwirkung, der
zwischen Russen und Cechen. Er findet diesen gegenseitigen Kontakt hauptsäch-
lich auf kulturellem Gebiet, und nur selten auf politischem. Der geschätzte
Autor verfällt mitunter in politische Rhetorik und übersieht im Interesse der
slavischen Solidarität, daß sich die russisch-&echischen politischen Verbindungen
fast stets gegen einen slavischen Dritten, nämlich Polen, kehrten. Prof.
Novotny Beles e an der Hand der von ihm zu Prag im erzbischöflichen
Archiv entdeckten Dokumente die näheren Umstände, die sich zur Hussitenzeit
einer polnisch-litauisch-£echischen Kombination entgegenstellten. Wir erfahren,
daß die Prager Machthaber, als sie im Jahre 1420 alternativ Władysław
Jagiello und dem Großfürsten Witold die böhmische Krone antrugen, zugleich
deren bedingungslosen Beitritt zur hussitischen Lehre verlangten und daß es diese
Umstände waren, die damals eine Lösung verhinderten, wie sie später, unter
veränderten Bedingnissen, durch die Berufung des braven Königs „Dobrze
LAs:zlo“ Tatsache wurde. Lukinich berichtet von einer anderen denkwürdigen
Berufung auf einen slavischen Herrscherthron: wie Stefan Bathory König von
258
Polen wurde und wie dann später andere Fürsten von Siebenbürgen seinen glor-
reichen Spuren zu folgen begehrten. Der Aufsatz bringt nichts Neues.
Maciejowski zeichnete das alte serbische Recht als eine Fundgrube für die
ältesten gemeinslavischen Institutionen, als eine Mischung von demokratischen
und aristokratischen Anschauungen und durchsetzt von orientalisch-byzantinischen
Elementen. Prof. Taranovskij weist diese Auffassung zurück und stellt dagegen
fest, im serbischen Recht seien die Spuren des ethnographischen Zusammen-
fließens von zweierlei Bevölkerungsgruppen, der sprungweisen Entwicklung des
altserbischen Staates und der tiefgreifenden Umwandlung des rezipierten byzan-
tinischen Rechts zu sehen. Die Abhandlungen von Sahane und Okunev sind
der russishen Kunstgeschichte gewidmet. Sachanev findet die Ornamentik der
prähistorischen, vorslavishen Zeit in der russishen Volkskunst wieder. Strzy-
gowski spendete hier Beifall, wäre nicht das Tierornament, das zu diesem nordi-
schen Aspekt nicht gut paßt. Okunev aber bewegt sih mit seiner Charakte-
ristik der russischen Gewölbebauten ganz in der von Strzygowski angedeuteten
Richtung und zeigt die Novgoroder mittelalterliche Architektur als Import aus
dem gothisch- romanischen Westen. Sogar die Glocken, die berühmten Glocken
von Novgorod haben ein romanisches Geläute. Smurlos Mitteilung über ein
Diplom Peters des Großen an die Kapuziner, das diesen den Bau einer Kirche
in Moskau gestattete, gibt nach dem Original im Archiv der Propaganda zu
Rom eine Analyse dieses von Theiner in einer tendenziösen Redaktion ver-
öffentlichten Dokuments, mit dem Peter, wie später Katharina, dem Westen
Sand in die Augen streuen wollte. Die russishen Methoden: daheim Unter-
drückung der Gewissen, nach außen die Pose vornehmer Toleranz, sind sih durch
die Jahrhunderte gleichgeblieben. Und dieser Methoden Zeugnisse füllen die
Archive ... der Propaganda. Evreinov beschäftigt sich mit den Ergebnissen
der Reformen Alexanders I. Unter dem Druck der Zeitverhältnisse, zum Teil
unter der Nachwirkung seiner Erziehung durch Laharpe und vor allem dank
der Haltung Speranskijs, endlich im Kontakt mit Czatoryski und dem Novosil’cov
der liberalen Epoche hat der Car die Gewaltenteilung bei der obersten Be-
hörde durchgeführt (nicht die Teilung seiner Gewalt mit anderen). Daß diese
Reformen cbenso wie der theoretisch vortreffliche Instanzenzug auf dem Papier
allein Wirkung hatten, läßt Evreinov zu wenig klar hervortreten.
Außer den Referaten bringt der Sammelband noch den Extrakt der
Sitzungsprotokolle des Warschauer Kongresses: Ansprachen, Fragmente der Dis-
kussion, die gefaßten Beschlüsse, unter denen die über das geplante Lexikon
slavischer Altertümer und die Herausgabe eines „Bulletin“ der Literatur zur
osteuropäischen und slavischen Geschichte allgemeine Beachtung verdienen. Das
Organisations-Comité hat uns durch den Druck des vorliegenden Buches eine er-
freulihe Gabe beschert und der Tagung ein bleibendes Denkmal errichtet.
Unsere Dankbarkeit darf freilich nicht verschweigen, daß die Korrektur der in
so viel Sprachen gedruckten Aufsätze viel zu wünschen übrig läßt und daß, wo-
ferne das Französisch als Sprache der „Résumés“ bestimmt wurde, eigentlich auch
zu erwarten stand, diese würden französisch geschrieben sein. So sind sie zum
großen Teil in einem Jargon abgefaßt, wie ihn etwa S. M. der König von
Cerdagne geredet haben dürfte. Manches ıst nur komisch, so etwa der
„etaint présentes les personnes dont les noms suivent: Doc... Dr... Prof. . .,
Dir. . .“ (man denkt an das „prêtre docteur X. Y. der polnischen Radiosender-
Programme). Anderes aber traurig. So wenn man nach Vergleich mit dem
russischen Text herausbekommt, daß Smurlo mit dem Satz „Par ces diplômes .. .
Pierre voulait... attenuer la mauvaise impression produite... par ce qu'il est
convenu d'appeler „les massacres de Polotsk“ (juillet 1705)“ sagen will, Peter habe
durch Diplome den schlechten Eindruck mindern wollen den die gemeinhin „Das
Blutbad von Polock“ genannten Ereignisse hervorgerufen hatten. Man kann von
keinem slavischen Historiker fordern, er müsse mit Paul Valéry in Wettbewerb
treten. La plus belle fille du monde (und die höchste Gelehrsamkeit) ne peut
donner que co qu’elle a, aber die Redaktion des Tagungsberichts hätte den Band
durch einen des Französischen wirklich Kundigen durchsehen lassen müssen.
259
III
LITERATUR BERICHTE
NEUE AUSGABEN SODSLAVISCHER POETISCHER
LITERATUR UND QUELLEN ZUR KULTUR- UND
GEISTESGESCHICHTE
Von
Josef Matl.
1. Naši pjesnici.
Seit einigen Jahren erscheint in Zagreb unter dem Titel
Nazi pjesnici im Verlag der Narodna Knjižnica eine Serie
Anthologien jugoslavischer (slovenischer, kroatischer und serbischer)
Lyriker, von der mir bisher 13 Bändchen vorliegen. Von den
Slovenen sind bis jetzt F. Prešeren, St. Vraz und S. Gregorčič ver-
treten, von den Kroaten P. Preradović, VI. Nazor, A. G. Matoš,
Lj. Wiesner, August Həarambašić; von den Serben Br. Radičević,
Gj. Jakšić, L. Kostić, Voj. Ilić, Zmaj. J. J. Wir sehen, daß von den
Kroaten auch führende Lyriker der. Moderne in der Auswahl geboten
werden (Nazor, Matoš, Wiesner), dagegen von den slovenischen und
serbischen Lyrikern nur die bedeutendsten Lyriker des 19. Jahr-
hunderts, vor allen des Romantismus, während O. Župančič und
M. Rakić u. a. noch fehlen. Die Serie verfolgt einerseits den Zweck,
in kleinen handlichen und billigen Ausgaben die Meisterwerke der
jugoslavischen Lyrik weiteren Kreisen zugänglich zu machen, ander-
seits das gegenseitige literarische Kennenlernen zwischen den
Slovenen, Kroaten und Serben zu fördern, das ja bisher, wie ich ge-
legentlich meiner Studienreisen in Jugoslavien wie auch an jugo-
slavischen Studenten und Journalisten‘ wiederholt feststellen mußte,
erschreckend gering ist. Ein weiterer Zweck der Sammlung ist der,
für den Literaturunterricht an Mittelschulen geeignete Lektüre zu
bieten. In dieser Hinsicht reiht sich diese Serie an die seinerzeitige,
leider nur auf die kroatischen Erzähler beschränkte Anthologie
kroatischer Erzähler: Hrvatski pripovjedaéi, die der Ver-
band der kroatischen Mittelschulprofessoren (Društvo hrvatskih
srednjeSkolskih profesora) herausgab. Die ältere Ausgabe redigierte
260
M. Ogrizovié (1917). In der Neuausgabe (1926), die der be-
kannte Zagreber wissenschaftliche Kritiker und Literaturkritiker
I. Esih mit Geschick besorgte und mit gründlichen literarhistorischen
Einleitungen und Charakteristiken versah, sind auch die führenden
Erzähler der Moderne wie Mato$, Krle2a, I. Andrié u. a. vertreten.
Auch die durch D. Bogdanović, den Verfasser des kritisch um-
strittenen Pregled knjiZevnosti hrvatske i srpske I—III, besorgte
6. Auflage des bestbekannten literarhistorischen Lesebuches von
Franjo Petraéié und Ferdo Z. Miler, Hrvatska
čitanka za više razrede srednjih škola. Knjiga II:
Povijest književnosti Hrvata, Srba i Slovenaca
od početka XIX. vijeka do danas, wäre hier zu erwähnen.
Sie umfaßt sowohl in den literarhistorischen Abschnitten als auch
in dem dargebotenen literarischen Lesematerial neben der kroatischen
auch die slovenische und serbische Literatur. Neue Gesichtspunkte
sind nicht festzustellen weder in der grundsätzlichen Auffassung der
Epochen oder der einzelnen Dichter noch in literaturpädagogischer
Hinsicht. Die herkömmliche Einteilung und Charakteristik in
Romantizam und Realizam, die, wie ich in meinem Vortrag über
„Romantik und Realismus in den südslavischen Literaturen des
19. Jahrhunderts“ auf dem ersten Slavistenkongreß (Prag, Oktober
1929) darzulegen versuchte, bei einer etwas tiefer gehenden literatur-
wissenschaftlichen geistes- und stilgeschichtlichen Betrachtungsweise
wohl nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, wird unverändert bei-
behalten. Gut ausgewähltes Lesematerial aus den Literaturen aller
drei jugoslavischen Völker bringt auch die literaturpädagogisch sehr
fortschrittliche und moderne Srpska Citanka I—IV (Beograd,
1920) (für die Mittelschulen), 3 von V. M. Jova-
no vi, ehemals Professor an der Universität Belgrad, und von
M. Ivkovié, ehemals Professor an der Universität Skoplje. Ich
verweise hier deshalb auf diese literarhistorischen Lesebiicher, weil
sie bei dem Mangel an systematischen Gesamtdarstellungen der
neueren südslavischen Literaturen und vor allem bei dem Mangel
an Anthologien und Einzelausgaben für literaturwissenschaftliche
seminaristisch Übungen an den Universitäten außerhalb Jugo-
slaviens als Hilfsbücher in Betracht kommen. Für das slovenische und
bulgarische Literaturgebiet sind wir ja etwas besser mit Anthologien
versorgt. Es sei hier nur hingewiesen auf die: Noviji slovenski
pisci. Životopisi i izbor tekstova. Priredio Dr Fran Ilešić. Zagreb
1919; Matica Hrvatska, 274 S. (eine Fortsetzung der 1907 erschienenen
„Slovenske novele i povesti“); ferner auf die bulgarischen: Bl garska
beletristika. Antologija. Naredi Vel Jordanov, 826 S., und
Blgarski poeti. Antologija. Pod redakcijata na Chr. Cankov.
1922, 504 S., beide herausgegeben vom Ministerstvo na Nar.
Prosvěštenie.
Die Anthologien der Serie Naši pjesnici sind nicht nach
einem einheitlichen ästhetischen Gesichtspunkt ausgewählt, wie die
seinerzeitige, in ihrer Art vorbildliche Antologija novije
261
srpske lirike (Zagreb, 1911) des B. Popovic, sondern man
will in erster Linie die charakteristischen Gedichte der einzelnen, nach
dem derzeitigen literarhistorischen Urteil bedeutenden Lyriker geben
und überläßt die Wahl dem einzelnen mit der Auswahl Betrauten.
Immerhin wird das ästhetische Moment in dieser Auswahl sowohl in
bezug auf die Dichter als auch auf die Gedichte bedeutend mehr be-
rücksichtigt, als es in älteren ähnlichen Versuchen, bei denen national-
und moralischpädagogische Momente noch eine viel wesentlichere Rolle
spielten, der Fall war. Die Sammlung reiht sich an ähnliche Be-
strebungen, die literarische Kunst dem nationalkulturellen Leben und
der nationalkulturellen Bildung der weiteren Volksschichten nahe
zu bringen und fruchtbar zu machen, wie sie bisher vorwiegend die
einzelnen Matice (Matica Slovenska, Matica Hrvatska, Matica
Srpska) und andere ähnliche nationale Bildungsinstitutionen wie die
Srpska Književna Zadruga, Društvo Sv. Jeronima, vertraten. Neben-
bei sei hier für das kroatische Gebiet auf die nach dem Weltkriege
leider nicht fortgesetzte Sammlung bzw. Ausgabe moderner kroa-
tischer Dichter und Schriftsteller Savremeni Hrvatski
Pisci verwiesen, die der kroatische Schriftstellerverband Društvo
Hrvatskih Knjizevnika herausgab. Ferner sei ergänzend zu den
seinerzeit in diesen Jahrbüchern angezeigten (Band III S. 295/96)
Nachkriegsausgaben der Matica Hrvatska auf folgende Neuausgaben
bzw. neue Ausgaben kroatischer Literatur hingewiesen: August
Cesarec, Za novim putem. Novele. 193 Seiten. Dragan Bublié,
Atentat. 115 S. — Ilija Despot, Kidanje. Nove pjesme. 117 S. —
Branko Ma$ié, Direktor Prokié. Karakteri i sudbine. 222 S. —
Venceslav Novak, Izabrane pripovietke. 282 S. (1927) — alle
übrigen Zagreb 1926. In den stark wirksamen, das jugoslavische
Erlebnis und Geschehen der Nachkriegszeit gestaltenden Novellen
von Cesarec, Bubli& und Mašić sind drei der bedeutend-
sten von den jüngeren kroatischen Nachkriegserzähler gegeben,
während mit der Ausgabe der bisher in Zeitschriften verstreuten
Novellen des Vj. Novak einer der bedeutendsten kroatischen Er-
zähler des Realismus der 80 er und 90 er Jahre neu dem Lesepublikum
mit einer einführenden biographisch-literarischen Charakteristik zu-
gänglich gemacht wird. Diese Neuausgabe Novaks rief eine gründ-
lich fundierte literarisch kritische Neubewertung des Dichters hervor,
die der berufene A. Barac im Savremenik XXI (1928), S. 297 ff.
vor kurzem gab. Nebenbei sei hier ferner auf die neuen, vorzüglich
redigierten slovenischen Anthologien slovenischer Lyriker hin-
gewiesen in der Prešernova čitanka, Aškerčeva čitanka, Gregor-
čičeva čitanka und Stritarjeva čitanka.
Alle diese Ausgaben wären literarhistorish und für die Lite-
raturwissenschaft von keiner besonderen Bedeutung, wenn wir soweit
wären, daß wir von den wichtigsten jugoslavischen Dichtern kritische
Gesamtausgaben hätten. Das ist aber nur bei einem verschwindend
kleinen Prozentsatz der Fall, obwohl zugegeben werden muß, daß
nach dem Kriege zunächst bei den Slovenen, seit kurzem auch bei den
262
Serben die systematische Arbeit in dieser Richtung eingesetzt hat.
Es sei hier nur auf die kritische Gesamtausgabe der Werke von
J. Jurčič und I. Tavčar hingewiesen, die I. Prijatelj be-
sorgt, auf die Neuausgabe der gesammelten Schriften von F. Masel j-
Podlimbarski, besorgt durch J. Slebinger, auf die Heraus-
gabe S. Jenkos, die J. Glonar anvertraut war. Bei den Serben
bringt die neue Biblioteka srpskih pisaca, von der bereits
über zwei Dutzend auch schön ausgestatteter Bände erschienen
sind, systematisch kritische Gesamtausgaben der führenden serbischen
Dichter. In nächster Zeit soll in Beograd eine Biblioteka
savremenih jugoslavenskih pisaca erscheinen, die die
gesammelten Werke bedeutender lebender Schriftsteller bringen soll.
Zunächst stehen im Programm J. Dučić, V. Nazor, O. Zu-
pančič, M. Rakić, D. Domjanić, V. Petrović,
M. Krleža. Im allgemeinen muß man immerhin feststellen, daß
ein Großteil der Werke der neueren südslavishen Literatur des
19. und 20. Jahrhunderts noch in allen möglichen Zeitschriften ver-
graben und versteckt ist und damit jede systematische literatur-
wissenschaftliche Forschung außerordentlich erschwert ist. Aus
diesem Grunde ist jeder Versuch der systematischen Sammlung und
kritishen Ausgabe der literarischen Werke der einzelnen Dichter
auch im Interesse der Forschung zu begrüßen.
Bändchen I der Sammlung Naši pjesnici bringt cine Aus-
wahl aus den Gedichten von P. Preradović, besorgt und mit
einer Einleitung versehen von Br. Vodnik, der seinerzeit eine
gründliche Monographie über Preradović gegeben hat. (Vgl. darüber
J. Matl, Br. Vodnik als Literarhistoriker. Slavia VII, S. 96). —
Bd. II: Franjo Prešeren. Antologija. Uredio i predgovor
napisao Dr. J. Glonar. 1922. 72 S. Da die Auswahl einem
Publikum bestimmt ist, das sonst nicht slovenische Bücher in die Hand
nimmt, ist der Text der besseren Verständlichkeit halber an ein-
zelnen Stellen modernisiert. Ebenso ist die Akzentuierung Prešerens
nicht beibehalten, sondern den Bedürfnissen der Kreise, für die die
Ausgabe bestimmt ist, angepaßt; das soll praktish heißen, die Ver-
schiedenheit gegenüber der serbokroatischen Betonung ist wenigstens
in bezug auf die Tonstelle bezeichnet. Ferner soll ein kurzes Wörter-
verzeichnis der im Serbokroatishen unbekannten oder in der slove-
nishen Bedeutung nicht bekannten und gebräuchlichen Wörter die
Verständlichkeit erleichtern. Das in der Einleitung (S. 6) gebrachte
Verzeichnis der Ausgaben und der Literatur über Prešeren wäre heute
dahin zu ergänzen, daß die tiefgriindige, besonders auf die ästhetische
und formale Seite eingestellte monographische Untersuchung über
Prešeren als Dichter und Künstler von August Žigon (Francé
PreSéren poet in umetnik. Slovstvene knjižnice 1. zvezek. Celovec-
Prevalje 1925 CXCI + 88 + 12 S.) noch zu erwähnen ist. Eine
kritishe Gesamtausgabe bereitet der Laibacher Literaturhistoriker
Kidrié vor. — Die literarhistorische Einleitung über das Leben,
die literarische Tätigkeit und Bedeutung (S. 7—19) Prešerens bietet
263
nichts wesentlich Neues. Gut ist die Kunstauffassung Preferens und
der literarischen Gruppe um die Kranjska Cebela und ihr Kampf
gegen die ältere literarische Tradition herausgearbeitet. Die Aus-
wahl selbst bringt die bekanntesten Gedichte, Balladen und das
epische Gedicht Krst pri Savici.
Bd. III: Gjura Jakšić, Antologija. Izabrao Branko Mašić.
Uvod od Jovana Skerlića. 1924. 70 S. Der von dem Verfasser
eines der interessantesten serbokroatischen Zeit- und Gesellschafts-
romane der Nachkriegszeit (Deda Joksim), von Br. M a šić besorgten
Ausgabe ist die von Skerlić übernommene literarhistorishe Wertung
als Einleitung vorangestellt. Die Auswahl aus den Gedichten
Jakšić, dieses typishen Vertreters der serbishen romantischen
Omladina-Lyrik mit all ihrem nationalistischen Pathos, ihrer Rhetorik
und ihrem Gefühlsübershwang, bringt neben lyrischen Gedichten
auch einige episch lyrische Gedichte.
Bd. IV: Vladimir Nazor, Carmen vitae. Anto-
logija. Uredio i pogovor napisao M. Marjanovié, 1922, 261 + 7 S.
Die lyrische und epische Versdichtung dieses kroatischen Modernisten,
des Dichters des Lebens und der Kraft, des Dichters des jungen
kroatischen Nationalismus der Generation, die zu Beginn unseres
Jahrhunderts in der kroatischen Offentlichkeit hervortrat (über Nazor
vgl. J. Matl, Hauptströmungen in der modernen südslavischen Lite-
ratur, in diesen Jahrbüchern, Neue Folge Bd. I S. 28), war uns in
der von Br. Vodnik besorgten Gesamtausgabe Djela Vladimira
Nazora, Zagreb 1917—18 Knj. 1—V, zugänglih. Auch die Kritik
hat sich viel mit ihm beschäftigt und es liegen über ihn und sein
dichterisches Schaffen, abgesehen von einer Reihe von Aufsätzen,
zwei monographische Studien vor, die eine von A. Barac, die das
Gesamtschaffen Nazors, die Grundeinstellung und Entwicklung klar-
legt; die zweite von M. Marjanović (Jugoslavenska Njiva 1923 II,
S. 190ff. und als Sonderpublikation), die die Entwicklung des
dichterischen Schaffens Nazors im Zusammenhang mit dem nationalen
Stimmungen untersucht. Marjanović, der kroatische Publizist,
Kritiker und nationaler Kämpfer (dzt. Chef des Zentralpreßbureaus
der jugoslavischen Regierung), besorgte auch diese Auswahl mit einem
kurzen biobibliographischen Anhang.
Bd. V: A. G. Matoš, Pjesme, 1923, 108 Diese Auswahl
der Lyrik eines der als Persönlichkeit und als Künstler interessantesten
Dichter der neueren kroatischen Literatur, ist besonders zu begrüßen,
weil weder die Gedichte noch seine Prosaarbeiten bisher gesammelt
vorlagen und weil Mato$ literarhistorisch kritisch noch nicht mit der
nötigen Distanz untersucht und gewertet ist. Leider ist auch diese
Ausgabe nicht vollständig, da die Epigramme fehlen. Neben Ge-
dichten, die als künstlerisch reiner Ausdruck unmittelbarsten, tiefsten
persönlichen und nationalen Erlebens zu werten sind (vgl. S. 6, 14,
15, 51, 52), stehen andere bizarre, marinistische, überladen mit Sym-
bolen und Vergleichen, die wie geistreiche poetische Spielereien an-
264
muten. Charakteristisch die außerordentliche Bereicherung in den
Motiven und Symbolen, charakteristisch der plastische Stil gegenüber
dem pathetischrhetorischen Stil 4 la Preradovié; charakteristisch die
ironisch skeptische kritische Lebenseinstellung als Ausdruck der
inneren Zerrissenheit der kroatischen Vorkriegsmoderne gegenüber
dem bisherigen naiven, romantisch-patriotischen Patriotismus.*)
Bd. VI: Lazar Kostić, Antologija. Uredio i predgovor
napisao Dr. Svet. Stefanović, 1923, 168 S. Kostić gehört als Per-
sonlichkeit an und für sich wie auch durch den explosivdynamischen
Charakter seiner Poesie zu den interessantesten und originellsten
Erscheinungen der serbischen romantischen Omladinadichtung. Svet.
Stefanović, der serbische Dichter und Kritiker und bekannte Über-
setzer aus der englischen Literatur, der Kostić noch persönlich kannte,
gibt in den 44 Seiten Einleitung auf breiter Basis eine in vieler Hin-
sicht neue kritische Charakteristik und Bewertung der geistig künst-
lerischen Persönlichkeit des Dichters, des weltanschaulichen Gehaltes,
der literarischen Einflüsse und der literarhistorischen und national-
kulturellen Stellung und Bedeutung im Rahmen der Omladina-
Bewegung und der neueren serbischen literarischgeistigen Entwick-
lung. Willkommen sind auch die sprachlichen, textkritischen Er-
örterungen und Erklärungen in der Einleitung und im Anhange,
ohne die eine Reihe von Stellen des auch im Stil und lexikalisch viel-
fach eigenwilligen Dichters schwer verständlich wären.
Bd. VII: Simon Gregorčič, Antologija. Uredio, pred-
govor i rječnik napisao Dr. A. Barac, 1924, 87 S. Gregorčič, der
neben Prešeren, Simon Jenko, Simon Kette, I. Cankar und O. Zu-
pančič zweifellos zu den besten slovenischen Lyrikern gehört, hat
wiederholt das Interesse auch nichtslovenischer literarischer Kreise
erregt. Es sei hier nur auf die breitangelegte, in der generalisierenden
Charakteristik der allgemeinen Entwicklung der slovenischen Lyrik
zwar kritish angreifbare monographische Analyse hingewiesen, die
der čechische Mittelschulprofessor D. Stříbrný im Časopis musea
království Českého 1918 (und im Sonderabdruck) veröffentlichte und
die J. Glonar in der Sammlung Pota in cilji. Zbirka poljudno-znanst-
venih spisov, 10. zv. Ljubljana 1922, 152 S., ins Slovenische über-
setzte; ferner auf die Studien der kroatischen Kritiker F. Marković
und A. Petravić. Barac, der kroatische Literarhistoriker, brachte
aus seiner gründlichen Kenntnis und aus seinen vorbildlichen Studien
über die ee Lyriker Harambasié, Nazor, Wiesner, die
Kenntnis des notwendigen Vergleichsmaterials für eine gründliche
vergleichende Charakteristik der Lyrik des Gregorčič in bezug auf
Motive, Intensität und Charakter des Erlebnisgehaltes, künstlerische
Qualität des dichterischen Ausdruckes mit, die er uns in der Ein-
*) Neues Material über Mato$ werde ich demnächst auf Grund von bisher
unbekannten und unveröffentlichten Briefen des Dichters, die sich in meiner Hand
befinden, vorbringen.
265
leitung zu dieser Auswahl gibt. Im Anhang ist ein slovenisch-serbo-
kroatisches Differenzialwörterverzeichnis beigegeben.
Bd. VIII: Stanko Vraz, Izabrane pjesme. Uredio i
predgovor napisao Dr. D. Grdenié, 1924, 212 S. Das Leben und
Schaffen dieses aufopferndsten jugoslavischen preporoditelj, der der
slovenischen und kroatischen Literaturgeschichte angehört, ist ver-
hältnismäßig gut erforscht, da sich sowohl die slovenische wie auch
die kroatische Forschung, ganz abgesehen von den polnischen und
russischen Studien zum kroatischen preporod, mit ihm beschäftigten
und Branko Vodnik ihm eine große monographische Spezialunter-
suchung widmete. (Zagreb 1909, Matica Hrvatska.) Daher ist auch
Grdenic in seiner die wichtigsten biographischen, literarhistorischen
und ästhetischen Tatsachen gut zusammenfassenden Einleitung nicht
in der Lage, etwas wesentlich Neues zu sagen. Der Auswahl liegt die
von Fr. Markovié besorgte Ausgabe der Matica Hrvatska 1880 zu
Grunde. Die ursprüngliche Rechtschreibung ist in der vorliegenden
Auswahl der modernen phonetischen entsprechend abgeändert (srce
und nicht srdce, slatka statt sladka), ebenso sind die alten Dekla-
nationsformen soweit als möglich durch die Formen der heutigen
Literatursprache ersetzt.
Bd. IX: Vojislav J. Ilić, Antologija. Izabrao M. Be-
govic. Uvod od Jovana Skerli¢éa, 1925, 198 S. Mit der formal außer-
ordentlich durchgebildeten und gegenüber der romantischen Lyrik ın
den Motiven erweiterten und vertieften Lyrik des Vojislav D tritt
die neue serbische Lyrik in eine neue Phase der Entwicklung, die zur
objektiven plastischen Lyrik der Moderne, eines M. Rakié und eines
I Dučić hinüber führt. M. Begović, der kroatische Dichter, dessen
etzte dramatische Werke (Božji čovjek, und Pustolov pred vratima)
sich in den letzten Jahren mit Erfolg die europäischen und amerika-
nischen Bühnen eroberten, besorgte mit kultiviertem ästhetischen
Geschmack die Auswahl der wertvollsten lyrischen und epischen Ge-
dichte, ohne jedoch selbst eine literarische ästhetische Neubewertung
zu versuchen. Diese wird der Studie von Skerlić entnommen.
Bd. X: Ljubo Wiesner, Pjesme, 1926, 59 S. Der noch
lebende kroatische Lyriker Wiesner gehört zu den unmittelbarsten
und in der Formgebung kultiviertesten Lyriker der kroatischen
Moderne. Einzelne seiner Gedichte wie Moja majka (S. 49) gehören
zu den schönsten Gedichten, die uns die kroatische Lyrik gab. Eine
eingehende kritische und literarhistorische Bewertung der Lyrik des
Dichters hat nach dem Erscheinen dieser Auswahl A. Barac in der
Jugoslavenska Njiva gegeben (vgl. mein Referat in diesen Jahr-
büchern, neue Folge Bd. III S. 418).
Bd. XI: Branko Radičević, Antologija. Uredio i
predgovor napisao Dr. V. Corovi¢, 1926, 125 S. Nach 15 Einzel-
ausgaben der Gedichte des Begriinders der modernen serbischen
Lyrik erschien eine definitive kritische Ausgabe 1924 anläßlich der
Feier der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages des Dichters,
266
eine Ausgabe in der Redaktion des B. Miljkovié und M. Pav-
lovié im Verlag der Srpska Književna Zadruga und der Matica
Srpska. Vladimir Corovié gibt in der kurzen Einleitung zu dieser
Anthologie neben biographischen und nicht vollständigen biblio-
graphischen Daten (vgl. die Studie von Branko Vodnik in der Jugo-
slavenska Njiva) eine Charakteristik der geistig-literarischen Phy-
siognomie des Dichters, seiner Bedeutung und der äthetischen Qua-
lität seiner Kunst.
Bd. XII: August Haramba$i¢é, Antologija. Uredio
i predgovor napisao Dr. A. Barac, 1926, 150 S. Die ausführliche Ein-
leitung von Barac, die auch als eigene Studie in der Jugoslavenska
Njiva erschienen war (vgl. mein ausführliches Referat in der Zeit-
schriftenschau in diesen Jahrbüchern Neue Folge Bd. III) gibt eine
gut motivierte Neubewertung der literarischen Persönlichkeit. des
dichterischen Schaffens und der literarhistorischen und geistesgeschicht-
lichen Bedeutung dieses durch Jahrzehnte vielgelobten und dann viel
gelasterten Barden des kroatischen Nationalismus Startevié-Kva-
ternikscher Prägung der 70 er, 80 er und 90 er Jahre im Rahmen der
nationalideengeschichtlichen Entwicklung des kroatischen Volkes in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die hier gebrachte Auswahl
enthält Gedichte, die für den Dichter charakteristisch sind und heute
noch literarischen Vert haben. |
Bd. XIII: Zmaj J. Jovanović, Djuliéi i Djuliéi
uveoci. Uredio u peeoporor napisao Dr. V. Corovié, 1926, 167 S.
Corovié gibt unter kritischer Heranziehung der bisherigen kritischen
und literarhistorischen Literatur über den Dichter in der Einleitung
ein abgerundetes Bild der literarischgeistigen Entwicklung und des
literarishen Charakters seiner Dichtungen in bezug auf Erlebnis,
Ideengehalt und Versifikation.
2. Biblioteka „Bigarska Knižnina“.
Izdanie na Ministerstvoto na Narodno Prosvěštnie.
Auf den Wert dieser in ihrer Art für das südslavishe Gebiet
besten und billigsten, von wissenschaftlichen Fachleuten und quellen-
kritisch mit wissenschaftlichem Apparat gearbeiteten Sammlung bzw.
Neuausgabe literarischen und kulturhistorischen Quellenmaterials habe
ich seinerzeit gelegentlich der Anzeige der ersten 9 Bändchen (in
diesen Jahrbüchern N. F. III, S. 294) hingewiesen.“)
Für uns Slavisten, die wir in nichtslavischen Ländern arbeiten
und die neueren literarischen und kulturellen Zeitschriften in den
Seminar- und Universitätsbibliotheken nur zum geringen Teile zur
Verfügung haben und daher bei literargeschichtlichen Seminar-
arbeiten, vor allem bei stil- und geistesgeschichtlichen Untersuchungen
1) In meiner seinerzeitigen Anzeige sind eine Reihe Druckfehler in der
Wiede der bulgarischen Namen und Titel stehen geblieben, da durch ein Ver-
zehen der Ausdruck ohne meine Korrektur erfolgte.
267
18 NF 6
zur neueren slavischen Literaturgeschichte, vielfach mit dem Mangel
an den nötigen Grundlagen zu kämpfen haben, sind derartige Samm-
lungen, ebenso wie die vorhin besprochenen, besonders wichtig.
Nr. 10: Periodikeski pečat? predi osvobo2de-
nie to. Prva čast: Spisanija. Sofija 1927, 176 S.
Das Zeitschriften- und Zeitungswesen spielt in der politisch-
nationalideologischen, geistig- literarischen Entwicklung der Slaven des
19. und 20. Jahrhunderts, vor allem der kleinen slavischen Völker,
infolge der durch die geringe allgemeine Kulturhöhe bedingten
mangelhaften Scheidung der einzelnen kulturellen Arbeitsgebiete eine
ganz andere, viel wichtigere Rolle als in mittel- und westeuropäischen
Ländern. Die Zeitschriften und periodischen Publikationen bilden
nicht nur die wichtigste Stoffquelle für die literatur- und kultur-
eschichtliche Forschung — daß es hier bei den kleinräumigen Ver-
Bältnissen an Memoiren und Korrespondenzen und ähnlichem
Quellenmaterial sehr mangelt, ist ja bekannt —, sie sind selbst Fak-
toren der politisch-nationalkulturellen Wiedergeburt, des Aufbaues
und Umbaues; sie bilden die Plattform, von der aus sowohl die
nationalen wie auch die literarisch-künstlerischen Ideologien und kon-
ventionellen Werturteile geformt wurden. Daß der Großteil der
tischen literarischen Werke der Südslaven bis in die Gegenwart
inein in Zeitschriften und anderen periodischen Organen erschienen
ist, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Literaturgeschichtlich
viel wichtiger ist das Moment, daß die Zeitschriften bzw. die je-
weiligen Redaktionen die entscheidenden auswählenden Faktoren
dafür waren und sind, was gedruckt werden konnte, also Literatur
wurde. Ein verwandtes Beispiel aus der Gegenwart: Wenn heute ein
junger Dichter in Beograd oder Zagreb einen Band Gedichte heraus-
bringen will, muß er meistens mehrere 1000 Dinar zahlen. Wer also
zahlen kann, kann alles, auch die schlechtesten Gedichte, drucken
lassen. Von dem oben gekennzeichneten Gesichtspunkt der Be-
deutung der periodischen Publikationen aus habe ich wiederholt
programmatisch darauf hingewiesen,?) daß man systematische Unter-
suchungen unter Heranziehung und Anwendung der Erkenntnisse der
philosophischen Soziologie (vgl. z. B. Vierkan dt, Gesellschaftslehre,
Stuttgart 1923, ferner W. Jerusalem, Einführung in die Sozio-
logie, Wien, Schriften der soziologischen Gesellschaft in Wien I) zur
äußeren und inneren Geschichte der einzelnen südslavischen Zeit-
schriften und Zeitungen sowie der wichtigsten Kulturinstitutionen
machen müsse, Untersuchungen, die über das Biobibliographische
2) Vgl. J. Matl, Vodnik als Literarhistoriker. Ein Beitrag zur Methode
und Geschichte der südslavischen Literaturwissenschaft. Slavia VII (1928) S. 854;
J. Matl, Dva njemačka časopisa iz šezdesetih godina. Njihov značaj za kul-
turnu i političku historiju Južnih Slavena. Nastavni Vjesnik XXXVI (1928)
sv. 5—6; J. Matl, Die „Grenzboten“ und die Slavenfrage. I. Teil: Die Grenz-
boten und die Südslaven. Sišić-Festschrift. 1980.
268
hinausgehen. Dann erst wird man sich an eine systematische Dar-
stellung der neuzeitlichen Literatur- und Geistesgeschichte der Süd-
slaven wagen können. Systematische Untersuchungen in dieser Rich-
tung wurden bisher eigentlich nur auf dem Gebiete der slovenischen
Literatur- und Geistesgeschichte durch I. Prijatelj unternommen
(vgl. I. Prijatelj, Levstikov politični list „Naprej“, Razprave II,
S. 121—220; derselbe Ustanovitev „Ljubljanskega Zvona“ in celov-
škega „Kresa“, Razprave III, S. 175—253).
Aus einer ähnlichen Erkenntnis ist sicherlich auch dieses Bändchen
über die bulgarische periodische Presse vor der Befreiung entstanden.
Der vorliegende erste Teil ist den Zeitschriften gewidmet. Die Aus-
wahl der charakteristishen und programmatischen Aufsätze aus den
einzelnen Zeitschriften besorgte der Herausgeber V. Pundev, der
auch eine prägnante Einleitung über die nationalkulturelle Bedeutung
der bulgarischen periodischen Presse, ferner kurze Erläuterungen zur
Entstehungsgeschichte und dem Charakter der einzelnen Zeitschriften,
sowie fortlaufende sprachliche Erläuterungen formaler, stilistischer
und lexikalischer Art beisteuerte und damit die Verständlichkeit und
Lesbarkeit der Texte erleichterte. Im Anhang sind biobibliogra-
phische Angaben über die Literatur zur Geschichte des bulgarischen
Zeitungswesens und über die bedeutendsten Redakteure und Heraus-
geber beigegeben. Warum Pundev die wichtigste, leider auch unvoll-
ständige zusammenfassende südslavische bibliographische Arbeit über
die südslavische Presse, die anläßlich des 10. slavischen Journalisten-
kongresses in Beograd 1911 unter dem Titel Jugoslovenska
Štampa. Referati i bibliografija (Beograd 1911, 293 S.), heraus-
gegeben wurde und in der neben dem slovenischen, kroatischen und
serbischen Teil auch ein Abschnitt über die bulgarische Presse zu
finden ist es Referat über die Geschichte der bulgarischen Presse
von V. Veléev, Bibliographie von St. N. Koledarov und VI. Stani-
mirovid), nicht erwähnt, verstehe ich nicht. In der Auswahl sind
folgende Zeitschriften vertreten: Ljuboslovie (1842, 1844—1846),
Mirozrenie (1850, 1870), Blgarski kniZici (1858—61), Bratski trud
(1860—62), Citalisèe (1870). Znanie (1875), Periodi¢esko spisanie na
Blgarskoto Knizovno DruzZestvo (1870). — Warum die ebenso wich-
tigen Carigradski Véstnik und Dunavski Lebed hier in diesem
Rahmen nicht vertreten sind, verstehe ich nicht recht. Ich glaube, es
wäre für die geistes- und kulturgeschichtliche Erkenntnis der ein-
zelnen Epochen und Strömungen besser gewesen, nach einzelnen
Epochen vorzugehen und auch die wichtigsten allgemeinen Zeitungen
heranzuziehen und nicht die Scheidungen in Zeitungen und Zeit-
schriften, die hier nicht berechtigt ist, oder wenigstens für die
damalige Zeit nicht berechtigt ist, durchzuführen. Immerhin
kann man bei der Lektüre dieses Bändchen sehen, daß man aus
diesen ausgewählten programmatischen Aufsätzen ein unmittelbar
anschaulicheres Bild von dem geistigen Charakter der einzelnen
Epochen der bulgarischen Entwicklung bekommen kann, als aus
mancher großen Literaturgeschichte.
269
Nr. 11 der Blgarska KniZnina konnte ich nicht in die Hände be-
kommen. — Nr. 12 bringt eine Neuausgabe der ersten Original-
erzahlung der neubulgarischen Literatur der NeSéastna fami-
lija. Blgarska narodna povest’ von V. Drumev (1860),
Sofija 1927, 99 S. Dieses erschiitternde Bild der Leiden des bulga-
rischen Volkes vor der Befreiung kann zwar in bezug auf ästhetische
Qualität keinen Vergleich aufnehmen mit anderen späteren. lite-
rarischen Gestaltungen dieser Epoche wie z. B. mit den Novellen und
Romanen Vazovs, ist aber literargeschichtlich nicht nur deshalb von
großer Bedeutung, weil es die erste literarische Leistung dieser Art dar-
stellt; es ist auch durch die bekannt außerordentlich große Wirkung
auf das damalige bulgarische Publikum wichtig als Dokument des Zeit-
geschmackes, des literarischen Niveaus, sowie für die Erkenntnis des
Einflusses der Literatur auf das nationale Leben. Die älteren sprach-
lichen Formen und Ausdrücke sowie Russizismen, die heute außer
Gebrauch gekommen sind, sind unter dem Text durch den Heraus-
geber, den Dozenten G. S. PaSev erläutert, der 1927 im Sbornik
Mitropolit Kliment eine Studie über die moralischen Ideen und die
Prinzipien im künstlerischen Schaffen Drumevs gegeben hat. Pabev
zeichnet auch in der Einleitung den literarischen Charakter und die
literarhistorische Bedeutung der Erzählung und gibt im Anhang die
Literatur über Drumev.
Nr. 13. Dobri P. Vojnikov, Izbrani salinenia,
Sofija 1928, 95 S. Der Name Vojnikov ist eng mit der Geschichte
des bulgarischen Theaters, dessen Anfänge in die 50er Jahre des
vorigen Jahrhunderts fallen, verknüpft. Er ist der Begründer des
bulgarischen Theaters, der Begründer des bulgarischen Dramas und
der erste bulgarische Dramaturg. Bei allen literarästhetischen
Mängeln seiner dramatischen Originalwerke ist er national- und
literargeschichtlich ebenso von Bedeutung wie der vorhin genannt
Drumev. Der Herausgeber T. Atanasov gibt in der Ein-
leitung I—XI eine kurze Übersicht über die Entwicklung des bulga-
rischen Theaters und skizziert die Bedeutung Vojnikovs in dieser
Entwicklung sowie den Charakter und den literarischen Wert seiner
Dialoge und Dramen. In der Auswahl selbst wird uns ein drama-
tischer Dialog sowie das Hauptwerk des Dichters, das historische
Drama Rajna knjaginja (1866) gegeben.
Nr. 14. Enthält V. Drumevs bedeutendstes literarisches Werk,
das 1872 zum ersten Male erschienene historische Drama „Ivanko,
Ubiecat na Asénja I. Drama v pet’ dejstvija. Sofija 1928.
200 S. G. St. Pa$ev legt in der Vorrede (I—XII) die Entstehung
des Dramas, die Geschichte der Aufführungen, die Aufnahme in der
Kritik sowie den literarhistorischen Charakter und die Mängel dar.
Biblioteka ,BeleZiti BIgari“. Izdanje na Minister-
stvoto na narodnoto prosvéStenie.
Nr. 1 dieser neuen Bibliothek, die einen ähnlichen Zweck wie die
Biblioteka: Blgarska Knjıznina verfolgt, jedoch für das allgemein
270
historische Gebiet berechnet ist und die Kenntnis der wichtigsten
Persönlichkeiten der nationalen Geschichte weiteren Kreisen ver-
mitteln will, enthält: Car’ Boris-Mihail (Vreme, Caruvane 1
velidie) von Ju. Trifonov, Sofija 1927, 67 S. Der bulgarische
Historiker Trifonov schildert dem Stande der derzeitigen Forschung
entsprechend zunächst kurz zusammenfassend die allgemeine Lage
Bulgariens in der Mitte des 9. Jahrhunderts in politischer, ethnischer,
sozialer, kultureller und zivilisatorischer Hinsicht und gibt dann eine
übersichtliche Darstellung der Regierung des Zaren Boris Mihail, der
Christianisierung und der dagegen einsetzenden Gegenbewegung, des
Verhältnisses Boris’ zum Papst sowie der Gründung der selbstän-
digen bulgarischen Kirche. Der Darstellung sind Reproduktionen
Boris’ sowie der ältesten Kirchenbauten (Pliskov), ferner ein biblio-
graphischer Anhang beigegeben.
271
DIE QUELLEN ZUR CECHOSLOVAKISCHEN
GESCHICHTE IN DEN ERSTEN ZEHN JAHREN
DER CECHOSLOVAKISCHEN REPUBLIK
Von
Vaclav Hruby.
Ich beabsichtige hier keine Bibliographie, kein kritisches Kommentar zu
den einzelnen Arbeiten, die den Quellen zur £echoslovakischen Geschichte in den
ersten zehn Jahren der Cechoslovakischen Republik gewidmet wurden, sondern ich
möchte vielmehr nur kurz die Aufgaben und Ziele, das Streben und dessen Er-
gebnisse in ihren Grundideen hervorheben. Es gab auf diesem Forschungsgebiete
dreierlei Aufgaben: die archivalischen, die heuristischen und die damit eng ver-
bundenen quelleneditorischen.
I. Die archivalischen Aufgaben. Die techoslovakischen Archivare wurden in
dem neuen Staate vor zwei große Aufgaben gestellt: a) die Archivorganisation
samt der Schriftdenkmalpflege und b) die Revindikation der lechoslovakischen
no aus den österreichischen und ungarischen Zentralarchiven in Wien und
udapest.
a) In Osterreich bestand vor dem großen Kriege seit langer Zeit her eine
drückende Rivalität zwischen der Staatsverwaltung in Böhmen einerseits und der
Landesverwaltung daselbst andererseits, die auch auf das Archivwesen in
böhmischen Ländern eine nachteilige Wirkung ausübte. Das staatliche Statthalterei-
archiv in Prag hatte zwar die Staatsautorität auf seiner Seite, es kümmerte sich
jedoh um die Archivorganisation und die Schriftdenkmalpflege gerade so wie
ar nicht. Das Landesarchiv in Prag demgegenüber konnte mit seinem ernst-
ihen Bemühen um einen zweckmäßigen Schutz der Archivalien wenig aus-
richten, solange es keine exekutive Macht hatte, die ihm natürlich die Landes-
verwaltung ohne die Einwilligung des Staates, also gegen den Willen des rivali-
sierenden Statthaltereiarchivs zu verleihen nicht imstande war. Daher kam es,
daß es in böhmischen Ländern noch am Beginn des 20. Jahrhunderts keine
Archivorganisation gab und die Archivalien gingen hier schneller als sonst wo
zugrunde, soweit sie nicht zufälligerweise durch persönliches Eingreifen eines
Archivalien- oder Geschichtsfreundes gerettet wurden. Mit dem Umsturze vom
28. Oktober 1918 ist die österreichische Staatsverwaltung aus den böhmischen
Ländern verschwunden und es schien, daß nun der Weg zur längst gewünschten
Archivorganisation in diesen Ländern frei sei. Über die Archivorganisation und
die damit zusammenhängenden Fragen dachten die Cechischen Archivare schon
früher recht viel nach. Schon vor dem Umsturze verfaßte der Direktor des
böhmischen Landesarchivs in Prag, J. B. Novák, einen Programmartikel
„Další úkoly zemského archivu“ (Weitere Aufgaben des Landes-
archivs), i) worin er im Rahmen des Arbeitsplanes des genannten Archivs alle
modernen Anforderungen der Geschichtsquellenpflege von dem Schutze der Archi-
valien an über die Archivinventare und Archiv kataloge bis zum Herausgeben der
Geschichtsquellen gründlich besprach. Es kam ihm daher nicht schwer, schon am
20. November 1918 einer Versammlung der dechischen Archivare ein Memo-
randum vorzulegen, in dem er die Grundsätze der Organisation der Archivpflege
im neuen Staate auseinandersetzte. Er forderte hauptsächlich ein Zentralarchiv
in Prag mit Namen Národní archiv československý (Cechoslova-
1) Zprávy zemského archivu království českého V (1918), 271—812.
212
kisches Nationalarchiv), worin einerseits die Archivalien des Prager Statthalterel-
archivs und des Prager Landesarchivs nebst kleineren Archivdepots, andererseits
die aus Wien zurückgebrachten Archivalien, soweit sie die Geschichte des alten
böhmischen Staates und des Königreichs Böhmen betreffen, aufzubewahren wären.
Die Staatsarchive in Brünn und in der Hauptstadt der Slovakei sollten dic Archi-
valien zur Geschichte dieser Länder aufheben. Zum Schutze der Schriftdenkmiler
in den Stadt-, Gemeinde- und anderen Archiven auf dem platten Lande sollten
einige Kreisarchive gebildet werden und das ganze Archivwesen dem Ministerium
des Schulwesens und der Volkskultur unterstellt, welches dasselbe mit Hilfe eines
Archivrates zu leiten hätte. Für Fachausbildung der jungen Archivare forderte
Noväk eine Archivschule. Diese Forderungen, die, kann man sagen, in der Luft
en, wurden fast von allen Cechischen Archivaren als Programm aufgenommen,
wie sich das auch in dem Artikel „ v českém státě (Archive in
dem čechischen Staate)?) von J. Borovička widerspiegelt. Borovička be-
gründet die Errichtung des Cechoslovakischen Nationalarchivs durch die Tatsache,
daß alle Schriften, die aus der Amtstätigkeit der für die böhmischen Länder und
die Slowakei gebildeten Kanzleien und Amter während der Zeit der böhmischen
Selbständigkeit und der Unterwerfung zur Zeit der habsburgischen Herrschaft
hervorgegangen sind, durch die Erneuerung des čechischen Staates zu einem histo-
risch een und vollendeten Material geworden seien, welches in einem
historischen Zentralarchive des ganzen Staates aufzubewahren sei. Zu ähnlichem
Zwecke solle ein Staatsarchiv in Brünn für Mähren, ein Staatsarchiv in Troppau
für Schlesien und ein Staatsarchiv in der Hauptstadt der Slovakei errichtet
werden, welches das Archivmaterial der slovakischen Komitatämter und die
Slovenica aus den Budapester Zentralämtern in sich vereinigen solle. Diese vier
Staatsarchive würden wohl genügen, um das ganze historische Material zur
&echoslovakischen Geschichte zusammenzufassen und technisch und wissenschaft-
lich zu verarbeiten, so daß für etwaige selbständige Facharchive der einzelnen
Ministerien vorläufig kein Platz mehr übrig bliebe.
Der Gedanke des Nationalarchivs, welcher den Cechischen Archivaren nach
dem Umsturze ganz klar und selbstverständlich war, verlor kurze Zeit danach
bei einem Teile derselben Ardiivare recht viel an seiner Selbstverständlichkeit.
Es half wenig, daß er verteidigt wurde von V. Hruby, der in dem Artikel
Národní archiv Eeskoslovensky (Cechoslovakisches Nationalarchiv)*)
eine Reihe von technischen, administrativen und finanziellen Vorteilen des zu er-
richtenden Nationalarchivs aufzähle und betont, wie unzweckmäßig jetzt viele
organisch zusammenhängende Archivfonds unter drei Prager Archive geteilt sind,
und besonders von B. Jensovsky, der in seinem Aufsatze Archivy a
edice (Archive und Editionen)*) den ursprünglichen Programmgedanken dem
damals schon fertigen Verwaltungsrahmen des neuen Staates schon anpassen und
dadurch konkretisieren konnte. Der vernünftige Gedanke wurde am Ende doch
nicht durchgeführt, wobei die &echischen Archivare nicht ohne Schuld waren, wenn
auch die lange Unsicherheit, ob man das Nationalarchiv dem Ministerium des
Schulwesens und der Volkskultur oder dem des Innern unterstellen soll, sehr ‚viel
dazu beigetragen hat. Diese Unsicherheit aber hing wieder mit einer noch tiefer
liegenden Unentschiedenheit, ob das &echoslovakische Archivwesen das eine oder
das andere Ministerium leiten soll, zusammen. Anfänglich, wie gesagt, waren die
Lechischen Archivare darin einig, daß es die Aufgabe des Ministeriums des Schul-
wesens sei, eine allgemeine Archivorganisation auszuarbeiten und durchzuführen,
in der nicht nur die großen Staatsarchive, sondern auch die Kreisarchive, welche
J. B. Novák und B. JenSovsky, oder die Gemeindearchive, wie solche J.
Borovička, zum Schutze der Archivalien auf dem platten Lande vorschlugen,
mitaufgenommen wären. Das Ministerium des Schulwesens sollte das Archivwesen
mit Hilfe eines Staats archivrates leiten, der aus den Direktoren der
Staatsarchive, der Archivschule und des Historischen Instituts in Prag und aus
2) Cesky časopis historický 24 (1918), 244—254.
3) Národ III (1919), 160 ff.
4) Cesky časopis historický 26 (1920), Beilage Archivnictví“, 4 ff.
278
den von dem Ministerium ernannten Fachleuten zusammengesetzt wire, und das
Nationalarchiv sollte in allen Organisationssachen und besonders in den Sachen
der Schriftdenkmalpflege zu einem Exekutivorgan des Ministeriums werden.
Die anfängliche Einmütigkeit der &echischen Archivare in dieser Grundfrage der
ganzen Archivorganisation ist im Laufe der Zeit durch langes Säumen ver-
schwunden und trotz der Bereitwilligkeit eines Teiles der Archivare zu einem
Kompromisse: die Archivorganisation dem Ministerpräsidium unterzuordnen,
konnte nicht einmal das zustande gebracht werden. Und als Ergebnis aller Mühe
erscheint die unerfreuliche Tatsache, daß das Cechoslovakische Archivwesen noch
heute jedweder Organisation und damit auch jeder Schriftdenkmalpflege entbehrt,
sicher nicht zum Nutzen dieser Schriftdenkmäler, der Geschichtsquellen. Die drei
Staatsinspektore der nichtstaatlichen Archive: für Böhmen,
Mähren samt Schlesien und Slovakei, die von dem Ministerium des Schulwesens
und der Volkskultur zur Schutzpflege der am meisten bedrohten Schriftdenk-
mäler ernannt wurden, sind das einzige, was bisher in der Cechoslovakei zum
systematischen Schutze der Archivalien einzurichten gelang, abgesehen natürlich
von zahlreichen Sicherstellungen derselben vor Verschleppung nach dem Auslande
in der ersten Zeit nach dem Umsturze. Das ist etwas zu wenig von dem, was in
diam Sache den čechishen Archivaren nach dem Umsturze in den Sinn ge-
ommen ist.
Sonst aber vermehrten die Zechoslovakischen großen öffentlichen Archive
ihre Tätigkeit im neuen Staate vielfach und wesentlich, und zu den alten Archiven
und Instituten sind einige neue hinzugetreten, von denen ein jedes in seinem
Bereiche für die Cechoslovakische Geschichtsforschung einen großen Gewinn be-
deutet. Von den alten Archiven ist in der ersten Linie zu nennen das Landes-
archiv in Prag, welches seinen rühmlichen traditionellen Dienst der Ge-
schichtsforschung wie durch heuristische, so auch editorische Arbeiten fortsetzte. In
den Zprávy českého zemského archivu (Berichte des böhm. Landes-
archivs), redigiert von dem Direktor des Archivs J. B. Novák finder man teils
die Berichte über die Tätigkeit des Archivs als eines Ganzen, teils auch die Ab-
handlungen von einzelnen Beamten, die darin die Ergebnisse ihrer archivalischen
und heuristischen amtlichen Aufgaben veröffentlichen. Im Jahre 1925 erschien
der sechste Band der „Berichte“, worin neben einigen Aufsätzen, die unten be-
sprochen werden, auch ein lehrreicher Bericht Noväks über die Tätigkeit des
Archivs in den Jahren 1918—1922 zu lesen ist. Zu diesem Archive hat sich neuer-
dings in ehrenvollem Wettbewerb das Archiv des Ministeriums des
Innern in Prag (Direktor L. Klicman) gesellt, welches im Jahre 1919 aus
dem ehemaligen Statthaltereiarchiv in Prag entstanden ist. Über dessen steigende
Tätigkeit wird zeitweise wenigstens in groben Zügen in dem Casopis
a a ivnf školy (Zeitschrift der Archivschule) berichtet. Auch dieses Archiv
schon die Arbeiten seiner Beamten, welche aus ihren ämtlichen Aufgaben
hervorgegangen sind, in dem Sborník archivu ministerstva vnitra
(Revue des Archivs des Ministeriums des Innern) zu veröffentlichen.“) Diese zwei
Archive samt dem mährischen Landesarchive in Brünn (Direktor
F. Hruby), dem Archive der Sëch Ae Prag (Direktor V. Vojtſſek),
welches ebenfalls schon auf einer älteren Tradition zweckmäßig weiter baut und in
seinem Sbornik pAfsp&kü k déjindm hlavnfhomésta a Pra hy
(Sammlung von Beiträgen zur Geschichte der Hauptstadt Prag) ein wichtiges
Publikationsorgan hat, und dem Archive des Nationalmuseums in
Prag (Direktor K. Stloukal) bilden eine verläßliche Grundlage der ganzen
heuristischen Forschung der lechoslovakischen Geschichtswissenschatt.
Von den neuerrichteten Archiven versammelte das Ceskoslovensky
státní archiv zemédélsky v Praze (Cechoslovakisches staatl. Agrar-
archiv in P., Direktor A. L. Krejčík) zwar viele Patrimonialregistraturen der
Staats- und Stiftungsgüter, sowie auch einige der Privatgüter, trotzdem aber wurde
es eher zu einem Forschungsinstitute auf dem Gebiete der Agrargeschichte, als
5) Im Jahre 1926 ist der I. Band erschienen, redigiert von dem Direktor des
Archivs L. Klicman.
274
zu einem wirklichen Agrararchive, weil ihm manche wichtige Quellen zur Agrar-
geschichte, ja vielleicht gerade der Grundstock derselben abgeht und in dem
böhmischen Landesarchive aufbewahrt wird. Nichtsdestoweniger ist die Errich-
tung dieses Archivs in dem angedeuteten Sinne von großer Bedeutung für die
Cechoslovakische Geschichts forschung. Durch das Archiv ministerstva
wéic{ zahraniénf{ch (Archiv des Ministeriums des Äußeren, Direktor J. SE
&ensky) wurde einerseits die Bürgschaft gegeben, daß die diplomatischen Doku-
mente und Akten des &echoslovakischen Staates auch für die Geschichte wohl auf-
bewahrt werden, andererseits auch die Möglichkeit gewonnen, in der zweiten Reihe
der Publikace arhivu ministerstva zahraniénich věcí (Publi-
kationen des Archivs des Ministeriums der Aueren), die unter dem Titel Soupis
bohemik (Verzeichnis der Bohemica, d. h. der er zur böhmischen Ge-
schichte im Auslande) erscheint, wichtige heuristische Vorarbeiten zur decho-
slovakischen Geschichte zu veröffentlichen. Ahnlicherweise werden eher zu Fach-
archiven iste nicht historischen Archiven) das archiv ministerstva
národní obrany (Archiv des Ministeriums der Nationalverteidigung) und
das archiv Národního shromáždění (Archiv der Nationalversamm-
lung), wenn auch das erste viele historische Schriften aus den Wiener Archiven
ind Amtern aufhebt. Zu einem besonderen Zwecke wurde das archiv
Národního osvobození (Archiv der Nationalbefreiung, Direktor J. Wer-
stadt) errichtet, das alle geschriebenen und gedruckten Dokumente, welche zur
Beleuchtung der Befreiung der Cechoslovakischen Nation aus der Habsburger
Herrschaft dienen könnten, folglich auch jene große Literatur von Memoiren,
politischen, wirtschaftlichen und geschichtlichen iften und Werken, die in der
Zeit des großen Krieges entstanden oder über dessen Geschichte geschrieben werden,
zu sammeln hat. Es ist zu erinnern, daß auch die berühmten böhmischen
Landtafeln, eine der schönsten Quellen zur Cechoslovakischen Geschichte,
endlich zweckmäßig und würdig in dem Archive des Ministeriums des Innern
niedergelegt worden sind. Auch um die Stadtarchive®) und die Archive auf dem
großen Grundbesitze sorgte man viel mehr als früher, 7) wenn auch die aufgewandte
Sorge lange noch nicht ausreichte. Sehr viel haben für ihre Archive einige deutsche
te in Böhmen geleistet. Eine gute Tradition von musterhaft besorgten und
der Wissenschaft zugänglichen Privatarchiven in Böhmen haben schon längst die
Schwarzenbergischen Archive. Den Stadt- und Gemeindearchiven leisteten sehr
gute Dienste die oben erwähnten Archivinspektoren, von welchen V. Vojtíšek
in seinem Büchlein O arhiveh městských a obecních a jejích
správě (Ober die Stadt- und Gemeindearchive und über ihre Leitung)®) den
Stadt- und Gemeindearchivaren manch guten Anlaß und Rat niederlegte. Von den
geistlichen Archiven sind besonders drei zu erwähnen, deren Archivare ein gutes
Stück Arbeit geleistet haben: das Archiv des St. Veits Ripia in Prag, und das erz-
bischöfliche Archiv in Prag, welche beide von A. Podlaha neu geordnet und
katalogisiert worden sind, und das erzbischöfliche Archiv in Kroměříž in Mähren,
welches von A. Breitenbacher von Grund aus geordnet wird.)
Der unermüdliche Bibliothekar und Archivar des Prager Metropolitan-
kapitels A. Po dla ha hat im Jahre 1922 mit einem umfangreichen zweiten Band
sein mustergültiges Werk Soupis rukopisü knihovny 5
kapituly Pražské (Verzeichnis der Handschriften der Bibliothek des Prager
Metropolitankapitels)!*) abgeschlossen, um im Jahre 1928 einen nicht minder
wichtigen Cataloguscodicum manu scriptorum, qui in archivio
€) Vgl. die periodischen Berichte in Časopis archivní školy.
7) Vgl. A. Markus.
8) Knihovna Časopisu československých knihovníků, &. 2 (1924).
©) Vgl. seinen Bericht, Archivy a regisbratury na zabraném velkém majetku
zemkovém (Archive und Registraturen auf dem eingenommenen Grofgrund-
besitze) in Časopis archivní školy III (1926).
10) Sammlung von Handschriftenverzeichnissen der Cechischen Akademie der
Wissenschaften, Nr. 4; einige Nachträge sind im Jahre 1928 erschienen.
275
capituli metropol. Pragensis asservantur!) und im Jahre 1926
einen Catalogus collectionis operum artis musicae, quae
in bibliotheca capituli metr. Pragensisi?) samt einem Cata-
logusincunabulorum,quaeinbibliothecacap. metr. Prag.
asservantur?) herauszugeben. Durch Podlahas Verdienst wurden die Biblio-
thek und das Archiv des Prager Kapitels zu den mit Katalogen am besten ver-
sehenen Instituten der Cechoslovakei. Außerdem erschien im Jahre 1925 von A.
Podlaha auch ein Povlechny katalog arcibiskupského ardhivu
v Praze (Allgemeinen Katalog des erzbischöflichen Archivs in Prag), welchen,
zur ersten Information bestimmt, seine Aufgabe gut erfüllt. Auch die kostbare
Handschriftensammlung der Bibliochek des Nationalmuseums in Prag ist endlich
durch ein Verzeichnis, das F. M. Bartoš unter dem Titel Soupis rukopisů
Národního Musea v Praze (Verzeichnis der Handschriften des National-
museums in Prag) in zwei Bänden im Jahre 1926 und 1927 herausgab, der Ge-
schichtsforschung zugänglicher geworden. Diese Katalogisierungs werke, welche dem
bewährten von der Cechischen Akademie der Wissenschaften und der Kunst
herausgegebenen Handschriftenverzeichnisse nachgebildet werden, entdeckten der
Wissenschaft ein neues weites Forschungsgebiet. Es ist desto mehr zu bedauern,
daß die übrigen lechoslovakischen Archive und eben die wichtigsten durch andere
dringenderen Aufgaben, besonders aber durch einen schlimmen Mangel an ge-
eigneten Arbeitskräften — nicht daß dieselben überhaupt nicht vorhanden wären,
sondern daß man sie nicht entsprechend belohnen kann — verhindert wurden, die
Geschichtsforschung mit ihren wahren Schätzen mittels gedruckten Katalogen und
Inventaren gründlicher bekannt zu machen. Bloß das böhmische Landesarchiv
konnte den ersten Band eines gründlichen Katalogs des Archivs der böhmischen
Krone veröffentlichen, um welches Archiv des alten böhmischen Staates R. Koss
bis zu seinem letzten Augenblicke eine unermüdliche Sorge trug. Schade um alles
das weite Wissen, das der junge Forscher, der auch die Geschichte des genannten
Archivs schreiben wollte, mit sich ins Grab genommen hat! Auf dessen Veranlassung
wurde in die Sammlung von Katalogen, Verzeichnissen und Regestenarbeiten,
welche das böhmische Landesarchiv unter dem Titel Cesky zemský ardiv.
Katalogy, soupisy, regestäfe a rozbory jeho fondü (Das
böhmische Landesarchiv. Kataloge, Verzeichnisse, Regestensammlungen und Ana-
lysen dessen Fonds) herausgibt, als deren erste Nummer ein Werk eingereiht, das
Archiv koruny české (Archiv der böhmischen Krone) benannt, in einigen
Bänden des Katalogs, die Beschreibung und die Geschichte des Archivs umfassen
sollte. Leider ist das groß angelegte Werk durch Koss’ frühzeitigen Tod ein
Torso geblieben, und nur der erste Band unter dem Titel Katalog listin z
let 1158 — 1346 (Katalog der Urkunden von J. 1158—1346) im Jahre 1928
erschienen, bezeugt, wie wissenhaft und sorgfältig Koss sein Werk auszuführen
dachte. Eine kleinere Inventarisationsarbeit veröffentlichte F. Roubik in dem
Aufsatze Registratura Ceského Närodniho vyboru 2 r. 1848
(Registratur des böhmischen Nationalausschusses aus d. J. 1848).1*) Schließlich ist
hier auch ein Werk von J. Celakovsky zu erwähnen, welches zwar schon
vor dem großen Kriege fertig war, jedoch erst im Jahre 1920 erschienen ist. Ich
meine das Soupisrukopishovanyhvardivuhlavnihomästa
Prahy I (Verzeichnis der in dem Archive der Hauptstadt Prag aufbewahrten
Handschriften),15) durch welches ein neuer Nachweis erbracht wird, was für ein
wertvolles heuristisches Hilfsmittel entsteht, wenn man den Katalog auf einer aus-
führlichen, wissenschaftlihen Analyse der katalogisierten Quellen begründet.
Leider nicht nur die großen &echoslovakischen Archive sind mit ihren Katalogen
und Inventaren . sondern man brachte auch die so wichtige, dringende
und schon öfters berührte Frage einer systematischen Inventarisierung der
11) Editiones archivii et bibliothecae capituli metropol. Pragensis XVII.
12) Editiones XIX.
13) Editiones XX.
14) Časopis archivní školy VI (1928), 126—153, vgl. diese Zeitschrift (1929),
580—581.
18) Sborník prispévk& k dějinám hlav. mésta Prahy, I. T. H. 2 (1920).
276
kleineren Archive auf dem platten Lande in der Cechoslovakei immer noch nicht
auf die Bahn. Auch daran war die Saumseligkeit in der Durchführung einer
Archivorganisation schuldig.
Dafür gelang es in Prag eine Archivschule zu errichten, von der schon
. BB Novák in seinem oben erwähnten Programmartikel spricht. Novák
selbst verfaßte auch gleich nach dem Umsturze einen Entwurf von Statuten und
Lehrplane der Schule, welche den Fehler des alten zu viel kathederartigen Wiener
Instituts für Österreichische Geschichtsforschung im Auge behielten und die Fach-
ausbildung der neuen £echoslovakischen Archivare mehr auf einer womöglich
konkreten Kenntnis der Archivdenkmäler, auf größter Archivpraxis zu gründen
suchten. Noväks Entwurf, etwas zugerichtet, wurde zur Grundlage der neuen
Schule, welche, wenn man auch darin nicht immer von einer praktischen Be-
lehrung ausging, unter der Leitung G. Friedrichs für die Ausbildung der
aen Archivare und Herausgeber der Geschichtsquellen recht viel be-
eutet.!
b) Die zweite große Aufgabe der techoslovakischen Archivare in dem neuen
Staate, war, wie gesagt, die Revindikation einer großen Menge von Archivalien
aus den Wiener und Budapester Zentralämtern und Zentralarchiven. Die Zentral-
ämter des alten böhmischen Staates blieben zwar auch nach 1620 bis tief in das
18. Jahrhundert in ihrer ein wenig veränderten Funktion weiterhin bestehen,
e die wichtigsten von ihnen, die böhmische königliche Kanzlei, später
hmische Hofkanzlei, und die böhmische königliche Kammer siedelten schon seit
Ferdinand II. ununterbrochen in Wien, wo also auch ihre Registraturen nach
Aufhebung der Ämter zurückgeblieben sind, um schließlich in den österreichischen
Zentralarchiven aufbewahrt zu werden. Außerdem sind im Laufe der Zeit auch
viele böhmischen Archivalien zum Amtsbedarf der österreichischen Zentral-
ämter aus böhmischen Landen nach Wien überführt worden, z. B. unter
Maria Theresia das Archiv der böhmischen Krone, welches die Staatsverträge, die
Verfassungsurkunden und andere wichtigen Dokumente des alten böhmischen
Staates vom Jahre 1158 an enthielt. Mit der Auflösung des alten Osterreichs er-
schien auf einmal die Möglichkeit, diese altertümlichen, grundwichtigen böhmischen
Archivalien, die als ein Eigentum des erneuerten böhmischen Staates, des Nach-
folgers und Erben des alten Staates, anzusehen waren, in Wien zu erheben und
in den lechoslovakischen Staatsarchiven niederzulegen. Zu diesem Probleme ist
noch ein anderes hinzugerreten: wie die Archivfonds der österreichischen für
die ganze Monarchie, also auch für die böhmischen Länder bestehenden Zentral-
ämter aus der Zeit nach Maria Theresia, soweit dieselbe die böhmischen Länder
betreffen, zu behandeln seien. Die mit diesen Problemen zusammenhängenden
Arbeiten, welche die techischen Archivare zu leisten hatten, waren groß und die
Art und Weise, wie sich jene Gelehrten ihrer Aufgabe entledigren, zeugt vollends
von ihrer Tüchtigkeit. Schon die Prager Archivabrede zwischen der čecho-
slovakischen und der österreichischen Republik vom 18. Mai 1920 war eine große
Tat, welche besonders durch mühsame heuristische Arbeit der &echischen Archivare
ermöglicht wurde. Und eine nicht minder große Tat war die Art und Weise, wic
dieselben Archivare die Abrede durch ihre opferwillige Tätigkeit in Wien durch-
geführt haben, wodurch ein wahrer Schatz von Geschichtsquellen in die &echo-
slovakischen Archive ausgegeben oder zurückgestellt wurde.
Ober diese Arbeiten berichtet * Opočenský in seinem Aufsatze
Archivniimluvarepubliky Ces koslovenskésrepublikou
Rakousku (Archivabrede zwischen der £echoslovakishen und der öster-
reichischen Republik), ic) wo auch zunächst die Prager Abrede selbst, dann die Ab-
rede zwischen denselben Staaten über das Schriftenmaterial, das die niederöster-
reichischen, der &echoslovakischen Republik abgetretenen Urter betrifft, welche den
Nachtrag zu der Prager Abrede bildet, und schließlich ein Auszug aus der lecho-
slovakisch- deutschen Abrede über die Übertragung der Gerichtsbarkeit im Hult-
16) Vgl. Cesky časopis historický 25 (1919) 278 und die Berichte über die Tätig-
keit der Schule in Časopis archivní školy.
102) Časopis archivní školy I (1923), 51—141.
277
schiner Kreise, soweit dieselbe die Prozeßakten der Straffälle und der unstreitigen
Gerichtsbarkeit behandelte, in Beilage abgedruckt werden. Von besonderem Werte
sind die Angaben Opotenskys, welche von den Wiener Schriftdenkmälern schon
nach Prag überführt und in welchen echoslovakischen Archiven sie aufbewahrt
worden sind. Die Breite und Tiefe der damaligen heuristischen Studien der techo-
slovakischen Archivare in Wien kommt in einigen ihren Aufsätzen zum Vor-
schein. Es sind zu erwähnen die Arbeiten R. Koss’s: Listiny zarchivu
markrabatmoravskfchvevideäsk&mstätnimarchivi (Die
Urkunden aus dem Archive der Markgrafen von Mähren im Wiener Staats-
archive)!T) und Provenience českých archiválií ve státním
archivě vídeňském (Die Provenienz der böhmishen Archivalien im
Wiener Staatsarchive), 16) die Arbeiten K. Kazbunda’s: Organisace a
archiv nejvyššého policeprího úřadu a ministerstva
policie (Die Organisation und das Archiv der obersten Polizeistelle un
Polizeiministeriums)1%) Archiv rakouského ústavodárného Fils-
kého sněmu (1848—1849), rakouské říšské rady (1851—1861) a
rozmnožené rady říšskě (1800—1861) (Das Archiv des österreichischen
Konstitutionsreichstages, des österreichischen Reichsrates und des vermehrten
Reichsrates)**) und Archiv c. k. státní rady 1861—1868 a seznam
poradních předmětů týkajících se zemi českých a Slo-
venska (Das Archiv des k.k. Staatsrates und das Verzeichnis der die böhmischen
Länder und die Slovakei betreffenden Beratungsgegenstände)?1) und schließlich
der Artikel J. Proke3’s unter dem Titel O vídeňské likvidaci.
Aktalesk&edvorsk&kanceläte (Über die Wiener Liquidation. Akten
der böhmischen Hofkanzlei). n) Von diesen Arbeiten sind es besonders die
Arbeiten Kazbundas, welche ihre richtig aufgefaßte Aufgabe: das umfang-
reiche Archivmaterial zur modernen Geschichte dem Geschichtsforscher näher-
zubringen zweckmäßig erfüllen, indem sie einzelne selbständige Archivfonds der
prone Zentralarchive in Form von Archivmonographien behandeln. Kazbunda
richt zunächst die Geschichte des Amtes, seine Organisation, Registratur und
Ardıie um zum Schlusse ein ausführliches Verzeichnis von Bohemica und Slovenica
beizulegen.
II. Die heuristischen Aufgaben. Venn auch laut der Prager Archivabrede
eine große Menge des Archivmaterials von Wien nach Prag gelangte, so ist doch
immer noch weit mehr davon in Wien zurückgeblieben, denn man konnte natür-
lich nicht alles, was die böhmischen Länder betrifft, überführen ohne das Grund-
prinzip der ganzen „Liquidationsarbeit“, das archivalische Provenienzprinzip, zu
verletzen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als das zurückgebliebene Material
durch systematische heuristische Arbeit zu erforschen und d planmäßige Ver-
öffentlichung von Verzeichnissen der Wiener Bohemica der lechoslovakischen Ge-
ee zugänglich zu machen. Leider ist es der &echoslovakischen Ge-
schichtsforschung trotz einigen Anläufen bisher nicht gelungen, in Wien aus der
dortigen £echoslovakischen historischen Auskunftsstelle ein historisches Institut
auszubilden, welches alle die obenerwähnten heuristischen Aufgaben auf sich
nehmen würde.
Inzwischen ist ein ähnliches historisches Institut mit Namen Istituto
Cecoslovacco in Rom errichtet eorden 29) Allerdings die Cechische histo-
rische Forschung in Rom fußte schon vor dem Umsturze auf einer festen Grund-
lage, welche die Arbeit der „Böhmischen Expedition“ geschaffen hat, deren Kosten
der böhmische Landesausschuß trug. Die Böhmische Expedition, größtenteils aus
den Beamten des böhmischen Landesarchivs zusammengesetzt, verrichtete während
17) Časopis archivní školy I (1928), 1—12.
18) Zprávy českého zemského archivu VI (1925).
19) Časopis archivní školy I (1928), 18—50.
2°) Časopis archivní školy II (1924), 44—111. S
21) Publikace archivu ministerstva zahraničních věci, Rada II, &. 1.
22) Nové Cechy V. 1
23) Über dessen Tätigkeit vgl. die Berichte in Časopis archivní školy.
278
ihrer etwa zwanzigjährigen Tätigkeit eine schöne Arbeit, wie einige Publikationen
(s. unten) und eine stroke Amal von Abschriften von den Bohemicis der römi-
schen Archive und Bibliotheken, die in dem böhmischen Vfg.
zeugen. Es ist kaum zu leugnen, daß die große Tradition dieser Böhmi
Expedition zur Errichtung des oslovakischen Instituts in Rom am meisten bei-
getragen hat. Grundsätzlich wurde dem Institute zur Aufgabe gestellt die all-
gemeine Unterstützung der wisse tlichen, vor allem historischen Cecho-
slovakischen Forschung in Italien, hauptsächlich in Rom und zunächst drei
konkreten Aufgaben: 1. Systematisches Verzeichnis der Bohemica und Slovenica
der römischen und italienischen Archive; 2. Herausgabe der Berichte der päpst-
lichen Nunzien auf dem Prager Kaiserhofe seit 1598 an; 8. Herausgabe der
Slovenica der römischen Archive. Hat man mit dem Verzeichnen der Bohemica
in Rom schon lange vor dem großen Kriege begonnen, durch die Herausgabe der
Nunziatur und der Slovenica wurde wesentlich erweitert der ursprüngliche Arbeits-
plan der Böhmischen Expedition, der zwei großangelegte Publikationen: Monu-
menta’Vaticana res gestas Bohemicas illustrantia (d. h. die
Bohemica aus den E Registern des 14. und 15. Jahrhunderts seit 1842;
neuerdings wurde die Publikation auf den Zeitraum 1816—1842 erweitert) und
Acta sacrae congregationis de propaganda fide res gestas
Bohemicas illustrantia (s. unten) aßt. Leider wegen schwieriger
heuristischen Vorarbeiten konnte bisher nichts von den geplanten Werken aus-
gegeben werden, wenn man auch schon angefangen hat, schr viel davon zu drucken.
Von den Arbeiten, die die erste Aufgabe betreffen, ist inzwischen doch eine sehr
wichtige Arbeit B. Jenlovskys unter dem Titel Knihovna Barbe-
rinia český vyzkum v Rimé (Bibliothek Barberini und die böhmische
Forschung in Rom) erschienen, welche über die Fülle der Bohemica in einer der
vielen römischen Bibliotheken gut informiert.?*) Sonst wird man auf die Publi-
kation der systematischen heuristischen Arbeit des &echoslovakischen Instituts in
Rom, sowie auch des Historischen Instituts in Prag (s. unten) noch lange warten
müssen, denn der Mangel an tüchtigen Arbeitskräften bedrängt sehr stark alle
techoslovakischen wissenschaftlichen Institute. Außerhalb des Arbeitsplanes dieser
Institute ist natürlich auch manche heuristische Arbeit erschienen. J. Macürek
veröffentlichte ein ausführliches Verzeichnis der Bohemica, welche er in den sieben-
bürgischen Archiven und Bibliotheken gefunden hat, unter dem Titel „Pra-
meny k ee fee československým v archivech a kni-
hovnách sedmihradských (Quellen zur čechoslovakishen Geschichte in
den siebenbürgischen Archiven und Bibliotheken)?5) und Nové příspěvky
k dějinám československým z archivů a knihoven sed-
mihradskych (Neue Beiträge zur čechoslovakischen Geschichte aus den
siebenbürgischen Archiven und Bibliotheken). ) J. Prokeš versuchte in seiner
Abhandlung Husitika Vatikänsk&knihovny v Rimé (Hussitica der
Vatikaner Bibliothek in Rom)?”) über die Akten und Traktate zur Geschichte
des Hussitentums in Jahren 1420—1440, die sich in einigen Handschriften der ge-
nannten Bibliothek befinden, womöglich vollständig zu informieren und F. Cada
verzeichnete die für die Geschichte des Rechtes in böhmischen Ländern wichtigsten
Handschriften, welche in der Wiener Nationalbibliothek aufbewahrt werden, ın
dem Aufsatze České rukopisy právnické v Národní knihovně
ve Vidni?) Noch schwieriger ist die heuristishe Vorarbeit zur Geschichte
der Slovakei, weil in der Sache beinahe alles erst zu tun ist. Den Anfang auf
diesem Forschungsgebiete versuchte M. Opolenskä4 in ihrem Verzeichnisse
Slovenika uherských listen v dom, dvor. a stát. archivu
ve Vídni v období let 1248—1490 (Slovenica in den ungarischen
ee 20) Zprávy českého zemského archivu VI (1924), vgl. Cas. arch. školy III.
` 98) Věstník královské české společnosti nauk 1924, VI.
26) Věstník královské české společnosti nauk 1926, II.
37) Publikace archivu ministerstva zahraničních věcí II, 8.
20) Viehrd VII (1925).
219
Urkunden des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchives im Zeitraume von 1248 bis
1490).°) Außer diesen größeren erschienen auch mehrere kleinere, mehr ge-
legentliche Arbeiten, welche über einzelne Geschichtsquellen berichten.
III. Die quelleneditorischen Aufgaben. In dem neuen Staate wurde der
Cechoslovakischen Geschichtsforshung noch eine andere grundsätzliche Auf
gestellt, nämlich das zweckmäßigste Herausgeben von umfangreichen Geschichts-
quellensammlungen, welche lange, kostspielige heuristische Vorarbeiten erfordern.
Vor dem Umsturze war es in böhmischen Ländern das böhmische Landesarchiv
in Prag, welches sih im Sinne der Wünsche seines großen ründers,
F. Palacky, mehr dem Sammeln von Abschriften der Quellen zur böhmischen
Geschichte und deren Herausgeben als den eigentlichen archivalischen Aufgaben:
dem Ordnen, Inventarisieren und Katalogisieren seiner Fonds widmete. Es hat
sich aber im Laufe der Zeit in diesem Archive soviel ungemein wichtigen Archiv-
materials angesammelt, welches geordnet, besonders aber inventarisiert und in ge-
druckten Katalogen publiziert werden sollte, daß der Gedanke, die quellen-
editorische Tätigkeit des böhmischen Landesarchivs von seiner archivalischen
Tätigkeit zu sondern, diese letztere samt den Archivfonds dem Archive zurück-
zulassen und die erstere samt der überreichen Abschriftensammlung in ein neues
Institut überzutragen, ganz selbstverständlich war. Dieser Gedanke lag auch zu-
runde dem Entwurfe V. Hrubys, in Prag ein Staatsinstitut für Geschichts-
orschung zu errichten, in welches man die quelleneditorishe Tätigkeit des
böhmischen Landesarchivs samt dessen Abschriftensammlung und womöglich auch
mit dessen Beamten, soweit sie an den editorischen Arbeiten teilnahmen, über-
führen und seinen Arbeitsplan um einige neue dringende Aufgaben erweitern
sollte, so daß das neue Institut zum Mittelpunkte und Grundlage aller čecho-
slovakischen Geschichtsforschung werden sollte. Die Archivfonds des böhmischen
Landesarchivs sollten dem neu zu errichtenden éechoslovakischen Nationalarchive
übergeben werden. Der Plan ist jedoch mißlungen, weil das éechoslovakische
Nationalarchiv, wie oben gesagt, ausgeblieben und das böhmische Landesarchiv,
selbst eigentlich ein „historisches Institut“, neben dem inzwischen im Herbste 1920
errichteten staatlichen historischen Editionsinstitut, Ceskoslavensky státní
historický ústav vydavatelský v Praze, und als dessen Rival
weiterhin stehen geblieben ist. Damit ist dem neuen Institute die einzig richtige
Grundlage seiner Existenz gleich von allem Anfange an genommen und dasselbe
ist ein Torso geblieben, denn seine Arbeitsgrundlage ist dadurch ungemein stark
beschränkt worden. Hoffentlich wird es in absehbarer Zeit doch gelingen, die
quelleneditorische Tätigkeit beider genannten Institute in einem Institute zu ver-
einigen, was einerseits als eine Grundforderung der Cechoslovakischen Geschichts-
forschung, andererseits als eine Pflicht zu derselben erscheint.
Zur ersten Aufgabe stellte man dem neuen historischen Institute die Heraus-
gabe des Urkundenmaterials zur böhmischen Geschichte im Zeitraume 1846 bis
1487, wozu manches schon vor dem großen Kriege vorbereitet wurde. Die Auf-
gabe war um so schwieriger, als für die zweckmäßige Ausgabe des Materials wegen
seiner Zunahme seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eine neue entsprechende
Editionsform zu suchen war. V. Hruby schlug vor das umfangreiche Material
in vier Abteilungen: 1. der königlichen, 2. der bischöflichen, 8. der städtischen
Urkunden und 4. der Urkunden der Adeligen (um die päpstlichen Urkunden
handelte es sich nicht, denn jene sind schon in die Urkundensammlung der Monu-
menta Vaticana aufgenommen) herauszugeben, von denen jede inhaltlich ver-
wandte und aus bestimmten gut organisierten Kanzleien gen hae Urkunden
umfassend einen historisch, besonders aber diplomatisch selbständigen Arbeits-
abschnitt bedeuten würde. Diese Einteilung des Urkundenmaterials, meinte
Hruby, würde nicht nur eine gründlichere, weil logischere Vorbereitung desselben
zur Herausgabe, sondern auch ein gründliches diplomatisches Erkennen der könig-
lichen böhmischen und markgräflich mährischen, sowie auch der böhmischen und
mährischen bischöflihen und städtischen Kanzleien im 14. und 15. Jahrhundert
und eine zweckmäßigere Einrichtung der Ausgabe selbst zur Folge haben. Schließ-
20) Publikace archivu ministerstva zahraničních věcí II, 2.
280
lich und besonders würde die erwähnte Einteilung des zu edierenden Materials
} von den anteilnehmenden Editoren ermöglichen, einen sachlich und forme
durch das Material selbst, also logisch abgeschlossenen Arbeitsabschnitt zu be-
arbeiten, wodurch sich jeder der Teilnehmer viel mehr wissenschaftlich für seine
Arbeit einnehmen könnte, als wenn man die bisher übliche Weise der Ausgabe,
wie dieselbe in dem bekannten Werke J. Emlers Regesta diplomatica nec non
epistolaria Bohemiae et Moraviae erscheint, beibehalten würde. Diese Regesta
häufen das herauszugebende Urkundenmaterial mechanisch in eine chronologische
Reihe zusammen, also die königlichen, bischöflichen, städtischen und alle übrigen
Urkunden in ein unorganisches Gemisch. Durch dieses mechanische Reihen so
verschiedenartigen Materials wäre den Bearbeitern verunmöglicht, dasselbe wissen-
schaftlich zu durchdringen, und es würde die Gefahr einer mechanischen Arbeit ent-
stehen, welche der neuen Ausgabe eben so verhängnisvoll wäre, wie sie schon den
Emlerschen Regesta geworden ist. Trotzdem hat man den Vorschlag Hrubfs nicht
angenommen, und es wurde beschlossen, die Ausgabe des böhmischen Urkunden-
materials seit 1846, mit welchem Jahre, dem Todesjahre König Johanns, die
Emlerschen Regesta abgebrochen wurden, als Fortsetzung derselben Regesta an-
zusehen. V. Hrubý sollte bearbeiten den Zeitraum seit der Thronbesteigun
Karls bis zu seiner Kaiserkrönung (1346 Aug. 26 bis 1855 Apr. 5) un
B. Mend! den folgenden Abschnitt bis zur Krönung Wenzels (1868 Jun. 15).
Der erste, als er auf die Masarykuniversität in Brünn berufen war, gab seine
Teilnahme an dem Werke auf und B. Mendl gab schon zwei Hefte seines
Werkes Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohe-
miae et Moraviae, pars VI (1855—1868) heraus, welche den Zeit-
raum 1855 Apr. 5 — 1857 Dez. 7 umfaßt.) V. Hruby widmete sich in-
zwischen einer anderen Aufgabe, die ebenfalls in den Arbeitsplan des Prager
Historischen Instituts aufgenommen wurde, der Herausgabe des Archivs der
böhmischen Krone und konnte zunächst den zweiten Band seines Werkes
Ärchivum coronae regni Bohcmiae veröffentlichen, welcher die Ur-
kunden aus den Jahren 1846 — 1855 Apr. 5 bringt. 41)
Zur zweiten Aufgabe hat das Prager Historische Institut das böhmische
urkundliche Material des späteren 15. Jahrhunderts herauszugeben. Das ist viel-
leicht eine noch schwierigere Aufgabe als die erste, denn seit der Mitte des
15. Jahrhunderts nimmt nicht nur die Anzahl der zu edierenden Schriftstücke
ungemein zu, sondern auch das Briefmaterial nimmt unter ihnen immer mehr die
Oberhand, so daß eine 3 Frage auftaucht, wie das ganze umfang-
reiche Schriftenmaterial durch zweckmäßige Edition der Geschichts forschung zu-
änglih zu machen sei. Als erste versuchte B. Ry ne lo vi die Aufgabe zu
ösen, welche in ihrem Werke List ä a fistin It Oldficha 2 Roim-
berka,1418—1462 (Brief- und Urkundensammlung des Ulrichs von Rosen-
berg), die richtige Weise gefunden zu haben scheint. Ihre sorgfältige Edition, ge-
widmet einer der wichtigsten Persönlichkeiten der böhmischen Geschichte ım
15. Jahrhundert, es Sek zweckmäßig um dieselbe eine große Anzahl von
litisch bedeutsamen kumenten, welche durch diese neue Zusammenstellung
ins neue Licht gestellt werden. Ahnlicherweise wird wohl auch das übrige
böhmische Brief- und Urkundenmaterial des 15. Jahrhunderts in kleinere Gruppen
einzuteilen sein, von welchen jeder ein bestimmt gefaßter historischer Gedanke
zugrunde liegen wird. Für das Hauptmaterial aber, d. h. für die Königsurkunden
und -briefe werden wohl die Regestenwerke doch die entsprechendste Form der
Edition bleiben, weil bei dem Umfange des Materials die Einrichtung der Edition
um viel einfacher und dadurch übersichtlicher sein muß und kann als etwa in dem
Werke von Rynebovi.
Unter den Publikationen des Prager Historischen Instituts erscheint auch eine
Serie des groß angelegten Werkes Desky dvorské království českého
(Hoftafeln des Königreichs Böhmen), in welchem der bekannte Geschichtsforscher
20) Vgl. Naše věda X, 98—110 und 210—289.
31) Vg. Cesky časopis historicky 85 (1929), 402—412 und 86 (1930)
222—281; Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 08 (1929) 879—380.
281
G. Friedrich die erhaltenen Quaterne der Hoftafeln aus dem 14. und 15. Jahr-
hundert in zwei Abteilungen auszugeben beabsichtigt. Eine Abteilung, und zwar
fünf libri proclamationum, soll im Rahmen der bekannten schon von Palacky be-
griindeten 5 Archiv Cesky (Cechisches Archiv), deren Redak-
teur Friedrich ist, und die andere Abteilung: zwei libri citationum, liber
venditionum, liber inductionum und: liber obligationum im Rahmen der Publika-
tionen des Historischen Instituts veröffentlicht werden. Von beiden Abteilungen ist
bisher je der erste Band erschienen: První kniha provolaci z let 1880
bis 81 (Erstes Ausrufungsbuch aus den Jahren 1 1)22) und Prvnikniha
ühonnd z let 1883 — 1407 (Erstes Vorladungsbuch aus den Jahren 1888
Bis 1407).
Ober den Arbeitsplan des Historischen Instituts, wie sich denselben das
Institut in den ersten fünf Jahren unter der Leitung V. Hrubys gebildet hat,
berichtet Hrubys Nachfolger J. B. Novák in seinem Artikel O programu
státního historického ústavu vydavatelského v Praze
das Programm des staatl. historischen Editionsinstituts in Prag), ) wo außerdem
als weitere Aufgaben des Instituts die Regesten des böhmischen Königs Johann
(1810—1846) und die Ausgabe der böhmischen Landtafeln hingestellt werden. Diese
letztere Aufgabe erscheint aber als ungemein schwierig und vorläufig wenig
konkret. Auf Anlaß des Historischen Instituts wurde im Jahre 1928 die Zeit-
schrift Casopisarcivnf!tkoly (Zeitschrift der 355 BER oa die
als gemeinsames Organ des Instituts und der Archivschule über das decho-
slovakische Archivwesen und heuristischen Arbeiten zu berichten hat.
Neben dem Historischen Institute setzten natürlich auch die älteren Institute
in Prag und Brünn ihre quelleneditorische Tätigkeit nach festem Arbeitsplane fort.
Das böhmische Landesarchiv veröffentlichte im Jahre 1928 den ersten
Band des großen Werkes Acta sacrae ö de propa-
ganda fide res gestas Bohemicas illustrantia,®®) cliches die
Bohemica aus dem Archive der zur Abwehr der katholischen Religion im Jahre
1622 errichteten Kongregation umfassen soll. H. Kolman hat dieses Archiv bis
zum Jahre 1800 hinauf durch langjährige mühsame Arbeit durchforscht, konnte
jedoch in dem genannten Bande erst ein unbedeutendes Bruchstük von den
18000 Abschriften, die er heimgebracht hat, abdrucken, denn seine Edition ist
musterhaft vorbereitet. J. B. Novák gab im Jahre 1929 heraus den zweiten
umfangreichen Band (741 Textseiten + 125 S. Einleitung in 4°) seiner großen
Edition Sn&my roku 1611 (Landtage vom Jahre 1611), die den 15. Band der
Hauptpublikaton des böhmischen Landesarchivs der Sn E my české od léta
1526 a% po na li doba (Böhmische Landtage vom Jahre 1526 bis auf unsere
Zeit) bildet. Eine ungewöhnliche Fülle von wichtigem Quellenmaterial wurde hier
mit gleich ungewöhnlicher Sorgfalt bearbeitet, so daß die Werke Kolmans und
Noviks als zwei der besten Cechoslovakischen Quelleneditionen anzusehen sind.
Auch die Cehishe Akademie der Wissenschaften und der
Kunst hat das ihrige beigesteuert. In ihrer Sbírka pramenů českého
hnutí náboženského ve 14 a 15. století (Quellensammlung der
böhmischen Religionsbewegung im 14. und 15. Jahrhundert) veröffentlichten V.
Novotny im Jahre 1920 seine Arbeit Mistra Jana Husi korespon-
dence a dokumenty (Magister Johann Hus’ Korrespondenz und Dokumente)
und V. Kybal mit O. Odložilík im Jahre 1926 den fünften Band der
Publikation Matéje z Janova mistra Pařížského Regulae Ve-
teris et Novi testamenti (Mathias’ von Janov des Pariser Meisters Re-
gulae V. et N. t.), worin schon betont wird, daß die Grundlage der Edition, die
Kybal ursprünglich unbekannte Handschrift Nr. 211 der Olmützer Kapitel-
bibliothek bilden sollte. Neue Quellen zur Geschichte der volkstümlichen Re-
ligionsbewegung im 18. Jahrhundert brachten der zweite abschließende Band der
32) Archiv Český, B. 81, 1921.
33) Desky dvorské království českého, B. VII, 1929.
34) Časopis archivní školy III, 120—185. RECH
33) Vgl. Časopis archivní školy III, 158, Cesky časopis historický 30 (1924).
282
Sammlung Listiny k dějinám lidového hnutí náboženského na
českém východě v XVIII a XIX. věku (Urkunden zur Geschichte der
volkstümlichen Religionsbewegung in böhmishem Osten im 18. und 19. Jahr-
hundert) s) von K. V. Adámek und der erste Band der Sammlung Listář
k dé jin am náboženských blouznivců deskfch v století
XVIII. a XIX. (Dokumentensammlung zur Geschichte der böhmischen Reli-
gionsschwärmer im 18. und 19. Jahrhundert)?”) von J. V. Šimák. Die Histo-
rishe Kommission der Matice Moravská in Brünn gab im Jahre
1928 den zweiten Band der von J. Bidlo sehr schön besorgten Publikation
Akty Jednoty Bratrské (Akten der Brüderunität) aus, welcher den ersten
Band der Blahoslausschen Sammlung umfaßt. Historický spolek v Praze
(Historischer Verein in Prag) besorgte weitere Bände der Edition Zpov&dni
seznamy arcidiecése Prazké z let 1671—1725 (Beichteverzeichnissc
der Prager Erzdiözese aus den Jahren 1671—1725), so daß im Jahre 1918 ein den
Chrudimer und Cäslauer Kreis und im Jahre 1928 ein den Bechiner Kreis be-
treffender Band erscheinen konnte, beide von J. V. Šim ák bearbeitet, und einen
weiteren Band der Edition Dopisy kons is tote podobojſz let 1609
bis 1619 (Briefe des utraquistischen Konsistoriums aus den Jahren 1609—1619)
von F. Tischer. Besonders zu erwähnen ist die unermüdliche bs cay A.
Podlahas, der außer seinen oben schon erwähnten Katalogen im Jahre 1927
die Aus des sechsten Erectionsbuches der Prager Erzdiözese (— Registerband
von Stiftungsurkunden der Kirchen, Kapellen und Altäre) unter dem Titel Libri
erectionumarchidioecesis PragensissaeculoXIV.et X V.,
tomus VI, abgeschlossen hat.
Außer diesen großen Quellenpublikationen hat man gelegentlich auch manche
kleinere Quelle veröffentlicht, was unsere rsicht, die nur die Grundideen der
Entwicklung der Cechoslovakischen heuristischen Arbeit vor Augen hat, beiseite
läßt. Aus demselben Grunde sind in dem vorangehenden Absatze fast nur die
Namen angeführt, denn darin handelt es sich um Arbeiten, deren Ursprung schon
vor dem großen Kriege zu suchen ist, nicht erst in dem ersten Dezennium der
éechoslovakischen Republik,
26) Historicky archiv Ceské akademie, nr A8.
37) Historický archiv České akademie, nr 46.
283
19 NP 6
NEUERE LITERATUR ZUR KIRCHENGESCHICHTE
POLENS
Von
Karl Volker.
Die von dem Schreiber dieser Zeilen in seinem letzten Literatur-
bericht (N.F. Bd. IV, Heft 2, 1928, S. 233—276) 5 Vor-
bedingungen für den Aufschwung der polnischen Geschichtsforschung
bestehen weiter fort. Die Neubelebung des historischen Studiums in
Polen kommt nach wie vor nicht minder der Kirchengeschichts-
schreibung zustatten. Bei dem erhöhten Interesse für die Ostfragen
ergibt es sich von selbst, daß auch außerhalb Polens dieses Forschungs-
gebiet Beachtung findet, wenn auch begreiflicherweise der Schwer-
punkt der wissenschaftlichen Arbeit in Polen selbst liegt. Eine wich-
tige Voraussetzung für die Zuverlässigkeit der historischen Forschung
bildet das geordnete Archivwesen. Die Aufforderung des
Kardinal- Staatssekretärs vom 15. April 1923 an die italienischen
Bischöfe, bei ihren Visitationen auf die Erhaltung aller kirchlichen
Altertümer Bedacht zu nehmen, fand bei dem Archivar der Prze-
mysler röm.-kath. Diözese, Jan Kwolek, williges Gehör. Der-
selbe begnügte sich nicht damit, in dem ihm anvertrauten Virkungs-
kreis Ordnung zu schaffen. Durch seine Studie über „Die Archive
der Przemysler Diözese des lateinischen Ritus“, ) worin er im Rahmen
einer historischen Skizze über die einstigen und derzeitigen archi-
valischen Bestände des bischöflichen Sprengels berichtet, möchte er
das kirchliche Archivwesen in Polen überhaupt in Schwung bringen,
wie seine Programmschrift über „Die wissenschaftliche Organisation
der Diözesanarchive“?) zeigt. Die Aufbewahrung historischer Nach-
richten soll aber nach K. nicht Selbstzweck sein, sondern historische
Darstellungen, die sich in Przemysl tatsächlich aus erhöhter archi-
valischer Sorgfalt wiederholt ergeben haben, in die Vege leiten. Die
umsichtige Arbeit K.s spiegelt zugleich die wechselvolle Geschichte
der Przemysler Diözese wider. Aus den gedruckt vorliegenden
Tätigkeitsberichten des Archivars über die Zeit von 1927 bis 1929
mit seinem Ausweis über die Neuerwerbungen geht hervor, daß es
sich hier um ein ernstes wissenschaftliches Unternehmen, dem allge-
meine Nachahmung zu wünschen wäre, handelt. — Mit der Er-
1) Archiwa diecezji przemyskiej ob. lad. Im Anhang: Statut i regulamin
archiwum diecezjalnego. Przemyśl. Verlag des Archivs, 1927.
2) „Naukowa organizacja archiwów diecezjalnych“. Sonderabdruck aus
Nr. 4. Warschau 1928. S. 21.
284
schließung der Archive ist nur eine „der Bedingungen der Arbeit an
der Kirchengeschichte Polens“, ) über die sih Josef Uminski
im Blick auf die allseitige Erfassung des Gegenstandes ausläßt, erfüllt.
Für die Anfänge der Kirche in Polen sind Unter-
suchungen über den Ursprung der polnischen Staatlichkeit und Kultur
von Wichtigkeit. In dieser Hinsicht enthält die Festschrift‘) anläß-
lich des 70. Geburtstages des Altmeisters der Slavistik, Alexander
Brückners, beachtenswerte Beitrige. Kazimierz Tymie-
niecki entscheidet die Frage „Geschlecht und Staat im ursprüng-
lichen Polen?) dahin, es hätten sich zwei Hauptgruppen, eine
kleinere, das Geschlecht, und eine größere, der Stamm, nebeneinander
herausgebildet, aus deren Wechselwirkung sich die weiteren Ver-
bindungen ergeben haben. Mit dieser Auffassung tritt er der üb-
ichen Schematisierung der einzelnen Entwicklungsstufen entgegen.
Zur Zeit der Christianisierung Polens war zwar der Staatsbegriff
daselbst bereits ausgeprägt, für die Gestaltung der vorchristlichen
Stammesreligion wurde jedoch das gegenseitige Verhältnis der slavi-
schen Verbände mit bestimmend. — Eugen Kucharski sucht
dem „Rätsel der polnischen Stämme“) näherzukommen, indem er
in den Praedenecenti der fränkischen Jahrbücher (824) „das ursprüng-
liche Masovien“ vermutet. Zu diesem Ergebnis gelangt er einerseits
mit Hilfe der Sprachvergleichung, andererseits unter Berücksichtigung
der wirtschaftlichen und geographischen Begleitumstände des be-
treffenden Landstriches. Die Bezeichnung iudex im Dokument
„Dagome iudex“ erklärt er dabei als Latinisierung des slavischen
Fürstentitels „Sadek“, der Mieszko I. beigelegt wurde. — Auf dieses
rätselhafte Schriftstück greift auch Mikolaj Rudnicki zurück,
dessen Untersuchung „F Dagome iudex und die wagrische Podaga“)
wir hier gleich erwähnen. Den Namen „Dagome“ leitet er von der
obotritischen Gottheit Podaga, die in der Familie der Piasten ver-
ehrt wurde, ab. Indem Mieszko sich in dem Schreiben an den Papst
mit diesem Namen, den er von seiner Mutter her hatte, einführte,
habe er zugleich Anspruch auf das Land erhoben. In den fränkischen
Jahrbüchern heißt es: „Abodriti, qui vulgo Praedenecenti vocantur.“
K. und R. stimmen also darin überein, daß sie zur Erschließung der
Anfänge der polnischen Staatlichkeit auf die Beziehungen der ost-
elbischen Slavenstämme in der vorchristlichen Zeit zurückgreifen. Die
in diesem Zusammenhang unternommenen Erklärungsversuche beider
hinsichtlich des kirchenhistorisch wichtigen Dokumentes „Dagome
iudex“ sind unbefriedigend. Ganz abgesehen davon, daß es nicht von
der Hand zu weisen ist, ob unter Dagome nicht doch Boleslaw
2) O warunkach p nad historyq kościoła w Polsce. Sonderabdruck aus
„Archaion“. Nr. 4. Wa u 1928. S. 21.
) Studja Staropolskie. Krakau 1928.
8) Ród i państwo w Polsce pierwotnej. S. 3—9.
e) Mazowsze pierwotne i zagadnienie szczepów polskich. S. 27—68.
7) Pols. Dagome iudex i wagryjska Podaga. In: Slavia occidentalis.
VII, 1928. S. 185—165.
285
Chrobry zu verstehen sei, erscheint die Verbindung von Dagome und
Podaga ebenso zweifelhaft wie die Erklärung des iudex aus einem
angeblichen Titel des Polenherzogs. Gegeniiber solchen geistreichen
Kombinationen ist, auch wenn sie mit so viel Scharfsinn, wie in diesen
beiden Fällen angestellt werden, die Vorsiht am Platze, zu der
Marceli Handelsmann in seinen „Randbemerkungen zu
unserer neuesten Literatur über die älteste Geschichte Polens“) er-
mahnt. Es muß andererseits der Forschung unbenommen bleiben,
jeden ihr gangbar erscheinenden Weg zu betreten, um die Wahrheit
zu ergründen.
Auf sichererem Boden bewegt sich die Wissenschaft bei der Be-
handlung der Anfänge der polnischen Kultur; umstritten ist aber ihr
Ausgangspunkt. Entgegen der s. g. großpolnischen Hypothese,
die das polnische Geistesleben von Gnesen, dem Mittelpunkt des
Kirchentums, ausgehen läßt, sucht Johann Dabrowski die Frage
„Um die Wiege der polnischen Kultur“) dahin zu beantworten, daß
man mehrere Zentren, worunter Krakau eine hervorragende Rolle
zukomme, annehmen müsse. Dabei macht er auch auf kirchen-
politische Begleitumstände aufmerksam, besonders die Erneuerung des
Kirchenwesens in Polen unter Kasimir, dem Restaurator, nach dem
heidnischen Rückschlag von Krakau aus — Erzbischof Aron —, was
unerklärlich sei, wenn nicht die kleinpolnische Kirche gewisse Vor-
bedingungen hierzu von Haus aus aufgewiesen hätte. Die Bedeutung
von Posen-Gnesen für das Reichsganze dürfe man auch unter Boleslaw
Chrobry nicht überschätzen, da der Hof seinen Aufenthalt dauernd
wechselte; ebenso sei es unangebracht, auf den polnisch- nationalen
Einfluß des hohen Klerus, vor allem des Gnesener Metropoliten, vor
dem 13. Jahrhundert den Nachdruck zu legen, da die hohen geist-
lichen Würdenträger mit ganz geringen Ausnahmen vorher Aus-
lander waren. Es ginge nicht an, Verhältnisse, die sich im 13. Jahr-
hundert vorübergehend zugunsten Großpolens gestalteten, bereits
zwei Jahrhunderte vorher als gegeben anzunehmen. Die Aus-
führungen sind sicherlich geeignet, einseitigen Ubertreibungen vorzu-
beugen; zugunsten Krakaus müßte er allerdings ein konkreteres Tat-
sachenmaterial erbringen, da Kasimirs I. kleinpolnische Einstellung
in erster Linie durch die politische und nicht die kulturelle Gesamt-
lage bedingt war. In Anbetracht der nahezu ausschließlichen kirch-
lichen Bindungen des polnischen Kulturlebens wird man doch an der
Tatsache nicht vorbeigehen dürfen, daß der Gnesener Metropolitan-
stuhl trotz der Katastrophe nach dem Tode Boleslaw Chrobrys seine
Vormachtstellung bald wieder zu behaupten vermochte. Und in
Krakau macht sich nicht minder ausländischer Kultureinfluß — Aron
kam von Köln — bemerkbar. Immerhin führte bei Untersuchungen
dieser Art das sowohl als auch D.s weiter als der Entweder-oder-
Standpunkt.
®) Na marginesie naszej najnowszej literatury o najdawnicjszych dziejach
Polski. Brücner-Festschrift S. 64—70
) O kolebkę kultury polskiej. Ebd. S. 10—26.
286
Mit Hilfe der von D. abgelehnten philologischen Methode sucht
Eduard Klich die Auswirkung des Christentums im polnischen
Geistesleben in anderer Weise durch die Klarstellung der „Polnischen
christlichen Terminologie“) darzutun. Durch die 1876 erschienene
Untersuchung von Miklosich über „die christliche Terminologie der
slavischen Sprachen“ angeregt, stellt er in alphabetischer Reihenfolge
siebzig der gebräuchlichsten Ausdrücke aus dem polnischen religiösen
Sprachgebrauch mit ihren Abwandlungen zusammen, um alsdann ihre
Entstehung zu erklären. Das Wörterbüclein erhält durch den
Stellennachweis aus dem bis 1500 in Polen entstandenen Schrifttum,
das der Verfasser unter eingehender Berücksichtigung der ein-
schlägigen Literatur daraufhin geprüft hat, einen erhöhten Wert.
Bei der näheren sprachwissenschaftlichen Untersuchung der einzelnen
Wortbildungen ne: K. zu dem Ergebnis, daß Polen seine christ-
liche Terminologie in der Hauptsache aus dem Tschechischen her-
übergenommen habe; von den 70 Termini nimmt er bei 56 unmittel-
bare tschechische Herkunft an und nur bei 16 anderweitige Ent-
lehnung; in erster Linie aus dem Lateinischen, und zwar in einem
späteren Zeitpunkt, als das polnische Christentum bereits einen aus-
gesprochenen römisch katholischen Grundcharakter angenommen
hatte. Die deutschen, besonders hochdeutschen, orientalischen und
romanischen Wortbildungen läßt K. auf dem Umwege über das
Tschechische in den Sprachgebrauch Polens eindringen. Letzten Endes
erscheint aber auch die tschechische Kirchensprache nicht als ein selb-
ständiges Gebilde, sondern in unmittelbarer Abhängigkeit von der
durch die Slavenapostel Cyrill und Methodius geschaffenen alt-
slavischen Ausdrucksweise. Wenn man auch in Einzelheiten anderer
Meinung sein kann, so wird man doch K. im großen und ganzen zu-
stimmen dürfen, zumal er gewagten voreiligen Rückschlüssen auf die
allgemeine Gestaltung des polnischen Kirchentums ausweicht. Er läßt
selbst die vielfach bejahte Frage offen, ob in Polen vor dem Über-
tritt Mieszkos zum Christentum eine altslavische Kirchenbildung be-
standen hätte. Es leuchtet durchaus ein, daß sich die Missionare, auch
wenn sie von Deutschland kamen, der Begriffsbestimmungen der be-
nachbarten christlichen Tschechen, aus ae Reihen übrigens die
christliche Gemahlin Mieszkos stammte, bedienten.
K.s Untersuchung stellt uns auf den Boden der Missions-
geschichte. Sie geht auch der Frage nach, wie bei den Slaven die
heidnische Vorstellungswelt durch die der neuen Religion angepaßten
Wortbildungen zurückgedrängt wurde. Das christianisierte Polen
empfand die Bekehrung der heidnischen stammesverwandten Nach-
barn ebenfalls als pflichtmäßige Aufgabe. Da es aber aus sich her-
aus die hierzu erforderlichen Kräfte nicht hervorzubringen ver-
mochte, mußte es sich darauf beschränken, auswärtige Missionsunter-
nehmungen zu unterstützen. Pommern und Preußen wurden auf
diese Weise dem Christentum zugeführt.
10) Polska ER Ap chrzefciahska. Posen 1927. Verlag des Towarzystwo
Poznańskie przyjaciół? nauk.
287
„Das Leben des Bischofs Otto von Bamberg von einem
Prüfeninger Mönch“, ) übersetzt und eingeleitet von A. Hof-
meister, vermittelt von der Pommern-Mission einen un-
mittelbaren Eindruck. Es handelt sich hier um eine Biographie, die
in dem bei Regensburg von Otto selbst begründeten Kloster Prü-
fening von einem mit seinem Helden wohl persönlich bekannten
Mönd in der Zeit von 1140—1146 zum Zwecke der Vorbereitung
seiner Heiligsprechung niedergeschrieben wurde. Ungeachtet der
Wundergläubigkeit des Biographen, die derselbe übrigens mit seiner
Zeit teilt, und einzelner von H. aufgedeckten Ungenauigkeiten ent-
hält die erst in der letzten Zeit in ihrem Wert richtig erkannte
Lebensgeschichte gerade über das Verhältnis Ottos zum polnischen
Hof sowie über die beiden Pommernfahrten desselben gut beglaubigte
Nachrichten. Die Missionstätigkeit des Bischofs beherrscht entchieden
die ganze Darstellung, die sich zweifelsohne auf Berichte von Augen-
zeugen stützt. H. legt seiner Übersetzung die von ihm selbst auf
Grund von drei Handschriften in kritischer Sichtung der Über-
lieferung 1924 besorgte Ausgabe anläßlich der 800 jährıgen Gedenk-
feier der Einführung des Christentums in Pommern zugrunde.
Auf diese Lebensgeschichte Ottos von Bamberg nimmt auch die
Schrift von Pierre David „La Pologne et l’evangelisation de la
Pomeranie aux XIe et XIIe siècles“) Bezug. Die Arbeit verfolgt auch
eine ee Abzweckung: die Begriindung des moralischen An-
spruchs Polens auf den Korridor und Pommerellen. Die Christiani-
sierung des Landes wird als eine Angelegenheit der polnischen Krone,
wenn auch mit Zuhilfenahme ausländischer Missionare, um deren
Friichte sie Kaiser Lothar gebracht habe, hingestellt. Unter voller
Anerkennung der Missionserfolge Ottos von Bamberg, dessen gute
Beziehungen zu Boleslaw Schiefmund und dem polnischen Klerus
unterstrichen werden, ist der Verf. sichtlich bemüht, auch den Anteil
Frankreichs an der Gewinnung Pommerns für das Christentum
hervorzukehren. In der Person des bei Gallus als „eines episcopus
Poloniensis“ erwähnten Franco, auf dessen Rat Wladyslaw Hermann
und seine Gemahlin Judith zum hl. Agidius an die Rhone gewall-
fahrt sind, erblickt er die Persönlichkeit romanischer Herkunft, die
vor dem Auftreten des Bamberger Bischofs die Bekehrung Pommerns
ins Auge gefaßt habe. Die Aufhellung der Personalien desselben
bildet das eigentliche Kernstück der Untersuchung. Seinen Ausgangs-
punkt nimmt er von der Feststellung, daß der bei Gallus namhaft
gemachte Franco identisch sei mit dem in der Chronik des Klosters
von St. Hubert in den Ardennen im Jahre 1064 hervorgehobenen
„episcopus Bellagradensis“ gleichen Namens. Unter dieser Stadt-
bezeichnung vermutet er Belgard in Pommern. Die Bezeichnung
„episcopus Poloniensis“ bei Gallus erklärt er unter Heranziehung von
11) In „Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit“. Bd. 96, Leipzig. ksche
Buchhandlung. 1928. er
12) Etudes historiques et littéraires sur la Palogne médiévale. Paris.
Gebethner & Wolff. 1928.
288
Analogien dahin, es handele sich um einen Misstonsbischof ohne einen
festen Bischofssitz. Franco habe sich als fiir die Glaubensarbeit in
Pommern bestimmter Missionar den Bischofstitel nach der Haupt-
stadt seines Missionsgebietes beigelegt. Selbst wenn die von dem Verf.
aufgestellten Behauptungen den Tatsachen entsprechen, so ist damit
für die Missionsgeschichte Pommerns nicht viel gewonnen, da der
Verf. über die Bekehrungsarbeit des Franco in Pommern: keine
näheren Angaben zu machen vermag. Immerhin besteht die Mög-
lichkeit, daß die französischen Benediktiner Missionsfäden über Polen
nach Pommern gesponnen haben. Es scheint aber nicht viel dabei
herausgekommen zu sein, da Boleslaw Schiefmund den deutschen
Bischof Otto von Bamberg heranzog, um mit Erfolg durch-
zugreifen.
Die Preußenmission hat Polen mit dem Deutschen
Ritterorden in Konflikt gebracht, wodurch die Kirchengeschichte
dieser Gebiete auf Jahrhunderte bestimmt wurde. Erich
Maschkes Studie „Der Deutsche Orden und die Preußen“)
schildert die äußeren Umstände, unter denen sich der Orden an der
Ostsee festgesetzt hat. Es ergab sich dabei von selbst, daß er die
von demselben angewandte Missionsmethode in den Vordergrund
seiner Erörterung rückte. Gewaltsame Heidenbekehrung mit dem
Schwert, wie sie aus Augustins de civitate Dei, wonach die Heiden-
welt als Teufelsmasse unwirksam gemacht werden sollte, abgeleitet
wurde, oder friedliche Gewinnung der Heiden für die Religion Jesu
Christi? Die päpstliche Missionspolitik neigte immer mehr der
letzteren Auffassung zu, wobei sie seit Innozenz III. darauf Bedacht
nahm, das gesamte Missionsgebiet zu einem dem päpstlichen Stuhle
unmittelbar unterstellten Missionsstaat auszugestalten, während der
Ritterorden es von vornherein auf die Eroberung des Preußenlandes
abgesehen hatte, welches Ziel sich am besten auf Grund der Idee einer
gewaltsamen FHeidenmission mit dem Schwert erreichen ließ.
Spannungen zwischen den beiden Machtkreisen waren unter diesen
Umständen unvermeidlich. Der Verf. veranschaulicht die Schwierig-
keiten, in die der Orden infolgedessen geraten war, durch den Ver-
gleich mit der Bekehrungsarbeit im benachbarten Wirkungskreis des
Bischofs von Riga und der Schwertbrüder. An der Sendung des
pästlichen Legaten Wilhelm von Modena, der den Streit zwischen
den deutschen und dänischen Missionaren daselbst im Sinne der
päpstlichen Missionspolitik zu schlichten suchte, sowie an den Be-
mühungen des flandrischen Mönchs Balduin von Alma, der die
Hemmungen in der estnischen und livischen Mission zugunsten des
pästlichen Stuhles auszunutzen trachtete, verdeutlicht M. den Unter-
schied zwischen der beiderseitigen Missionstaktik, der auch in die
Augen springt, wenn man die Abmachungen Balduins in Kurland
mit dem Christburger Vertrag, den der Orden am 7. Februar 1245
mit den Preußen schloß, vergleicht: Dort die unmittelbare Unter-
13) In: Historische Studien. Heft 176. Berlin, E. Ebering, 1928.
289
werfung der Getauften unter den päpstlichen Stuhl, hier ein aus-
gesprochenes Untertanenverhältnis, das allerdings infolge der Auf-
stände im Laufe der Zeit stark zuungunsten der Niedergeworfenen
verschoben wurde. Die Begünstigung der an den Erhebungen un-
beteiligten Preußen sowie die ec deutscher Kolonisten im
Ordensland erscheint, wie der Verf. zeigt, ebenfalls als Ausfluß der
Missionsidee des Ordens. Mit der Christianisierung des Landes
war derselben allerdings der Boden entzogen, was Polen-
Litauen im Zeitalter der Reformkonzile gegen die Daseinsberech-
tigung der Deutschen Ritter auch geltend machte. Die historische
Gestaltung der Dinge brachte demnach den Orden mit den Voraus-
setzungen seiner Staatsgründung in Widerspruh. Das Verhältnis
des Ordens zu Polen streift der Verf. nur beiläufig. Zum Ver-
ständnis der Ordenspolitik der Jagiellonen tragen aber seine Fest-
stellungen nicht wenig bei. Der Verf. hätte noch hinzufügen
können, daß der Anschluß des Ordenslandes an die lutherische Refor-
mation unter den von ihm geltend gemachten Umständen als ein ge-
glückter Versuch zu bewerten sei, aus dem Viderspruch, in den der
Orden zu seiner Ursprungsidee geraten war, herauszukommen.
Verf. bemerkt, daß noch der alte Sigismund die Verwendung des
Ordens zur Türkenbekehrung in Erwägung gezogen habe. — Eine
Episode, die Verf. „wie ein Vorspiel zu Er geistigen und diplo-
matischen Sieg Jagiellos anmutet“, nämlich „Die Bekehrung Gedi-
mins“, “) macht V. Forstreuter zum Gegenstand einer be-
sonderen Untersuchung. Der litauische Großfürst trat bekanntlich
zum Schein zum Christentum über, um sich mit Hilfe der Kurie der
Bedrängung durch den Ritterorden zu erwehren. Es wurde die in
der Folgezeit erörterte Frage aufgeworfen, ob der Orden überhaupt
berechtigt sei, gegen ein christliches Litauen anzukämpfen.
Die Missionsgeschichte ist eng verknüpft mit der Geschichte
der Diözesen, insofern bei der Gewinnung von Neuland für das
Christentum die Frage der hierarchischen Einordnung desselben sich
von selbst aufwarf. Bron is law Włodarski verweist darauf
in der Untersuchung des nach seiner Meinung allerdings gefälschten
„Angeblichen Dokuments des Pommernherzogs Swieropelk a. d. Jahre
1180) woselbst Rechtsansprüche des Gnesener Metropolitan-
stuhles auf Gebiete des Bistums Kammin erhoben werden. V. ver-
mutet wohl mit Recht, daß die Fälschung 1236 in der erzbischöf-
lichen Kanzlei zu Gnesen begangen worden sei. Uber „Die Zu-
gehörigkeit der Breslauer Diözese zur Provinz Gnesen?) handelt
M. Vojt as. Rechtlich habe dieses Verhältnis erst durch die Bulle
De Salute animarum v. 16. VI. 1821 zu bestehen aufgehört; jedoch
18) „Die Bekehrung Gedimins und der Deutsche Orden.“ In: Altpreuß.
Forschungen. 5, 1928. S. 289—61.
18) Rzekomy dokument Świętopełka pomorskiego z 1180 r. In: Roczniki
historyczne V, 1929, S. 1—16.
16) Bulletin internat. de l’academie polonaise des sciences et des lettres.
Nr. 1—8, 1928, S. 35—41 (Deutscher Bericht).
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seien die Beziehungen. zwischen Breslau und Gnesen mit der fort-
schreitenden Eindeutschung Schlesiens seit dem Tode des letzten
polnischen Bischofs Nanker (1341) immer losere geworden; nur im
Reformationszeitalter sei unter dem Eindruck der vom Luthertum
drohenden Gefahr eine vorübergehende Annäherung erfolgt. An
einer Reihe von Beispielen zeigt W., daß die Verbindung dennoch
nie ganz aufgehört habe. Den angeblichen Verzicht Sigismund II.
vom 25. Mai 1624 auf die Einmischung in die Breslauer Diözese hält
er für historisch nicht erwiesen. In diesem Zusammenhang sei an
Franz Seppelts Vortrag über „Die Epochen der Breslauer Bis-
tumsgeschichte im Mittelalter) mit dem Hinweis auf den Aufstieg
des Bischofsstuhles in der Zeit der deutschen Besiedlung des Landes
erinnert.
Von den Diözesen Polens hat in der letzten Zeit die von
Culm (Chetmo) die ausgiebigste literarische Behandlung er-
fahren. Der von der bischöflichen Kurie herausgegebene umfassende
„historisch-statistische Grundriß über „Die Culmer Diözese“, “) ein
Sammelwerk, bietet im allgemeinen Teil eine Ubersicht über die Ge-
staltung des Bistums in der Vergangenheit nach den verschiedensten
Richtungen, im besonderen ein Bild von seiner derzeitigen Lage, wo-
bei auch hier 2. B. bei der Kathedralkirche, dem Priesterseminar,
den einzelnen Dekanaten usf. historische Notizen eingestreut
werden. Die Namen Glemmas, Czaplewskis und Mahkowskis unter
den Mitarbeitern verbürgen einen guten Unterbau der historischen
Partien des Buches, das der Geschichtsforschung ebenso wie der kirch-
lichen Praxis einen Dienst erweisen möchte. Über die äußere Ge-
schichte des 1243 begründeten und 1824 von Culm nach Pelplin ver-
legten Bistums, über seine kirchenregimentliche Zugehörigkeit, über die
einzelnen zur Diözese gehörenden Landstriche, darunter Pomesamien
und Pommerellen, über das Zustandekommen des Kirchenvermögens,
über die 55 Bischöfe, die Suffraganbischöfe, das Domkapitel, die
Synoden, das Ordens- und Schulwesen, über die Heiligen des bischöf-
lichen Sprengels, die Bruderschaften u. dgl. m. werden historisch zu-
verlässige Angaben mitgeteilt. In einem besonderen Abschnitt wird
der Verlauf der Reformation und Gegenreformation erzählt. Biblio-
graphische Zusammenstellungen erhöhen den wissenschaftlichen Wert
des Buches, das auch in andern Diözesen, nicht zuletzt im Inter-
csse der Förderung historischer Kenntnisse, Nachahmung finden
sollte. — Eine Begebenheit aus der Geschichte eines heute zur
Culmer Diözese gehörenden Teilgebietes, „Den Kampf des Deutschen
Ritterordens um die kirchliche Zugehörigkeit des Archidiakonates
Pommerellen“, “) schildert in einer besonderen Studie Kazimierz
17) In: Zeitschrift für Geschichte Schlesiens 61, S. 1—11.
Š on Diecezja chelminska. Zarys historyczno—statystyczny. Pelplin 1928,
l i9) Walka zakonu krzyżackiego z Polską o przynależność archidiakonatu
on jego. In: Roczniki towarzystwa naukowego w Toruniu. 84, 1927,
. 1 .
291
Bieszk. Es sei vorausgeschickt, daß der hier in Frage kommende
Landstrich damals zur Dibzese Wioclawek gehörte und erst 1818
Culm angegliedert wurde. B. legt folgenden Sachverhalt dar: Nach
der Eroberung des östlichen Pommern im Jahre 1309 war der Ordens-
en rebt, daselbst in kirchlicher Hinsicht die landes-
errlichen Rechte, die er im übrigen Ordensland ausübte, gegen die
Rechtsansprüche des zuständigen Bischofs von Wioclawek sich an-
zueignen; durch die Errichtung eines selbständigen Bistums in
Pommerellen hätte er dieses Ziel am sichersten erreicht. Der 1343
zustandegekommene Friedensschluß mit Kasimir d. Gr., der das
strittige Gebiet dem Orden endgültig überließ, schien diesen Plan
der Verwirklichung näherzubringen. Aus politischen Gründen war
aber die Kurie dafür nicht er sondern e sich lediglich
damit, daß sie den 1421 zum Bischof von Wioclawek gewählten
Johann Pella, einen erklärten Gegner des Ordens, auf den Bischofs-
stuhl von Plock versetzte, welche Maßnahme jedoch an dem Wider-
stand Jagiellos scheiterte. Im weiteren Verlauf der Ereignisse wurde
die Angelegenheit der kirchlichen Verselbstindigung des Archi-
diakonates von Pommerellen eine Teilfrage bei den scharfen und
langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Polen-Litauen und
dem Orden, in die das Baseler Konzil, die Kurie, Kaiser Sigismund
und die Tschechen eingegriffen. Durch den Thorner Frieden im
Jahre 1466, auf Grund dessen Pommerellen an Polen fiel, wurde die
Streitfrage zuungunsten des Ordens entschieden. „Die Bemühungen
des Groß meisters Küchmeister um die Ausscheidung des Pom-
merschen Archidiakonates aus der Wloclawer Diözese im Jahre
1421“, ) stellt derselbe in einem besonderen Aufsatz dar. — Zu
der neuzeitlichen Geschichte der Diözese Culm hat Alfons
Mankowski in den Veröffentlichungen des „Wissenschaftlichen
Vereins in Thorn“ einige quellenmäßige Beiträge geliefert. Der von
uns 1928 erwähnten?!) Geschichte des Kathedralkapitels daselbst
schließt er Untersuchungen über die vermögensrechtliche Lage des
Bistums an. Aus dem bischöflichen Archiv veröffentlicht er „Das
Inventar der Landgüter des Culmer Bistums aus dem Jahre 1614, )
wobei er in der Einleitung einerseits das Zustandekommen der Liegen-
schaften bis zu diesem Zeitpunkt darlegt und andrerseits aus den
Inventuraufnahmen in den Jahren 1666, 1676, 1723 und 1759 —
im ganzen liegen ihm 15 vor — Ergänzungen aufnimmt. Auf diese
Weise erhält man einen Eindruck von dem Anwachsen des bischöf-
lichen Besitzes ın der Zeit von 1243 bis 1759. Die Vermögens-
aufstellung des Jahres 1614 ist die älteste erhaltene, ohne daß man
aber daraus den Rückschluß ziehen darf, daß vorher keine der-
20) Wielkiego mistrza Michala Kiichmeistera zabiegi z r. 1421 o unieza-
leznienie archidiakonatu pomorskiego od diecezyi włocławskiej. In: Zapiski
towarz. nauk. w Toruniu. VII, 1928, S. 291—296, 808—820.
21) In: „Jahrbücher“ IV, S. 249.
22) Inventarz dóbr biskupstwa Chelmifskiego z r. 1614. In: Fontes XXII,
Towarzystwo naukowe w Toruniu, 1927.
292
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artigen Aufnahmen vorgenommen worden seien. Die einzelnen An-
gaben über Dörfer, Gutshöfe, Mühlen, Seen u. dgl. m. haben in der
Hauptsache lokalhistorischen Wert, wenn man aber bedenkt, daß
z. B. um den Besitz von Lubaw zwischen dem Bischof und den
Ordensritter im 13. Jahrhundert heftige Streitigkeiten ausgetragen
wurden, so rücken doch diese Angaben in den Umkreis größeren
historischen Geschehens. — In analoger Weise bringt derselbe
zur Kenntnis „Die Inventare der Güter des Kulmer Kathedralkapitels
im 17. und 18. | Zur Grundlage nimmt er das
regestum oeconomiae aus dem Jahre 1605, das er durch die späteren
Vermögensaufnahmen aus den Jahren 1616, 1651 und 1666 ergänzt.
Von den Einnahmen und Ausgaben bringt er dabei nur Auszüge,
soweit ihnen eine kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung zu-
kommt. Ferner druckt er die conscriptio et revisio status bonorum
raestimonialium, d. i. ein Verzeichnis der Allodialgiiter, die einzelne
Mitglieder des Kapitels durch einige Zeit nutznießen durften, aus
dem Jahre 1757 ab; die Beschreibung der Häuser in Abkürzung.
Schließlich veröffentlicht er die auf die Vermögensgebahrung des
Kapitels sich beziehenden Dokumente aus der Zeit von 1402 bis
1755. Aus dem Ganzen erhält man einen Eindruck von dem Be-
sıtzstand des Kapitels in diesem Zeitraum. In Anbetracht der viel-
fachen Unstimmigkeiten zwischen den Bischöfen und ihren Dom-
kapiteln sind die Schenkungen jener an diese bemerkenswert. —
Arnold handelt über „Die Anfänge des Plocker Bistums‘.**)
Einen interessanten Beitrag zur Geschichte des Krakauer
Bischofsstuhles bietet Jan Fıjalek, indem er von den im
Inventar des Kapitelarchivs verzeichneten „liturgischen Büchern“,
das bischöfliche Benediktionale, das am Wawel „zu Beginn des
12. Jahrhunderts“ in Verwendung stand, vornimmt und daraus „Die
Feste und Heiligen der Krakauer Kathedrale”) nach den Kalender-
tagen fortlaufend verzeichnet sowie einige Beispiele von Gebeten
und Segenssprüchen mitteilt. Da Gebete zum hl. Wenzel darin nicht
vorkommen, erscheint Krakau als Entstehungsort ausgeschlossen.
Die wirtschaftliche Seite der kirchlichen Grundherrschaften in
Polen beschäftigt auch sonst die Forschung. So behandelt Ja n
Warezak vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus „Die Ent-
wicklung der Ausstattung des Gnesener Erzbistums im Mittel-
alter, “) während Stanislaw Orsini-Rosenberg unter be-
sonderer Berücksichtigung der neu aufkommenden Zinshufen-
verfassung „Die Entwicklung und den Ursprung des Vorwerk-
.. 38) Inwentarze dóbr kapituly katedralnej Chełmińskiej z XVII i XVIII
wieku. Ebd. Fontes XXIII, 1928.
20) Początki biskupstwa plockiego, Kwart. Histor. 48, 1929, Heft 3.
Wi Księgi liturgiczne oraz święta i fwieci katedry krakowskiej z poczgtku
XII go. In: Nova Polonia Sacra, 1, 1928, S. 851—864.
29) Rozwój uposażenia arcybiskupstwa gniew. znieńskiego w średniowieczu.
In: „Badania z dziejów społecznych i gospodarczych“, Heft 5, Lemberg 1929.
298
Frondienstes auf den Gütern des Erzstiftes Gnesen“) beleuchtet.
Stefan Inglot schildert „Die sozial-wirtschaftlichen Verhältnisse
der Bevölkerung auf den Gütern des Bistums Włocławek in der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts“. ) Seine Untersuchung stützt er
hauptsächlich auf das Inventar der Güter und Einnahmen des Bis-
tums aus dem Jahre 1534 unter Heranziehung anderweitiger Auf-
zeichnungen, wie der Kapitelakten aus der Zeit 1435—1518 und
1519—1578, woraus er unter Anwendung der, wie er sie bezeich-
nete, historisch-statistisch-geographischen Methode einerseits den Be-
sitzstand des Bistums und anderereits die Leistungen der Grund-
hörigen zu erfassen sucht. Die Einzelheiten gehören zwar mehr in
die Wirtschafts- als in die Kirchengeschichte, aber die Endergebnisse
beleuchten doch auch die kirchliche Lage, so wenn der Vert. z. B.
die Zahl der zum bischöflichen Besitz gehörenden Dörfer, Wiesen,
Wirtshäuser, Mühlen, Bauden u. dgl. m. errechnet oder das Aus-
maß der Abgaben an Gerste, Hafer, Stroh, Eiern, an Naturalien und
Bargeld feststellt. Es hat auch einen gewissen Reiz, zu erfahren, was
die Wirtshausbesitzer, die Müller, die Häusler u. a., aber auch die
5 zu zahlen hatten und was die Glas- und Eisenhütten jährlich
abwarfen. —
Die Bischofsstühle kamen als Wirtschaftsfaktoren im öffent-
lichen Leben Polens nicht in so entscheidender Veise zur Geltung
als wie in geistig- moralischer Hinsicht. Die geistliche Gerichtsbarkeit
bildete zwar je länger je mehr für den Adel einen schweren Stein
des Anstoßes, die betreffenden Gerichtsakten spiegeln aber doch
den weitreichenden Einfluß der Kirche auf das Rechtsempfinden des
Volkes wider. Infolgedessen ist die Veröffentlichung der ältesten
Lemberger Konsistorialakten“) durch Wilhelm Rolny will-
kommen zu heißen. Der auf einer vor 20 Jahren zufällig entdeckten
Handschrift von 568 Blättern fußende stattliche (S. IX + 674) Band,
der die von 1482 bis 1498 reichenden Akten bis 1489 bringt, reiht
sich würdig den zahlreichen Publikationen B. Ulanowskis, des Bahn-
brechers auf diesem Gebiet, an. Diesen Aufzeichnungen kommt eine
um so größere Bedeutung zu, als weder für die Zeit vorher noch für
die nächsten 20 Jahre Gerichtsprotokolle sich erhalten haben. Der
Umkreis der Agenden wurde durch den Umstand erweitert, daß das
Lemberger geistliche Gericht für Przemysl und Kamieniec als zweite
Appellationsinstanz zu fungieren hatte. Die größeren historischen
Ereignisse, wie der Besuch des Königs in Lemberg, leuchten wohl
gelegentlich in den Verhandlungsniederschriften auf, im großen und
27) Rozwój i geneza folwarku pahszczyznianego w dobrah ka
gnieznienskiej. In: Prace komisji historyccnej. Bd. IV, 1927, S. 127—284. V
die Anzeige von E. Salkind in „Jahrbücher“ N. F. IV, 1928 S. 700.
28) Stosunki spoleczno-gospodarcze ludności w dobrach biskupstwa wioclaw-
skiego w pierwszej polowie XVI wieku. In: Archiwum towarz. naukowego we
Lwowie, Teil 2, Bd. 8, Heft 4, 1927.
3) Acta officii consistorialis Leopoliensis antiquissima. Bd. I (1482—89).
In: Zabytki dziejowe Bd. II. Ebd. 1927.
294
ganzen drehen sich aber die Prozesse um kleinliches Gezink der
Geistlichen untereinander wegen Ungehorsam, Übervorteilung, Ein-
E in die Rechtsbefugnisse anderer, unbefugte Aneignung von
remdem Einkommen u. dgl. m. und andererseits um Rechtshändel
zwischen Geistlihen und Laien, hauptsächlich wegen Ehrenbeleidi-
gungen, die meist durch einen Vergleich beigelegt wurden; über
Roheitsakte und Ausschreitungen des Klerus ım 15 Zu-
stand wird ebenfalls zu Gericht gesessen. Aus den Mosaiksteinen
läßt sich ein Kulturbild zusammensetzen, wobei man allerdings nicht
in den Fehler verfallen darf, die Entgleisungen einzelner auf den
ganzen Stand zu verallgemeinern. — Karl Koranyi behandelt
eine kulturgeschichtlich besonders interessante Gruppe von Straf-
sachen, die meist vor den bischöflichen Gerichtshöten verhandelt
wurden, nämlich das Prozeß verfahren wegen „Zauberei und Be-
schwörungen im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahr
hunderts.) Im Unterschied von Westen stellt er fest, daß Prozesse
dieser Art in Polen bis ins 17. Jahrhundert zu den Seltenheiten ge-
hören und auch da die Schädigung der Mitmenschen an Gesundheit
und Besitz auf Anwendung von Zaubereimitteln und nicht auf Ver-
bindung mit dem Teufel zurückgeführt wird. In den meisten Fällen
gab sich der Gerichtshof mit einem Versprechen der Angeklagten,
der schwarzen Kunst abzusagen, zufrieden; und dies sogar in den
beiden ersten Fällen, da das geistliche Gericht zunächst sogar die
Todesstrafe verhängt hatte (1476 und 1535). Die erste Verbrennung
in Polen wegen Zauberei erfolgte 1511, und zwar auf Grund eines
Rechtsspruches des Posener Stadtgerichts. Unter den wegen Zauberei
Angeklagten überwog bei weitem das weibliche Element. —
Für die Höhenlage einer jeden Institution sind die Persönlich-
keiten, in deren Hände ihr Schicksal gelegt wird, maßgebend.
Karl Maleczynski weist in seinen Ausführungen „Über die
polnischen Kanzler im 12. Jahrhundert“) darauf hin. Kazimierz
Hartleb beleuchtet „die kulturelle Wirksamkeit des Bischofs und
Diplomaten Erasmus Ciotek“,**) des vertrauten Sekretärs des Köni
Alexander und erklärten Gegners des Erzbischofs Laski, eines groß-
zügigen Förderers der Renaissance und des Humanismus, mit welcher
Geistesrichtung er auf seinen wiederholten Romfahrten sowie durch
zahlreiche auswärtige Freunde in Berührung kam. le
Karwiftska greift zurück auf „die politische Rolle des Bischofs
von Wloclawek Wolimir (1259—1278)“,*) der als unentwegter Vor-
kämpfer der Freiheit der Kirche im Streit zwischen den piastischen
20) Czary i gusla przed sedami koécielnemi w Polsce w XV i w pierwszej
m XVI wieku. Lemberg 1928. Sonderdruck a. d. Kwart. etnogr. „Luc
31) Vgl. Anzeige von Forst-Battaglia in „Jahrbücher“ N. F. IV, 1928, S. 609.
= 32) Działalność kulturalna biskupa-dyplomaty Erazma Ciołka. Lemberg
. ss) Polityczna rola biskupa Wolimira. Abdr. a. d. „Ateneum kapłańskie“,
Heft 140, 1929.
296
Teilfürsten Leszek dem Schwarzen und seinem Bruder Ziemomyslaw
um Kujawien gemäß den Interessen des Episkopates handelte. —
Kurnatowski würdigt die Wirksamkeit des Erzbischofs Johann
Laskı,?*) der den ersten Ansturm des Luthertums abzuwehren suchte,
während Kazimierz Miaskowski aus „der Geschichte der
Familie der Laskis“ ) das verwandtschaftliche Verhältnis des Primas
zu dem als Bankier einflußreichen Stefan Fiszel-Pawidzki, einem ge-
tauften Juden, der in zweiter Ehe eine Schwester des Erzbischofs
heiratete, aufhellt.
Neben dem Episkopat spielte im mittelalterlichen Polen das
Domkapitel, bei dem die Fäden der Verwaltung der Diözese zu-
sammenliefen, eine bedeutsame Rolle. Darüber gibt Aufschluß die
Studie von Tadeusz Silnick i über „die Organisation des Archi-
diakonates in Polen“.**) Ungeachtet des Fehlens quellenmäßiger Be-
lege aus der Frühzeit nimmt der Verf. das Vorhandensein dieser Ein-
richtung in Polen von allem Anfang an, und zwar nach dem ursprüng-
lichen Typus, der den Archidiakon nicht, wie später, als Leiter des
Archidiakonats eines Teilgebiets der Diözese, sondern als Gehilfen des
Bischofs, besonders in der Vermögensverwaltung und Rechtsprechung
erscheinen läßt. In der Folgezeit kamen auch in Polen Archi-
diakonate allmählih auf. Wiewohl die älteste erhaltene Urkunde
über die Errichtung von Archidiakonaten erst aus dem Jahre 1298 und
zwar für Posen stammt, nimmt der Verf. an, daß die Gebietsteilung de
bischöflichen Sprengel in Wirklichkeit bereits vorher erfolgt sei, da in
den Diözesen Wioclawek und Breslau um die Wende des 13. Jahr-
hunderts gleichzeitig zwei bis drei Archidiakone erwähnt werden und
in der Gnesener und Krakauer Diözese um dieselbe Zeit ebenfalls
Archidiakonate nachweisbar sind. Den weiteren Ausbau der Archi-
diakonate, auch durch Anlehnung an die gleichzeitig in den Bezirks-
hauptstädten aufgekommenen Kollegiatkapitel, verlegt S. in die erste
Half te des 13. Jahrhunderts. Als spezifisch polnische Ursachen der
Einführung des neuen Typus des Archidiakonates bezeichnet der Verf.
die immer mehr überhand nehmende politische Tätigkeit der Bischöfe,
die deutsche Kolonisation und die östliche Mission. Es hängt, wie S.
ferner zeigt, mit dem Niedergang des Archidiakonates zusammen,
daß in den seit dem 14. Jahrhundert entstandenen Diözesen in der
Regel die Einteilung des Sprengels in Archidiakonate wegfiel und an
deren Stelle die Diakonate traten. Erst im 17. und 18. Jahrhundert
wurde in den östlichen Diözesen, wie Lemberg, Przemysl, Wilna eine
Gebietseinteilung wieder nach Archidiakonaten vorgenommen. Eine
Sonderstellung nahm das zu Posen gehörende Archidiakonat Czersk-
320) L’archevéque Jean Laski. Monde Slave Nr. 8, S. 3869—94, 1928.
38) Z dziejów rodziny Laskich. In: Roczniki historyczne. V, 1929, S. 88
bis 89, Posen.
38) Organizacya archidiakonatu w Polsce. In: Studya nad historyą prawa
polskiego. Herausgeg. von Oswald Balzer, X, Heft 2, Lemberg 1927. Dazu den
Bericht über denselben Gegenstand in: Sprawozdania towarzystwa naukowego we
Lwowie, VII, 1927, Heft 1, S. 28—29.
Warschau, das später zu einer selbständigen Diözese ausgebaut wurde,
ein. Aus der gesonderten Behandlung der einzelnen Archidiakonate
ersieht man, daß bei ihrer Einrichtung sowohl hinsichtlich des Um-
fanges als auch hinsichtlich des Verhältnisses zu der politischen Kreis-
einteilung keine einheitlichen Grundsätze beobachtet wurden. Durch
das Archidiakonat wurde in der Diözesanverwaltung das Prinzip der
Dezentralisation in bezug auf das Gerichtswesen, die Finanzgebarung
und das Synodalwesen festgelegt. S. hat eine 1 Verfassungs-
frage der katholischen Kirche Polens gründlich und sachlich erfaßt.
Im Laufe seiner Ausführungen verweist S. auf die Verbindung
zwischen Archidiakonat und Pfarrorganisation. Über „die Grund-
lagen der Pfarrorganisation im Bereich der polnischen Kirche“) be-
sitzen wir nun eine ausgezeichnete Studie aus der Feder von Hein-
rich Felix Shmid, der auch sonst, nicht zuletzt durch seine
kenntnisreichen Literaturberichte, ) der deutschen Geschichtsforschung
die kirchenrechtlichen Probleme des slavischen Ostens näher rückt.
Die Untersuchung bildet das dritte Kapitel einer groß angelegten
Arbeit über „die rechtlichen Grundlagen der Pfarrorganisation auf
westslavischem Boden und ihre Entwicklung während des Mittel-
alters.) Mit souveräner Beherrschung des Stoffes, die sich be-
sonders in den Fußnoten bekundet, rollt der Verf. nicht nur das
gesamte durch die Themastellung gegebene Problem auf, sondern geht
auch verschiedenen damit mittelbar zusammenhängenden Frage-
stellungen mit gewohnter Sachkenntnis auf den Grund. Dabei wägt
er alles Für und Wider vorsichtig ab und hütet sich vor gewagten
Konstruktionen, wozu die vielfach unzulängliche und unsichere r-
lieferung leicht verführen könnte. Seinen Ausgang nimmt er von den
Anfängen der kirchlichen Organisation in Polen überhaupt. Die Ent-
wicklung Bing, wie Sch. zeigt, von oben nach unten; erst erhielt die
junge polnische Kirche Bischofsstühle und sodann lange hernach eine
Pfarrorganisation. Im 10. Jahrhundert waren die Kathedralkirchen
die einzigen Pfarrkirchen ihrer Sprengel, worauf im 11. Niederkirchen
als landesherrliche Gründungen aber ohne eine wirkliche Pfarrorgani-
sation zustande kamen. Diese wurde erst durch die Kirchgründungs-
tätigkeit des Magnatentums auf seinen Grund und Boden in die Wege
geleitet, aber erst durch die Ansiedlung deutscher Kolonisten, die
Einrichtungen aus ihrer alten Heimat in die neue verpflanzten, zur
vollen Entfaltung gebracht. Die Entstehung von Pfarrgemeinden war
aber andererseits erst durch die wirtschaftliche Sicherstellung ermög-
licht. Es ist nun besonders verdienstlich, daß der Verf. zur Klar-
stellung des Tatbestandes sich nicht damit begnügt, die finanziellen
37) In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte XLVII, Kan.
Abt. XVII, 1928, S. 264-858 und XLIX Kan. Abt. XVIII, 1920, S. 235—562;
auch als Sonderdruck.
20) Beitr. in „Jahresberichte für deutsche Geschichte“ II, 1928, S. 142 bis
150, 601 bis 788, III. 1929, 8. bis 688.
0) „Jahrbücher N. F. IV, 1928, S. 240 f.
297
Grundlagen der Pfarreien aufzudecken, sondern bei dieser Gelegen-
heit den ganzen verschlungenen Fragenkomplex der kirchlichen Ein-
nahmen in Polen, selbstverständlih im Hinblick auf das Nieder-
kirchenwesen aufrollt. In diesem Zusammenhang geht er mit ge-
wohnter Griindlichkeit auf das Problem des Zehntwesens ein. Von
den Erträgnissen des Zehnts, auf den sowohl der Bischof als auch
der Grundherr Anspruch erhoben, sollte nämlich die Dotation der
Niederkirchen bestritten werden. Durch das Aufkommen des Dorf-
wesens ergab sich der Dorfzehnt, der durch die Erweiterung der
Siedlungen infolge Neubruches ebenfalls eine Steigerung erfuhr. Da
die Gründer der Pfarrkirchen diese als ihr Eigentum ansahen, gingen
sie auch in der Verwendung dieses Zehnts nach eigenem Belieben vor.
Allmählich vollzog sich aber der Übergang der Pfarrgemeinde zu einem
selbständigen Rechtskörper, wodurch auch die Voraussetzungen fü
das Zehntwesen sich verschoben. Die Verselbständigung der Pfarr-
inhaber gegenüber den Grundherren vollzog sich auch in dem Maße,
als ihnen noch andere Zuwendungen, wie z. B. das Meßkorn, un-
mittelbar von den Dorfinsassen zuflossen. Die Dinge nahmen aber
nicht überall den gleichen Verlauf. Sch. fördert die Klärung des
Sachverhalts wesentlich, indem er auf die Mannigfaltigkeit der sich
ergebenden Gestaltungen, deren Vereinheitlichung erst Kasimir d. Gr.
in Angriff nahm, verweist. Auch die Seitenlinien, die der Verf.
zieht, wie z. B. über die Kastellaneiorganisation in ihrer Bedeurung
für das Niederkirchenwesen, über das Schulzenamt, über das Patro-
nat u. a. m., vervollständigen das Gesamtbild dieser gründlichen, die
polnische Kirchengeschichtsschreibung erheblich fördernden Unter-
suchung.
Einen weiteren Schritt auf dem Wege der inneren Festigung des
mittelalterlichen Kirchenwesens in Polen bedeutete der Ausbau des
Synodalwesens. In dieser Hinsicht dienen zur Klärung Zbigniew
Soc.as „Einige Worte über die Gesetzgebung der Diözesansynoden
in Polen im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Lichte der
damaligen sozialen Strémungen“.”) Aus drei voneinander abhängigen
Statutensammlungen — Włocławek 1402 und Gnesen 1408 und 1512
— sucht der Verf. an der Hand der Bestimmungen über das Ver-
pea a des Klerus zur Laienwelt die sozialen Hintergründe näher zu
erfassen.
Neben dem geordneten Amt bildete einen wichtigen Machtfaktor
der inietelalterlichen Kirche in Polen das Klosterwesen, das
aus dem Westen dorthin verpflanzt, im Laufe der Zeit mit dem
polnischen Volksleben zusammenwuchs. In der Forschung der letzten
Zeit überwiegen Einzeluntersuchungen über Ordensniederlassungen
und -Personen.
0 Kielka dée o ustawodawstwie synodéw diecezjalnych w. Polsce w XV
i pocz. XVI w. na tle ówczesnych pradéw społecznych. In: Pamiętnik 80 lecia
pracy naukowej P. Dabkowskiego. Lemberg 1927, S. 205—219.
298
Die 9 „Studien und Skizzen“ über „den heiligen Franz von
Assisi“, 1) eine Sammlung von Vorträgen, die im Jahre 1927 durch das
katholische wissenschaftliche Institut und den Dante-Verein in
Krakau veranstaltet wurden, greifen aber doch größere Zusammen-
hänge auf, wie auch G. K. Chesterton, der englische Biograph des
Heiligen, in dem Vorwort hervorhebt. Auf Polen selbst nehmen drei
Beiträge Bezug: Johann Dabrowski geht dem Zusammenhang
nach zwischen „der franziszeischen Bewegung und der Wiedergeburt
Polens im 13. und 14. Jahrhundert.“) — Die Piasten, denen Polen
seine Erstarkung verdankt, wie Wladislaw Łokietek und Kazimierz
d. Gr., wurden bei ihren östlichen Erwerbungen von den ihnen eng
befreundeten Franziskanern, die auch das nationale Schrifttum be-
fruchteten, unterstützt; an der Heiligsprechung des polnischen Natio-
nalheiligen Stanistaw, ebenfalls einer der Vorbedingungen des Auf-
stieges Polens, nahmen sie einen hervorragenden Anteil. — Franz
Bielak stellt fest, daß „Franziszeische Motive in der polnischen
Literatur“) erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts unter
dem Einfluß des Werkes von Sabatier nachweisbar sind, während man
vorher das fromme Leben des heiligen Franziskus, wie es z. B. bei
Skarga der Fall ist, lediglich vom Standpunkt der üblichen Hagio-
graphie behandelt hat. — Tadeusz Szydlows k i zeigt, wie „die
Architektur der franziskanischen Kirchen im Piastischen Polen“) ent-
sprechend den durch die Bewegung hervorgerufenen religiösen Be-
ürfnissen dem Gotischen Baustil zum Durchbruch verholfen hat.
Bei der Einfachheit ihrer Klöster verwandten die Franziskaner um
so mehr Sorgfalt auf die Kirchenbauten, von denen man durch die
von $z. in guter Auswahl gebotenen Abbildungen einen unmittel-
baren Eindruck erhält. Der Versuch des Verf., die ältesten franzis-
kanischen Bauten in Polen in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit zu
erfassen, verdient Beachtung. — Im übrigen enthält das Buch noch
zwei Arbeiten von Konstantin Michalski über Dante, eine
von Mieczystaw Bramer über die französische Literatur der
Gegenwart, eine von Wtadystaw Folkierski über Rousscau,
jedesmal in deren Verhältnis zu Franziskus. Roman Dyboski
würdigt das Buch von Chesterton über den Heiligen von Assısi und
Stanistaw Wadkiewicz bespricht „die franziskanischen Ideale
und die Krise der sog. westlichen Kultur“. Polnische Verhältnisse
werden in diesen Ausführungen gelegentlich gestreift.
Auf einen größeren Umkreis der Wirksamkeit von Ordensleuten
verweisen drei Aufsätze von Kamil Kantak, der auch sonst der
Geschichte des Monchtums in Polen seine besondere Aufmerksamkeit
schenkt: „Die Ostmission der polnischen Franziskaner-Observanten
/ 4) E Franciszek z Assyzu. Krakowska spółka wydawnicza. Krakau
1928 (18 Abbi dungen).
) S. 178—189. Als Sonderdruck: Ruch franciszkański a odrodzenie Polski
w XIII i XIV wieku, 1928.
43) S. 79—98.
“) S. 158—171.
20 NP 6 299
und die litauische Observanten-Provinz (1453—1570)“,*) „Das Leben
in den Klöstern der polnischen Bernhardiner vor der Reformation“,
und „Übersicht über die Bettelorden in Polen vor der Teilung“)
Einige Angaben über Klostergründungen verdienen Er-
wähnung: Karl MaleczyäAski untersucht „das Dokument des
päpstlichen Kardinallegaten Humbald für das Kloster Trzemeszno“**)
mit dem Ergebnis, diese älteste in der Urschrift erhaltene Urkunde,
die Polen besitzt, stamme von dem Titularkardinal von St. Johann
und Paul, der im Jahre 1145 sich in Polen aufhielt, weshalb das auf
dem Diplom angegebene Datum vom 2. März 1146 als späterer Zu-
satz angesehen werden müsse. — Potkanski handelt von „der
Gründung und Ausstattung des Klosters in Mogilno“.“) WIadys-
ław Szoldrski erzählt kurz die wichtigsten Begebenheiten aus
der Geschichte der Dominikaner in Thorn“, ') um alsdann die 1821
niedergerissene Dominikanerkirche daselbst auf Grund einer im
Archiv der St. Jakobskirche aufbewahrten Handschrift aus dem Jahre
1795 ausführlich zu beschreiben. Adam Wolff stellt aus sechs
späteren Abschriften den mutmaßlichen Wortlaut des im Original
verloren gegangenen „unbekannten Dokuments des Ziemowit
Trojdenowicz für das Kloster Czerwińsk vom 31. I. 1342“)
wieder her.
Von Darstellungen aus der Geschichte einzelner Klöster sei
verwiesen auf „Die Geschichte des Klosters zu Czarnowanz in
Schlesien im Mittelalter“) von Stefanie Pierzchalenka-
Jeskowa, die diese Prämonstratenserniederlassung in der Zeit
zwischen 1202 und 1211 durch Ludmilla, die Gemahlin des Herzogs
Mießko von Ratibor - Oppeln, in Rybnik, von wo sie deren Sohn
Kasimir 1228 nach Czarnowanz verlegt habe, ins Leben gerufen
sein läßt. Im weiteren Verlauf ihrer Darstellung wendet sie insbe-
sondere der wirtschaftlichen Entwicklung des Klosters ihr Augen-
merk zu. — Karl Thomas Brausmiiller erzählt die wechsel-
vollen Geschicke des „Dominikanerinnen-Klosters St. Katharina in
Posen“, ) einer Gründung des großpolnischen Herzogs Przemysław II.
im Jahre 1283, die durch Kriegswirren vielfach heimgesucht, 1822 für
45) Franziskan. Studien Bd. 14, Heft 1/2, S. 185—168.
40) Przglad teologiczny X, Nr. 2/8.
47) Ebd. IX, S. 867—879.
18) Dokumentum Humbalda kardynała legata papieskiego upatrzonym
datą z marca 1146 dla klasztoru w Trzemesznie. In: Roczniki historyczne IV,
Heft 2, S. 1—29, Posen 1928. Dazu: Sprawozdania towartystwa naukowego we
Lworie VIII, 1928, S. 15 f.
= “) O założeniu i uposazaniu klasztoru w Mogilnie. In: Kwartaln. histor. 48.
se) Z dziejöw dominikanów w Toruniu. In: Zapiski tow. nauk. w Tor. VIII,
1929, S. 48—86. Nieznany dokument Ziemowita Trojdenowicza dla klasztoru
w Czerwińsku z 81. I 1842 r. Ebd. 42, 1928, S. 67 ff.
51) Dzieje klasztoru w Czarnowgsie na Slasku w wiekach frednich. In:
Rocz. histor. IV, 1928, S. 30—84.
a 53) $. Katarzyna, klasztor Dominikanek w Poznaniu 1288—1822. Posen
1928.
300
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Militärzwecke eingezogen, 1826 den Selesianerinnen übergeben wurde.
Die bauliche Beschaffenheit des Klosters verdeutlichen mehrere Ab-
bildungen. — Czestav Bogdalski verzeichnet „Die Denk-
würdigkeiten der Kirche und des Klosters der Bernhardiner in
Lezajsk“.®) In diesem Zusammenhang sei Stefan Rosiaks
„Skizze aus der Geschichte der sozialen Hilfstätigkeit“, „Die Boni-
fratren in Wilna“, “) erwähnt, wiewohl die Wirksamkeit der Jünger
des Joannes de Deo in Polen erst ins 17. Jahrhundert fällt. Das
Wilnaer Kloster, 1635 durch den Bischof Abraham Woyna gestiftet,
wurde 1843 durch die russische Regierung eingezogen, um 1924 von
neuem zu erstehen. Die Geschichte dieses der Spitalspflege dienenden
Konvents stellt d. V. ım Rahmen der Gesamtgeschichte des Ordens,
der sich der besonderen Huld des Königs Johann Sobieski erfreute,
dar. Die statistische Tabelle über die Kranken und Verstorbenen in
der Zeit von 1709 bis 1805 sind von allgemeinem Interesse. — Für
die Geschichte der Klöster in den Diözesen Luck, Zytomierz und
Kamieniec fallen wichtige Notizen ab von der gründlichen Arbeit von
Wotlyniak über „Die durch die russische Regierung im 19. Jahr-
hundert aufgehobenen kath. Kirchen und Kléster“.**)
Zur Geschichte der Ordenspersonen liefert der früher
erwähnte Kamil Kantak cine Reihe von über das Mittelalter
hinausgreifenden Einzelzeichnungen in der „Chronik der Stadt
Posen“. In der Form von „Silhouetten“ führt er folgende Posener
Bernhardiner vor: Klemens aus Radymno,") den ersten
polnischen katholischen Polemiker gegen den Protestantismus auf der
Kanzel auch in Lemberg und Warschau, dessen in fünf handschrift-
lichen Bänden erhaltenen Predigten aus der Zeit von 1527 bis 1553
eine tiefgehende Abneigung gegen die Gegner der römischen Kirchen-
einheit erkennen lassen; Innozenz aus Czerniejew,”) den
Fortsetzer der Bernhardinerchronik Komorowskis für den Zeitraum
1551—81, der auch seine Kanzelberedsamkeit in den Dienst der
katholischen Kirche stellte; Fabian Orzeszkowski,™) den
ehemaligen Guardian des 1558 niedergebrannten Klosters zu
Fraustadt, der durch seine frommen Lieder den Katholızismus zu
stützen suchte; Bonaventura Krzeciek, “) den nach-
maligen Generalkommissär und Provinzial der polnischen Ordens-
provinz, der auf dem Generalkapitel zu Toledo 1606 die polnischen
Reformwiinsche vertrat; Peter aus Posen (Piotr Poz-
ss) Pamiętnik kościoła i klasztoru O. O. Bernardynów w Leżajsku,
Krakau 1929.
„% Bonifratrzy w Wilnie (1635—1843), Wilna 1928, Verl. des Konvents der
Bonifratren. S
DI Zniesione kościoły i klasztory rzymsko-kat. przez d rosyjski w
wieku XIX. In: „Nova Polonia sacra“, I, 1928, S. 1-812. = á
56) Kronika miasta Poznania. Hrsg. v. Zygmunt Zaleski. Sylwelki
Bernardynów Poznańskich V, 1927, S. 80—9%, 248—247.
87) Ebd. S. 247—255.
) Ebd. VI, S. 88—94.
s) Ebd. S. 160—178.
301
nanski),%) den viel gereisten und gelehrten polnischen Provinzial
in den Jahren 1614—1617 und kleinpolnischen Definitor 1634—1637,
der durch seine wissenschaftlichen Arbeiten, besonders die Er-
klärungen zu Duns Skotus, das geistige Niveau seines Ordens zu heben
sich bemühte; Jan Szklarek, ) den kanonistisch gebildeten
Ordensprovinzial 1493/4 und 1499/1500, der sich die Gewinnung der
ruthenischen Schismatiker für die Union angelegen sein ließ; Inno-
zenz aus Ko$cian,") den Ordensprovinzial 1534/8 und 1540,
der der Lockerung der Klostersitten, vor allem durch sein Handbuch
für die Novizen, entgegenarbeitete; Jakob Dziaduski,*) den
Weihbischof der Posener Diözese, mit dessen Bischof Izdbienski er
nicht zuletzt wegen seines unmönchischen Lebenswandels scharfe Kon-
flikte auszutragen hatte; Mathias Marjan Kurski,“) den
Johann Kasımir 1649 zum Bischof von Bakow, einer außerhalb
Polens inmitten einer schismatischen Bevölkerung gelegenen Diözese,
ernannte, und der infolge der politischen Schwierigkeiten, die sich aus
dem Anspruch des Wiener Hofes auf die Besetzung dieses Bischofs-
stuhles ergaben, die ihm 1659 beim Posener Domkapitel angebotene
Prälatur als letzter Suffraganbischof aus dem Mönchsstand antrat. —
Christoph aus Posen (Krzysztof Poznahczyk),*)
der Ordensprovinzial 1665, der sich die bauliche Erweiterung des
Posener Konvents besonders angelegen sein ließ und im Streit mit
den Franziskanern die Gegensätze ohne viel Erfolg zu mildern sich
Mühe gab. Ferner bringt Kantak aus den handschriftlichen Be-
stinden des Lemberger Ossolineums „Beiträge zur Geschichte der
Posener Dominikaner“) für die Zeit 1509—14 und 1552—99, in der
Hauptsache biographische Notizen über einzelne Ordenspersonen, die
meist nicht weiter hervorragen. Im Jahre 1570 verfügte das
Posener Konvent nicht einmal über die zur Wahl eines Priors not-
wendige Zahl von Ordensmitgliedern. — Ks. Skizzen stützen sich
auf quellenmäßigen, meist bisher noch nicht verwerteten Stoff, so daß
sie zusammengenommen als Bausteine für eine noch ausstehende um-
5 Geschichte des Ordenswesens in Polen Beachtung ver-
ienen.
Das Ordenswesen hat auch für die kulturelle Entwick-
lung Polens eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erlangt, wie
das Land überhaupt kirchlichen Einflüssen die stärksten geistes-
geschichtlichen Anregungen verdankt. Die Anfänge des polnischen
Schrifttums sind durch kirchlich-religiöse Bedürfnisse beanie
„Die Herkunft und Geschichte des Psalters in St. Florian“)
60) Ebd. 240—260.
s6) Ebd. V, S. 867—874.
7) Geneza i historya Psalterza Floryahskiego. In: Spraw. tow. nauk. we
Lwowie, VIII, 1928, S. 6f.
302
(bei Linz in Österreich), der ältesten bisher bekannten Übertragung
biblischer Stücke ins Polnische, der auch einen deutschen und lateini-
schen Text enthält, bestimmt Ludwig Bernacki in folgender
Weise: Der größte Teil des für die Königin Hedwig bestimmten
Psalters wurde im Kloster der regulierten Chorherren in Glatz um
1399 niedergeschrieben; nach dem Tode der Königin wurde er 1405
in Krakau zum Abschluß gebracht, worauf er 1556, bis zu welchem
Zeitpunkt er sich in der Fronleichnamskirche am Kasımir befand, in
Privatbesitz überging. Bemerkenswert ist auch die Feststellung von
dem Vorhandensein einer vollständigen, aus dem letzten Viertel des
14. Jahrhunderts stammenden Psalmiibersetzung in der Fronleichnams-
kirche zu Krakau. — „Die Miniaturen des Psalters von St. Florian“)
untersucht Wtadyslaw Podlaha mit dem Ergebnis, daß in
denselben deutsch-tschechische mit italienischen und französischen
Einflüssen sich kreuzen, was am besten auf Schlesien als Entstehungs-
gebiet schließen lasse. Bei den Randverzierungen unterscheidet er
zwei verschiedene Stilgattungen, die auch sonst in den Handschriften
des XIV. und XV. Jahrhunderts nachweisbar sind, die Nachwirkung
der italienischen Pflanzenornamentik und den provinziellen Stil der
tschechisch-mährischen, schlesischen und polnischen Handschriften um
die Wende des 15. Jahrhunderts. — „Die deutsche Sprache des
Florianer Psalters“ macht Stefan Kubica”) zum Gegenstand
einer philologischen Arbeit. Er behandelt zunächst in eingehender
Untersuchung der Wortbildungen gesondert den Vokalismus —
kurze und lange Vokale, Diphthonge, Präfixe, Suffixe, Synkope und
Apokope — und Konsonantismus — Halbvokale, Liquidae, Nasale,
Labiale, Dentale und Gutturale —, um von hier aus eine Grundlage
zum Vergleich des Florianer Psalters mit dem schlesischen Psalter des
Peter von Patschkau, der 1340 vollendet wurde, zu gewinnen. Er
gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß die von Bernacki verfochtene
These über die Entstehung des Florianer Psalters in Glatz um 1399
vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt sich durchaus vertreten lasse.
Während nämlich in der älteren Vorlage die bayerisch-österreichische
Diphthongierung fehlt, tauchen Diphthonge im Florianer Psalter
immer SIE auf, wie auch die im Peter von Patschkau-Psalter
noch nicht völlig durchgedrungene Monophthongierung im Florianer
vollendet erscheint, woraus hervorgehe, daß beide auf einer Linie
liegen, aber der Florianer Psalter als jüngeres Denkmal anzusehen sei.
Einer besonderen Untersuchung unterzieht er die beiden den
Florianer Psalter einleitenden, sprachlich aber vom Patschkauer Psalter
unabhängigen Prologe; darin weist er dialektische Besonderheiten
nach, die in der heutigen schlesischen Mundart im Glätzischen durch-
aus üblich seien. Einige Textproben und ein Wörterverzeichnis er-
höhen die wissenschaftliche Brauchbarkeit der fleißigen Arbeit. —
Johann Janéw stellt auf Grund eines textlichen Vergleichs
6) Miniatury Psalterza Florianskiego, ebd. 7 f.
39) Posen 1929.
803
der Handschriften Nr. 3336 der Jagiellonischen und Nr. 1116 der
Zamojskischen Bibliothek mit der Inkunabel Nr. 60, 682 der Ossolins-
kischen Bibliothek fest, daß dieser „altpolnische Übersetzungen des
Neuen Testaments) enthaltende Wiegendruck, zugleich nach seiner
Meinung die älteste Druckschrift in polnischer Sprache, auf Vor-
lagen um die Mitte des 15. Jahrhunderts zuriickgehe. Danach sei
das Neue Testament nicht erst im 16. Jahrhundert, wie vielfach an-
genommen wird, erstmalig ins Polnische übertragen worden.
Aus den Reihen der Geistlichkeit sind literarische Charakterköpfe
hervorgegangen. Dem „Vater der 55 Geschichtsschreibung“,
dem Sekretär des Kardinals Ole$nicki und Krakauer Domherrn Jan
Długosz’) widmet Władysław Kucharski eine gemeinver-
ständliche anschauliche Studie. Er erzählt zunächst den äußeren
Lebensverlauf desselben unter besonderer Hervorhebung seines
diplomatischen Geschicks, das er z. B. bei den Verhandlungen mit der
Kurie wegen der Kardinalswürde Zbigiew OleSnickis wie nicht
minder bei dem Thorner Friedensschluß 1466 bekundet hat. Sodann
bespricht er die einzelnen Schriften von Długosz, die durchwegs
wichtigen kirchenhistorischen Stoff vermitteln, so das Leben des hl.
Stanislaus und der hl. Kinga, die Kataloge der polnischen Bischöfe,
den liber beneficiorum dioecesis Cracoviensis; am längsten verweilt
er bei der historia Polonica, der ersten Geschichte Polens, an der Dl.
fünfundzwanzig Jahre gearbeitet hat.
Auch in der bildenden K uns t hat die Kirche befruchtend
gewirkt. Stanisława Sawicka behandelt das in der Sammlung
des Bayerischen Nationalmuseums befindliche „Polnische illuminierte
Gebetbuch aus dem 16. Jahrhundert“, ) eines der vier bisher be-
kannten, dessen 16 Miniaturen nach ihrer Feststellung wahrscheinlich
Adalbert Gosztold, 1522 Kanzler von Litauen, in der Miniaturschule
von Mogilna hat herstellen lassen. — Der letzte „Rocznik krakowski“
enthält einige beachtenswerte Arbeiten über Krakauer Kirchenbauten.
Marian Friedberg behandelt „Die Gründung und die An-
fänge der Kirche der allerheiligsten Jungfrau in Krakau“.”) Ent-
gegen der bisherigen Auffassung hält er daran fest, daß diese Haupt-
pfarrkirche der chemal en polnischen Krönungsstadt bereits um die
Mitte des 13. Jahrhunderts als Ziegel- und nicht als Holzbau: und
zwar teilweise bereits mit Türmen aufgeführt worden sei; der
Umbau zu der heutigen Gestalt ist, wie die zahlreichen Stiftungen
für diesen Zweck erkennen lassen, im 14. Jahrhundert vom Presb -
terium aus erfolgt; wie der Verf. aus Aufzeichnungen in den Stadt-
büchern zeigt, wurde während des ganzen Jahrhunderts an der Voll-
endung des Monumentalbaues, der 1365 den durch das Meisterwerk
70) Przeklady staropolskie Nowego Testamentu. In: Spraw. tow. nauk. we
Lwowie, VII, 1927, S. 6—11.
71) Bibl. powsz. Nr. 1187/9. Złoczów. Zuckerkandel 1928.
= a Bull. intern. d. Krak. Ak. Viss. 1928, Nr. 4—6, S. 164—169 (deutscher
richt).
73) XXII, 1929, S. 1—31.
804
von Veit Stoß im 15. Jahrhundert wieder verdrängten Hauptaltar er-
hielt, gearbeitet. Über die Gründung der Kirche — altspunkt
hierfür nur die mit Vorsicht zu behandelnde Notiz bei Diugosz über
die Errichtung einer Pfarrkirche durch den Bischof Iwo ım Jahre
1222, hingegen -nicht das gefälschte Erektionsdokument aus dem
Jahre 1226 —, über die Ausstattung der Pfarrei —, die wichtigste,
aber nicht die einzige in Krakau —, sowie über ihre Rechtslage —
1415 ging das Patronat vom Bischof auf die zum guten Teil deutsche
Bürgerschaft, für die in ihrer Muttersprache gepredigt wurde, über
— gibt der Verf. quellenmäßig begründeten Aufschluß. —
Stanislaw Tomkowicz schildert das Schicksal „des Spital-
klosters zur hl. Hedwig“, ) das, 1375 ins Leben gerufen, mitsamt der
dazu gehörenden Kirche im Jahre 1800 für Staatszwecke — heute
befindet sich darin das Korpskommando — eingezogen wurde. Das
Kernstück der Arbeit bildet die Darlegung des Bauplanes. — Georg
Szablowski faßt „die St. Markuskirche in Krakau", die 1263
von Bolestaw dem Schamhaften für die Fratres de poenitentia ge-
stiftet und um 1411 ausgebaut, wiederholt (1495, 1589, 1724) ein
Opfer der Flammen geworden war, bis es sein jetziges Aussehen er-
hielt, ins Auge. Im „architektonischen Teil“ seiner Studie beschreibt
er die Kirche in ihrem jetzigen Aussehen, greift aber gelegentlich auf
ihre Baugeschichte zurück. — Auf die kirchliche Innendekoration
nimmt Bezug die Untersuchung von Tadeusz Dobrowolski
über „die Darstellungen aus dem Leben und Leiden des Herrn in der
St. Katharinenkirche zu Krakau" "9 Auf Grund einer eingehenden
Analyse der zwölf Bilder, die er in lithographischen Reproduktionen
bringt, spricht er die Vermutung aus, der Bilderzyklus sei am Ende
des 15. Jahrhunderts in der Krakauer Werkstatt eines weitgereisten
Meisters, etwa Johann Gorayczyks, von wenigstens zwei Malern aus-
geführt worden. — Hingegen erweist Josef Muczkowski „den
Totentanz in der Krakauer Bernhardinerkirche“, “) die einzige Dar-
stellung dieses im Mittelalter so volkstiimlichen Motivs, als ein Er-
zeugnis aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. — Über „die
St. Martinskirche in Posen“,”) ihre äußere Geschichte und innere
55 handeln Stanisław Karwowski und Wacław
ayer.
In diesem Zusammenhang sei wegen ihres archäologischen Hinter-
grundes auf die Arbeit von Mieczysław Gebarowicz über
„Die Anfänge der Verehrung des hl. Stanislaus und seinen mittelalter-
lichen Fund in Schweden”) verwiesen. Auch er bringt die Darstel-
lungen auf dem Taufbecken zu Tryde mit der Stanislaus-Legende in
74) S. 59—79.
78) $. 80—96.
76) S. 32—58.
17) S. 120—185.
18) Kronika, miasta Poznania VII, 190, $. 1—86, 101—112. `
79) Poczgtki kultu fe. Stanislaws i jego Sredniowieczny zabytek w Szwecyi,
Lemberg 1927. |
806
Verbindung; von der Auffassung Semkowiczs weicht er aber in der
Ausdeutung der einzelnen Bilder, die er im dritten Viertel des 13.
und nicht wie jener um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden
sein läßt, erheblich ab. Dadurch verschiebt sich aber die Bedeutung
des Fundes von einer Quelle der Legende zu einem Dokument des
Kultus in der Zeit des Kanonisationsverfahrens des Heiligen.
Im Kulturleben Polens spielte das kirchliche Bildungs-
wesen eine bedeutende Rolle. Von Emil Waschinskis groß
angelegtem Werk über „Das kirchliche Bildungswesen in Ermland,
Westpreußen und Posen?) fällt auch für die polnischen Gebiete
außerhalb dieses Umkreises manche Notiz ab, wie auh Josef
Skoczeks „Geschichte der Lemberger Kathedralschule“**) nicht
nur eine lokale Bedeutung zukommt.
Aus ihrer geistigen Beweglichkeit heraus griff die Kirche Polens
über ihre engeren Grenzlinien ins Weite, um sih in der abend-
ländischen Christenheit zur Geltung zu bringen.
„Der Prozeß gegen einen polnischen Geistlichen wegen Beleidigung
des Papstes Urban VI.“,®) über den Władysław Abraham
eine handschriftliche Eintragung aus dem letzten Jahrzehnt des
XIV. Jahrhunderts aufgefunden hat, zeigt, daß, wie bedeutungslos
der Fall auch gewesen sein mag, man bei der Kurie Außerungen des
ständigen Agenten des Gnesener Erzbischofs daselbst — diese Stellung
wird wohl der Geistliche Laurentius dort bekleidet haben — mit
Rücksicht auf das Schisma Beachtung schenkte. Diese Nachricht ent-
nimmt Abraham Archivalien, die aus der ehemaligen St. Petersburger
kaiserlichen Bibliochek an Polen zurückgestellt wurden. Daraus holt
er weitere „Beiträge zur Geschichte der Kirche und des Kirchenrechts
in Polen“,®) die zum Teil in der eben angedeuteten Linie sich be-
wegen. Bei der engen Verbindung von Staat und Kirche wirkten
beide zusammen suk das gemeinsame Ziel der Machtentfaltung hin.
„Die Kirchenpolitik der Jagiellonen‘**) in ihrem Streben nach Be-
festigung der Reichsgeltung nach außen wie Stärkung der Staats-
gewalt nach innen beleuchtet Karl Völker an dem Verhältnis
der polnischen Krone zum Papsttum, zur Kirchenspaltung und zur
Unionsfrage. — Vaélav Novotny veröffentlicht einen wichtigen
Beitrag „Zur polnischen Kandidatur auf den tschechischen Thron in
der Hussitenzeit“,®) nämlich die von ihm im Prager erzbischöflichen
Archiv aufgefundenen für Jagiello allerdings unannehmbaren „Be-
dingungen“ der Hussiten an den Polenkönig bei dem Angebot der
Krone. — Wie die Jagiellonen es verstanden haben. die Hussitenfrage
se) Jahrb. N. F. V, S. 104 ff. (Haase).
81) Dzieje Iwowskiej szkoły katedralnej. Lemberg 1928.
82) Proces przeciw księdzu polskiemu o obrazę papieża Urbana VI. In:
Brückner-Festschr. S. 106—111.
83) Przyczynki do dziejów kościoła i prawa kościelnego w Polsce. In: Spraw.
tow. nauk. we Lwowie VIII, 1928, S. 18 d
8) ZfK G. N. F. X, 1928, S. 3857—3868.
85) K polské kanditure na česky trun v dobè husitské. In: Conférence des
historiens des états de l'Europe orientale et du monde Slave II, 1928, S. 187—145.
306
ungeachtet aller Ablehnung des Hussitismus für ihre dynastischen
Zwecke auszunutzen, so zogen sieauch ausden Unionsverhand-
lungen Vorteile. Von welcher Tragweite „das Problem der Kirchen-
union“) für das Jagiellonenreich geworden war, ersieht man aus der
großzügigen Erörterung der Fragestellung durch O. Halecki, der
die verschlungenen Zusammenhänge zwischen der ostslavischen und
griechisch-lateinischen Seite der Einigungsbestrebungen im Spiegel der
heutigen Forschung klar und anregend auseinandersetzt. Die
Stellungnahme der jagiellonischen Herrscher in dieser Angelegenheit
wird durch die Verbindungslinien, die H. im Blick auf den Gesamt-
komplex des Problems zieht, erst eigentlich verständlich. — Kirchen-
historishe Fragen des Ostens, wie das Verhältnis Polens zum
deutschen Ritterorden und zum schismatischen Rußland, streift der-
selbe auch in seinem Vortrag über „Die skandinavische Politik der
Jagiellonen“.“) Nach dem kirchlichen Osten weist ferner Leon
Białkowski mit seinen Aufsätzen „Aus Ost und West“.®) Aus
östlichen Arichvalien sucht er den Einschlag des polnischen Elementes,
als dessen festeste Stütze der römische Katholizismus gilt, ın den
Grenzgebieten, Rotrußland, Wolhynien und Podolien, zu erhärten.
Mitteilungen zur Geschichte des römisch-katholischen Bistums in
Kamieniec Podolski, Aktenregesten zur Geschichte des Dominikaner-
klosters daselbst wie nicht minder ein Verzeichnis lateinischer
Priester in Podolien ım 17. Jahrhundert verdeutlichen den Drang
Polens nach dem Osten. In umgekehrter Richtung trug die Kirchen-
union zu der auch durch wirtschaftlich-politischa Umstände ge-
förderten Polonisierung der in Polen angesiedelten Armenier bei.
Der historische Abriß „Die armenische Kirche in Polen“) Czesław
Lechickis’, der diesen Zusammenhängen nachgeht, füllt als erste
umfassendere Darstellung der Gestaltung dieses im ganzen nur über
4000 Seelen umfassenden Kirchenkörpers eine Lücke aus. Schon der
Umstand, daß das armenische Bistum in Lemberg älter ist als das
daselbst 1370 begründete römisch-katholische, von dem griechisch-
katholischen (1539) gar nicht zu reden, läßt die Besonderheit des
Gegenstandes erkennen. Der Verf. stellt die Geschichte der armeni-
schen Erzdiözese in Polen im Rahmen der Geschicke des armenischen
Volks sowie der armenischen Monophysiten dar, wodurch seine
Schrift eine allgemeinere Bedeutung erlangt. Im Mittelpunkt seiner
Ausführungen steht die Annahme der Union durch die polnischen
Armenier, die im Anschluß an die Wirksamkeit des mit dem
Katholikos zerfallenen Erzbischofs Nikolaus Torosowicz (1630 bis
1681) unter unmittelbarer Einflußnahme der Kurie sowie unter
6) Le problème de l’Union des Eglises. In: Pologne au II. Congrès intern.
des sciences histor. Oslo 1928, Warschau 1980. Dazu: Przelom w dziejach unji
kość. w XIV w. (Wendepunkt in der Gesch. der kirchl. Union im XIV. Jahrh.)
In: Przegl. powsz. 182, 1929, S, 276—297.
97) Derselbe: La politique scandinave des Jagellons. In: Poloque au
VI. Congr. intern. des sciences hist. Oslo 1928.
e8) Ze wschodu i zachodu, Lublin 1929. Sonderdr. aus: Pamiętnik lubelski.
239) Kościół Ormianski w Polsce. Lemberg 1928 (10 Abbildungen u. 1 Karte).
307
einem deutlichen Druck der polnischen Regierung nach harten
Kämpfen allmählich erfolgte. Den Anteil des Theatinerordens an
den Einigungsbestrebungen, vor allem hinsichtlich der Heranbildung
des Klerus im Geiste der Union mit Rom, hebt er dabei besonders
hervor. Die armenische Liturgie sowie die orientalische Architek-
tonik der Lemberger Kath e erscheinen heute als die einzigen
Erinnerungszeichen an die östliche Herkunft der armenischen Kirche
in Polen, deren Mitglieder völlig im polnischen Geistesleben aufgehen.
Den Gang der Ereignisse von den Anfängen bis auf die Gegenwart
läßt der Verf. nach der Chronologie der einzelnen Träger des
Bischofsamtes sich abwickeln.
Bei der Behandlung der Armenier sind die Grundzüge der
jagiellonischen Kirchenpolitik insofern unverkennbar, als die Krone
sie bei ihrer religiösen Eigenart im Unterschied von der späteren Zeit
nach Tunlichkeit beließ. Diese Spannweite der Bewegungsfreiheit
ermöglichte auh der Reformation die Ausbreitung. Einen
Überblik über die Arbeiten aus dem Forschungsbereih der
Reformationsgeschichte in Polen“) bietet Kazimierz Kolbu-
szewski, auf dessen eigenen Beiträge, die er nicht erwähnt, hier er-
gänzend hingewiesen werden soll, soweit es nicht bereits geschehen
a Die von Stanislaw Kot herausgegebene Zeitschrift
„Reformacya w Polsce“,®) von der seit unserem letzten Bericht zwei
weitere Hefte“) erschienen sind, bildet nach wie vor den Sammel-
punkt der Forschungsarbeit auf diesem Gebiet.
Die beiden in französischer Sprache erschienenen und sich er-
EE den Gang der Ereignisse zusammenfassenden Darstel-
ungen, die von G. David: „Der Protestantismus in Polen bis
1570“) und die von Oskar Heinrich Prentki:
„Historischer Essai über den Niedergang der Reformation in
Polen“) fördern zwar nicht die Forschung um neue Erkenntnisse,
ziehen aber im einzelnen die Linie schärfer, so z. B. Prentki in dem
Abschnitt über die Rolle der Jesuiten. — Im Rahmen einer Gesamt-
würdigung „des Protestantismus bei den Slaven“) kommt Hans
Koch auch auf die evangelische Bewegung unter den Polen zu
sprechen, wobei er in beachtenswerter Weise als eine der Ursachen
des Erfolges der Gegenreformation bei den Slaven die innere Ver-
wandtschaft zwishen der an dramatishen Spannungen reichen
katholischen Rechtfertigungslehre und dem ,,Bunten, Wechselvollen,
mus auf und ab Wogenden“ in dem slavischen Volkscharakter
zeichnet.
20) Przegląd prac z zakresu dziejów reformacyi w Polsce. In: Pamiętnik
literacki XXV, 1928, Lemberg.
91) „Jahrbücher“ N. F. 1928, S. 257 u. 26t.
92) Abgekürzt: R w P.
es) V, Nr. 19 u. 20.
94) Le protestantisme en Pologne jus quam 1570. Montpellier 1927.
98) Essai historique sur le dècline de la rèforme en Pologne. Ebd. 1927.
%) Sonderdr. aus „Deutsche Blätter“ VI, 1929, Nr. 12, Posen.
308
Sos" H se RS RM R n-
Von Einzelfragen, die in der Forschung der letzten Zeit erdrtert
wurden, verdient besondere Erwahnung der Streit um die Auslegung
des Satzes in der Warschauer Konföderation vom 28. Januar 1573,
daß die Grundherren berechtigt seien, die unter dem Vorwand der
Religion ungehorsamen Hörigen tam in spiritualibus quam in
secularibus nach eigenem Gutdünken zu bestrafen. Soll „rebus‘ oder
„bonis ergänzt werden? Die Frage der Gewissensfreiheit der ein-
zelnen Untertanen hängt davon ab, denn im ersteren Falle wäre der
Grundsatz „cuius regio, eius religio“ den Grundherren zugestanden.
Dagegen spricht sih Josef SiemieAski in seiner Studie:
„Rebus‘ in der Warschauer Konföderation“) aus, indem er für
„bonis“ eintritt, wohingegen Stanislaw Ptaszycki durch seine
„archäologisch-sprachlichen Erwägungen“ über „die Warschauer
Konföderation) zu dem Ergebnis gelangt, die Verfasser hätten an
„rebus“ gedacht, während Wacław Sobieski in der Abhand-
lung „Aber nicht um den Glauben“) die Ansicht vertritt, der be-
treffende Artikel sei absichtlich so unbestimmt abgefaßt worden, da
bei den beteiligten Kreisen eine einheitliche Auffassung nicht zu er-
zielen war, wiewohl, wie aus einer französischen, litauischen und
zwei deutschen Textüberlieferungen hervorgeht, die Mehrheit der
Anschauung im Sinne der Ergänzung von „rebus“ zuneigte.
Sie mies ki, dem die Auffindung der Urschrift der Konfödera-
tion gelungen ist, sucht daraufhin „zur Verteidigung der ‚Güter‘ in
der Warschauer Konföderation“) die Einwürfe von Sobieski
für sich geltend zu machen, worauf dieser in „einigen Be-
merkungen zur Geschichte der Gewissensfreiheit‘“*) seine früheren
Ausführungen unter besonderer Hervorkehrung des Toleranz-
momentes noch schärfer zusammenfaßt. Siemienski muß man es zu-
gute halten, daß er das in Verhandlung stehende Problem nach allen
Seiten hin reiflich erwogen und sowohl für „rebus“ als auch für
„bonis die Für und Wider ernstlich erwogen hat; dadurch bietet
seine Schrift zugleich eine sichere Einführung in das Problem. Dabei
strebt er in richtiger Erwägung des Tatbestandes eine Lösung nicht
so sehr auf philologischem Wege als aus den historischen Begleit-
umständen heraus an. Der unklare Wortlaut läßt doch klar er-
kennen, daß es sich bei den Konföderierten in erster Linie darum ge-
handelt hat, eine Lockerung des Untertanenverhältnisses der Hörigen
gegenüber den Grundherren, sowohl den weltlichen als auch den
geistlichen, von vornherein zu verhindern. Es sollte also in dieser
Hinsiht auch durch die gegenseitige konfessionelle Duldung alles
beim Alten bleiben. Demnach wäre das ,,tam in spiritualibus quam
07) Rebus w konfederacyi warszawskiej r. 1578. In: Rozprawy z polskiego
prawa politycznego. Bd. I, Heft 1, Warschau 1927.
33) Konfederacja warszawska r. 1578. RwP. V, S. 90—97.
d) „A nie o wiarę. Ebd. S. 60—67.
0 W obronie „dóbr“ konfederacyi 1573 r. Ebd. S. 98—108.
a) 5 remarques sur l'histoire de la liberté de conscience. In:
Resumés des communications présentées au congrés Oslo 1928, S. 201 f.
809
in saecularibus“ nicht anders zu verstehen als das einige Zeilen vorher
stehende „tak panów duchownych jako i świeckich“ („sowohl den
geistlichen als auch der weltlichen Herren“); sohin sollte man fo
55 im Sinne von Grundbesitz ergänzen. Es muß r
doch bedenklich stimmen, daß man in maßgebenden Kreisen, wie die
oben angedeutete Textiiberliefe beweist, diese Wendung im
Sinne von „rebus“ d. i. Angelegenheiten verstanden wissen wollte.
Das „spiritualia“ scheint au darauf hinzudeuten, da das
passendere Adjektiv zu bona wohl „ecclesiactica gewesen wäre, wenn
auch das polnische „duchowne“ durch spiritualia unmittelbarer
wiedergegeben wird. Aber man wird die „res“ von vornherein auf
die mit der äußeren Gehorsamsverweigerung, insbesondere bezüg-
lich der pflichtmäßigen Abgaben zusammenhängenden Strafmittel be-
schränken müssen, da sonst der Grundsatz cius regio eius religio
gutgeheißen worden wäre, den doch Katholiken wie Protestanten
sich gegenseitig nicht zubilligen wollten. Im übrigen wird man gut
tun, in die umstrittenen Worte nicht allzuviel hineinzulegen. Durch
den Zusatz „nach eigenem Gutdünken“ hat man den Grundherren
ohnehin freie Hand gelassen. Die Grundrichtung ging jedenfalls
dahin, die Gewissen zu schonen, wie Sobieski aus den Verhandlungen
des Sandomirer Sejmik richtig geschlossen hat. — Mit den Bestim-
mungen der Warschauer Konföderation setzt sich Josef
Siemienski auch in seinem Aufsatz über den Begriff „Dissidenten
in der Gesetzgebung) auseinander. Nach seiner Auffassung sei
es den Konföderierten nicht um eine grundsätzliche, sondern um eine
rein praktische Regelung des Verhältnisses von Katholiken und
Protestanten mit Ausschluß der Schismatiker zu tun gewesen, wes-
halb aus dem Doppelsinn „Dissidenten“ ebenso die Gleichberechti-
ung wie die bloße Duldung der Evangelischen abgeleitet werden
onnte. Diese Auslegung wurde sehr bald der Warschauer
Konföderation, die von Polen den Religionskrieg, von welcher Seite
er drohen mochte, fernhalten sollte, unterschoben.
Für die Verbreitung der Reformation in Polen wurden die
Auslandsbeziehungen von weitgehender Bedeutung.
Theodor Votsckke vermittelt hievon einen unmittelbaren Ein-
druck, indem er aus den Matriken der Universitäten Vittenberg,.
Heidelberg,) Leiden,“ Altdorf und Frankfurt a. O. die
Namen der daselbst studierenden Polen unter gleichzeitiger Vürdi-
gung ihrer späteren Haltung in der religiösen Bewegung hervorholt.
Diese Studien enthalten zugleich wichtiges Material zur Personal-
geschichte des Reformationszeitalters. Uber die Beziehungen zwischen
„Helmstedt und Zamość“) handelt Stanisław Kot. In
103) Dysydenci w ustawodawstwie. RwP. V, Nr. 20, S. 81—89.
103) „Jahrbücher“ N. F. 2, 1925, S. 169—200.
104) Ebd. 8, S. 46—07.
108) Ebd. S. 461—486.
108) Ebd. 4, S. 216—252.
107) Ebd. 5, S. 228—244.
100) Helmstedt i Zamość, Zamość 1929.
810
SREP ERS S Re
dieser Studie ,,aus der Geschichte der humanistischen Kultur“ steht
im Mittelpunkt ,,der letzte deutsche Humanist“ Caselius, ,,dessen
Beziehungen zu Polen“) auch Theodor Wotschke auf Grund
desselben era nämlich hauptsächlich der in der Wolfen-
biitteler Bibliothek befindlichen Briefe desselben beleuchtet. Bei der
Gründung der ZamoSéer Akademie (1594), deren „Publikation“ )
Kot zusammen mit der Ankündigung der Errichtung der Königs-
berger Albertina (1544) nach einem im Staatsarchiv zu Venedig er-
haltenen Exemplar veröffentlicht, holt der Hetmann Jan Zamojski
den Rat des Helmstedter Professors, der auch sonstige Verbindungen
mit Polen unterhielt, ein. Die von K. in Faksimile abgedruckten
Titelblätter der Kundgebungen des Helmstedter Kreises für Zamojski
erhöhen den bibliophilen Wert seiner Schrift. Kein geringerer als
Melanchthon lenkte die Aufmerksamkeit der Polen auf Caselius.
„Die Melanchthon - Probleme“) hinsichtlich Polens erörtert
Kazimierz Kolbuszewski als Auftakt einer größeren Arbeit
über „Melanchthon und Polen“. Die systematische Erfassung des
Briefwechsels desselben mit Polen — die bisher bekannten und zer-
streut veröffentlichten 45 Briefe unvollständig — liegt ihm besonders
am Herzen, als Voraussetzung für die richtige Beurteilung der Trag-
weite der Studienfahrten von Polen nach Wittenberg und zur Ab-
schätzung des Einflusses des Praeceptor Germaniae auf das polnische
Schulwesen.
Die Beziehungen zum protestantischen Westen haben das
polnische Schrifttum befruchtet. Aus dem Lebenslauf von
Nikolaus Re j, dem Vater der polnischen Nationalliteratur, zu-
gleich einem eifrigen Vorkämpfer Protestantismus, beantwortet
W. Bud ka die Frage: „Wann derselbe zum Protestantismus über-
getragen sei!) dahin, er habe den Schritt zwischen 1540, in welchem
Jahre er um die Bewilligung zum Bau einer katholischen Kirche für
seinen Schwiegervater bei d geistlichen Stellen eingekommen sei
und 1543 — die damals erschienenen Schriften lassen die Abkehr vom
Papsttum bereits erkennen —, vollzogen. Stanislaw Bodniak
t fest, daß „N. Rej auf den Reichstagen ) in der Zeit 1556—1564
wiederholt mit konfessionellen Forderungen, besonders im Kampf
um das Interim, gemäßigt und erfolgreich aufgetreten sei. — „Die
Chronik des Lebens, der Lehre und Taten Jesu Christi des Erasmus
Gliczner“,*"*) eines der fruchtbarsten protestantischen Schriftsteller in
Polen, druckt Kazimierz Miaskowski nad einem Unikum
108) Arch. f. Ref. gesch. Texte u. Unters. XXVI, Heft 1/2.
110) Publikacya nowych uniwersytetów w XVI. w., Królewiec i Zamośé,
Krakau 1929.
111) Problemy Melanchtonowe. In: Sprawozd. z pos. tow. nauk. w. Warsz.
XXI, 1928, I S. 27—41.
118) Kiedy M. Rej. zostal protestantem? In: Ruch literacki, 1928.
118) M. R. na sejmach. In: Pam. liter. 1928.
114) Erazma Glicznera kronika żywota, nauk i spraw Jezusa Chrystusa. In:
Zap. tow. nauk. w Tor. VII, 1927/8, S. 206—225, 257—268.
Sil
der Kopernikus-Bibliothek in Thorn ab; in der Einleitung macht er
die Abfassun dieser lutherisches Gepräge, wenn auch ohne polemische
Note, deutlich zur Schau tragenden Evangelienharmonie (1579) durch
den großpolnischen Superintendenten im hohen Maße wahrscheinlich.
Stanisiaw Tync nimmt „Die beiden protestantischen Pre-
digten“, ) die er im Thorner städtischen Archiv aufgefunden, für den
Thorner Pastor Martin Murzynski, einen ehemaligen Dominikaner,
in Anspruch. Stanistaw Kot veröffentlicht den dem Wid-
mungsexemplar eingelegten, eigenhändig geschriebenen „Brief des
Andress Frycz Modrzewski an den König Sigismund August bei der
Übergabe des Werkes über die Staatsreform“, ) worin die allerdings
unerfüllte Bitte um Verleihung einer kirchlichen Pfründe zur Sicher-
stellung ungestörter wissenschaftlicher Arbeit auffällt. — Auch die
Flauptstücke der protestantischen Erbauungs- und Erziehungsliteratur
haben Beachtung gefunden. Johann Janów zeigt,
„Johann Sandeckı - Malecki?!”) als Übersetzer des Neuen Testaments
(1582) völlig von tschechischen Vorlagen abhängig sei; dem von ihm
hart befehdeten Seklucyan gebühre infolgedessen der Vortritt. —
Stanistaw Lempicki läßt sich über „ein unbekanntes Gesang-
aus Pitschen in Schlesien aus dem 17. Jahrhundert“) auf Grund
einer Abschrift des im Weltkrieg verlorengegangenen handschrift-
ichen Originals aus. Unter den 310 Liedern, die den Bedürfnissen
der polnischen Lutheraner Oberschlesiens angepaßt seien, findet er
u. a. interessante Varianten von religiösen Dichtungen der protestan-
tischen Frühzeit, woraus sich auch für die altpolnische kei
neue Erkenntnisse ergeben. — Das protestantische Schrifttum sollte
auch der Abwehr dienen. Marie Czapska stellt „Die reli-
giöse Polemik im ersten Zeitabschnitt der Reformation in Polen“ ““)
(bis 1572) dar. Sie sucht die Stellungnahme der 5 Bekämpfer
des römischen Katholizismus aus der Haltung der Väter des Protes-
tantismus verständlich zu machen, Rej, Modrzewski, Seklucyan,
Krowicki u. a. werden auf diese Weise hinsichtlich ihrer Abhängigkeit
wie Selbständigkeit in die richtige Beleuchtung gerückt. D. V. be-
handelt die einzelnen Streitpunkte, wie Kirchenbegriff, päpstlichen
Primat, Bilder- und Heiligendienst gesondert, wobei sie zugleich die
Grundgedanken der katholischen Verteidigung hervorhebt. Die
Arbeit bedeutet in sachlicher wie De ee e Hinsicht einen Fort-
schritt in der Forschung.
$ re Dwa polskie kazania protestanckie Marcina MurzyAkiego. Ebd. S. 150
is 156.
118) A. Frycza Modrzewskiego list do kröla Zygmunta Agusta przy wreczeniu
dziela o poprawie Rxltej. Rw. P. V, S. 115—119.
117) Jan Sandecki-Malecki jako redaktor najstarszego lekcjonarza polskiego i
jako tlumace Nowego Testamentu 2 r. 1552. In: Bull. intern. der Krak. Akad.
Wissensch., 1928, Heft 2.
118) Nieznany kancyonal z Byczyny na Śląsku z XVII w. In: Spraw. tow.
nauk. we Swowie VII, 1927, S. 7782.
g ER Polemika religijna pierwszego okresu reformacyi w Polsce. RwP. V,
312
Aus dem Kampf fordert zum Frieden auf dér kleinpolnische
Senior Bartholomäus Bythner in einer 1612 herausgegebenen Schrift,
die Wilhelm Bickeric als „ein Programm des en
lichen Universalismus) im Anschluß an die gleichbetitelte pol-
nische Abhandlung E. Bursches’**) würdigt. In Ergänzung der Aus-
führungen desselben verweist er auf die Bedeutung der Friedensschrift
Bythners für die irenische Literatur — besonders Panäus und
Comenius — und erklärt die Bezeichnung des Seniors als „Polonus“
im Sinne von Staats- und nicht von Volkszugehörigkeit, wie es
Bursche haben möchte. — In den Rahmen d protestantischen
Literaturgeschihte gehört auch die Mitteilung Theodor
Wotschkes über die nicht genannt sein wollenden ,,Mitarbeiter
an den Acta historico - ecclesiastica in Polen“, “) deren 56 Briefe aus
der Zeit von 1736 bis 1752 an die Herausgeber er in der Gothaer
Landesbibliothek gefunden hat.
Diese Briefe spiegeln die mißliche Lage, in der sich die Evan-
gelischen Polens in der späteren Zeit befanden, wider —
über erfahren wir nähere Einzelheiten auh aus Theodor
Wotschkes Studie „Der Pietismus im alten Polen“, “) worin er
aus dem Briefwechsel des Wengrower Pastors Joh. Friedr. Bachstrom
und des Warschauer Militärgeistlichen Adelung mit Halle das Vor-
handensein dieser Frömmigkeitsrichtung in Polen erweist. — Des-
selben „Hilferufe nach der Schweiz‘) umfassen 33 Briefe, die
ın der Zeit von 1720 bis 1746 von Lissa aus nach der Schweiz in An-
gelegenheit der schwer bedrängten reformierten Kirche in Polen
gerichtet wurden. Im Anhang folgen sieben an die maßgebenden
Berliner Stellen, auch an Friedrich den Großen, in der gleichen Sache
von 1747—1763 verfaßten Berichte. — „Ein Lebensbild aus stürmisch
bewegter Zeit“, das „des Thorner Pfarrers Simon Weiß, 1623—1688“
entwirft Heuer, vor allem an der Hand von archivalischen Auf-
zeichnungen in der Thorner Coppernikus-Bibliothek. Die Wirk-
samkeit desselben in Lissa und Thorn fällt in die Zeit des 30 jährigen
Krieges, als protestantische Exulanten aus Böhmen und Schlesien in
Polen Aufnahme fanden, so daß Lissas Einwohnerzahl auf 12 000
stieg. Andererseits wurden viele Ortschaften 1655/6 durch Feuers-
brunst und Pest schwer geschädigt, woraus sich auch für Weiß schwere
Rückschläge ergaben.
Der Protestantismus in Polen wurde in seiner Viderstandskraft
durch den sogenannten Arianis mus geschwächt. Oskar
Bartel kennzeichnet „Die dogmatischen Kämpfe in den Jahren
1559— 1562“, 0 die den Auftakt zur Bewegung bildeten. — Żanna
Kozmanowa möchte durch ihre Studie über „Die polnischen
180) Deutsche wiss. Zschf. Polen, Heft 16, S. 1—20, 1929.
121) „Jahrbücher“ N. E. IV, S. 267. |
122) Deutsche wiss. Zschf. Polen, Heft 16.
138) Ebd. Heft 15 f., 1929, Sonderdr.
134) Mitt. d. Coppernikusver. zu Thorn, 35, S. 1—28.
128) Walka rel. dogmatyczna w latach 1559 — 1562. In: Glos Ewang., 1928.
318
Brüder, 1560— 1570.0)“ den ersten Baustein zu der noch
fehlenden Monographie dieser unbeugsamen Vorkämpfer „einer neuen
Weltanschauung“ beisteuern. Den durch den Tod Laskis und die
Sendomirer Verständigung abgegrenzten Zeitraum bezeichnet sie
als die Periode „der Entstehung und Befestigung der arianischen Ge-
meinschaft“. Unter fleißiger Verwertung der vorhandenen Literatur
schildert sie in anschaulicher Darstellung die Absonderung der Gegner
des kirchlichen Dogmas vom Calvinismus und deren Verselbständi-
gung. Wenn auch der äußere Verlauf durch anderweitige Dar-
stellungen bekannt ist, so gelingt es doch K., durch straffere Linien-
ührung die Zusammenhänge besonders hinsichtlich der handelnden
Personen im einzelnen schärfer zu erfassen. Das gilt vor allem von
dem letzten Abschnitt, worin sie „die erste Generation der polni-
schen Arianer“, die Menschen und ihre Ideologie, auch die sozial-
politische, zu kennzeichnen sucht. — Über die Anfangszeit des polni-
schen Antitrinitarismus führt die Monographie Konrad Görs-
kis „Gregor Paul aus Brzezin“*") hinaus. Auf dem Hintergrund
der polnischen Reformationsgeschichte kennzeichnet er seinen Helden,
der vom Luthertum über den Calvinismus, dem Tritheismus und
das Täufertum zum Unitarismus übergegangen ist, als den eigent-
lichen Begründer der Sekte „der polnischen Brüder“ trotz seines
theologischen Dilettantismus, der ihn seinen dogmatischen Standort
dauernd wechseln ließ, dank seiner agitatorischen Begabung und per-
sönlichen Anspruchslosigkeit, ungeachtet brennenden Ehrgeizes. G.
legt den Hauptnachdruck auf die literarhistorische Bedeutung des-
selben, weshalb er auch seine schriftstellerishe Tätigkeit eingehend
untersucht. Fausto Sozzinis Anteil an dem Aufbau der nach ihm be-
nannten religiösen Gemeinschaft muß fortab nach den Vorarbeiten
Gregors, die G. aufzeigt, bewertet werden. — Uber den Aufenthalt
des „Fausto Sozzini in Krakau“) bringt Włodzimierz Budka
neue Einzelheiten, Alexander Kossowski, desgleichen
„aus dem Leben der polnischen Arianer in Lublin“, * besonders über
das Schicksal ihres Hauses. — „Die Angelegenheit der Vertreibung der
Arianer im Jahre 1566) klärt Stanislaw Bodniak in
auf, die geplante Ausweisung derselben sei auf dem Lubliner
Reichstag hauptsächlich an dem Widerstand der Bischöfe gescheitert,
die befürchteten, es könnte die Exilierung der einen Gruppe der
Ketzer als Duldung der anderen gedeutet werden. Die calvinischen
Senatoren waren nicht abgeneigt, dieser Maßregelung der Leugner der
Trinität zuzustimmen. Den ensatz zwischen den Vertretern der
Rechtgläubigkeit und diesen beleuchtet auch der Vortrag Johann
Kvacalas über „Den Kampf des Comenius mit den polnischen
130) Bracia polscy 1560—1570. In: Rozpr. hist, tow. nauk. w Warsz., VII,
Heft 2, 1929.
127) Grzegorz Pawel z Brzezin, Krakau 1929.
128) Faust Socyn w Krakowie. RwP. V, Nr. 20, S. 120—128.
120) Z życia Arjan polskich w Lublinie. Ebd. Nr. 19, S. 77—80.
130) Sprawa wygnania arjan w r. 1506. Ebd. S. 52—59.
314
Brüdern“) unter Heranziehung der betreffenden Schriften desselben,
dem die beiden Schlichtings, Wiszowaty und Ruar, vergeblich eine
bessere Meinung vom Glaubensstand ihrer Religionsgemeinschaft bei-
zubringen sich bemühten.
Der römische Katholizismus setzte sich gegenüber
dem Ansturm des Protestantismus zur Wehr. Im Mittelpunkt der
jüngsten Forschung über die Gegenreformation steht die
t des Ermländischen Bischofs Stanislaus Hosius. Eine
volkstümliche Lebensgeschichte desselben“) bietet Josef Umins-
ki, der auch „einen Bericht über römische Nachforschungen zu einer
Monographie über den Kardinal Stanislaus Hosius ) erstattet.
Das Schriftchen will zugleich die Bemühungen des polnischen Epis-
kopates um die Seligsprechung dieser Säule des römischen Katholizis-
mus im Reformationszeitalter unterstützen. Damit ist seine Grund-
richtung vorgezeichnet. Das Hauptverdienst Hosius’ erblickt d. V.
darin, „daß er ganz Polen und Ermland vor dem Protestantismus
gerettet hat“ (S. 103). Darüber hinaus kennzeichnet er ihn als eine
Führerpersönlichkeit des europäischen Katholizismus, weshalb er auf
seine Auslandsbeziehungen besonderen Nachdruck legt. Gerade
wegen der streng katholischen Einstellung des Vs. erhält man von
Hosius’ Wirksamkeit, die sich in der gleichen Richtung bewegte,
einen unmittelbaren Eindruck. Einzelheiten aus dem Leben des
Kardinals beleuchten ergänzend einige Aufsätze, so der von Josef
Bielowski „Aus der politischen Wirksamkeit des St. H.“, “) der
von H. Cihowski „Über die Polemik des Kardinals H. mit
ohann Laski‘,’**) der von A. Kossowski „H. und Orzechowski
im letzten Jahr des Tridentinischen Konzils“.’**)
Nach den beiden preußischen Bistümern, die Hosius innegehabt,
weisen drei weitere Arbeiten: M. Gumowski faßt die zerstreuten
Nachrichten über den Vorgänger des Hosius auf dem Culmer Bischofs-
sitz „Johann Dantiscus und seine Medaillen“) zusammen. Diese
kunsthistorische Untersuchung der vier bisher bekannt gewordenen
Medaillen zeigt den Bischof im Verkehr mit ausländischen, vor allem
deutschen Humanisten. — Tadeusz Glemma kennzeichnet
„Die preußischen Stände und den Culmer Bischof Peter Kostka
während des zweiten Interregnums“."*) — Georg Lühr ver-
öffentlicht „Die Matrikel des päpstlichen Seminars zu Braunsberg
131) Walka Komenskiego z braémi polskimi. In: Glos Ewang., 1928, War-
schau; Sonderdr.
a St. H. In: Zywoty Polakéw i Polek dobrze zastuzonych ojczyznie, Nr. 1,
138) Sprawozd. z poszukiwah rzymskich do monografji o kardynale Stanis-
ławie Hozjuszu. In: Aten. kaplahsk. XX, S. 176—1883.
134) Z dzialalonoſci publicznej St. Ha. Ebd. XXI u. XXII, 1928.
138) Przegl. teolog. IX, Nr. 8.
138) „Jahrbücher“ N. F. IV, S. 154 (Forst-Battaglia).
: 1 Jan Dantyszek i jego medale. In: Zapiski tow. nauk. w Tor. VIII, 1929,
: 19.
138) „Jahrbücher“ V, S. 104 (Tyszkowski).
21 NF 6 315
1578—1798*."**) Diese im Anschluß an die nordische Missions-
arbeit des Jesuiten Possevino nach dem Vorbild des Collegium ger-
manicum in Rom von Gregor XIII 1578 errichtete und 1798 infolge
der Besetzung Roms durch die Franzosen eingegangene Lehranstalt
wurde ein Stützpunkt für die auf die Katholisierung des protestanti-
schen und schismatischen Nordens gerichteten Bestrebungen. Die
1580 Eintragungen der jetzt im Eigentum der Bibliothek des erm-
ländischen Diözesanseminars befindlichen Matrikel, einem echten
Pergamentband in Bogenformat, umfassen zwar nur 16 als „Polen“
bezeichnete Studierende, in Anbetracht des kirchenpolitischen Inter-
esses der polnischen Krone an den von Braunsberg aus geförderten
Unternehmungen — man denke nur an die Bemühungen der pol-
nischen Wasas um die schwedische Krone und an ihre Unions-
bestrebungen bei den Ruthenen — lassen sich von hier aus starke
Verbindungsfäden mit der Kirchengeschichte Polens ziehen. Diese
Zusammenhänge würden erst deutlich hervortreten, wenn man der
äteren, in einigen Fällen in der Matrikel angedeuteten Wirksamkeit
er einzelnen Zöglinge nachgehen würde.
In dieselbe geistesgeschichtliche Umwelt führt ein die Arbeit
von Ernst Sittig „Der polnische Katechismus des Ledezma und
die litauischen Katechismen des Daugsza und des Anonymus vom
ahre 16057.“ Zur Stärkung des Katholizismus im Abwehr-
ampf gegen den Protestantismus übersetzte der litauische Kanonikus
Nikaloius Daugsza 1595 den Katechismus des Spaniers Jakob Ledesma
(t 1570) ins Litauische, aber nicht nach dem spanischen Original,
sondern nach einer anonymen polnischen Übertragung; wegen zu
starker dialektischer Färbung veranstaltete 1605 ein ungenannter
Jesuit, der nicht mit Konstantin Szyrwid, dem Herausgeber der
ersten litauischen Grammatik, identisch sein kann, eine abermalige
Übersetzung dieses Katechismus ins Hochlitauische, ebenfalls nach der
Inischen Vorlage. S. bietet nun eine interlineare Textausgabe
ider litauischen Katechismen unter Voranstellung des polnischen
Textes. Dadurch ermöglicht er den sprachwissenschaftlichen Ver-
gleich der beiden Textformen in ihrer Abhängigkeit von der polni-
schen Urschrift, was auch für den Kirchenhistoriker von Wert ist.
Zur Geschichte der konfessionellen Polemik sei auf die Studie
von Stanislaw Bodniak über „Hieronymus Baliński, einen
unbekannten katholischen Polemiker am Ausgang des 16. Jahr-
hunderts“,'*!) einen ehemaligen Protestanten, dessen nur handschrift-
lich erhaltene Streitschriften sich nicht über den Durchschnitt erheben,
und auf die Arbeit von Marian Heitzman über „Stanislaw
Krzystanowicz und seine Polemik mit Baco von Verulam“ “) wegen
13°) In: Monumenta Histor. Warmiensis, Bd. XI, 1 u. 2. Königsberg 1925/26.
140) In: Ergänzungshefte zur Zeitschr. f. Vergl. Sprachforsch. a. d. Gebiet
d. indogerm. Sprachen, Nr. 6. Göttingen 1929.
141) H. B., nieznany polemista katolicki ze schylku XVI w. RwP. V, Nr. 20,
S. 104—114.
102) St. K. i jego polemika z Baconem Werulamskim. Ebd. Nr. 19, S. 68—76.
316
der englischen Katholikenverfolgungen unter Elisabeth und Jakob I.
hingewiesen. — Aus dem Aufsatz des Tadeusz Sinko ,,iiber die
Nazianz-Studien in Polen?) verdient hervorgehoben zu werden,
daß Skarga, der auch eine Lebensgeschichte Gregors von Nazianz
kompiliert hat, bei der Bekimpfung der Protestanten diesen griechi-
schen Kirchenvater ins Treffen fiihrt, woraus zugleich hervorgeht,
end die Jesuiten in Polen auch die griechische Patrologie gepflegt
aben.
Einige in den „Jahrbüchern“ bereits angezeigten Beiträge zur
Geschichte des römischen Katholizismus in der Neuzeit seien hier
noch einmal erwähnt: H. Cichowski: „Eine ungenannte Jesuiten-
polemik des 17. Jahrhunderts“;!*) Stanislaw Bednarski:
„Die Beziehungen des Kardinals Bellarmin zu Polen“;*) M. Loret:
„Rom und Polen zu Beginn der Regierung Stanisław Augusts“;'**)
M. Godlewski: „Der Erzbischof Siestrzencewicz und Stanistaw
August in Petersburg.“)
Zum Schluß sei noch die Erwähnung „der Kirchengeschichte
Polens“ ) aus der Feder des Berichterstatters gestattet.
143) Z historji studjéw nazjanzenskich w Polsce. In: Nova Polonia sacra, hrsg.
v. Jan Fijalek, I 1928, S. 81 „Krakau.
144) N. F. IV, 1928, S. 702.
168) Ebd.
148) Ebd. S. 156.
147) Ebd. S. 848 (Forst- Battaglia).
188) In: Grundriß der slavischen Philologie u. Kulturgesch., Bd. 7, Berlin 1930.
317
ARCHEION
Czasopismo naukowe poświęcone sprawom archiwalnym.
(Archeion. Wissenschaftliche Zeitschrift für Archivwesen.)
H. V—VII. Warschau 1929/30.
Von
St. Zajączkowski.
H. V. 1929 — Maleczyński K. Ober italienische Archive. (Archiwa włoskie.) Beschrei-
bung der Organisation der Staatsarchive, dann der unter der Aufsicht des Staates
stehenden Provinzialarchive und endlich der Notariatsarchive; die letztgenannten
umfassen Archive sowohl! der öffentlichen wie auch der städtischen Notare.
Anhang kurze Nachricht über die gegenwärtige Organisation des Vatikanischen
Archivs. — groma S. Das Capıtulararchiv in Lemberg. Archiwum kapitulne
we Lwowie.) rstellung der Geschichte und der Bestände des Archivs des röm.
lat. Domkapitels in Lemberg. — Żebrowski T. Entstehung und Verfall des
Generalarchivs der Stadt Warshau im Zusammenhang mit der Reform vom
3. Mai. (Powstanie i upadek Archiwum generalnego m. Warszawy w zwigzku
z ustrojem 8go maja.) Das von dem Großen Reichstage im April 1791 be-
schlossene Städtegesetz vereinigte die Stadt Alt-Warschau mit den umherliegenden
Ortschaften zu einer Einheit. Im Zusammenhang damit wurde ein neues Archiv
für die neugebildete Stadt geschaffen. Dasselbe wurde aber bald samt allen Ein-
richtungen des Großen Reichstages aufgehoben. — Manteuffel T. Die Anfänge des
gegenwärtigen Burcauarbeitssystems der polnischen Staatsbehörden. (orca
współczesnej państwowej biurowości polskiej.) Verf. stellt die Entwickelung des
Bureauarbeitssystems in den Behörden des während des Weltkrieges entstehenden
olnischen Staates dar, weist auf die dabei auftauchenden Schwierigkeiten hin und
spricht die ersten diesbezüglichen Instruktionen und Reglements bis Ende 1920.
— Siemieński J. Terminologishe Betrachtungen. III. Repertorien. (Roztrząsania
terminologiczne. III. Skorowidze.) Verf. stellt den Begriff des archivalischen Reper-
toriums fest und unterscheidet verschiedene Kathegorien desselben. — Wdowi-
szewski Z. Bericht über das Ostrowski’sche Archiv in Maluszyn. (Wiadomość
o archiwum Ostrowskich w Maluszynic.) Beschreibung der von der Familie
Ostrowski in Maluszyn gegründeten archivalishen Sammlung, welche jetzt dem
Grafen St. Potocki gehört. — Tyszkowski K. Polonica in den Beständen des
Staatsarchivs in Wien. (Polonica w zbiorah Archiwum Państwowego we Wiedniu.)
Zusammenstellung der auf Polen bezugnehmenden Akten des Wiener Staats-
archivs. — Łopaciáski W. und Rybarski A. Die Gebäude der Staatsarchive der
Republik Polen. (Gmachy archiwów państwowych Rzeczypospolitej polskiej.)
Besprechung der brennenden Frage der Unterbringung der Staatsarchive.
Im Anhang Beschreibung der Unterkünfte der einzelnen Archive und Text
des Konkurses auf einen Entwurf des Gebäudes des Centralarchivs in
Warschau. — Ptaszycki St. Inventar des Kronarchivs vom J. 1618. (Inwentarz
Archiwum koronnego z r. 1613.) Als Ergänzung des im Archeion, Bd. IV,
publizierten Aufsatzes über diese Thema fügt Verf. eine Beschreibung der zwei
Handschriften des genannten Inventars, die sich in der Universitäts-Bibliothek
in Gießen und Kornik befinden, hinzu. — Bibliographie der zugesendeten
Publikationen, welche die Archivkunde betreffen oder sich auf das archivalische
318
VL :
über die Wirksamkeit der Archive. im J. 1927. 8. Präliminar des Budgets für
1928/8 und 1929/80, die Staatsarchive betreffend. 4. Personalangelegenheiten.
Ptaszyck i, St. und Konarski, K., Staatsarchive auf der
allgemeinen Landesausstellung in Posen. (Archiwa panstwowe na
Powszechnej Wystawie Krajowej w Poznaniu.) Geschichte der Ein-
richtung und Beschreibung der Archivalgruppe auf der Posener Aus-
stellung; dieselbe umfaßte Pläne des zu errichtenden Gebäudes des
Centralarchivs in Warschau, statistische Tabellen und Skizzen, welche
den Zustand der Staatsarchive und deren Wirkungskreis illustrierten,
dann 5 der wichtigeren Archivalien, Publikationen der
Staatsarchivleitung und der einzelnen Archivalbeamten, endlich
photographische Aufnahmen der Gebäude, in welchen einzelne
Staatsarchive untergebracht sind. — Iwaszkiewicz, J., Über
das Archiv der Kanzleien des Groffiirsten Konstantin und Nowosil-
cow's. (Losy archiwum kancelaryj w. ks. Konstantego i Nowosilcowa.)
Der Groffiirst Konstantin, Brader des Zaren Alexander I., wurde mit
vielen Militär- und Zivilfunktionen auf dem Gebiete Kongreßpolens
und der fünf enannten westlichen Gouvernements betraut und
aus diesem Grunde besaß er mehrere Kanzleien. Akten derselben
wurden, samt den Akten des russishen Kommissärs bei der Regierung
Kongreßpolens, Nowosilcow, während des Aufstandes im Jahre
1830/31 von den Polen beschlagnahmt und einem speziellen Komitee
zur Überprüfung angewiesen. Mit dem Verfalle des Aufstandes
wurden diese Akten zerstreut. Zwar wurde bald eine russische Kom-
mission mit der Bestimmung, sie wieder zu sammeln und in Ordnung
zu bringen, gebildet, dieselbe konnte aber ihre Aufgabe nur teilweise
erfüllen. Ein kleiner Teil dieser Akten wurde in Warschau zurück-
gelassen, der Rest dagegen wurde nach verschiedenen Städten, meisten-
teils nach Petersburg, wo sie im Archiv der ehemaligen kaiserlichen
Kanzlei sich befinden, abgeschoben. — Moraczewski, A., Akten
aus der Zeit des November-Aufstandes im Stadtarchiv zu Warschau.
(Akta z czasów powstania listopadowego przechowywane w Archiwum
miejskiem w Warszawie.) Der November-Aufstand in Kongreßpolen
im Jahre 1830/31 gab Veranlassung zu vielen Veränderungen in der
Verwaltung der Stadt Warschau, indem die Zahl der städtischen Be-
hörden bedeutend vergrößert wurde. Nach der Unterdrückung des
Aufstandes wurden die Akten dieser Behörden als ein abgeschlossener
Fonds unter der Benennung ,,Revolutionsperiode 1831“ aufbewahrt.
Da der Zutritt zu diesen Akten sehr erschwert wurde, so sind sie
bis jetzt vollständig erhalten und bilden nun eine wertvolle und
nicht ausgenützte Quelle zur Geschichte Warschaus während des Auf-
standes. — Lutman, T., Uber das Archiv der Familie Borch in
Warklany. (Archiwum Borchéw 2 Warklan.) Beschreibung der
früher in Warklany (Polnisch-Livland), jetzt. im Ossolinskischen
Institut in Lemberg aufbewahrten und hauptsächlich aus dem
XVIII. Jahrh. stammenden archivalischen Sammlung der Familie
319
Borh. — Ajzen, M., Das Szczuczyn’er Archiv der fürstlichen
Familie Drucki-Lubecki. (Archiwum szczuczyhskie książąt Druckich-
Lubeckich.) Beschreibung der Bestände der srchivalischen Sammlung
der Fürsten Drucki-Lubecki, welche früher in Szczuczyn in Litauen
war, jetzt aber im Czartoryskischen Museum in Krakau aufbewahrt
wird; den wichtigsten Teil dieser Sammlung bilden die Papiere des
Fürsten Xaver Lubeck, welcher mehrere Jahre Finanzminister in
Regierung Kongreßpolens war. — Lopacifiski, V., Ober un-
garische Archive. (Archiwa wegierskie.) Kurze Beschreibung der
5 der Archive in Ungarn und des königl. ung. Staats-
archivs in Budapest. — Wdowiszewski, Z., Ober schweizerische
Archive. (Archiwa szwajcarskie.) Darstellung der Organisation der
Archive in der Schweiz) — Kolankowski, L., Aus dem
Königsberger Archiv. Polnische Korrespondenten des Herzogs
Albrecht 1525—1568. (Z Archiwum krölewieckiego. Polscy kores-
ndenci ks. Albrechta 1525—1568.) Bannan der Korrespondenz
erzog Albrechts von Preußen mit seinen Agenten und Konfidenten
sowie mit den bedeutenderen Personen in Polen und im
daran Aufstellung mancher Editionspostulate. — Warezak, J.
Tschechoslovakisches Staatsarchiv für Bodenkultur in Prag. (Czecho-
słowackie państwowe Archiwum rolnicze w Pradze.) Bericht über
Entstehung, Bestände und Wirksamkeit dieses Archivs. —
Konarski, K. und Iwaszkiewicz, J., Aus den Rappers-
wiler Sammlungen. (Ze zbiorów rapperswilskich.) Kritishe Be-
sprechung des von A. Lewak verfaßten Katalogs der Handschriften,
welche aus der ehemaligen Bibliothek in Rapperswil stammen, jetzt
aber in der Nationalbibliothek in Warschau sich befinden (Konarski)
und summarische Beschreibung dieser Handschriften auf Grund des
genannten Katalogs (Iwaszkiewicz). — Kaczmarczyk, K. Das
Pauliner-Archiv auf Jasna Góra in Tschenstochau. (Archiwum O. O.
Paulinów na Jasnej Górze w Częstochowie.) Geschichte und Be-
schreibung der Bestände dieses Archivdepots, worin neben dem
Archiv des berühmten Tschenstochauer Convents, Archive anderer
Inischer Paulinerklöster und der polnischen Paulinerprovinz ent-
Kalten snd. — Paczkowski, J., Eugen Casanova, sein Werk
und die Archive Italiens. (Eugenio Casanova, jego dzielo i archiwa
Italji.) Besprechung der Arbeit Casanovas, Direktors des Haupt-
archivs des Königreichs Italien in Rom u. d. T. Archivistica (Siena
1928) und im Anschluß daran Betrachtungen über den Zustand der
Staats- und Kirchen-Archive in Italien..— Offizieller Teil um-
faßt: 1. Bericht über die Wirksamkeit der Staatsarchivverwaltung
im Jahre 1929. 2. Bericht über die Wirksamkeit einzelner Staats-
archive im Jahre 1928 und 1929. 3. Auszeichnungen. 4. Personal-
angelegenheiten.
820
PRZEGLAD BIBLJOTECZNY
Wydawnictwo Zwigzku Bibljotekarzy Polskich.
Redaktor: Edward Kuntze. Rocznik I. II. — Kraków: Wydano
z zasilku Ministerstwa V. R. i. O. P. 1927, 1928. 8°.
Von
E. Koschmieder.
Die beiden ersten Jahrgänge einer polnischen bibliochekarischen Fachzeit-
schrift liegen abgeschlossen vor uns, die gegenüber den mehr bibliophil gerich-
teten Zeitschriften „Exlibris“ und „Silva rerum“ mit den rein bibliothekarischen
Fachorganen anderer Länder, wie dem „Zentralblatt für Bibliothekswesen“, dem
„Časopis československých knihovniki“, dem „Krasnyj Bibliotekat“ u. a. als
0 für die im „Związek Bibljotekarzy Polskich“ vertretene Gemeinschaft der
Bibliothekare ganz Polens in eine Reihe tritt. In ihrem Titel knüpft sie an
den „Przegląd Bibljoteczny an, der 1908—1911 vom „Towarzystwo Bibljo-
teki Publicznej w Warszawie“ herausgegeben wurde und dann einging. Neben
Artikeln über Bibliothekstechnik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen, über Ge-
schichte und Organisation besonders der wissenschaftlichen Bibliotheken, sowie
über Berufs- und Standesfragen der Bibliothekare sollen Arbeiten aus dem Ge-
biet der ar aaa Bücherkunde (mit Ausnahme der Technologie des modernen
Buches) Aufnahme finden. Rezensionen, Referate und Chroniken sollen laufend
aber das Bibliothekswesen und die diesbezüglichen Publikationen berichten sowie
die einschlägigen amtlichen Verfügungen der polnischen Behörden zur Kenntnis
bringen, und eine Bibliographie soll laufend alle polnischen Arbeiten über Biblio-
thekswesen, Bücherkunde, Bibliographie und Bibliophilie registrieren: — ein
Unternehmen, das von einem rüstigen Fortschreiten der Organisation der Wissen-
schaft in Polen zeugt und überall freudige Anerkennung finden wird.
Im Jahrgang 1927 behandelt Stefan Rygiel die Frage der Organisation der
obersten Bibliotheksbehörden, indem er zunächst den heutigen Stand der Dinge
in Polen charakterisiert, wo die Fachbehörde beim Ministerium lediglich in
bibliothekstechnischen Angelegenheiten eine entscheidende Stimme hat, während
Personal-, Finanz-, Bau- und Rechtsfragen von der Abteilung des höheren
Schulwesens auf Antrag der Bibliotheksdirektionen unter Vermittelung der Uni-
versitätsrektorate geregelt werden. Er zieht dann die ausländischen Verhältnisse
zum Vergleich heran und schlägt die Schaffung einer Generaldirektion der Biblio-
theken als Ministerialdepartement und eines Beirates vor; deren Kompetenzen
teils der französischen, teils der deutschen Organisation entnommen sind, und
die Universitätsbibliocheken der Selbstverwaltung der Universitäten zu entziehen
und diesen Fachbehörden zu unterstellen. — Im folgenden Artikel bespricht
Aleksander Birkenmajer die Frage der in Organisation befindlichen „Bibljoteka
Narodowa“ in Warschau, deren baldiges In-Funktion-Treten der 11000 rewindi-
zieren Handschriften, der Registration der Pflichtexemplare und der Rappers-
wilschen Bibliothek wegen dringend nötig ist. Birkenmajer erhebt u. a. die
Forderung einer sofortigen Festlegung ihres Programms im Anschluß an den
Meinungsaustausch hierüber im „Exlibris“ und in „Silva rerum“. Weiter emp-
fiehlt er, die Vorbereitungsarbeiten einer Person oder einem Komitee zu über-
tragen, und unverzüglich an die Katalogisierung der rewindizierten Handschriften
und Drucke und der sonstigen für die Bibliothek bereits bestimmten Samm-
lungen heranzugehen. — In einer höchst interessanten Arbeit läßt sich dann
321
Jan Muszkowski über das polnische Pflichtexemplar-Gesetz aus, das den
Verleger im allgemeinen mit einer Abgabe von 7 Exemplaren nichtperiodischer
Drucke und 9 Exemplaren von Zeitschriften über 4 Druckbogen belastet. In
minutiöser Analyse der polnischen Druckstatistik für 1926 wird mit einwand-
freier Methode nachgewiesen, daß der Erhalt der Pflichtexemplare kein Motiv
für Beschneidung der Bibliotheksetats abgeben darf, daß das Pflichtexemplar
nicht eine kostenlose Wohltat für alle Bibliotheken darstellt. Während die
„Bibljoteka Narodowa“ ohne Pflichtexemplar kaum denkbar ist, bedeutet es
für die Universitatsbibliotheken zu 50 Prozent einen unnötigen Ballast, und für
die im ganzen vom Staat aufgewandten Mittel in diesen Bibliotheken eine
Schädigung. Der Ankauf und die Verarbeitung der für die Universitäts-
bibliotheken wirklich begehrens werten Drucke in einem Exemplar hätte 1926 bei
großzügiger Anschaffung etwa 12 800 zł. gekostet, allein die Verarbeitung
aber des gesamten Pflichtexemplars aber 25300 zł. Muszkowski fordert die
einzelnen Bibliotheken zu genaueren Berechnungen auf, damit dann einem
Abänderungs vorschlag zum Pflichtexemplarges etz nähergetreten werden kann.
Eine Arbeit von Kazimierz Dobrowolski gilt schließlich der Bc-
schreibung und inhaltlichen Analyse einer im Britishen Museum unter Add. 38 603
aufbewahrten Hs., eines lateinishen Gebetbuches des Prinzen und nachmaligen Königs
von Polen Alexander vom Jahre 1491. — Die „Miscellanea“ bringen von Adam Bar
6 Seiten Beiträge zu einem Pseudonym- und Kryptonymenverzeichnis von Polen.
Von den Rezensionen sind etwa zu nennen Ad(am) B(ar) über Meier, A. V.:
Slovarnyj ukazatel’ po knigovedeniju. Leningr. 1924, von Z. Ciechanowska über
Hessel, Alfr.: Geschichte der Bibliotheken. Göttingen 1925, von Karol
Piotrowicz über Kuhnert, E.: Geschichte der Staats- und Universitäts-
bibliothek zu Königsberg. Leipzig 1926. — In der Zeitschriftenschau sind be-
sprochen: Przewodnik Bi 10 ve 1927, 1—9; Revue des bibliothèques 1927,
Nr. 1—9; Zentralblatt für Bibliothekswesen 1927, Heft 1/2; Revista de archivos,
bibliotecas y museos 1927, Nr. 1—6; Jahrbuch der deutschen Bibliotheken 1927.
— Die „Kronika“ gibt die Ministerislerlässe von 1927 über das Pflichtexemplar
und Berichte über die Jag. Biblioth. 1918—27, die Univ.-Bibliocheken von
Lemberg 1918—27, Posen, Lublin, die Bibl. des Ossolineum’s 1918—27, die
Zentral-Heeres-Bibliothek 1917—27, die Rapperswiler Bibliothek 1919—26 und iiber
einige kleinere Bibliotheken, Ausstellungen, den Bibliothekarskursus in Wilna, den
Gesamtzeitschriftenkatalog aller Institute der Universität Krakau, die Tätigkeit des
Poln. Bibliothekars-Verbandes u. a. m.
Im 2. Jahrgang unterzieht Marjan Lodynski das Problem der
Warschauer Nationalbibliochek und ihrer festzulegenden Aufgaben im Hinblick
auf die Tätigkeit der Jag. Bibliothek in Krakau einer erneuten Untersuchung,
wobei er wiederum die Forderung aufstellt, daß der Jag. Bibliothek ihre Stellung
als „Bibliotheca patria“ zu belassen sei, während die Warschauer als „Staats-
bibliothek“ mit ihrer Sammeltätigkeit in diesem Umkreis von 1918 einzusetzen
und eine Vollständigkeit für die zurückliegende Zeit nicht anzustreben hätte. —
Ein Aufsatz von M. Dzikowski beschäftigt sich mit der Definition des Be-
riffes Zeitschrift vom Standpunkte des Bibliothekars. Interessante Richtlinien
für die Berechnung bibliothekarischer Arbeitszeit gibt Adam Lysakowski. Unter
der Feder Ludwik Finkels ersteht vor uns in ca. 40 Seiten ein lebendiges
Bild der bibliothekarischen Tätigkeit Karol Szajnochas im Ossolineum, in
welchem reiches Brief- und Aktenmaterial, sowie die Tagebuchaufzeichnungen
Szajnochas über seine Arbeiten im Ossolineum besonders am Realkatalog aus-
enutzt werden. Über. die Beratungen . und Ergebnisse des Bibliothekars-
ongresses Pfingsten 1928 in Lemberg berichtet Aleksander Birken-
majer, wobei es sich um Themen handelt wie z. B.: Ausscheidung des „toten“
Buchmaterials in besonderen Bibliotheksarchiven, Realkatalog, Nationalbibliothek
in Warschau u. a. Die wichtigsten Aufgaben der polnischen Bibliographie setzt
Stefan Vrtel-Wierczynski auseinander. Zur Besprechung kommen
hier Fragen wie die Ergänzung und Neubearbeitung des Estreiher für das
19. Jahrhundert und seine Fortsetzung für das 20. Jahrhundert, die bereits vom
Tow. Naukowe Warszawskie unter der Leitung von St. Demby, Gabr. Korbut
und J. Muszkowski in Angriff genommen ist, — die Registrierung der laufen-
322
den Bücherproduktion Polens durch das Bibliographische Institut an der National-
bibliothek und die damit zusammenhängende Umgestaltung des Przewodnik
Bibljograficzny, — die Ergänzung und Neubearbeitung der Spezialbibliographien
wie Finkels „Bibljografja historji polskiej“, an der M. Handelsman im Gabinet
Nauk Historycznych des Tow. Nauk. Warsz. bereits arbeitet — wie Korbuts
„Literatura polska“ —, wofür Vrtel-Wierczynski an der Universität Lemberg
Materialien zusammengetragen hat, die durch andere Universitätsinstitute in
Arbeitsteilung zu vervollständigen wären — wie Gaweleks „Bibljografja
ludoznawstwa polskiego“, deren Fortsetzung J. Bystroń vorbereitet usw. — weiter
die laufende Woerialbio raphie in Zeitschriften und die Bibliographie der Zeit-
schriftenartikel sowie schließlich die Aufgaben des Bibliographischen Instituts an
der Nationalbibliothek. — Die historische Entwicklung der Gesetzgebung über
das öffentliche Bibliothekswesen aller zivilisierten Länder verfolgt Wanda
Dąbrowska. Schließlih gibt Jadwiga Bornsteinowa eine inter-
cssante Übersiht über die 451 wissenschaftlichen Bibliotheken Polens in
statistischer Beleuchtung, was die Zahl und Zusammensetzung der Bestände, die
geographische Verteilung in Polen, die Gründungsjahre u. a. anlangt, mit über-
sichtlichen Tabellen. Einige kürzere Artikel in den Miszellen, zahlreiche Rezen-
sionen, eine Zeitschriftenschau und eine Chronik aus dem Bibliotheksleben wie
im 1. Jahrgang geben ein beredtes Bild von der Rührigkeit der Bibliothekare
in Polen. Es tritt dem 1. Jahrgang gegenüber im 2. Jahrgang die sorgfältige
„Bibljografja bibljografji, bibljotekarstwa i bibljofilstwa“ Wislocki’s für 1928 (bis
September, im ersten Heft 1929 bis Dezember 1928, insgesamt 1530 Nummern)
mit eigener Paginierung und eigenem Titelblatt hinzu.
323
DREI POLNISCHE FESTSCHRIFTEN
Von
Dr. Otto Forst-Battaglia.
I.
Ksiega pamiatkowa ku uczczeniu trzydziestoletniej pracy naukowej
i nauczycielskiej Stanisława Dobrzyckiego. Wydali uczniowie,
koledzy, przyjaciele. Poznań 1928. Czcionkami drukarni Uni-
wersytetu Poznańskiego. 8°. XV und 408 Seiten.
Dem ehemaligen Professor der polnischen Literatur an der Universität zu
Freiburg in der Schweiz, dem nunmehrigen Vertreter dieses Faches an der Univer-
sität in Posen Stanisław Dobrzycki haben Freunde und Schüler zur Er-
innerung an das vollendete dritte Jahrzehnt wissenschaftlicher Arbeit eine statt-
liche Anzahl von Abhandlungen idmet. Es sind zumeist Beiträge zur pol-
nischen Literaturgeschichte, zur Philologie oder zur Methodik der Schrifttums-
forshung. Zwei Arbeiten betreffen die polnische Geschichte: eine ungemein
interessante, für die Haltung Napoleons gegenüber den Polen charakteristische
Mitteilung Prof. Adam Skatkowskis über die Audienz der Warschauer
Abordnung beim Franzosenkaiser vom 11. Dezember 1806 — wir lesen hier die
Aufzeichnungen des Führers dieser Delegation Feliks Lubiehski, die zwischen der
offiziellen Wortkargheit der amtlichen Kommunikate und der Lubiehskis Tage-
buch anvertrauten beredten Enttäuschung eine diplomatische Mitte bewahren —;
dann eine wertvolle Erörterung der Grundlagen ständischer Differenzierung im
mittelalterlichen Polen, bei der Prof. Kazimierz Tymieniecki die älteren
Ansichten von Piekosifski, BobrzyAski, Smolka, Balzer sowie die, teils zustimmend,
teils polemisch an den Autor der „Genealogja Piastów“ anknüpfenden jüngeren
Theorien von Semkowicz, Arnold und Bujak bespricht. Balzer hat bekanntlich
die Meinung Piekosinskis, der Adel sei durch den Einfall einer fremden Herren-
schichte entstanden, ebenso wie dessen Hypothese vom dynastischen Ursprung
der urpolnischen Adelsgeschlechter, verworfen und die Ständegliederung in der
älteren Zeit, bis etwa ins 18. Jahrh. auf die wirtschaftliche Ungleichheit zuriick-
geführt. Tymieniecki hat selbst in seinen Forschungen stets die entscheidende
Bedeutung des Besitzes, zumal des von Grund und Boden, für die soziale und
rechtliche Stellung betont, dabei jedoch den Widerspruch von Arnold gefunden.
Arnolds Hinweis auf die Rolle der Nützlichkeit für den Staat, durch den die
Rangordnung der Staatsangehörigen bestimmit worden sei (daher die Bevorzugung
der Kämpfer bzw. der fürstlichen Beamten), wird von Tymieniecki akzeptiert,
doch mit der Einschränkung, daß diese Verschiedenheit des Wertes für den Staat
durch die vorhergehende Verschiedenheit der Wirtschaftslage ermöglicht und ver-
ursacht worden sei. Der Gegensatz zwischen Tymienieki und Arnold kehrt in
der Ständegeschichtsforschung der. westlichen Länder wieder. Es handel: sich
darum, ob die wirtschaftliche Differenzierung‘ oder die politische das Primäre
waren, mit anderen Worten, ob man emporstieg, weil man reich war oder reich
wurde, weil man emporgestiegen ist. Der Streit ist fast so unlösbar wie der
über die Priorität von Ei oder Henne. Faktisch wird: man überall eine Ver-
mengung der beiden Elemente annehmen müssen. Allerdings spricht bei den
Indoeuropäischen Völkern, je weiter sie von der Mittelmeerkultur entfernt sind,
also bei Germanen, Slaven und Balten, und zumal bevor diese ihre Gesellschaft
den kirchlichen und antiken Einflüssen ausgesetzt sahen, ein dritter Faktor, den
weder Arnold noch Tymieniecki genug beachten, und der mit dem ursprüng-
324
EAN F N A
Re
lichen religiösen-weltanschaulichen Prinzipien der Arier zusammenhängt, erheb-
lich mit: da Blut. Damit aber hat Tymieniecki wieder recht, daß er eigentliche
ständische Differenzierung erst dann eintreten läßt, wo die Sippenverfassung
überwunden und durch die Zusammenfassung in Stämme und Staaten verdrängt
wird: denn Unterschiede kraft verschiedenen Bluts als Hauptmoment der Stände-
bildung können erst wirksam sein, wenn Nachkommen verschiedenen Bluts zu
einem Gemeinwesen gehören.
Zwei Beiträge beschäftigen sih mit allgemeinen Problemen der Literar-
geschichte. Eugenjusz Kucharski stellt zur Diskussion, inwieweit die
Komposition eines Dichtwerks zum Technischen und inwieweit sie zur Kunst
gehört. Die Grundauffassung des Autors, eine Dichtung sei nicht ein fertiges
und absolute Gültigkeit besitzendes Produkt, sondern sie sei nur ein Mittel ihres
Schöpfers, bei denen, die mit der Dichtung vertraut werden, von ihm beab-
zichtigte Eindrücke hervorzurufen; das Kunstwerk vollende sich also erst, und bei
jedem verschieden, im Empfänger, der es genießt: diese sehr geistreiche, aber
m. E. unhaltbare Konzeption bewirkt es, daß Kucharski die Form des Kunstwerks
als eine Art des Vorgehens hinstellt, durch die jene Eindrücke beim Empfänger
hervorgerufen werden sollen, nicht als etwas unverändert Gegebenes, der dichte-
rishen Schöpfung Inhärentes. Diese Form müsse ästhetisch danach bewertet, und
wissenschaftlich dahin untersucht werden, ob sie als Funktion ihren Zweck erfülle
(also geeignet sei, die beabsichtigten Eindrücke auszulösen) und mit welhem Auf-
wand an Energie sie erreicht worden sei. Die Komposition als Inbegriff der
Mittel die zur Schaffung der Form cines Kunstwerks verwendet wurden, ist
somit nicht Technik, sondern Kunst: ein integrierender Bestandteil des Komplexes,
der im Empfänger Eindrücke bewirken soll. Die Einwendung gegen diesen Stand-
punkt Kucharskis ist prinzipieller Art. Ich glaube nicht an die Irrealität des
Kunstwerks, das sich erst nachklingend in der Seele des Lesers, Zuhörers usw.
vollendet, bei jedem nach seiner Art; sondern ich unterscheide das Kunstwerk,
das einmal da ist, wie jeder historische, soziologishe usw. Fakt vom Eindruck,
den es nach der Absicht des Dichters erzielen sollte, und von den xEindrücken,
die es in der Folge bei anderen hervorbringt. Die Komposition ist, was der
Sprachgebrauch wie so oft nicht unterscheidet, eine doppelte: im subjektiven Sinn
das Bemühen des Autors den von ihm beabsichtigten Zweck, also Fertigstellung
des Werks, zu erreichen; im objektiven Sinn der Inbegriff der erkennbaren
Mittel, durch die das Werk aus den seelishen Regungen seines Schöpfers zum
objektiv vorhandenen Faktum geworden ist. Beide Mal unterliegt die Komposition
der ästhetischen, ethischen, soziologischen und noch mancher anderen Beurteilung;
und beide Mal sowohl als künstlerishe Leistung, die einen unverlierbaren Bc-
standteil des künstlerishen Ganzen einer Dichtung ausmacht, als auch für ihre
technische Vollkommenheit.
Stanisław Kolbuszewski drückt in einer kurzen französischen
Studie „Le poète et son oeuvre“ in subtiler Form seine feinsinnige Auffassung
des Wesens der dichterischen Schöpfung aus. Wie Gott in der Welt. wohnt der
Dichter: Schöpfer seines Werks, in seinem Werk. Als Mensch erhebt er sich nicht
zugleich über seine Kreaturen. Er gerät in Abhängigkeit von ihnen, kämpft mit
ihnen und wenn er nach vollbrachter Kreation zu sehen glaubt, daß sein Werk
nicht gut ist, dann beseitigt er die mißratene Kreatur, um neu, um Neues zu
schaffen. Befreit er sich ja, indem er seine eigenen Leiden und Freuden in seine
Gestalten bannt, vom lastenden Alpdruck der nach Manifestation drängenden
Ideen. Und, unvollkommener Schöp er, sterbliche Kreatur er selbst, !äßt er die
Ideen sterben, sobald sie sich von ihm getrennt, im Dichtwerk konkrete Gestalt
nme haben. Zu Kolbuszewskis sehr schönem Aufsatz wäre zu bemerken,
hier die Psychoanalyse wirklich wichtige Ergänzungen zu bieten vermédhtc.
Die Dichtung ist ja Abreaktion eines überwertigen Komplexes; fruchtbar solange
dieser Komplex überwertig ist und erlahmend, wenn sich die Abreaktion voll-
zogen hat. Und noch eine bescheidene Notiz: linconscience heißt im Fran-
zösischen „die Gewissenlosigkeit“, dagegen „l'inconscient“ das Unbewufte. Ein
pore andere Versehen, die nicht so kraß sind, mögen bei dem durchaus annchm-
ren Französisch des Autors, hier übergangen werden.
325
Der Nichtpolnischen Literaturgeschichte gehören außer dem Artikel von
Alphonse Bronarski „Quelques réflexions sur la littérature frangaise (in
dem als Repräsentanten des französischen Schrifttums die „Chanson de Roland“,
Moliére und Victor Hugo bezeichnet werden, während der Autor weder Bossuet
noch Chateaubriand, weder Lafontaine noch .Voltaire erwähnt, die doch ebenso
gut als die größten oder als die am meisten typischen Vertreter der französischen
Literatur erscheinen) drei Studien über die Siidslaven, eine zur éechischen und
eine zur litauischen Literatur an. Zofja Kawecka vergleicht die historische
Gestalt des Marko Mrnjavéevic mit dem Kraljević Marko der jugoslavischen
Volkspoesie. Zdenka Marković, eine Kroatin, die in Posen bei Dobrzycki
studiert und eine bedeutende Arbeit über Wyspiahski geschrieben hat, schildert
den Geist der südslavischen Literatur unter stetem Vergleich mit der polnischen,
wobei die zutreffende und naheliegende Parallele zwischen dem Kosovo-Motiv
und dem Messianismus gezogen und damit der romantische Charakter auch des
Jugosla vicien Schrifttums erhärtet wird. Edward Klich bietet eine polnische
Übertragung des kroatischen Heldensangs „Prokleti Duka Setkovié“, die reich an
poetischen Qualitäten ist. W. M. Kozłowski widmet dem éechischen Dichter
und Publizisten František Kvapil (1855—1925) Worte freundschaftlichen Gedenkens
und eine ansprechende Biographie dieses um die polnische Literatur bei den
Gechen sehr verdienten Obersetzers.
Nicht ohne Befremden habe ich den Aufsatz des ausgezeichneten Philologen
Mikołaj Rudnicki über Litauen, Land und Geschichte gelesen. Wem soll
diese flüchtige in billige Aktualität mündende Überschau der litauischen Geschichte
etwas bieten? Wen die ebenso flüchtige Skizze der litauischen Literatur belehren?
Unter den zitierten Namen fehlen Männer wie Guzutis, Kudirka Maironis,
Vidunas, Sophie Ciurlionis. Was aber berichtet wird, findet sich beinahe in jeder
populären Enzyklopädie. Dieses Thema ist, so will mir scheinen, von Nowaczyński
in seinem geistvollen Feuilleton in den „Wiadomości Literackie“ besser behandelt
worden, als hier in der einem Gelehrten von einem anderen Gelehrten zugeeig-
neten Abhandlung.
Die noch verbleibenden 24 Aufsätze, zwei Drittel der Gesamtzahl, schlagen
in Dobrzyckis engeres Fah. Bronisław Gladysz zeigt, daß die polnishen
Hymnologen des Mittelalters ihr Latein nicht besser und nicht schlechter hand-
habten als ihre Zeitgenossen im Westen. Der interessanteren Frage nach den
Polonismen in diesem Zweig der polono-lateinischen Literatur ist der Autor nicht
nachgegangen. Szczęsny Dettloffs kunsthistorische Miszelle über das
Mausoleum des Hl. Adalbert im Dom zu Gnesen, ein Werk des Hans Brandt,
berührt sich insofern mit der Literaturgeschichte als wir da ein wichtiges Zeugnis
für das Vordringen allgemeiner Renaissancekultur nach Polen in jener Epoche
(1476/1480) erhalten. Jacques Langlade endet „Quelques observations sur
la mythologie dans les Pieśni‘: de Kochanowski“ mit diesem Urteil: Kochanowski,
quand il composait les PieSni a pris à l'égard des mythes une attitude définie
et originale. Il a renoncé presque complètement A l’erudition et à cette mytho-
logie qu'on peut appeler „de style“... Il a recherché avant tout la clarté er la
simplicité, faisant preuve ainsi d'un rare bon goût... Il se montre vraiment
humaniste, vraiment classique, disciple, non point servile mais intelligent et fin,
des maitres antiques.“ Die echte Menschlichkeit, den poetischen Realismus und
immerhin die Beschränkung dieses Meisters, der in manchem doch nur Schüler
war, tritt auh in Marian Doermanns zartfühlender Studie über die Liebes-
lyrik Kochanowskis hervor.
Bolestaw Erzepki leugnet mit großer Suada die Autorschaft Kocha-
nowskis bei dem „Carmen Macaronicum de Eligendo Vitae Genere“, das im
Jahre 1580 zuerst mit anderen Schriften des Dichters im Nachlaß durch Jan
Januszowski, den Freund des Fürsten der polnischen Poeten, herausgegeben
worden war. Wir sind Erzepki für die neue Ausgabe des lustigen Spottgedichts
dankbar und erfahren gerne die auffallenden Obereinstimmungen mit cinem 1587
veröffentlichten Poem des Klonowicz. Allein von des Zweitgenannten Autor-
schaft beim „Carmen Macaronicum“ vermag ich mich nicht zu überzeugen. Die
Entlehnung der in der Tat durch bloßen Zufall nicht erklärbaren Wendungen,
326
die Erzepki S. 888 abdruckt, läßt sich durch die Möglichkeit deuten, Klonowicz
habe in eine Kopie des Kochanowskischen Gedichts vor deren Publikation Ein-
sicht genommen. Roman Pollak beschreibt ein Manuskript des ,,Gofred“ Piotr
Kochanowskis in der Bibliothek der Grafen Baworowski (N. 788), das offenbar
in usum delphini eines polnischen Magnatenhauses angefertigt worden ist und
die heiklen Stellen des umbearbeiteten Tasso noch einmal umbearbeitet hat.
Dem polnischen La Rochefoucauld und La Bruyére, Andrzej Maksymiljan
Fredro, gilt die vortreftliche Charakteristik durch Ludwig Kos is ki.
ist durchaus zutreffend, wenn die Sprache des Autors der „Przyslowia“ als die
beste, wenn auch wenig farbige und plastische, so zum mindesten reine und
würdige Prosa des 17. Jahrh. gerühmt wird, wenn Kosiński danach mit einer
Fedro geziemenden weisen Bescheidenheit, diesen als Schriftsteller mittleren
Ranges bezeichnet, aber als Menschen, als weiterfahrenen Denker sehr hoch stellt.
Die Arbeit Waclaw Kosihskis über den Barokk-Prediger Tomasz Mlodzianowski als
Feind des weiblichen Kleiderluxus ist kulturhistorisch von Belang, nicht wegen
der kaum vorhandenen Bedeutung des Eifernden, sondern als Beweis, wie manches,
das als zeitgebunden sich ansieht, zeitlos ist wie die menschlihe Dummheit.
Mutatis non mutandis könnten die Philippiken des wenig demosthenischen Redners
noch heute von der Kanzel klingen.
Durch den Aufsatz von Jan Sajdak lernen wir Franciszek Zablocki, den
Komödiendichter, in seinem verheißungsvollen Anfängen als Übersetzer Horazens
näher kennen und schätzen.
Mehrere Artikel handeln von Mickiewicz. Während Wilhelm Bruch-
nalski als Resultat einer nicht sehr fruchtbaren Untersuchung behauptet, daß
im „Wallenrod“ das Morgenlied auf Anklänge an „Romeo und Julia‘ zurückgehe
und wir, abgesehen von der Frage, was damit gewonnen sei, nach wie vor uns
damit begnügen werden, ein seit dem Mittelalter allbekanntes Motiv, das eben
auch bei Shakespeare wiederkehrt, im „Wallenrod“ anzutreffen; während Wiktor
Steffen die klassischen Einflüsse auf die Erzählung des Wajdelota in Inhalt und
Form aufzeigt, und damit die „Wplywologen“ auf ihre Rechnung kommen, sind
drei Versuche über die „Dziady“ von größerem Format. Juljusz Kleiner
preist die harmonische Architektur der Dresdener „Dziady“, die er regelmäßig
aufgebaut, um drei Personen konstruiert, in dreimal drei Szenen nach dem Prolog
gegliedert als die Frucht einer zweckbewußten Komposition betrachtet. Sehr
schön ist der Vergleich mit einer gothischen Kathedrale, deren drei Pfeiler Konrad,
Peter und der Senator sind. Henryk Zyczhski findet auch in den Wilnaer
„Dziady“ klassizistisdie Kompositionselemente wieder. Er weiß uns glaubhaft
darzutun, daß sich die Handlung des Dramas in 24 Stunden und mit relativer
Einheit des Orts abspielen sollte. Die Vermutung, der fehlende, verloren ge-
gangene oder nie geschriebene Teil (der ursprüngliche dritte) habe im Hause der
Putkamer eweg ist als Gewißheit zu nehmen. Dagegen scheint mir aus
sychologischen Gründen, trotz aller Tintenströme, mit denen man das zu wider-
Wii getrachtet hat, die Existenz dieses dritten Teils und seine spätere Ver-
nichtung wahrscheinlich. (Wie ja auch Gleiches für die Fortsetzung des „Pan
Tadeusz nunmehr einwandfrei bekundet ist). Mickiewicz war ebenso rasch bereit,
nennen wir das Kind beim rechten Namen, poetische Indiskretionen, „Indeli-
catesses zu begehen, als auch sie durch Zerstörung von Manuskripten radikal zu
beseitigen. Was dann Zyczynski über die Verknüpfung der Wilnaer mit den
Dresdener ,,Dziady“ sagt, trifft wieder ohne Zweifel das Richtige. Gustav, das
Gespenst, hat nach seinem Gastspiel bei versammelter Volksgemeinde und im
Schloß der ungetreuen Geliebten, sich zehn Jahre später in den lebenden Konrad
verwandelt, und war also kein richtiges Gespenst, nur eine in des Wortes un-
mittelbarem Verstand „irrende“ Seele gewesen, die vom Körper getrennt, durchs
Land und zwei vollständige Teile der „Dziady“ schweifte. Beide, Gustav und
Konrad, beide, die Wilnaer und die Dresdener Tragödie, verknüpft die gemein-
same Grundidee, daß zwischen Himmel und Erde es nicht nur mehr Dinge sondern
auch engere Bande gibt, als der Menschengeist wähnt. Diese Grundidee hat
Mickiewicz selbst klar formuliert (in einer Vorrede zur französischen Übertragung
der ,,Dziady"), Piotr Grebiennikow aber hält es mit den Examinatoren
827
in Egon Friedells „Goethe“, die den Weimarer Dichterfiirsten bei der Matura
durchfallen lassen, weil er über sich selbst falsche Ansichten äußert. Ach, mit
dem die Welt der Geister mit der des Körperlichen verkniipfenden als des roten
Faden des „Dziady“ ist es nichts, sondern das L: 'tmotiv haben wir in der Ver-
herrlichung des seelischen Leidens, also in einem auf das für Millionen leidende
Ich des Poeten lokalisierten Messianismus zu erblicken: eines messianischen Leidens,
das den Messias reinigt und adelt, weil es ihn der Ichsucht entkleidet und —
razem, razem, młodzi przyjaciele — ganz dem Dienst der Gemeinschaft weiht.
In diesem Sinn hat Grebiennikow das „missing link“ der ,,Dziady“ entdeckt: in
einem zwar ungeschriebenen, doch darum nicht verlorenen fünften Teil, der da
heißt: Adam Mickie wiczs Leben in der und für die Emigration... Sehr poetisch
und erhebend, allein wir ziehen es vor, uns an die Vorte des Dichters zu halten,
natürlich auch nur mit der Einschränkung, daß Mickiewicz, da er den Dresdener
„Dritten Teil“ schrieb, seiner Absicht nach die durch das beherrschende Motiv
des Glaubens an die Verschwisterung von Diesseitigem und Jenseitigem des
Wilnaer Jugendwerks schaffen wollte und nicht etwa in der rzeugung, es
hätten bereits dem jungen Poeten die späteren Gestaltungen seines ursprünglich
nur als Schmerzenschrei des verratenen Liebenden gedachten Ich-Dramas vor-
geschwebt.
Witold Klinger hat eine Aumerkung Mickiewiczs über den arabischen
Poeten Almotenabby entdeckt und vermutet, daß Słowacki den Ausdruck „skwierne
miaso“ im „Beniowski“ (VII 817) aus dem von Insurgenten gesungenen Lied
Tymko Padurras „Hej kozacze, w mis Boze“ entlehnt habe. Jöset Dziech
vergleicht den „Beduin“ des russischen Lyrikers Nadson mit Stowackis „Ojciec
zadzumionyh“. Józef Kallenbach druckt eine heißglühende Widmung
Zygmunt Krasihskis an Frau Bobrowa aus dem Jahre 1885 ab. Es ist ein wahres
einod polnischer romantischer Prosa, das Kallenbach da mit feinem Takt „statt
einer flüchtigen und fragmentarischen Abhandlung“ als Gabe darbot; ein Kleinod
der Prosa und ein kostbarer Baustein zu Krasihskis endlich die widerspruchs-
vollen Züge des genialen Mannes getreu darstellendem Denkmal. Ignacy
Chrzanowskis „Psychologische Genesis des Glaubens an Polens ristus-
tum“ hält nicht ganz, was der Titel verspricht. Es ist eine das Problem nur
streifende Skizze zur Kernfrage der Psychologie und Psychiatrie des polnischen
Nationalgeistes. Gewiß, aus den Thesen, Polen müsse, weil es sich für die hehre
Idee der Unabhängigkeit erhoben habe, allen Nationen zum Ideal werden, und
es sei, da es unterlag, ein Martyrer dieser Idee, hat sich die dritte ergeben: Polen
wird dereinst dennoch triumphieren und zwar, da der äußere Sieg ausblieb, nicht
trotz, sondern vermöge seines Untergangs. Und es kam dazu, wie Chrzanowski
richtig darlegt, daß die Polen wie jedermann, an ihre Demütigung nicht glauben,
also diese nicht als endgültig hinnehmen; daß sie ferner das Vertrauen auf die
Göttliche Gerechtigkeit nur durch die Hoffnung auf den künftigen Erfolg der
en Sache und inzwischen durch die Überzeugung vom erlösenden Opfer
r Leiden retten konnten. Indessen damit ist nur eine Deutung von Tat-
sachen gegeben, die der Autor nicht weiter untersucht: auf welchem Weg sind
diese Argumente zum Dogma der Emigration geworden. Fs ist die viel wichtigere
Seite des Problems, das nach der allgemeinen Seite hin mit dem des Messianismus
als einer der Begleiterscheinungen des Patriotismus zusammenfällt; es ist der Zu-
sammenhang mit der positiven, mit Namen zu bezeichnenden Tätigkeit cinzelner
Lehrer und die wiederum mit Namen zu nennenden Lehren, welche den latenten
Messianismus zu seiner historisch konkreten polnischen Form gebildet haben.
Ohne Martinismus und Towianismus kein Christustum Polens, aber auch ohne
die besondere Struktur der Seele polnischer Romantiker kein empfänglicher Boden
für diese Mystik. Da nun ist ein unbetretenes (oder erst von Boy durdi ogan
Land der Seele zu entdecken, an dessen Grenzen die Literarhistoriker die Taf
errichtet haben: „Hier Beschäftigten ist der Eintritt verboten.“ Das Problem
lautet in wissenschaftlich unbarmherziger Fassung: die Sexualpsyche der polnischen
un oder Abreaktion von Masochismus und Sadismus aufs politisch-religiöse
ebiet.
Jan Piechocki berührt, leider nur recht oberflächlich, das Problem der
durch Vergeistigung zu adelnden Arbeit in Norwids „Promethidion“ und das Ver-
328
hältnis der Ansichten dieses Poeten und sozialen Schwärmers zu den Lehren von
Fourier und Louis Blanc. Aus dem hübschen Beitrag Tadeusz Gra-
bowskis lernen wir Libelt als das Zentrum der Posener ligerarischen Bewegung
in den vierziger Jahren kennen: den Demokraten und Schüler der deutschen
Philosophen, den glühenden Patrioten und geschmackvollen Asthetiker.
Von Józef Morawskis Abhandlung „Polono-Romanica“, die eine Menge
von onomato-poetischem Material aus fast allen europäischen Sprachen zusammen-
stellt, und von Ignacy Steins ausführlich begründetem System der polnischen
Lautgruppicrung, endlich von Henryk Ulaszyns Notiz über das Sprichwort
„Jaka mać, taka nać“ muß ich mich beschränken, das Vorhandensein zu melden,
das Urteil aber kompetenten Philologen überlassen. Auf ein Urteil über Lud-
wik . Plaidoyer für eine streng nationale Erziehung aber verzichte
ich, weil mir Stoff, Form und Bewertung dieses Aufsatzes ganz aufs politische
Gebiet zu gehören scheinen.
II.
Księga pamiątkowa ku uczczeniu dwudziestopięcioletniej działalności
naukowej prof. Marcel Handelsmana. Wydana staraniem
uczniów. Warszawa. Nakład uczniów 1929. Gr. 8°. 511 Seiten.
Profesor Handelsman hat als Theoretiker und Organisator der Ge-
schichtswissenschaft seinen führenden Platz unter den Inischen Historikern
unserer Zeit. Er gehört außerdem zu den wenigen Fachgenossen, deren Blick
über den polnishen Gesichtskreis weit hinausragt und er hat als Lehrer die Gabe
besessen, hoffnungsvolle Schüler heranzubilden. In dieser Gabe zum 25. Jahr
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit überwiegt allerdings der Anteil des Lehrers, der
abte jüngere Kräfte für die von ihm besonders gepflegten Sondergebiete der
pe ischen chichte zu interessieren vermochte, gegenüber dem Anteil des bahn-
rechenden Theoretikers und des aufs Universale abzielenden Forschers, dem
offenbar die Werbung frischen Nachwuchses schwerer fällt. Von 27 Beiträgen
gelten drei, recht unbedeutende, methodischen Fragen, zwei der Zeit des Unter-
gangs der Antike, alle anderen der polnischen Geschichte; hier aber vorzüglich
dem Abschnitt seit Stanislaw August bis zum Jänneraufstand von 1868. Unter
den Beiträgen rühren einige von bereits anerkannten Forschern her, auf die
Handelsman allen Grund hat, stolz zu sein (Arnold, O. Battel, Wieckowska,
andere von jungen Gelchrten, die seit einigen: Jahren die Aufmerksamkeit auf sich
lenken wie R. Przelaskowski, manche Arbeiten überschreiten nicht das Niveau
anständiger Seminaraufsätze.
In ihrem Referat über die „Offentliche Meinung als Geschichtsquelle“ streift
Anna Minkowska das Thema zu flüchtig, um den richtigen Grundgedanken,
es sei die öffentliche Meinung von der Stimmung zu unterscheiden, fruchtbar aus-
zuwerten. Übrigens ist dieser Stoff inzwischen von Wilhelm Bauer in seinem Buch
über die öffentliche Meinung vorbildlich gestaltet und erörtert worden. Auch die
Bemerkungen von Hanna Pohoska zur Forschungsmethode der Geschichte der
staatsbürgerlichen Idee in der Erziehung bringen nichts Neues. Tadeusz Man-
teuffel beschränkt sich darauf, Bekanntes über den Begriff und die Art der
Grenzen unter dem irreführenden Titel „Die Methode der Grenzbezeichnung in
der historischen Geographie“ zu wiederholen.
Wenn Marjan Henryk Serejski, wieder unter einem etwas an-
E Titel, „Das Problem des Endes der antiken Welt“ sich fiir das
. und 6. Jahrhundert als Einschnitt zwischen Altertum und neuerer Zeit aus-
spricht und damit für eine Scheidung durch das, was wir in der historischen Geo-
graphie Grenzstreifen heißen, nicht etwa durch eine strikte Grenzlinie, hier durch
ein Jg wie das überlieferte 476, so vermag er uns nicht zu überzeugen. Zu
deutlich sind die Spuren des antiken Staates, der antiken Kultur, der antiken
Kunst und Denkensweise noch bis weit in die Karolingerzeit, als daß wir den
Einschnitt des 5./6. Jahrhunderts gar für die südlichen drei Mittelmeer-Halbinseln
annehmen könnten. Wir haben vielmehr — im Rahmen einer Rezension sind
329
natürlich diese Dinge nicht zu begründen — nach dem durch seine Zerreißung in
Einzelstaaten, einander prinzipiell als Feind gegenüberstehenden Nationen charak-
terisierten Altertum, das mit dem Römischen Weltreich endet, eine Periode der
europäischen Einheit, die — seit dem 4. Jahrhundert immer stärker erschüttert —
erst im 10. Jahrhundert endgültig dahinschwindet und der durch den erneuten
Zerfall in nationale Sondergebiete gekennzeichnete Neueren Zeit Platz macht.
Wanda Moszczenska handelt von den merovingischen Antrustionen.
Auf Grund sehr ungenügender Kenntnis der neuesten Literatur zur fränkischen
Verfassungsgeschichte. (Brunner ist in der ersten Auflage benutzt, Heusler,
Schröder, Dopsch, die 1 neueste deutsche und französische Literatur fehlen.)
Stanisław Arnold erörtert mit ganz anderem Rüstzeug ein ähnliches
ständegeschichtliches Problem der frühmittelalterlichen polnischen Geschichte: die
„ascripticii“. Das waren nach der älteren Meinung Unfreie und erst Grodecki,
Tymieniecki unterschieden sie als in ihrer Bewegungsfreiheit Beschränkte von den
eigentlichen Sklaven der früheren Epoche. Arnold definiert das näher als ehe-
malige Freie, die durch Tradition an die Kirche oder einen weltlichen Großgrund-
herren gelangt sind. Ohne Zweifel mit Recht. Die Analogie zu deutschen Ver-
hältnissen springt in die Augen. Überall in Europa, wo sich der freie Bauer vor
dem um sich greifenden Großbesitz nicht halten konnte, suchte er die Abhängig-
keit und damit die Möglichkeit zur wirtschaftlichen Existenz: auf dem damals
üblichen Weg der Übereignung an die Mächtigen und um den Preis einer formalen,
nun wertlos gewordenen Freiheit.
Ober die Gründung des regulierten Chorherrenstiftes in Czerwinsk
(Masovien) handelt Aleksy Bachuls k i. Die Fundationsurkunde ist nicht er-
halten, das je 1055, Cé e von einer späten Quelle für die Gründung an-
gegeben wird, ist falsch. Bachulski erschließt durch vergleichende Nebeneinander-
stellung von an sich verbürgten Daten die Zeit von etwa 1140 und als Stifter
den Bischof Alexander von Plock, die Herzöge Boleslaw Krzywousty, Boleslaw
Kedzierzawy und Heinrich von Sandomierz. Eine Übersicht der ursprünglichen
Besitzungen des Stiftes schließt die kleine Studie, die ein Kapitel aus einem um-
fassenderen Werk über Czerwinsk darstellt.
Franciszek SkibiAskis Abhandlung über den polnischen Salzhandel
im frühen Mittelalter zeigt die beherrschende Wichtigkeit der reussischen Salinen
für den polnischen Markt, die relativ geringe Produktion der später so geschätzten
kleinpolnischen Salzbergwerke. Von weitergehenderen Betrachtungen, etwa über
die Bedeutung dieser Tatsachen als Motive für die polnische Expansion nach dem
Osten, hat der Autor abgesehen. Als Material dienten ihm die bekannten Ur-
kundensammlungen. Józef Kwapiszewski berührt auf ähnliche Weise ein
anderes Thema altpolnischer Wirtschaftsgeschichte: das Imkerwesen und die diesen
obliegenden Abgaben.
Die bisher erwähnten Beiträge überragt eine anregende Studie Oskar
Bartels über die dogmatischen Kämpfe um die Deutung der Lehre von der
Dreifaltigkeit. In den Jahren 1559—1562 haben Nestorianer, Socinianer, ortho-
doxe Kalvinisten, Schwarmgeister, die den Weg zum Antitrinitariertum oder zum
Tritheismus wandelten, einander in Polen erbitterte Schlachten geliefert. Auf
Synoden und von den Kanzeln herab. Es waren zumeist Italiener, wie Stankar,
die sich auf fremdem Boden herumzankten.
Die Protokolle der Kommission von 1674, die ursprünglich den gesamten
Komplex der nach dem befristeten Frieden (Waffenstillstand) von 1667 unent-
schiedenen Fragen zwischen Rußland und Polen erörtern sollte, aber durch die
türkische Offensive ihre Verhandlungen auf die Waffenhilfe der beiden christlichen
Staaten gegen den Halbmond einschränkte, sind das Substrat einer Arbeit von
Janusz Woliński, der die weiteren Perspektiven fehlen, um hinter der er:
schlagenen Hinterlist der Moskowiter einen sehr vernünftigen Kerngedanken zu
entdecken: daß Rußlands Interesse gebot, Polen nicht zu stärken.
Arnold Kirszbraun gedenkt der Wirksamkeit Stanislaw Leszczynskis
in Lothringen, speziell der Errichtung der noch heute bestehenden ,,Académie de
Stanislas“ und der Stadtbibliothek (Bibliothèque Publique) zu Nancy. Die recht
unbescheidene Anmerkung des Autors, er habe sich fast ganz auf die handschrift-
330
lichen Quellen stützen müssen, denn die Literatur habe ihm nur unwesentliche
Dienste geleistet, beweist mir vor allem, daß Kirszbraun die grundlegenden Publi-
kationen der „Mémoires de la Société Royale de Nancy“ und der „Mémoires de
Académie de Stanislas“, sowie die Veröffentlichungen der „Société de l’Arch£-
ologie Lorraine“ nicht benutzte. Dort hätta er gefunden, was er vermißte, z. B.
die Gründungsgeschichte der Académie des Sciences et Belles Lettres im Jahr-
gang 1754 der „Mémoires“ dieser Akademie, ferner eine Studie von Druon
„Stanislas et la Société royale des Sciences et Belles-Lettres“ (Mémoires de
l’Académie de Stanislas 1892). Von Pierre Boyé gibt es eine Menge kleinerer
Arbeiten über LeszczyAski, in denen manche einschlägige Notiz vorhanden ist.
Auch die Memoirenliteratur und der Briefwechsel der Zeit ergäben Ausbeute.
Jedenfalls sollten junge Historiker mit dem Aburteilen vorsichtiger verfahren, als
es Kirszbraun tat.
Was Jan Giergielewicz über das Ingenieurkorps und die kriegstech-
nische Literatur unter Stanislaw August mitteilt, hat den Vorzug, sich durchaus
auf Akten aufzubauen. Er erschöpft freilich nicht den Stoff. Neben den Daten
über Entstehung und Organisation der staatlichen Ingenieurschulen wäre die
ceded era Literatur weit ausführlicher zu untersuchen und anzuführen als es
geschah. Vom Einfluß der zahlreichen fremden Fachleute, die in Polen damals
„gastierten“ bis zu Warneri, dem Korrespondenten und Freund der Czartoryski,
hätten wir gerne einiges vernommen.
Für seinen „Streit um die Vereidigung des Heeres im Jahre 1775/1776" be-
nutzt Jan Bilek als Unterlagen das bekannte Manuskript „Entretiens du Roi
avec Stackelberg“ aus dem Krakauer Archiv der Akademie der Wissenschaften
(Nr. 1649), dann die Protokolle der Rada Nieustajgca im Warschauer Archiwum
Glówne und die dort befindlichen Protokolle der Kriegskommission. Es handelte
sich um den Konflikt zwischen Stanislaw August und Branicki (dem Mann der
„Targowica“), wer durch die Eidesformel als tatsächlicher Befehlshaber der polni-
schen Wehrmacht anzusehen sei. Dieser Konflikt war nur eine Episode des damals
heftigen Ringens der Magnaten mit dem Herrscher, den Stackelberg gegenüber
dem russischen Gönner der Branicki, Czartoryskı und Potocki, gegenüber
Potemkin stützte. In meinem Buch über Stanislaw August habe ich diese Dinge
kurz berührt. Bilek übersicht die Rolle, welche auch österreichische und
preußische Einflüsse in dieser sehr wichtigen Frage spielten. Das Thema ist ohne
die Bezugnahme auf die preußischen Gesandtschaftsberichte (wenigstens soweit sie
in der „Politischen Correspondenz Friedrichs des Großen“ vorliegen), ohne die
Wiener Akten nicht befriedigend zu erörtern. Ich habe mir seinerzeit audı aus
dem Pariser Archives du Ministére des Affaires Etrangéres sehr merkwürdige Auf-
schlüsse geholt. Bilek bereichert unsere Kenntnisse nur durch ein paar Notizen
aus den schon erwähnten polnischen Archivalien.
Die Zusammenstellung Jan Nieczuja-Urbahkıs über Freimaurer-
logen auf polnischem Gebiet im 18. Jahrhundert wird man jetzt mit der aus-
gezeichneten Publikation von Stanislaw Malachowski-Lempicki, des besten Kenners
der Materie vergleichen müssen („Wykaz polskich lóż wolnomularskich“, Kraków
1929), um die Angaben des verstorbenen Autors zu kontrollieren und zu er-
ganzen. Allerdings bietet auch Nieczuja-Urbahski ein per Nachträge zu der
gleichzeitig mit seinem Artikel erschienenen Schrift Malachowskis.
Wanda Nagérska-Rudzka haben wir bereits im Przeglad Histo-
ryczny mit zwei Kapiteln ihres Buches über die polnischen Unabhängigkeits-
bestrebungen in der Zeit zwischen dem russischen Feldzug Napoleons und dem
Ende des Wiener Kongresses kennengelernt. Der in der Festschrift für Handels-
man veröffentlichte Abshaitt berichtet von den diplomatischen Schritten polni-
scher Aristokraten wie Adam Czartoryski d. J. und Antoni Radziwill, durch
ihre höfischen Verbindungen für Polen zu retten, was zu retten war. Das archi-
vale Material, in erster Linie aus dem Czartoryski-Archiv, gestattete der Ver-
fasserin ein vollständiges Bild der Tätigkeit beider Fürsten zu entwerfen. Dieses
Bild bleibt freilich einseitig, da es nicht durch eine Schilderung der Gegen-
strömungen ergänzt wird, denen die Polen zu begegnen hatten. Eine derartige Er-
weiterung ihrer Aufgabe hätte wohl von Frau Nagörska-Rudzka zuviel, nämli
22 NF 6 331
die Vertiefung in die Literatur und in die über ein Dutzend Archive verstreuten
Akten zur Polenfrage während der Jahre 1818—1815 gefordert.
Als die Perle des Sammelbandes erscheint mir Ryszard Prze-
laskowskis Bericht über den Stand der Forschung zur Geschichte von
Kongreß - Polen unter konstitutionellem Regime (1815—1830). Klug und maßvoll
bewertet der Autor die bisherigen Darstellungen der Gesamtgeschichte dieses Zeit-
raumes und ihre Ergebnisse. Er läßt seine Bibliographie raisonnée in eine sehr
raisonnable Übersicht der nächsten Forschungsziele ausklingen, die auf noch
klaffende Lücken, zumal auf dem Gebiete der Kirchengeschichte jener Epoche
hindeutet. Zwei Stellen der Umschau befriedigen nicht ganz: die über literar-
geschichtliches (wo noch manche wesentliche Arbeit zu erwähnen wäre) und die
über nichtpolnische Werke, von denen Przelaskowski nur ein paar russische Mono-
graphien nennt. Bücher wie Theodor Schiemanns „Nikolaus I.“ wären doch zu
verzeichnen gewesen.
Wenn Stefanja Koelichendédwna ihre Abhandlung betitelt: „Reak-
tionäre Erscheinungen in der Tätigkeit der Gesellschaft für Elementarschulbücher“,
so ahnen wir schon, daß es den Obskuranten zuleibe gehen wird. Natürlich
steht auch schon in der zweiten Zeile, daß nach dem Scheiden des „verdienten“
Stanislaw Potocki (des Großmeisters der Freimaurer und Autors der Reise nach
„Finsterburg“), mit dem Amtsantritt Grabowskis eine „Ara der schärfsten Reak-
tion“ begann, eine „Politik der Verfinsterung“. Als deren Symptome rechnet die
Verfasserin u. a. (S. 160), daß „auf Befehl der Gesellschaft in den Schulbibliocheken
sich die Werke des von unserer Reaktion bewunderten Bossuet, Chateaubriand
und Massillon befinden“, Bücher, die m. E. auch so aufgeklärte und freie Geister
wie unsere junge Freiheitskämpferin nicht ohne einigen Nutzen und ohne einiges
Vergnügen lesen könnten. Daß die Kommission eine diskutable, meinetwegen
undiskutable, aber immerhin bestehende Weltanschauung und eine mit ihr ver-
knüpfte politische Konzeption einmal als Grundlage annehmend, folgerichtig und
richtig handelte, dafür fehlt der Autorin offenbar das Verständnis. So bleibt ihr
Artikel nur eine nützliche Aneinanderreihung von als vernichtend gemeinten und
dem objektiven Historiker nur als Tatsachen wertvollen Einzelfakten aus der
Tätigkeit der verschrienen Kommission.
Czesław Leśniewski hat es insofern besser, als er vom Tod des
Stanislaw Staszic berichten darf, eines der Helden der älteren und der neueren
polnischen Demokratie; eines Helden, den die Rechte als eifrigen Nationalen und
sowohl Deutschen- als Judenfeind, die Linke als Demokraten und Aufklärer
schätzt. Eines achtunggebietenden, wenn auch nicht zur in Polen üblichen Ver-
bronzung geeigneten Charakters, eines klugen Staatsmannes und großen Schrift-
stellers. Über dieses aus dem 18. Jahrhundert in die Zeit Kongreß-Polens hinein-
ragenden weltlichen Abbés letzte Jahre, Krankheit, Tod, Testament und Nachlaß
empfangen wir eine Menge archivalischer Nachrichten. Die Erzählung Lesniewskis
ist abgesehen von ihrem Wert für die Biographie Staszics auch reich an kultur-
historischen Einzelheiten, wie z. B. den Angaben über die Kosten der ärztlichen
Behandlung. Was mit dem stattlichen Nachlaß des Mannes, der mit in Polen
seltener, eiserner Konsequenz sich ein Vermögen von eineinhalb Millionen Gulden
5 erspart und erhalten hat, später geschah, nachdem es zunächst einer
Stiftung zugewiesen worden war, das gehört in ein anderes Kapitel, über das wir
in der Staszic-Festschrift (vgl. dieses Jb. N. F. 4 ff.) genug lesen können.
Galt das Vermächtnis des „Vaters der polnischen Demokratie“ vor allem der
Landwirtschaft, so trachtete auch das Projekt einer landwirtschaftlichen Kredit-
genossenschaft, das im Frühjahr 1830 von litauischen Großgrundbesitzern aus-
gearbeitet wurde und das in einer Skizze von Halina Mrozowska analysıert
wird, der Hebung des Wohlstandes bei der Szlachta und mittelbar bei den Bauern.
Die angebahnte Entschuldung der Güter hätte sich auch als politisches Instrument
erwiesen. Einer Verwirklichung dieses Planes und einer sich mit ihm begegnenden
Initiative des Großfürsten-Statthalters Konstantin stand die alsbald ausgebrochene
Erhebung Polens entgegen. Die hier geschilderte Episode zeigt den Bruder Niko-
laus’ I. wieder in seiner bekannten und verkannten Sympathie für die Polen, die
ihn bekämpfen und die er bekämpfen mußte.
332
— — we
Mit den kriegerischen Ereignissen des Jahres 1880 beschäftigen sich die Bei-
E von Helena Więckowska, und Oppman, Stanisław Płoski. Die nun nach
Polen heimgebrachten Archivalien des ehemaligen Polenmuseums in Rapperswil
enthalten, wie uns Helene Więckowska mitteilt, sehr viel zumeist aus Privat-
besitz von Emigrierten stammendes Material zur Geschichte der Novemberrevo-
lution und des ihr folgenden Feldzugs. Denkwürdigkeiten wie die des General
Samuel Rózycki, des Obersten Łagowski, des Präsidenten der Wojewodschafts-
Kommission Sandomierz Teofil Januszewicz, von zwei Frauen: Benigna Mala-
chowska, Kunegunda Biallopiotrowiczowa und vieler anderer Teilnehmer; Brief-
sammlungen und Personalakten hervorragender Offiziere und Politiker; Akten
von Gese ten der polnischen Emigration und des Polnisch-Französischen, von
Lafayette präsidierten Komitee; der gesamte Nachlaß des in Paris einflußreichen
Publizisten und Schriftstellers Ch o; Akten der Polnischen Gesandtschaft in
Frankreich (1881/1888). Der von Adam Lewak, dem aus der Schweiz nach Polen
mitgekommenen Hüter und vorzüglichen Kenner der Rapperswiler Schätze in An-
grift genommene und zum Teil schon veröffentlichte Katalog wird erst den ganzen
Reichtum der im einstigen Polenmuseum zusammengetragenen Archivalien der
Forschung erschließen.
Ohne deren Verwertung, doch auf Grund der sehr reichen gedruckten Denk-
würdigkeiten, von Zeitungsnachrichten, Broschüren und der beim Warschauer
Towarzystwo Naukowe verwahrten Papiere des Generals Krukowieki weiß
Edmund Oppman ein fesselndes und erschütterndes Gemälde des Partei-
haders während der letzten Zeiten des erliegenden Aufstandes zu geben. Man
glaubt die Prosaerzählung eines Wyspiahskischen Dramas zu lesen, blickt man auf
die Darstellung der revolutionären Zuckungen Warschaus im Angesicht der Kata-
strophe. Wie sich die blutigen Akte des Terrors von 1794 wiederholten und
Krukowiecki in der Hauptstadt die Rolle Kollztajs spielte: die Geister des roten
Schreckens heraufbeschwörend und jederzeit bereit, diese, sei es, sobald er an der
Macht war, sei es, sobald andere des Schreckens Herr wurden, zu verleugnen.
Oppmans lebendige Schilderung umspannt die zwei Monate von Mitte Juni bis
Mitte August 1881. Über diesen Zeitpunkt hinaus greifen die lesenswerten Seiten,
auf denen Stanisław Płoski von der militärischen und politischen Laufbahn
des später zu noch a zu tragischer Berühmtheit gelangten Józef Zaliwski
erzählt. Reichliche Fundierung auf den Warschauer Akten ermöglichte Ploski die
Wirksamkeit seines Helden genau zu verfolgen. Zaliwski, seit Jahren einer der
litischen Matadore des Offizierkorps, ein Virrkopf mit unverdauten demo-
ratischen Ideen, wird in den ersten Tagen der Revolution wegen aufdringlicher
Selbstreklame verhaftet, freigelassen, mit einer geglückten Mission zu besonderen
Zwecken, also mit ee betraut. Er versucht vergeblih, das Kommando
einer Freischar zu erhalten, wird aber schließlich doch zum Befehlshaber einer
Partisantenabteilung ernannt, mit der er die Russen im Gebiet längst der ost-
preußischen Grenze bekriegt. Für seine Tüchtigkeit zum Oberstleutnant befördert,
wurde er indessen des Krieges im offenen Felde überdrüssig und er trachtete aufs
Schlachtfeld der Parteien zurückzukehren. Beschuldigte Skrzynecki des Hoch-
verrats, knüpfte mit Mochnacki und den Linksradikalen an, trotzte den Generalen
ins Antlitz, wiegelte das Volk auf und schickte sich an, in der Hauptstadt die
Diktatur zu übernehmen. Diese politischen Heldentaten wurden durch recht
problematische militärische Unternehmungen abgelöst, bei denen Zaliwski regel-
mäßig im kritischen Moment fehlte. Nach dem Fall Warschaus geriet er in
russische Gefangenschaft, aus der ihn ein Zufall rettete. Ploski verläßt den un-
sympathischen Freiheitsmann im Augenblik, wo Zaliwski mit erbetteltem Geld
aus Galizien über Deutschland sich nach Frankreich begibt, das er später wieder ver-
ließ, um den unseligen Streifzug zu leiten, der seinem Namen zu trauriger
Notorietät verholfen hat.
Ein ganz anderer Mensch und ein ganzer Mann war der Priester Piotr
Senay kein Szlachcic mit ochlokratischen Gelüsten, sondern ein Bauernsohn
mit glühender Liebe zu seinem unterdrückten Volk, ein polnischer Lamennais
ohne die dichterische Genialität seines französischen Vorbilds. Scigienny, den die
polnischen Sozialisten für sich als cinen ihrer Ahnen reklamieren, predigte den
333
Bauern die Solidarität aller Arbeitenden gegenüber den besitzenden Klassen der
Unterdrücker. Er verquickte nationale, religiöse und soziale Beschwerden. Den
Ausbruch einer bewaffneten, allerdings auch so zum raschen Scheitern verdammten
Erhebung Scigiennys und seiner Anhänger, verhinderte der Verrat eines Bauern.
Scigiennys wurde verhaftet, zum Verlust der Priesterwürde verurteilt (wofür die
nach dem Muster des „Goldenen Ukaz“ von Melchizedek Javorskij abgefaßte
angebliche Papstbulle gegen Russen und Herren den Anlaß bot). Fünfundvierzig-
jährig mußte er den Weg nach Sibirien antreten. Ungebrochen an Geist und
Körper kehrte er im Alter von 71 Jahren wieder nach Polen zurück. Der Vier-
undachtzigjährige durfte wieder seinen priesterlichen Funktionen nachgehen und
er übte noch sechs Jahre das Amt eines Spitalgeistlichen aus. Neunzigjährig ist
Scigienny 1890 gestorben. In völliger apostolischer Armut und noch bei Lebzeiten
von der Gloriole des Heiligen umstrahlt. Z of ja Balicka hat dieses Merk-
würdigen Lebensschicksal zum Gegenstand ihrer Doktorarbeit gewählt und aus
dieser einen Extrakt in der Festschrift für Handelsman abgedruckt. Wir hegen
den aufrichtigen Wunsch, die Biographie Scigiennys ungekürzt nochmals zu emp-
fangen. Vielleicht läßt sie sich durch Materialien über dessen Aufenthalt in Sibirien
ergänzen.
Wieder einen anderen Typus des polnischen „Aufrührers“ verkörpert der
unglückliche Diktator von 1868, Romuald Traugutt. Wir besitzen seine Bio-
graphie aus der Feder des unlängst verstorbenen Verteranen (und seines Gefährten)
Marjan Dubieki. Stefan Pomarahski hat die fragmentarischen Nach-
richten dieses Buches um die sehr lehrreiche Feststellung der dienstlichen Lauf-
bahn des Insurgentenführers während seiner Zugehörigkeit zum russischen Heere
vermehrt. Traugutt ist im Jahre 1845, damals neunzehnjährig, zur russischen
Armee gekommen, hat in dieser an fünf Feldzügen teilgenommen, darunter an
dem gegen das Ungarn Kossuths und somit indirekt gegen dessen polnische Ver-
biindete; er hat zwei Orden empfangen und ist im Jahre 1862, erst sechsund-
dreißigjährig, als Oberstleutnant aus der Aktivität geschieden. Soviel melden die
in Warschau verwahrten Militärakten. Was in der Seele des verschlossenen Mannes
während dieser Zeit vorging: wir wissen es nicht, vermögen nur die Wallenrod-
Tragödie zu ahnen. Traugott ist wohl vom ersten Augenblick an nur darum ins
russische Herr eingetreten, um beim Feind die Kunst zu erlernen, ihn zu be-
kämpfen. Oder täuschen wir uns; war Traugutt wirklich nur der Offizier, als
der er seinen Kameraden erschien und wandelten ihn später erst binnen weniger
Monate die Eindrücke des Zivillebens zum polnischen Patrioten? Traugutts Bio-
graphie ist sowohl nach Dubiecki als auch nach den dankenswerten Nachrichten
Pomaranskis noch zu schreiben.
Eugeniusz Przybyszewski breiter vor uns die seelische Landschaft
aus, in der sich Traugutts gescheiterte Erhebung vollziehen sollte. Wir vernehmen
von den eifrigen Bemühungen des geheimen Central-National-Ausschusses, der
sich als Regierung des illegalen Polnischen Staates fühlte; von den mit unzu-
reichenden Mitteln getanen Versuchen der Szlachta mit demokratischen Schlag-
worten und oft sehr demagogischen Versprechungen (keine Steuern, Gleichheit
von Herr und Bauer, Verkürzung der Militärdienstpflicht!) die polnischen und
sogar die litauischen, weißrussischen, ukrainischen Bauern für den kommenden
Aufstand zu gewinnen. Przybyszewski stellt mit Recht fest, daß angesichts der
elementaren Feindschaft der sozial und national ihren polnischen Gutsherren
gegnerischen Volksmassen die am grünen Tisch entworfenen Agitationspläne nicht
nur ohne die beabsichtigte Wirkung bleiben, sondern auch, indem sie die dumpfe
Menge in Bewegung brachten, von anderer, verhängnisvoller Wirkung werden
mußten. Der Bauer war bereit sich zu erheben, indes gegen und nicht für die
polnischen Herren, mochten sie sich auch noch so unverständlich und unverständig
demokratisch gebärden.
In Jerzy Niemojewskis juridischer Untersuchung über die Rechts-
rundlagen der russischen Kriegsgerichtsurteile zur Zeit des Aufstandes von 1868
finden wir sehr begrüßenswerte konkrete Angaben über die Organisation der
russischen Kriegsgerichte, über dieser Tribunale damalige Kompetenz und Prozeß-
verfahren. Eine kaiserliche Verordnung vom 25. Januar 1868 überwies die mit
334
den Waffen in der Hand gefangenen Aufrührer an Standgerichte, die sofort zu
urteilen und nur auf Freispruch oder Tod zu erkennen hatten, wobei iiber die
Ausführung der Urteile die Militärgouverneure in Warschau, Lublin, Radom,
Kalisch, Plock und Augustowo entschieden. Dieser Erlaß wurde später dabin
gen daß Urteile auf andere als die Todesstrafe an den Großfürsten-Statt-
halter Konstantin geschickt werden sollten. Man trennte alsbald die Empörer in
vier Kategorien und nur die erste: Anführer, Emissäre und desertierte russische
Offiziere, verfiel dem Tod. Die Strafen wurden, je länger der Rebellion an-
dauerte, umso härter. Seit dem Mai 1868 hängten die Russen, Ausnahmen ab-
gerechnet, alle Gefangenen aus Adel und Bürgerschaft, die als Anführer galten,
und die übrigen Teilnehmer am Kampf wurden nach Sibirien oder in entlegene
europäische Gouvernements verschickt oder unter die Soldaten gesteckt. Seit
Dezember 1868 überwachte ein General-Polizeimeister die Urteile der etwa 60
Gerichtskommissionen. Güterkonfiskationen traten zu den persönlichen Strafen
hinzu. Erst im Jahre 1867 hat die russische Themis ihre letzten Opfer gefunden.
Niemojewski benutzte für seine Arbeit außer der Literatur noch zahlreiche Akten
des Archiwum akt dawnych und des Centralne Archiwum wojskowe. Leider ist
die vom Einzelfall zum Einzelfall fortschreitende, doch wieder zur Synthese noch
zu einer statistischen Veranschaulichung gelangte Abhandlung nicht bis zur ab-
gerundeten Darstellung gediehen. Es müßte doch möglich sein, irgendwie das
Vorgehen der russischen Behörden durch den Vergleich der Zahlen gefangener
Aufständischer, der gefällten Urteile, ihrer Ausführung und ihres Inhalts ob-
jektiver als durch eine stets national-politisch gefärbte Entrüstung gegen den Be-
drücker Polens zu charakterisieren.
Ein Wort zum Schluß über die von Halina Bachulska angelegte Biblio-
graphie der Arbeiten Prof. Handelsmans. Unter den 231 Nummern überwiegen
die Buchbesprechungen und kleineren Artikel. Als die wesentlichen Leistungen
des Gelehrten dürfen wir in Erinnerung rufen: „Die Strafe im polnischen Recht“
(1905), „Trzy Konstytucje“ (1905, 4. Aufl. als „Konstytucje Polski“ 1926), „Kara
w najdawniejszem prawie polskiem“ (1908), „Napoleon et la Pologne“ (1909,
poln. 1914), die gesammelten Aufsätze der „Studja historyczne“ (1911) und von
„Pod znakiem Napoleona“ (1918), die diplomatische Korrespondenz der Napoleo-
nischen Diplomaten in Warschau und dieser französischen Bevollmächtigten Por-
traits „Instrukcje i depesze Rezydentöw Francuskih W Warszawie 1807/1813"
(1914), „Rezydenci Napoleonscy w Warszawie 1807/1818“ (1915), „Anglja-Polska
1814—1864" (1917), „Z metodyki badań feodalizmu“ (1917), „Die mittelalter-
liche polnische Sozialgeschichte“ (1919), „Zagadnienie teoretyczne historji“ (1919),
„Historyka“ (1921, 2. erweiterte Auflage 1928), „Ksiega Ziemska Plonska 1400
—1417“ (1920), „Pomiędzy Prusami i Rosją“ (1922) „Rozwój narodowości nowo-
czesnej“ ee „Francja-Polska 1795—1845“ (1926, französisch 1927), „Le soi-
disant précepte de 614“ (auch polnisch 1926).
In der Bibliographie der Schriften des Jubilars hätten wir auch gerne Ver-
weise auf über ihn erschienene Artikel und Rezensionen gefunden.
III.
Pamietnik trzydziestolecia pracy naukowej prof. dr. Przemyslawa
Dabkowskiego. Wydany staraniem Kölka Historyczno. prawnego
Stuchacz6w Uniwersytetu Jana Kazimierza. 1897—1927. Lwów,
Gubrynowicz i Syn 1927 (handschriftlicher Vermerk auf dem
mir gesandten Exemplar: druk skończony w październiku 1928).
8. 589 Seiten.
Wieder ein Gedenkbuch zum Jubiläum eines bedeutenden Historikers. Von
Dabkowski, nach Balzer dem ersten polnischen Forscher auf dem Gebiete der
Rechtsgeschichte unter denen, die heute leben, ist wohl in jedem Jahrgang dieser
Jahrbücher rühmend die Rede gewesen. Seme segensreiche Wirksamkeit als Lehrer
tritt in den Heften des Pamietnik Historyczno-Prawnyczy zutage, die er heraus-
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gibt und mit zum Teil vorzüglichen Arbeiten seiner Schüler anfüllt. Als Autor
ist der Verfasser des „Prawo prywatne polskie“ keiner weiteren Vorstellung be-
dürftig. Die von Karol Korányi auf S. 519—581 des vorliegenden Bandes ge-
gebene Bibliographie von Dabkowskis Schriften gewährt uns ein vollständiges und
imponierendes Bild der Tätigkeit des Gelehrten. Reicht die Zahl von 281
Nummern auch nicht an Brückner oder Balzer heran, sie darf sih immerhin
sehen lassen. Obrigens ist diese Bibliographie, was die Rezensionen betrifft, nicht
vollständig und in ihrem Teil, der die Notizen und Anzeigen über Dąbkowski
enthält, unzureichend. Ich weiß z. B. aus dem Gedächtnis, daß Dutzende von
Erwähnungen des Jubilars in deutschen Fachorganen (darunter mehrere Rezensionen
aus meiner Feder) hier fehlen.
Die Abhandlungen von Schülern und Freunden sind von sehr ungleichem
Wert. Sieben „Freunde und Bewunderer“ haben sich eingestellt. Die meisten
mit einem Beitrag, der gutes Niveau hält. Maier Bataban veröffentlicht da
wieder einige seiner Bausteine zur Rechtsgeschichte der Juden in Polen. Er stellt
fest, daß den Wojewoden als Judenrichter in Reußen (Lemberg, Przemyśl! usw.)
und Posen der Podwojewodzi vertrat, während in Krakau neben dem Podwo-
jewodzi ein besonderer Judenrichter erscheint. Er schildert die Kompetenz der
ollegialen 5 erster Instanz, die über Klagen von Christen gegen
Juden urteilten. Das Material reicht nicht zu genauer Definition aus.) Sehr
unterhaltsam ist die Erzählung einer „Doppelwahl“ zum Krakauer Rabbiner-
posten, die sich mit einer doppelten Besetzung des adligen Judenrichteramts
possierlich verquickte; in welchen Streit sogar der König August III. eingreifen
mußte.
Prof. Ehrenkreutz befaßt sich mit der Appellinstanz für die Städte
der Wojwodschaft Sandomierz. Auf diese etwas magere Gabe folgt die sehr an-
regende Studie Bolesław Gruzewskis über eine Episode aus Krasickis
Wirksamkeit als Präsident des Tribunals von Kleinpolen (1765). Man kennt die
Erinnerungen an seine richterlichen Funktionen, die der Fürstbischof von Ermland
in seinem Roman „Pan Do$wiadczyhski“ zu einem amüsanten Sittenbild um-
gestaltet hat. Man erinnert sich der Schilderungen bei Kitowicz, an die „Pamigtki
p. Soplicy“ und steht sofort mitten in den Ereignissen, die Gruzewski erzählt.
Kurz und bündig: ein betrunkener Szlachcic trat Krasicki mit Schimpfworten in
den Weg und schlug ihn ohne Grund. Der Übeltäter wurde mit einem Ja
Arrest und Geldstrafe belegt, aber schon nach zwei Monaten freigelassen. Seine
beiden Diener aber empfingen, der eine hundert Rutenstreiche, der andere harte
Züchtigung durch Abhacken der rechten Hand. So urteilte die Gerechtigkeit noch
im Zeitalter der Aufklärung. Konsul Namystowski, dessen Arbeiten auf
dem Gebiet des serbischen Rechts sich begründeten Rufs erfreuen, hat sich die
völkerrechtlichen Beziehungen der Balkanstaaten im Mittelalter, speziell aber (der
Titel ist zu weit gefaßt) das Konsularwesen der Republik Ragusa zum Gegen-
stand seiner Ausführungen erkoren. Mit großem Interesse habe ich den Abschnitt
aus einer mir bis jetzt noch nicht vorliegenden Arbeit von Adam Vetulani
„L'Evêque et le Grand Chapitre de Strasbourg“ gelesen: „Zur Geschichte des
Straßburger Domkapitels.“ Leider kann ich mich mit den hier vorgetragenen An-
sichten nicht befreunden. Vetulani, den zunächst die Frage nach den Gründen
der im 12. Jahrhundert schnell wachsenden Macht der Domkapitel und ihres in
Straßburg zu Beginn des 18. Jahrhunderts offenbar gewordenen Obergewichts über
den Bischof beschäftigt, erblickt die Ursache dieses Fakts darin, daß sich der höhere
Adel, die Freiherren der Kanonikate bemächtigt hätten. Er sucht deshalb den
Zeitpunkt festzustellen, zu dem der hohe Adel die alleinige Herrschaft im Straß-
burger Kapitel erlangte. Der bekannte Protest des Kapitels gegen einen ıhm vom
Papst aufgedrungenen niedriger geborenen Kandidaten (über den Schulte in seinem
Buch „Adel und deutsche Kirche im MA.“ eingehend handelt) bildet für Vetulani
den terminus ad quem (1231). Den terminus a quo genau zu errechnen, untersucht
Verulani die Zeugenliste der gedruckten Straßburger Urkunden, um aus der Rang-
stellung der Zeugnis ablegenden Domherren deren ständische Zugehörigkeit zu
erschließen. Er motiviert die Wahl dieser Methode damit, daß eine zweite Art
des Vorgehens, nämlich die Frage nach den Familien der Kanoniker nicht zu
336
beantworten sei, weil bis zum 12. Jahrh. nur die Vornamen der Domherren an-
gegeben werden. Nun seien bis zum 10. Jahrh. die Domherren nach Laien und
sogar nach den Ministerialen genannt, seit dem 11. Jahrh. aber vor den Leen,
Deshalb müsse inzwischen die alleinige Besitzergreifung der Kapitel durch die Hoch-
adeligen erfolgt sein. Schultes Ansicht vom ursprünglichen hochadeligen Charakter
der Kapitel sei verfehlt.. Nun denn, Vetulani argumentiert mit ganz unzu-
länglichen Behelfen. Zunächst besitzen wir eine reiche Literatur für fast sämt-
lidte deutsche Domkapitel, in denen wir den Personalbestand der deutschen
Kanoniker des Mittelalters zum großen Teil, und mit Anführung der Familien-
namen aufgezeichnet haben. peal für Straßburg ist zwar kein Gesamtkatolog
vorhanden, indes der Vergleich mit den Katalogen benachbarter Kapitel (z. B.
den von Kisky gegebenen Listen), mit den Urkundenbüchern des oberrheinischen
Gebiets, das aufmerksame Studium von 5 Sammelwerken wie Kindler
v. Knoblochs Oberbadischem Geschlechterbuch, es Schweizer genealogischen Hand-
buchs, das Studium der zahlreichen ausgezeichneten Monographien von großen
Geschlechtern der umliegenden Gegenden: dies alles hätte zu einem recht statt-
lichen Verzeichnis der aus den Zeugenlisten bekannten und zu identifizierenden
Domherrn die Möglichkeit geboten. Ich kann Vetulani aus zureichender Kenntnis
der Seraßburger Kapitelsgeschichte versichern, daß bis weit zurück der hochadelige
Charakter des Kapitels keinem Zweifel unterliegt. Indes die ganze Argumentation
wird unnötig, wenn man von der allgemeinen Entwicklung eine bessere Kenntnis
hat als sie Vetulani zu eignen scheint. Nicht nur von meinem verehrten Lehrer
Schulte, sondern auch von Dungern, Stutz, Kisky, in meinem Buch „Vom Herren-
stand“ und in zahlreichen anderen ständegeschichtlichen, kirchengeschichtlichen,
rechtshistorischen Werken ist der einheitliche Weg der deutschen Domstifter im
Einklang mit allgemein bekannten soziologischen Gesetzen von einer Allein-
herrschaft der Edelfreien zum Eindringen der Ministerialen, des Adels überhaupt
und zuletzt erst zur ständischen Promiskuität auf Grund sorgfältiger ur
des Personalbestands der Stifter, und der sozialen Tendenzen der Epochen sicher-
gestellt. Die Beherrschung des Straßburger Domkapitels durch die Freiherren ist
nicht „via facti“, sondern im Einklang mit dem auf die Urzeit, auf die Eigen-
kirche zurückgehenden Grundcharakter der deutschen Hochstifter geschehen.
Zygmunt Wojciechowskis Abhandlung über die ältesten Märkte
in Polen ist eine erweiterte Rezension der Studie von Karol Maleczyhski
„Najstarsze targi w Polsce“ (Lwów 1926). Die kritischen Einwendungen des
Rezensenten richten sich vor allem gegen Maleczyhskis Deutung der „hospites“
als Handwerker, gegen die Datierung des herzoglichen Marktregals — das
Wojciechowski von den Marktabgaben herleitet und im 11. Jahrh. entstehen
läßt — und methodologisch gegen die unzulässige Verallgemeinerung von aus
einzelnen Quellen erschlossenen Zuständen.
Die sehr sorgfältige Abhandlung Marjan Zygmunt Jedlickis,
dessen Arbeiten auf dem Gebiet des deutschen Rechts längst die Aufmerksamkeit
auch der deutschen Fachgenossen auf sich gelenkt haben, stellt das dem Autor
zugängliche Material über die „Schilderhebung bei den alten Germanen“ zu-
sammen. Als grundsätzlicher Mangel dieser zu sehr aufs Formal- Juristische be-
schränkten Studie ist die Vernschlässigung der völkerkundlichen Seite dieser
symbolischen Zeremonie und der Verzicht auf deren psychologische Durchdringung
zu bezeichnen. Jedlicki begnügt sich die Schilderhebung zu deuten und sie
irgendwie als eine dem kriegerischen Charakter der alten Germanen gemäße Sitte
hinzunehmen. Er hebt weiters seine Darstellung mit der bekannten Notiz in
den Historiae des Tacitus (IV cap. 15) an, die sich auf die Schilderhebung des
Brinno bei den batavischen Canninefates bezieht (ad annum 60 p. Ch.). ade,
daß Jedlicki nicht seinen Blick weiter in der Welt umherschweifen ließ. Rechts-
institutionen sind heute nur bei Anwendung der vergleichenden Methode be-
friedigend zu erklären. Und da hätten Notizen vie die über den Emir von
Buchara die Aufmerksamkeit des Autors hinüber nach der asiatischen Völker-
heimat lenken sollen, von woher den Indoeuropäern, und im speziellen den Ger-
manen so viele Bestandteile ihrer urtümlichen Rechtsbrãuche gekommen sind.
Des weiteren hätte er seinen Gegenstand auch als Schild erhebung betrachten
38 — Jehrbüch, f. Kult. u. Gesch. d. Slav, Bd. VI H I u. I 1930 337
sollen. Kurz: die Schilderhebung ist nur ein Sonderfall der Erhebung, also der
durch die Hände der ,,Niedrigeren“ geschehenden Aktion, durch die ein alsdann
„Höherer“ über die Häupter derer, die „vordem seinesgleichen waren“ erhoben
wird. Das Symbol ist allgemein-menshlih. Wir erinnern an die aus der
Kunstgeschichte allbekannte Tatsache, daß die Herrscher von primitiven Künstlern
als größer abgebildet werden, denn ihre Untertanen. Das größere Abbild soll
die metaphorisch größere Wesenheit des Herrschers darstellen. Im Leben wird
nun auch der Herrscher „größer“ sein und da dies nicht anders geht, durch „Er-
heben“ größer gemacht werden. Im Kulturkreis der Kmervölker, im chinesischen
und in den mittelmeerischen Zivilisationen des Altertums haben wir nicht nur
das „Erheben“ sondern auch das „Erhobensein“, das „Erhabensein“ als Attribut
der in Sänften, auf dem Thron, auf dem Schild getragenen Herrscher. Inwieweit
bei den Germanen diese Sitte indoeuropäisches Erbe ıst, vermögen wir nicht zu
entscheiden. Daß sie dem ganzen Norden, wie ihn die neuere Forschung als
rähistorische Einheit zusammenfaßt; daß sie Mongolen, Ugrotartaren gemeinsam
ist, steht fest. Ob dieses Erheben nun mit Hilfe des Schildes also eines kriege-
rischen Symbols geschieht, das gehört erst in zweite Linie.
als symbolische, dem unmittelbar rechtsetzenden Akt nachfolgende Zeremonie,
ungestraft durch eine andere Zeremonie verdrängt werden, zumal durch eine,
die — vie die Inthronisation — dem unbe wußten Grundgedanken der Erhöhung
entspricht. — Unter den Abhandlungen der Schüler Prof. Dabkowskis möchte ich
zunächst die Beiträge verzeichnen, die m. E. keinen größeren Wert besitzen:
Dicker; „Testament im polnischen Dorfrecht“ (eine mäßige Seminararbeit auf
Grund der Ulanowskischen „Księgi wiejskie“), Marceli Hescheles’ „Besitz-
einweisung nach dem dritten Litauischen Statut“ (fußt völlig auf Dabkowskis
„Prawo prywatne“, Makarewiczs „Prawo karne“, Adamus „Zastaw“), Se I.
Huberts „Rechtsstellung der Minderjährigen im Armenischen Statut von 1519",
Adam Lomnickis „Symbol der grünen Rute im polnischen Dorfrecht“,
Ignacy Nedzowskis „Musterungen der Hufmannen im Lichte der Reichs-
üsse", Jakób Stachels „Mitgift als Institution des Erbrechts“.
Der Druck dieser gutgemeinten Versuche erscheint mir keine zwingende Nort-
wendigkeit.
Eine Stufe höher stehen die Untersuchungen von Jan Adamus, der als
Forscher seinen Namen hat, hier die rechtliche Natur der Ladung im mittelalter-
lichen polnishen Recht erörtert, speziell der Wiederladung {a „prz ).
Das Ergebnis: es bestehe zweifelsohne ein näherer Zusammenhang der
Ladung und der durch sie bewirkten Haftung des Geladenen, ist sehr allgemein
und bleibt hypothetisch in den Einzelheiten. Jan Gerlach schildert nach
Akten im Archiwum Główne zu Warschau die Schicksale der auf Grund des
Reichstagsbeschlusses vom 8. März 1578 ausgehobenen Rekruten, die am Zug n
Pskov teilnahmen. Wir erfahren Genaues über die Organisation, den Kamptwert
und die Verluste dieser Truppe. Die genauen Ziffern sind sehr lehrreich: 1867
marschierten ins Feld. 119 fielen, 295 starben an Krankheiten oder Unfällen,
18 wurden gefangen, 45 blieben verschollen, 897 desertierten und 968 kamen
heim. So sah (und so sieht) die Kehrseite auch siegreicher Kriege im späten Licht
der nüchternen Zahlen aus. Recht interessant und auf ec age Forschung
ruhend ist, wie der Artikel Gerlachs die Skizze Jan Kamifskis über die
Schreinerzunft in Lublin. Sowohl die wirtschaftliche als die juristische Seite des
Problems werden vortrefflich dargestellt. In der rasch anwachsenden polnischen
Literatur zur Geschichte der Handwerke nimmt dieser gutgeschriebene Vortrag
einen achtenswerten Platz ein. Der Beitrag des Rechtshörer: Marjan Kar-
pins ki über „Gerichte auf den reußischen Landtagen des 15. Jahrh.“ bezeigt
338
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viel historischen und kritisch-juridischen Sinn des jugendlichen Autors, dem ich
nach dieser erstaunlich reifen Probe eine schöne wissenschaftlihe Zukunft zu
rophezeien wage. Er hat den richtigen Blick fürs Wesentliche, keine falsche.
Scheu vor den Autorités établies und die Fähigkeit, selbständige Meinung über-
zeugend aus den Quellen zu belegen.
Mit viel Beifall habe ich die fesselnde Skizze Karof Koränyis über
die beiden im Jahre 1689 erschienenen Schriften, Daniel Wisners „Tractatus
brevis de extramagis lamiis, veneficis“ und die „Czarownica powolana“, gelesen;
zwei Büchlein, die sich als schüchterne Stimmen gegen die Ausschreitungen des
Hexenwahns erhoben, ohne dessen Grundlagen zu 5 oder anzugreifen.
Ich halte beide für Bearbeitungen fremder Originale, die ausfindig zu machen
eine lohnende Aufgabe für einen Spezialforscher wire. Die Ausführungen
Koränyis über die durch diese Broschüren bekundete freie Gesinnung des da-
maligen Polen haben danach nur bedingten Wert. Wactaw Osuchowski
geht den Spuren Homers in den Digesten nach: ein zweiter Rechtshörer, dessen
Leistung den Meister lobt, der sie offenbar angeregt hatte. Prof. Rudolf
Rauscher stellt die Bedeutung der Urteile des Ee im dechischen
Privatrecht dar. Zbigniew Socha gibt einige Bemerkungen zur Synodal-
5 in polnischen Diözesen zu Ende des Mittelalters. Sie erläutern
uptsächlich die Sittengeschichte (Eheschließung). Eine methodisch gute Abhand-
lung des Rechtshörers Zenon Wachlowski über den Souveränitätsbegriff in
der polnischen politischen Literatur erfüllt ihren Zweck: zu zeigen, welche west-
lichen Theorien über diesen Rech riff im damaligen Polen bekannt waren,
soweit es sich um die wichtigsten politischen Autoren jener Zeit handelt. Zur
Erschöpfung des Themas wäre freilich eine mühsame Durchforschung der Reichs-
tagsverhandlungen und vor allem der Großakten nötig.
Zusammenfassend dürfen wir die drei Festgaben an Dobrzycki, Handelsman
und Dabkowski, wenn auch in einigem Abstand von den überreichen Bänden,
die Balzer und Brückner gewidmet worden waren (vgl. diese Jb. NF. 8. ff.;
4 ff.) mit aufrichtiger Freude begrüßen. In einer Zeit, die der wissenschaft-
lichen Einzeluntersuchung nur wenig Raum vergönnt und den Abdruck besonders
den Arbeiten von beginnenden Forschern erschwert, sind Sammelbände wie die
vorliegenden, oft die einzige Zufluchtsstätte der jungen Historiker.
Das müssen wir uns vor Augen halten und darum nicht zu streng darüber
urteilen, daß die Festschriften für Handelsman und Dabkowski nicht ganz der
Männer würdig sind, die es zu ehren galt; daß auch bei Dobrzyckis Ehrengabe
sich manche besser gemeinte als ausgeführte Abhandlung eingestellt hat. Ander-
seits durfte den Rezensenten die Rücksicht auf die drei hochverdienten Jubilare
und auf die Absicht der sie ehrenden Beitrag-Spender nicht dazu verleiten, über
offenbare Unzulänglichkeiten hinwegzugehen. Die Worte der Kritik mögen nicht
den herzlichen Klang der Worte aufrichtigen Glückwunsches übertönen, die ich,
etwas verspätet, doch nicht minder für viele Bereicherung dankbar, an Dobrzycki,
1 Dabkowski, die in der Vollkraft ihres Wirkens stehenden Jubilare,
richte.
339
IV
BUCHERBESPRECHUNGEN
Georg Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilder-
streites. — Breslau 1929. Verlag M. H. Markus. 113 S. (Histo-
rische Untersuchungen, herausg. von E. Kornemann und
S. Kaehler, H. 6.)
Die Erforschung des Bilderstreites bietet große Schwierigkeiten, weil sämt-
liche bilderfeindliche Schriften verbrannt worden sind; wir haben allerdings in den
bilderfeindlichen Denkmälern der orthodoxen Schriftsteller eine beträchtliche Zahl
größerer und kleinerer Fragmente aus den bilderfeindlichen Schriften erhalten.
Wenn eine Rekonstruktion der verlorenen Originale möglich wäre, so hätten wır
damit die Grundlage für die objektive Darstellung des Bilderstreites gewonnen.
In den Antirrhetici I und II des Patriarchen Nikephoros und seiner bisher
unedierten Apologie liegt viel Material aus den bilderstürmenden Schriften.
O. sucht zunächst die Schrift Kaiser Konstantins V. gegen die Verehrung der
Bilder Christi aus den Schriften des Nikephoros zu rekonstruieren. Er zeigt, daß
das erste ikonoklastische Konzil seinem Ideengehalt nach sich mit der Schrift des
Kaisers deckt, im Wortlaute aber sehr stark abweicht. Die Leistung Konstantins
bestand vor allem darin, daß er das Bilderproblem in den Rahmen der christo-
logisch-dogmatischen Fragen stellte. Er weist ferner nach, daß der Kaiser auch
den Marien- und Heiligenkult, nicht bloß die Verehrung ihrer Bilder ablehnte.
Endlich gibt die konstantinische Schrift eine genaue Definition des Wortes eikon.
O. gibt ferner aus dem unedierten Werke des Nikephoros die Bestimmungen
des zweiten ikonoklastischen Konzils und behandelt die angeblichen Schriften des
hl. Epiphanius gegen die Bilderverehrung. Karl Holl hat unter Zustimmung von
Lietzmann und Koch die Echtheit dieser Schriften behauptet, O. erklärt ste für
unecht. Schon Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur 3, 801 hatte
übrigens die Schrift für unecht erklärt; dies scheint O. entgangen zu sein. Auch
hätte er auf die Stellungnahme von Wilpert Hist. Jahrb. 1917, 582/5 und Neuß
Theol. Rev. 1918, 157/62, welche die Frage vom kunsthistorischen Standpunkte
erörtern, eingehen sollen. Bei der Frage nach der Echtheit spielen ja subjektive
Beweisgründe oft eine große Rolle. Ich gebe zu, daß die Beweisführung
gorskys sehr scharfsinnig ist; endgültig entschieden wird die Frage erst dann sein,
wenn tatsächlich der Nachweis ne wird, daß in der älteren Bestreitung der
Bilderverehrung die Christologie nicht behandelt worden ist. Das ist m. E. der
Kernpunkt des Problems. Denn wenn schon Eusebius von Caesarea sich scharf
gegen die Bilderverehrung ausgesprochen hat, so wäre an sich eine bilderfeindliche
Stellungnahme des Epiphanius nicht unmöglich. Überhaupt wird es nötig sein,
die Vorgeschichte der Bilderstreitigkeiten noch eingehender zu bearbeiten, che wir
eine neue Darstellung des Bilderstreites durchführen können.
Die Schrift O.s ist auch deshalb besonders verdienstlich, weil er die russische
Literatur verwenden konnte; die stets sachliche Beurteilung und vornehme Behand-
lung der Gegner verstärken den guten Eindruck. Das Problem der Bilderstreitig-
keiten ist durch O. erheblich gefördert und seine Lösung um cin gutes Stück
vorgeschoben worden.
Breslau. Felix Haase.
340
Georg Sacke: W. L. Solowjews Geschichtsphilosophie. — Ein Beitrag
zur Charakteristik der russischen Weltanschauung. — Berlin und
Königsberg, Osteuropa-Verlag. 1929. 138 S. (Quellen und
9 9 zur russischen Geschichte. Herausg. von K. Stählin.
9. Bd.)
Solov’ev und Dostoevskij haben in den Jahren nach der russischen Revolution
die besondere Liebe und Bevorzugung des Abendlandes erhalten. Instinktiv er-
kannte man wohl, daß diese das Wesen der russischen Weltanschauung in ganz
besonderer Weise repräsentierten. Leider fehlt uns immer noch eine Monographie
Solov’evs, welche diesen auch in Rußland nicht genügend gewürdigten Philosophen
und seine nicht leicht verständliche Lehre dem Abendlande bekannt macht. Auch
die geplante deutsche Ausgabe der Biographie d’Herbignys kann diesen Mangel
nicht ersetzen. Es war deshalb eine dankbare Aufgabe, zunächst einmal die fast
völlig vernachlässigte Geschichtsphilosophie S. zu untersuchen. Ich konnte in
meinem Aufsatz: „Grundprobleme der russischen Geschichtsphilosophie“ (Ver-
gangenheit und Gegenwart, 6. Ergänzungsheft) nur ganz kurz die Bedeutung S.s
in dieser Hinsicht charakterisieren.
S. gibt zunächst eine Einleitung: Geschichte als das Hauptproblem der russi-
schen Philosophie, um den Begriff der Geschichte bei $. und seine Stellung zu den
slavophilen und westlichen Vorgängern zu erläutern. Solov’ev gibt nirgends eine
einheitliche Darstellung seiner Geschichtsphilosophie und es scheint, daß er sich auch
niemals über die Begriffsbestimmung ganz klar geworden ist. Er spricht von
einem kosmischen, theogonischen und historischen Prozeß, von denen jeder ein
selbständiges Ganzes bildet; gleichzeitig gebraucht er den Ausdruck „historischer
Weltprozeß“. Natur und Geschichte sind für ihn keine absoluten Gegensätze,
sondern erklären sich gegenseitig. Die Geschichtsphilosophie ist auch mit der Natur-
philosophie und Theologie aufs engste Serbunden. S. ist in erster Linie Moral-
philosoph und sein Werk „Die Rechtfertigung des Guten“ ist auch sein Haupt-
werk. Aber das geschichtsphilosophische Problem des Guten und seine historische
Verwirklichung bildet in allen seinen Werken den ständigen Hintergrund. S.
machte eine Entwicklung durch. In der ersten Periode, die man die abstrakt-philo-
sophische nennen kann, ist er vorwiegend reiner Philosoph. Die zweite Periode
läßt sich als die kirchlich-theologische, die dritte als apokalyptische bezeichnen.
Diese drei Entwicklungsstufen kommen auch in seiner Geschichtsphilosophie zum
Ausdruck. Bei dem jüngeren $. werden die Probleme Gott und Welt, Mensch und
Menschheit im historischen Prozeß behandelt. Die Perioden der historischen Ent-
wicklung hat eben die Geschichtsphilosophie aufzudecken. Er nimmt drei Ent-
wicklungsstufen an, die durch die einzelnen Kulturkreise vertreten werden. Die
dritte Stufe, welche den Ausweg aus der trostlosen Lage der Vergangenheit und
Gegenwart bringen soll, muß ein neues Volk hervorbringen, das als Vermittler
zwischen der göttlichen Offenbarung und der Menschheit auftritt. Dieses Volk
wird das russische sein. In der zweiten Periode spielt der Begriff der Weltsecle eine
große Rolle. Diese löst sich freiwillig von Gott und so entsteht die nicht-
göttliche Welt, die Welt der Geschichte. Der Weltprozeß beginnt deshalb mit dem
Sündenfall. Der neue Prozeß hat die Aufgabe, die verlorene Einheit wieder-
zuge winnen. Der Mensch ist der Gipfel der organischen Entwicklung. Der histo-
rische Prozeß ist ein Werdegang vom Tiermenschen zum Gottmenschen. Die ein-
zelnen Völker werden durch das unmittelbare Eingreifen Gottes geleitet, und so
wird der historische Prozeß eine Offenbarungsgeschichte. Als Wendepunkt in dem
gottmenschlichen Prozeß erscheint die Persönlichkeit Christi, das ewige Zentrum
der Veltgeschichte. Er findet seine Fortsetzung in der Kirche, die deshalb den
Hauptinhalt der Geschichte der Menschheit nach Christus bildet. Der Osten und
der Westen, die griechisch- und die römisch-katholische Kirche haben eine ver-
schiedene Entwicklung durchgemacht. Die Verwirklichung der Theokratie kann
nur durch die Wiedervereinigung der Kirchen kommen.
In der dritten Entwicklungsperiode ist S. sehr pessimistisch geworden. Die
alten europaischen Monarchien werden durch die Mongolenherrschaft gestürzt, im
21. Jahrhundert stellt Europa einen Bund mehr oder weniger demokratischer
341
Vereinigter Staaten dar. In diesem letzten Jahrhundert der Geschichte erscheint
der Antichrist. Er wird zum lebenslänglichen Präsidenten der europäischen Ver-
einigten Staaten und zum römischen Kaiser gewählt. Er erobert die ze Erde
und geht dann zu sozialen Reformen über. Weltende steht nahe bevor. Die
Menschheit hat sich der Verkörperung des Bösen, dem Antichrist unterworfen
und wird erst am Ende der ichte durch Christus erlöst werden. .
Dies ist im Wesentlichen das Ergebnis der Untersuchung Sackes, die mit
völliger Beherrschung der gesamten Literatur ae ist. Auch methodisch
erscheint mir die Einteilung in die drei Entwicklungsperioden einwandsfrei. Die
philosophische Abhängigkeit von den westeuropäischen Denkern ist richtig gesehen,
allerdings scheint es mir, daß S. nicht genügend den Einfluß Platons hervorgehoben
hat. Auch hat wohl S. nicht die nötige theologische Vorbildung, um die tief dog-
matischen und spekulativen Grundlagen be: S. richtig erkennen und würdigen zu
können. So hat er die Sophialehre, die immer noch nicht hinreichend geklärt ist,
in ihrer Bedeutung für dıe ganze E nur gestreift. In Einzel-
heiten finden sich geradezu schwere Fehler. behauptet er $ 7, daß bei Chom-
paor auch nicht die leiseste Spur von Mystik zu finden ist, während in Wirklich-
eit das Verhältnis von Glauben und Wissen, der Kirchenbegriff Chomjakovs nur
durch mystisches Verstehen zu erklären ist. Caadaev ist durchaus nicht einseitig
römisch-katholish (S. 122); er hat in seinen letzten Lebensjahren sich vielmehr
ganz von Rom abgewendet. Schon seine „Apologie“ gibt cin ganz anderes Bild
von seiner VVV Die Behauptung (S. 28), daß S. im Jahre 1896
auch formell der katholischen Kirche beigetreten sei, ist nicht erwiesen. An offi-
zieller Stelle ist nichts davon bekannt geworden und der beste katholische Kenner
der neueren russischen Kirchengeschichte, A. Palmieri, wie auch ein Jesuit, der
über S. sehr gut informiert war, haben dies in Abrede gestellt. Das Zeugnis des
unierten Priesters, auf den sich d’Herbigny beruft, SE deshalb kaum ein-
wandsfrei. Ganz unverständlich ist der Satz (S. 80): Dadurch, daß. er die Weihe
von einem unierten Priester empfing.... Es gibt in der katholischen Kirche nur
eine Weihe, die in Betracht kommen könnte, die Priesterweihe. Ich kann auch
nicht zustimmen, daß es durchaus verfehlt sei (S. 81), die katholische Tendenz
Solov’evs auf seine mütterliche polnische Abstammung zurückzuführen. Ich bin
im Gegenteil davon überzeugt, daß seine Stellung zum Katholizismus und zu den
Polen durch seine Mutter beeinflußt worden ist. Wenn S. die Geschichte von
Konvertiten lesen und praktische Erfahrungen auf diesem Gebiete 5
würde, wäre sein Urteil wohl anders geworden. Für unrichtig halte ich auch
Ausdruck „von dem Zusammenbruch der Ideenwelt am Ende seines Lebens“, nicht
einmal von Pessimismus wird man reden dürfen. Sacke hat selbst richtig die letzte
Periode als die apokalyptische, prophetische bezeichnet; S. kann tatsächlich mit den
alt jüdischen und altchristlichen Apokalyptikern verglichen werden. Die Pro-
pes vom nahen Weltende und vom Kommen des Messias sind aber noch
ein Pessimusmus. Abgesehen von diesen Einzelheiten kann die Arbeit Sackes als
ein wesentlicher Fortschritt in der Solov’evforschung bezeichnet werden.
Breslau. Felix Haase.
Hildegard Schaeder: Moskau das dritte Rom. Studien zur Geschichte
er politischen Theorien in der slavischen Welt. — Hamburg,
Friederichsen, de Gruyters & Co. 1929. 140 S.
Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß byzantinische Ideen nicht unmittel-
bar von Konstantinopel aus nach Rußland gekommen sind, sondern auf dem Um-
wege über Bulgarien und Serbien. Die alte russische Literatur Ka zahlreiche
Beweise hierfür. Jetzt erhalten wir den interessanten Nachweis, auch poli-
tische Ideen diesen Umweg gemacht haben. Johann I. von Bulgarien nannte sich
rechtgläubiger Car und Selbstherrscher über alle Bulgaren und Romiäer, der Serbe
Stephan Dulan nannte sich „Kaiser aller serbischen und griechischen Länder und
der Küstenländer, Albaniens und des großen Abendlandes“. Beiden wird der Plan
zugeschrieben, eine Balkanmonarchie mit der Residenz in Konstantinopel zu er-
Sa Wir sehen also, daß schon vor dem Falle von Byzanz unter den slavischen
Königen Ansprüche auf die politische Erbschaft auftreten. Parallel damit geht
342
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die Entwicklung der Lehre von der ewigen Stadt. Schon auf der Synode von
Konstantinopel wird diese Stadt das Neue Rom genannt. Dieser Titel geht von
den byzantinischen Chronisten in die bulgarische Literatur über: Asén Alexander,
der Bulgarenfiirst ist der Car „unseres neuen Carigrad“. In Rußland erwachte
das nationale Bewußtsein mit dem Ende des byzantinischen Staates und dem
Unionskonzil von Florenz. Die russischen Erzählungen über diese Ereignisse
gipfeln in der Tendenz: Das zweite Rom ist gefallen, weil es den rechten ortho-
doxen Glauben verlassen hat. In Rußland lebt dieser wahre Glaube wieder auf,
es gibt nur eine wahre orthodoxe Kirche auf Erden, die russische. Der Metro-
polit Zosima (1491/94), erklärte Moskau als die neue Konstantinstadt.
Um dieselbe Zeit beginnen die Moskauer Fürsten sich Caren zu nennen.
Eine neue geistliche Literatur, besonders die Schule des Pafnutij von Borovsk,
spricht klar den Gedanken aus, daß den russischen Caren das Reich von Gott ge-
geben ist. Der Chronograph von 1513 spricht besonders scharf den Gedanken
aus, daß nach dem Ende der christlichen Kaiserstadt Konstantinopel die Mission
auf das neue Rußland übergegangen ist: „Unser russisches Land . . . wächst und
ist jung und wird erhöht.“ Dieser Chronist hat als Vorlage die bulgarische Ober-
setzung der Chronik des Konstantin Manasses benutzt. Philoteus von Pskov
schreibt an Munechin: „Zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein
en SE es nicht geben. Und dieses dritte Rom, das ist das Neue große
Ruf land.“
Das älteste russische Krönungsstatut v. J. 1498 und eine Anzahl russischer
Geschichtslegenden verfolgen nur den Zweck, zu erweisen, daß im dritten Rom,
in Rußland, die Gnade des heiligen Geistes aufleuchtet.“ Die „Geschichte der
weißen Mitra“ behauptet sogar, daß die Kaiserkrone in alten Zeiten dem russischen
Kaiser aus der Kaiserstadt geschickt worden sei, auf Geheiß des Kaisers Kon-
stantin. Alle göttliche Gnade wird, wie von Rom, auch von Konstantinopel ge-
nommen und dem großen Rußland gegeben werden. Gott wird den russischen
Caren erheben über viele Völker. Das Land wird das lichte Rußland heißen.
Von da aus ist nur ein Schritt zu dem heiligen Rußland. Fürst Kurbskij spricht
von dem heiligen russischen Land, dem heiligen russischen Imperium. Mit der
Gründung des russischen Patriarchates werden auch die ehemaligen kirchlichen An-
sprüche Konstantinopels auf Moskau übertragen.
Als Verehrer, aber zugleich auch als Kritiker des dritten Roms tritt im
17. Jahrhundert der Kroat Juraj Križanić auf. Trotz aller Schwärmerei für die
Slaven und ihre Einheit verwirft er den Anspruch Rußlands, sich als das dritte
Rom zu bezeichnen. Nach den Nikonschen Reformen lebten die Ideen von dem
dem heiligen Rußland anvertrauten Pfunde nur noch im Kreise der Altgläubigen
weiter, die Neuordnung der russischen Kirchenverwaltung und die Absetzung des
Patriarchen durch Peter I. machten der geistlichen Macht ein Ende. Die Herrschaft
des dritten Roms war dem kirchenfeindlichen Militärstaat gewichen. Nur noch ein-
mal erscheint die Lehre von Moskau aus dem dritten Rom bei K. Leont’ev
(1881/91). (Das ist nicht richtig, vgl. VI. Solov’ev.)
Auch wenn man berücksichtigt, daß die Lehre von Moskau als dem dritten
Rom schon von mehreren russischen Gelehrten bearbeitet worden ist, wird man
anerkennen müssen, daß es sich hier um eine wertvolle, reife Gelehrtenarbeit
handelt. Sch. ist allen auftauchenden Fragen mit größter Gewissenhaftigkeit nach-
gegangen; die ausführliche Wiedergabe der russischen Erzählungen über das
Konzil von Florenz und die Darstellung des Lebens und des Wirkens KriZaniés
ehören str enommen nicht zum Thema. Die Beurteilung erscheint mir fast
dev ich wohl begründet und einwandfrei. Nur in einigen Punkten bin
ich anderer Meinung. Den Bericht des Syropulos über die Bestechung des Markos
Eugenikos hält S. für . „obwohl sie selbst zugibt, daß S. stark parteiisch
war. S. 40 hält sie die Nachricht, daß Rußland schon früher vom Papste die
Königskrone erbeten habe, für eine Fiktion. Vielleicht bezieht sich aber der Be-
richt auf die Vorte des Legaten des Papstes Innocenz III. an den Großfürsten
Roman: „Der Papst, der die Fürsten von Bulgarien, Armenien und Böhmen zu
Königen erhoben hat, kann und vird auch dich mit der Königskrone schmücken.“
Zu Herberstein wäre zu bemerken, daß er in geschichtlichen Dingen nicht zuver-
343
eg ist. Auch Herders Beurteilung der Slaven hätte cine kritische Stellungnahme
estordert.
Sch. besitzt eine ganz außerordentliche Belesenheit. Wenn ich auch nicht be-
zweifle, daß sie die in dem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis an-
ührten Bücher und Aufsätze sämtlich gelesen hat, so möchte ich doch meine Be-
egen eine solche umfangreiche Angabe der Literatur nicht unterdrücken. Es
werden hier Bücher genannt, die mit dem Thema in gar keiner oder nur sehr
loser Beziehung stehen. Ich möchte nur nennen Burckhardt, Die Kultur der Re-
naissance in Italien, Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation, Döllinger, Der
Weissagungsglaube... Duhr, Geschichte der deutschen Jesuiten... Gierke, Das
deutsche Genossenschaftsrecht, und viele andere. Um so auffallender ist das Fehlen
der Werke von Strahl, Hergenröther, Palmieri, Michel u. a. Die von diesen ver-
faßten Werke über Byzanz und Rußland bringen zwar nichts Neues zu dem von
$. behandelten Thema, stehen aber doch in engerem Zusammenhang zu diesem
als viele der von S. angeführten Bücher. Auch die Angabe von Literaturgeschichten
wäre eher angebracht gewesen. Selbstverständlich können diese „Schönheitsfehler“
die verdienstliche Arbeit Schaeders in keiner Weise beeinträchtigen.
Ob übrigens das Lexikonformat der „Osteuropäischen Studien“ bei den Lesern
Beifall finden wird, möchte ich bezweifeln.
Breslau. Felix Haase.
Prof. Dr. J. Miréuk: Tolstoj und Skovoroda, zwei nationale
Typen. (Eine geistesgeschichtliche Parallele.) Sonderabdruck
aus „Abhandlungen des Ukrainischen Wissenschaftlichen Insti-
tutes. Berlin, II. Bd., 1929, S. 24—51.
„Ohne die Größe und den Vert der beiden Individualitäten in künstlerischer
und philosophischer Hinsicht abzuschätzen und zu vergleichen, ohne die Positionen
der beiden Denker einer Kritik zu unterziehen“, — will sich der Verfasser ledig-
lich darauf beschränken, „die vermeintliche äußerliche Ahnlichkeit und die innere
Verschiedenheit der psychischen Struktur der beiden Typen darzustellen“ (S. 51).
Mit Benutzung einer ziemlich großen Literatur, — unter welcher wir aber die sehr
lehrreichen kritischen Bemerkungen A. Potebnias über Tolstoj (Voprosy teoriji i
psichologiji tvordestva V. S. 268 ff.) nicht finden, — kommt der vert. zu folgenden
Ergebnissen: „ Tolstoj und Skovoroda sind beide Wahrheitssucher. Der russische
Philosoph ist radikaler Idealist, Revolutionär, beinahe Nihilist, dabei subjektiv,
einseitig orthodox und intolerant, Skovoroda konservativ, real denkend, mit
offenem Blick für Geschichte und Tradition, dabei allumfassend, nicht engherzig,
Gegner jedweden Aberglaubens. Bei der Umsetzung der Theorie in die Praxis ist
der ukrainische Denker unübertroffen, während Tolstoj sich auf Kompromisse
einlassen muß. — Die Philosophie des Fatalismus, der Determinismus des Willens
und infolgedessen der Pessimismus, das sind die Hauptzüge in dem geistigen
Antlitz des großen Russen, die Erlangung des persönlichen Glückes durch den aus-
gesprochenen Voluntarismus und daher die Lebensfreudigkeit charakterisieren das
Denken des Ukrainers Skovoroda. — Der eine, eine Grüblernatur par excellence,
ein ewiger Zweifler, der andere das Bild der göttlichen Ruhe und Ausgeglichen-
heit“ (S. 50). Auf dem Gebiete der Moralphilosophie wird auch der große Gegen-
satz zwischen dem russischen und dem ukrainischen Denker festgestellt. „Die Ethik
Tolstojs basiert auf Religion‘ und führt zu einem utopistischen Altruismus, welcher
die Rechte und das Glück des Individuums vernachlässigt und nur das einzige Ziel,
das „Reich Gottes auf Erden“ vor Augen hat. „Skovorodas persönliches Glück,
seine enge Beziehung zu antiken Mustern, besonders zu Epikur, die erkenntnis-
theoretische Begründung seiner Ethik unabhängig von der Religion, stehen in
krassem Gegensatz zur ultraradikalen Lehre Tolstojs. . . Die Pädagogik des
russischen Reformators zeichnet sich durch denselben Radikalismus ind dieselbe
Weltfremdheit aus, obzwar sie im Grunde genommen einen gesunden Kern hat.
Die Erziehungslehre des ukrainischen Philosophen ist entsprechend seiner ganzen
Geistesrichtung auf dem Boden der Wirklichkeit aufgebaut. — Das Verhältnis zur
Wissenschaft im allgemeinen und zum westeuropäischen Denken im besonderen ist
bei beiden Philosophen grundverschieden“ (S. 51).
344
Bei aller Klarheit der Darlegung ist cs noch nicht ganz erwiesen, daß alle diese
Verschiedenheiten und Gegensätze in den Ansichten der beiden Denker als typisch
für beide hier in Betracht kommenden Nationen angeschen werden müssen.
Einige Zitate aus den Werken der russischen Verfasser, Jie als Zeugnisse für den
„national-russischen Charakter der ganzen Persönlichkeit Tolstojs“ (S. 25) ange-
führt werden, verlieren ihre Beweiskraft, wenn man sich nur daran erinnert,
daß das Wort „russisch“ bei den russischen Autoren in ganz anderem Sinne ge-
braucht wird, und daß von ihnen auch die Ukrainer als „Russen“ bezeichnet
werden. — Dasselbe gilt auch von A. Brückner.
Das Ganze gibt uns eine klare Obersicht der Grundgedanken beider Philo-
sophen und zwar in einer Zusammenstellung, welche ihre Kritik und die noch
nicht durchgeführte Wertschätzung fördern kann. Die Literatur über Tolstoj
und Skovoroda hat durch diese synthetische Arbeit eine sehr wünschenswerte Er-
ganzung erhalten. K. Ce di o vy.
Joseph Strzygowski: Die Altslavische Kunst. Ein Versuch
ihres Nachweises. Augsburg 1929. Verlag Dr. Benno Filser.
296 Seiten.
Das vorliegende Buch besteht aus einer Reihe von Aufsätzen des Autors, die
teilweise bereits erschienen sind und hier eine erweiterte Bearbeitung erfahren
Den Kern der Untersuchung bildet der Versuch, ein selbständiges Kunst-
schaffen bei den Kroaten nachzuweisen, woran sich Betrachtungen über ein selb-
ständiges Kunstschaffen bei den Ost- und Westslaven und über die Vermittler-
rolle von Nord- und Osteuropa in diesem Prozeß anschließen. l
Gegen die humanistische Auffassung der historischen Schulen tritt S. gleich
in der Einleitung mit aller Entschiedenheit auf. S. lehnt vor allem die Be-
deutung der Mittelmeerkunst für die Entstehung der von ihm neu entdeckten
slavishen Kunst ab. Weder Rom noch Byzanz ist für die Formung der Kunst
bei den Süd-, West- und Ostslaven von irgendeiner Bedeutung gewesen — sondern
der slavishe Boden hat unabhängig von diesen universalen Mächten seine eigene
urwüchsige Kunst besessen.
Dem Nachweis einer selbständigen, also in erster Linie vorbyzantinischen
und vorromanischen slavischen Kunst ist dieses Werk gewidmet, das als eine Art
von programmatischer Kampfschrift gegen alle bisherigen Forschungsresultate der
historish wertenden Kunstgeschichte aufzufassen ist.
Der Nachweis wird vor allem auf zwei Gebieten geführt: auf dem der
Architektur und der Ornamentik. Zu den Hauptproblemen gehören: 1. der
Holzbau und die Entstehung der Kuppel auf einem quadratischen Grundriß,
2. der Rundbau, 3. die Dekoration, vor allem das Bandgeflecht.
Wir können hier nur einige Hauptbeispiele heranziehen und sie auf ihre
Haltbarkeit hin prüfen, da sih um diese Hauptprobleme alles dreht und von
ihrer Beweisbarkeit das Schicksal der hier neu entdeckten slavischen Kunst ab-
hängig ist.
1. Das Problem der Holzkirchenbaukunst bei den
Slaven.
Der Holzbau im Blockverband ist für die Ostslaven charakteristisch, wobei
ein quadratischer Grundriß mit oder ohne Mittelstützen, auf dem eine Kuppel
rubt, hier am a e auftritt. In ihm erblickt S. nicht den Einfluß der
byzantinischen Kuppelkirche, sondern den Ausgangspunkt bildet hier der alt-
slavische heidnische Holztempel resp. auch der nordische Holzbau, der in Nor-
wegen in den Stabwerkkirchen vertreten ist. Nach der Auffassung von S. geht
dieser Holzbau, dessen Oberreste wir in den ukrainischen Kirchen des 17. bis
18. Jahrhunderts vorfinden, auf den altslavischen Holztempel, den Schuchhard
neulich in Arcona ausgegraben hat, zurück. Auch das Quadrat mit Mittelstützen,
das in Armenien und den Mittelmeergebieten (Bagaran, Rusapha, Mysmyeh) auf-
tritt, geht auf den Holzbau zurück, der sich sowohl in Nordeuropa als auch im
Iran (Feuertempel) nachweisen läßt.
845
Nun betrachten wir den Ausgangspunkt dieser altslawischen Baukunst, den
Tempel in Arcona. Weder die Nen noch die Beschreibung bei Sexo
Grammaticus geben uns eine Vorstellung vom Aufbau des Tempels. ir wissen
nur, wie der Grundriß beschaffen war: ein Quadrat mit vier Innenstützen.
Ke e stellt jedoch Schuchhard selbst fest. Der Tempel ist erst nach der
ischen Eroberung vom Jahre 1186 errichtet worden (vgl. K. Schuchhard:
Arcona, Rethra, Vineta, Berlin 1926, S. 20: „Die Dänen hatten ja schon 1136
unter Erik Arcona zerstört und die Eroberung im Jahre 1168 traf also auf einen
ziemlich neuen Tempel.“). Wir haben es folglich mit einem Bau zu tun, der im
12. Jahrhundert entstanden ist, und aus dem wir also unmöglich Bauten mit
Innenstützen und einer Kuppel, die im 6. Jahrhundert im Mittelmeerkreis auf-
treten und dann in die byzantinische Kunst übergegangen sind (Bauten mit Innen-
stützen begegnen wir in der römischen Kunst z. B. in Trier, dann in Zeich-
nungen bei Bramantino), erklären können. $. merkt selbst nicht, wie er sich in
Widersprüche verwickelt und seine Hypothesen selbst zu Fall brin Auf diese
Weise muß dieses Beispiel, das in der Beweisführung von S. die Rolle eines Kron-
zeugen übernimmt, gänzlich ausscheiden und der altslavische Tempel darf nicht
als Ahne der osteuropäischen Holzkirchen des 17. bis 18. Jahrhunderts aufgefaßt
werden. Eine jede weitere Beweisführung erübrigt sich hier. Zugleich fällt auch
die Hypothese von irgendeiner Beeinflussung der kroatischen Steinarchitektur durch
die norwegischen Stabkirchen. Auch hier sind die Beispiele unglücklich gewählt.
Eine norwegische Zwölfmastenkirche in Borgund wird mit der Anlage in Gradina
bei Salona Wei ers Abgesehen von allen historischen Widersprüchen, wie kann
ein Bau, der früher entstanden ist (Gradina) durch Bauten, die später entstanden
sind (Borgund) beeinflußt worden sein? Und übrigens ist Gradina ein Adhteck
ın der Säulendisposition mit antikem Charakter, während Borgund überhaupt
keine zentrale, sondern eine ausgesprochene Langhauskirche darstellt. Für den
Einfluß des Nordens auf die dalmatinischen (kroatischen) Kreuzkirchen, z. B. die
Kirchen in Nona (hl. Kreuz- und Nikolauskirche), sollen finnische Kreuzkuppel-
kirchen sprechen (vgl. S. 188). Der Wunsch, die Priorität einer nordischen Holz-
baukunst gegenüber der mittelmeerländischen Stein- und Ziegelbaukunst fest-
zustellen, ist bei S. so groß, daß er alle Beweise außer acht läßt, um auch die
zeitliche Priorität dieser Holzbauten im Norden festzustellen. Er zeigt nur Bei-
spiele aus dem 17. und 18. Jahrhundert aus Finnland z. B., und sucht aus einer
bloßen, ganz unbewiesenen Voraussetzung, daß eine Holzbaukunst in Nord-
curopa bereits in heidnischer Zeit bestanden hat, aus dieser die dalmatinischen
Bauten des 8. und 9. Jahrhunderts genetisch zu erklären. Daß sich diese Form
der kreuzförmigen Anlagen in Dalmatien an die mittelmeerländishe Kunst
(römische Grabdenkmäler [vgl. Bramantino: Le rovine di Roma, Taf. XXXII],
altchristliche und byzantinische Bauten [Galla Placidia]), organisch anschließt und
die letzte ihre historische und chronologische Voraussetzung bildet — übersieht S.
ganz, wahrscheinlich, weil es das nächstliegendste ist. Dieselbe zwangsmäßige Vor-
stellung beherrscht seine Ableitung der dalmatinischen Rundbauten mit
(Spalato Dreifaltigkeitskirche, Baptisterium und S. Orsola in Zara) von Holz-
kirchen oder von Bauten, die viel später im Norden entstanden sind. Als Be-
weise gelten wiederum Bauten, die um 500 oder 800 Jahre später im Norden ent-
standen sind, z. B. die Achteckkirche in Treppeln (Brandenburg) 1670 oder die
gotische Kirche in Ludorf in Mecklenburg 1846. Auch diese Kirchen sollen auf
altslavische Uberlieferungen zurückgehen, obwohl jede Beweisführung ebenso wie
bei der Marienkirche auf dem Harlungerberge in Brandenburg (die einen aus-
gesprochen romanischen Übergangsbau bildet) fehlt. Daß die dalmatinischen
Bauten durch chronologisch erst nach ihnen entstandene Bauten nicht erklärt
werden können, ist klar, ebenso wie es klar sein muß, daß die zeitlich älteren und
formal ihnen ähnlichen römischen und altchristlichen Bauten ihre Vorbilder sind,
wie z. B. die an die Minerva Medica sich anschließenden Rundbauten, die wir
aus späteren Zeichnungen kennen, wie z. B. das römische Hypogeum bei Serlio
Opere di architettura nach Rivoira Le Origini del architettura Lombarda Bd. I
Fig. 114 oder das Sepolcro dei Calventii im Cod. Vat. 8480 bei Rivoira Archit.
Romana S. 229.
346
— — — —
H . bi AN SR e N HHNE Ro Boa HA
eB A K. A DR A A Wu r SB
Dasselbe gilt auch von den lechischen frühromanischen Bauten, die S. von
der ,,altslavischen“ Quadratform ableitet. Wir haben bereits die Unhaltbarkeit der
Hypothese von dem quadratischen Ursprung einer altslavischen zeitlich vor-
romanischen Tempelform erwiesen (Arcona 12. Jahrh.). Es kommt aber noch
dazu, daß die ischen Bauten weder vier Stützen noch eine Kuppel besitzen.
Und vor allem sind sie längsgerichtete axiale, durch eine Apsis und ein Dach
betonte Langhauskirchen (Typus II—V nach Lehner) und besitzen ausgesprochene
romanische Formen. Man kann auch nicht die Form des Grundrisses, wie
sie im romanischen Bau aus Vinoves auftritt, mit der Holzbaukirche von Velké
Karlovice aus dem 17. Jahrhundert in Zusammenhang bringen, weil das wiederum
ein circulus vitiosus wäre wie bei den oben erwähnten Beispielen. Es steht nicht
fest, daß sich diese Form in der Holzarchitektur der vorromanischen Zeit erhalten
und daß die Kirche in Velké Karlovice diese alte Form bewahrt hat. Vielmehr
muß bei der letzten mit einem starken Einfluß der Steinarchitektur gerechnet werden.
Nichts kann uns darüber besser belehren als die Scheidung in Holzkirchen mit
basilikalen Tendenzen (Vesteuropa) und Holzkirchen mit zentralen Kuppelanlagen
(Osteuropa). Hier hat sich die Langhauskirche, dort die Kuppelarchitektur stärker
durchgesetzt, obwohl wir in der Barockzeit auch im Vesten zentralen Stein- und
Holzkirchenanlagen begegnen, weil auch die monumentale barocke Stein-
architektur sich zentralen Bauaufgaben zugewendet hat. (Ausführlich behandelt
diese Fragen V. Birnbaum, „Novy nazor na potatky kfest’anske česke architek-
tury“, Niederlüv Sbornik 1925, und V. Zaloziecky, „Gotische und barocke Holz-
kirchen in den Karpathenländern, Vien 1926.)
Auch in der Donatuskirche in Zara erblickt S. eine altslavische Bauart; er
sieht darin eine Form, die im nordischen Vehrturm vorgebildet war und sich
auf altslavische Traditionen zurückführen läßt. Aber auch hier fehlen die Voraus-
setzungen für eine solche Annahme sowohl in zeitlicher als auch in baukünst-
lerischer Beziehung. S. übersieht wiederum die zeitliche Priorität der Mittel-
meergebiete, welche die Form eines Rundbaus mit Umgang in folgerichtig ver-
laufender Entwicklung hervorgebracht haben. Die Anlage in Zara kann am
ehesten von San Vitale in Ravenna und ihr verwandten Anlagen abgeleitet
werden. Dafür sprechen ähnliche Baumotive wie z. B. der Umgang, die
Emporen, die vorspringenden Apsiden, der quergestellte Nartex und die Mauer-
gliederung durch Blendarkaden. Der Unterschied zu San Vitale besteht in der
viel massiveren, gedrungeneren Formensprache, die bereits auf neuere romanische
Tendenzen schließen läßt. Da wir Bauten wie San Vitale in Ravenna vor ihrer
Entstehung in Nordeuropa nicht vorfinden, kann eine andere Ableitung von
S. Donato nicht in Erwägung gezogen werden.
Auch die Trichternischen, die S. an der hl. Kreuzkirche in Nona konstatiert,
gehören seiner Auffassung nach zur nationalen Eigenart der kroatischen Archi-
tektur. Daß dies nicht der Fall sein kann, beweisen die Beispiele der römischen
und altchristlichen Kirchen (San Giovanni in Fonte in Neapel, San Vitale in
Ravenna, Sta Fosca in Torcello usw.); sie finden auch im Osten Verbreitung,
von der altchristlichen Architektur gehen sie in die romanische über (vgl. San
Ambroggio, San Lorenzo in Mailand und viele andere).
Und zum Schluß noch über das Völben. S. behauptet, die Kroaten hätten
200 Jahre früher als die Langobarden gewölbt. Beweise für diese Behauptung
werden nicht gebracht, weil sie auch nicht erbracht werden können. Vor allem
müßte aber statt des ziemlich fluktuierenden völkischen Begriffes Kroaten und
Langobarden der Begriff: Lombardei und Dalmatien belassen werden, weil die be-
harrenden (stationär- historischen) Kräfte, um mit den von S. geprägten Begriffen,
die sich aber in diesem Fall gegen ihn selbst wenden, zu operieren, hier primär
einge wirkt haben müssen. Beide Provinzen gehören auf das engste zum römi-
schen (west- und 6:trömisch- byzantinischen) Kreis. Es kann nur die Frage ge-
stellt werden, welcher Kreis sich im frühen Mittelalter enger an das spätantıke
Erbe angeschlossen hat. Daß es die Lombardei war, wird wohl kaum jemand be-
zweifeln. Von diesem Standpunkt betrachtet müssen die Probleme der lombar-
dischen Wölbungskunst entwicklungsgeschichtlich wichtiger sein als die peri-
pherischer gelegenen dalmatinischen. Und noch ein allgemeinen Trugschluß. Zur
23 NF 6 347
Bekräftigung der slavishen Herkunft der dalmatinischen Architektur werden
nordische (skandinavische) Beipiele 5 Die Kroaten kamen nach 8.
aus diesem Norden und brachten diese Formen nach dem Süden. Aber warum
werden Bauten nordgermanischer Völker zur Stützung einer davischen Hypothese
der kroatischen Baukunst he en? Es ist eine Sackgasse voller Wider-
sprüche, in die sich $. scheinbar Ët begibt.
Ein Beispiel: ornamentierte Platten mit slavischen Fürstennamen (latei-
nische Inschriften) werden als slavisches Kunstgut bezeichnet. So z. B. der so-
E Pozzo des Viteslav. Ahnlich ornamentierte Pozzos besitzen wir in
Oberitalien aus dem 8, bis 9. Jahrhundert (vgl. Ongania Raccolta delle Vere da
Pozzo in Venezia). Der Stil, der uns hier entgegentritt, ist der enannte
langobardische, der die Erbschaft der Spätantike und des altchristlichen Stils an-
getreten hat: als Hauptmotiv finden wir das Flechtband und eine Reihe von
christlichen symbolischen Motiven (Tiere, Kreuze, Lebensbäume, Palmetten usw.).
Die Kunstabsicht ist auf die Fläche eingestellt, die bis zum Sieg der romanischen
Kunst hier vorherrschend ist als Kontinuierung der letzten Phase der spätantiken
Kunst (vor allem Ravenna ist hier von Bedeutung als eine der letzten Etappen
dieser Stilentwicklung). Dieser ornamentale Stil, der in Dalmatien später als in
Oberitalien auftritt, wird von S. ebenfalls als altslavisches Kunstgut bezeichnet,
wobei als Voraussetzung die Ornamentik des Osebergschiffes in erster Linie in
Frage käme. S. setzt sich mit dieser Behauptung wiederum über alle zeitlichen
Voraussetzungen hinweg. Die Ornamentik Grebe rgschiffes fällt ins 9. Jahr-
hundert. Venn wir eine Beeinfl der altkroatischen Ornamentik durch die
des Osebergschiffes annehmen, so muß sich diese Beeinflussung ipso facto auch
auf die ganze enannte langobardische Ornamentik erstrecken, dieselbe cine
stilistisch ganz homogene Gruppe mit der altkroatischen bildet. Diese Be-
einflussung setzt also voraus, daß die altkroatische und die langobardische Orna-
mentik später entstanden ist als die des Osebergschiffes. Ein viel früheres, be-
reits im 7. Jahrhundert nachweisbares Auftreten der sogenannten langobardischen
Ornamentik beweist eindeutig die Unmöglichkeit ihrer Ableitung von der
nordischen Ornamentik des Osebergschiffes. Dazu kommen noch zwei Faktoren,
welche gegen einen Einfluß der skandinavischen Ornamentik auf die altkroatische
sprechen: 1. der Nachweis, daß die sogenannte langobardische Ornamentik aus dem
spätantiken Ornamentschatz stammt, 2. eine verschiedene Art der Verwendung
von ornamentalen Motiven im Süden (Mittelmeerkreis) und im Norden.
Bandgeflecht, das zu den charakteristischen Merkmalen der sogenannten
langobardischen Ornamentik gehört, finden vir in allen hier auftretenden Kombi-
nationen bereits in der römischen und spätrömischen Kunst. Das Motiv der
Schlinge begegnet 2. B. in den römischen Mosaiken des, Theodorichpalastes in
Ravenna. Geflechtsornamente (Zweiriemengeflecht) ebenfalls in römischen
Mosaiken (Aquileia, Silchester, Gladiatorenmosaik in Rom, in afrikanischen
Mosaiken usw.). Gesäumte Vierecknetze, ein sehr beliebtes langobardisches Motiv
(vgl. Spalato Cancelli) sind in den Chorschranken von San Vitale in Ravenna
vorgebildet. Netzornamente kommen an ravenatischen Kapitellen vor, vgl. San
Vitale in Ravenna, auch im Osten (Kasr Ibn Wardan, Ägypten usw.). Diese
Beispiele genügen, um eine motivische eg An: der sogenannten langobardi-
schen SI der aus ihr hervorgegangenen dalmatinischen Ornamentik von der
spätantiken zu beweisen. Aber vor allem müssen wir feststellen, daß in der
Ornamentik des Osebergschiffes Motive vorkommen (es sind allerdings konstitutive
Hauptmotive), die wir ganz umsonst sowohl in der altkroatischen als auch in der
langobardischen Ornamentik suchen würden. Es sind dies Tiere, welche in die
Kreisgeflechte zoomorph einbezogen werden und somit die ganze Ornamentik mit
organischem Leben erfüllen. Die Tiere besitzen meist einen phantastischen
Charakter (vgl. Wagenkasten und Schmuck des Schiffes). Diese phantastisch-
verschlungene, asymmetrische irrational-organisch geführte Ornamentik des Ose-
bergschiffes bilder einen Gegensatz zu der formal durchdachten, trocken natura-
348
AnnE Re FEF
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"2 D RBS eg ANN J. Hr RW A RR "e BOK
listischen, Motiv und Tier isolierenden Ornamentik des altkroatischen und laago-
bardischen Dekors. Eine Beeinflussung von Norden her muß aus diesem Grunde
auch entschieden abgelehnt werden. S. meint, die Kroaten wären aus dem Norden
ausgewandert, bevor das nordische Ornament sih zum Tierornament entwickelt
hätte. Welche Beweise werden angeführt? Eben keine — es ist bloß eine Flucht
ins Unbekannte, mit der für die Wissenschaft nichts gewonnen wird.
Ebenso kann der Versuch von S. als unbewiesen gelten, die skandinavische
Tierornamentik aus Sibirien und China abzuleiten. Das Rolltier der Petersburger
Eremitage und zahlreiche andere sibirische Funde beweisen, daß derartige nature-
listische Tierdarstellungen, wie sie hier auftreten, die phantastisch zoomorphen
Motive der nordgermanischen Ornamentik nicht zu beeinflussen imstande waren.
Der Versuch des Nachweises einer altslavischen Kunst mit Methoden, die S.
in dem vorliegenden Buch anwendet, muß als gescheitert betrachtet werden.
Kein einziger Beweis ist haltbar, alles zerrinnt in Nichts, wenn man die Fragen,
die er anregt, näher prüft.
Man hat das Empfinden, daß S. sich von gewissen modernen völkisch-
nationalen Vorstellungen nicht befreien kann und dieselben in die Vergangen-
heit projeziert. Es ist ein Stück längst überwundener Romantik, die uns da ent-
gegentritt, einer Romantik, die zu schön ist, um wahr zu sein.
Berlin. V. Zaloziecky.
Dr. Panov, Petur: Die altslavische Volks- und Kirchenmusik.
— Wildpark - Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athe-
naion (1930). 31 S. II Taf. 4°. (= Handbuch der Musikwissen-
schaft, herausgegeben von Dr. Ernst Bücken. Lieferung 38.)
Nachdem das Guido Adlersche Handbuch der Musikgeschichte, das erst kürz-
lih in 2. Aufl. erschien, einen in der 2. Aufl. vermehrten Abschnitt über die
russ. Kirchenmusik aus der bewährten Feder O. v. Riesemanns gebracht hat,
widmet das Bückensche Werk der altslavischen Volks- und Kirchenmusik eine
ganze Lieferung. Dieses Bestreben, in deutschen enzyklopädischen Werken das
slawische Leben zu berücksichtigen, ist mit der größten Freude zu SEN zu-
mal da die Kenner dieses Gebietes in Deutschland noch recht spärlich vertreten
sind, und wir müssen Herausgeber und Verleger dankbar sein, daß sie für die
Bearbeitung dieses Themas in ihrem Werk Sorge getragen haben. Besonders auch
die kostspieligen Beilagen und reichen Notenbeispiele sind des Dankes wert. Die
beigefügte Tafel I mic der großen „Zastavka“ und der Überschrift in „V ja?:
Knigaglagolemaja Irmosy in den schönen bunten Originalfarben der
Hs. ist wohl überhaupt die erste derartige Reproduktion in einem deutschen
Werke. Die deutsche wissenschaftliche Literatur ist recht arm an Werken über
das hier behandelte Gebiet, und die slavischen Werke sind in Deutschland so
schwer zugänglich, daß man jeden Beitrag hierüber freudig begrüßen muß. Um
so schmerzlicher ist es mir, daß ich die Darstellung Panovs in vielen Punkten nicht
als gelungen bezeichnen kann, und man wird seiner fleißigen Arbeit da gerade
diese schwierigen Arbeitsverhältnisse in Deutschland zu gute halten müssen.
Jeder Vortragende muß sich allemal zuerst darüber klar werden, wo und
vor wem er spricht, denn das entscheidet im wesentlichen über das Wie und das
Was seiner Darbietung; und man wird Herrn Dr. Panov den Vorwurf nicht er-
sparen können, daß er diese Überlegung nicht angestellt hat. Es war seine Auf-
gabe, in allgemeinverständlicher Form auf gediegener wissenschaftlicher Basis eine
Darstellung der „altslavischen Volks- und Kirchenmusik“ zu geben, die ihre
wesentlichsten Merkmale womöglich mit Beispielen charakterisierte, ihre Ge-
schichte kurz entwickelte, über den Stand der Forschung zusammenfassend be-
richtete, in allen Dingen den Weg zu eingehenderer Orientierung wiese und die
große wis senschaftliche Literatur sowie bibliographische Hilfsmittel aufführte. Was
aber bietet Panov? Zwei Untersuchungen, die in einer musikwissen-
schaftlichen Zeitschrift am Platze gewesen wären und von denen die erste hätte
betitelt werden müssen: „Die Volksmusik der Bulgaren, Serben und Russen, an
phonographischen Aufnahmen des Staatlichen Phonogramm-Archivs in Berlin er-
349
läutert“, die zweite: „Theorie und Praxis der russischen Krjuki-Notation.“ Was
darüber hinaus in Einleitungen geboten wird, sind meist ganz unzulängliche und
dazu noch oft genug unklare und unrichtig formulierte Allgemeinheiten.
Der Verf. beschränkt sich in seiner ersten Abhandlung auf die Volksmusik
der Bulgaren, Russen und Serben. Er begründet dieses Verfahren gleih zu An-
fang mit folgenden Worten: „Die Hauptvertreter der altslavischen Volks- und
Kirchenmusik im Sinne einer stilistischen Einheit sind die Bulgaren, Russen und
die Serben. Während die anderen südslavischen (!) Stämme, Kroaten, Slovenen,
Böhmen (!) usw. mehr oder minder eine westliche Orientierung erfahren haben,
standen diese jahrhundertelang abseits des Flusses westlicher Zivilisation, genug,
um die Möglichkeit einer eigenartigen Kulturentwicklung zu schaffen. Andererseits
wirkte die einheitliche Religion, Schrift und Sprache (!) als ein mächtiges Binde-
glied, als Hüter und Träger der altslavischen Geisteskultur. . . .“ Um es kurz
zu sagen: der orthodoxe Osten hat nach Panov allein den Anspruch, seine Volks-
weisen „altslavisch“ zu nennen, während der Westen unter den Einfluß der curo-
päischen Zivilisation geriet und daher nach Ansicht des Verfassers hier nicht be-
rücksichtigt zu werden braucht. Einer solchen Auffassung des Begriffes „alt-
slavish“ vermag ich nicht beizustimmen. Will man nämlich darunter das Gut an
Volksweisen verstehen, das den Slaven eigentümlich war, als sie noch eine völkisch
wenig differenzierte Einheit bildeten, so wird der orthodoxe Osten bei den
starken, fremden Einflüssen von Byzanz und dem Orient kaum slavischer sein
als der Westen mit seinen europäischen Einflüssen. Panov selbst zählt ja
(Zeitschrift für Musik wissenschaft X, S. 166) eine Fülle fremder Einflüsse auf die
Volksmusik der „Ostslaven“ (d. i. Bulgaren und Russen) auf, so daß es ihm
„überhaupt fast unmöglich erscheint, nachzuweisen, wie die altslavische Musik
beschaffen war“ (ebenda). Er betont ferner selbst den engen Zusammenhang
dieser Volksmusik mit der Kirchenmusik, und gerade die Kirchenmusik hat nach
den letzten Forschungen Preobratenskijs (in „De Musica“ II 1926) wesenclich
mehr von Byzanz übernommen, als man früher geglaubt hat. Venn der Verf.
meint, die kultischen Gesänge der Sonnenwendfeiern usw. hätten sich trotz des
Widerstandes der Kirche aus heidnischer Zeit erhalten, so gibt es doch zunächst mal
derartige Gesänge auch bei den Westslaven, und so müßte man ferner erwarten,
daß Panov hier gerade viel Wert auf die Behandlung dieser Gesänge legen
würde. Aber gerade einen Gesang zur Sonnenwendfeier hat er nicht behandelt,
und ob die hier untersuchten Hochzeits- und Liebeslieder usw. eben zu jenen aus
heidnischer Zeit erhaltenen Weisen gehören, ist doch wohl zweifelhaft. Kurz, die
Umgrenzung des Gebietes ist recht unglücklich ausgefallen.
In dieser ersten Abhandlung werden nun weiter die Skalen der bulgarischen,
serbischen und russischen Volksmusik behandelt und an Hand von 38 Beispielen
nach Berliner Phonogrammen erläutert. Die dabei gemachten musikwissenschaft-
lichen Bemerkungen verdienen auch an sich meist vollste Beachtung und nur
weniges erscheint willkürlich oder schief. So bietet Panov in Beispiel 7 ein
„Familienlied“:
J. 1% Mm
und bemerkt:
Dazu wird als Leiter aufgestellt:
350
Ch Ge
Wie. ,
EsAN
nah a L
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8. 4
E
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GE
Rea Se vd oes!
12 1
„Wenn man bedenkt, daß die Töne f und h hier eigentlich Durchgangscharakter
haben und deshalb nicht ins Gewicht fallen, so ist das Ergebnis eine hal bt on
os-fiinfstufige Leiter, deren Tonmaterial aus den typischen Quint-
Quartschritten e—a, d—a; d—g, c—g besteht: —..”
Offenbar meint Panov, f und h hätten Durchgangscharakter in der Skala. Aber
hier kommt es doch darauf an, ob sie Durchgangscharakter im Liede haben, das
aber ist nicht der Fall; in cl jedenfalls liegt h sowohl auf dem guten Taktteil im
Anfang des Motivs als auch auf dem Schluf, ja, der Verf. selbst bezeichnet (S. 5
oben) die Großterz h—g als gewichtiger. So ist m. E. hier die halbtonlose Penta-
tonik eine recht willkürliche Konstruktion.
Von den gebotenen Beispielen ist leider ein Teil nicht mit Text versehen, wie
überhaupt den Texten wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Schwer enttäuscht
jedoch wird man, was die Hinweise auf Hilfsmittel zur weiteren Vertief des
Studiums anlangt. Innerhalb der Darstellung wird Literatur gar nicht angeführt,
und in der Literaturübersicht zur Volksmusik finden wir nur — mirabile dictu —
4 Zeitschriftenaufsitze des Verfassers! — die übrigens auch nur sehr wenige
Litersturangaben enthalten. Das ist recht befremdlich. Ist denn wirklich die ge-
samte Arbeitsleistung der Romantik aus der Mitte des ve enen Jahrhurderts,
als etwa die Sammlungen und Arbeiten eines Kirtevskij, eines Sejn, eines Vuk usw.
usw. und das auf ihnen aufgebaute neuere Standardwerk eines Sobolevskij über
die Texte des großrussischen Volksliedes, die Arbeit der Evgenija Lineva über die
Melodien und so vieles andere diesen 4 Aufsätzen Panovs gegenüber so ganz
bedeucungslos?
Erwas besser ist es der Literatur über den russischen „ angen.
Jedoch fehlen hier leider auch wichtigste Werke. Metallovs Azbuka d E
ije, Smolenskijs meisterhafte Ausgabe der Azbuka des Mezenec, die Grundlage
r jede wissenschaftliche Arbeit über das Krjuki-System, Preobra‘enskijs Kul’tovaja
muzyka v Rossii von 1924, Metallovs Oterk ist. pravosl. cerk. płnija hätten z. B.
doch wohl genannt werden müssen. In diesem zweiten Abschnitt seiner Dar-
t sih Panov auf den Znamennyj Rospév. Wenn man
diese Einschränkung vielleicht auch nicht von jedem Gesichtspunkt aus gutheißen
kann, so wird man sie doch hinnehmen müssen. Nach einigen kurzen einleitenden
Worten über das Krjuki-System in seiner Entwicklung bis zum Auftreten der
5 - Liniennotation, gibt P. eine kurze Darstellung der tonalen Beschaffenheit des
osmoglasie“, die im allgem. mit der Tradition in Einklang steht. Darauf folgt auf
6 Seiten eine Wi der Krjuki-Notationskunde auf Grund von Smolenskijs
„O drevnerusskich pévéeskich notacijach“ und von Razumovskijs Einleitung in den
„Krug cerkovnago drevnjago znamennago pénija“ und seines „Cerkovnoe Be v
Rossii“ mit Abdruck einiger Übertragungstabellen von ebendaher. Es folgt auf
weiteren 6 Seiten ein Vergleich von einzelnen Gesängen nach den Krjuki des
„Krug“ mit entsprechenden Berliner Phonogrammen, % Seite „Melodie und Form
der Kirchengesinge“ und 5 Seiten Musterbeispiele einer Übertragung von Gesängen
Krug unter Berücksichtigung der Phonogramme. Hierzu ist zunächst zu
bemerken, daß, wie schon gesagt, dieser Teil ganz einfach als Untersuchung in
Gestalt eines Zeitschriftenaufsatzes dem größten Interesse begegnen müßte. Als
Darstellung des Znamennyj Rospév enttäuscht er aufs ärgste. Die ganze
Notationskunde konnte auf die charakteristischen Merkmale des Systems be-
schränkt und mit einem Hinweis auf das hier ja leicht erhältlihe und vortreff-
liche Buh O. v. Riesemanns erledigt werden, und die Auseinandersetzung über
Theorie und Praxis der Krjuki-Übertragung war ganz wesentlich kürzer zu be-
handeln, zumal da sie, wie wir noch sehen werden, absolut anfechtbar ist. Da-
gegen vermißt man aufs empfindlichste ein Eingehen auf die Übernahme des
Kirchengesanges durch die Russen von Byzanz, wozu ganz wesentliches Material
erst vor 4 Jahren der voriges Jahr verstorbene Antonin Viktoroviè Preobraženskij
geliefert hat (De musica II). Man vermißt weiter einige Worte über die
351
»
Kondakariennotation über die äußere Geschichte des Znamennyj Rospěv, über die
Quellen für seine Kenntnis, über die Hirurgische Seite dieses Gesanges, über de
ype
Entwicklung gespielt hat, über Chomonie, i oe pknie, und partesnoe
p@nie, in musiktheoretischer Hinsicht über das säuberlich von Voznesenskij ge-
sammelte und analysierte Motivmaterial und seine Bedeutung für die Modalsedc,
die schon seit sehr langer Zeit weit über den tonalen Aufbau der Skalen
dominiert u. a. m.
Mit ein paar Worten aber muß ich auf Panovs Untersuchung über Theorie
und Praxis der Tonschrift eingehen. Diese Auseinandersetzung fußt auf folgender
Methode: Verf. überträgt nach Razumovskij und nach Smolenskij den Oster-
tropar: „Voskresenie christovo“ in 5-Liniennotation und setzt in gleicher Notation
darüber das Phonogramm (Berliner Staatl. Phon. Archiv Nr. 22) und zieht
aus dem Vergleich dieser beiden Notierungen Schlüsse. So folgert er aus Ab-
weichungen, daß der Sänger oft unter gewissen Umständen die Krjuki-Notation
anders sänge als die Theorie der Übertragung verlangt. Dagegen ist von vorn-
herein einzuwenden, daß doch die Aufnahme des Phonogramms nur dann in
diesem Sinne mit einer niedergeschriebenen Notierung verglichen werden kann,
wenn diese Nonereng eben auch den Sängern bei der phonographischen Aufnahme
vorgelegen hat. aber diese Sänger gerade nach der Notierung des Kru
gesungen haben, ist durchaus unwahrscheinlich, da die Altgläubigen meist
nach Handschriften singen. Nun weisen diese Handschriften untereinander
viele Abweichungen auf, je nachdem welcher Tradition der sehr vielfältig ge-
spaltenen Altgläubigen sie folgen. So fußt der Se: der vicina noch
immer auf der Gestalt der Gesänge mit Chomononie aus dem XVII. Jahrh., während
die übrigen die Reformen des Mezenec angenommen haben, die auch im Krug
mit berücksichtigt worden sind. Und so ist denn dieser ganze Vergleich metho-
disch unzulässig, wenn man aus ihm Schlüsse über die tatsächliche Auflösung der
Notation ziehen will. Hier war nur möglich entweder ein verpa des
gramms mit der Fassung der Vorlage, nach der die Sänger bei der phonogr.
Aufnahme sangen, oder aber ein Vergleich der Notierung „Krug mit einer
Aufnahme einer Aufführung des Gesanges nach dem „Krug“. Die bei der Methode
Panóv’s gs ee Unterschiede können ja doch zum Teil auf Notierungs-
differenzen des „Krug“ und der Vorlage des Phonogramms beruhen. Und so Bt
auch Verf. hier manchen Irrtümern nicht entgangen. Zunächst konstatiert er
Abweichungen hinsichtlich der Tondauer und des freien Rhythmus bei den Zeichen
„skamejca“ und „čaška“. Daß hier die moderne Tonschrift schwer eine ganz
enaue Wiedergabe der russischen Kirchengesänge ermöglicht, wissen wir ja
nge, und alle Notationskunden betonen ja prinzipiell, daß die in ihnen -
gebenen Übertragungen nur eine ungefähre Gültigkeit beanspruchen können.
Gedanke Panöv’s aber, daß die Verlegung des Schwerpunktes auf eines der beiden
Viertel sowohl bei der skamejca als auch bei der ča ška von der Tonalicät
und von der Stärke der Betonung der Silbe abhängig sei, ist sehr interessant, nur
müßte er an einem etwas umfangreicheren Material mit einwandfreier Methode
nachgewiesen werden. Wenn Verf. aber fortfährt: „Noch schwieriger ist die
positive Tonlage dieser Zeichen zu erraten, wenn die Buchstaben Schajdärows
oder die Merkstriche Mesenez fehlen“ und in diesem Zusammenhang auf die
Zeichenfolge ,,krjuk, Catka, skamicjca, stat’ja zakrytaja malaja, stat“ ja prostaje”
lr D #TZın? in Zeile II und HI und VI seines Beispiels eingeht,
so ist dazu zu bemerken, daß er hier die in dieser Zeichenfolge vorliegende
„Popèvka“ nicht erkannt hat. Diese heißt ,mereZa polnaja“ und hat hier
folgende Auflösung: (vgl. Metaltov:
Azbuka krjukovago pénija. Moskva 1999. S. 81—64). Die Übertragung, =
Panov „laut Theorie“ dafür gibt, ist nicht richtig (vgl. Mezenec: Azbuka S.
und 102, sowie die Beispiele in den strok i), also kann auch sein Vergleich dieser
352
„Theorie“ mit der Praxis nicht das Richtige treffen. Interessant wäre es dagegen
ewesen zu untersuchen, warum beim zweiten Sema dieser poptvka aa’ alles
Ben im Phonogramm d—e gesungen wird anstatt wie sonst c—e. Sollte in
den Krjuki der Singer de MereZa polnaja so zmijceju gestanden
A
haben: ( Tanne ? In der Strophe V weist auch der Krug diese
Variante der „mereža“ auf (über dem Text vsemu mir u) und daß die Hand-
schriften in solchen Fällen oft variieren, ist je hinlänglich bekannt. Eine mir vor-
liegende Chomoniehandschrift des 17. Jahrh. notiert an dieser Stelle z. B. mit
Čaška und skamejca, anstatt mit z mi jca. — Noch irreführender sind die
Bemerkungen auf S. 28.zur Zmijca. Die erste der Tonfolgen der „Praxis“
E ist auch der „Theorie“ sehr wohl bekannt (vgl. Mezenec: Azbuka
S. 88 und Metallov: Azbuka S. 20), und die ganze Note in Strophe IV
ist wohl sicher in der Vorlage der Sänger keine zmijca, sondern eine
prostaja str&la gewesen. Ohne die Kenntnis der Vorlage, läßt sich ben
über die „Praxis“ der Sänger in der deere der ihnen vorliegenden Zeichen
kein Urteil fällen. Ja selbst, wenn uns die Notation der Vorlage bekannt wire,
könnten wir nur die Praxis eben gerade dieser Singer charakterisieren, nicht aber
die Praxis schlechthin, denn hier gibt es viele Unterschiede, ganz besonders bei
den Popovcy und den Bezpopovcy. Ganz ähnlich ist es mit den folgenden Be-
merkungen zu dem Stück „voskresenie tvoe“. Die hier vorliegenden Unterschiede
dürften bestimmt auf die Verschiedenheit der Vorlagen zurückgehen; auch die
vorhin genannte Hs. des 17. Jahrhunderts notiert hier abweichend:
be Le „url rb : Stopica s očkom, golublik borzyj, krjuk,
stopica (viermal hintereinander) — vielleicht noch „einförmiger“.
Warum die Zeichen m mì krjuk und palka „von Natur aus tonlich und
rhythmisch veränderlich“ sein sollen, bleibtein Geheimnis des Verfassers. — Es
ist leicht verständlich, daß die Berücksichti gung solcher „Ergebnisse der Unter-
suchung über die Funktion der Zeichen und über die Beziehungen zwischen
Phonogramm und“ — wie hinzugefügt werden muß: einer gar nicht dazu-
gebörigen „Notation“ in den am Schluß folgenden „Musterbeispielen“ manche
Willkürlichkeiten zeitigen.
Ganz abgesehen von diesen methodischen Fehlern wimmelt es in dem ganzen
Abschnitt von allerhand Schönheitsfehlern: Eine „Synodalkirche“ hat die alten
Gesänge nicht herausgegeben, sondern der Svjat&j3ij Synod, die oberste
Kirchenbehörde Rußlands, Es geht kaum an, die Staroobrjadcy als
„Landbevölkerung“ zu bezeichnen. Die Originalität der ischen Kird
gesänge wird S. 14 stark überschätzt, woran natürlich die romantisch-patriotische
Einstellung Razumovskij’s und Smolenskij’s hauptsächlich die Schuld trägt.
Preobraženskij hat hier engste Beziehungen zu Byzanz aufgewiesen, die noch
nicht ausgebeutet sind. — Die Stilisierung der „Krj ki“ ist ganz verunglückt.
Panov hätte den Duktus des „Krug“ oder aber Metallovs (bzw. Riesemanns)
wählen, oder sich den Hss. anschließen sollen; das gilt besonders von den
strély und der zmijca. Befremdlich ist die Art und Weise, wie die Ge-
sänge des „Krug“ zitiert werden. Beim Ostertropar: „Voskresenie christovo“
heißt es: „Krjukı Notation — Band II, S. 110 Modus 7.“ Diese Seitenzählung
hat Panov sich selbst zurechtgelegt; im „Krug“ ist, wie in Hss., eine Blattzählung
mit durchlaufenden kirchenslavischen Zahlen-Buchstaben durchgeführt, die hätte
T’
benutzt werden sollen. Der fragliche Gesang steht auf Blatt 167r ( f 23)
353
Wenn dem Verf. eine ganze Reibe stilistischer Entgleisungen unterlaufen ist,
so ist das natürlich bei einem Ausländer nicht verwunderlich. Doch manchmal
ist infolge eines gewissen Strebens nach blumiger Ausdrucksweise und eines
Mangels an Logik der Zusammenhang nicht ohne weiteres zu erraten. Hier ver-
mißt man mitu iter die Einwirkung des Hrsg.
Im ganzen also muß leider gesagt werden, daß diese Lieferung des Bücken-
schen Handbuches der Musikwissenschaft den Leser kaum befriedigen dürfte.
Breslau. E. Koschmieder.
Jachimecki, Zdzislaw: Muzyka polska. Cz. 1: Epoka Piastöw
i Jagiellonów. — (Warszawa: Trzaska, Ewert i Michalski)
[um 1929]. 27 S. 4° [Kopft.]. (Polska, jej dzieje i kultura.
Zesz 23. 24.)
Im Doppelheft 28/24 bringt das verdienstvolle enzyklopädische Werk „Polska,
jej dzieje i kultura“ den ersten Teil einer vorzüglich geschriebenen Darstellung
der Musikgeschichte Polens aus der berufenen Feder des bekannten Vertreters
der Musikwissenschaft a. d. Univ. Krakau, Zdzislaw Jachimecki. Diese vortreff-
liche Zusammenfassung der ältesten polnischen Musikgeschichte in der Piasten-
und Jagiellonen-Epoche, mit ihrer feinsinnigen Analyse einer ganzen Reihe musi-
kalischer Denkmäler aus der Frühzeit polnischer Kultur, die auf der breiten Basis
einer umfassenden Kenntnis der gesamten europäischen Musik und ihrer Probleme
die polnische Musik in den Zusammenhang der gesamten Entwicklung einordnet,
sollte in musikalisch interessierten Kreisen größte Beachtung finden. Bei aller durch
den Charakter des ganzen Werkes bedingten Kürze gewährt sie mit ihren zahl-
reichen Notenbeispielen und vortrefflichen Reproduktionen aus Tabulaturen usw.
auch dem Unkundigen durch gewissenhaft gearbeitete Literaturnachweise in zweck-
mäßiger Auswahl die Möglichkeit leichten Eindringens in dieses Gebiet und weiterer
Vertiefung der Studien.
Nach einer Beleuchtung der ältesten Denkmäler liturgisch-religöser Tonkunst
wird da auf die Tätigkeit und das Schaffen des Mikolaj z Radomia mit seinem noch
ungefügen Kontrapunkt eingegangen, in dem noch Sekundenparallelen und ähn-
liche Dinge auftreten, wie wir sie aus der zeitgenössischen Musik von Josquin des
Près bis Palestrina gewöhnt sind. An Beispielen gibt Jachimecki u. a. einige Takte
aus einer monodischen Komposition zu dem panegyrischen Text auf die Geburt
Kazimierz’s, des 2. Sohnes Jagiellos (16. 5. 1426) „Hymnographi aciem mentis
lustratae faciem...“ mit einer zweistimmigen Instrumentalbegleitung, ein inter-
essantes längeres Stück aus einer dreistimmigen Instrumentalkomposition, ein Stück
aus einem Credo, einem Gloria u. a. Weiter geht Jachimecki auf die leider
nur trümmerhaft erhaltenen Reste polnischer Musik aus der 2. Hälfte des 15. Jahr-
hunderts und auf Heinrich Fincks Krakauer Tätigkeit ein, um nach kurzer Wiirdi-
gung der theoretischen und praktischen Betätigung des Sebastjan 2 Felsztyna in
der 1. Hälfte des 16. Jahrh. mehr Raum den noch vor 30 Jahren unbekannten
Kompositionen des begabten Mikolaj z Krakowa zu widmen, die uns in 2 Tabu-
Jaturen aus der 1. Hälfte des 16. Jahrh. erhalten sind. Neben Motetten werden
hier auch Tänze in den Beispielen geboten, — die ältesten der polnischen Musik,
die uns bekannt sind. Auch des Mikolaj 2 Chrzanowa und des Georg Liban aus
Liegnitz aus dieser Zeit wird gedacht. Nach einem kurzen Seitenblick auf die
Kapela Rorantystöw und die Königl. Hofkapelle in Krakau folgt eine Würdigung
des imposanten Schaffens des Wacław z Szamotuł (1529—1572), und ein treffliches
Literaturverzeichnis bildet den Beschluß dieses ersten Teiles.
Ohne auf die vielen Einzelheiten dieser interessanten Darstellung weiter
einzugehen, möchte ich hier nur mit einigen Zeilen der musikwissenschaftlichen
Analyse der „Bogurodzica“ gedenken, die Jachimecki hier vornimmt. Schon lange
hat ja dieses Lied, als eines der ältesten Denkmäler der polnischen Sprache, die
Aufmerksamkeit der Philologen und Musikwissenschaftler auf sich gezogen. Jagić
Nehring, Pilat, Brückner u. viele andere haben es vom philologischen, Chybinski,
Polinski und zuletzt Swierczek (1928) vom musikalischen Standpunkt bearbeitet,
und Los’ hat in seinem Werk „Poczatki pismiennictwa polskiego“ 1922, den Stand
354
der Forschung zusammenfassend mit höchst beachtenswerten eigenen Bemerkungen
di lit A 848 ff.). Als älteste Teile dieses aus vielen Strophen bestehenden
ee schon längst die beiden Strophen „Bogurodzica dziewica ...“ und
„Twego dziela krzciciela . . .“ angesehen. Während viele Philologen der Ansicht sind,
daß diese beiden ältesten Strophen einem Autor angehören, vertritt Jachimecki den
Standpunkt, daß die uns erhaltene Melodie beider Strophen unmöglich von einem
Komponisten stammen könne. Und in der Tat wirken die ästhetischen, Gründe,
die er anführt, so überzeugend, daß man sich seinem Urteil wird anschließen müssen.
Die älteste uns überkommene Abschrift des Liedes in der Hs. Nr. 1619 (v. J. 1407)
der Krakauer Jag. Bibliothek dürfte in ihrer melismatisch reicheren Form der
Melodie wohl kaum auch die älteste musikalische Gestalt darstellen. Die Melodie
war vielmehr, wie Jachimecki annimmt, ursprünglich syllabisch — so wie sie die
späteren Hss. aus dem 15., 17. u. 18. Jahrh. geben. In dieser Form, so meint J,
weist die erste Strophe eine meisterhafte Beherrschung der Prinzipien des Gregori-
anischen Chorals durch den Komponisten auf, die sich in der symmetrischen An-
ordnung der Motive, in dem geschmackvollen Wechsel der Kadenzen (Finalis,
Dominante, Mediante) hinsichtlich der Eigenarten des Textes ausspricht. Der
Gesamteindruck dieser ersten Strophe ist auch tatsächlich ein vollkommener. In
der zweiten Strophe dagegen sei ein mechanisches Decken des an sich schon im
Versmaß viel unebeneren Textes durch Motive aus der ersten Strophe, und z. T.
durch neue musikalische Gedanken zu konstatieren, deren Komposition gar sehr
von der Symmetrie der ersten Strophe absteche. Der Abstand sei so groß, daß
die Musik beider Strophen unmöglich von ein und demselben Komponisten
stammen könne. Los’, der a. a. O. den Versbau des Liedes eingehend untersucht,
kommt nun, (S. 369) zu dem Schluß, daß die beiden Strophen bei der über-
r nden Gemeinsamkeit so vieler Züge in der Verstechnik sicher von einem
Autor und aus einer Zeit stammen. Man müßte ja sonst, so meint Los’, an-
nehmen, daß in jener Zeit zwei Meister gelebt hätten, die iM Stande gewesen
wären, für die damalige Zeit so kunstvolle Lieder zu bauen, und weiter, daß man
es hier eben mit zwei voneinander unabhängigen Liedern zu tun habe. Gewiß
wohnt diesen Folgerungen eine er innere Unwahrscheinlichkeit inne, aber
einen Beweis geben sie m. E. d nicht ab. Man wird abwägen müssen. ob die
musikalisch-asthetische Analyse oder die philologische Keane Gründe bei-
zubringen hat. Dabei wird man freilich auch immerhin die Möglichkeit in Betracht
ziehen müssen, daß mit der Frage der Autorschaft ja nicht notwendig die der
Komposition identisch ist. Auf jeden Fall wird der Philologe bei der Beurteilung
dieser Frage künftig nicht übersehen dürfen, daß die Musikwissenschaft schwer-
wiegende Gründe geltend macht, den zweiten Teil einem anderen Komponisten
zuzuschreiben als den ersten und so haben ja auch viele Philologen, u. a. Jagić,
die Ansicht vertreten, der Text der 2. Strophe sei später entstanden, als der der
ersten. Man wird aber über ein non liquet wohl nicht recht hinauskommen.
Vielleicht spricht die Sievers’sche Schallanalyse hier mal das letzte Wort. — Auf
Grund der Gleichheit im Strophenbau und in der Melodie sieht Jachimecki als
nächsten Teil der Bogurodzica im Verfolg ihres weiteren Anwachsens durch spätere
Zutaten die 4 Strophen an: 1. Dla nas wstal zmartwych; 2. Przydat nam zdrowia;
8. Jene trudy cierpiał; 4. Adamie, ty boży kmieciu. Während der älteste und
dieser zweite Teil noch ganz und gar als von der liturgischen Musik der katho-
lischen Kirche abhängig erscheinen, ist im dritten Teil bereits deutlich der Einfluß
der Volksmusik zu spüren, und im 4. Teil (Tam radość, tam miłość...) haben
wir eine reine Volksmelodie vor uns; ja beschleunigt man das Tempo entsprechend,
so erkennt man nach Jachimecki leicht ihren ee Tanzcharakter. Wenn
das auch auf den ersten Blick befremdlich erscheint, so weiß Jachimecki jedoch
solche Bedenken mit einem Hinweis auf das Auftreten von Tanzmelodien und
Tanzrhythmen in religiösen Gesängen primitiver Völker zu zerstreuen, nachdem
er eben dieselben charakteristischen Züge eines Volkstanzes auch in der Melodie
des „Zoltarz Jezusow des Ladystaw 2 Gielniowa aufgewiesen hat (S. 6/7). Ich
möchte mir jedoch hier den zweifelnden Einwand gestatten, daß die Fassung „Tam
radość, tam miłość...“ doch der Überlieferung nach eine jüngere ist als die uns
geläufige: „Była radość, była miłość...“. Diese Rhythmisierung könnte ganz gut
jüngeren Datums sein. Auf jeden Fall zeigt aber die ganze Analyse J.s, wieder
355
deutlich, daß die Bearbeitung aller solcher alten Denkmäler lediglich vom philo-
logischen Standpunkt aus einseitig ist und daß die sachliche, hier in diesem Falle
die musikalische, Seite stets weitgehender Berücksichtigung bedarf.
Breslau. Dr. E. Koschmieder.
Sembritzki, Emil: Slawen-Spuren auf deutschen Huren. Er-
klärung slawisch - deutscher und litauisch - deutscher Orts- und
Flurnamen, mit besonderer Berücksichtigung Berlins und seiner
Umgebung. — Deutung slawisch- und litauisch- deutscher
Familiennamen. — Berlin- Charlottenburg (ohne Jahr), Walter
Göritz. 48 S.
Verf. gibt nach einer kurzen Vorbemerkung seine Deutung von zirka 1500
ala vischen und litauischen Orts- und Flurnamen, wobei gelegentlich historische
Daten hinzugefügt werden. S. 44 erfolgt eine sehr spärliche Zusammenstellun
deutscher Lehnwörter aus dem Slavischen, wobei nicht streng zwischen Lehn- and
Fremdwörtern geschieden wird; ebenda, ganz unbegründet, ein litauisches Volks-
lied und ein von ihm verfaßtes recht geschmackloses Gedicht, das gleichfalls nichts
mit dem Thema zu tun hat, und schließlich als Anhang die Erklärung von zirka
800 slavischen und litauischen Familiennamen.
Wer glaubt, daß die Ortsnamenforschung, früher das Tummelfeld vieler
Dilettanten, von dieser Art von „Forschern“ befreit sei, wird hier eines anderen
belehrt. Obwohl Verf. anscheinend Kenntnis des Polnischen und Litauischen be-
sitzt, mangelt ihm doch das für die Behandlung dieser Aufgabe nötige wissen-
schaftliche Rüstzeug. Bei Überprüfung der esischen Ortsnamen ergibt sich,
daß er, wie es die Wissenschaft doch verlangen muß, weder urkundliche Belege
herangezogen noch die darüber vorhandene Literatur benutzt hat. Die von ihm
beigefügten slavischen Namen sind meist willkürlich angenommen und urkund-
lich falsch. Daher muß er, einige wenige ausgenommen, von vornherein zu
falschen Deutungen kommen. Verwunderlich ist auch, um nur einiges uszu-
greifen, die Erklärung von „Iser als „Eisfluß“ (kelt. Isara — die Schnelle), oder
wenn er „Königshütte“ als „Krola Huta“, als slavischen Ortsnamen, annimmt.
Bei allen, auch den nichtschlesischen, Ortsnamen begeht Verf. den Fehler,
daß er die Suffixe überhaupt nicht beachtet. Stutzig macht ferner, daß er fast alle
Ortsnamen aus Appellativen erklärt. Eine Nachprüfung der urkundlichen Belege
hätte ihm sicher gezeigt, daß, wie überall, so auch hier, zirka 60% aller Ortsnamen
auf Personennamen zurückgehen (trotz G. Boerner, Deutsche Geschichtsblätter,
XVI, 219 ff. XVII, 251 ff.). Daher kommt er, um nur eini ispi
herauszugreifen, zu so unsinnigen Erklärungen wie „Lietzegöricke“ = „zähle dic
Berge“, „Ostrometzko“ = „scharfes Schwertlein“, „Zielasken“ von „zelasko“
= „Plätteisen“ () usw. Dem Verf. ist es zum Verhängnis geworden, daß er sich
die Grenzen seiner Arbeit zu weit gesteckt hat. Der besonnene Ortsnamen-
forscher wird immer nur ein kleines Gebiet genau beherrschen können, das er
persönlich, nach urkundlichem Material und lokaler Beschaffenheit, kennt.
Breslau. Dr. K. Eistert.
A. V. Florovskij. Sostav zakonodatel’noj kommissii 1767—74
gg. — Zapiski Imperatorskago Novorossijskago Universiteta
istoriko - filologiceskago fakul’teta. Vypusk X. Odessa 1915.
609 Seiten.
In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts tritt in der historischen
Beurteilung der Gesetzgebenden Kommission Katharinas II. issermaßen
eine Wendung ein. Die in dieser Zeit begonnenen und bis zum Jahre 1915
fortgesetzten Veröffentlichungen der Russischen Historischen Gese
haben der Wissenschaft einen außerordentlich reichen Schatz an historischen
Quellen zugänglich gemacht. Vor diesen Veröffentlihungen benutzte man für die
Beurteilung der Kommission vor allen Dingen die „Zapiski“ von Bibikov, die Be-
richte der englischen und französischen Gesandten, soweit sie durch die Veröffent-
356
155 en von F. v. Raumer bekannt waren und schließlich die Werke von Masson
un
Die wertvollen aber bei weitem nicht genügenden älteren Quellen werden
nun durch eine Fülle neuer Angaben fast vollständig verdrängt und in der
historischen Literatur so gut wie gar nicht mehr benutzt. Im Zusammenhang
mit diesen Veröffentlichungen ist eine ausgedehnte Literatur über die Kommission
entstanden. (Ausführliches Verzeichnis bei Florofskij. Iz istorii Ekaterininskoj
zakonodatel’noj kommissii 1767 g. Zapiski Imp. Novoros. Univ. Vyp. III.
Odessa 1910.) Von den neueren Arbeiten sind noch folgende zu erwähnen:
1. Bolkarev. Kul’turnye zaprosy russkago obščestva nalala carstvovnija
Ekateriny II po materialam zakonodatel’noj kommissii 1767 g. Russkaja Starina.
dé 1915. 2. P&elin. N. Ekaterininskaja kommissija o solinenii prockta novago
uloZenija i sovremennoe russkoe zakonodatel’stvo. Utenyja zapiski Moskovskago
Universiteta. Otdel Juriditeskij. Bd. 45. Moskau 1916 8. Plehanov. G.
Kommissija ob Ulofenii. Sotinenija. Bd. XXII, Kap. VIII. Moskau-Leningrad
1922—27. 4. Titlinov. B. Prof. Gavriil Petrov, Mitropolit novgorodskij i
sankepeterburgskij. Petrograd 1916 (S. 127—250). 5. Tobien. A. v. Die Livländer
im ersten russischen Parlament (1767—60). Mitteilungen aus der livlindischen
Geschichte. Bd. XXIII. Riga 1924—26. Knorring. Ekateriosinskaja zakonodatel’naja
Kommissija 1767 goda v osveščenii inostrannych rezidentov pri russkom dvore.
Sbornik statej, posrjaitennych P. N. en paca Prag 1929, und andere. Es
handelt sich um eine Reihe von Spezialforschungen, die unsere Kenntnis der cigen-
tümlichen Institution Katharinas wesentlich erweitert haben. Die vielen Bände
des „Sbornik“ werden hier so gut wie erschöpfend durchgearbeitet. Aber auch
sie erwiesen sich sehr bald als ungenügend. Man ist nämlich im Laufe der
Forschung auf neue Probleme gekommen, die mit Hilfe des veröffentlichten
Quellenmaterials nicht gelöst werden konnten. Die neuere Forschung stand nun
vor der Aufgabe, neues Quellenmaterial beizubringen. Der Lösung dieser Auf-
gabe widmete sich in neuerer Zeit der Odessaer Historiker (jetzt in Prag) A. Flo-
rovskij. Schon in seiner bereits erwähnten erweiterten Studentenarbeit begnügt
er sich nicht damit, das veröffentlichte Quellenmaterial zu verarbeiten, sondern
ergänzt es noch durch eigene Nachforschungen in verschiedensten Archiven. Das-
selbe gilt auch von seinen späteren Arbeiten wie: Deputaty Vojska Zaporo2skago
v Zakonodatel’noj Kommissii 1767 g. Zapiski Odesskago ObStestva Istorii i
Drevnostej. Bd. XXX. Odessa 1912 und K. 150-letiju Manifesta 14 dekabrja
1766 g. Zurnal Ministerstva justicii. Jg. 1916, Bd. 10. Dva proizvedenija
Imperatricy Ekateriny II dn ak onodatel noj Kommissii 1767—74 gg. Russkij
Archiv. Jg. 1917. H. 2—8. Akademija Nauk i zakonodatel’naja Kommissija
1767—74 gg. Ulenyja zapiski, osnovannja russkoj udebnoj kollegiej v Prage.
Bd. I. H. II. Prag 1924. K charakteristike imperatricy Ekateriny II — zako-
nodatel’nicy. Sbornik russkago instituta v Prage. 1929. Dve polititeskija doktriny
(„Nakaz“ i Didro) Trudy IV s’ezda Russkich Akedemileskich Organixacij
za icej. Bd. I. Belgrad 1929. Un légiste francais au service de la tzarine
Catherine II. Revue historique de droit francais et étranger. Jg. 1924. K
istorii ekonomileskich idej v Rossii v XVIII veke. Nauènye Trudy Russkago
Narodnago Universiteta v Prage. Bd. I. Prag 1928. Insbesondere ist die Be-
nutzung ganz neuer Quellen an seinem großen Werk — Sostav Ekaterininskoj
zakonodatel’noj Kommussii — hervorzuheben. Eine Fülle von bisher unbekanntem
archivalischem Quellenmaterial ist hier von Florovskij verarbeitet und es ist kaum
eine Übertreibung, wenn man mit diesem Werk eine neue Epoche der Historio-
graphie unserer Spezialfrage ansetzt. Erst nach diesem Werk wird vielleicht eine
neue Gesamtdarstellung der Kommission möglich sein, wie sie seit den Arbeiten
von Sergeevit (1878), Brückner (1888) und Latkin (1887) nicht gewagt wurde.
Auch Florovskij t die Absicht, ein Gesamtbild der Kommission zu geben,
ganz fern. Er ist vielmehr bestrebt, seinen Aufgabenkreis nach Möglichkeit ein-
zuschränken. Trotzdem sein Werk unter den bisher erschienenen Arbeiten über
die Kommission das umfangreichste ist, wendet er sich hier nur einzelnen Pro-
blemen zu. Er verzichtet bewußt auf eine allgemeine Deutung der Ergebnisse
seiner Arbeit. In dieser Eigenschaft liegt der Vorteil und zugleich der Nachteil
seines Werkes beschlossen. Sein Werk ist somit nicht Selbstzweck. Es ist viel-
367
MM
mehr eine sehr griindliche Vorarbeit, die eine tiefere Erfasssung des Wesens der
Kommission ermöglicht.
Das Buch Florovskijs zerfällt in zwei ungleiche Teile. Der erste Teil (S. 8—218)
ist der Entstehungsgeschichte des Manifests vom 14. Dezember 1766 und des mit ihm
verbundenen Wahlgesetzes, der zweite dagegen (S. 219—589) dem Verlauf der Wahlen
und den Veränderungen in der Zusammensetzung der Kommission gewidmet.
Die Bedeutung einer solchen Untersuchung braucht nicht besonders hervor-
gehoben zu werden. Von besonderer Bedeutung scheint mir dabei die Ent-
stehungsgeschichte des Wahlgesetzes zu sein. Man kann wohl dieses Gesetz trotz
seiner vielen Mängel zu den best ausgearbeiteten Produkten der russischen Gesetz-
gebung des 18. Jahrhunderts zählen, auf das die spätere Gesetzgebung immer
wieder zurückkommt. i)
Die Untersuchung Florovskijs ergibt nun, daß es mindestens 7 verschiedene
Fassungen des Wahlgesetzes gibt, deren Reihenfolge er auf Grund von genausten
Nachforschungen festsetzt. Zum größten Teil wurden sie entweder von Katharina
selbst entworfen oder von ihr genau nachgeprüft. Es handelt sich also um ein
Gesetz, das von Katharina aufs sorgfältigste vorbereitet wurde. Das Gegenteil
wurde ihr aber von der bisherigen Forschung immer wieder vorgeworfen. So oft
wurde es bemängelt, daß sie das große Werk der Gesetzgebung gedankenlos einer
vielköpfigen Kommission anvertraut hätte, worauf auch ihr Mißerfolg zum großen
Teil zurückgeführt wurde. Aus der Untersuchung Florovskijs geht nun hervor,
daß diese Einwände Katharina gegenüber kaum berechtigt sind. Der legislativ-
technische Grundsatz, daß ein Gesetzbuch zunächst durch einen Spezialausschuß
ausgearbeitet und erst dann einer Volksvertretung vorgelegt werden muß, war
Katharina zweifellos bekannt. In ihrem ersten Wahlgesetzentwurf sieht sie näm-
lich die Bildung eines 5 köpfigen Ausschusses vor, der das neue Gesetzbuch auch
ausarbeiten soll . Erst dieses sollte später der Kommission vorgelegt werden.
Auf die Frage, warum Katharina diesen ursprünglichen Plan aufgegeben hat, geht
Florovkij nicht ein. Mir scheint die Sachlage ziemlich klar zu sein. Katharina
hat nämlich gegen besseres Wissen die Kommission so organisiert, wie sie zum
Zweck einer produktiven gesetzgeberischen Arbeit nicht hätte schlechter organi-
siert werden können. Die Gründe, die sie dazu bewogen haben, liegen natiirlich
außerhalb des Werkes der Gesetzgebung, worauf hier nicht näher 1
werden kann. Ausführlicher gehe ich darauf in meinem demnächst erscheinenden
Aufsatze: Zur Charakteristik der gesetzgebenden Kommission Katharinas II.
von Rußland, Archiv für Kultur- und Universalgeschichte, Bd. XXI, ein. Leider
hat Florovskij nicht einmal versucht, diese Gesetzesentwürfe, wenn auch nur un-
gefahr, zu datieren. Die Datierung 2. B. des ersten Entwurfs hätte einen Anhalts-
punkt gegeben festzustellen, wann Katharina den Gedanken gefaßt hat, eine Kom-
mission zu berufen. Auf diese Weise könnte vielleicht das in meinem Aufsatze
kurz gestreifte Problem gelöst werden, in welchem Zusammenhang die Kommission
zu der angeblich für sie verfaßten Instruktion steht. Nach den Arbeiten von
Taranovskij?) scheint es nämlich außer jedem Zweifel zu sein, daß die Kommission
Katharinas ın keinem Zusammenhang zu ihrer Instruktion steht, in der eine
repräsentative Körperschaft keinen Platz finder.
Auch für die Lösung eines anderen Problems findet man in dem Buche
Florovskijs sehr interessante Angaben. Schon oft wurde nämlich in der Literatur
darauf hingewiesen, daß die in der Kommission anwesenden Vertreter der Zentral-
behörden sowie überhaupt die in die Kommission gewählten beamteten Personen
sich durch äußerste Zurückhaltung auszeichneten. Dies geht so weit, daß ver-
schiedene Fachvertreter, wie z. B. der Vertreter des Bergkollegiums, in die mit
ihrem Ressort in Berührung stehenden Spezialausschüsse weder gewählt noch er-
nannt wurden. Und nun findet man in den von Florovskijs veröffentlichten
1) Polnoe sobranie zakohov Rossijskoj Imperii. Petersburg 1880. XVIII,
13119. XIX. 13600. XXII. 15220, 15590. XXIII, 16187, usw.
2) Taranovskij. Politiéeskaja doktrina Nakaza. Sbornik statej, posvjaßlennyj
Vladimirskomu-Budanovu. Kiev 1904 und andere.
358
— — — Run U ee, i ee i ee eee
Materialien eine äußerst interessante Erklärung für diese Tatsache. In dem
Direktionsausschuß der Kommission wurde nämlich die Frage der Besetzung des
sogenannten geistlich-bürgerlichen Ausschusses behandelt. Hier gab es eine Ge-
legenheit, die Abgeordneten der Zentralbehörden, in diesem Falle den Abgeord-
neten des Synods Metropolit Demetrius, zur Mitarbeit heranzuziehen. Doch hielt
dies der eigentliche Leiter der Kommission Fürst Vjazemskij für überflüssig. Die
Entwürfe der Ausschüsse, meinte er, kämen doch so wie so in den Direktions-
ausschuß, „und der Metropolit Demetrius könne sie dann zusammen mit anderen
Mitgliedern desselben nachprüfen“ (S. 74). Man brauchte offenbar die Vertreter
der Behörden weder für die Arbeit in den Ausschüssen noch in der Kommission
selbst. Allein der Direktionsausschuß scheint also für die legislative Tätigkeit
geschaffen zu sein. Unwillkürlich wird man sich die Frage stellen müssen: Wozu
sind denn die Vertreter der Zentralbehörden, wozu die Ausschüsse, wozu ist über-
haupt die Kommission da, wenn die berufensten Fachvertreter zur Arbeit nicht
herangezogen werden, und wenn alles vom Direktionsausschuß gemacht werden soll.
Aus Raummangel kann ich nicht auf die Frage nach der Rolle der Vertreter
der Zentralbehörden eingehen, die Florovskij meines Erachtens nicht ganz richtig
beantwortet. Einige dieser Abgeordneten vertraten nämlich nach F. gleichzeitig
auch diejenigen Schichten der Bevölkerung, die der jeweiligen Behörde unterstellt
waren (S. 73). Z. B. vertraten nach seiner Meinung der Synod, das Okonomic-
kollegium usw. die Geistlichkeit, bzw. die sogenannten Okonomiebauern. Diese
Auffassung, die übrigens auch Kljucevskij*) in den 80 er Jahren vertreten hat,
läßt sich aus dem Wortlaut der oftiziellen Akten nicht ableiten. Und wenn einige
Entwürfe diese Auffassung zu unterstützen scheinen, so ist darauf hinzuweisen,
daß Katharina diese Vorschläge ihrer Mitarbeiter in der endgültigen von ihr selbst
ausgearbeiteten Fassung nicht berücksichtigt hat. Die 28 Vertreter der Behörden
außerdem noch eine größere Anzahl der Vertreter der höheren Bureaukratie,
die von verschiedenen Adelskorporationen gewählt wurden, bildeten vielmehr eine
Gruppe von Abgeordneten, auf die Katharina sich durchaus verlassen und durch
die sie die Kommission beherrschen konnte. Um dieser rein politischen Funktion
willen scheint eigentlich diese Gruppe von Abgeordneten berufen zu sein.
Auch in bezug auf das Ende der Kommission findet man in dem Buch von
Florovskij sehr interessantes Material. Wenn Katharına den Ausbruch des russisch-
türkischen Krieges als Grund ihrer Auflösung angibt, so sieht Florovskijt)
darin nur einen Vorwand. Die Zahl der Abegeordneten, die in den Krieg gehen
mußten, erweist sich nach den Untersuchungen von Florovskij und Lipinskij als
sehr gering, so daß man jetzt noch mehr, als es bisher schon geschah, nach anderen
Gründen der Auflösung suchen muß. In diesem Zusammenhang möchte ich auf
einen Bericht von Chrapovickij hinweisen, wonach ein auswärtiger Krieg für
Katharina als ein bewährtes Mittel gegen die lästige Volksvertretung pik Bhd
„Ein Gespräch über Angelegenheiten in Frankreich“, notiert er im Januar 1788
in seinem Tagebuch.“) „Frankreich, soll Katharina gesagt haben, müsse sich an
dem Krieg beteiligen, um das von dem König gemachte Versprechen, die Reichs-
stände (Etats) zu berufen, zu vermeiden.“
Auf diese aus dem Buche Florofskijs herausgegriffenen Einzelheiten möchte
ich mich hier beschränken. Es ist unmöglich, die Fülle neuer Erkenntnisse, die
aus seinem Buche geschöpft werden können, in dieser kurzen Besprechung auch
nur annähernd zu berücksichtigen. Ich habe nur Einiges hervorgehoben, was
mir besonders wichtig erschien. Im Übrigen muß ich auf dieses für jeden
Historiker unentbehrliche Werk verweisen. Georg Sadke.
) Kljulevskij. Litografirovannye lekcii. 1882/88. Moskau II, 42.
) Auch Lipinskij. Novyja dannyja dlja istorii ekaterininskoj kommissti o
socinenii proekta novago uloZenija. Žurnal ministerstva Narod. Prosv. Jg. 1887. VI.
es > Dnevnik A. V. Chrapovickago. Herausg. v. H. Barsukov. Moskau 1901,
ite 85.
359
Akad. D. I. Bahalij: N istoriji Ukrajiny na socijalno-ckono-
mitnomu grunti. — (Abriß der Geschichte der Ukraine auf der
sozialökonomischen a a I. Ukrainische Akad. d.
W. Sammelband Nr. 72. in. Staatsverlag, 1928, 390 Seiten
und (4). 8°.
Nach der Festigung des Räteregimes wurde in der Ukraine im Bereiche der
Geschichtswissenschaft als einzige vom Staate anerkannte und im öffentlichen
Bildungswesen obligate Einstellung die Theorie des historischen Materialismus ım
Sinne von Marx und in der Interpretation Lenins eingeführt. Der gesamte histo-
rische Prozeß sollte ausschließlich unter dem Gesichtspunkte der wirtschaftlichen
Entwicklung und des Klassenkampfes behandelt werden, die Erforschung der
sozialökonomischen Erscheinungen den einzigen Mittelpunkt des wissenschaftlichen
Interesses bilden. Die ukrainische Geschidheswissenschat t mußte sich diesen Forde-
rungen anpassen. Anfangs verursachte dies in der ukr. Historiographie cine ge-
wisse Krisis: die Gelehrten vermochten es nicht, sich auf einmal den neuen Postu-
laten, welche bei vielen von ihnen den inneren Widerstand erweckt haben, an-
zupassen. Die Mehrheit setzte — freilich nur in den Momenten, in welchen die
Verhältnisse die Arbeit überhaupt möglich machten — ihre wissenschaftliche
Forschungsarbeit in den schon früher auserwählten Gebieten der Geschichte fort.
Aber fast bei allen bemerken wir eine ganz deutliche Neigung zum Studium ge-
rade der sozialökonomischen Erscheinungen und der revolutionären Epochen. Die
durch die bewegten Kriegs- und Revolutionsjahre unterbrochene Erforschung und
Bearbeitung der Quellen wurde erneuert und fortgesetzt. Die ukrainischen
Forscher skabtes mit Recht, daß die synthetischen Versuche im Sinne der neuen
Theorie nur durch die Vorbereitungsarbeit und Umwertung der Anschauungen auf
dem ganzen Gebiete der wissenschaftlichen Forschung ermöglicht werden. Wäh-
rend aber die älteren Historiker, welche wissenschaftliche Verdienste hinter sich
hatten und in der Fachwelt bekannt waren, keine Arbeiten allgemeinen
Charakters veröffentlichten, erschien auf einmal eine Reihe neuer, bis jetzt gänz-
lich unbekannter Geschichtsschreiber, die mit der Entschlossenheit der durch keine
Tradition gefesselten und mit der die Fachgelehrten charakterisierenden Vorsich-
tigkeit nicht belasteten Menschen voreilig die Bearbeitung der allgemeinen Leit-
faden der ukrainischen Geschichte „auf dem Hintergrunde des historischen Mate-
rialismus unternahmen. Sie schufen zwar an sich interessante Versuche, man
vermißte aber darin die, die auf selbständiger Quellenforschung und überhaupt
auf längerer Vorbereitungsarbeit beruhende Arbeiten kennzeichnende autoritative
Beweiskraft. Diese Versuche blieben also, trotz der Kanonisierung durch offi-
zielle Faktoren und trotz ihrer Rolle als Lehrbücher im Sinne der herrschenden,
obligaten Doktrin (weshalb auch nur wenige es wagten, sie zu kriuisieren), e ec
= außerhalb des Rahmens der Geschichtswissenschaft im strengen Sinne dieses
ortes.
Gerade deshalb aber erweckt unser Interesse der vom Professor an d. ehem.
Charkover Univ. und Mitglied d. Ukr. Ak. d. W. D. Bahalij verfaßte „Abriß
der Geschichte der Ukraine auf sozialökonomischer Grundlage“. Bahalij der 1927
das 50 jährige Jubiläum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gefeiert hatte, wurde
erster der älteren ukrainischen Historiker zum dezidierten Anhänger der
herrschenden Doktrin und bekannte sich zum Marxismus. Im J. 1925, im
II. Bande seines wertvollen „Abrisses der ukrainischen Histori ie“ kündigt
Behalij eine dreibändige „Kurze Geschichte der Ukraine auf sozialökonomischer,
marxistischer Grundlage“ an. Das vorliegende, im Auftrage der Ukr. Ak. d. W.
erschienene Buch ist also der I. Band dieser Arbeit. Wir müssen diesem Werke
eines hervorragenden Kenners und verdienstvollen Erforschers der ukrainischen
Geschichte besondere Aufmerksamkeit schenken.
Der Arbeit von Prof. Bahalij geht eine umfangreiche „Historiographische
Einleitung“ voraus (S. 1—124), welche in zwei Teile zerfällt, und zwar in einen
kleineren unter dem Titel „Die Schule des historischen Materialismus (S. 1—19)
und einen größeren über die „Ukrainische e ie (S. 20—120). Im
ersten Teile gibt Verf. eine kurze Übersicht der alten historischen Schulen, ver-
860
weilt etwas länger bei der Betrachtung des historischen Materialismus von K. Marx
und Fr. Engels und ihrer Schule, und bestimmt „die Auf, der ukrainischen
Geschichte auf dem Hin des historischen Materialismus“. Als Grund-
lage soll, seiner er ag Zo keinesfalls die bis jetzt beachtete politische, sondern
die sozialökonomische Seite der Geschichte, m. a. W. „die Anderung der sozial-
ökonomischen Basis, und nicht des politischen Überbaus“ dienen. In den alten
Standesunterschieden der ukrainischen Gesellschaft will der Verfasser „den Klassen-
charakter bemerken“, er will „den Klassenkampf und die Gegensätzlichkeit der
Klasseninteressen in diesen historischen i in denen sie bis jetzt un-
schen Beleuchtung lassen müssen; sonst wären sie gan, Kë oberflichliche, un-
begründete, einseitige Erklärungen zu geben, durch welche das marxistische
System kompromittiert würde“ (S. 19). Er anerkennt auch die Notwendigkeit
der „vorsichtigen Einstellung“ und der gerechten Wertschätzung der früheren
ukr. Historiographie, welche, wie er selbst zugibt, „auch jetzt dem Historiker sowie
dem Leser viel Nutzen bringen kann, freilich nach der notwendigen Korrigierung
der Schlüsse, zu welchen die alten Autoren gelangen“ 5
Ganz im Einklang mit dieser weisen Erkenntnis ijs ist die folgende
vorzügliche Übersicht der ukr. Historiographie vom Anfang d. 19. Jahrh. bis
zur neuesten Zeit; diese Übersicht ist nders wertvoll: ihre Klarheit und
Obersichtlichkeit, weiter die präzise Ausdrucksweise, der Reichtum an faktischen
Daten und genauen Literaturangaben — dies alles erhebt die „Einleitung“ zum
Range einer wissenschaftlichen Arbeit von selbstindiger Bedeutung. inige
Details sind zwar anfechtbar (z. B. die Unklarheit in der Benennung „Die Sch
der polnisch- ukrainischen Historiker“ und in deren Definition, S. 44—47, dort
auch die Polemik mit dem Verf. dieser Besprechung; die besonders milde und
nachsichtige Beurteilung der- diese schonende Behandlung miß verstehenden und
ablehnenden Verf. „marxistischer Arbeiten aus der Geschichte der Ukraine“,
S. 99—106 usw.), die = diesbgl. Untersuch kann aber hier wegen
Raummangels nicht gege werden. Übrigens spielen diese Einzelheiten, im
Vergleih mit dem emeinen großen Werte der Übersicht selbst, keine Rolle.
Der im I. Bande veröffentlichte Teil der Geschichtsdarstellung führt den all-
gemeinen Titel „Die Geschichte der Ukraine-Rus in der Epoche der Natural-
wirtschaft“. Wir schen hier zunächst die Geschichte des Territoriums, wobei Verf.
mit der Paläolitperiode anfängt. Er hat auch persönlich vieles auf dem Gebiete
der praktischen Archäologie geleistet. Als ein wahrer Schüler des bekannten
ukr. Gelehrten V. Antonovy£ legt Verf. ßen Wert auf die archäologischen
Studien; seine Darstellung verschiedener vorhist. Perioden in der Ukraine zeichnet
sich daher durch besondere Lebendigkeit und Anschaulichkeit aus; diesen Ein-
druck verstärken zahlreiche, sehr sorgfältig ausgewählte Illustationen. Sehr leben-
dig ist auch die Schilderung der griechischen Kolonisation der nördlichen Schwarz-
meerküste und von deren Einfluß auf die einheimische Bevölkerung. Die weiteren
Kapitel sind den skyto-sarmatischen Völkern, dem Einzuge der Slaven in Ost-
europa und der Ansiedlung ukrainischer Stämme Meier Weiter arbeitet Prof.
Bahalij nach folgendem ma: die materielle Kuleur, die Evolution der Natural-
wi t und der sozialen Verhältnisse, der „Glaube“ (das Christentum soll aus
unbekannten Gründen erst im nächsten Bande berücksichtigt werden)!) der Ober-
pane von der Stammes- zur Territorislorganisation und die Anfänge des Feuda-
ismus. Verf. schließt aus seiner Darstellung die politische Geschichte in ihrer
chronologischen Reihenfolge fast gänzlich aus, und deshalb kommt die historische
Perspektive ziemlich undeutlich zum Vorschein; ein Leser, welcher die Geschichte
der Ukraine zum ersten Male gerade aus dem Buche Bahalijs studieren würde,
könnte schwerlich daraus einen klaren Begriff schöpfen, für welche Zeit, für
welches Jahrh. dieses oder jenes Stadium der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
icklung gilt. Einige Hauptfragen der altukrainischen Geschichte werden be-
1) Dieses Kapitel wurde unter Mitarbeit des jungen Forschers A. Kovalivsky)
geschrieben.
861
wußt gemieden. Verf. erwähnt z. B., nur mit wenigen Worten die Frage der
Berufung normannischer Fürsten („der Varjagen“) und des Ursprungs des Wortes
„Ruf (S. 800), indem er auf die eingehende Bearbeitung dieser Probleme in dem
entsprechenden Kapitel seines 1912 erschienenen Steed russischer Geschichte
hinweist. Solche Vereinfachung ist auch vom Standpunkte der marxistischen Ge-
schichtsauffassung kaum zu eg ZE es wäre notwendig, wenigstens eine An-
merkung über diese in der großen speziellen Literatur auch noch jetzt viel-
umstrittenen Fragen zu geben.
Den Abschluß des I. Bandes bildet die Übersicht sozialökonomischer Verhalt-
nisse in der Kiever Ukraine-Rus, der Zeit bis zum 18. Jahrh., d. i. bis zur
Tatareninvasion und im Galizisch-Wolhynischen Königreiche des 18.—14. Jahrh.,
wobei B. bei der Charakteristik der sozialen Verhältnisse im letzteren Falle die
Grenzen der Existenz des Staates selbst überschreitet und auch über die Zeiten
der Polenherrschaft im 15. Jahrh. berichtet. M. E. wäre aber dies letztere erst
bei der Darstellung der sog. polnisch- litauischen Periode am Platze.
Bei der Obersicht des Geschichtsprozesses in der Ukraine der feudal-fürst-
lichen Zeiten hatte B. mit den am besten in der russischen, ukrainischen und
polnischen Historiographie erforschten Perioden zu tun. Das geschichtliche Leben
dieser Zeit ist von verschiedensten Seiten sehr vollständig bearbeitet, Prof. Bahalij
verfügte also über großes Material, aus welchem man wirklich gewisse synthetische
Schlüsse ziehen kann. Verschiedene Streitfragen und vissenschaftliche Kontro-
versen werden vom Verf., wie wir es gesehen haben, soweit sie mit dem sozial-
ökonomischen Prozesse nicht eng zusammenhängen, bewußt gemieden. Im
ganzen gelang es Prof. Bahalij, einen interessanten Versuch der Darstellung det
Anfangsperioden ukrainischer Geschichte „auf der sozialökonomischen Grundlage“,
im Sinne des ökonomischen Materialismus zu geben. Das große Material wurde
meisterhaft zusammengefaßt und es wurden daraus Bilder der wirtschaftlichen und
sozialen Evolution der Ukraine konstruiert, welche auch von den die marxistische
Theorie ablehnenden Lesern mit Interesse verfolgt werden können. Die reich-
haltigen, jedem Kapitel beigefügten Literaturangaben sowie die sehr gut aus-
gewählten Abbildungen erhöhen das Interesse am Buche.
Merkwürdig ist der Umstand, daß die Arbeit Bahalijs gerade von Kreisen,
für welche das Erscheinen eines Leitfadens ukrainischer Geschichte in
marxistischer Auffassung besonders wünschenswert sein zollte, abgelehnt wurde.
In der Zeitschrift des Charkover „Ukrainischen Institutes für Marxismus und
Leninismus“, welche den Titel „Prapor marksyzmu“ (1929, I., S. 167—176) trägt
wurde die Arbeit Bahalijs einer vernichtenden Kritik durch einen gewissen
F. Jastrebov unterzogen; der Kritiker gelangt zu dem für Prof. Bahalij fatalen
Schlusse, daß derselbe „keinesfalls für einen Marxisten, für einen proletarischen
Theoretiker gehalten werden könne, welcher schonungslos alle Abweichungen vom
Marxismus und Feindseligkeit gegen denselben bekämpft und, die scharfen Waffen
der dialektischen Methode zielbewußt benutzend, das Wesen der Vergangenheit
erschließt, wobei er die Tatsache begreift, daß der Klassenkampf die mensch-
liche Gesellschaft notwendig zur Diktatur des Proletariates führt“. Was ließ aber
eigentlich den strengen Kritiker unbefriedigt? Um den Charakter der Vorwürfe
des jungen Adepten des Marxismus auf die Adresse des ehrbaren Professors und
Mitgliedes der Akademie zu begreifen, müssen wir die Anforderungen, ve
jener an den marxistischen Historiker stellt und die Kriterien, mittels deren er
seine Arbeit bewertet, kennen lernen. Nach der Ansicht des Herrn Jastrebov
„kann der marxistische Historiker unmöglich ein Gelehrter sein, welcher aus-
schließlich die objektive Darstellung des Geschichtsprozesses dieses oder jenes
Landes anstrebt, weil die Geschichte der Menschheit Geschichte des Klassenkampfes
ist ... es genügt nicht, wenn ein Marxist die Existenz des Klassenkampfes in
der Gesellschaft Free der marxistische Historiker ist ein Ideolog der Prole-
tarierklasse, er ist nicht nur ein Theoretiker, sondern auch ein Kimpfer fiir die
Interessen dieser Klasse . . einem jeden auf der marxistisch- leninistischen Grund-
lage stehenden Historiker wird es zur Pflicht, nicht nur die Diktatur des Prole-
tariates anzuerkennen, sondern auch in seinen Werken alle Feinde derselben
schonungslos zu bekämpfen ... Solche Aufgaben stellt dem marxistischen Histo-
riker unsere Zeit“ (S. 167—168). Prof. Bahalij entspricht, nach der Ansicht des
362
Kritikers, diesen Anforderungen nicht. Er bewertet, erstens, in seiner Übersicht
der inischen Historiographie, viel zu objektiv all das, was bis jetzt ganze
Generationen von Gelehrten geleistet haben; bei der Beurteilung ihrer Arbeit
„tritt er keinesfalls als Vertreter des bourgeoisiefeindlichen Proletarierlagers,
sondern als Repräsentant einer neuen, objektiv der alten überlegenen Theorie
auf“ & 169). Zweitens behandelt er die ganze Periode der Naturalwirtschaft in
der Ukraine, ohne bei jedem Schritt den Klassenkampf zu unterstreichen, z. B.
bei der Schilderung der griechischen Kolonien auf der Nordküste des Schwarzen
Meeres „gibt Prof. Bahalij keine klare Analyse des Klassenkampfes in denselben“
(S. 174). Am Schluß seiner weitläufigen Belehrungen an Prof. Bahalij, wie man
die Geschichte im Sinne des wirklichen Marxismus schreiben soll, gibt Herr
Jastrebov unserem Gelchrten folgenden Rat: er solle „die Umarbeitung seines
Abrisses auf Grund der wirklichen, ungefälschten proletarischen Theorie unter-
nehmen“ (S. 176).
Wir wissen es zwar nicht, auf welche Weise Bahalij auf diesen, bei heutigen
Lebensverhältnissen in der Ukraine maßgebenden Rat reagieren, ob er wirklich
eine Umarbeitung unternehmen, oder aber seine bisherige Arbeit weiterführen
wird; dies allein glauben wir zu wissen, daß die Kritik seiner „Geschichte“ im
„Praper marksyzmu“ ziemlich deutlich die Verhältnisse charakterisiert, unter
welchen heutzutage die Historiker in der Ukraine arbeiten sollen. Bei der Be-
urteilung ihrer jetzt erscheinenden Werke muß man gerade diesen Umstand be-
sonders stark berücksichtigen.
Berlin. D. Doroschenko.
Pylyp Klymenko: Cechy na Ukrajini.
Philipp Klymenko: Das Zunftwesen in der Ukraine. Bd. I.,
1. Folge. — Allukrainische Akademie der Wissenschaften.
Sammelschrift der historisch-philologischen Abteilung Nr. 81.
Kiev 1929. S. XC + 199 + VIII. 8°.
Prof. Klymenko ist schon seit !ängerer Zeit in der ukrainischen Historio-
graphie bekannt als Verfasser einer Arbeit über die Zünfte in Litauen, Weiß-
and und in der nordwestlichen Ukraine im XVI.— XVIII. Jahrh. (Kiev 1914).
Die Geschichte der Zünfte und des Zunftwesens in der Ukraine gehörte im Allge-
meinen zu den vernachläßigten Gebieten der Geschichtsforschung, so daß Prof.
Klymenko hier die Vorkämpferarbeit leistete. Schon nach dem Erscheinen seines
Buches wurden viele sehr wichtige Aktenmaterialien über die Zünfte in der
Ukraine entdeckt und zum Teil herausgegeben. Die Erforschung dieses Materials,
die Systematisierung desselben und die Schaffung einer synthetischen Skizze auf
dieser Grundlage — dies alles wurde zu einer der nächsten Aufgaben der ukraini-
schen Geschichtswissenschaft. Es ist eine erfreuliche Tatsache, daß die Lösung
dieser Aufgabe gerade von Prof. Klymenko, welcher schon früher auf dem Gebiete
der 3 der ukrainischen Zünfte viel gearbeitet hat, übernommen
wurde.
Nach dem Plan des Verfassers soll seine Arbeit aus vier ig tise bestehen,
und zwar: 1. Die Organisation der Handwerkerziinfte in der Ukraine; 2. Die
Zusammensetzung und die Entwicklung der Zunfthandwerkerschaft; 8. Die
sozialökonomische Entwicklung der Zunfthandwerkerschaft; 4. Die kulturelle und
technische Entwicklung der Zunfthandwerkerschaft. Besondere Kapitel des 8. und
4. Teiles sollen die zünftlich-bruderschaftlihen Handwerkerorganisationen, ver-
schiedene nationale (jüdische, armenische, tatarische) Handwerkerorganisationen in
der Ukraine, die Verbindungen der ukrainischen Handwerkerorganisationen mit
den ländischen Organisationen, und endlich das Hauptproblem des Ursprungs
des Zunftwesens behandeln. Einige von diesen Fragen wurden vom Verfasser schon
früher bearbeitet und er hält es für möglich, sie sofort drucken zu lassen, andere
wiederum müssen mit Rücksicht auf das neuentdeckte Material revidiert und ver-
vollständigt werden. Es war daher dem Verfasser unmöglich, die genetische Reihen-
folge völlig einzuhalten; er mußte seiner Arbeit den Charakter einzelner abge-
en pr monographischer Studien verleihen. Er begründet dies einigermaßen
4 NF 6 363
auch methodologisch; da er seiner ersten Band mit der Übersicht der letzten
Periode der Existenz der Zünfte in der Ukraine (von zweiter Hälfte des
XVIII. Jahrh. bis zur zweiten Hälfte des XIX. Jahrh.) eröffnet, sagt er z. B., daß
dies das Bestreben nach Erfassung des Wesens und des Charakters des Ziinfte-
wesens nur fördern kann, da „die letzte Periode der Existenz der ukrainischen
Zünfte, welche reichhaltiges und sicheres Material aufweist, die Grundeigenschaften
der Zunftorganisation besser, als die Mittelperiode, zu erklären vermag“ (S. 1).
Um also die allgemeinen Schlüsse des Autors und die Vollständigkeit des Bildes
der geschichtlichen Entwicklung der Zünfte beurteilen zu können, müssen wir
den Abschluß des ganzen Werkes von Prof. Klymenko abwarten.
Nichtdestoweniger erweckt auch der soeben erschienene erste Band betracht -
liches wissenschaftliches Interesse, hauptsächlich wegen der umfangreichen Einleitung
(S. I—XC), in welcher der Verfasser die genaue Historiographie der Zünfte und
der mit denselben eng verbundenen Handwerker- und Kirchenbruderschaften gibt.
Über die letzteren existiert eine besonders reichhaltige Literatur aus dem Grunde,
daß diese Bruderschaften im XVI.—XVII. Jahrh. im kirchlichen Kampfe zwischen
der Orthodoxie und der Union eine schr große Rolle gespielt haben. Im Vergleich
mit den Bruderschaften weisen die Zünfte selbst eine viel knappere Literatur auf;
diesbezügliche Spezialstudien begannen ziemlich spät. Bei der Übersicht der Studien
über Bruderschaften und Zünfte verbindet Prof. Klymenko jede Phase dieser
Studien mit der sozialen Evolution der ukrainischen sellschaft: er konstatiert
einen engen Zusammenhang zwischen dem bestimmten Charakter dieser Studien
sowie den Anschauungen über das Zunftwesen — und der Klassenangehörigkeit,
Profession und dem Aufenthaltsorte des Autors. Wir leugnen die große Be-
deutung des Klassenmomentes keinesfalls — dabei müssen wir aber doch feststellen,
daß der verehrte Autor manchmal die Sache zu weit treibt; er stellt zwecks Er-
klärung des Erscheinens einzelner Arbeiten verschiedene Hypothesen auf, welche
unhaltbar sind, da sehr oft die ganze Angelegenheit viel einfacher vor sich ging:
z. B. das Erscheinen der Arbeiten Prof. Ohijenkos über die kirchlich-handwerk-
schaftlichen Bruderschaften des Städtchens Brusyliv, welche in „Jahrbüchern der
Katerynoslaver Archivalkommission“ 1918 veröffentlicht wurden, braucht gar
nicht mittels der Dienststellung des Autors erklärt zu werden; die Sache verhielt
sich nämlich so, daß ich als damaliger Redakteur der „Jahrbücher“ Prof. Ohijenko
um diese Arbeit für meine Zeitschrift gebeten habe, da diese Studie dem Charakter
der „Jahrbücher“ entsprach. Nichtdestoweniger gibt aber die „Einleitung“ Prof.
Klymenkos die erste wissenschaftliche, erschöpfende Obersicht dieser Frage bis zu
den neuesten Zeiten. Darin besteht der Vert dieser Einleitung.
Nach der Ansicht Prof. Klymenkos erschienen die Zunftorganisationen in
der Ukraine erst gegen Ende des XIII. Jahrh. unter dem Einfluß deutscher Zunft -
organisationen. Die Forschungen Prof. Klymenkos über die Geschichte ukrainischer
Zünfte beruhen nicht nur auf dem Studium des ukrainischen Materials, sondern
arch auf gründlicher Kenntnis der deutschen (sowie auch französischen, polnischen
und russischen) Literatur über die Zünfte Westeuropas. Dieser Umstand wirkt
sich sehr vorteilhaft in der ganzen Arbeit, und zwar in methodologischer sowie
auch faktischer Hinsicht, aus. Die gewissenhafte Ausnützung des Aktenmaterials
(die Geschäftsbücher der Zünfte XVI. - XIX. Jahrh., Gerichtsakte usw.), sowie
die Bearbeitung des umfangreichen statistischen Materials verschaffen den
Forschungen Prof. Klymenkos eine solide wissenschaftliche Grundlage. Im ersten
Bande finden wir die Übersicht des Organisatiosstandes der Zünfte in der Ukraine
von der Hälfte des XVIII. Jahrh. bis zum Ende des XIX. Jahrh. Die Zustände
waren in verschiedenen Teilen der Ukraine verschieden. In der linksufrigen
Ukraine, und zwar in dem sogenannten Hetmanslande, deklarierte die russische
Regierung im Jahre 1785 die einheitliche, obligate Zunftordnung für das ganze
Reich. In der rechtsufrigen Ukraine dagegen wurden die hier gültigen Formen
des polnischen und litauischen Rechtes erst im Jove 1840 abgeschafft und durch
die allgemein im ganzen Reiche bestehenden Rechtsnormen ersetzt. Nach der all-
gemeinen Übersicht des Organisationsstandes der Zünfte (S. 8—12) illustriert der
Verfasser denselben mit den Kapiteln, welche die Arbeitsorganisation in der Kiever
Weberzunft, die Organisation der Lehrlingsarbeit in einigen Zünften Kievs und
364
Kamjanec Podilskyjs und die Organisation der Gesellenarbeit behandeln. Als
Material dazu dienen dem Autor die erhaltenen und vor kurzer Zeit entdeckten
Geschäftsbücher betreffender Zünfte aus den Jahren 1764—1888. Spezielle Kapitel
behandeln die Organisation des Zunftamtswesens (dieses Kapitel vom allge
meinen Charakter ist besonders interessant) und das „Zunftfinanz- und Budget-
wesen“. Auf Grund dieser einzelnen Erforschungen verschiedener Seiten der Zunft-
ordnung gelangt der Autor zu bestimmten „Schlüssen“ (S. 160—166). Dabei ver-
fährt er aber sehr vorsichtig und stellt nur eine hypothetische Behauptung auf,
daß „der Genesis des Zunftwesens die Veränderung in der Handwerksproduktion
der Ukraine, und zwar die Abtrennung der Familie vom Produktionskollektiv
zugrunde lag. Die Hauptaufgabe der Zunftorganisation am Ende sowie auch am
Anfang der Existenz derselben lag in der Verstärkung des räumlich und zum Teil
auch wirtschaftlich der Familie des Meisters untergeordneten Produktionskollcktivs.
In der Mittelperiode ihrer Entwicklung bestanden die Funktionen der Zunft-
organisation ebenfalls in dem Schutze der Werkstätte vor den destruktiven wirt-
schaftlich-differentiativen Familientendenzen“ (S. 161). Die Vorsichtigkeit des
Autors ist ganz berechtigt, da die wissenschaftliche Erforschung des organisatorisch-
ökonomischen Lebens der ukrainischen Zünfte und deren Produktion erst im An-
fangsstadium sich befindet, und da außerdem, wie es Prof. Klymenko hervorhebt,
in der sehr reichhaltigen deutschen Literatur über die Zünfte das innere Organi-
sationswesen der deutschen Zünfte nur mangelhaft erforscht ist; die Aufstellung
anz sicherer wissenschaftlicher Schlüsse wird aber erst durch die allseitige Er-
orschung des ukrainischen Materials und durch den Vergleich desselben mit dem
deutschen (da die ukrainischen Zünfte unter dem deutschen Einfluß entstanden
sind) ermöglicht.
Im „Anhang“ finden wir ferner 50 Dokumente aus den Jahren 1601—1849
(merkwürdigerweise nicht in 555 Reihenfolge geordnet), und zum Ab-
schluß des Buches ein sehr genau bearbeitetes „Programm der Materialiensammlung
zur Geschichte des Zunftwesens in der Ukraine“ (S. I- VI).
Berlin. D. Doroschenko.
Prof. Dr. A. Petrov: Karpatoruské pomístní názvy z pol. XIX a
2 pot. XX. st. (Die karpathen-ruthenischen Flurnamen der
Hälfte des XIX. und des Anfangs des XX. Jahrh.) — Prag.
Verlag der Cechischen Akademie der Wissenschaften und Kiinste.
1929. S. 34 + IV + 219. 8.
Dr. Petrov, ehem. Prof. a d. Petersburger Univ., ist heut der beste Kenner
der sog. Podkarpatská Rus, d. i. des westlichsten Ausläufers des ukrainischen ethno-
hischen Territoriums, welches vor dem Weltkriege Ungarn angehörte und
eute einen Bestandteil der Cechoslovakischen Republik bildet. In der langen Reihe
sehr wertvoller Arbeiten des Verf. aus dem Bereiche der Geschichte, Geographic
und Ethnographie der Podkarpatskä Rus erschien als letztes Werk das vorliegende,
den Flurnamen der Karpathenukraine in der Hälfte des XIX. und am Anfang des
XX. Jahrh. gewidmete Buch. Obzwar in der ukrainischen wissenschaftlichen
Literatur schon seit langer Zeit die große Bedeutung der geographischen Namen
für die Geschichte und Philologie anerkannt wird (als erster berührte dieses
Thema Prof. M. Maksymovyé i. J. 1887), verfügten wir bis jetzt eigentlich über
keine speziellen Veröffentlichungen des toponomastischen Materials; die Arbeit
Petrovs ist also als erstes Werk seiner Art zu betrachten. Sie behandelt zwar, wie
ersichtlich, nur einen sehr kleinen Teil des ukrainischen Territoriums, dabei kann
sie aber, was die wissenschaftliche Methode und die Verwertung des Materials an-
betrifft, als vorbildlich bezeichnet werden. Das vom Verf. benutzte Material ist
seiner Herkunft nach nicht einheitlich. Es besteht aus den Antworten auf die von
Fr. Pesty 1868 veranstaltete Enquete, weiter aus den Materialien Dr. H. Strypskyjs
und seiner Enquete v. J. 1928 und endlich aus verschiedenen anderen Autzeich-
nungen. Das wertvollste Material liefert Dr. Strypskyj, ein Autochthone und ver-
dienstvoller Erforscher der Karpathenukraine. Bei den Aufzeichnungen wurden
verschiedenartigste Orthographien benutzt; Petrov läßt dieselben in origineller
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Form, was fiir die philologischen Studien von besonderer Wichtigkeit ist. Die
Veröffentlichung Petrovs umfaßt im n ungefähr 15 000 Namen, welche aus
471 Siedlungen stammen; bei der Gesam der karpathenukrainischen Sied-
lungen 780 bedeutet dies 60%. Die Arbeit Petrovs wurde bereits in den Fach-
kreisen sehr günstig beurteilt; einen hohen Wert schreibt ihr auch Prof. M. Kor-
duba zu, welcher cbenfalls auf dem Gebiete der Erforschung der ukrainischen
Toponomastik viel gearbeitet hat.
Berlin. D. Doroschenko.
M. A. Aldanov: Zeitgenossen. — Aus dem Russischen übertragen
von R. Frhr. v. Campenhausen. Berlin, Schlieffen-Verlag 1929.
Gr. 8°. 364 Seiten.
Aldanov ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der russischen Emigration
und ihr glänzendster Essayist. In seiner Trilogie aus der Zeit des Direktoriuins
und des Konsulats hat er sich als Meister des historischen Romans und besonders
des historischen Portraits erwiesen. Waren dort die Gestalten Suvorovs,
Kaiser Pauls I. von übertrefflicher Lebendigkeit, so bewährt Aldanov nun seine
Kunst an Modellen aus der enwart: Clemenceau, Lloyd-George, Briand, Chur-
chill, Ludendorff, Stalin, Lunalarskij und (sollen wir sagen Ulrickij oder Kanne-
gießer, dessen Mörder) an den einander haßverzehrt zugekehrten Antlitzen des
sozialrevolutionären und des bolSevikischen Rußland.
Aldanovs Manier erinnert an einen anderen Russen, der ganz dem fran-
zösischen Schrifttum zugehört, an André Levinson, in dem, o Ironie des Schick-
sals und o Schicksal der Ironie, Anatole France allein fortdauert, dessen Tradition
sonst beinahe und dessen kenntnisreicher, feiner Witz nirgends einen anderen
Nachfolger fand. Russen? Sind Aldanov und Levinson mit ihrem funkelnden
Esprit je Russen gewesen? Auch ohne sich in Bartelsschen Extremitismus zu ver-
lieren, mag man es bezweifeln. Für beide war die russische Kultur auf dem Weg
des Juden zur westlichen Zivilisation nur Nährboden und Durchgangsstation.
(Daß Aldanov nur ein Pseudonym für Landau ist, weiß wohl jeder mit russischer
Literatur nur oberflächlich Vertraute, dem deutschnationalen Verlag dürfte es
sicher unbekannt geblieben sein.) Die deutsche Veröffentlichung der an originellen
Einfällen reichen und von tiefster historischer, psychologischer Einsicht zeugenden
„Zeitgenossen“ ist sehr zu begrüßen. Trotz der in russischen Dingen nie ver-
leugneten Parteilichkeit des Autors haben wir es durchweg mit Portraitsaufnahmen
zu tun, die von einer höheren Varte aus und stets mit künstlerischem Geschmack
geschahen.
Die deutsche Veröffentlichung des Buches ist zu begrüßen, obwohl die vom
Waschzettel in den schrillsten Tönen gepriesene Übersetzung den stilistischen Vor-
zügen des Originals nicht gerecht wird und durch zahllose sachliche Irrtümer
sündigt, die, weil sie sonst dem Verfasser angekreidet würden und da sie bei der
Lektüre des Werks empfindlich stören, hier wenigstens in kleiner Auswahl den
hoffentlich vielen Lesern zu nutz angemerkt seien. Falsche Namensschreibungen,
Andrieux statt Andrieu, Deroulède statt Dérouléde, Dreyfuss statt Dreyfus, de La
Barrat statt de La Barre, Duclo statt Duclos, Lakori statt Labori, Barres statt
Barrés, Dechanel statt Deschanel, Aisex statt Isaacs, Biberbrook statt Beaverbrook,
Northcliff statt Northcliffe, Morois statt Maurois, Tardieux statt Tardieu,
Mirabeau statt Mirbeau, Jeffroy statt Geffroy, Guède statt Guesde, Liautey statt
Lyautey, Leibnitz statt Leibniz, Childiz-Kiosk statt Jildiz-Kiosk, Lord Crue statt
Crewe, Ernest Renand statt Renan, Admiral Bitty statt geek
Campenhausen hält den Attorney General für einen Offizier, spricht von
einem Vermögen der „big five“, das „einige Milliarden“ beträgt. (Pfunde? Oder
was sonst?), beklagt die Unkenntnis in „transsylvanıschen“ en) An-
gelegenheiten, rühmt „vereidigte Politiker“ (des politiciens assermentés), schreibt
den Titel von Huysmans Roman „Arebourg“.
Stilblüten: „Die offiziellen Berichte taten nichts wie abschwächen.“ „Nur
Clemenceau, nachdem er die Berichte zur Kenntnis genommen, fand nichts.“
„Bucharins Vorstellungen gingen hinsichtlich ihrer Tiefgründlichkeit mit den-
jenigen der zionistischen Philosophie nicht auseinander“, „drei Kandidaten in der
366
(statt „für die“) Rolle Alexanders“, „Der Chef der deutschen Abteilung sollte sich
gedanklich voll und ganz in den Oberkommandierenden der feindlichen Armee
umstellen“. „Der Schuß Conradis kann nicht anders als eine sinnlose Tat be-
zeichnet werden.“
Ich glaube, nach den getanen Proben kann man des Frh. v. Campenhausen
Übertragung auch nur als eine sinnlose Tat bezeichnen. Deren Wiederholung,
das heift Verdeutschen fremder po aoet Literatur durch einen Mann, dem
französische Politiker wie Deschanel, Tardieu, englishe Größen wie Beatty, Isaacs,
Crewe und französishe Schriftsteller wie Renan, Mirbeau, Maurois spanische
Dörfer sind, müßte fortzeugend Böses nur gebären. Und Aldanovs Buch ist doch
wahrlich, wir wiederholen es, ein gutes Werk, dem viele nachfolgen mögen.
Vien. Dr. Otto Forst- Battaglia.
Wsewolod Iwanov: „Der Buchstabe G“. — Berlin, Malik-
Verlag 1930. 8°. 435 Seiten.
Weralnber: Der Platz an der Sonne. — Ebenda. 8°. 268 Seiten.
P. N. Krasnow: Der weiße Kittel. — Stuttgart, Union Deutsche
Verlagsgesellschaft. 1930. 8°. 349 Seiten.
Anatolıj Mariengof: Zyniker. — Berlin, S. Fischer. 1930.
8. 173 Seiten.
Die Hochflut von Übersetzungen aus dem Russischen wird langsam, aber
sicher zur Katastrophe. Neun Zehntel der dem deutschen Leser dargebotenen
russischen Werke hätten ohne Schaden für die Weltliteratur im bescheideneren
Bereich ihrer ursprünglichen Sprache verbleiben können. Trotzdem regnet es noch
immer, aus politischen, keineswegs aus künstlerischen, nicht einmal aus rein ge-
schäftlichen Motiven, russische Romane. Die Bolschewiken gehen mit dem bösen
Beispiel voran und die Weißen bemühen sich, so gut oder schlecht es eben geht,
die Todfeinde nachzuahmen. Und die deutschen Verleger werden zu Mitschuldigen
an dieser neuen Russen-Invasion.
Vor kurzem erst habe ich ein übles Erzeugnis der „Weißen“ angeprangert,
das auf ritselhaftem Wege in einen der ersten katholischen Verlage geraten ist.
Der Roman des Generals Krasnow verdient noch schärfere Ablehnung als
Sacharows „Nina Grigorewna“. War jenes Buch bloß ein unbeholfen-naives, aber
in seinen Absichten reines Konglomerat aus von literarischen Herrschaften abge-
Stoffen, so haben wir im „Weißen Kittel“ einen grobgezimmerten, jeder
ethischen oder künstlerischen Rechtfertigung entbehrenden Sensationsschmöker,
fürwahr den Komparativ eines Sensationsschmoks, vor uns. Peinlich berührt uns
die verlogene Lüsternheit des so fromm und penoa tuenden Autors, der die
Laster der Bolschewiken mit behaglichster Austührlichkeit schildert: natürlich nur,
damit wir uns dariiber entriisten, beileibe nicht, um das Publikum anzulocken.
Die Fabel des Buchs, das in der Manier des seligen, unseligen „Seestern“ die
glorreiche Zukunft der russischen Gegenrevolution, den Sieg des zarentreuen
„Weißen Kittel“ schildert, ist abscheuliche Kolportage. Über das Deutsch dcs
bersetzers werden wir auch dadurch nicht getröstet, daß offenbar schon der
Verfasser des Originals, wie aus den paar der Eleganz und des Lokalkolorits halber
eingestreuten Brocken hervorgeht, miserabel französisch (,,Suretée Generale“) und
polnisch („Prosce, pane“) kann.
Auf dem Weg vom Zarenadler zur noch flatternden roten Fahne begegnen
wir dem Zyniker, dem resignierten Skeptiker Mariengof. Seine Geschichte
ciner bürgerlichen Ehe im proletarischen Rußland steht literarisch unvergleichlich
höher als das Machwerk Krasnows. Dennoch ist auch hier das Klischee stärker als
die von ihm verdeckten Bilder aus trauriger Wirklichkeit. Olga: cine neue Nora,
die den Tod der Hedda Gabler stirbt: die Heldin der Tragikomödie. Ihr Gatte,
ihre Liebhaber, erscheinen als Episodenfiguren, um die Stufen alt- und ncu-
bourgeoiser Erotik zu verkörpern, der Erotik, die sich sonderbar als Uberbleibsel
aus dem Ancien-Régime inmitten der revolutionären Stimmung ausnimmt.
Während die Waffen des Klassenkampfes sprechen, schweigen nicht nur die Musen,
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sondern auch Eros und Psyche und nur das wollüstige Grunzen des Sexus mag
in den Pausen zwischen Gewehrsalven und Agitationsreden sich hören lassen. Um
diesen Gegensatz von Liebe und Leben darzustellen, mangelt es dem Buche von
Mariengof sowohl an der entschiedenen Parteinahme für die Revolution als an
der für das Eros. Sein hämischer Zynismus vermag uns auch nicht den echten
objektiven Realismus zu ersetzen. Es bleibt nach der Lektüre dieses anardhischen
Exzentrikfilms ein schaler Geschmack, der sich alsbald verflüchtigt und dem be-
freienden Nichterinnern weicht. Auch hier war die Übertragung unnötig.
Wera Inbers zum großen Teil autobiographischer Roman „Der Platz
an der Sonne“ entschädigt uns für manche Schwächen in der Komposition. Da
Ende, ein vom Leben ersonnenes für bolschewikische Begritte happy end, ist kein
rechter Abschluß. Wozu wir mit einer Figur aus manns Metternich" be-
merken wollen: „Lieber gar kein Ende, als ein Ende, das gar kein Ende ist“.)
Durch die Frische und Urspriinglichkeit, durch die Anmut und kluge Resignation,
mit der die Wechselfälle eines vom Umsturz aus den vorgezeichneten Bahnen ge-
schleuderten Damendaseins geschildert werden. Im übrigen sind es wieder die
bekannten Dinge: der Zusammenbruch, das Abblättern der Bürgerlichkeit, der
Kampf mit Hunger und Klassenfeindschaft, von denen uns schon so viele Uber.
läufer aus Not oder freiwilliger Gesinnung, von denen uns hunderte von Russen
auf mehr oder weniger fesselnde Weise erzählt haben. Wie sehr doch diese Bücher
des Erinnerns einander ähneln. Bei so verschiedenen Autoren, wie bei Mariengof
und Inber, kehren z. B. zwei Motive wieder, die Feuerung mit den Resten der
Bibliothek und die Gewohnheit der Bolschewiken, inmitten der ärgsten Kalamitäten
sich um Denkmäler für die Heroen des Umsturzes zu sorgen. Ein anderes Motiv
ist ein ewig-Russisches. Es kribbelt und krabbelt und erfüllt den Realismus mit
fast symbolischer, „beißender‘ Satire: die Laus. Ein viertes: das Verlangen der
neuen Männer nach den alten Damen, natürlich sofern diese jung sind... Doch bei
Wera Inber ist zum Glück jenseits des Typischen noch genug Persönliches sichtbar.
Ihr Roman, und mit ihm alle ihre Werke, atmet dazu eine von keiner revolutio-
nären Sturmflut hinweggespülte literarische Kultur. Wir können ihn als einen
willkommenen Gast im deutschen Schrifttum begrüßen, ohne ihn als einen not-
wendigen zu betrachten.
Am günstigsten wird unser Urteil über Wsewolod Iwanow lauten.
Der gehört wirklich in die Weltliteratur und an einen der ersten Plätze. Vielleicht
haben wir in ihm neben Babel und Pilniak das größte narrative Talent des neuen
Rußland zu erblicken. Ich weiß nicht, wie es um die bolschewikische Recht-
gläubigkeit des Dichters bestellt ist, wage an ihr zu zweifeln; jedenfalls hat sie bei
der künstlerischen Würdigung seines nur zufällig mit der Revolution verknüpften
Werkes nichts zu bedeuten. Iwanow ist zweierlei: ein großer Lyriker der exoti-
schen Landschaft und ein hinreißender Epiker des Kampfes. Tierische Wildheit
des Asiaten und träumende Schwermut des Slaven vereinigen sich zu einer macht-
vollen Individualität, die jede kollektivistische Kette sprengt. Wir haben die
Mischung konträrer Eigenschaften in Iwanow wohl aus seiner Herkunft zu er-
klären. Sein väterlicher Großvater war der zaristische Generalgouverneur von
Turkestan Kaufmann (deutscher Abstammung), seine beiden Großmütter hatten
russisches und kirgisisches Blut, der mütterliche Großvater war ein polnischer Ver-
bannter adeliger Familie. Romantisch und grauenhaft verlief die Jugend des
Knaben. Im russischen Asien, nahe der chinesischen Grenze. Sein Vater
von des Bruders Hand. Iwanow eg vie Jahre als Artist die Welt, stürzte
sich in den Strudel der Revolution und begann hernach, wie Panait Istrati,
mit ungleich größerer Vehemenz, die Eindrücke seiner Wanderschaft zu erzählen.
Im „Buchstaben G“ finden wir die schauerlihe Kindheit und die Ermordung des
alten Iwanow geschildert. Dann Novellen aus Mittglasien unter dem Gluthauch
der Revolution. Zwei davon sind hohe Meisterwerke. Die „Ehrenschuld“, in
denen das Pathos der Kämpfer um ein neues Ideal den Gipfel erreicht, und die
„Rückehr des Buddha“, in den Dimensionen fast schon allein einen Band füllend,
mit deutlicher Abkehr von der Unrast und Bewegtheit, der die von Stiirmen un-
erschütterte Ewigkeit, symbolisiert in der Statue des aus Moskau heimgebrackten
Buddha, gegeniibertritt. Am schwächsten aber ist die Titelgeschichte vom „Buch-
368
staben G“, die aus schwer reiflichen und nur aus politischer Absicht if-
baren Gründen in die Auswahl aufgenommen wurde, eine moralische-unmoralische
Propagandaangelegenheit aus und fürs rote Kriegs-Pressequartier. Wenigstens das
hätte man dem reichen Sammelband ersparen Können, daß er nach dieser Un-
beträchtlichkeit den Namen führe.
ien. Otto Forst- Battaglia.
Ettore Lo Gatto: Storia della letteratura russa. — Vol. 1 „Dalle
origini a tutto il secolo XVI“. Vol. 2 „Le origini della lette-
ratura moderna“. Vol. 3 „La letteratura moderna“. 1. — Roma,
Istituto per I Europa Orientale. 1928—29. (Publicazioni. Serie 1,
14, 1—8.) &.
Zehn Jahre nach der Gründung des römischen Instituto per l'Europa
Orientale, dessen überraschend schnelle Aufwärtsbewegung Schritt gehalten hat mit
dem Aufblühen der Slavistik in Italien, erscheint als Veröffentlichung dieses
Instituts eine vielbändige Geschichte der russischen Literatur, welche alle Ver-
EE gleiher Art in den westeuropäischen Ländern, in denen die
Slavistik bald Hundertjahrfeiern begehen kann, in Schatten stellt. Ihr Verf., der
Slavist der Universitäten Rom und Neapel, hat, von 1921 an, neben umfänglichen
und wertvollen Aufsätzen in den periodischen Veröffentlichungen des Institutes,
mit erstaunlicher Vielseitigkeit auch in Buchform aus Literatur- und Geistcs-
geschichte Rußlands Studien veröffentlicht. Das vorliegende Werk würde
vielleicht, wenn ihm auch die außerordentliche Reichhaltigkeit seines Inhalts stets
eine Vorzugsstellung sichern müßte, nicht in dem Maße fesselnd und anziehend
wirken, wie es tatsächlich wirkt, wenn nicht das warme persönliche Verhältnis
seines Verf. zu dem Gegenstand sich im Laufe der Darstellung auf Schritt und
Tritt fühlbar machte. Die feine Einfühlung in die Sache selbst, vereint mit dem
echt italienischen brio des Vortrags, gestalten die Lektüre dieses Werkes zu einem
asthetischen Genuß, ohne daß dabei sein Zweck, Wissen in weite Kreise zu tragen,
den Verf. zu Konzessionen an den Geschmack des fachlich nicht Eingeweihten ver-
leitet und den vissenschaftlichen Vert herabgedrückt hätte.
Lo G. teilt den Stoff derart ein, daß die gesamte russische Literatur sich in
2 Hauptperioden gliedert, eine alte und eine neue, die moskovitische Periode also
ihrerseits in 2 Perioden auseinanderfällt: die Zeit von der Gründung des moskoviti-
schen Staates bis zum Briefwechsel Ivans IV. mit Fürst Kurbskij und das 17. Jahrh.,
das Lo Gatto, als bereits von europäisierenden Strömungen ergriffen und erfüllt,
mit zur neueren Literatur rechnet. Diese Einteilung wird vielleicht vielfach auf
Ablehnung stoßen, in der Art aber, wie Verf. den ganzen geistigen Verlauf
schildert, erscheint sie ganz natürlich, um so mehr, als er in der ältesten Zeit auf
die geographische Ausbreitung vom Süden zum Norden als trennendes Element
kein großes Gewicht legt, und auch hier schon den Hauptwert auf das Gemeinsame
legt. Er geht auf diese Weise einer Behandlung der ja noch ganz im Fluß be-
griffenen ultraukrainischen Frage aus dem Wege und nügt sich mit ihrer Er-
wähnung. Wie aus der obigen 1 ersichtlich, ist das Werk noch nicht abge-
schlossen, die moderne Literatur (Bd. 3, 1) ist erst bis zu Puškin einschließlich ge-
führt, und ein weiterer Band soll den Abschluß bringen. Da diesem Band, der die
gesamte Literatur bis zum Anbruch der Sovetherrschaft enthalten müßte, auch noch
ein Gesamtverzeichnis der einschlägigen Literatur und ein Namensverzeichnis bei-
gegeben werden soll, werden wohl noch mehrere Bande die Fortsetzung bilden. In
einem kurzen Vorwort legt Lo Gatto die Gründe dafür dar, warum er der älteren
und mittleren Literaturperiode einen so breiten Raum zugewiesen hat, die älteste
Epoche bis zum Igorlied umfaßt 210 S., die folgende bis zum Briefwechsel Ivan IV.
mit Fürst Kurbskij weitere 77 S. In Italien fehlt es zurzeit noch an irgend-
einer Darstellung des geistigen Lebens im alten Rußland, bei der Vichtigkeit dieser
periode für die gesamte spätere Entwicklung, namentlich in Hinsicht auf die miind-
liche Überlieferung des alten Sagenschatzes, durfte deshalb die vorliegende Lite-
raturgeschichte die älteste Zeit nicht so flüchtig behandeln, wie das z. B. bei
Brückner der Fall ist. G. bemängelt das, er hebt aber besonders hervor, daß
869
Deutschland hinsichtlich guter und gediegener Literatur über das geistige Rußland
in alter und neuer Zeit eine Vorzugsstellung den anderen westeuropäi
Ländern gegenüber einnimmt.
Bei Darstellung der ältesten Periode holt Lo G. sehr weit aus, streift die F
nach dem Urslavischen, gibt eine kurze Charakteristik des urgeschichtlichen R
land an der Hand von Niederle und Speranskij und wendet im weiteren der münd-
lichen Überlieferung große Aufmerksamkeit zu, dem eigentlichen i
Schaffen im Volke, das zum Erhalter vieler heidnischer Traditionen in
Zeit wurde.
Das Hauptinteresse fällt hierbei dem Volksepos zu. Lo G. behandelt die
einzelnen Phasen der Bylinenforschung und gibt von den Bylinen selbst und ihren
Helden ein sehr gutes Bild. Wenig ist gesagt über ihre Entdeckung durch Rybnikov,
über Art ihres Vortrags und die Bylinensänger; auch die Frage nach den näheren
Umständen ihrer Wanderung nach dem hohen Norden tritt zurück. Ein be-
sonderes Kapitel ist der Gestalt des Ilja Muromec gewidmet. Es ist zu bedauern,
daß gelegentlich der un der späteren Volksdichtungen historischen Inhalts
nicht auch der in der klei Tradition erhalten gebliebenen koljadki (aus
der Sammlung von Antonovič und Dragomanov) Erwähnung geschehen ist, in
denen die Erinnerungen an die ältesten geschichtlichen Zustände aus der Kiever
Zeit fortleben. Ganz unberücksichtigt geblieben ist auch ein Eingehen auf die
musikalische Seite des Volksgesanges, sowohl im Epos wie in der Lyrik; aber bei
der Fülle des Gebotenen wäre es ungerecht, dem Verf. aus solchen Lücken einen
Vorwurf machen zu wollen.
Bei Behandlung der mündlich überlieferten Literatur beruft sih Lo G.
zumeist auf Speranskij, in der ältesten schriftlich erhalten gebliebenen auf Istrin
und dessen tiefgründige Forschungen auf diesem Gebiet. Die einzelnen Denkmäler
sind eingehend besprochen und aus den prägnantesten unter ihnen größere Stellen
in Übersetzung ge Kar Wie eingehend sich Verf. mit dem Originaltext des
Igorliedes, dem hier alleın 18 S. gewidmet sind, beschäftigt haben muß, geht aus
der Gegenüberstellung von Lesungen Millers und Abichts hervor, zu denen er die
eigene von ihnen abweichende stellt. Bei der Einschätzung der Tatarenzeit in ihrer
Auswirkung auf den russ. Volkscharakter schließt sich Lo G. der von Nötzel aus-
gesprochenen Anschauung an. Immer wieder wird ersichtlich, wie gut orientiert
Lo G. in der deutschen slavistischen Literatur ist, auch aus neuester Zeit, nur selten
vermißt man die eine oder andere Veröffentlichung in den Literaturangaben, so
z. B. bei Besprechung der russ. Märchen und ihrer rsetzungen, die von Loewis
of Menar r Stähling, Übersetzung des Briefwechsels Ivans IV. mit Kurbskij.
Lo G. hatte den ersten Band mit dem zutreffenden Bilde geschlossen, daß
das ganze 17. Jh., zu dem er nun übergeht, nichts anderes gewesen sei als eine
Aufeinanderfolge von Konzessionen an die Windstöße aus dem Westen, die immer
stärker werden sollten, um schließlich unter der Regierung Peters d. Gr. zum
turme zu werden. In diesem Sinne rollt das Bild des 17. Jahrhs. mit seinen west-
réit me Einflüssen auf die Unterhaltungsliteratur, auf das geistliche Schauspiel,
die kirchlichen Spaltungen, das weltliche Theater, auf das Erwachen des Sinnes
für den Realismus und das Zurücktreten des Moralisch-Didaktischen an dem Leser
vorüber, voll Leben und Anschaulichkeit. Die Zeit Peters d. Gr. und seiner
Reformen gibt Lo G. Anlaß zu Bemerkungen über das Andauern des Für und
Wider in der Einschätzung dieser Zeit in der Nachwelt und in den eurasistischen
Strömungen der Gegenwart, welche im Brennpunkt der Interessen des Verf. stehen.
Die der Moderne sich nähernde Zeit mit ihren individuellen literarischen
Schöpfungen bringt eingehendste Studien der einzelnen Persönlichkeiten, wobei
Lo G., der Übersichtlichkeit wegen, das rein Biographische in Anmerkungen ver-
weist, um im Text immer wieder, ungestört durch eine zu breite Ausgestaltung
dieses Persönlichen, den geistigen Bewegungen im großen und ganzen gerecht
werden zu können. Nur bei Puškin wird das Lebensbild zum selbständigen
Kapitel, dem die einzelnen Lebensphasen im Zusammenhang mit dem dichterischen
Schaffen dargestellt, folgen. Der bibliographische Anhang für Puškin umfaßt allein
8 S., denn auch hier, wie bei voraufgegangenen bibliographischen Notizen zu den
früheren Dichtern oder Denkern, sind Übersetzungen ihrer Werke in fremde
370
Sprachen mit beriicksichtigt. Politisch vorurteilslos beurteilt Lo G. die Dekabristen-
zeit, mit ungetrübtem Urteil sucht er aber auch den späteren Puäkin zu verstehen.
Dieser rein — menschliche Zug spricht auch aus der Darstellung gleich welcher
Kultureinflüsse aus dem Westen auf das geistige Rußland und verleiht dem ganzen
Werk, im Gegensatz zu der Einseitigkeit so vieler in Sovetru8land oder in den
anderen Ententeländern geschriebener Bücher über Literatur, Kunst oder Musik
Rußlands eine sehr sympathische Note. Möchte diese groß angelegte Geschichte
der russischen Literatur bald einen glücklichen Abschluß finden.
Breslau. Emmy Haertel.
Giovanni Maver: „Meditazione“ di Lermontov. — Roma,
Istituto per l’Europa Orientale. 1929. 25 S. 8. (Piccola
Biblioteca slava. 6.) 7
M. versucht es, die .komplizierten Gedankengänge der 1888 geschriebenen
„Duma“ zu entwirren und kommt dabei zu einem wesentlich anderen Schluß als
Kotljarevskij. Ihn interessiert, mehr als die Frage, wieweit Lermontov zu dem
vernichtenden Urteil über seine Zeitgenossen durch den ersten der philosophischen
Briefe Caadevs angeregt worden sein kann, das Auftreten ähnlicher ankengänge
in anderen Schriften Lermontovs, und zwar geht M. hierbei ganz methodisch vor,
unter 5 der einzelnen Gedanken und poetischen Bilder der „Duma“.
So untersucht er die Vechselbeziehungen zwischen Individuellem und Kollektivem,
das was Lermontov selbst eigen war und was er in der Gesellschaft seiner Zeit
und Umgebung beobachten konnte; ferner die Metapher von der frühreifen Frucht,
die M. in einem Briefe und einer anderen Dichtung Lermontovs wiederfindet.
Nebenbei und in einer Anmerkung untergebracht ist die Beobachtung, daß es sich
bei den vielen Autoplagiaten Lermontovs überhaupt immer nur um das Auf-
treten ein und desselben Bildes in vom Verf. veröffentlichten oder unveröffent-
licht gelassenen Dichtungen handelt, nie aber um bloße Nachahmung. Ein inter-
essantes Streiflicht auf die Art, wie L. die einzelnen poetischen Eingebungen auf-
zeichnete und später verwertete, wird durch eine von M. zitierte Stelle aus einem
wenig bekannten Memoirenwerk (J. G. Oksman, aterina Suskova“ 1928) er-
tichtlich. Auch zu der Frage was die Anspielung Lermontovs auf die Vorfahren
in „Duma“ zu bedeuten habe, steuert M. neues kritisches Material bei. Ein Ober-
blick über die bisherigen kritischen Stimmen, in chronologischer Reihenfolge, zeigt,
wie ungleich, je nach der Zeit der Niederschrift, die Urteile der russischen Kritiker
über Lermontovs Auffassung vom Unwert der russischen Gesellschaft seiner
Zeit waren.
Breslau. Emmy Haertel.
Anton Navina (Anton Luckevit): „Adbitae zyz’ze“. Vorträge und
Abhandlungen über die weißrussische Renaissanceliteratur. Bd. 1.
Verlag: Belaruskaje vydavetzkaje tavarystvo. Vilna. 1929.
145 8.
Der erste Band der literaturkritischen Studien des Verf. enthält 14 Abhand-
lungen. Verf. erklärt, daß bei der Herausgabe des ersten Bandes semer Abhand-
lungen er sich von keinem Plan leiten ließ: vielmehr fanden in dem ersten Band
jene Abhandlungen Aufnahme, die gerade unter der Hand waren.
Der 1. Band der literaturkritischen Abhandlungen des Verf. enthält zwei
allgemein-theoretische Beiträge: „Das Wesen der Literatur und deren gesellschaft-
liche Bedeutung“ und „Die Evolution der weißrussischen Renaissanceideologie und
deren Wiederspiegelung in der Literatur“. Die übrigen Beiträge sind dem Schaffen
der einzelnen weißrussischen Dichter (Ljavicki, Jakob Kolas, Janko Kupala, Maxim
Bogdanovič, Natalija Arsen’eva) gewidmet und den Lesern der Jahrbücher z. T.
bereits aus der Zeitschriftenschau (Band IV Heft III, Band V Heft D bekannt.
Vier weitere Abhandlungen haben einen allgemeineren Charakter: „Die
Rebellion gegen Gott“ (Motive des Gotteskampfes in der weißrussichen Lite-
ratur), „Der Widerhall des Veltkrieges in der weißrussischen Literatur“, „Vilna
in der weißrussischen Literatur“ und „Die Judenfrage in unserer Literatur“. Ein
Artikel „Auf neuen Wegen“ behandelt die jüngste weißrussische Lyrik (Dubouk,
M. Carota und Ulads. Zylka).
371
Freilich muß man hinzufügen, daß sich dies mehr auf die 5
denn auf die Gegenwart der weißrussischen Literatur bezieht. In den letzten
zehn Jahren ist Verf. durch den Gang der politischen Entwicklung, die zwischen
Wilna, wo er seinen ständigen Wohnsitz hat, und Minsk, dem neuen Zentrum
weißrussischen geistigen Lebens, eine sehr fühlbare Grenze aufgerichtet hat, der
persönlichen Fühlungnahme mit den maßgebenden weißrussischen Dichtern beraubt
worden. Das ist natürlich nicht seine Schuld, sondern sein Unglück, doch macht
sich dieser Tatbestand insofern unangenehm bemerkbar, als Verf. in seinem
Sammelwerk viel Publikationen, die jenseits der Grenze erschienen sind, über-
sieht und bei manchen Irrtümern verharrt, die durch die spätere Forschung
jenseits der Grenze längst berichtigt sind.
Ich verweise an dieser Stelle auf die falschen biographischen Angaben über
den weißrussischen Novellisten Ljavicki, die durch Prof. Pjatuchovič in „Zapiski
adds. guman. navuk“, Bd. 2, 1928 korrigiert worden sind, was vom Verf. un-
beachtet geblieben ist.
Einen weiteren Mangel der literaturkritischen Abhandlungen des Verf. bildet
ein gewisser „nationaler Provinzialismus“: alle seine Vergleiche entnimmt er der
weißrussischen Literatur und geht auf die Zusammenhänge mit den Literaturen
anderer Völker fast nie ein. Die weißrussische Literatur betritt gegenwärtig das
weite Feld des internationalen literarischen Austausches, sie tritt in den Gesichts-
kreis anderer Völker. Daher müßte auch die weißrussische Literaturkritik bei der
Erörterung der Werke der weißrussischen schönen Literatur sich mehr von
allgemein-menschlichen Gesichtspunkten leiten lassen und die Zusammenhänge mit
der Entwicklung der Weltliteratur beachten.
Die Tatsache, daß das vorliegende Buch als Leitfaden für die studierende
weißrussische Jugend dienen soli, dürfte wohl kaum als Entschuldigung dienen,
denn, obwohl es den Grundsätzen der Pädagogik entspricht, vom Bekannten zum
Unbekannten weiter fortzuschreiten, muß man dennoch die Jugend lehren, sich
im Weltgeschehen und nicht nur in vaterländischen Dingen zu orientieren, da man
sie sonst der schlimmsten Krankheit unserer Zeit — dem „nationalen Provin-
zialismus“ in die Arme führt, der auch der weißrussischen Jugend nicht un-
bekannt ist
Alle diese Mängel entwerten indessen keineswegs das vorliegende Sammel-
werk, das nicht nur den Weißrussen, sondern auch dem Auslande manches zu
bieten hat. Verf. zieht in seinen Abhandlungen die historisch-soziologische
Methode der Würdigung nach den Gesichtspunkten poetischer Schönheit vor. Es
sind vor allem die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Leben, die ihn
interessieren und auf die er eingeht. Die künstlerischen Formen interessieren ihn
wenig. Der Hauptheld seiner Darstellung und seiner Würdigung ist und bleibt
das zum nationalen Bewußtsein erwachende weißrussische Volk.
In den weißrussischen Dichtern sucht und sieht er vor allem die Träger der
Idee der nationalen Renaissance, die Künder der kollektiven Volksseele, die den
Weg „Vom Dunkel zum Licht, von der Knechtschaft zur Freiheit und zum
Glük“ sucht.
Dieser publizistische Charakter der literaturkritischen Abhandlungen des
Verf. gehört zu den Eigentümlichkeiten seines literarischen Schaffens.
Die gute Kenntnis des Gegenstandes der Darstellung vereinigt mit der Liebe
zum Gegenstand, die Exaktheit und Abgeklärtheit des Urteils, die Einfachheit und
Klarheit der präzisen Sprache — dies alles macht das Buch des Verf. zu einem
wertvollen Beitrag zur weißrussischen Literaturkritik.
Wilna. Vladimir Samojlo.
372
Anton Luckevit: „Za dvadzat’ P etc (1908—1928). Wilna.
Verlag: Belaruskaje Vydavetzkaje Tavarystvo. 1928.
Verf. ist bekanntlich eine der führenden Persönlichkeiten der weißrussischen
nationalen Renaissancebewegung. Dieses Memoirenwerk des bekannten weiß-
russischen politishen Führers ist unter recht eigenartigen Bedingungen ent-
standen: er schrieb es als Untersuchungsgefangener und Angeklagter im Prozeß
der weißrussischen Arbeiter- und 8 im Gefängnis. Im Vorwort zu
diesem eigenartigen Memoiren werk erklärt Verf., daß er damit das 25 jährige
Jubiläum der weißrussischen revolutionären Gramada, zu deren Mitbegründern
er gehörte, verzeichnen wollte. Er schrieb seine Memoiren ohne jegliche schrift-
liche oder gedruckte Unterlagen, lediglich auf Grund seiner persönlichen Erinne-
rungen. Verf. gibt selbst zu, daß sein Gedächtnis die Ereignisse dieser 25 Jahre
(1908/28) keineswegs ideel behalten hat. Das Buch enthält freilich Hinweise auf
Dokumente, Zeitungsartikel, Parteitagsbeschliisse, Photographien führender poli-
tischer Persönlichkeiten u. a. m. Dies alles deutet darauf hin, daß Verf. nach
dem Verlassen des Gefängnisses an dem ursprünglichen Manuskript auf Grund
objektiver Materialien manche Korrektur resp. Ergänzung vorgenommen hat.
Allerdings wird nur eine genaue Sichtung des vorliegenden Materials und ein Ver-
gleich mit anderen Quellen die Feststellung ermöglichen, wo es sich bei den Aus-
ngen des Verf. um wirkliche Tatsachen oder nur um persönliche Annahmen
handelt. Es ist ja auch ohne weiteres verständlih, daß ein aktiver Teil-
nehmer der Ereignisse der letzten 25 Jahre bei deren Schilderung zu einem ge-
wissen Egozentrismus nei
Auf Grund persönlicher Erinnerungen kann ich jedenfalls bezeugen, daß
Verf. zu einer Übertreibung des Umfanges und des Einflusses der weißrussischen
revolutionären Bewegung in der Vergangenheit neigt und die Rolle einzelner
führender Persönlichkeiten dieser Bewegung nach höchst subjektiven Gesichts-
punkten herabsetzt resp. übertreibt.
An zolchen unkritischen Auslassungen eines temperamentvollen Publizisten
sind die Memoiren von Luckeviè reich genug. Auch die chronologischen Angaben
des Verf. sind nicht immer zuverlässig. Von allen diesen Mängeln abgesehen
bieten indessen die Memoiren des bekannten Politikers auch reichlich inter-
essantes Material. Verf. erblickt die Wurzeln der revolutionären Bestrebungen
in Weißrußland einerseits in den polnisch- weißrussischen Auf; tandsbewegungen,
N in den revolutionär- föderalistischen Organisationen russischer Intellek-
tueller.
Mithin gelten als Vorläufer der weißrussischen revolutionären Organi-
sationen: auf der einen Seite Kastus’ Kalinouski — der Führer des Aufstandes von
1868 (?), der, wie Verf. behauptet, als erster das Problem der nationalen Wieder-
geburt und Unabhängigkeit Litauens und Weißrußlands (des Großfürstentums
Litauens) aufrollte (getrennt von der Aufgabe der Wiederherstellung Polens?); auf
der anderen Seite eine Gruppe Weißrussen-Narodovol’zy, die bereits 1884 zwei
Nummern der illegalen Zeitschrift „Gomon“ in russischer Sprache veröffentlichte,
in der die theoretische Rechtfertigung der weißrussischen Eigenstaatlichkeit inner-
der russischen Föderation gegeben wurde. Als Bindeglied zwischen diesen
Bestrebungen kleiner Intellektuellengruppen und der späteren Volksbewegung des
20 ten Jahrh. erscheinen die weißrussischen Studentenzirkel, in denen die revolu-
tionären Traditionen der Vergangenheit gewahrt wurden.
Ein Zirkel dieser Art bestand z. B. 1890 an der Moskauer Universität, wo-
bei ihm der große weißrussihe Novellist Ljavicki angehörte. Erst 1908 ent-
steht die erste selbständige weißrussische politische Organisation — „Belaruskaja
revaljucyjnaja gramada“.
Mit ihr beginnt die ununterbrochene politische Massenbewegung, die durch
den Staatsakt vom 25. März 1918 zu der Grundsteinlegung der weißrussischen
Eigenstaatlichkeit innerhalb der Föderation der Sovetrepubliken führte — der
Verwirklichung des Programms der Weißrussen-Narodovol’zy von 1884.
Die „Belaruskaja revaljucyjnaja gramada“ wurde 1908 in Petersburg ge-
gründet. Den Kern der Vereinigung bildeten laut Verf. die beiden Brüder
Luckevité (Anton und Ivan), damals Studenten der Universität Petersburg, Vaclav
873
Ivanouski (Student der Technischen Hochschule) und eine Reihe weiterer Persön-
rschiedenen Gründen nicht erwähnt. In Minsk
Das ursprüngliche P der Partei ist nicht erhalten. Das P
enthielt die Forderung . Rußlands auf den Grundlagen der Auto
nomie und Föderation, nationale Freiheit für alle Rußland bevölkernden Nationen,
ndere nationale Schulen für die Weißrussen. Das Programm wandte sich
gegen den Absolutismus und forderte eine demokratische Verfassung, Land für
die Bauern, Fabriken für die Arbeiter (?) u. a. m.
1006 ‘nach der Rechen der” Program In vBelaruskaja —
von n r Revision in ja ja
“ umbenannt wurde, zugleich erfo eine deutliche Umorientierung der
artei von den Sozial-Revolutioniren zu den Sozial-Demokraten hin.
Interessant sind die Angaben des Verf. über das Verhältnis der Partei zu
anderen revolutionären Parteien Rußlands, sowie die Schilderung ihrer Stellung
zum Terror. Man erfährt daraus, daß z. B. die Idee der Ermordung des be-
kannten Gouverneurs Kurlov, der am 17. Oktober 1905 in Minsk neben dem
Wilnaer Bahnhof das Militär auf die unbewaffnete Menge Salven abgeben ließ, so
populär war, daß selbst polnische Großgrundbesitzer (so Ljuban’ski aus Loschizy)
sich mit Geldspenden an der Organisation des Attentats betsiligten: Das Buch
enthält 28 Photographien der führenden Persönlichkeiten der Partei.
Verf. bittet selbst, seine Memoiren lediglich als Material für den rc a
Historiker der Geschichte der weißrussischen nationalen Wi urt zu
trachten, jedoch als Material, das von einem „zuverlässigen Zeugen“ t
worden ist.
Vi Vladimir Sa mojlo.
K. Nos ovsk a V. Pražák: Soupis československé literatury
za léta 1901—1925. Sei 1—4. — Prag, Svaz knihkupciv a
nakladatelü CSR 1929—30. |
Die Bibliographie der tschechoslowakischen Literatur ließ bisher noch viele
Wünsche unerfüllt, wenn auch zugegeben werden muß, daß sie manches hervor-
ragende Werk, wie etwa Zibrts „Bibliografie české historie“ aufzuweisen hat. Für
die Literatur des innenden 20. Jahrhunderts war man bisher im wesentlichen
auf Schmitts „Příruční seznam české literatury“, Prag 1016, angewiesen. Seit
das tschechische Volk seine Selbstständigkeit erlangt hat, ist auch auf diesem Ge-
biet eine gesteigerte Tätigkeit zu beobachten. So gibt es jetzt ein Verzeichnis
von Zeitschriften, die auf dem Gebiet der tschechoslowakischen Republik er-
scheinen, ergänzt noch durch den 1929 veröffentlichten „Soupis
periodik“, eine Bibliographie von ausländischen Zeitschriften, die sih in den
tschechoslowakischen Bibliotheken vorfinden. Auch ein Verzeichnis der tchechi-
schen Belletristik, soweit sie in der Prager Stadtbibliothek vorhanden ist, steht
uns seit 1929 zur Verfügung. Für die laufende EE des tschechischen
Schrifttums ist durch den seit 1922 erscheinenden „Bibliografický katalog“ gleich-
falls gesorgt. Zudem soll eine zusammenfassende Bibliographie der Literatur des
19. Jahrhunderts im Verlag des Ministeriums für Schulwesen und Volkskultur
veröffentlicht werden, wodurch eine mens für den vorliegenden „Soupis
československé literatury“, der sich auf erste Viertel des 20. Jahrhunderts
beschränkt, geschaffen würde. Die letztgenannte Bibliographie soll das im
gleichen Verlage erschienene Schmittsche Verzeichnis ersetzen, das abgesehen von
der zeitlichen Beschränkung nur tschechische, nicht slowakische Werke nennt und
auch tschechische Bücher nur dann anführt, wenn sie von Mitgliedern des Buch-
händlerverbandes herausgegeben wurden. Diesen Mängeln will das vorliegende
Verzeichnis abhelfen. Auf die slowakische Literatur, für die es eine wertvolle
Ergänzung von Rizners „Bibliografie slovenské literatury” bedeutet, soll, wie im
Vorwort hervorgehoben wird, diesmal ein besonderes Gewicht gelegt werden. Das
Werk gliedert sich in drei Teile (gegenwärtig ist der erste im Erscheinen be-
griffen), in welchen jeweils das gleiche Material 1. alphabetisch nach Verfessern
374
und Stichworten, 2. nach Schlagworten und 8. systematisch in 87 Abteilungen,
denen die Dezimalklassifizierung zugrunde gelegt ist, zu finden sein wird. Sehr
angenehm berührt es, daß neben selbständig erschienenen Werken auch die Samm-
lungen mit sämtlichen Einzeltiteln angeführt sind. Die Titel sind nach Möglich-
keit gekürzt, lassen aber trotzdem nichts, was irgendwie von Wichtigkeit ist, ver-
missen. Die Frage der Type ist meines Erachtens sehr glücklich gelöst. Es ist
vollkommen gelungen, bei äußerster Gedrängtheit Klarheit und Übersichtlichkeit
zu erreichen. Das Werk ist zweifellos eine wichtige Neuerscheinung auf dem Ge-
biete der tschechischen Bibliographie.
Leipzig. Heinrich Jilek.
Volf, Josef: Geschichte des Buchdrucks in Böhmen und Mähren
bis 1848. Mit 41 Abbildungen. — Weimar, Straubing & Müller,
1928. 262 S. 8°.
Das vorliegende Buch ist die deutsche Obersetzung des Werkes: Déjiny
českého knihtisku do roku 1848, das 1926 als Bd. 8 der Serie:
Knihy o knihách in Prag bei A. Novák erschien und eine erweiterte Neu-
auflage einer Arbeit darstellte, die 1925 anläßlich der Internationalen Ausstellung
der dekorativen Künste in Paris erschienen war. Die Übersetzung ist verschiedent-
lich eine Erweiterung und Neubearbeitung des Originals und — rgt von Fach-
leuten — gut lesbar. Seiner großen Bedeutung entsprechend hat das vorzügliche
Buch schon in zahlreichen Besprechungen Würdigung gefunden, und wir müssen
Verlag und Verfasser dankbar sein, daß sie dieses zusammenfassende Werk über
die Geschichte des Buchdrucks in Böhmen und Mähren dem deutschen Publikum
in einer Übersetzung zugänglich gemacht haben, die dem Neuling dieses bisher
shwer zuginglidie Gebiet erschließt und jedem Interessenten rasche Orientierung
ermöglicht.
Wie es sich bei dem durch seine zahlreichen Arbeiten über die böhmische
Druckgeschichte im Časopis Národního Musea, Cesky Časopis
Historicky, Bibliofil, in der Cesk 4 Revue und anderen Zeitschriften
längst als Kenner bekannten Verfasser von selbst versteht, ist das Buch aus den
EE gearbeitet. Eine Erweiterung des Nachworts der &echischen go ae gibt
als Vorwort der Übersetzung Auskunft über Entstehung, Ziel und Stellung des
Buches in der Fachliteratur. Es folgt darauf die Geschichte des Buchdrucks in
Böhmen und Mähren, gefaßt als Geschichte der Druckereien in geographischer
Gliederung und erläutert durch reichhaltiges und gutes Bildmaterial, wobei der
Verf. nach einem Kapitel über die Wiegendruke in Böhmen, gesondert die
Druckereien Prags, der böhmischen Provinzstädte und Mährens behandelt. Darauf
folgt ein Kapitel über die Schriftgießkunst in Böhmen seit dem 17. Jahrh. und,
wieder geographisch nach Böhmen, Mähren und Schlesien gegliedert, eine erläuternde
Übersicht er Fachliteratur, in der leider bei selbständigen Büchern Seitenzahl und
Verlagsangabe fehlen, und schließlich ein Namens- und Ortsverzeichnis.
Was die Fachkritik an sachlichen Versehen auszustellen hatte — es war
übrigens schr wenig: verschiedene Unstimmigkeiten in der Bestimmung alter Drucke
und Obergehung eines Druckers — darauf hat Tobolko im Casopis &sl. Knihovnikü
1927 und Crous im Zentralblatt für Bibliothekswesen Bd. 45 hingewiesen. Es wird
das Buch darüber hinaus kaum noch wesentlich zu ergänzen oder zu berichtigen
sein. Leider aber hat der Verf. sich aus Raummangel in der Darstellung schr ein-
schränken müssen, so daß sie oft in einer manchmal erwas schablonenhaften Be-
handlung der einzelnen Drucker verrinnt, ohne näher auf die wechselseitigen Ein-
flüsse etwa der Geistesgeschichte, der Politik und der Druckgeschichte aufeinander
einzugehen. Wer es etwa unternimmt, als Neuling auf dem Gebiet der Drucker-
eschichte das Buch zu seiner Orientierung hintereinander durchzulesen, der wird
im fünften oder sechsten Drucker das Gefühl haben, er hätte das alles schon in
den vorigen Seiten gelesen. Auch macht es sich ohne Zweifel sehr fühlbar, daß
die Behandlung der Geschichte des Druckverfahrens, der T orm usw. sehr
stark gegenüber der Auswertung archivalischen Materials über die Drucker zurück-
tritt, wie Tobolka schon gelegentlich der &echischen Ausgabe betont hat. Dafür
aber weist das Buch dem Leser bei richtiger Benutzung der bibliographischen Über-
875
sicht den Weg zur langsamen Erarbeitung des ganzen Stoffgebietes, so wie es durch
das umfangreiche Regıster und das darın verarbeitete vielseitige Material jedem
die Möglichkeit guter und rascher Orientierung bietet. So ist das Werk Volfs
trotz seiner sein wollenden Form eher ein fachwissenschaftliches Handbuch,
das fortan Grundlage für alle Studien auf dem Gebiete der Sechischen Druck-
geschichte bilden wird und in keiner größeren Bibliothek fehlen darf.
Breslau. E. Koschmieder.
Kukiel Marjan: an: historji wojskowości w Polsce. — Kra-
ków 1929. Krakowska Spółka Wydawnicza. (Grundriß der
Gester e Kriegsgeschichte.) III., vermehrte Ausgabe, S. VIII
un 00.
Die neue Ausgabe des kriegsgeschichtlichen Handbuches von Marjan Kukiel
wurde stark vermehrt und den breiteren Kreisen des lesenden Publikums zugänglich
gemacht, denn vorher war es nur für das Militär berechnet. Der Verfasser, der
ein geschulter Historiker, nämlich ein Schüler des Lemberger Professors Simon
Aszkenazy ist, und später als Offizier der polnischen Legionen und General in der
polnischen Armee tätig war, vereinigt in einer Person die für den Kriegshistoriker
nötigen Eigenschaften und konnte uns deshalb ein gutes Buch geben, das uns in
beiden Hinsichten betreffend Kriegswesen und historische Methode befriedigt.
Das Kriegswesen steht im Vordergrunde des Grundrisses. Die Kriegs-
geschichte ist nur beispielsweise angeführt, mehrere Skizzen und Karten ergänzen
und erläutern das eigentliche Material. Chronologisch wurde das Thema in vier
Epochen geteilt. Die erste Epoche der herzoglichen Garde („drużyna“) und des
Landsturms (, pospolite ruszenie“) reicht bis in das XVI. Jhdt. Die drei nächsten
Jahrhunderte sind durch die Formation der Soldtruppen charakterisiert; erst am
Anfang des XVIII. Den wurde eine ständige Armee gebildet. Der Aufstand
Kolciuszkos ist eine rgangsepoche zum letzten Evolutionsstadium, d. h. zur
Epoche des Nationalheeres, welche bis auf den heutigen Tag dauert. Diese Ein-
teilung hat freilich keinen festen Rahmen, so wie dies in einem lebendigen Or-
ganismus kaum möglich ist.
Das Buch ist stilistisch vortrefflich geschrieben und wird deshalb von allen
Historikern gerne gelesen und für sie von großem Interesse sein, denn der Autor
versteht es ausgezeichnet, die Aufmerksamkeit des Lesers an das besprochene
Thema zu fesseln.
Lemberg. K. Tyszkowski.
Dr. Charcwiczowa Luc ja: Dzieje miasta Zloczowa. (Ge-
schichte der Stadt Złoczów.) — Złoczów, Wydawnictwo Pow.
Towarzystwa Tur. Krajoznawczego 1929, 220 S. 8°.
Die Geschichte des Städte wesens in Polen, begründet durch Professor Ptaſnik,
erhält durch obiges Buch einen weiteren Ausbau, der um so wertvoller ist, als es
zich um die Geschichte einer privaten Stadt handelt, deren Erforschung, insbe-
sondere was den Osten betrifft, erst in letzter Zeit vor sich schreitet und bis
nun in der historischen Literatur kaum gestreift wurde.
oczów, schon am Anfang des XV. Jhdts. als Dorf bekannt, entwickelt sich
bald zur Stadt empor, im Jahre 1528 wiederholt mit deutschem Recht ausgestattet,
wird es Muster für die Anlage perce in ihrer Umgebung entstehenden Schwester-
gemeinden. Gegründet auf staatlichem Boden, gelangt Złoczów noch in der ersten
Hälfte des XV. Jhdts. im Versatzwege in Privathände, bis es im XIX. Jhdt.,
während der Auflösung der Großgrundherrschaft, aufgeht. Unter den zahlreichen
Besitzern, die alle zu den mächtigen Magnatenfamilien gehörten, haben sich die
Sobieskis die größten Verdienste um die Stadt erworben.
Wenn die natürliche Lage, am Handelswege nach dem Osten, einesteils sehr
günstig auf das wirtschaftliche Emporblühen, be ründet durch den Handel und
die Jahrmärkte, cinwirkte, so war diese Lage andernteils auch wieder die Ursache
seines Verfalls, den die Einfälle der östlichen Nachbarn im Laufe der Jahrhunderte
heraufbeschworen haben. Die Sicherung seiner Befestigungen ise ständige Sorge
376
der Stadtverwaltung und der Besitzer. Während dieser zahlreichen Überfälle der
Tataren, Kosaken und Türken, erwarb sich Zloczéw mit Recht den Namen eines
Bollwerkes und wichtigen Vorpostens im Osten. Und darin.liegt neben der wirt-
schaftlichen seine Bedeutung.
Mit meisterhaften Zügen zeichnet uns die Verf. das bunte Bild des iancren
Stadtlebens, in welchem der Einschlag des Ostens, die Tataren- und Armenier-
gemeinde, nicht ohne Einfluß verblieben ist.
Die Geschichte einer Stadt niederzuschreiben auf Grund so fragmentarisch er-
haltenen Quellenmaterials, über das die Verf. nur verfügen konnte, ist ein Meiscer-
werk: so muß die Geschichte der Stadt Złoczów, von diesem Punkte aus be-
trachtet, angesehen werden.
Die Illustrationen und vor allem der außerordentlich reihe Anhang mit
seinen 88 in extenso wiedergegebenen Urkunden und Dokumenten vergrößert den
Vert des Buches und bietet jedem Städteforscher manch kostbares Quellen-
material.
Lemberg. A. Vagner.
Dr. Charewiczowa Lucja: Lwowskie organizacje zawodowe
za czasów Polski Przedrozbiorowej, z 17 rycinami. (Lemberger
Berufsinnungen bis zur Teilung Polens mit 17 Abbildungen.) —
Lwów, Wydawnictwo Zakładu Narodowego im. Ossolińskich,
1929, 194 S. 8°.
Die Verf., Frau Dr. Charewiczowa, eine der wenigen Fachgelehrten auf dem
Gebiete der Erforschung des Stidcewesens in Polen, liefert uns durch obiges Buch
eine sehr wertvolle Arbeit aus der Vergangenheit Lembergs, dessen Lebensbild vom
3 der alltäglichen Handwerkerarbeitsgemeinschaft aus betrachtet wird.
Seine Zunftinnungen hat Lem nach dem Krakauer Muster eingerichtet,
kleineren Einfluß hatten Posen und Thorn, selbst wird es in kurzer Zeit Vorbild
für alle Städte im Osten, erhält die Bezeichnung seminarium mechani-
corum. Die äußere Form der Lemberger Zünfte, deren Ordnungen, Arbeits-
methode, Gerichtsbarkeit und dergl. werden von anderen Städten übernommen;
Lemberger Werkstätten liefern die tüchtigsten Meister und Gesellen, more
civitatis Leopoliens is organisieren sich die Arbeiterschaften der öst-
lichen Gebiete. Den Höhepunkt erreichen in ihrer Entwicklung, Macht und Be-
deutung die Innungen zu Lemberg im XVI. und XVII. Jahrh., 30 verschiedene
Zünfte umfassen über 50 Berufsarten, zählen wir noch die starke Einwanderung
vom Westen hinzu, die zumeist Handwerker ausmachten, so darf es uns nicht
wundern, wenn im Jahre 1679 nur ein Teil der mit dem Stadtrat im Kampf
stehenden Innungen auf Tausende geschätzt wird, also eine Macht, mit der die
Stadtbehörden rechnen mußten. Der Kampf mit den Adeligen, die stufenweise Ein-
sickerung des Bürgertums in das Adelsgeschlecht, endlich die politischen und
kriegerischen Auswirkungen der Epoche von den Kosaken angefangen bis zu den
Schwedenkriegen am Anfang des XVIII. Jahrh. mußten Handel und Gewerbe zu-
grunde richten, das Leben in den Zünften stirbt ab, sie sehen ihrem Untergang
entgegen, zumal die Auswanderungen infolge von immer größer werdender
Arbeitslosigkeit mit jedem Jahr zunahm. Mit Recht kann Frau Dr. Charewiczs
Buch als ein weiterer Eckstein im Aufbau der ponian Wirtschaftsgeschichte be-
trachtet werden und verdient als Untersuchung über die Erforschung der so
reichen Vergangenheit Lembergs vollste Anerkennung.
Lemberg. A. Wagner.
Einige Bemerkungen über das sog. Gebetbuch des Ladislaus
Warneficzyk.
[Modlitewnik Wiadyslawa Warneńczyka w zbiorach biblioteki Bodle
janskiej z uwzględnieniem zapisek Jösefa Korzeniowskiego
opracowali Ludwik Bernacki, Ryszard Ganszyniec, Wladyslaw
Podlacha. Kolo Zwigzku Bibliotekarzy Polskich we Lwowie
877
Druk L. Anczyca i Spółki w Krakowie MCXXVIII. — 8°,
p. 141 + 3 + 76 + 2 tab. + XIV + 2]
Die Teilnehmer des I. penaa Bibliothekaren-Kongresses in Lemberg und
zugleich des III. Bibliophilen - Kongresses haben vom Lemberger polnischen
Bibliothekarenkreise im Geschenk die Edition eines Gebetbuches, der dem Könige
von Polen und Ungarn, Wladyslaw Warnehczyk (ft eg Zeie eschrieben wird, und
eben der Bodleyana in Oxford gehört. Die Edition ebe aus einem palio-
graphisch treuen, mit 5 Erhaltung der Graphik, Abdruck des Textes auf
Grund des Originals (durchgeführt musterzültig von Prof. R. Ganszyniec), aus
mehreren Tafeln, die (in schwarzer Manier) Miniaturen und Initialen wiedergeben
und einer 141 Seiten starken Einleitung, wo die paläographische, literarische und
kunsthistorische, sowohl auch kulturelle Seite eingehend besprochen wird. Das
Wichtigste ist, was darüber Prof. R. Ganszyniec und Prof. W. Podlacha sprechen.
Vom ersteren ist die genau Textanalyse, vom anderen die kunsthistorische verfaßt.
Die Ergebnisse aber der beiden Forscher, was die Chronologie des Werkes anbe-
langt, sind nicht einheitlich. Bisher herrschte die Meinung, daß der Besitzer des
Gebetbuches, beziehungsweise auch Verfasser (in bezug an persönliche Initiative)
der oben genannte König Wladyslaw Warnehczyk war. Diese Meinung war vom
J. Korzeniowski vertreten. Die eingehende Analyse hat aber den neuen Forschern
andere Möglichkeiten geboten. Die höchst interessanten Angaben des Prof.
R. Ganszyniec stellen fest, daß dieses Gebetbuch paläographisch auf die Zeit zirka
1400 hinweist, ferner, daß der Schreiber (Ropar?) die deutsche Graphik angewandt
hatte, schließlih, daß literarische Quellen einzelner Gebete ihren französisch-
benediktinischen Ursprung nicht verschleiern -können. Da die Persönlichkeit den
Namen Ladislaus trägt und die Miniaturen auf ein Mitglied der Piasten-Dynastie
hinweisen, meint Prof. Ganszyniec, daß dieser rätselhafte Ladislaus — Ladislaus
von Oppeln sei. Das interessanteste aber ist, was über die Krystalomantie des
Geberbuches geschrieben wird, worüber Prof. Ganszyniec breite, vergleichende
Basis genommen hat. Die kunsthistorische Anal des Werkes (von Prof.
W. Podlacha) steht zu diesen Ergebnissen im Widerspruch. Die genaue Über-
prüfung der Miniaturen, Initialen und graphischer Ornamentik führt den Forscher
ın die Zeit zirka J. 1500, also es gibt einen Unterschied von zirka einem Jahr-
hundert. Darum neigt er sich zur Annahme, daß der rätselhafte Ladislaus —
Ladislaus König von Ungarn und Böhmen, der bekannte „Rex bene“ ( 1516) sei.
Anders gesagt stehen wir wieder vor einer Rätselserie, desto wichtiger, da das an-
ne Ladislaus Warnehczyksche Gebetbuch eine wichtige kulturgeschichtliche
rage bietet: es handelt sich um weiße Magie im mittelalterlichen Polen. Nun-
mehr ist eine wissenschaftliche Diskussion geöffnet, die dieses Rätsel, welches die
bodleyanische Handschrift umsponnen hat, entziffern soll.
Den oben kürzlich skizzierten Behauptungen habe ich ın eınem Aufsatz
u. d. T.: Bemerkungen über das so genannte Gebetbuch des Ladislaus Warnehczyk
meine Meinung in Form einer Hypothese dargestellt. Ich habe diesen Aufsatz auf
der philolo chen Klasse der Lemberger wissenschaftlichen Gesellschaft am 25. Juni
1928 vorgelegt und die von mir dargelegten Behauptungen haben in der Diskussion
Beifall gefunden. i)
Mein Standpunkt hat ihre Stütze in der Provenienz. Ich meine auf Grund
der äußeren Kriterien, daß die Handschrift bis zum Jahre 1680 den ursprünglichen
Besitzer (Bibliothek) nicht gewechselt hat und seit dem jahre 1690 streng mit
Besancon verbunden ist. Es ist leicht daraus zu schließen, daß auch vor dem Jahre
1680 dies Gebetbuch auf irgendwelche territoriale Bündnisse mit Burgund hinweist.
Die analytische Seite der jetzigen Forschungen (von Prof. R. Ganszyniec) stellt fest,
daß trotz Benützung der deutschen Graphik durch den Schreiber, literarisch
das Gebetbuch französisch-benediktinischen Ursprungs ist, was mit burgundischer
Provenienz in keinem Widerspruche steht, da Burgundien ein Kreuzweg fiir
deutsche und französische Einflüsse tatsächlich bietet. Ich nehme 2 dad der
rätselhafte Ladislaus, dessen Namen wir im Gebetbuche finden, ein literarischer
1) Cfr. Sochaniewicz K., Uwagi o t. zw. Modlitewniku Wladyslawa War-
nehczyka. Sprawozd. Tow. nauk. VIII p. 67.
878
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Redakteur des Werkes sei, welches also rein individuell zu betrachten ist. Die
Charakteristik der Persönlichkeit des Redakteurs finde ich in der „Beichte“, welche
von einem Fürsten — aber keineswegs von cinem König — spricht, der zugleich ein
hoher Geistlicher ist. Da die Charakterzüge keineswegs den bisher herangezogenen
Persönlichkeiten entsprechen, muß man unter den Piasten (der in Miniaturen vor-
handene polnische Adler darauf weist) eine Persönlichkeit herausfinden, der diesen
sämtlichen Bedingungen entspricht: diese kann nur der Fürst von Gniew Ladislaus
der Weiße sein. (Ende des 14. Jahrh.) Er war nicht nur ein Fürst, sondern auch
Abt und sein abenteuerliches Leben war mit den burgundischen Benediktinern
innigst verbunden. Diese Ergebnisse stimmen auch mit den Ergebnissen der
paläographischen Analyse des Prof. R. Ganszyniec, stehen aber trotzdem im Wider-
See mit den der kunsthistorischen des Prof. W. Podlacha. K, Sochaniewicz.
Prof. Dr. Benedykt Dybowsky: Pamietnik. (Tagebuch vom J. 1862
bis 1878.) — Verlag des Ossolinski'schen Nationalinstitutes,
Lwöw, 1930, S. XVI + 627.
Dieses Werk bildet in der memoaristischen Literatur Polens eine Ausnahme,
denn es ist von einem großen Patrioten geschrieben, der zugleich einer der hervor-
ragendsten Zoologen ist. Der Autor beschreibt einerseits viele Begebenheiten an-
ap? der Vorbereitungen zum Aufstande des Jahres 1868, charakterisiert die teil-
nehmenden wichtigeren Gestalten, stellt ihre ganze Martyrologie im Gefängnis,
und in der Verbannung in Sibirien dar, andererseits schildert er mit der
exakten Genauigkeit eines Forschers seine Beobachtungen über die Menschen
und die Fauna der mannigfaltigen Gegenden Sibiriens, welche er während seines
vieljährigen Wanderlebens geschen und erforscht hatte.
Durch die Gewalt der politischen Ereignisse aus dem Arbeitszimmer des
Professors der Warschauer Hochschule herausgerissen, führt der Autor den Leser
durch das Gefängnis des Pawiak und des X. Pavillons und während einer oft unter
den schrecklichsten Bedingungen geführten, fast ein Jahr langer Reise zuerst nach
Siwakowa bei Cyta an der Ingoda, dann nach Darasunia an der Tura, weiter nach
Kultuk am Baikalsee, zu verschiedenen Gegenden an den Flüssen Sielenga und
Burguzin, Amur, Argunia und Ussuri, bis nach Vladivostok und zu den Inseln
Sachalin und Askolda.
Die nationale Tragödie wie auch schwere persönliche Erlebnisse im Ge-
fängnis und in der Verbannung veranlaßten den Autor zur Hilfeleistung an
Mitverbannte wie auch zum wissenschaftlichen Studium während seines vieljährigen
Verweilens im Exil. Er tritt überall nicht nur seinen Mitgefangenen sondern au
der einheimischen Bevölkerung mit ärztlichem Beistand zur Seite und macht zu-
5 3 Forschungen, in welchen ihm seine Leidensgenossen behilf-
ich sind.
Seine humanitäre ärztliche Tätigkeit ermöglicht ihm die Ausführung der
vorgenommenen wissenschaftlichen Aufgaben, und es gelingt ıhm trotz ausnahms-
weiser Schwierigkeiten, trotz des Mangels an Geldmitteln, sowie an entsprechenden
Einrichtungen, oft auch trotz des Widerwillens der Landesbehörden, in den bis-
herigen Meinungen der wissenschaftlihen Welt über die Fauna Ostsibiriens eine
formelle Umwälzung durchzuführen.
Beeinflußt durch seine Beobachtungen und wissenschaftlichen Sammlungen,
die er teils persönlich bearbeitet, teils zur Bearbeitung an polnische und aus-
landische Spezialisten versendet, faßt die vorher in der Wissenschaft verneinte
Anschauung über die Verschiedenheit der Zoologie Sibiriens, festen Fuß. Die
besonderen Verdienste des Autors in dieser Richtung betreffen seine Forschungen
über die Fauna des Baikalsees, eines der interessantesten der Welt, dessen Namen
in der Wissenschaft mit dem des Prof. Dybowski als Entdecker auf ewige Zeiten
verflochten ist.
Trotzdem die im Tagebuche geschilderten Zeiten und Begebenheiten von
den jetzigen durch fast sieben Jahrzehnte getrennt sind, bestimmen nichtsdesto-
weniger die Vielseitigkeit und Exaktheit der Beobachtungen, sowohl aus dem
wissenschaftlichen, als auch aus dem sozialen Gebiete, durch eine besonders leb-
hafte und zugängliche Form dem Leser dargeboten, den unvergänglichen Wert
dieses Werkes. K. Tyszkowski.
Lemberg.
25 NF 6 879
Dr. Konarski Kazimierz: Nowożytna Archiwistyka Polska i jej
zadania. (Die moderne polnische Archivistik und ihre Aufgaben.)
Warschau 1929. Im Verlage der Staatsarchive. VII und 160 S.
Die moderne polnische Archivistik hat mit vielen und großen
Schwierigkeiten zu kämpfen. Obwohl in Polen die einheitliche
Leitung der Staatsarchive schon seit 1919 besteht, ist die innere Ein-
richtung der einzelnen Archive, deren wichtigste mit ihren Anfängen
noch in die Zeit der Fremdenherrschaft hineinreichen, nicht überall
gleichförmig. Infolgedessen war es schwer, die einheitlichen, für alle
Archive gültigen Grundsätze der archivalischen Praxis festzustellen
und eine den polnischen Verhältnissen entsprechende, archivalische
Terminologie auszuarbeiten. Trotzdem aber war in Polen das
Interesse für das Archivwesen immer mehr und mehr rege. Besten
Beweis dafür liefert der vierte Historikertag in Posen im Jahre 1925,
wo eine spezielle archivalische Sektion mit bedeutender Zahl der
Referate gebildet wurde. Um allen diesen Mißständen auf dem Ge-
biete der polnischen Archivistik abzuhelfen, wurde noch 1919 eine
archivalische Sektion im Rahmen des Warschauer historischen Vereines
ins Leben gerufen, welche seit 1926 unter der Leitung des General-
direktors der polnischen Staatsarchive, Prof. St. Ptaszycki, eine rege
Tätigkeit zu entwickeln begann. Im nächstfolgenden Jahre wurde
endlih von dem Letztgenannten die archivalische Fachzeitschrift
„Archeion“ gegründet, in welcher verschiedene Aufsätze und Ab-
handlungen über archivalische Theorie und Methodik veröffentlicht
werden. All das entsprach zwar den aktuellen Bedürfnissen aber nur
teilweise, denn das Verlangen, eine systematische Darstellung der
polnischen Archivistik zu haben, bestand noch immer. Darum soll
man mit größter Freude das Erscheinen des oben genannten Werkes
begrüßen, um so mehr, daß dessen Verfasser, Direktor des Archivs
der alten Akten in Warschau, sowohl auf dem Gebiete der archivali-
schen Theorie sich schon bekannt gemacht hatte, wie auch in dein
ihm unterstellten Archiv, in welchem die Akten der polnischen und
russischen Behörden in Kongreßpolen aufbewahrt werden, eine um-
fängliche Praxis zu erwerben imstande war.
Die Arbeit ist als Nr. X. der Publikationen der Verwaltung der
Staatsarchive erschienen und eröffnet eine neue Serie derselben,
nämlich „Die Bibliothek der Zeitschrift „Archeion“. Sie bietet ein
System der polnischen Archivistik, aber nicht im ganzen Umfange
und Inhalte derselben; sie ist nämlich, wie der Titel selbst und dann
die Vorrede S. II ankündigt, zeitlich und räumlich sehr begrenzt.
Verf. erörtert fast ausschließlich Probleme, welche die aus dem
XIX. Jahrh. stammenden und in den Staatsarchiven auf dem Gebiete
des ehemaligen Kongreßpolens, hauptsächlich aber im Archiv der alten
Akten in Warschau aufbewahrten Archivalien betreffen. Diesen
380
Moment muß man beim Lesen des genannten Werkes im Auge be-
halten. Aus dieser Begrenzung des Themas ergibt es sich, daß die
vom Verfasser aufgestellten Grundsätze und terminologische Be-
nennungen nicht immer auf die Bestände und Praxis anderer Staats-
archive Anwendung finden können.
Der Stoff der Arbeit ist in sieben Kapitel eingeteilt. Zuerst gibt
Verfasser die Definition des Begriffes „Archiv“ und im Anschluß
daran spricht er über die Aufgaben und Zweck der Archive, sowie
über die Einteilung derselben. Mit Rücksicht auf das Eigentumsrecht
unterscheidet er Staats- und nichtstaatliche Archive, mit Rücksicht
dagegen auf den inneren Zusammenhang der Bestandteile der ein-
zelnen Archive teilt er sie in Fonds (zespół) und archivalische Samm-
lungen (Kollektion, zasób) ein. In den zwei nächstfolgenden Kapiteln
wird dann der archivalische Fonds als Produkt der Virksamkeit einer
Behörde (II.) und als Objekt der Archivalpraxis (III.) eingehend be-
sprochen. Knapp daran schließt sich ein Kapitel über Klassifikation
und Ordnen der Akten (IV.). Darauf folgen Ausführungen über
Inventare und Repertorien (Indices), wobei Verfasser das Problem
der Herstellung und verschiedene Kategorien derselben erörtert
(V. VI.). Das letzte Kapitel ist endlich der Konservierung der Archi-
valien gewidmet (VII.). Im Anhang finden wir drei aus der Praxis
des Archivs der alten Akten in Warschau geschöpften Beispiele, der
Rekonstruktion eines zerstreuten Fonds, dann der Konstruktion einer
künstlichen archivalischen Kollektion und schließlich der Ergänzung
eines Fonds. Ein kleines Wörterbuch der archivalischen Fachaus-
drücke, worauf ein Namens- und Sachverzeichnis folgt, bildet den
Schluß der ganzen Arbeit.
Die Ausführungen des Verfassers sind im dogmatischen Tone
gehalten; er führt ganz neue Fachausdrücke ein, stellt neue Grund-
sätze und Regeln auf. Dabei ist aber Verfasser völlig bewußt, daß
er auf einem ganz neuen Gebiete arbeitet, das vielleicht nicht alle
Ergebnisse seiner Arbeit überall Beifall finden werden. Darum nennt
er sein Werk nur einen Versuch, dessen Wert sich erst im Feuer der
Kritik bewähren wird (S. I). Diese Stellungnahme des Autors ist ganz
richtig. Sein Buch enthält, wie schon oben angezeigt worden ist, nicht
ein allgemeines, sondern ein partielles System der polnischen Archi-
vistik, welches nur eine begrenzte Zahl polnischer Archiyalbestände
und Archive berücksichtigt. Darum müssen die Ergebnisse der vor-
liegenden Arbeit zuerst vom Standpunkte der Bedürfnisse anderer
Archive ergänzt werden und erst dann wird es möglich sein, an den
Bau des allgemeinen Systems der polnischen Archivistik heranzu-
treten.
St. Zajaczkowski.
381
Gebarowicz Mieczystaw: Katalog rekopiséw Bibljoteki im.
Gwalberta Pawlikowskiego. (Handschriftenkatalog der Pawlı-
kowskischen Bibliothek in Lemberg.) — Lwów, Ossolineum,
> 159. S.A. aus „Rocznik Zakładu Nar. im. Ossolińskich“,
III.
Die Pawlikowski’sche Bibliothek entstand im Zeitalter der Generation der
großen Sammler in der ersten Hälfte des XIX. Jahrh. Gwalbert Pawlikowski,
der Freund und Testamentsvollstrecker des J. M. Ossoliński hat während seines
ganzen Lebens mit großer Mühe, unzähligen Kosten, aber auch mit Fachkennmis
gesammelt und eine schöne Bibliothek, sowie ein Münz- und Kupferstichkabinett
geschaffen. Die Sammlungstitigkeit des Pawlikowski begann in Wien, wo er seine
jugendlichen Jahre als Österreichisch er Beamter verbrachte. Im Jahre 1830 wurden
die Sammlungen auf sein Landgut in Medyka (unweit Przemyśl), welches er nach
dem Tode seines Vaters geerbt hatte, gebracht. Im Sturmjahre 1848 wurden die
Sammlungen nach Lemberg überführt und veröffentlicht. Nach dem Weltkri
wurde die Bibliothek dem Ossoliäskischen Nationalinstitute als selbständige
teilung einverleibt. Der heutige Zustand der Kollektion weist 22 382 Druckwerke,
290 Handschriften, 4270 Autographen, 24 827 Kupferstiche und Zeichnungen (be-
en EEN Sammlung), 678 Karten, 8688 Münz- und Medaillensamm-
ung auf.
Die Geschichte der Bibliothek ist innig mit der der Familie Pawlikowski,
welche in allen Generationen literarische und wissenschaftliche Neigungen und
Fähigkeiten aufweist, gebunden. Der jetzt lebende Eigentümer ist der hochge-
schätzte Slowacki-Forscher, Jan Gwalbert Pawlikowski. Freunde und Mitarbeiter,
unter ihnen die Historiker Przylecki, Zegota Pauli, H. Schmitt und Kubala müssen
hier auch erwähnt werden, somit ist es nicht wunderlich, daß eine, berühmte in
Polonicis, Sammlung entstanden ist.
Den wichtigsten Teil der Kollektion bilden alte Drucke und Kupferstiche,
doch können auch in der Handschriftenabteilung, von welcher Dr. Gebarowicz
einen wissenschaftlichen Katalog bearbeitet hat, mehrere wertvolle, sogar erst-
klassige Objekte aufgezählt werden. Der Inhalt derselben sieht wie in jeder privaten
Sammlung sehr bunt aus. Von dem XIV. Jndt. bis in das XIX. Jhdt. sind Theo-
logie, Geschichte, Literatur, Recht, Philosophie (Rhetorik) hier nebeneinander zu
treffen. Wir können hier natürlich nicht alles erwähnen, doch wire es nicht ohne
Nutzen, einige Handschriften aufzuzählen, welche für den Leser der „Jahrbücher“
von Wert sein können.
In erster Linie stehen „Polonica“, welchen der Gründer dem Patriotismus
der romantischen Epoche gemäß, größeres Interesse zuwandte. Hier gehören vor
allem die Rechnungsbücher des königlichen Hofes ın Krakau vom XIV. Jhdt. (publ.
v. Piekosinski in Mon. medii aevi Hist. Bd. XV). Dem Kreise der Krakauer
Universität gehören wahrscheinlich die latein. Rechtsbücher des XV. Ihdts.
(Nr. 193) an. Wichtiges Material für die Kultur der polnischen Renaissance bilden
die Hofrechnungen des letzten Jagellonen (Nr. 192, 194). Es folgt für die Zeiten
Sigismund III. „Liber cancellariae“ des Groß kanzlers Jakob Zadzik (Nr. 201, 208).
Die Regierung Sobieskis und August II. repräsentiert eine Korrespondenzsammlung
des Kardinals Radziejowski und Stanislaus Rzewuski (Nr. 210). Im allgemeinen
bieten die Handschriften für die II. Hälfte des XVIII. Jhdts. mehrere wichtige
Quellen, in erster Linie für die Konföderation von Bar (Nr. 94, 224, 6, 9, 287),
darunter die französischen Memoiren Murrays.
Besondere Wichtigkeit besitzen Teatralia, speziell jesuitische Aufführungen,
die von Dr. Bernacki bearbeitet wurden. Zum luß nennen wir noch den im
Album Tödwens eingetragenen Autograph der „Reduta Ordona“ von Mickiewicz.
Mit der polnischen Gruppe inhaltlich verbunden, aber der Provenienz nach
unbekannt, sind mehrere Dantiscana mit dem Tagebuche Chodowieckis an der
Spitze (Nr. 31 „Journal einer von Berlin nach Dresden stattgefundenen Lustreise,
Leipzig, Halle, Dessau usw. A. 1789“ Autograph). Prof. Zeißberg und nach ihm
Perlbah und Kętrzyński haben aus der Pawlikowskischen Handschrift Nr. 128
„Cronica de Prussia“ und „Fontes Olivenses“ publiziert. Dann wären auch die
382
kirchenslavischen Handschriften zu notieren, darunter ein rhetorisches, lateinisches
Handbuch für die schismatische Akademie zu Kiew, mit vielen Beispielen in pol-
nischer und lateinischer Sprache. So können wir im allgemeinen die lung der
290 Handschriften charakterisieren, ohne natürlich genau über das Bunte berichten
zu vermögen.
Die Beschreibungsmethode ist sehr genau und mit reichvollem Apparat von
bibliographischen und meritorischen Angaben und Informationen versehen. Dabei
folgt ein gutes Sach- und Personenregister von M. Chmielowska.
Lemberg. K. Tyszkowski.
„Rzeczpospolita Polska, Atlas Statystyczny“, herausgegeben vom
Statistischen Hauptamt der Republik Polen. Warszawa 1930
(polnisch und französisch; Folioform., 42 Tafeln, 8 Seiten Text).
Der Atlas stellt eine offizielle Publikation des statistischen Hauptamts in
Warschau dar. Unter Zugrundelegung der durch die bisher einzige polnische
Volkszählung vom 80. 9. 1921 gewonnenen Ergebnisse, werden die verschiedensten
Fragen der Bevölkerungsbewegung, der nationalen Zusammensetzung und der
wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse Polens auf insgesamt 42 Tafeln be-
handelt. Die technische Ausführung der zahlreichen Karten, Kartogramme, Dia-
gramme und Kurven ist gut. Zwei Karten (Administrative Einteilung und
Nationalitätendarstellung) sind im Maßstab 1: 2 000 000, die anderen Karten und
Kärtchen, die nur Übersichten geben sollen, sind in den Maßstäben 1 : 4 000 000,
1: 500 000, 1: 10 000 000 und 1 :15 000 000 gezeichnet.
Der Vergleich der einzelnen kartographischen und statistischen Darstellungen
zeigt deutlich, wie stark sich die einzelnen Teilgebiete Polens voneinander unter-
scheiden. Besonders markant heben sich die ehemals preußischen Gebiete aus dem
Rahmen der neupolnischen Länder in wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht
heraus; zum Beleg sei 2. B. verwiesen auf die kartographischen Darstellungen über
den Gebäudebauzustand, die Zimmerzahl der Häuser und die Zimmerwohndichte
(Tafel 4 und 5), die Bodennutzung und Größe der Virtschaften (Tafel 18), den
Anbau von Feldfriichten (besonders den Zuckerrübenbau) (Tafel 18), die Ernte-
erträge pro ha (Tafel 19), die Schweinezucht (Tafel 21), das Eisenbahnwesen
(T afel 200 „die finanziellen Einnahmen und Ausgaben (Tafel 87 und 38), die
Intensität des Schulbesuches und die Zahl der Schulkinder pro 1000 Einwohner
(Tafel 40), das Analphabetentum (Tafel 41) und das Gesundheitswesen (Tafel 42).
Den deutschen Betrachter interessiert aus der Reihe der kartographischen
Darstellungen die Bevölkerungsdichtekarte und die Nationalitätenkarte von Neu-
Polen in besonderem Maße. Auf sie sei daher im folgenden näher eingegangen.
Die Karte der Bevölkerungsdichte von Polen.
Diese, im Maßstab 1: 5 000 000 gezeichnete Karte stellt die Bevölkerungs-
dichte kreisweise dar. Die Dichtewerte der einzelnen Kreise wurden nach sieben
Gruppen (bis 25, 25—50, 50—75, 75—100, 100—125, 125—150, über 150) ge-
geordnet. Die Karte zeigt deutlich, wie sich im Südwesten des Landes die Be-
völkerungsdichte gegen die hochindustriealisierten Gebietsteile von Poln. Ober-
schlesien, Dąbrowa und Krakau hin verstärkt, wie dicht besiedelt (z. T. über
100 Einwohner pro qkm) aber auch die fruchtbaren, lößbedeckten Landstriche der
subkarpatishen Senke und der Pododischen Platte im Süden Polens sind und wie
sich die industriereichen Wojewodschaften Lodz, Kielce und Teile der Wojewod-
schaften Warschau und Posen mit ihren teilweise fruchtbaren Diluvialplatten durch
eine recht hohe Bevölkerungsdichte auszeichnen. In allen diesen Gebieten ist die
Dichte durchweg größer als die durchschnittliche Dichte Gesamtpolens von 70 Ein-
wohnern pro qkm.
Jenseits der Weichsel-Wieprz-Linie sinken die Bevölkerungsdichteziffern teil-
weise weit unter diesen Landesdurchschnittswert, in dem wald- und sumpfreichen
Polesie sogar unter 25 Einwohner pro qkm.
Daß sich in der Karte die Kreise Warszawa, Lwów, Bialystock, Wilno, Lublin,
Thorn, Bromberg, Posen und Hohensalza als sehr dicht besiedelte Gebiete heraus-
heben, obwohl sie in Wirklichkeit nur mittelstark oder schwach bevölkert sind
383
behan i
ider nicht ausgeschieden, sondern mit auf die entsprechenden Landkreise ver-
rechnet hat. Dadurch kamen auf der Karte in den genannten Gegenden Polens
Bevölke ichteverhältnisse zustande, die ein mißverständliches Bild der Be-
völkerungsdichte des flachen Landes ergeben. Die Karte hätte eine bevölkerungs-
geographisch brauchbare Darstellung ergeben, wenn — wie sonst üblich — die
Bevölkerung aller größeren Städte bei der Darstellung der Bevölkerungsdichte
in den einzelnen Kreisen in Abzug gebracht und die Städte besonders signiert
worden wären. In jedem Falle aber dürften Stadtkreise und Landkreise auf einer
modernen Bevölkerungsdichtekarte nicht zusammengezogen werden.
Wünschenswert wäre es gewesen, die Karte in größerem Maßstab zu zeichnen
und — der besseren Orientierung wegen — das Flußnetz einzutragen. Auch sei
erwähnt, daß der Kreis Włoszczowa hinsichtlich seiner Bevölkerungsdichte in die
Gruppe „75-100 eingeordnet worden ist, obwohl sich — nach „Roczn. Stat.“
Bd. 1928, S. 7 — nur 648 Einwohner pro qkm errechnen lassen. Allerdings gibt
der genannte Band des „Roczn. Stat.“ die Bevölkerungsdichte dieses Kreises (wohl
auf Grund eines Rechenfehlers) irrtümlich mit 79,2 an.
Die Karte der Nationalitäten in Polen.
(Narodowości w Polsce.)
Die im Maßstab 1 : 2000000 gezeichnete Karte soll ein Bild von der natio-
nalen Struktur der Bevölkerung Polens geben und zwar auf Grund der Ergebnisse
der polnischen Nationalitätenzählung vom 80. 9. 21., 1) (veröffentlicht im „Roczn.
Stat.“, Bd. 1924, S. 12 ff.). Für den damals von dieser Zählung nicht erfaßten
Teil der Wojewodschaft Wilna wurden die Ergebnisse der Zählung von 1919
verwandt; in dem polnisch gewordenen Teil Oberschlesiens kamen nicht die offi-
ziellen Zahlen der Fählun von 1910, auch nicht die Abstimmungsergebnisse von
1921 zur Darstellung, sondern die in mancherlei Hinsicht anfechtbaren Schätzungen
von Z. Stolihski („Liczba Niemców w Polsce“, in „Sprawy Narodowosciowe“,
Warszawa 1927 — Die Deutschen in Polen —), welche seinerzeit schon durch
Heidelck (in „Deutsche Blätter in Polen“, Februar 1929, Heft 2) einer eingehenden
Kritik unterzogen worden sind.
Die Karte ist in der Methode der Punktmanier ausgeführt worden; je
5000 Personen einer Nationalität wurden durch einen Punkt von 1 mm Durch-
messer, in Städten mit über 50000 Einwohnern je 10000 Personen durch ein
Quadrat von 1 mm Seitenlänge symbolisiert.
Im allgemeinen hat eine nach der Punktmanier gezeichnete Karte, gegen-
über einer relativ darstellenden, den großen Vorzug, daß sie die in einem Ge-
biet lebenden Menschen nach ihrer Zahl und Verbreitung wirklichkeitsgetreu
zu lokalisieren vermag, vorausgesetzt freilich, daß die durch je ein Symbol dar-
gestellte Einheit nicht zu Zusammenfassungen zwingt, die die wirkliche Verteilung
der Bevölkerung nicht mehr erkennen lassen. Im Idealfall also kann eine solche
Karte zur Siedlungskarte werden. Aber kartographische Arbeiten auf diesem Ge-
biete in Deutschland und Schweden haben gezeigt, daß eine solche Karte nur dann
Sen richtig sein kann, wenn ihr ein möglichst großer Maßstab zugrunde
elegt wird, der es erlaubt, auch die kleinsten Siedlungen im Kartenbilde wirklich
Protein zu lassen.
Da der Bearbeiter der hier besprochenen Karte einerseits einen für die Dar-
stellung in Punktmanier viel zu kleinen Maßstab (1: 2 000 000) und andererseits
eine für die Erfassung der wirklichen Verhältnisse zu große Einheit (5000 Ein-
wohner) gewählt hat, so kann es nicht wunder nehmen, wenn diese Karte kein
allseitig befriedigendes Bild der Nationalitätenverteilung und Siedlungsdichte Polens
zu geben vermag. So sind 2. B. in obiger Karte die 91 größtenteils rein deutschen
Kolonien des Cholmer Landes (K. Lück, „Die Deutschen im Cholmerlande“, in
„Nation und Staat“, März 1980, Heft 6, S. 878) nur mit einem einzigen Punkt
1) Vgl. Anmerkung zu Tafel 6, S. XIII des Atlaswerkes.
384
vermerkt worden, wobei noch darauf hingewiesen werden muß, daß dieser Punkt
auch der einzige in der ganzen Wojewodschaft Lublin ist, in der nach Ausweis
der polnischen Nationalitätenzählung rund 12 000, nach Schätzungen von Z. Sto-
linski („Die Deutschen in Polen“) 18 056 und nach Berechnungen von K. Lück
(siehe die genannte Arbeit) allein im Cholmgebiet 16000 Deutsche vorhanden sind.
Trotzdem muß bei einer objektiven Beurteilung obiger Karte hervorgehoben
werden, daß es dem Bearbeiter im wesentlichen gelungen ist, die Eigenart der
Lage und Verteilung der Siedlungen, vor allem in dem schwach bevölkerten Osten
Polens richtig zum Ausdruck zu bringen. Seine Karte zeigt — was einer solchen
in Flächenmanier kleinen Maßstabes, wie es die in Tafel 2 des Atlaswerkes ist,
nicht vermag —, wie sehr die Lage der Siedlungen von der Natur der Landschaft
abhängig ist. Es tritt z. B. deutlich hervor, wie sich in den Wald- und Sumpf-
gebieten der Wojewodschaften Polesie und Bialystok die Siedlungen an den höher
gelegenen und trockenen Stellen (z. B. an der Jasiotda, am Styr und am Horyá)
und auf den Randgebieten konzentrieren und diese Landstriche dann auch als
teilweise sehr dicht bevölkerte Gebiete erscheinen lassen. Dagegen liegen auch in
der Karte die geschlossenen, siedlungs- und verkehrsfeindlichen Wald- und Sumpf-
ebiete fast unbewohnt da. In den Urstromtallandschaften Kongreßpolens meiden
ie Siedlungen die Nähe der versandeten und versumpften Flußniederungen und
häufen sih an den Rändern und auf den Diluvialplatten.
Da es sich aber bei der vorliegenden Karte in der Hauptsache nicht um eine
Siedlungskarte, sondern um eine Nationalitätenkarte handelt, müssen vor allem
der 35 der Nationalitäten auf dieser Karte noch einige Vorte gewidmet
werden.
Es hat einen besonderen Reiz, die Bevölkerung eines Landes, wenn sie,
wie in Polen, aus mehreren Nationalitäten zusammengesetzt ist, auf einer Karte
in Punktmanier darzustellen; denn eine solche Karte vermag, sofern sie methodisch
und sachlich einwandfrei ist, nicht nur die absolute Mitgliederzahl der in einem
Gebiet vorhandenen nationalen Bevölkerungsgruppen bildlich genau wiederzugeben,
sondern sie kann KEE auch das Nebeneinander und Ineinander der national
verschiedenen Wohngebiete gut charakterisieren.
Sie ist also besser als jede andere Kartendarstellung zum Studium nationaler
Grenzverhältnisse in einem Lande mit völkisch gemischter Bevölkerung geeignet.
Es ist daher an und für sich zu begrüßen, daß mit obiger Karte ein Versu
in dieser Hinsicht gemacht worden ist.
Leider entspricht diese Karte nur in beschrinktem Maße den Ansprüchen,
die man an eine in Punktmanier ausgeführte Karte stellt. Die als Einheit
für die Darstellung gewählte Zahl von 5000 Personen ist, wie schon eingangs
erwähnt, zu hoch!! Der Bearbeiter war mithin gezwungen, eine in einem Kreise
vorhandene nationale Gruppe nur dann vermittels eines bzw. mehrerer Punkte
darzustellen, wenn diese eine durch 5000 teilbare Zahl von Mitgliedern wirklich
oder annähernd erreichte. Zahlen die unter 2500 liegen, hat er, soweit wenigstens
die Verhältnisse bei den Minderheiten nachgeprüft werden konnten, meist nicht
berücksichtigt, was deswegen bedauerlich ist, weil es in vielen Kreisen, besonders
in dem schwach besiedelten Ostpolen, nur selten nationale Minderheiten von mehr
als 2500 Personen gibt. Unter diesen Umständen werden solche zahlenmäßig
kleine Bevölkerungsteile, die aber in Gebieten schwacher Bevölkerungsdichte pro-
he doch eine wichtige Rolle spielen konnen?), auf der Karte außer acht
elassen.
: Die vorliegende Karte kann unter diesen Umständen nicht als ein treues
Abbild der durch die polnische Nationalitätenzählung festgestellten Nationalitäten-
verhältnisse Polens bezeichnet werden. Dem Bearbeiter ist es nicht gelungen, die
feineren Unterschiede in der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung ein-
wandfrei herauszuarbeiten. Diese Unterschiede, auf die es beim Studium nationaler
Grenzverhältnisse völkisch inhomogener Siedlungsgebiete, wie z. B. in Wolhynien,
2) Hier sei nur auf Wolhynien verwiesen, das bei einer Bevölkerungsdichte
von 47,5 Einw. pro qkm national überaus 1 ist; neben einer Mehrzahl
von Ukrainern wohnen dort Polen, Deutsche, Tschechen, Juden und Russen.
385
so sehr ankommt, wurden verwischt. Bei der Benutzung der Karte ist daher
Vorsicht geboten.
Die Gesamtzahl der so in den einzelnen Wojewodschaften auf der Karte
nicht dargestellten Deutschen ist z. T. recht erheblich. Das läßt die folgende nach
Wojewodschaften geordnete Tabelle deutlich erkennen:
Zahl der Deutschen
Wojewodschaft: nach der Karte: nach „Roczn. Stat.“: (Bd. 1924, S. 12 ff.)
Warschau . . . . . 40000 48 208
Lodz .... 95 000 108 456
Kielce — 3 655
Lublin 5 000 10 933
rea dig — 4117
Krakau . 5 000 9 295
Lemberg 5 000 12 486
Tarnopol . . . — 2 484
Teschen-Schlesien 25 000 29 010
Aber auch hinsichtlich der Verhältnisse bei den anderen Minoritäten sind
dem Bearbeiter der Nationalititenkarte ganz offenbare Fehler unterlaufen, die
besonders im Osten Polens das durch die Nationalitätenzählung von 1921 fest-
gestellte Bild in vielen Kreisen sehr verändern, — und zwar zu ungunsten der
Nichtpolen.
So ergab die Nachprüfung der Karte hinsichtlich ihrer Eintragungen von
Weißrussen und Ukrainern gegenüber den Angaben des „Roczn. Stat.“ ein Zu-
wenig (—) z. B. in folgenden Kreisen:?)
Kreis: Weiß russen Kreis: Ukrainer
Dunilowice (Wojew. Wilna) — 20000 Zbaraż (Wojew. Tarnopol) . — 5500
Dzisna j 5 — 9200 Skalat S = . — 2500
Swi¢ciany K 12 — 8700 Brzezany „, = . — 1270
Nowogródek . . . . . . — 5000 KamiehKoszyr.(Wojew.Polesiec) — 6500
Pinsk (Wojew. Polesie) . — 7000 Zdolbundw Sp „ — 6000
Kossów „. e d — 6000 +
Bielsk (Wojew. Bilaystok) — 4900
Dafür einige Beispiele aus deutschen Minderheitsgebieten: Es wurden,
um nur einige Kreise herauszugreifen, auf der Karte nicht beriicksichtigt:
in Wolhynien. Lödz 8808 Deutsche
im Kreise: Turek 1 067 =
Keren 2599 Deutsche’) Bialystok 2 048 Se
Kowel . . 1139 nm in Galizien:
Wlodzimierz . 1 723 e im Kreise:
in Kongreßpolen: Bala . . 1937 i
im Kreise: Lwów (Lemberg) . 3548 15
Wegréw 1091 0 Rawa Ruska. . . 1298 S
Wlodawa 1 313 » Zydaczöw . . . 1791 Ge
Lipno 1311 ge Skole 1 765 5
Nieszawa 1101 e Stanıslawöw 1118 K
Ciechanów . 1 388 = Kalusz ... . 1023 A
Warszawa. 1981 d in Teshen-Schlesien:
Rawa 1144 » im Kreise:
Kolo 1226 „ Cieszyn (Teschen). 1000 „
Piotrköw 1335 „, Bielsko (Bielitz). 2300 „
Sieradz . 2 383 ve
3) In der Tabelle sind nur einige Kreise aufgeführt, in denen die Unstimmig-
keiten zwischen Karte und „Rocznik“ besonders groß erscheinen.
%) Die Gesamtzahl der in den einzelnen Wojewodschaften auf der Karte
zuwenig dargestellten Nichtpolen ist z. T. recht erheblih; so ergab die Aus-
zählung der hellbraunen Punkte auf der Karte, daß z. B. in der Wojewodschaft
386
Ganz auffallende Eintragungen sind von dem Bearbeiter der Karte im Kreise
Kamień Koszyrski (Wojew. Polesie) vorgnommen worden: einerseits hat er dort
6600 Ukrainer zuwenig berücksichtigt, andererseits aber 10000 Weißrussen ein-
gezeichnet, obwohl ihrer daselbst — nach „Roczn. Stat.“ — im ganzen nur „6“
vorhanden sind.
Welche Gründe können den Bearbeiter veranlaßt haben, die Ergebnisse der
Volkszählung so zu verändern?
Wenn die Verschiebung der Verwaltungsgrenzen der Kreise eine so wesent-
liche Anderung der Bevölkerungszahl in den betreffenden Kreisen nach sich ge-
zogen hätte (was durchaus denkbar wäre, da eine Verschiebung der administra-
tiven Grenzen in den Ostwojewodschaften tatsächlich erfolgt ist e)), dann müßte
doch eine entsprechende Berichtigung im „Roczn. Stat.“ ertolgt sein, was bislang
nicht geschehen ist. Auch hinsichtlich der Repatriation, die in vielen Teilen
Ostpolens sowohl die Zahl als auch die nationale Zusammensetzung der Be-
völkerung z. T. sehr stark verändert hat7), ist die im „Roczn. Stat.“ (Bd. 1924,
S. 12 ff.) wiedergegebene Nationalitätenstatistik Polens vom Stat. Haupamt in
Warschau noch ich berichtigt worden. Man muß also annehmen, daß sich der
Stand der Nationalitätenverteilung in den einzelnen Kreisen Polens seit dem Er-
scheinen des Bd. 1924 des „Roczn. Stat.“ (auf dessen Angaben ja nach den An-
merkungen des Atlaswerkes S. XIII die obige Karte beruht) nicht wesentlich ge-
ändert hat. Es muß also vermutet werden, daß der Bearbeiter der Karte mit
den Angaben der Nationalitätenstatistik ziemlich willkürlich verfahren ist.
Neben diesen Einwänden gegen die Darstellungsweise muß aber auch das der
Karte zugrunde gelegte Material und seine Auswertung zur Kritik herausfordern.
Denn die Karte dürfte kaum die wirkliche Nationalitätenverteilung Polens dar-
stellen, sondern bestenfalls die Ergebnisse der polnischen Zählung vom 80. 9. 1921.
Dieser Zählung gegenüber muß aber darauf hingewiesen werden, daß sachlich
gehaltene Arbeiten über polnische Nationalitätenverhältnisse, selbst solche aus der
Feder polnischer Gelehrter®), die Angaben des „Roczn. Stat.“ anzweifeln und
lieber aus anderen Quellen schöpfen, z. B. aus der polnischen Konfessionszählung.
Bezüglich der Zahl und Verbreitung der Deutschen in Polen haben beispiels-
weise V. Winkler?) und A. Mückler!2) die Unzuverlässigkeit der polnischen
Zählung von 1921 erwiesen.
Es wäre daher wünschenswert gewesen, wenn der Bearbeiter neben der
nationalen auch die konfessionelle Zusammensetzung der Be-
völkerung Polens auf Karten dargestellt hätte. Derartige Karten fehlen
im obigen Atlas ganz! Tafel 7 des Atlaswerkes bringt nur einige Diagramm-
darstellungen der Konfessionen Polens, die das zahlenmäßige Verhältnis der ein-
zelnen konfessionellen Gruppen zueinander und den Anteil der Nationalitäten
an ihnen demonstrieren sollen.
Noc auf eins sei bei der Besprechung obiger Karte hingewiesen: Die Ka-
schuben im Weichselkorridor werden als echte Polen dargestellt. Angesichts der
Tarnopol entgegen den Angaben des „Roczn. Stat.“ insgesamt 29000 Ukrainer
zuwenig, andererseits aber 12500 Polen zuviel eingetragen worden sind.
5) Vergleiche die Zahlenangaben im „Roczn. Stat.“ (Bd. 1924, S. 12 ff.) mit
den Ergebnissen einer Punktauszählung, wie sie Verfasser auf der Karte vor-
genommen hat.
e) Vgl. „Czasopismo Geograficzne“, Bd. 7, S. 233, Lwów und Warszawa
1929: „Ostatnie zmiany administracyjne w Polsce. — Die letzten administra-
tiven Veränderungen in Polen. —
7) Nach „Roczn. Stat.“ (Bd. 1928, S. 69) betrug die Zahl der Repatrianten
für die Zeit von 1921—1924: 809 392.
8) Vgl. die in „Czasopismo Geogr.“ (Bd. 7, Heft 4, S. 284) unter „Narodo-
wości w Polsce“ genannten Arbeiten.
e Gr „Statistisches Handbuch für das gesamte Deutschtum“, Berlin 1927,
1 ;
10) „Das Deutshtum Kongreßpolens. — Eine statistisch-kritishe Studie.“
Leipzig-Wien 1927, S. 27 ff.
887
jetzt als erwiesen zu betrachtenden Tatsache, daß die Kaschuben kein polnischer
V sind, sondern wie etwa die Ukrainer und Weißrussen eine ändi
westslavische Volksgruppe, gehörig zu dem polabisch-pomoranischen Zweig der
Westslaven, darstellen, wäre von einer objektiven Bearbeitung zu erwarten ge-
wesen, daß die Kaschuben auch in der Karte als besondere Gruppe i
worden wären.
Breslau. J. Czech.
Elisabeth Kloß: Das Gründungsbuch der Stadt Dirschau (= Quellen
und Darstellungen zur Geschichte Westpreußen. — Herausg.
vom Westpreußischen Geschichtsverein, Nr. 14). Danzig 1929.
Da durch den großen Brand von 1577 der größte Teil dei städtischen
Archivalien zugrunde gegangen ist, wird mit dieser Publikation zum ersten
die Möglichkeit geboten, diese für die Ortsgeschichte ergiebige lle in vollem
Umfange auszuschöpfen. Darüber hinaus ist sie aber auch von erheblicher national-
geschichtlicher Bedeutung. Sie zeigt uns den vollkommenen deutschen Charakter
der Stadt in der Zeit, wo Dirschau, das durch Machtspruch von Versailles zum
„polnischen Korridor“ geschlagen worden ist, schon einmal unter polnischer
Herrschaft gestanden hat. Durchweg deutsch sind die Namen der Besitzer; die
Grundstücke blieben oft jahrzehntelang im Besitz der alteingesessenen Familien.
Im 18. Jahrhundert zwang die wirtschaftliche Lage häufig zum Besitzwechsel.
Aber auch diese neuen Besitzer stammten wieder aus dem Werder und den um-
liegenden deutschen Gebieten. E. Kloss hat mit dieser mühsamen Arbeit einen
wichtigen Beitrag zur Geschichte des Deutschtums in Westpreußen geliefert.
Breslau. , Pürscel
Ernst Petersen: Die frühgermanische Kultur in Ostdeutschland und
Polen. Mit 36 Tafeln. Berlin 1929. Verlag Walter de Gruyter
& Co.
Petersen hat sich die Aufgabe gestellt, die zeitliche Stellung der frühgerma-
nischen Kultur in Ostdeutschland und Polen festzulegen und ihre Entwicklungs-
stufen abzugrenzen. Bei der starken Zersplitterung der Funde (s. Anhang) hat
P. shon durch mühevolles Zusammentragen wertvolle Arbeit geleistet. wic-
riger noch war die Untersuchung des auf den ersten Blick oft stark uniformen
Materials. Text und Bild (s. die 36 vorzüglich ausgestatteten Tafeln) geben eine
Vorstellung von der Sorgfalt und Kritik, mit der der Verf. den Stoff bearbeitet
hat. Die ergebnisreiche Arbeit ist um so mehr am Platze, als polnische Vor-
1 versuchen, ihr Arbeitsgebiet nationalpolitischen Forderungen
dienstbar zu machen. Wiederholt tritt P. diesen auf falschen Schlüssen auf-
gebauten Ansprüchen entgegen. Die zahlreichen Beilagen sind besonders zu be-
KE Sie ermöglichen dem Benutzer eine leichte Nachprüfung der gewonnenen
Resultate.
Auf Grund der Grabungen des Danziger Museums im Kreise Putzig ist die
obere zeitliche Grenze dieser Kultur zu bestimmen. Sie reicht in die Periode V
der Bronzezeit. Nach dem Hauptfundort wird sie vom Verf. als „Großen-
dorfer Gruppe“ bezeichnet. Für die folgenden drei Stufen ist von einer neuen
Stufenbezeichnung abgesehen, da sie den Ansetzungen Reineckes für die jüngeren
Perioden der Hallstatt- und den älteren der Laténezeit entsprechen. Die Großen-
dorfer Gruppe umfaßt das untere Weichselgebiet, das östliche Hinterpommern,
das westliche Westpreußen und das nordwestliche Posen. Ihr Zusammenhang mit
der gesamtgermanischen Kultur ergibt sich durch einen Vergleich der Metall-
Beigaben und der Keramik mit dem nordischen und nordwestdeutschen Formen-
kreis der gleichen Zeit. Interessant ist in dieser Beziehung die Gegenüberstellung
der Urnen aus Bringvaermoen in Norwegen (Tafel 71), die primitive Ansätze zu
einer Gesichtsverzierung aufweisen, mit den Gefäßen von Tillitz, in denen der
Verf. die ältesten Gesichtsurnen sieht. Ihre Entwicklung sowie die Ausbildung
einer Anzahl auffallender Schmuckformen beweist jedenfalls, daß sih nach der
Trennung vom westgermanischen Kulturkreis die ostgermanische Kulturprovinz
zu einer ausgesprochenen Sonderkultur ausbildete. Die enge Verwandtschaft der
388
frühostgermanishen Keramik mit der norddeutsch-skandinavischen Bronzezeit
wird von P. mit Recht besonders hervorgehoben, weil Kosstrzewski versucht hat,
die Großendorfer Keramik mit der lausitzischen Kultur in Verbindung zu bringen.
Dagegen spricht das zahlreiche Auftreten des Stöpsel- und Kappendeckels, das in der
gleichzeitigen lausitzischen Keramik fehlt, in Dänemark aber, Schweden, Schleswig-
Holstein häufig nachzuweisen ist. Auch sonst tritt der Unterschied gegenüber
dem Lausitzer Formenkreis in Erscheinung in den Gefäßformen und noch viel
stärker in den Metallgeräten. Typisch ist auch schon für die Großendorfer
Gruppe ein Hinneigen zur Familienbestatcung, die sich im Laufe der III. Hall-
stattstufe weiter ausprägt, in der IV. ihren Höhepunkt erreicht, um sich im
Laufe der Friihlaténezeit wieder zu kleineren Gräbern zurückzuentwiceln.. Die
gleiche Entwicklung ist in der lausitzischen Kultur nicht die Regel. Wo — wie
ın Schlesien — beide Kulturen zusammenstoßen, entsteht eine Mischkultur, die
von der uniformen, einheitlichen ostgermanischen Kulturprovinz scharf absticht.
K.s These hängt natürlih mit seiner Slawentheorie zusammen, wonach die
lausitzische Kultur slawisch oder balto-slawisch sei, aus dem sich dann ein baltisches
Volkstum der Gesichtsurnenkultur entwickelt habe. Nach dieser Annahme müßte
die Großendorfer Gruppe sich vor allem nach Osten entwickelt haben. Sie hat
sich jedoch pead: nach Süden ausgebreitet. In der III. Hallstattstufe erreicht sie
hart nördlich der Stadt Posen ihre siidlichsten Vo ten; besonders stark ist ihre
Ausbreitung in der IV. Hallstattstufe, wo sie auf das obere Odertal übergreift.
In der Frühlatènezeit verschiebt sich der Schwerpunkt dieser Kultur nach Süden.
In Schlesien wird die Oder überschritten. Es entsteht eine Mischkultur, die letzte
Reste der lausitzischen Kultur in Schlesien und Kongreßpolen aufsaugt. In dieser
Zeit dringt sie durch Südpolen bis nach Ostgalizien vor. Um 800 v. Chr. ver-
schwindet die frühgermanische Kultur in ganz Ostdeuschland und Polen, was nur
durch eine . Abwanderung zu erklären ist. Eine einwandfreie ethno-
logische Einordnung bezüglich der germanischen Stämme, die die Träger dieser
frühgermanischen Kultur gewesen sind, ist bis jetzt nicht gelungen.
Breslau. E. Pürs dk el.
389
V
ZEITSCHRIFTENSCHAU
Allgemeines
P. Bogat H rev: K voprosu ob etnologiceskoj geografii. — Slavia
7, 3 (1928), S. 600—611.
_ Die Bezeichnung „ethnologische Geographie“ wird hier analog der Termino-
logie der linguistischen Geographie angewandt, wie sie z. B. die Marburger Schule
in Deutschland vertritt. Die Methoden beider Wissensgebiete dürfen nicht
sklavisch vom einen auf das andere übertragen werden, jede von beiden muß im
gegebenen Falle ihren eigenen Weg gehen. Zudem fallen die Grenzlinien von
rache und Volkstum nicht immer zusammen; so z. B. entspricht die Verwandt-
aft von Märchentypen keineswegs der Sprachverwandtschaft. B. weist auf Beob-
achtungen hin, die von Sachmatov, Trubeckoj u. a. gemacht worden sind. Es ist
Ang erkannt worden, welche wichtige Rolle im Leben einer Sprache politische
und soziale Einflüsse spielen, so müssen auch bei ethnographischen Fragen alte und
neue politische Grenzen berücksichtigt werden. Bei der Kartographierung ethno-
graphischer Ergebnisse unserer Zeit ist das Beibehalten der ländlichen Kostüme,
resp. ihr Verschwinden, sehr beachtenswert. Einzelne Inseln mit konservativen
Neigungen in bezug auf die Kostümfrage oder dem Beibehalten von Gebräuchen
können auch in anderer Hinsicht aufschlußreich werden. B. erinnert hier an die
von Fürst Trubeckoj gemachten Beobachtungen auf dem Gebiet der ostslavischen
Völker, die viele allgemein slavische Gebräuche nicht bewahrt haben unter dem
Einfluß fremder Nachbarstämme. Hinsichtlich der Kartographierung einzelner
ethnographischer Eigentümlichkeiten schlägt B. zwei Methoden vor: einesteils seien
die Namensausbreitungen gewisser Gebräuche und die Gebräuche selbst zu be-
achten, andererseits die geographische Unterteilung der Einzelheiten eines solchen
Gebrauches oder einer Zeremonie. Häufig ergibt die summarische Karto-
graphierung irgendeines Gebrauches die Möglichkeit, eine bestimmte Periode seines
Bestehens zu erschließen, und die Kartographierung abgesonderter Einzelheiten
desselben Gebrauchs kann das Resultat eebe daß eine andere Periode er-
schlossen wird. Hier sind gerade im Gebiet der geistigen Kultur die Methoden
zu spezialisieren.
Neben der Kartographierung ethnographischer Ergebnisse unter Berück-
sichtigung historischer Data kann sie auch synchronistisch betrieben werden, ähn-
lich wie sie z. B. de Saussure in der Linguistik angewandt hat. Hierbei spielt die
Frage nach der Gleichzeitigkeit gewisser Phänomene die Hauptrolle, es kommt
auf statistische Methoden heraus, die auf die verschiedensten Arten angewandt
werden müssen. Zunächst muß beobachtet werden, wie sich im Individuum gleich-
zeitig verschiedene Erscheinungen verschiedener Kulturen widerspiegeln. Neben
den Untersuchungen individueller Art sind aber auch die sozialer Faktoren ins
Auge zu fassen. Daneben ist von Wichtigkeit, welche ethnographischen Er-
scheinungen sich schneller, welche sich langsamer ausbreiten, und welche Ver-
änderungen sie bei der Übernahme durch ein neues Gebiet erleiden. Diese Art
Untersuchungen sind natürlid am besten in Grenzgebieten anzustellen und zwar
vor allem auf Grenzgebieten mit denkbar größter Besiedelung. Was das Über-
greifen von einem Gebiet auf das andere solcher Erscheinungen anbelangt, so wird
es, nach der Meinung Bogatyrevs, am besten durch gleichzeitige Einzelstudien in
zwei benachbarten, ethnographisch verschiedenen Orten zu untersuchen sein, darauf
möge dann eine weniger eingehende Untersuchung auf einem weiten Gebiet der
betreffenden Grenzlandschaften folgen. Dabei sind zwei Kardinalpunkte im Auge
zu behalten: die Feststellung der Ursachen, die zur Einführung auf fremdem Gebiet
geführt haben, und die Feststellung der Ursachen, die es verhindern, daß ein neuer
390
Gebrauch in alte ethnographische Traditionen eindringen kann. Gerade die Ur-
sachen für derartige Beharrlichkeit einer Tradition ist in der Ethnographie bisher
wenig erforscht worden. Besondere Wichtigkeit schreibt B. der Untersuchung
solcher Fälle zu, bei denen gemischte Ehen Ursache zur Aufnahme neuer Gebräuche
werden können, gleich ob es sich um Frauen handelt, die nach dem Hineinheiraten
in fremdes Gebiet ihre alten Gebräuche aufgeben, oder um solche, die sie ihren
Kindern diab, Ke auf den Lebensweg.
Die methodologische Behandlung der Entlehnungen soll auf zweierlei Weise
geschehen: man soll sich zunächst auf eng begrenztes Material beschränken, z. B.
verfolgen, wie sich die Entlehnung von Stickmustern, oder der Wechsel von Ofen-
typen vollzieht beim Obergreifen zu oder von einer benachbarten, fremden Kultur.
Daneben soll aber der Kultureinfluß des einen Volksgebietes auf das andere in
seiner Gesamtheit untersucht werden. Auch miisse beachtet werden, inwieweit
es sich um die Übertragung streng nationaler Eigentiimlichkeiten handelt und eine
solche gesondert behandelt werden von solchen, die dem allgemeinen europäischen
Kultureinfluß zuzuschreiben sind. Sehr interessant sind Beobachtungen auf dem
Gebiet der Trachten, wo oft das nationale Kostüm künstlich, aus politischen Rück-
sichten, festgehalten wird. Der geistige Kultureinfluß führt oft zu einem eigen-
tümlihen Wechsel in der Funktion neu übernommener Gebräuche. Die Unter-
suchungen werden, je nach ihrer räumlich spezialisierten oder allgemein, auf große
Gebiete erstrekten Anwendung zu den entsprechenden Schlußfolgerungen be-
rechtigen. Emmy Haertel.
Bulgarien
M. G. Popruzenko: Iz istorii religioznago dviZenija v Bolgarii.
— Slavia 7, 3 (1928), S. 536—547.
P. hatte in seiner Einführung zur Ausgabe des ,,Sinodik Carja Borila“ darauf
hingewiesen, daß möglicherweise die Bestimmung über die Verfluchung von
Akındina und Varlaam unter dem Einfluß des Konzils von Konstantinopel vom
Jahre 1851 zustande gekommen sei, da auf diesem Konzil zum erstenmal die Not-
wendigkeit anerkannt wurde, diese Beiden aus der Kirche auszustoßen, Es wäre
sehr leicht möglich, daß auf dem bulgarischen Konzil vom Jahre 1854 die Frage
über die Lehren von Akindina und Varlaam zur Verhandlung gekommen ist, nach-
dem sicherlich die dort diskutierenden bulgarischen Hierarchen über die Beschlüsse
von Konstantinopel unterrichtet gewesen sind. Damals mußte auch die ursprüng-
liche Redaktion der Bestimmung über die Verfluchung Akindinas und Varlaams
im Sinodik bekannt gewesen sein; die bulgarischen Hierarchen werden durch das
Auftreten der Anhänger Beider in Trnovo, z. B. des Mönches Feodorit, aufmerk-
sam geworden sein. Vor allem mußten sie sich mit dieser Frage beschäftigen, als
man daran ging, die Lehren des Akindinajüngers Prochor Kidoni zu untersuchen,
dessen Name im Sinodik erwähnt ist. Vielleicht geschah das erst nach 1368, da
erade in diesem Jahre die byzantinische Kirche den Prochor Kidoni verurteilt
tte. P. schließt aus diesen Daten, daß die Bestimmung über Akindina, Varlaam
und Kidoni unter dem Patriarchen Evfimij entstanden sein wird, der tätigen An-
teil an der Redaktion und Ergänzung des Sinodik genommen hatte.
Da die Frage nach der Einführung des Anathems über Abtrünnige der
Orthodoxie abhängig ist vom Grade der Vertrautheit der bulgarischen Geistlichkeit
mit den Lehren dieser Häretiker, so muß, nach Poprutenkos Meinung, auch das
Erscheinen der bulgarischen Übersetzung der Schriften des Gregorij Palama wider
Akindina und Varlaam damit in Verbindung gesetzt werden. P. führt die Daten
der Tätigkeit Palamas auf diesem Gebiet an, er zieht aus ihnen den Schluß, daß
unter dem Patriarchen Evfimij die bulgarische Geistlichkeit sich unbedingt mit den
Werken des Palama beschäftigen mußte. So ist die Übersetzung dieser Schriften,
die Palama der slavischen Geistlichkeit bekannt machen sollte, sehr interessant im
Hinblick auf die Einführung abstrakter und feiner logischer Begriffe ins Slavische.
P. nimmt hier aus der Menge der Handschriften nur die in der Bibliothek der
auch auf die Wichtigkeit verschiedener vom Übersetzer gemachten Anmerkungen
bulgarischen Akademie der Wissenschaften befindliche, unter Nr. 10 verwahrte,
heraus und zeigt, wie derartige Übertragungen versucht worden sind. Er weist
891
hin, bringt einen seitenlangen Abdruck der Übersetzung von Palamas „ Ono
thc oc xiotems, tutedsion ak... Ip. Iahapā“ und beschäftigt sich mit
der Frage, welche anderen Handschriften zur Vervollständigung der slavischen
Übersetzung dieses Textes heranzuziehen sind. Die Geschicklichkeit bei der Ober-
tragung ins Slavische läßt auf das Vorhandensein einer durch Traditionen
stürzen literarischen Schule schließen. P. vermutet, daß die Übersetzung de
Schriften des Palamas in Bulgarien zur Zeit des Patriarchen Evfimij entstanden sein
muß, da damals eine derartige Schule bestand und gerade Evfimij die Irrlehren
seiner Zeit aufmerksam verfolgte. Emmy Haertel,
Jugoslavien
Tih. R. D'or d' evi é: Svatovska groblja. — Slavia 7, 4 (1929),
S. 927—933.
An verschiedenen Orten Serbiens gibt es Stellen, die Gräber der Hochzeits-
gäste genannt werden, ohne daß man wüßte, warum. D'. führt fünf verschiedene
Versionen an, nach denen in der Volkstradition Hochzeitsgäste umgekommen sind.
Um die Tradition über die Gräber der Hochzeitsgäste besser zu verstehen, muß
die Frage beantwortet werden, warum man sie an der Stelle, wo sie umgekommen
sind, beerdigt hat. Hier sind Sprichwörter, die in verschiedenen Sammlungen auf-
gezeichnet sind, aufschlußgebend. „Wo einer stirbt, da begräbt man ihn“, sagen
sie, wobei ein plötzlicher, nicht im eigenen Heim erfolgter Tod gemeint ist. So
wird auch verfahren, mit Ausnahme des Todes auf dem Schlachtfelde. Der im
Felde Gefallene wird nach der Heimat gebracht und an der Kirche begraben. So
haben es auch die Serben im Weltkrieg gehalten, sie haben ihre Toten von weit
her geholt, um sie zuhause zu beerdigen. Für das Gegenteil, d. h. das Bestatten
au der Stelle, wo der Tod zufällig eingetreten, zeugen Volkslieder und Märchen,
die von verschiedenen derartigen Fällen berichten. Es besteht auch der Volks-
glaube, daß das Wegschaffen eines Toten von einem Dorfe zum andern Dürre oder
Hagelschlag verursacht. D.“ führt dafür Belege an. Aus dem Gesagten wird er-
klärlich, daß tatsächlich an vielen Stellen Hochzeitsgäste verunglückt und begraben
worden sein können. Unklar bleibt es, warum, wie in der 5. Version vom Um-
kommen der Hochzeitsgäste gesagt, diese selbst beim Begegnen einander umge-
bracht haben. Emmy Haertel
Vaclav Burian: Dvé balady o Hasanaginici. — Slavia 7, 3 (1928),
S. 612—616. |
B. vergleicht zwei Varianten der Hasanaginica, die von Gesemann veröffent-
lichte aus der Erlangener Handschrift (Srb. Kral. Akad. v. Srem. Karl Zbornik
1925) und die von Fortis-Vuk 1900 veröffentlichte (Glas. Mat. Hrvat. 4, S. 125).
Er hält die erstere für ein Meisterwerk der serbo-kroatischen Volksepik wegen
der feinen 3 Darstellung der heldischen Fravengestalt. Dahingegen
kann in der zweitgenannten Variante für keine der handelnden Personen ein
wärmeres Gefühl aufkommen. Alles in allem greift die erste Ballade ins Meta-
physische hinüber, die zweite haftet am Irdischen, Endlichen. Die erste ergreift zu
tiefst, wirkt auf unser Vollen und Handeln, die andere entwickelt vor unserem
geistigen Auge eine Reihe unbeweglicher Bilder. Die erste ist eminent dramati
die zweite von typischer Epik. Beide scheinen verschiedenen, von einander nicht
sehr entfernten Zeiten anzugehören. Über die Entstehungsfolge ist es schwer,
etwas bestimmtes zu sagen, doch verführt das Dramatische, um nicht zu sagen
Literarische, der ersteren dazu, in ihr das letzte Wort sehen zu wollen.
Emmy Haertel.
Lu ir u ba: Jihoslovanské „alby“. — Slavia 7, 3 (1928), S. 617
is 620.
K. bringt drei Liebeslieder mit Noten zum Abdruck, die er in Bosnien, in
Dalmatien und im serbischen Mazedonien zu verschiedenen Zeiten aufgezeichnet
hat. Alle drei sind Morgenlieder, in denen der Liebhaber das Mädchen dazu ver-
führen will, ihn in ihre Kammer zu lassen. Er möchte in dieser Art Lieder eine
Art Abglanz dessen sehen, was in der provenzalischen Liebeslyrik, im Unterschied
392
zur abendlichen „serenada“, als Morgenlied gedacht war. Vielleicht gehen die
deutschen Wächterlieder, in Frankreich die „aubades“, darauf zurück. Indessen
will K. damit nicht sagen, daß die im Südslavischen vorkommenden, selten anzu-
treffenden Lieder dieser Art etwa wirklich Nachklinge der provenzalischen
Dichtung seien. Vielleicht war in früheren Zeiten diese Art Lieder allgemein, denn
man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was ın der provenzalischen Dichtung
ursprünglich, was älteren Mustern nachgebildet ist. K. skizziert seine Ideen über
die Art, wie in Zeiten, die keine Niederschrift ihres Liederschatzes kannten, die
Übertragung von Volk zu Volk vor sich gegangen sein mag,
Emmy Haertel.
Rußland
Die Franzosen in Moskau 1812. .
P. P. Grons ki j: Upravlenie Moskvy pri Napoleone (,,Poslédnija
Novosti“, Paris, Nr. 3054 v. 2. August 1929)
schildert anspruchslos die zwangsweise Bildung einer Moskauer „Munizipalität“
aus 20 Moskauer Bürgern und die Bestellung des Kaufmanns Nachodkin als Maire
durch den französischen Generalgouverneur Marschall Mortier. Nach dem Rück-
zug der Franzosen wurden in Moskau und Smolensk Untersuchungskommissionen
eingesetzt, um das Verhalten derjenigen Personen zu prüfen, die den Franzosen
Dienste geleistet hatten. Durch ein Allerhöchstes Manifest wurde im August 1814
den Mitgliedern der Moskauer Munizipalität in der Franzosenzeit Amnestie
gewährt. F. Epstein.
Die Dekabristen.
Zygmunt Z boruck i: Dekabrysci w świetle najnowszej historjo-
grafji. Die Dekabristen im Lichte der neuesten Historiographie.)
—Kwartalnik Historyczny Bd. 42 (1928), S. 656—670.)
Der Titel trifft nicht ganz zu. Zb. geht auch auf die älteren Ansichten über
die Dekabristen ein, wird freilich erst bei der Besprechung der 1905—1910 edierten
Quellenpublikationen ausführlicher. Damals priesen die konstitutionellen,
westelnden Revolutionäre ihre vermeintlichen Vorgänger. Die Boläeviken da-
gegen, mit Petrovskij voran, lehnen die Dekabristen als aristokratische Oligarchen
ab, während die russische Emigration sich dem Standpunkt von 1905 nähert und
die Ukrainer die separatistischen Elemente des Dekabrismus unterstreichen.
Waliszewski aber sieht in den Dekabristen verleugnete Vorfahren des Boläevismus.
Otto Forst-Battaglia.
B. Kos min: N. G. Cernylewskij und die III. Abteilung (N. G.
en) i III otdelenie). — Krasnyj Archiv Bd, 29. S. 175
is 190.
Nach der Revolution von 1905 wurden in den Archiven zahlreiche Doku-
mente über Cernylevskij gefunden, die seinerzeit von den Historikern der
Offentlichkeit mitgeteilt wurden. Aber auch heute finden sich noch Materialien,
die die Vorgeschich te des Prozesses von Cernylevskij beleuchten. Zu solchen ge-
hören die hier veröffentlichten Berichte der Agenten der III. Abteilung über C.
und seine Anhänger. 7 kleine Berichte, die aus Kleinigkeiten, Dienstbotenklatsch
und seine Anhänger: 7 kleine Berichte, die aus Kleinigkeiten, Dienstbotenklatsch
und Agentenvermutungen bestehen, und 2 Memoranda der III. Abteilung, von
denen sich eins ausschließlich mit der Person Cernylevskijs beschäftigt. Hervor-
zuheben ist ein Bericht vom 6. Juni 1862, in welchem versucht wird, die
„Cernylevskij- Leute“ für die Brandstiftungen, die damals ganz Petersburg auf-
regten, verantwortlich zu machen. — Ein Memorandum der III. Abteilung vom
27. April 1862 macht uns mit einem — allerdings nicht verwirklichtem —
Projekt der III. Abteilung bekannt: man beabsichtigte Haussuchungen und Massen-
verhaftungen an einem bestimmten Tage vorzunehmen, um die Entwicklung der
revolutionären Propaganda in Peterskure zu unterbinden. An der Spitze der
»Verbrecherliste steht der Name von Černyševskijš. Die Polizei schien jedoch
898
die Wirkung dieser außerordentlihen Maßnahmen im Publikum zu befürchten.
Der Gendarmenchef Fürst Dolgorukij vermerkte auf dem Bericht: „Es empfiehlt
sich, den Zeitpunkt für diese Haussuchungen mit besonderer Sorgfalt zu wählen.“
— Von der Durchführung dieses Planes wurde abgesehen, dafür aber andere
Maßnahmen ergriffen: die Sonntagsschulen und Lesestuben wurden geschlossen, die
von C. redigierten Zeitschriften „Sovremennik“ und „Russkoe Slovo“ verboten.
Die Reaktion, die sich der öffentlichen Meinung bemächtigt hatte und nicht zuletzt
auf die rätselhaften Brandstiftungen zurückzuführen war, gab der Regierung die
Möglichkeit, gegen die „Meuterer“ energisch vorzugehen.
Eugenie Salkind
Russisch - türkischer Krieg 1877—78.
V. Mjakotin: Evropejskaja diplomatija pered russko-tureckoj
vojnoj. — „Posl&dnija novosti“ (Paris) Nr. 3025 v. 4. Juli 1929.
Mj. referiert über eine neue bulgarische Darstellung der diplomatischen
Verhandlungen vor Ausbruch des russisch-türkischen Krieges von 1877—78 von der
Berufung der Konstantinopeler Konferenz 1876 bis zur russischen Kriegs-
erklärung: K. KoZularov, Ot Carigradskata konferencija do russko-
turskata vojna 1877 g.: „Makedonski Pregled“ IV, 8 (Sofija 1928). Nach Mj. legt
Kožučarov die Verantwortung für die schließliche kriegerische Zuspitzung des
russisch-türkischen Konflikts den englischen Staatsmännern Disraeli, Derby und
Salisbury zur Last. F. Epstein.
Zur kirchlichen Verwaltung Rußlands 1907—1911. Aus der Korre-
spondenz des Erzbischofs Antonij.
Nach den ,,Poslédnija Novosti“ (Paris) Nr. 3094 v. 11. September 1929 ver-
öffentlicht die in Belgrad erscheinende russische Zeitschrift ,,Carskij Véstnik‘* in
ihrer Nr. 56 Briefe, die der Erzbischof von Volynien und Zitomir Antonij von
einer 1907 im Auftrage des Synod vorgenommenen Inspektion der geistlichen
Akademien an den Metropoliten von Kiev und Halič Flavian richtete und die
SE glaubliche sittliche Zustände in der Kazaner Geistlichen Akademie ent-
üllen.
Einen Beitrag zur geistlichen Diktatur Rasputins bildet ein an der gleichen
Stelle mitgeteilter Brief des Metropoliten Antonij vom 11. August 1911 über die
Vorgänge, die zu der der Religion hohnsprechenden Weihe des Mönchs Varnava,
des Kandidaten Rasputins, zum Bischof führten; das Schreiben besitzt besonderen
Wert, da Antonij damals Vorsitzender des Synod war. F. Epstein.
Ein Anschlag des russischen Flottenkommandos in der Ostsee gegen
die schwedische Flotte während des Weltkriegs.
Unter der Uberschrift: „Keine Phantasie, sondern Geschichte“ liefert in den
»Poslédnija Novosti“ (Paris) Nr. 3114 v. 1. Oktober 1929 der Kapitän II. Ranges
A. Lukin einen Beitrag zur Geschichte der russisch- schwedischen Beziehungen
während des Weltkriegs. Um militärischen Oberraschungen im Falle eines An-
schlusses Schwedens an die Mittelmächte vorzubeugen und die russische Herrschaft
im nördlichen Teil der Ostsee zu sichern, reifte (Juli 1915? In der Mitteilung
Lukins steht Juli 1914) beim Kommando der baltischen Flotte, Admiral Essen,
und dem Flagg-Kapitän der Operations-Abteilung, Kapitän I. Ranges, Koléak, der
Plan einer Flottendemonstration gegenüber den an der Nordspitze von Gotland
zusammengezogenen schwedischen Seestreitkräften. An den schwedischen Admiral
sollte in ultimativer Form das Ansinnen gestellt werden, die schwedische Flotte
für die Dauer des deutsch-russischen Krieges im Hafen von Karlskrona vor Anker
zu legen. Der Entwurf eines entsprechenden Schreibens, den Lukin im Wortlaut
mitteilt, wurde indessen von der dem Flottenkommando vorgesetzten Stelle, dem
Oberkommando der 6. Armee in’ Petrograd, nicht gebilli Anstatt der er-
betenen telegraphischen Zustimmung empfing der Flottenchet, der sich bereits
zu der Operation eingeschifft hatte, den Befehl, die Flotte unverzüglich zu ihrer
Basıs zurückzuführen. F. Epstein.
394
Der russisch - tiirkische Krieg zur See 1916.
Eine Veröffentlichung des Kontreadmirals M. I. Smirnov, des ehemaligen
Stabschefs der russischen Flotte im Schwarzen Meer: „Minnyja operacii u Bosfora
v. 1916 g.“ in den „Posl. Novosti“ (Paris) Nr. 8088 v. 81. August 1929 und die
Entgegnung des Kapitäns A. Lukin (ebda. Nr. 8085 v. 2. September 1929) be-
leuchten grell die Differenzen im russischen Flottenkommando über den Einsatz
der Minenleger zur Verseuchung des Bosporus. Dem Admiral Eberhard warf 1916
das Große Hauptquartier vor, er entfalte nicht genügend Aktivität in der Bl
des Bosporus. Er wurde durch Admiral Kollak ersetzt, der Smirnov von der
Ostsee als Flaggkapitin der Operationsabteilung des Stabes der Flotte im
Schwarzen Meer nach Sevastopol mitnahm. Lukin hält die kühne, von Smirnov
vorbereitete und in ihrer Wirkung sicher übertriebene Minenstreuung im EE
am 21., 22. und 28. Juli 1916, die ihr Ziel, den deutschen Einheiten die ahrt
ins Schwarze Meer unmöglich zu machen, nicht erreichte, für einen politischen
Fehler. Anstatt die deutschen Schiffe im Bosporus einzuschließen, wo die
„Goeben“ den Türken und Bulgaren gegenüber die Aufgabe der deutschen
Diplomatie wirksam unterstützt habe, hätte man zie immer wieder in die russi-
schen Minenfelder im Schwarzen Meer herauslocken müssen, denen z. B. vor
Odessa der türkische Kreuzer „Medshidie“ zum Opfer fiel.
F. Epstein.
Die Zeit der provisorischen Regierung 1917.
Mit Kerenskijs Darstellung der Vorgänge im Juli/August 1917 setzt
zich P. P. Jurenev, der von der Kadettenpartei aus der Regierung Kerenskijs
angehörte, in den „Poslkdnija Novosti“ (Paris) Nr. 8085 v. 8. August 1929 unter
dem Titel: „Po povodu vospominanij A. F. Kerenskago“ auseinander.
F. Epstein.
Die Ostchinesische Bahn.
Als Beitrag zur Geschichte der Ostchinesischen Bahn (Pro$loe i nastojal&ee
Vostotno-Kitajskoj 2. d.“) veröffentlichten die ,,Poslédnija Novosti“ Nr. 8048 v.
22. Juli 1929 eine mit dem Signum Ja. K —ij gezeichnete Unterredung mit A. I.
Putilo v, dem Direktor der Kanzlei Wittes und späteren Leiter der Russisch-
Asiatischen Bank. Die Erzählung Putilovs bietet bemerkenswerte Einzelheiten zur
Vorgeschichte des Baus der Ostchinesischen Bahn und der Besetzung von Port
Arthur und über Putilovs ergebnislose Verhandlungen mit dem Londoner Bot-
schafter der Sovetunion, Rakovskij, und dem Direktor der Staatsbank, Scheinmann,
in der ersten Zeit der Sovetherrschaft; danach hätten die Sovets, während
Putilov und die hinter ihm stehenden Kreise noch die Internationalisierung
der Bahn im Einvernehmen mit der bolschevistischen Regierung anstrebten, um
ihre Obernahme durch die Chinesen zu verhindern und eine für die Aktionäre
der Russisch- Asiatischen Bank zufriedenstellende Vereinbarung herbeizuführen,
gleichzeitig mit Tschang-Tso-Li über das Abkommen verhandelt, das die
Russisch. Asiatische Bank ihres Einflusses auf die Verwaltung der Bahn völlig
beraubte. F. Epstein.
Aus dem Merkbuch eines Archivars. Zur Biographie von D. I.
Pisarev (K biografii D. I. Pisareva). — Krasnyj Archiv Bd. 29.
S. 210—223.
Im Juni 1866 wurden vom Zensurkomitee die von Pavlenkov, einem Freund
und Verleger D. I. Pisarevs, herausgegebenen Werke des Kritikers beschlagnahmt,
weil man in einigen Artikeln regierungsfeindliche Sätze zu finden glaubte. In
diese Zeit fallen die hier veröffentlichten Briefe von Pisarev an Pavlenkov; zur
großen Entrüstung seines Freundes lehnte es Pisarev entschieden ab, ihm mit
Unterstützung und Rat während des Gerichts verfahrens zur Seite zu stehen. —
Die zweite Gruppe der Dokumente bezieht sich auf einen anderen Prozeß, der
bald nach dem Tode Pisarevs entstand: der treue Freund und Anhänger Pavlenkov
beabsichtigte ein Stipendium im Namen Pisarevs zu gründen und ließ zu diesem
Zwecke — ohne ES Erlaubnis der Regierung vorher einzuholen — eine große
Anzahl von Aufrufen drucken, die an die intellektuelle Jugend Rußlands ver-
6 NP 6 395
sandt werden sollten. Doch wurden diese Formulare bei einer zufälligen Haus-
suchung entdeckt, auch fand man das Manuskript der Rede, die vom iftsteller
Giers am Grabe des Kritikers gehalten wurde, und da in dieser Rede die Un-
sterblichkeit der Seele angezweifelt wurde, übergab man die beiden Freunde
Pisarevs dem Gericht.
Diese Dokumente — die „atheistische Grabrede“ und eine Verteidigungs-
schrift Pavlenkovs sind hier ebenfalls veröffentlicht — dienen zur Charakteristik
des Einflusses, den Pisarev, ein sehr begabter, frühvollendeter Publizist und
Popularisator der sozialen und naturwis senschaftlichen Theorien, auf die russische
Jugend auszuüben verstand. Eugenie Salkind.
Aus dem Merkbuch eines Archivars. (Iz zapisnoj knizki archivista).
— Krasnyj Archiv Bd. 31.
In den kirchlichen Kreisen vor der Revolution (V
cerkovnych krugach pered revoljuciej) (P. Sadikov, S. 204—218). Im Geheim-
archiv des Synods in Leningrad wurden 119 Briefe des Erzbischofs von Wolynien,
Antonij, an Flavian, den Metropoliten von Kiev gefunden, die einen Einblick in
die Stimmungen der Geistlichkeit vor der Revolution gewähren. Antonij — sein
weltlicher Name war Alexej Chrapovickij, er war ein Nachkomme des bekannten
Serketärs Katharina II. — hatte eine schnelle und glänzende Karriere gemacht:
1890 (87 jährig) wurde er zum Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie er-
nannt, 1902 war er bereits Erzbischof von Wolynien. Durch die ihm unterstellte
Geistlichkeit verstand er auf das einfache Volk im monarchistischen Sinne zu
wirken und rief eine Organisation ins Leben, die sich „Wahrhaft russische Männer“
nannte, monarchistische Demonstrationen und Pogrome veranstaltete. Nach der
Revolution von 1905 kamen auf Veranlassung des Erzbischof: Tausende von
Bittschriften, welche die Abschaffung des Freiheitsmanifestes vom 19. Oktober
erflehten, aus Wolynien in Petersburg an. Nach der Kriegserklärung ging Antonij
nach Charkov über und entfaltete dort eine rege Tätigkeit, hielt Reden vor den
abziehenden Truppen, verteilte Kreuze und Geschenke und versuchte, die Kri
stimmung im Sinne der Regierung aufrechtzuerhalten. Die Revolution fand i
an der Spitze der Geistlichkeit, die die Wiederherstellung des Patriarchats propa-
gierte; als gebildeter, kluger, von einflußreichen Freunden unterstützter Würden-
träger, rechnete Antonij auf den Erfolg seiner Kandidatur, — doch fiel die Wahl
auf einen anderen. Bald nach der Oktoberrevolution ist er nach dem Athos geflohen.
In den Briefen an den Metropoliten Flavian, die in die Zeit vom 81. Mai 1905
bis 6. Juni 1915 fallen, werden Probleme des kirchlichen und öffentlichen Lebens
behandelt, die den Erzbischof bewegten: die atheistischen Stimmungen der Jug
die Politik des heil. Synods, dessen Mitglied er war, der steigende Einfl
Rasputins, die Diskussion über die Entziehung des Kirchenlandes usw. Die Ant-
worten des anderen Korrespondenten sind uns leider nicht erhalten. — „Zur
Geschichte der Befreiung von Cernylevskij“ K istorii
osvoboidenija N. G. Cernylevskogo, S. 214—219) bringt Sadikov einen Brief des
Grafen P. P. Suvalov, des Flügeladjutanten des Caren, an N. I. Nikoladze, dessen
Antwort (Februar 1888) sowie ein anoymes Befreiungsprojekt, das wahrscheinlich
von den beiden verfaßt war. Nikoladze spielte in da Jahren die eigenartige
Rolle eines Vermittlers zwischen der Revolutionspartei „Narodnaja Volja“ (Volks-
wille) und der Organisation „Svjallennaja Družina“ (Heilige Schar i deren
Spitze Graf Šuvalov, ein links eingestellter Höfling, stand. Der „Volkswille” war
bercit, unter einigen Bedingungen Konzessionen zu machen: die wichtigste darunter
war die Befreiung von CernySevskij, der seit vielen Jahren als Verbannter in
Viljujsk (Sibirien) lebte. — Neue Materialien zur „Flucht von Sergej
Degaev“ (Pobeg Sergeja Degaeva) veröffentlicht S. Valk (S. 219—222). Sergej
Degaev ging in die Dienste der Polizei über, nahdem man ihn als Inhaber einer
Ge * verhaftet hatte. Da man ihn aber unmöglich befreien konnte,
ohne den Verdacht der Revolutionäre zu erwecken, inszenierte man eine „Flucht“,
die nicht nur den Revolutionären vollkommen glaubwürdig erschien, sondern au
bei den meisten Polizeibeamten, die in das Doppelspiel nicht eingeweiht waren,
keinen Zweifel erweckte. Die geschickt in Szene gesetzte „Flucht“ von
396
gab ihm die Möglichkeit, seme Tätigkeit in den revolutionären Kreisen fortzu-
setzen: durch den Verrat der Vera Figner an die Polizei wurde der Untergang des
„Volkswillen“ besiegelt. — „Aus der Geschichte des Kampfes mit
der sozialistischen Bewegung im carıstishen Rußland“
(Iz istorii bor’by s sozialistiteskim dviZentem v zarskoj Rossii) S. 228—24 bringt
N. Beljavskij interessante Details: die Einführung der Sozialistengesetze in Deutsch
land (1878) hatte eine Massenemigrierung der entlassenen deutschen Arbeiter nach
dem benachbarten Polen und Rußland zur Folge; diese Bewegung hatte die Auf-
merksamkeit des russischen Generalkonsuls in Danzig Baron Freitag von Loring-
hofen erregt, der in einem Brief (Juni 1878) an das Ministerium des Inneren auf
die Gefahr der sozialistischen Propaganda hinwies und den Vorschlag brachte, die
Einreiseerlaubnis nur Nicht-Sozialisten zu gewähren. Da die Befürchtungen des
Danziger Konsuls sich sehr bald als berechtigt erwiesen, wurde sein Projekt vom
Ministerium des Inneren an den russischen Botschafter in Berlin weitergegeben. —
„Der un veröffentlichte Brief von A. I. Herzen“ (Neopubliko-
vannoe pis mo A. I. Gercena, S. 224—26) ist von B. Kosmin im Archiv der
III. Abteilung in Abschrift gefunden worden: er ist an Cerkesov, einen bekannten
Revolutionär der Oer Jahre gerichtet, der im Auslande für die Geheimgesellschaft
„Land und Freiheit“ wirkte. In diesem Brief, der zeitlich in den Beginn des
polnischen Aufstandes von 1868 fällt, nimmt Herzen zur Politik der russischen
Regierung Stellung, die durch Verbreitung falscher und übertriebener Gerüchte
den nationalen Haß der russischen Soldaten zu entfachen suchte.
Eugenie Salkind.
A. Nikol's ka ja: „Slovo“ Mitr. Kievskogo Ilariona v pozdnejgej
literaturnoj tradicii. — Slavia 7, 3 (1928), S. 549—556.
N. macht es sich zur Aufgabe, die rhetorischen Formeln in den Schriften des
Ilarion in ihrer Wirkung auf die spätere Literatur des alten Rußland zu verfolgen.
Eingangs weist sic auf das Typische solcher poetischen Formeln überhaupt und auf
die Literatur darüber hin. Camblak und Turovskij z. B. haben viel von ihren
byzantinischen Vorgängern übernommen. Ilarion verdankt, ihrer Meinung nach,
zum guten Teil gerade diesen künstlerischen Zutaten die Wirkung seiner Schriften
auf Jahrhunderte. N. schickt einen Überblick über die vorhandenen Texte des
„Slovo o zakone i blagodati“ voraus und stüzt sich dabei auf die in Nikol’skijs
„Materialy dlja povremennago spiska russkich pisatelej* (S.P.B. 1906) enthaltenen
Angaben. Sie hält die älteste Redaktion (Nr. 591 der Moskauer Synodalbibliothek)
für die am meisten wertvolle für ihre Untersuchungen. Zur Erleichterung ihrer
Aufgabe erläutert sie zunächst die ganze Komposition des „Slovo“, um davon aus-
gehend die Anklänge daran bei der nachfolgenden Generation ersichtlich zu machen.
Teil 1 des „Slovo“ hat sichtlich auf Turovskij, Kliment Smoljatié usw. eingewirkt,
doch bleiben die Anregungen, die davon ausgegangen sind, zurück hinter denen
von Teil 2 und 8 der ersten Redaktion. Auf den aus diesen Teilen gewonnenen
Resultaten fußt auch zum größten Teil die vorliegende Arbeit. Die Anfangsworte
von Teil 8 und ihre rhetorischen Formeln lassen sich immer wieder als Muster
für spätere Schriften nachweisen, das älteste Denkmal, in welchem sie Nachahmung
gefunden, ist die „Zitie Knjaza Vladimira“. Emmy Haertel.
A. Nikol’skaja: „Slovo“ Mitr. Kievskago Ilariona v pozdnejsej
literaturnoj tradicii. — Slavia 7 ‚4 (1929), S. 853—879.
N. setzt die in Heft 7,8 begonnenen Untersuchungen iiber die Wieder-
holungen fort, die Ilarions Formel „Chvalit bo Rim veliki . . . Petra i Pavla.
in der großrussischen älteren Literatur gefunden hat. Anders war es in der
ukrainischen Literatur. Hier hatte der starke Einfluß Westeuropas auf die Hagio-
graphie dazu geführt, daß die ukrainischen Heiligenleben in Übersetzungen nach
Skarga bestanden oder daß überhaupt der Barockstil mit seinem Wortreichtum
und klassischen Reminiszenzen tonangebend wurde. Dahingegen griff die welt-
liche Poesie die Formeln Ilarions auf. N. zitiert zum Beispiel die Verse auf den
Tod des Hetmans Sahajdatnyj, die der Mohilevskische Kollegienprofessor Sakovie
verfertigt hatte.
397
Im weiteren untersucht N. die Anregungen, die auf die apii Literatur aus
Ilarions „Slovo“ ausstrahlten, wo es zur Nachfolge Christi auffordert. Besonders
lehrreich in dieser Hinsicht ist „Slovo al’noe o blagovernom velikom knjazě
Boris Aleksandrovičě“ des Eremiten Foma, aus dem: große Textstellen, synop-
tisch mit den entsprechenden bei Ilarion, hier zum Abdruk kommen. — Auch
der Schluß des 3. Teils von Ilarions „Slovo“ ist vielfach von der späteren Literatur
übernommen worden. Auch dafür folgen Beispiele. Die Beeinflussung durch
Ilarions Formeln in der polemischen und geschichtlichen Literatur ist zu ersehen.
Selbst solche späten Niederschriften wie die „istorija o Kazanskom Carstvě“ und
die „Sibirskaja letopis“ zeigen davon Spuren. Nachdem Verf. auch aus dieser
Art Literatur mehrfache Proben zitiert, bemerkt sie zusammenfassend, daß Ilarion
hauptsächlich kopiert worden ist in den russischen Heiligenleben, die schon im
15. Jahrhundert die Neigung hatten, lobrednerisch zu sein, doch war sein Erfolg
bei den Nachahmern aus dem 16. und 17. Jahrhundert noch größer. In der histori-
schen Literatur wurde er als Modell benützt, so oft die Eroberung neuer Gebiete
durch russische Herrscher geschildert wurde, namentlih wenn sie von „Un-
gläubigen“ bewohnt waren. Bei Erwähnung der Beobachtungen über größere oder
eringere Abänderungen, welche die Formeln Ilarions bei seinen Nachahm ern er-
Been haben, weist N. darauf hin, daß es an einer Geschichte des Stils der alt-
russischen Denkmäler noch fehlt, daß deshalb vielleicht die von ihr gemachten
Zusammenstellungen eines Tages nutzlos werden könnten. Für Studien auf dem
Gebiet der Veränderungen der dichterischen Formeln der russischen Sprache über-
uaupı dürften sie wohl-immer von Wert bleiben. Emmy Haertel
M. Cjavlovskij: Neuentdeckte PuSkinsche Manuskripte und
Materialien (Novye PuSkinskie rukopisi i materialy). — Krasny)
Archiv Bd. 31, S. 155—159.
Im Archiv der Fürsten Gortakov, Enkelkindern des Kanzlers A. M. Gor-
Cakov wurden bald nach der Revolution Autographe von Puškin und wertvolle
Materialien entdeckt, die sich jetzt im Leningrader Zentral-Historischen Archiv
befinden. Die Materialien lassen sich in 5 Gruppen gliedern: 1. Autographe von
Puškin; 2. Literarische Arbeiten; 3. Briefe; 4. Materialien, die sich auf Puškins
Tod beziehen und ö. Familienalben.
Von den Pu3kinschen Autographen ist in erster Linie das große Gedicht
„Der Mönch“ zu erwähnen und kleine Gedichte aus den Jahren 1814—17, deren
erste Fassung man bisher nicht gekannt hat. In Heften und Alben, auch auf
einzelnen Blättern fand man handschriftliche Kopien zahlreicher Gedichte von
A. S. PuSkin, K. N. Batjulkov, A. F. Voejkov, der Fürstin Z. A. Volkonskaja,
P. A. Vjazemskij, D. Davydov, Bar. A. A. Delvig, V. A. Zukovskij, A. D. Illi-
Cevskiy (Lyzeumsfreund von Puškin und Gortakov), V. L. Puškin, F. I. Tjutlev
und von anderen z. T. unbekannten Autoren. Der Briefwechsel enthält außer den
Briefen des Kanzlers Gortakov auch zahlreiche an ihn gerichtete Schreiben.
Darunter interessieren besonders die Briefe des Lyzeumsdirektors E. A. Engel-
hardt und der jungen Lyzeisten Lomonosov, Jakovlev, Malinovskij, Korsakov
u. a, die ein Licht auf die geistigen Interessen der Lyzeisten werfen. Die
Dokumente, die Puškins Tod betreffen, sind zum größten Teil bereits früher
bekannt gewesen. — Von den vier Familienalben, die im Archiv aufbewahrt
wurden, gehörten 3 dem Kanzler Gortakov und das vierte vermutlich seiner
Frau, der Fürstin Maria Alexandrovna. Ein Lyzeumsalbum mit Gedichten und
Sprüchen der Lyzeisten bringt auch eins der frühesten von den bisher bekannten
PuSkinschen Autographen,
Alle hier erwähnten Manuskripte und Dokumente werden bald zur Ver-
öffentlichung gelangen. Eugenie Salkind.
P. Ščegolev: Das Gedicht von A. S. Puškin „Der Mönch“ (Poema
A. S. Puškina „Monach“). — Krasnyj Archiv Bd. 31, S. 160—201.
Von der Existenz des PuSkinschen Gedichts „Der Mönch“, das in der
Lyzeumszeit entstand, erfuhr man zum erstenmal aus einem Artikel von Gaevskij
398
„Pulkin im Lyzeum und seine Lyzeumsgedichte“. Danach sollte Puškin etwa in
den Jahren 1811—18 (also 12—14 jabrig) eine erotische Dichtung verfaßt haben,
die er aber später auf den Rat seines Freundes Goréakov hin selbst vernichtet
hätte. Dieses angeblich vernichtete Werk ist nun im Familienarchiv der Fürsten
Gortakov unversehrt gefunden worden; über ein Jahrhundert lang wurde es
dort sorgfältig aufgehoben und gehiitet. Es ist begreiflich, daß selbst ein unreifes
jugendliches Werk des größten russischen Dichters bei seinem Erscheinen nicht nur
das Interesse der PuSkinisten, sondern auch das der weitesten Kreise hervor-
rufen mußte; man grollte dem unbegreiflichen Starrsinn der Fürsten Gor¢akov,
die außer diesem Dokument auch noch andere PuSkinsche Autographe der Offent-
lichkeit so lange vorenthalten hatten.
Die Dichtung zerfällt in 8 Lieder und zeugt von einem erstaunlichen Kom-
positionsvermögen, das freilich die Archaismen, manche stilistische Unebenheiten
und die kindliche Naivität des Ganzen nicht aufzuwiegen vermag. — Stegolev
unterwirft das Werk einer literarhistorischen Kritik und weist in erster Linie auf
den Einfluß von Voltaire hin, den P. in diesen Jahren besonders verehrte und
dessen dreiste Dichtung „La pucelle d' Orléans“ er ein „goldenes, unvergeßliches
Buch, einen Katechismus des Wies" nannte. An zweiter Stelle ist auch der
Einfluß Barkovs zu erwähnen, des Verfassers zahlreicher erotischer Gedichte, die
bis heute noch zu der Manuskriptenliteratur gehören.
Das neuentdeckte Gedicht trägt aber auch autobiographische Züge: das
Kloster ist hier Sinnbild des Lyzeums, der Mönh — ein Lyzeist, dem die er-
wachende Sinnlichkeit seltsame Bilder vorgaukelt.
Im 81. Bande des Krasnyj Archiv ist das erste Lied mit den PuSkinschen
Autographen veröffentlicht; der nächste Band bringt den Schluß der Dichtung.
pulkins Tod. F
»Vystrél Dantesa. Neizdannoe pismo o smerti Puškina“: — „Rul“
(Berlin) Nr. 2509 v. 26. Februar 1929.
L. Modzalevskij veröffentlicht einen am 80. Januar 1887, dem Tage
nach Puškins Tod, geschriebenen Brief des Grafen Dimitrij Nik. Tolstoj-
Znamenskij (1806—1884) an einen nicht ermittelten Adressaten; der Brief ist durch
Wiedergabe einer für den Dichter in höchstem Grade beleidigenden Äußerung des
Gesandten Baron Heckeeren für die Vorgeschichte des Duells von Belang. Vgl.
„Osteuropa“ 4 (1928—1929), 615 f. F. Epstein.
Eine neuaufgefundene Handschrift von Griboedovs „Gore ot uma“.
A.V.Milovidov: ,,Begitevskaja (Ekaterininskaja) rukopis „Gore
ot uma“ A. Y Griboedova: — Tul’skij kraj Nr. 13 = 1929 (April)
Nr. 1, S. 54—57 —
macht nähere Mitteilungen über cine unlängst aufgefundene Abschrift von
Griboedovs „Gore ot uma“, die von der Schwester von Griboedovs Freund Stepan
Nikitič Begičev angefertigt worden war. Das Manuskript, auf das Milovidov
zuerst in einem Beitrag zum Sammelwerk „Po Tul’skomu kraju“ (Tula 1925),
S. 586—588: „A. S. Griboedov v s. Ekaterininskom“ aufmerksam machte, weist
zahlreiche Korrekturen von Begitevs Hand auf, die auf einen Vergleich der
Abschrift seiner Schwester mit der noch nicht ins Reine geschriebenen Handschrift
Griboedovs zurückgehen. Mitgeteilte Beispiele lassen den Wert der neuen
Variante zu den bisher bekannten Fassungen der berühmten politischen Satire
erkennen: der Fund dürfte eine Revision der letzten maßgebenden Drucke, der
1918 von N. K. Piksanov besorgten Akademie-Ausgabe und der von der Theater-
Abteilung des Volkskommissariats für Bildungswesen veranlaßten Ausgabe unter
P. L Gnedié (1919), zur Folge haben. F. Epstein.
A. Derman: Eine der Cechovschen Richtlinien. (Odna iz
Rn Magistralej.) — Novyj Mir, Nr. 9, September 1929,
_ „In allen Biographien von Čechov wird, wenn von seiner inneren Entwicklung
die Rede ist, sein Brief an Suvorin aus dem Jahre 1899 zitiert: „Der Schriftsteller
399
braucht vor allen Dingen Reife; dann aber auch das Gefühl der persönlichen
Freiheit; früher ich diese Gefühle. nicht gekannt, sie wurden durch meinen
Leichtsinn, Nachlassigkeit und Mangel an Achtung für die Arbeit mit Erfolg er-
setzt. Was die adligen Schriftsteller von der Natur umsonst bekamen, das mußten
die Raznolincen mit dem Preis ihrer Jugend erkaufen.“ Unter ,,Raznoti
versteht hier Cechov nicht das intellektuelle Proletariat, sondern vielmehr
Kleinbürgertum, dem er ja selbst, Sohn eines früheren Leibeigenen, in seiner
Jugend von der Gedanken- und materiellen Armut der elterlichen Verhältnisse
geplagt, angehörte. Es bedurfte für Cechov eines langwierigen Prozesses, um sich
von den Spuren der „Sklavenpsychologie“, wie er sie selbst bezeichnete, freizu-
machen. Darum galt sein Haß ın reiferen Jahren ın erster Linie der Autorität,
in der er die Quelle aller Obel erblickte, — sei es die Autorität der Obrigkeit,
der Kirche, der Familienväter oder der Wissenschaft. Dieser Kampf gegen die
5 im Namen der Menschenwürde läßt sich in allen Werken vs ver-
olgen.
Eine parallele Erscheinung dazu bilder das Streben von Cechov, die
literarische Tradition, die in Routine auszuarten drohte, zu bekämpfen. Er bricht
mit dem literarischen Stil der vorhergehenden Turgenevschen Epoche ab, die aus-
führliche Biographien der Helden, lange Perioden und eine gewählte Sprache vor-
schrieb, und ist ständig bemüht, durch eine unerwartete Wendung, einen frische:
und zugleich kühnen Vergleich dem Leser, wie er sagt, „eins zu versetzen“.
Handlung muß immer neu sein, schreibt er an seinen Bruder Alexander, . . hüte
dich vor schönem Stil. Vergiß nicht, daß Liebeserklärungen, Untreue von
Frauen und Männern, Witwen-, Waisen- und andere Tränen nur allzu oft ge-
schildert wurden.“ In der Literatur der 90 er Jahre tritt Cechov als Novator
auf: seine kurzen Erzählungen und besonders seine Dramen, die zuerst keine
freundliche Aufnahme bei dem Publikum fanden, zeugen von der Unabhängigkeit
seines Schaffens. Eugenie Salkınd.
Meyerhold. l
Jfr.: Teatr. Meyerholda. (Das Theater Meyerholds.) — Wiadomości
Literackie 1929, Nr. 29.
Übersicht über die Tätigkeit des 1920 zu Moskau begründeten, von Meyer-
hold nach seinen bekannten Grundsätzen geleiteten staatlichen Theaters, für das die
Stücke von Majakovskij, Tertijakov, Erenburg, Erdmann, sowie die Neu-
bearbeitungen älterer klassischer Stücke wie der von Gogol („Revisor“) und
Ostrovskij, also ein Programm des Realismus etwa im Sinne des Novyj Lef
charakteristisch sind. Otto Forst-Battaglia.
F. Roginskaja: Moskauer Kunstleben. (Chudożestvennaja žizn’
Moskvy). — Novvj Mir. Nr. 8—9, 1929, S. 302—314.
Die zahlreichen Moskauer Künstlervereinigungen haben, wie alljährli
diesem Herbst Ausstellungen veranstaltet. Die älteren Künstler fan sich in
der Vereinigung ,,Zar-Zwet zusammen, einer Verzweigung der vor der Revo-
lution bekannten ästhetisierenden Gruppe „Mir Iskusstva“ („Die Welt der Kunst“),
an deren Spitze einst Djagilev stand. Die Arbeiten der führenden Maler di
Gruppe — Bogaevski, Sacharov u. a. — lassen ihre geistige Verwandtschaft mit
der „Welt der Kunst“ erkennen; die graphische Abteilung Ausstellung ist auf-
schlußreicher als die malerische und weist keine organische Verbindung mit der
letzteren auf.
Die Ausstellung der Vereinigung „OMH“ (Gesellschaft der Moskauer
Künstler) macht auf den Besucher den Eindruck einer akademischen Ruhe und Ge-
schlossenheit; die lyrische Landschaft, „Stimmungsbilder“ herrschen hier vor.
Diese einst revolutionäre Gruppe „Bubnovyj Valet“ (Coeur-Bube) hat im Laufe
der letzten Jahre eine Evolution durchgemacht, und nichts erinnert jetzt an die
Sturm- und Drangperiode der 20 er Jahre. Charakteristisch für diese Wandlung
sind die Bilder von Kuprin, der zu jener Künstlergeneration gehört, die von den
Ereignissen der Revolution innerlich am schwersten 5 wurde: in den
„Krim-Landschaften“ hat Kuprin einen Stil gefunden, der seinem sanften
400
Lyrismus entspricht. — Bis vor kurzer Zeit hat die „OMH“ einen nicht zu unter-
ätzenden Einfluß auf die junge Künstlergeneration ausgeübt; jetzt kann von
einem Einfluß kaum noch die Rede sein. Diese Erscheinung bringt man mit der
letzten Ausstellung der französischen Künstler in Moskau in Zusammenhang, die
nur zu klar gezeigt hat, daß die „OMH“, die in erster Linie als Träger der fran-
zösischen Kunst galt, in Wirklichkeit jegliche Fühlung mit ihr verloren hat.
Die Vereinigungen „ROST“ und „OHO“ (Gesellschaft der sozialen Kunst)
haben bei dem Arbeiterpublikum, das ihre Exponate besichtigte, wenig freund-
liche Aufnahme gefunden. Der Eindruck der absoluten Prinzipienlosigkeit in der
Nachahmung verschiedenster Muster ist in der Tat wenig erfreulich.
Als auf eine positive Errungenschaft des vergangenen Jahres darf auf die
sichtliche Reife der jüngeren Künstlergeneration hingewiesen werden. Ihre Ver-
einigung „ACHR“ (Assoziation der Künstler-Arbeiter) muß bei der Betrachtung
des Kunstlebens als eine wichtige Erscneinung mitgenannt werden. Die erste
kollektive Leistung dieser Vereinigung — die Bemalung der Kasernen von
DserZinski — bedeutet, als erster Versuch einer monumentalen Freskenmalerei,
einen Schritt vorwärts. Die Arbeiten der Künstlerjugend werden auch durch ihre
chologische und soziale Tendenz gekennzeichnet: zweifellos sind die Bilder von
Schinnsche und Rjangina, die einzelne Szenen und Typen des heutigen Rußlands
darstellen, den Massen zugänglicher als manche an sich frische und originelle
Arbeiten, denen abstrakte Ideen zugrunde liegen.
Die Plastik ist weniger reich vertreten und macht keinen einheitlichen Ein-
druck. Die Gruppe von Merkurov „Begräbnis des Führers“ wäre als ein ernster
Versuch einer monumentalen Plastik zu nennen. Eugenie Salkind.
V. Peretc: „Kljatva c zemlej“ s častuške. — Slavia 7, 4 (1929),
S. 919—921.
Unter den groß russischen Castuiki, die im allgemeinen neue, dem Alltags-
leben entnommene Stoffe besingen, gibt es auch vereinzelt Nachklänge sehr alter
Motive. In seiner umfänglichen CastuSkisammlung, die in den Jahren 1888—1894
entstanden ist, hat P. eine Castulka aus einem Dorfe des Kreises Tichvin aufge-
zeichnet, die von dem alten Gebrauch in diesem Kreis, beim Schwören Erde in den
Mund zu nehmen, Reminiszenzen enthält. Von demselben Gebrauch singt eine
Castulka aus dem „Sbornik velikor. &astukek“, herausgegeben von E. Eleonskaja.
P. führt über das Bestehen dieses Gebrauchs von alters her noch anderweitige
Literatur an. Bylinen und Märchen berichten von ihm. Afanas’ev bezeugt auch
für die Ukraine sein Vorhandensein mit dem Unterschied, daß dort beim Schwur
die Erde geküßt wurde. Schließlich führt P. noch Literatur an für das Vor-
kommen ähnlicher Gebräuche auch im Veiß russischen. Hier hat also eine
Castulka uralte Oberlieferungen stofflich verwertet. Emmy Haertel.
Elena Eleonskaja: Vredonosnye zagovory. — Slavia 7, 4 (1929),
S. 934—939.
Unter der großen Menge nutzbringender Beschwörungsformeln im Russi-
schen gibt es nur ganz wenige, die einem anderen Schaden bringen sollen. Die
hier genannten drei derartigen Formeln sind in der Sammlung von Sreznevskij
zu finden (?) unter Nr. 5,12 und 104. Alle drei stehen in Beziehungen zu Ver-
storbenen, denen übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden. Sie werden unter
allerhand Zaubergebräuchen vorgenommen, unter denen als wichtigster das Er-
raffen von Erde vom Grabe eines ohne Beichte Verschiedenen ist, dessen Name
dabei genannt werden muß. Weiß man ıhn nicht, so soll man den Toten mit
„Ivan“ anrufen. Nach Erwähnung der Unterschiedlichkeit in Zweck und Anwen-
dung dieser drei Zauberformeln hebt Verf. die Wichtigkeit hervor, die in der
Volksmeinung dem Bestattetwerden nach der vorgeschriebenen kirchlichen Norm
beigemessen wurde. Der Tote, der eine solche Bestattung nicht gehabt, bleibt ein
efährliches Werkzeug für den, der anderen Unheil anzaubern will. Daher das
treben, solchen Toten durch ein „&esnoj obed“ usw. Ehren zu erweisen, an
seinem Grabe die nötigen poklony vorzunehmen. Dadurch wird auch seiner Seele
geholfen. Emmy Haertel
401
Weißrußland
J. Vitkouski: Die revolutionären Zirkel der 70er Jahre in
Weißrußland. — Polymja 1929. Band 4.
Verf. beschäftigt sich mit den revolutionären Zirkeln der 70 er Jahre in
Weißrußland und deren Verhältnis zur Bewegung der Volkstümler (Narodniki).
Verf. vertritt die Ansicht, daß die revolutionären Zirkel der 70 er Jahre, die in
Weißrußland bestanden haben, nicht ohne weiteres der zeitgenössischen Volks-
5 zuzurechnen sind. Vielmehr weisen sie eine durch die spezi-
fischen Verhältnisse Veißrußlands bedingte Eigenart auf, die der Verf. heraus-
zuschälen versucht. An Hand von Archivmaterialien gibt der Verf. eine ein-
gehende Charakteristik der einzelnen revolutionären Zirkel in Mohilev, Wilna
und Minsk und gelangt zu folgenden Ergebnissen: 1. Ein Teil der Zirkel kann
ohne weiteres der Volkstümlerbe wegung zugerechnet werden — sowohl dem
Programm, wie der Taktik nach unterscheidet er sich in nichts von der zeit-
enössischen gesamtrussischen Volkstümlerbewegung. 2. Andere Zirkel weisen
okale nationale Einflüsse auf, und zwar teils polnische (Vilna), teils jüdische.
In diesen Zirkeln werden Momente nationaler Emanzipation in den Vorder-
rund gerückt, sowie Probleme des Kulturkampfes (antiklerikale Bewegung).
. Obwohl die Zirkel in den 70 er Jahren bestanden haben und Weißrußland
kein Industriestaat ist, lassen sich Verbindungen einzelner Zirkel (Minsk) mit der
zeitgenössischen Varschauer sozialistischen Bewegung feststellen, die von der
Partei „Proletariat“ inauguriert war, deren Programm eine Mischung der Lehren
der Volkstümler und marxistischer Grundsätze darstellte.
Gregor Wirschubski.
L. Akingevié: Das weißrussische Kosakentum in der ukrainischen
Historiographie. — Polymja 1929. Heft 6.
Verf. hat bereits 1927 in der Zeitschrift „Polymja“ eine Arbeit über die
weißrussische Bauerbewegung im 17. Jahrhundert und deren Zusammenhänge
mit der von Bagdan Chmelnicki inaugurierten zeitgenössischen ukrainischen Be-
wegung veröffentlicht. Verf. ist der Ansicht, daß dieser Epoche große Be-
deutung zukommt und, daß sie bisher von der weißrussischen Historiographie
vernachlässigt worden ist. In der weißrussischen Geschichte sind die Epochen des
Großfürstentums Litauen und der Lubliner Union eingehend bearbeitet worden.
Dagegen fehlte es in bezug auf andere wichtige Epochen an Vorarbeiten, so daß
die Zeit für eine zusammenfassende soziologische Synthese noch nicht gekommen
sei. In dieser Hinsicht komme der großangelegten Geschichte Weißrußlands von
U. Pičeta bahnbrechende Bedeutung zu. Auch über die Geschichte Weißrußlands
nach der Lubliner Union sind die Arbeicen sehr spärlih. Erwähnt seien die
Monographien von Lapo und die Untersuchungen von Družčyc. Gänzlich ver-
nachlässigt in der weißrussischen Historiographie dagegen: ist die Bauernbewegung
in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts.
Verf. stellt die Arbeiten ukrainischer Historiker zu dieser Frage zusammen.
Es sei begreiflich, daß gerade dieser Abschnitt der weißrussischen Geschichte für
die ukrainischen Historiker von besonderem Interesse war. Erstens stammte die
Idee des weißrussischen Kosakentums aus der Ukraine und ferner wurden von
den Weißrussen große Hoffnungen auf das ukrainische Kosakentum und dessen
Führer gesetzt.
Die erste Arbeit über das weißrussische Kosakentum wurde 1896 in
Lemberg in den „Zapiski naukovoho tovarystva im. Ševčenka“ (Band 14,
S. 1—30) veröffentlicht. Die Arbeit „Die Kosaken in Weißrußland in den
Jahren 1654 — 1656“ stammte aus der Feder von Ameljan Terlecki, einem Schüler
von M. HruSeuski, der damals Professor an der Universität in Lemberg war.
Indessen begnügt sich Terlecki mit einer Schilderung des Feldzugs der ukrainischen
Kosaken in Weißrußland 1654—1656, ohne auf den aktiven Anteil der Weiß-
russen an dieser Bewegung näher einzugehen. Verf. ist der Ansicht, daß er von
dem Organisator der weißrussischen Kosaken Paklonski ein schiefes Bild ent-
402
wirft. Terlecki sieht nur zwei Faktoren in dem weißrussischen Gebiet: auf der
einen Seite die ukrainischen Kosaken, denen die weißrussischen Bauern sym-
pathisieren, auf der anderen Seite die Moskauer Zarenregierung, der sie nicht
sympathisieren. Dagegen fehlt gänzlich das weißrussische Kosakentum als aktiver
Faktor der Ereignisse. Vielmehr erscheint in der parser one von Terlecki der
Organisator des weißrussischen Kosakentums Paklonski lediglich als gehorsamer
Diener des Moskauer Caren.
Verf. ist der Ansicht, daß Paklonski in Wirklichkeit bestrebt war, cin weiß-
russisches Kosakentum zu schaffen, um das von Weißrussen besiedelte Gebiet zu
beherrschen. Die Arbeit von Terlecki werde in Anbetracht dessen, daß die ein-
schlägige Frage noch sehr wenig behandelt worden ist, auch in Zukunft als Aus-
gangspunkt für weitere Forschungen dienen, jedenfalls aber bietet sie Anlaß zu
vielen Kontroversen und wird wohl in mancher Hinsicht berichtigt werden
müssen.
ie meisten Irrtümer von Terlecki sind auf seine Zugehörigkeit zu der
Schule der ukrainischen Wissenschaft zurückzuführen, die geneigt war, das
ukrainische Kosakentum aus völkischen Gründen zu idealisieren. Diese natio-
nalistische Einstellung zwang die ukrainischen Historiker, nur das ukrainische
Kosakentum gelten zu lassen und im weißrussischen Kosakentum nicht eine selb-
ständige nationale und soziale Bewegung, sondern lediglich Agenten Moskaus
zu erblicken.
Weitere Beiträge zu der einschlägigen Frage bieten: A. Vastokov in der
Kiever Zeitschrift „Kievskaja starina“ (1890, Heft 1) in der Abhandlung „Das
Schicksal von Vyhovski und Ivan Nedai“, V. Lipinski in dem 1912 erschienenen
Buch „Z dziejów Ukrainy“ und I. Krypjakeviö in seinem Vortrag „Der Frei-
hafen in Alt-Bychov im Jahre 1657". r Artikel von Vostokov enthält rein
tatsächliche Angaben über das Schicksal einzelner Führer der Kosakenbewegung
und wirft keinerlei grundlegende Probleme auf.
V. Lipinski gehört gegenwärtig jenen Kreisen der ukrainischen Emigration
an, die zu den Anhängern des Hetmans Skorapadski gehören und vertritt auch
als Historiker die Interessen der ukrainischen szlachta. Lipinski führt in seinem
zitierten Werk (das 1920 in Wien in zweiter Auflage in ukrainischer Sprache er-
schienen ist) aus, daß der weißrussische Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts
oppositionell und separatistisch gesinnt war, und schildert das Ringen der Ukraine
und Moskaus um Weißrußland.
Paklonski, der die Hoffnung verloren hatte, Weißrußland mit der Hilfe
Moskaus zu erlösen und bereits früher mit den Ukrainern gebrochen hatte, ging
schließlich zu den Polen über. Im Gegensatz zu Terlecki, der eine idealistische
Erklärung des Feldzuges der Ukrainer nach Weißrußland gibt, führt Lipinski
für diesen Feldzug praktische Motive an. Seiner Auffassung nach wollte die
griechisch-katholische Geistlichkeit alle griechisch-katholischen Territorien Polens
vereinigen.
Die junge ukrainische marxistische historische Wissenschaft hat sich mit dem
ukrainischen Feldzug nach Weißrußland noch nicht kritisch beschäftigt.
Als Vorarbeit wäre der zitierte Vortrag von Krypjakevi¢ zu werten, den
dieser in einer Sitzung der historischen Sektion der Allukrainischen Akademie der
Wissenschaften gehalten hat. In diesem Vortrag führte Krypjakevié den ukrai-
nischen Feldzug nach Weißrußland auf wirtschaftliche Gründe zurück: durch den
Bruch mit Polen war die Ukraine von dem alten Weg zur Ostsee abgeschnitten.
Da auf der anderen Seite auch das Schwarze Meer der Ukraine versperrt war,
so versuchte sie sich einen Weg zur Ostsee durch Weißrußland zu bahnen. Das
war der wirkliche Grund des ukrainischen Feldzugs nach Weißrußland. Auf
diesem Weg zur Ostsce stieß die Ukraine mit Moskau zusammen, das gleichfalls
durch Weißrußland sich einen Weg zur Ostsee bahnen wollte. Das Ringen der
beiden Mächte miteinander und mit Polen endete zunächst damit, daß weder
Moskau, noch die Ukraine sich einen Ausweg zur Ostsee zu bahnen vermochten.
Verf. hält diese Theorie von Krypjakevié für richtig und meint, daß weitere
Forschungen noch die strittigen Punkte zu klären haben: sei es in der Form
von wissenschaftlichen Monographien oder der Publikation von Archivmaterialien.
Gregor Wirschubski
403
Vit. Vols ki: Über die nationale Literatur der weißrussischen
Tataren. — Uzvyla, 1927, kn. 1, S. 134—146. l
Verf, behandelt die höchst merkwürdige Erscheinung des Vorhandenseins der
Reste der Literatur der in Weißrußland angesiedelten Tataren. Diese in Hand-
schriften erhaltene Literatur zeichnet sich dadurch aus, daß der weißrussische Text
in arabischer Schrift aufgezeichnet worden ist. Die ersten Nachrichten über die
Ansiedlung von Tataren in Weißrußland stammen aus der Zeit der litauischen
Großfürsten Olgierd und Gedimin.
Die Tataren übernahmen die Sprache der weißrussischen Ortsbe völkerung.
vergaß en ihre alte türkische Sprache, blieben indessen ihrem mohammedanischen
Glauben treu. Mit dem mohammedanischen Glauben erhielt sich auch dessen
rituelle arabische Schrift, Türken dem Blute nach, Mohammedaner laut ihrer
Konfession, „Litauer“ laut ihrer Staatsangehörigkeit und Weißrussen ihrer Sprache
zufolge, verwandten die weißrussischen Tataren ihre rituelle arabische Schrift für
die Aufzeichnung ihrer weißrussischen EC Es liegt hier ein ähnlicher
Vorgang vor wie bei den Juden, die ihre rituelle hebräische Schrift für ihre deutsch-
jüdische Umgangsspchare verwenden.
Dem Inhalt nach sind für die Wissenschaft am wertvollsten jene Werke der
arabisch-weißrussischen Literatur, die sich auf die Religion beziehen: Korane,
Chamalilas und Kitabe.
Die Korane der weißrussischen Tataren enthalten den üblichen arabischen
Text mit Interlinearübersetzung in weißrussischer oder polnischer Sprache. Auch
die Übersetzung ist in arabischer Schrift aufgezeichnet, Die Chamalilas sind ge-
wöhnliche mohammedanische Gebetbücher. Dabei sind die Gebete in arabischer
Sprache, die Texterklärungen dagegen in weißruss. Sprache. Man finder gelegent-
lich in den Chamalilas Texterklärungen und Übersetzungen der Gebete auch in der
vergessenen türkischen Ursprache der Tataren. Von ganz besonderem Wert für
die weißruss. Sprachforschung sind indessen die Kitabe. Al’-Kitabe oder Ai-Kitabe
sind Sammlungen, die neben Koranauszügen, Gebeten, religiösen Belehrungen
auch die Beschreibungen religiöser Zeremonien enthalten, religiöse Dichtungen,
Beschwörungsformeln für Krankheitsfälle, Rezepte, historische llen, Aphoris-
men der Lebensweisheit, Legenden, Märchen und dergleichen.
Alle diese Werke haben sich in Handschriften erhalten. Der greise Kopist
pflegte bei der Abschrift von sich aus einiges hinzuzufügen, was seiner Meinung
nach für die Nachwelt von Nutzen sein könnte, Der vom Verf. entdeckte Kitab
enthält neben dem üblichen Inhalt ein kurz gefaßtes Lehrbuch der alt-tiirkischen
Sprache und ein weißruss.-gürk. Wörterbuch. Die Bedeutung dieser Werke für
das Studium der Sprache, der Ethnographie und Geschichte Weißrußlands im frühen
Mittelalter ist ungeheuer. Als Beispiel, sei erwähnt, daß der bekannte Historiker
Narbut in einem Kitab die Erklärung des bis dahin unklaren Ausdrucks „Basma“
efunden hat. Die Gelehrten waren sich bis dahin über die Bedeutung dieses
Ausdrucks nicht einig. Dem Kitab entnahm Narbut, daß „Basma“ den Wachs-
abdruck des Fußes des Khans der Goldenen Herde bedeutete — des Symbols der
obersten Herrschaft des Khans über Moskau. In Weißrußland sind diese Kitabe
über das ganze Land verbreitet und werden als Familienschätze gehütet. Die
letzten Abschriften sind Ende des 19. Jahrh. angefertigt. Ein Kitab aus dem
16. Jahrh. wurde von Ivan Lutzkevié 19%, der zweitälteste Kitab vom Verf, ent-
deckt, der die Auffassung vertritt, daß er aus der Mitte des 17. Jahrh. stammt.
Das 17. Jahrh. ist die Epoche des kulturellen Niedergangs Weißrußlands.
Daher ist die Sprache des vom Verf. entdeckten Kitabs an Polonismen reich, die
damals als Kennzeichen des „guten Tons‘ und vorzüglicher Bildung galten. Verf.
bringt als Muster der nationalen Literatur der weißrussischen Tataren ein diesem
Kitab entnommenes Märchen, das typisch für die Märchenwelt des Orients ist: e
stellt ein Weisheitsturnier zwischen einer Prinzessin und dem Bewerber um ihre
Hand dar, das ın der Form des Rätselratens verläuft. Verf. hebt die Merkmale
des mahammedanischen Fatalismus hervor, die klerikale Tendenz und das weiß-
russische Kolorit. Das ursprüngliche orientalische Sujet wurde der lokalen weiß-
russischen Bearbeitung unterworfen.
404
Es muß hervorgehoben werden, daß die weißruss. Tataren ihrem Blute nach
keine reinrassigen Türken waren. Vielmehr wurde das ursprüngliche türkische
Blut durch Mischehen mit der weißrussischen Ortsbevölkerung verdünnt. Türken
waren sie nur dem männlichen Stamme nach, während ihre Frauen Weißrussinnen
waren. Diese Vermischung des Blutes förderte die Assimilierung der weiß-
russischen Tataren im Laufe der Jahrhunderte. Verf. bezeichnet diese Tataren
als „weißrussische Tataren“, da sie in ihrer gewaltigen Mehrheit auf ethnographisch
weiß russischem Gebiet lebten. In der Wissenschaft hat sich indessen bis heute
der Ausdruck „litauische Tataren“ erhalten, da es sich staatsrechtlich um litauisches
Gebiet handelte. Auch die Nachkommen jener Tataren bezeichnen sich selbst als
„litauische Tataren“. Erwähnt sei noch, daß eine genaue linguistische Analyse
des von Ivan Lutzkeviè entdeckten Kitabs der Lektor der weißrussischen Sprache
an der Universität Wilna, J. Stankievil, in seiner Doktorarbeit gegeben hat.
Vladimir Samojlo.
Ciška Gartny: Vor zwanzig Jahren. — Polymja 1929. Kn. 5.
Der veiß russische Dichter Zylunovik, der unter dem Pseudonym Cilka
Gartny schreibt, schildert hier einen interessanten Abschnitt aus seinem Werde-
gang. Bereits in der Volksschule fiel Zylunovik durch seine Aufsätze auf. So
and er denn früh den Weg zur schriftstellerischen Betätigung. Als Gerber-
lehrling liest er seinen Arbeitskollegen seine Gedichte vor, die allgemein An-
klang finden. Indessen übt der junge Dichter selbst an ihnen die schärfste Kritik,
denn gemessen an den Werken seiner Vorbilder Nekrasov, Lermontov, Kolcov
scheinen sie ihm recht unbeholfen und mangelhaft.
Schwierigkeiten bietet ihm auch die Sprache: seine ganze Umgebung spricht
weißrussisch, die Schriftsprache ist aber großrussish. Erst 1905 gelangen weiß-
russische Schriften in seınen Heimatsort Kopyl: es sind revolutionäre Aufrufe.
Indessen sind die Schriften in weißrussischer Sprache recht spärlich. Erst 1908
lernt Verf. die Wilnaer weißrussische Zeitung „Nala Niva“ kennen, die in ihm
eine Revolution bewirkt: sein weißrussisches Nationalbewußtsein erwacht. Nicht
nur der Inhalt, sondern das Vorhandensein einer Zeitung in weißrussischeı
Sprache macht auf ihn den allerstärksten Eindruck. Früher schien es ihm selbst-
verständlich, daß gebildete Leute großrussisch sprechen, während die weißrussische
Sprache die Sprache des einfachen Mannes war. Nunmehr wird er zum Propa-
andisten der weißrussischen Tageszeitung. Er findet Anklang. Die Sprache des
Blattes ist seinen Landsleuten verständlicher, als die der Moskauer und Peters-
burger Blätter, die sich in die weißrussische Provinz verirrten. Ferner berichtet
es über lokale Verhältnisse, für die die Moskauer und Petersburger Zeitungen
wenig Interesse hatten. Er abonniert selbst die Zeitung „Nala Niva“ und liest
sie seinen Arbeitskollegen vor.
Den stärksten Eindruck machen auf ihn Gedichte in weiß russischer Sprache.
Er beschließt selbst Gedichte in weißrussischer Sprache zu schreiben, schickt sie
der Zeitung mit wechselndem Erfolge ein. Besonders fesseln ihn die Gedichte
von Janko Kupala und Jakub Kolas. Namentlich Jakub Kolas, der wegen Be-
teiligung an revolutionären Umtrieben gerade eine dreijährige Festungshaft ver-
büßt, wird zu seinem erkorenen Lieblingshelden.
So beschließt denn der junge Gerbergehilfe, Wilna aufzusuchen, um die
Mitarbeiter der Zeitung „Nala Niva“, die auf ihn einen so großen Einfluß aus-
geübt hat, persönlich kennen zu lernen, mit ihnen Fühlung zu nehmen. Im
Stillen hegt er die Hoffnung, eine Anstellung bei der Redaktion zu finden. In
Wilna erwartet ihn eine Enttäuschung. Die Redaktion der Zeitung „Naša Niva“,
die ihm aus der Ferne als ein national- revolutionäres Machtzentrum vorkam,
enthüllt sich als ein Unternehmen, das vom Pump sein Dasein fristet, dessen
Redakteure in den ärmlichsten Verhältnissen hausen. Auf eine Anstellung be-
steht keinerlei Aussicht. Die Diskussionen mit den Redakteuren des Blattes ver-
laufen nicht zur Zufriedenheit des Verf., der sich zur Sozialdemokratie bekennt
und bei ihnen keine einheitliche sozialdemokratische Weltanschauung vorfindet.
So verläßt er denn nach einem kurzen Aufenthalt Vilna und tritt seine Vande-
rungen an, die ihn als Gerbergehilfen nach Smorgon, Minsk, Bobruisk, Poltava
405
und Mohilev führen. Verf. schildert sehr lebhaft die Kreise, mit denen er
dabei zusammenkommt, deren ng my u. dgl. Die Erinnerungen des promi-
nenten weißrussischen Dichters, dessen 20 jähriges Jubiläum 1929 in- und außer-
halb Weißrußlands gefeiert wurde, bieten einen interessanten Beitrag zu seinem
persönlichen Werdegang und enthalten zugleich einen charakteristischen Aus-
schnitt des Lebens Weißrußlands nach der Revolution von 1908.
Gregor Wirschubski.
Prof. M. Piotuchovit: Zum 20 jährigen Jubiläum der literari-
schen Tätigkeit von Ciika Gartny.— Polymja 1929. Heft 1.
‚, Verf. schildert den Lebensweg und die literarische Tätigkeit dieser als
Dichter und Politiker gleich interessanten und für den weißrussishen Kommu-
nismus nationaler Prigung repräsentativen Persönlichkeit. Zylunovi stammt aus
einer armen Landarbeiterfamilie. Bereits als 11 jähriger Junge mußte er sich selbst
als Dorfhirt sein Brot verdienen. Bereits in diesem Alter zeigte er sich für die
Dichtung empfänglih. Die Umwelt war seinen dichterischen Bestrebungen un-
günstig und stand ihnen teils feindlich, teils gleichgültig gegenüber. Heimlich
schrieb er die Gedichte von Nekrasov ab und lernte sie auswendig. So
wurde der russische Dichter — der große ,,petalnik gorja narodnago“ — zum
Paten des literarischen Schaffens des jugendlichen weißrussischen Dorfhirten.
Der Lebensweg führt Zylunovié von den Weiden seines Heimatdorfes in die
enge und Pamung Werkstatt des städtishen Gerbers. Es folgen Wanderjahre,
in denen Žylunovič das. Leben der Landstraße, die Wartehallen der Bahnhöfe,
die Asyle für Obdachlose kennen lernt. Später wird er Fabrikarbeiter in Peters-
burg. Dann verfällt er der Arbeitslosigkeit. Es braust der Sturm der Revolution
heran, der 1 in die vordersten Reihen der Kämpfer rückt. Aktiver Teil-
nehmer des Bürgerkrieges, erster Präsident des Rates der Volkskommissare Weiß-
rußlands — das sind die weiteren Lebensetappen dieses Dichters. Ein Mann, der
den Weg vom Dorfhirten zum führenden Staatsmann seines Landes zurückgelegt
hat, dessen Lebensschicksale so wechselvoll waren, verfügt naturgemäß über eine
umfassende und vielseitige Kenntnis des Lebens, das er von verschiedenen Ge-
sichtspunkten aus zu studieren Gelegenheit hatte. Seine Erstlingswerke entstanden
„in Eisenbahnwaggons, auf Bahnhöfen, in engen und schmutzigen Stuben, im
Asyl für Obdachlose. Seine späteren Werke entstanden schon als die
Schöpfungen eines arrivierten Staatsmannes, der seine Lebenserfolge dem Erfolg
seiner Partei zu verdanken hatte.
Zwei Themata kennzeichnen das literarische Schaffen von Zylunovié: die
Arbeit und die Revolution.
Er hatte Gelegenheit, die Welt der Arbeit als Dorfhirte, als Gerberlehrling,
als Fabrikarbeiter, Arbeitsloser, Wanderbursche und schließlich als verantwort-
licher Staatsmann auf führendem Posten kennenzulernen.
In seinem Erstlingswerk klingt der Rhythmus der Landarbeit, die Poesie des
Landlebens. Viel kennzeichnender für ihn sind die Schilderungen des Lebens der
Handwerker. Seine „Lieder des Gerbers“ sind von packendem Realismus: mit
kräftigen Strichen ist die Gestalt des Gerbers entworfen, weil sie dem unmittel-
baren Erleben des Dichters entsprang. Die Gestalten der anderen Handwerker
in den „Liedern der Arbeit“ sind schematischer hingeworfen. Diesem Milieu folgt
die Schilderung der kollektiven Arbeit in der Fabrik entsprechend dem Werde-
gang des Dichters. Es folgen die stürmischen Tage des Bürgerkrieges, dann die
sozialistische Aufbauarbeit. In seinem Roman „Soky caliny“ wird die revolutio-
näre Bewegung in Stadt und Land geschildert, die sozialen Gegensätze und deren
Auswirkung im Familienleben. Zylunovi& ist der begeisterte Sänger des heroischen
Pathos der Revolution, das Leitmotiv seines Schaffens nach dem Sieg der Re-
volution ist der Heroismus der Arbeit bei der Formung des neuen ns. Die
Helden seines Romans und seiner Novellen sind Männer, die eine „eiserne Seele“
aufweisen: „angespannte Willenskraft und starke Aktivität.“
Verf. bezeichnet Zylunovil als den Dichter des „revolutionären Voluntaris-
mus“. Dennoch sind seine Helden lebenswahre Gestalten, Willensnaturen, bei
denen Pflicht und Gefühl kollidieren.
406
Verf. setzt Zylunovi als „Dichter einer aufstrebenden Klasse“ den Dichtern
der „untergehenden Klasse“ th als deren reprasentativste Vertreter er
Anatole France und Romain Rolland ansieht. Bei den Dichtern der untergehenden
Klasse verzeichnet er eine hedonistische Lebensphilosophie im Gegensatz zur
Philosophie des Voluntarismus bei Zylunovi& als dem Dichter einer aufstrebenden
Klasse. Die Arbeit, die er unter dem Regime der Ausbeutung als Fluch angesehen
habe, wird nunmehr im Zeitalter des sozialistischen Aufbaues zum freudigen
Schöpfungsakt, zum Grundinhalt des Seins.
Gegenstük zu dem Leitsatz eines Descartes „Cogito, ergo sum“ laute
der Glaubenssatz von Zylunovié: „Ich arbeite, also existiere ich“ — ein Satz, der
bei einem Manne, der durch Arbeit vom Dorfhirten zum führenden Staatsmann
seines Landes arrivierte, wohl kaum überraschen kann.
Gregor Wirschubski.
J. Dreisin: Die Oktoberrevolution und die weißrussische Musik.
— Uzvysa 1927. Kn. 5.
Verf. teilt die gesamte Geschichte der weißrussischen Musik in zwei streng
voneinander geschiedene Abschnitte ein: vor und nach der Oktoberrevolution.
Verf. teilt die Musik in „Grundlage“ und „Überbau“ ein. Unter „Grundlage“
versteht er Volkslieder, Volkstänze u. dgl. Unter dem „Überbau“ versteht er
die auf dieser „Grundlage“ von individuellen Tondichtern, die im Besitz aller
Hilfsmittel der modernen Musikwissenschaft und Technik waren, geschaffenen
Kompositionen.
Verf. ist der Ansicht, daß diese Einteilung mit der geschichtlichen Einteilung
übereinstimmt: vor der Oktoberrevolution habe es nur eine „Grundlage“ der
weißrussischen Musik gegeben, erst die Oktoberrevolution schuf die Möglichkeit
der individuellen künstlerisch schöpferischen Arbeit auf dieser „Grundlage“.
Verf. untersucht die Werte des weißrussischen Volksliedes und verzeichnet
dessen Wohlklang, Herzlichkeit und Poesie. Ein Volk, das eine so reiche „Grund-
lage“ der Nationalmusik geschaffen habe, das von Hause aus mit einer so
ungemein starken natürlichen musikalischen Begabung 5 ist, muß auch
in Zukunft eine reiche Entwicklung seiner Nationalmusik vor sich haben.
Das weißrussische Volk hat bisher auf seiner reichen musikalischen „Grund-
lage“ keine künstlerische Musik geschaffen, weil es in der Zeit der Hochblüte der
westeuropäischen Musik, im 18. und 19. Jahrhundert, noch im Zustande der Halb-
sklaverei schlummerte und die besten Kräfte seiner Intellektuellenschicht fremden
nationalen Kulturen abgab. Weißrussen dem Blute nach wurden Glinka und
Moniuszko nach herkömmlicher Regel ihrem Volk untreu, sie erhielten ihre musi-
kalische Bildung im Rahmen fremder nationaler Kulturen — der großrussischen
und polnischen. Glinka kannte das weißrussische Volkslied nicht (? V. S.), da-
gegen schöpfte Moniuszko bewußt aus dem Schatz der weißrussischen Volksmusik.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts ging die Sammlung und Sichtung der weiß-
russischen Volkslieder vor sich. Die ersten Sammler waren Dilettanten, doch
kommt ihnen größere Bedeutung zu. Unter den Sammlern haben sich ins-
besondere Abramovič, Radèenko, Sidlov, Carnovskaja, Bargtevski, Romanov,
Rosinski, Sein, Grineviè, Cornyj Kasura, Terravski, Serbov u. a. m. hervorgetan.
Aber bereits im Anfang des 19. Jahrh. tauchen die ersten, technisch freilich
unvolikommenen Versuche auf dem Gebiete kiinstlerischer Musik auf: so die Oper
„Zalety“, Musik von Kimont, Text von Marcinkevié, Orchestersuite von Rogovski.
Der radikale Umschwung erfolgte mit der Oktoberrevolution, sein Einfluß
erstreckte sich indessen nur auf Sovjet- Weißrußland, in Polnisch-Weißrußland hin-
gegen blieb alles wie bisher (??? W. S.). Verf. gibt eine Übersicht der musikalischen
Ausbildung in Weißrußland vor der Revolution, stellt deren Mängel fest, vor
allem aber deren Unzugänglichkeit für die breiten Volksmassen. Nur in den
Lehrerseminaren entsprach der Gesangunterricht modernen Anforderungen, d
das Repertoire bestand zu % aus Kirchenliedern. Für das Volkslied verblieb nur
% des Repertoires und dabei wurde vorzugsweise das großrussische Volkslied
gepflegt. Das eigene nationsle weißrussische Volkslied wurde dem weißrussischen
olk von der großrussischen Schule vorenthalten. Die Revolution räumte mit
407
diesem Zustande auf: das weißrussische Volkslied nahm im Musikunterricht Weiß-
rußlands den ihm gebührenden Platz ein. Und nur auf dieser Grundlage konnte
der Willen des Volkes zu einer eigenen nationalen künstlerischen Musik sich ent-
wickeln und entfalten. Erst jetzt erklang das weißrussische Volkslied frei in
Stadt und Land. Es entstanden weißrussische Chöre, von denen insbesondere der
Chor von V. Terravski, der aus 50 Personen besteht, sich rasch Berühmtheit er-
worben hat. Dieser Chor gehört dem Weißrussischen Staatstheater an. Der Leiter
des Chors V. Terravski war bereits vor der Revolution als Sammler weiß-
russischer Volkslieder bekannt. 1920 erschien seine erste Sammlung weißrussischer
Volkslieder, die 25 Stücke enthält. 1922 erschien in Berlin sein „Lirnik“, das
100 Volkslieder enthält in der Bearbeitung von Terravski, Kalin, Simkus und
Rogovski. 1926 gab Terravski eine Sammlung von Kriegsliedern heraus, di
30 Stücke enthält. Terravski hat ferner auf der Grundlage der Volkslieder die
Musik für mehrere Bühnenstücke geschrieben. Er hat noch ca. 800 unveröffent-
lichte von ihm gesammelte Volkslieder, musikalische Illustrationen für Bühnen-
werke und eigene Tondichtungen.
Neben Terravski seien ferner die Sammler und Tondichter Egorov, Matisson,
Curkin, Levéenko u. a. m. verzeichnet. 1928 berief das Bildungskommissariat der
Weißrussischen Sovjetrepublik eine „Weißrussishe Liederkommission“ nach
Moskau, der bekannte Tondichter, wie Ippolitov-Ivanov, Olenin, Nikol’ski,
Grelaninov, Prochorov und Aladov angehörten. Im Laufe eines Jahres harmoni-
sierte diese Kommission 250 Volkslieder. Namentlich hat Prochorov viel ge-
leistet, der allein 82 Lieder harmonisierte.
1927 wurde bei dem Institut für weißrussische Kultur in Minsk eine Unter-
scktion für Musik gegründet, deren Hauptaufgabe es ist, weißrussische Volks-
lieder zu sammeln, zu harmonisieren und zu veröffentlichen. Unter den Mit-
arbetern dieser Untersektion hat sich insbesondere A. A. Grinevil ausgezeichnet,
der über 500 Volksmelodien und ca. 1000 Texte von Volksliedern aufgeschrieben
hat. A. A. Grinevié hat auch mehrere Liedersammlungen für den Schulunterricht
veröffentlicht.
1924 wurde in Minsk ein Staatliches Musiktechnikum gegründet, die Keim-
zelle der weißrussishen Musikhochschule. Aus dieser Musikanstalt sind bereits
hervorragende Kräfte hervorgegangen. Unter den modernen weißrussischen Ton-
dichtern steht M. I. Aladov an erster Stelle. Neben 25 Harmonisierungen im
Sammelwerk der Moskauer Kommission ist Aladov ein ausgezeichnetes Pianoforte-
Quintett C-Dur zu verdanken, eine Reihe von Romanzen auf Worte weiß-
russischer Dichter, die Konzertbearbeitung der weißrussischen Marseillaise, die
Vokalmusik für das Drama „Wir“ von Romanovič und die Hymne aus Anl
des zehnjährigen Jubiläums der Oktoberrevolution. Ganz besonderes Interesse
verdient das Quintett C-Dur, das auf Volksmotive geschrieben ist und einen
originellen Beitrag des weißrussischen Musikgenies zur Schatzkammer der Welt-
musik bedeutet.
Neben Aladov haben sich andere Mcister hervorgetan, so namentlich
Prochorov, Fidlon, Snitmann, Čurkin u. a. m. Fidlon schuf ein bemerkenswertes
Streich-Quartett A-Dur (op. 9) auf Volksmotive, er schrieb die Instrumentalmusik
zum Drama „Wir“ und eine weißrussische Orchestersuite. Von großer Bedeutung
für die Entwicklung der weißrussischen Musik sind neben dem Musiktechnikum
die beiden Staatscheater. Beide Theater haben eigene Orchester und Chöre. Für
die Uraufführungen wird nicht selten neue Musik geschrieben und zur Mitarbeit
werden neben örtlichen Komponisten die führenden Tondichter der Sovjetunion
zugezogen. Nach Minsk ist Mohilev das zweite Zentrum der Musikkultur Sovjet-
weißrußlands. In Mohilev besteht seit 1919 eine Musikschule. Musikschulen be-
stehen ferner noch in Homel und Vitebsk. Im Rahmen des Fünfjahresplanes
der Sovjetunion ist ein weiterer Ausbau des Musikunterrichts in Sovjet- Weiß-
rußland geplant. Verf. schließt seine Ausführungen mit einem Hymnus auf die
Sovjetregierung und die Oktoberrevolution. „Sie haben uns der Verwirklichun
des Ideals näher gebracht, von dem Richard Wagner in seinem berühmten Artike
„Kunst und Revolution“ geschrieben hat.“ Bekanntlich schrieb Richard Wagner,
daß das Ziel der Kunst und der Revolution es sei, den starken und schönen
498
Menschen ri schaffen: die Revolution werde ihm die Kraft, die Kunst dic Schön-
eit geben.
Freilich scheint der offiziöse Optimismus des Verf. etwas abwegig: zunächst
wenigstens ist es dem halbverhungerten terrorisierten weißrussischen Sovjetbürger
bis zum Wagnerschen Ideal des schönen und starken Menschen noch recht weit...
Gänzlich verfehlt sind ferner die Ausführungen des Verf. über das Musikleben
Polnisch-Weißrußlands. Es ist ndfalsch zu behaupten, daß dort „eine Musik-
wüste“ herrsche, wie vor der Oktoberrevolution. Naturgemäß hat das erwachende
Musikleben in Sovjer-Weißrußland einen ähnlichen Prozeß in Polnisch-Weiß-
rußland bewirkt. Im Zentrum des Musiklebens von Polnisch-Weißrußland steht
der bekannte Komponist, der Schüler von Rimskij-Korsakov, Prof. K. M. Gal-
kovski, der eine Reihe von Romanzen auf Worte weißrussischer Dichter und
Harmonisierungen von Volksliedern geschrieben hat und jetzt an einer weiß-
russischen Oper arbeitet, für die er selbst das Libretto nach dem Poem von Kolas
„Symon-Muzyka“ geschrieben hat.
Freilich blieben die Versuche, die Sovjet-Weißrussen, darunter Kolas per-
sönlih für dieses Werk zu interessieren, vergeblich. Es scheint demnach, daß es
den Sovjet-Weißrussen an der Hebung des Musiklebens in Polnisch- Weißrußland
nicht sonderlich gelegen ist. Unter den Tondichtern Polnisc-Weißrußlands muß
noch Vladimirski verzeichnet werden, der eine Reihe von Harmonisierungen weiß-
russischer Volkslieder gegeben hat. Ferner ist der unermüdliche Sammler weiß-
russischer Volkslieder Sirma zu erwähnen, dessen ununterbrochenen SE auf
der Suche nach neuem Material ihn auch in den Kreis Bialystock geführt haben,
wo das weißrussische Siedlungsgebiet an das der Masuren grenzt. Hier konnte
er den ungemein starken Eintluß der weißrussischen musikalischen Volks dichtung
auf die benachberten Masuren feststellen. Wie Sirma in einer mündlichen Unter-
haltung erklärte, gibt noch jeder Streifzug überraschend neues Material: die seit
Jahrhunderten aufgespeicherten Schätze der Volksdichtung sind noch nicht zu ½
erschöpft. Vladimir Samojlo.
Cechoslovakei
Arne Novak: Gogol u Jaroslava Vrhlického. — Slavia 7, 4
(1929), S. 890—894.
Veröffentlichungen von Jar. Borecký und F. X. Šalda haben gezeigt, welche
bedeutende Rolle der russischen Literatur im allgemeinen literarischen Wissen des
jungen Vrhlikf zufällt, was im Hinblick auf seine späteren Übersetzungen aus
dem Russischen von Wichtigkeit ist. Er hat sich mit Lermontov, Puškin und
Gončarov beschäftigt. Gogols Name wird von ihm nicht häufig erwähnt, aber
voll Enthusiasmus; was er sagt, gehört zu dem Bemerkenswertesten, was überhaupt
im Cech, über Gogol gesagt worden ist. In einem Brief an seinen Bruder vom
10. 1. 1870 spricht Vrchlick von den „Mertvyja duši“ und „Oblomov“, daß sie
ihm ans Herz gewachsen seien. Die Zusammenstellung dieser beiden Werke deutet
N. darauf hin, daß Vrdilicky sie für Schöpfungen verwandter Art, d. h. der rea-
listischen Literatur mit ethischen Tendenzen ansah. Vrchlický hatte dagegen nie
Verständnis für Gogols romantische Ader. Dem dechischen Leser der „Toten
Seelen” lagen die Jugendgeschichte Gogols fern, und dieser ganzen Generation fehlte
der Geschmack an der romantisch aufgemachten Volkstiimlichkeit, für die Erben
und Celachovsky so viel übrig gehabt. Vrchlickf besaß aber für den Humoristen
Gogol ebenso viel Verständnis wie für den Realisten, hier berührte er sich mit
Havlitek, Nicht zutreffend ist Vrchlickkys Ausspruch, daß Gogol ebenso wie
Dostoevskij zu den tendenziösen Stürmern gegen die Gesellschaft & la Ibsen zu
en seien. Auch das Sonett auf Gogol in den „Masken und Profile“ zeigt neben
manchem Zutreffenden ausgesprochene Irrtümer, ebenso wie der Vers in der
Herbstelegie, in dem Vrchlicky Rabelais, Voltaire, Gogol und seinen Übersetzer
Havlitek in eine und dieselbe literarhistorische Reihe stellt, ein Beweis ist für
seine oberflächliche und irrige Einschätzung des Gogolschen Humors und seiner
Karikaturen. Emmy Haertel.
409
Wolfango Giusti: Vilém Mritik. — Rivista die letterature
slave. Anno 4, 1 (1929), S. 1—38.
Andere Schriftsteller werden tiefere Spuren zurückgelassen haben in der
čech. Literaturgeschichte, Mrit{k ist aber für den Fremden deshalb besonders inter-
essant, weil seine Tendenzen den Tendenzen entsprechen, die von jeher im
kulturellen Leben der Cechen die Geister in Bewegung gehalten G.
charakterisiert diese Strömungen: die ausschließlich Hasena; die europäi und
beiden gemeinsam das Antideutsche, ferner das Für und Wider reffs der
Stellung zu Rußland. Er verfolgt diese Tendenzen in Mritſks Werken, weist auf
seine Neigung zum Verallgemeinern, Vereinfachen seiner Typen hin, auf die
nope nach dem psychologischen Roman Rußlands, hinter dem M. aber zurück-
bleibt, ebenso wie auf die von Zola beeinflußte Milieuschilderung, die aber nicht
wie bei Zola aufs engste mit der persönlichen zusammenfließt, sondern bei M.
etwas Photographieähnliches, von dem eigentlichen psychischen Prozeß e-
sondertes hat. G. weist ferner auf Anklänge an Turgenev, Gogol und Dostoevskij
hin, er stimmt Jakubec und Novák zu, die in der „Geschichte der Tschechischen
Literatur“ das Patriarchalische, Idyllische Mritſks hervorgehoben haben. Daher
die Frische seiner Naturschilderungen, die man denen Demls an die Seite stellen
kann. Doch Mritſk li alles Problematische und Philosophische fern. G.
stellt, einmal zugegeben, gerade die tech. Literatur zum Kreuzungspunkt der
heterogensten Strömungen von Nord und Süd, Ost und Vest werden mußte, die
Frage: gibt es überhaupt eine ausgesprochen Cechische Kulturtradition? Hus,
Chellikf liegen zeitlich viel zu weit ab, um als Ausgangspunkt zu gelten. Aus
der Literatur des 19. Jhs. sind, nach der Momin Giustis, nur Neruda und Macha
als einzige zu nennen, die über das rein Cechische hinaus zum allgemein Mensch-
lichen vorgedrungen sind, eine Tradition haben aber auch sie nicht begründen
können, man fürchte also jetzt zu Unrecht, daß die literarischen Neuerscheinungen
der Nachkriegszeit traditionsvernichtend werden können. G. stimmt hinsichtlich
des Begriffes „Tradition“ F. X. Salda bei, der sich in „Zapisnik“ 1,1 (1928) über
die Ideen Louis Reynauds zur Tradition in Frankreich geäußert, Gerade ın der
Frische und Unbefangenheit der Nachkriegsliteratur der Cechei sieht G. den Anfang
zu etwas Neuem. Hašeks „Švejk“ verliert nicht an Wert, weil er keinem Typ
aus der älteren Cechischen Literatur ähnlich ist.
1644. Geschichte der Papiermühle zu Rokitnitz. — Mitteilungen der
Vereinigung für Geschichte der Deutschen in Böhmen. 67. Jahr-
gang, 1929, Heft 3—4, S. 87—114.
Johann Schreiber gibt zunächst einen Überblick über die Geschichte
von Rokitnitz (Adlergebirge), welches seine Entstehung den Herren von Reiche-
nau, Wilhelm und Hermann von Dürnholz, deren Nachkommen sich aber erst
Herren von Reichenau nannten, verdankt. 1260 gründeten diese am flachen Ab-
hang des waldreichen Adlergebirges drei Dörfer: Rokitnitz, Pitschin und Slatina.
Im weiteren Verlaufe kam dann die Herrschaft Rokitnitz durch Kauf am 9. März
1648 an den kais. kel Ratsherrn und Landeshauptmann des Fürstentums Breslau
Otto von Nostitz. Unter dieser Familie hat die Herrschaft Rokitnitz einen
großen Aufschwung genommen. Otto von Nostitz und Rhienek hat das Gut
selbst in einen musterhaften Zustand gebracht, erbaute auch das Kornschreiber-
haus und das Bräuhaus. Vor allem erlangte er aber am 4. Oktober 1644 von
Kaiser Ferdinand III. das Privilegium zur Erbauung einer Papiermühle in Rokitnitz.
Diese gehört also zu den ersten, die in Böhmen erbaut wurden. Schaller zählt
in seiner Topographie Böhmens v. J. 1740 als die besten Papiermühlen die von
Rokitnitz, atzlar, Senftenberg und Trautenau auf. Der erste Papiermeister
von Rokitnitz hieß Melchior Zeiske. Das Privileg Kaiser Ferdinands ist S. 89f.
abgedruckt. E. Hanisch.
410
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VI
NOTIZEN
JAN PTASNIK
(1876—1930.)
.. Mit Jan Prasnik ist am 22. Februar 1980 ein Säkularmensch der wissenschaft-
liche. Welt, einer der bedeutendsten polnischen Kulturhistoriker im Alter von
54 Jahren dahingegangen. — Als Bauernsohn in Westgalizien geboren, beendete
er in Bochnia das Gymnasium und begann an der Universität Krakau zuerst Jura,
äter Geschichte zu studieren. Schon als Student im ersten Semester lenkte er
ie Aufmerksamkeit seiner Lehrer, der Professoren Zakrzewski, Smolka,
Krzyzanowski und Ulanowski auf sich, die dem für das Studium be-
geisterten Jüngling durch Verleihung von Stipendien, dann der Applikantenstelle
am Stadtarchiv die Möglichkeit gaben, den mühevoll steinernen Weg der wissen-
schaftlichen Laufbahn zu betreten. Eingeführt in das Studium der Paleographie
durch Professor Ulanowski, sich fortbildend im Deutschen Archeologischen Institut
unter Prof. Hüls e ns Leitung in Rom, konnte Studiosus Prasnik mit großem
Fleiß und Eifer die vergilbten Akten des Krakauer Stadtarchivs studieren und
kennen lernen, die ihm bis zum Lebensende unerschöpflicher Quellborn für un-
zählige größere und kleinere Abhandlungen geblieben sind.
Noch in die Studentenjahre fällt der Anfang PraSniks wissenschaftlicher
Arbeit. Im Jahre 1900 erschienen fast gleichzeitig „Z życia uczniów
krakowskih w XV i XVI wieku“ (Aus dem Leben der Krakauer
Schüler im XV. und XVI. Jahrh.)*) und eine zweite, dieselbe Frage behandelnde
Arbeit unter dem Titel „Obrazki historyczne z życia zakéw
krakowskihwXViXVIwiek u“ (Historische Bilder aus dem Leben der
Krakauer Scholaren im XV. und XVI. Jahrh.)?). Prasnik zeichnet uns darin in
lebendigen Bildern das Leben der Studenten, ihren Kampf ums Dasein, die sich
aus der Verschiedenheit der Nationen ergebende Streitigkeiten zwischen den Polen,
Deutschen, Ungarn, Tschechen, Ruthenen, Litauern und dergleichen mehr.
Während diese beiden Abhandlungen streng wissenschaftlich gehalten sind, waren
die „Historischen Bilder“ frei von wissenschaftlichem Ballast, bestimmt für die
weiteren Volkskreise.
Die Vorbereitungen zur Fachprüfung als Mittelschullehrer, die er 1801 be-
stand und zur Erlangung des Doktorgrades im Jahre 1908, hinderten den jungen
Forscher an den weiteren Studien nicht. 1902/08 erschienen die ,Obrazki
z zycia przeszłości miasta Krakowa serja I i II“ (Bilder aus
der Vergangenheit Krakaus, I. und II. Serie),®) in welchen wir das Leben der alten
Stadt Krakau und seiner zumeist deutschen Bürger dargestellt finden.
Nach diesen ersten gut gelungenen und von ernsten Kritikern sehr günstig
beurteilten Versuchen, trat Ptaśnik an die Bearbeitung des Krakauer Patriziats
heran. Die ergänzte Doktorarbeit „Bonerowie“ (Die Familie der Boner)*)
See 1) Księga pamiatkowa uczniów Uniwersytetu Jagiellońskiego, Kraków 1900,
99) Bibljoteka Krakowska, Nr. 15, Kraków 1900, S. 68.
3) Ebendort, Nr. 21 und 28, Kraków 1902 und 1908, S. 88 und 71.
*) Rocznik Krakowski VII, 1905, S. 188, Vgl. Przewodnik naukowo-
literacki, 1905, S. 87.
411
ist keine Bi — mehr, aber ein Stück emeiner polnischer Kultur- und
Wirtschaftsgeschi te. Der junge Gelehrte sp der städtischen Kultur eine
es Bedeutung zu, die in seiner Auffassung noch größer wurde, als er von den
tudienreisen aus Deutschland, Frankreich, England, Ungarn, Belgien nach Krakau
zurückkehrte. Von ganz besonderer Wichtigkeit für die weitere ragen
Prafniks waren die Italienreisen. Zum erstenmal weilte er in Rom 1908/04
. der Expedition der Akademie der Wissenschaften, in deren Auftrage er die
Vorbereitung der Quellenausgabe „Monumenta Poloniae Vaticana“ übertragen
bekam. Hier wurde Ptainik auf die 55 Beziehungen zwischen Italien und
Polen aufmerksam, namentlich auf den Einfluß der italienischen Kultur, die durch
den königlichen Hof, die Universität, Geistlichkeit, Handwerker- und Kaufmann-
schaft verpflanzt, einen starken Stempel der heimischen Kultur aufdriickte. Diesem
Gedanken gab Ptainik Ausdruck in der Arbeit „Z dziejów kultur y
włoskiego Krakowa“ (Aus der roid e des italienischen
Krakau),®) welche die polnische Kulturgeschichte auf neue Bahnen gelenkt hat.
Ptainik wies als erster nach, daß die Italiener Nachfolger der Deutschen als Kultur-
träger waren, durch ziemlich starke Einwanderung, die Begründung von Werk-
und Arbeitsstätten und die Organisierung des Postwesens kulturelle Beziehungen
zwischen den beiden Ländern geschaffen haben, die noch stärker wurden, als nun
der polnische Handel nach dem Süden gerichtet wurde.
_ Eng im Zusammenhang mit diesem Problem stehen die bald darnach er-
schienenen Abhandlungen „Gliitaliania Cracovia dal XVI secolo
al X VIII“ (Roma 1900, S. 108); „Italia mercatoria apud Polonos
secolo XV ineunte“ (Roma 1910, S. 108) und „Wioski Krak6w za
KazimierzaWielkiego i VIZ dy- laws Jagiełły“ (Das italie-
nische Krakau zur Zeit Kasimirs des Großen und Wladislaw Jagie o:). In „Gli
italiani“ finden wir 287 Nachrichten über italienische Handwerker und Kaufleute
in Krakau, in „Italia mercatoria“ sind 89 Dokumente aus den römischen, veneziani-
schen und krakauer Archiven aus den Jahren 1887—1480 wiedergegeben; in der
letztgenannten, außer der später erschienenen „Kultura wioska w Polsce wiekéw
irednich einzig allein dastehenden Arbeit über die italienisch- polnischen Be-
ziehungen im Mittelalter, bespricht der Verfasser die Bedeutung des zwischen
u und den italienischen Städten Florenz, Genua und Mailand sich ent-
wickelnden Handels, endlich die politische Rolle der im Dienste Jagiellos stehenden
Fremdlinge.
Die bisherige Anschauung von dem ausschließlichen deutschen Kultur-
einfluß war widerlegt, Ptainiks Thesen, die anfangs Mißtrauen erweckt hatten
und als übertrieben Weer wurden,?) fanden immer mehr Anhänger, ja bald
sah man Ptafnik als Begründer einer neuen Richtung in der Kulturgeschichte an.
Aber auch auf dem Gebiete der Kirchengeschichte und des Kirchenrechts
führten die Italienreisen den Verstorbenen auf neue Bahnen. Das Studium im
Vatikanischen Archiv lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Anteilnahme der
Apostolischen Kurie an der Innen- und Außenpolitik Polens und auf den Ein-
fluß der Geistlichkeit auf dem Gebiete des een und staatlichen Lebens.
Diese Behauptungen finden wir ausgedrückt in der Abhandlung „Kollektorz
Kamery Apostolskiej w Polsce Piastowskiej“ (Die Kol-
lektoren der Apostolischen Kammer in Polen zur Zeit der Piasten).*) Als Ent-
gegnung auf seine 8 90 daß der Peterspfennig, den Polen in der Boleslaw-
Epoche an die Apostolische Kammer gezahlt hat, insofern große Bedeu hatte,
weil er zur Wiedervereinigung der Teilgebiete und zur Aus ee des Zu-
sammengehörigkeitsgefühls aller a Boden bewohnenden Volksgenossen
beigetragen hat, was in der Abhandlung „Denar fe, Piotra obroAcz
jedności politycznej i kościelnej w Polsce“ (Der Peters-
5) Rocznik Krakowski IX, 1907, S. 8—147.
*) Ebendort XIII, 1911, S. 51—109.
7) Vgl. Klodzifski, Kwartalnik Historyczny XXII, S. 411—415.
e) Rozprawy Akademn Umiejętności wydz. hist. fil. Bd. L, 1907, S. 80.
412
fennig als Faktor der politischen und religiösen Einheit Polens)e) zum Ausdruck
No erschien drei jahre später „Dagome index. Przyczynek
krytyczny do genezy świętopietrza w Polsce“ (Dagome iudex.
in kritischer Beitrag zur Entstehun ichte Peterspfennigs in Polen),
Kraków 1911, S. 56, in welchem Prainik auf die Gegenbehauptung, daß der
Peterspfennig nur ein Element zur Wiedererneuerung des Staates gewesen sei, neuc
Beweise lieferte, daß der Peterspfennig doch das allerwichtigste Bindeglied für die
volkstümlich noch nicht verloren gegangenen Teilgebiete gewesen ist. Der Haupt-
erfolg der Jtalien- bzw. Romreise war jedoch die dreibändige monumentale
Quellens „Monumenta Poloniae Vaticana“, in welcher Ur-
kunden, Akten und Dokumente erschienen, die bisher fast alle unbekannt waren
und jetzt an das Tageslicht gebracht, das Verhältnis der Apostolischen Kammer
zu Polen in anderem Lichte erscheinen ließen. Die ersten zwei Bände umfassen
die Acta Camerae Apostolicae 1207—1874 (Cracoviae 1913,
S. LVII + 502 + XXVIII + 582), den dritten Band bilden Analecta
Vaticana 1208—1866 (Cracoviae 1914, S. LVI + 572).
Die pa ogische Berufsarbeit als Mittelschullehrer in den Jahren 1901 bis
1919 an den Gymnasien Przemyśl und Krakau konnten den Verstorbenen von
der Fortsetzung seiner weiteren Studien nicht zurückhalten. Wir sehen ihn wieder
im Ausland, längere Zeit in Rom und Nürnberg, wo die Akten des Stadtarchivs
durchstöbert werden, um bald darauf lebhaften Anteil an dem Streit um die
Nationalität des Veit Stoß teilzunehmen. Seine Ansichten bezüglich des großen
Meisters finden wir aufgezeichnet in den Abhandlungen „Ze studjów ned
Witem Stwoszem i jego rodzing“ (Aus den Studien über Veit Stoß
und seine Familie),**) „Noch EE über die Nationalität des
Veit Sto 8,1) „W sprawie Wit Stwosza“ (In der Sache des Veit
Stoß). 12) Noch im Jahre 1928 kehrte der Professor zu diesem Thema zurück und
ergänzte seine vorigen Untersuchungen mit neuen Einzelheiten in dem Artikel
„ze studifo Vicu Stoszoviajeho rodin& (Aus den Studien über
Veit Stoß und seine Familie). )
Im Jahre 1918 schen wir Ptainik als stellvertretenden Leiter einer neuen,
von der Akademie der Wissenschaften veranstalteten Expedition, zusammen mit
den Professoren Los, Zachorowski, Baran und Dabrowski in
Ungarn, doch konnten die Untersuchungen „Sprawozdanie z poszu-
kiwahna W LU r zech“ (Bericht über die Forschungen in Ungarn) infolge des
Ausbruches des Welckrieges erst im Jahre 1919 im Druck erscheinen.
Ein besonderes Gebiet Ptainiks Forschungsinteresses bildete das Städtewesen
und seine Kultur, welcher a Bedeutung zusprach und dessen Erforschung
er sich zum Ziel steckte. Noch im Jahre 1910 erschien die Arbeit „Dzieje
handlu i kupiectwa krakowskiego“ (Geschichte des Krakauer
Handels und der Kaufmannschaft), “) in welcher wir sehr wertvolle Nachrichten
über die ältesten Kaufleute finden, unter welchen außer den heimischen die aus
Deutschland, Frankreich, Belgien, Flandern, der Schweiz, Ungarn, Tschechen und
Baycrn hervorgehoben seien.
Der Aufenthalt in Nürnberg, wo Prasnik über Veit Stoß Untersuchungen
anstellte, ermöglichte ihm die Herausgabe der „Akta norymberskie do
dziejów handluz Polska w wieku XV“ (Nürnberger Akten zur Ge-
schichte des Handels mit Polen im XV. Idt.), 1) wo 70 Urkunden aus Nürn-
°) Ebendort, Bd. LI, 1908, S. 86.
19) Rocznik Krakowski, XIII, 1910, S. 74.
11) Monatsschrift für Kunst wissenschaft, Leipzig 1912, Nr. 12.
13) Czas 1912, Nr. 415 und 417.
18) Sborník věnovaný Jaroslavu Bidlovi k ledesitym narozeninám, Praha
1028. S. 2600—2765.
14) Rocznik Krakowski XIV, 1910, S. 65—180.
18) Archiwum Komisji Historycznej Akademji Umiejętności XI, 1912,
418
berger Archiven aus der Zeit 1865—1592 wiedergegeben sind, die einen sehr
regen Handelsverkehr zwischen Nürnberg, Krakau und Posen bezeugen.
Krakauer Patriziat im Mittelalter, das zumeist aus deutschen Einwanderern bestand
und die im Laufe der Zeit zu großer Bedeutung gelangten, widmete Prafnik zwei
größere, sehr gründliche Abhandlungen. Es sind dies die ,Studya nad
patrycyatem krakowskim wieków $rednic I i II“ (Studien
über dem mittelalterlichen Patriziat in Krakau I und II), 1e) in welchen wir das
Lebensbild ehemaliger deutscher Bürgerfamilien wiedergegeben finden, die, indem
sie in die Reihen der Adeligen getreten sind, ihrem Volkstum verloren gingen.
Der Weltkrieg, an dem Pra$nik als Frontsoldat in den Legionen teilnahm,
hinderte ihn nicht, die Herausgabe der mühselig zusammengestellten Quellen-
sammlung „Cracovia artificum 1800—1500“ im Jahre 1917 in Krakau
zu vollziehen.
Außer zahlreichen größeren und kleineren Berichten, die zumeist in den von
der Krakauer Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Sprawozdania
komisji dla badania historji sztuki w Polsce gedruckt er-
schienen, gehören noch in den Bereich der Kunstgeschichte, die schon nach seinem
Tode erschienenen Abhandlungen „Codex picturatus Baltazara
Behema (Balthasar Behems Codex picturatus), 7) „Dwie kwestje 2
dziejów kultury artystycznej Krakowa“ (Zwei Probleme aus
der Kunstgeschichte Krakaus), is) „Dwie rodziny malarskie w Kra-
kowie“ (Zwei Malerfamilien in Krakau im XV. Jdt.)1%) und eine ganze Reihe
druckfertiger Artikel, die im Nachlaß zurückblieben.
Im Jare 1920 verließ Prafnik Krakau, wo er zwei Jahrzehnte, als Student,
Gymnasiallehrer, seit 1907 als Privatdozent, ab 1910 als Titularprofessor und
endlich 1919 als außerordentlicher Professor für Kulturgeschichte an der Universi-
tät Krakau gewirkt und geschaffen hatte, um dem Ruf nach Lemberg zu folgen,
wo er als Leiter des Seminars für Geschichte des Mittelalters und des Instituts fü
Hilfswissenschaften und ab 1928 als Hauptschriftleiter des „Kwartalnik
Historyczny“ treu bis zum Tode segensreich wirkte.
Die noch in Krakau begonnenen und in Lemberg beendeten kurzen Ab-
handlungen „Przemysł papierniczy w Małopolsce XVI wieku“
(Das Papiergewerbe in Kleinpolen im XVI. Idt.), ) ,Papiernie w Polsce
XVI wieku“ (Die Papierwerkstätten Polens im XVI. Idt.), 21) bildeten Vor-
studien zu der großen im Jahre 1922 in Lemberg herausgegebenen Quellenausgabe
„Monumenta Poloniae Typographica I. Cracovia im-
pressorum“, dessen Einleitung die Geschichte der polnishen Buchdrucker-
kunst enthält. Noch in demselben Jahre erschien bendi, nebst der überhaupt
ersten synthetishen Geschichte des Städtewesens in Polen „Miasta w Polsce“
(Die Städte in Polen), „Kultura włoska w Polsce wieków śred-
n ich“ (Italienishe Kultur in Polen im Mittelalter)ů, die wie die „Städte“ an-
erkennenswerte Begeisterung hervorriefen. Anschließend an die „Italienische
Kultur“ plante Professor Ptasnik eine allgemeine dreibändige Kulturgeschichte
herauszugeben. Der erste Band erschien auch im Jahre 1925 in Warschau unter
dem Titel „Kultura wieków Srednich t. I. Życie religijne i
społeczne“ (Kulturgeschichte des Mittelalters, Bd. I. Das religiöse und
soziale Leben), den zweiten Band sollte, wie wir aus dem Briefe an seine Schülerin
und Assistentin, Fr. Dr. Charewicz vom 4. August 1924 entnehmen können,
„Das ritterliche Leben“ bilden und das Bürgertum sollte seine Geschichte im dritten
Bande der allgemeinen Kulturgeschichte erhalten. Mit dem ersten Bande der
Kulturgeschichte erreichte Pra$nık den Höhepunkt seines wissenschaftlichen
16) Rocznik Krakowski XV, 1913, S. 25—95 und Bd. XVI, 1914, S. 1—90.
17) Kwartalnik Historyczny XLIV, 1930, S. 1—25.
18) Księga pamiątkowa ku czci profesora Abrahama, Lwów 1930, S. 471—481.
19) Sbornik ku česti profesora Sišica. Zagreb. 1930.
20) Sprawozdanie Akademji Umiejętnoście 1919, Nr. 7, S. 6—8.
21) Rozprawy Akademji Umiejętnoście wydz. hist. fil. LXII, 1920, S. 1—40
414
Schaffens. „Das religiöse und soziale Leben“ ist und bleibt ein Meisterwerk. Der
Versuch seitens geistlicher Kreise, seinen Wert durch vernichtende Kritik zu
schmälern, blieb ohne Erfolg. Zum geplanten zweiten Bande der „Ritterlichen
Kultur“ verblieben nur vorbereitende Materialien, das „Städtewesen“ ist in einer
über 500 Seiten starken Handschrift fast druckfertig. Es sollte vielleicht sein
Lebenswerk werden, kein anderer Forscher war und ist mit der Eigenart des
polnischen Städtewesens so vertraut, als es Professor Ptasnik gewesen ist, er war
der einzige Spezialist.
Endlich möchten wir noch einige größere Abhandlungen aufzählen, die
außer den schon erwähnten das Städtewesen in Polen betreffen und die als Vor-
studien zu dessen Geschichte betrachtet werden können. Es sind dies: „Ob y-
watelstwo miejskie wdawnej Polsce“ (Die städtische Bürgerschaft
in Alt-Polen), 2) „Zydzi w Polsce wieków średnich“ (Die Juden in
Polen im Mittelalter), ) „Zalew miast polski di przes żydów w
wieku XVI—XVIII“ (Die Ūberflutung der polnischen Städte durch die
Juden im XVI.—XVIII. Idt.), “) „Narodowości w miastach dawnej
Polski“ (Die Nationalitäten in den alt-polnischen Städten),“ „U dzia
miast polskih w dawnych sejmach“ (Der Anteil der polnischen
Städte an den Reichstagen), e) „Walkio demokratyzacje Krakowa
iLwowaod XVI—XVIII wieku“ (Kämpfe um die Demokratisierung
Krakaus und Lembergs im XVI.— XVIII. Idt.), 27 „Walkio demokraty-
zacje Krakowa w XVII—XVIII wieku“ (Kämpfe um die Demo-
kratisierung Krakaus im XVIL—XVII. Idt.), s) und ,Szlachta wobec
miastimieszczahstwa w dawnej Polsce“ (Die Schlachta im Ver-
hältnis zu den Städten und Bürgern in Polen).?®)
Im Nachlaß verblieben noch ferner als Manuskript fast druckfertig die mit
Ameisenfleiß zusammengestellten . „Cracovia artificum 1501—1500
und T. II von 1550—1000 und der geplante zweite Band der „Monumenta
Poloniae Typographica“, endlich „Kultura artystyczna Krakowa w wiekach śred-
nich“ (Die künstlerishe Kultur Krakaus) und eine ganze Menge Quellennotizen,
Mee denen gesagt werden kann, daß sie das ganze Krakauer Stadtarchiv ver-
ten.
Groß waren Prasniks Leistungen, segensreich sein Schaffen. Die Geschichts-
schreibung betrauert einen ihrer besten und gewissenhaftesten Kulturhistoriker,
die Universität und die große Schülerzahl ihren lieben Pedagogen und Meister, die
zurückgebliebene Witwe und das Söhnchen ihren unvergessenen Gatten und Vater,
die Menschheit einen edlen und kristallenen Charakter. Er, unser lieber, unver-
geßlicher Meister, ist dahin, seine Werke, und sein Geist aber leben in uns fort.
Ehre seinem Andenken!
Lemberg. A. Wagner.
22) Przegląd Warszawski 1921, S. 145—165.
23) Ebendort, 1922, S. 215—237.
34) Ebendort, 1924, S. 26—40.
25) Samorząd Miejski, 1925, S. 889—504, 988—996.
26) Samorząd Miejski, 1925, S. 705—730.
27) Kwartalnik Historyczny XXXIX, 1925, S. 82.
28) Ebendort, XLIII, 1929, S. 33.
20) Przegląd Warszawski J™5, S. 89—100, 158—211.
415
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— — - — -
OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU
JAHRBUCHER
FOR |
KULTUR UND GESCHICHTE
DER SLAVEN
IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS
HERAUSGEGEBEN VON
FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-
BRESLAU, ROBERT HOLTZMANN-BERLIN, JOSEF
MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ,
KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER-WIEN,
WILHELM WOSTRY-PRAG
SCHRIFTLEITUNG:
ERDMANN HANISCH
PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG
BRESLAU, RING 58
I
ABHANDLUNGEN
DIE QUELLEN ZUM IDYLL „IVAN IVANOVITSCH“
VON ROB. BROWNING
Von
M. Alekseev (Universitat Irkutsk).
Das ein russisches Sujet behandelnde Poem Rob. Brownings
„Ivan Ivanovitsch“ ist den englischen Literarhistorikern schon längst
als eines der wichtigsten und seiner Anlage nach ernstesten Werke
bekannt, welches zur ersten Serie seiner „Dramatic Idyls“ gehört
(1879). Man pflegt auf seine poetischen Schönheiten, die Tiefe seiner
Hauptidee, ar auf die beachtenswerte ethnographische Treue der
in ihm geschilderten Bilder hinzuweisen. So fand schon Arthur
Symons, daß “the setting of the story ... is admirable. The vast
motionless Russian landscape, the village life, the men and women
are all vivedly painted, and the revelation of the woman’s charakter
— the exposure of her culpable weakness, seen in the very excuses
by which she endeavours to justify herself — is brought about with
singulary masterly art.“) Dieser Außerung schloß sich auch die
spätere Kritik gern an; W. Sharp spricht von “Ivan Ivanovitsch” als
von “the remarkably picturesque and technically very interesting
poem.””) E. Köppel merkt: „Nicht immer ist es dem Dichter
allerdings gelungen, die Handlungsweise seiner Menschen so glaub-
haft zu motivieren; “) eine ganze Reihe ähnlicher für das Poem sehr
anerkennender Äußerungen und Bewertungen könnte man noch um
ein Bedeutendes vergrößern — sie sind eintach traditionell geworden.
Indessen muß zugegeben werden, daß dieses Poem Brownings
bedeutend weniger erläutert worden ist, als es in Wirklichkeit ver-
dient. Seine Entstehungsgeschichte ist bloß in ihren Hauptzügen be-
kannt und ihre nächsten Quellen offenbar noch bis heute nicht völlig
festgestellt. Die Kommentarien gehen gewöhnlich nicht über die Er-
klärung der einzelnen im Werke vorkommenden russischen Wörter,
1) A. Symons. An introduction to the study of Browning, London, 1886,
p. 186—187.
2) W. Sharp. Life of Rob. Browning, London 1890, p. 57.
3) E. Koeppel: Rob. Browning, Berlin 1912, S. 206.
417
oder dem europäischen Leser unverständlicher Einzelheiten des russi-
schen Volkswesens hinaus, wobei diese Erklärung durchaus nicht
immer der Wahrheit entsprechend schließlih sih auf einen un-
klaren Hinweis irgend einer russischen Volksüberlieferung, welche so-
zusagen das Grundgewebe des Poems bildete, beschränken. So hält
E. Berdoe es für eine russische Variante einer der Volkssagen von
Wölfen, die wir alle so oft in unserer Kindheit gehört haben: “chis
is a variant of Russian wolf-story which, in one form or another, we
all heard in our childhood,”*) Mrs. Orr sagt, daß “Ivan Ivanovitsch
an idealized Russian legend” ist. Außerdem bringt man gewöhnlich
dieses Idyll mit der Reise Brownings nach Rußland in Verbindung.
So sagt E. Berdoe direkt, daß Browning, als er Rußland 1834 be-
suchte, daselbst wahrscheinlih Volkssagen von der unglücklichen
Mutter, die ihre Kinder den Wölfen preisgegeben, gehört habe. Zur
selben Folgerung, in mehr oder weniger bestimmten Formulierung,
kommen E. Koeppel,’) V. H. Griffin,“) William Sharp’)
und schließlich Frances S i m.“
Leider ist uns sehr wenig von der Reise Brownings nach Ruß-
land bekannt. Selbst der Zweck, der ihn zu dieser Reise veranlaßte,
bleibt unbekannt. Wir wissen bloß, daß im Frühling 1834, in den
ersten Tagen des Monats März, Browning, noch im Jünglingsalter,
der eben erst seine Kräfte auf literarischem Gebiete versucht hatte
(er hatte schon seine „Pauline“ geschrieben), als Sekretär des russi-
schen Generalkonsuls Benkhausen in England, durch Kurland und
Estland nach Petersburg gereist war. Wie lange Zeit er dort verweilt,
bleibt ebenfalls unaufgeklärt; nach den Berechnungen Koeppels zu
urteilen, müssen es ungefähr 3 Monate, von März bis Juni, gewesen
sein.) In Petersburg beendigte Browning unter anderem auch einige
seiner Gedichte (,,Porphyr:a“ und „Johannes Agricola“, 1835 gedruckt
und späterhin in einem Sammelwerk „Bells and Pomegranates“ zu-
sammengefaßt), studierte mit Begeisterung die Bildergalerie der
) So z. B. erklärt Edward Berdoe (The Browning Cyclopaedia, London 1897,
p. 228) im allgemeinen die vorkommenden Wörter, wie „A werst, Droug, pope,
pomeschik“ etc. ganz richtig, gibt aber Ivan Ivanovitsch unerwartet, vom russi-
schen Standpunkte aus, eine ganz unwahre Deutung; dieser erscheint als „an ima-
ginary personage, who is the embodiment of the pecularities of the Russian
people, ın the same way as John Bull represents the English and Johnny Crapaud
the French charakter“. Es kann hier offenbar bloß die Rede von der in Ruß-
land weiten Verbreitung des Namens Ivan sein, bei dessen Wahl Browning viel-
leicht andeuten wollte, daß sein Held die sehr typische Figur eines russischen
Bauern darstellt, aber auch sonst nichts weiter. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler,
seinen Namen mit dem populären Heldentypus der russischen Volksmärchen
(Ivan, Ivanulka) in Verbindung zu bringen, dessen interessante Analyse unter
anderem M. Baring in seine „Landmarks of Russian Literature“ gegeben hat.
5) E. Koeppel. Robert Browning, Berlin 1912, S. 12.
) W. Hall, Griffin. The Life of Rob. Browning... Completed and edited
by H. Ch. Minchin, London, 1910, p. 64, 266.
7) W. Charp. Op. cit., p. 57.
oon Sim. Robert Browning. The poet and the man. London, 1928,
p. .
°) Koeppel, Ibid. S. 12, 242.
418
„Ermitage“, wobei, wie Griffin mitteilt, eines der Gemälde Albanos,
das den Raub der Europa darstellt und dessen Kopie Browning später-
bin im Florentiner Uffizi zu sehen Gelegenhenit gehabt hatte, in
seinem Gedächtnis so fest haften geblieben war, daß er sich seiner im
“The Ring and the Book” erinnert.“) 1843 schrieb Browning ein
Schauspiel „Only a playergirl“, das jedoch nicht herausgegeben
wurde, wo die Handlung in Petersburg vor sich geht. Hier diente,
nach den Angaben Mrs. Baretts, als Hintergrund die Petersburger
Winterlandschaft, die Perspektive der Paläste, der Eisgang auf der
Newa, und unter den handelnden Personen waren einige sehr treffend
eschilderte Nationalfiguren. Während seines Aufenthaltes in Ruß-
and studierte Browning seine Umwelt offenbar mit großem Erfolg
und Interesse. Ich kenne nicht die Quellen, auf Grund deren Griffin
von einer Festlichkeit spricht, zu der auch Browning zugegen gewescu
sein soll, von seiner Bekanntschaft mit einem gewissen Waring, Mit-
glied der englischen Gesandtschaft in Petersburg, dessen er sich 8 Jahre
später in einem Gedichte, an Alfred Domett gerichtet, entsinnt.
Interessant ist ferner die Angabe Mrs. Bronson s*) von einer Be-
gegnung Brownings mit dem russischen Fürsten Gagarin in Venedig,
wobei die Rede von russischer Musik und russischem Volksliede war
und der Poet alle Anwesenden über seine gründlichen Kenntnisse und
außergewöhnliches Gedächtnis in völlige Verwunderung setzte.
Andere Biographen Brownings übersehen entweder diese Einzelheiten,
oder beschränken sich bloß auf eine einfache Erwähnung seines kurzen
Aufenthalts in Rußland. Die Hauptquelle, welcher man die be-
sonders interessanten Ereignisse dieser Reise entnehmen könnte, näm-
lich Brownings Reisebriefe an seine Schwester, sind leider abhanden-
gekommen; die sie jedoch gelesen haben, entsinnen sich, daß Browning
darin den großartigen Eindruck schilderte, welchen der sich auf viele
Meilen hinziehende ganz verschneite Fichtenwald, durch welchen er
5 und Nacht fahren mußte und auch die Geschwindigkeit der
ittenfahrt in Rußland auf ihn machte.“) Der Anblick des finsteren
Föhrenwaldes im dichten Schnee machte einen so tiefen Eindruck
auf seine Einbildungskraft, daß er 4 Jahre später (1888) ein Gedicht
„A Forest Thought“ schreibt, in dem er die Be estnischen Wälder
und die Erhabenheit der unabsehbaren Waldflächen erwähnt. Das ist
ungefähr alles, was wir von der Rußlandreise Brownings wissen.
Etwas über 40 Jahre später, im August 1878, kam Browning nach
Spliigen, einem im Alpenhochgebirge verlorenen Nest, von wo aus er
in seine italienischen Lieblingsstädte Verona, Asolo und Venedig
niederzusteigen pflegte. Hier gerade wurde das Poem „Ivan Ivano-
vitsch“ angefangen.“)
10) Griffin, p. p. 62—68, 266.
11) Mrs. Bronson. „Browning in Venice.“ „Century Magazine“, vol. LXII,
p. 578—579
12) Mr. Sutherland Orr. Life and Letters of Rob. Browning, London,
1891, p. 64—65.
18) Koeppel. Op. cit. S. 202—208, 851.
419
Der Anblick der mit Schnee bedeckten Gipfel, die Nähe des
ewigen Eisgebietes, die dichtbereiften Föhren, diese ganze Schweizer
Landschaft riefen den russischen Winter und die russischen Wälder
in seinem Gedächtnis wach, und so schuf er sein Poem von der russi-
schen Bäuerin und dem Dorfzimmermann.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß das ganze russische Kolorit
des Browningschen Idylls, die Mond- und Waldlandschaften, die
Schellen, deren Geläut sich in der Ferne verliert, die Schilderung des
russischen Dorfes und vieles andere, den unmittelbaren Eindrücken
vom russischen Leben und Natur zu verdanken ist, die Browning von
seiner Reise 1834 davontrug. Es ist ja möglich, daß diese Beob-
achtungen durch Leben und Auskünfte aller Art später bereichert
wurden, sie haben aber, während der langen Zwischenzeit, die sie von
der Entstehung oder endgültigen Bearbeitung des eigentlichen Werkes
trennt, kaum ihre Frische eingebüßt; sonst hätte Browning wohl
nicht die Bearbeitung desselben unternommen. Diesen Reiseein-
drücken, vielleicht auch den Notizen eines Reisebuches sind die vielen
russischen Wörter in englischer Transcription entnommen, mit denen
das Idyll übersät ist. Geht aber aus all dem hervor, daß Browning
das Sujet zu seinem Idyll auch aus Rußland genommen hat? Es ist
gewiß möglich, daß Browning in Rußland Gelegenheit gehabt hat, Er-
zählungen über Wölfe, welche ganze Dorfherden verwüsteten und
die Bevölkerung) beunruhigten, zu hören und daß die Beschreibung
des Rudels Wölfe, die seine englischen Kritiker in solches Entzücken
versetzten, auf Grund von Beobachtungen an Ort und Stelle gemacht
worden ist. Es könnten ja auch bloß Anklänge an ein, in der euro-
päischen Literatur und Malerei so oft wiederholtes, Motiv über Wölfe
gewesen sein, daß für ein Sujet mit russischem Thema geradezu tradi-
tionell geworden war — entsinnen wir uns z. B. eines allgemein be-
kannten Gemäldes von Horace Vernet „Maseppa aux loups“. Wir
wollen aber die Frage enger fassen: liegt wirklich eine russische
Volksiiberlieferung dem Idyll zugrunde? Wir können mit vollster
Bestimmtheit sagen, daß der erste Teil des Idylls — die Erzählung
der Mutter — nichts gemeinsames mit russischen Volkssagen von
Kindesmördern hat, und unabhängig davon geschaffen ist. Unter
den unzähligen Volkserzählungen dieses Typus finden wir auch keine
einzige Analogie zu Brownings Poem.
Um weitere Erörterungen bequemer vornehmen zu können,
wollen wir den Inhalt kurz wiedergeben. Ort der Handlung ein
entlegenes Dörfchen, in den dichten Wäldern zwischen Moskau und
Petersburg verloren. Ein Wintermorgen. Ivan Ivanovitsch, der ge-
schickteste Zimmermann des Dorfes, ein nordischer Riese, blauäugig,
mit „honigfarbenem“ Bart, behaut eine mit mit kräftigem Schwung
seiner Axt gefällte Fichte zu einem Mastbaum. Plötzlich ertönen
Hufschlag und Schellengeläut. Es zeigt sich ein Schlitten ohne Lenker.
14) P. Stolpjanskij, Wölfe vor einem halben Jahrhundert. „Russ. Archiv“
1907, Nr. 8.
420
Am Boden des Schlittens liegt ein ohnmächtiges Weib, in welchem
die Holzhauer Luscha, die Frau des Nachbarn Demetrius, erkennen.
Das Pferd wankt und stürzt erschöpft zu Boden. Die Bauern um-
ringen den Schlitten. Das Weib kommt zu sich und unter lautem
Schluchzen und Wehklagen erzählt sie den Versammelten von dem
tragischen Ende ihrer drei Kinder. Ihr Mann Demetrius hatte sie in
das Nachbardorf mitgenommen, wohin er zum Bau einer Kirche ge-
rufen worden war. Sie hatten schon die Absicht, heimzukehren, da
bricht in dem Dörfchen plötzlich eine Feuersbrunst aus. Alle Hände
hatten natürlich im Kampf mit dem Element vollauf zu tun und
Demetrius mußte seine Frau und Kinder allein heimlassen. Das
wackere Pferd „Freund“ kennt ja den Veg ausgezeichnet, es wird
sie schon in das Heimatsdorf zurückbringen. Sie fahren ab. Da
durchschneidet plötzlich die frostige Luft ein dumpfer Ton, ein
Stöhnen.
Was that — wind?
Anyhow, Droug starts, stops, back go his ears, he snuffs,
Snorts, — never such a snort! then plunges, knows the sough’s
Only the wind: yet, no — our breath goes up to straight!
Still the low sound, — less low, loud, louder, at a rate
There’s no mistaking more! Shall I lean out—look—learn
The truth whatever it be? Pad, pad! At last, I turn —
T’is the regular pad of wolves in pursuit of the life in
the sledge!
Und da endlich wurden sie sichtbar: Oh, Freund, rette uns! Das
arme Roß strengt alle seine Kräfte an, aber die Wölfe kommen
immer näher. Einer hat schon den Schlitten erreicht. Oh,
dieser erste Wolf, mit dem Teufelsgesicht, er streckt seine Zunge
hervor, er grinst, fletscht seine weißen Zähne. Er springt in den
itten, wühlt mit seinen Pfoten in Decken und Kleidern! Oh,
meine Lieblinge, meine teuren Zwillinge, rühret euch nicht! Stelle
euch tot! Oh! nein, Stepan, du wirst doch nicht Beate der Wölfe
werden. Deine Mutter stirbt an deiner statt. Aber Stepan will
nicht ruhig liegen. Er hört nicht auf die Ermahnungen. War es, daß
ihre Hand ihn nicht mehr halten konnte, oder daß er sich selber los-
rif! Kurz, Ste verschwand. Sie war mit zweien gerettet.
Wiederum Verfolgung! Nicht das volle Rudel, ihre Reihen sind ge-
lichtet, das Getrappel schwächer. Ach, es sind ja einige zurück-
eblieben, sie halten einen Festtagsschmaus! Doch immerhin sind
ihrer noch viele, die nach frischer Beute lechzen!“ Das zweite Kind
Demetrius suchte auf ihren Knien Schutz, sie drückt ihn ans Herz,
aber auch ihn reißt der hungrige Rachen des Wolfes aus den Armen
der Mutter. „Ich sah es, aber was konnte ich anders tun, als zusehen?
Meinen lieben Jungen, so fest ich ihn auch hielt, entriß er mir. Aber
der Jüngste blieb unversehrt. Ich werde ihn zum Manne erziehen!
Er wird seine Brüder rächen!“ Der Tag bricht schon am fernen
Horizont an. Bis zum Hause ist es nicht mehr weit. Aber einer jagt
421
dennoch hinterher. Sie sieht ihn aus der Ferne. Ein Punkt
ein Fleck . . eine Kugel. Wieder derselbe! Sie ergreift seine
Zunge, will sie ziehen, um sie herauszureißen, das machte ihn aber
bloß noch lüsterner nach frischem Fleische. Sie warf sich über das
Kindchen, deckte es mit ihrem eigenem Leibe. Seine Zähne nn
sich in ihre Schulter ein. Sie selbst biß ihn bis aufs Blut. Was konnte
sie sonst noch tun? Er riß ihr das Kind vom Herzen. Da verlor sie
die Besinnung.
Der Bericht der Mutter ist zu Ende. Aber das Sujet des Brow-
ningschen Idylis nähert sich erst seiner Katastrophe. Ihre Beichte
richtet die unglückliche Mutter hauptsächlich an Ivan Ivanovitsch.
Ihr Haupt ruht auf seinen Knien, seine breite Hand streichelt väter-
lich ihr Haar. Voll Dankbarkeit kniet sie vor ihm nieder und
segnet ihn.
en EE solemnly
Ivan rose, raised his axe, — for filty, or she knelt,
Her head lay: well apart, each side, her arms hung, — dealt
Lightining — swift thunder — strong one blow—no need of more!
Headless she knelt on still: that pine war sound at core
(Neighbours were used to say — east, iron — kerneled—which
Taked for a second stroke Ivan Ivanovitch. . .
Wir werden den Inhalt des zweiten Teiles des Idylls nicht genau
wiedergeben. Für das darauf Folgende war es fiir uns bloß wichtig,
auf die Erzählung der Mutter näher einzugehen. Es genügt, wenn
wir wissen, daß der zweite Teil des Idylis eine vielleicht etwas in die
Länge gezogene Szene des Dorfgerichts über Ivan Ivanovitsch dar-
stellt, wo verschiedene Vertreter der russischen Dorfintelligenz lange
Anklage- und Verteidigungsreden halten. Den Sieg trägt schließlich
die Meinung des Priesters davon, der in einem langen Monolog mit
biblischen Sentenzen und Beispielen gewürzt, eine Apologie der
Mutterschaft ausspricht, und die Handlungsweise des vermeintlichen
Mörders rechtfertigt. Das Gericht ist zu Ende und die ganze Bauern-
schaft tritt in das Haus Ivan Ivanovitschs, um ihm das Urteil zu ver-
künden: „How otherwise? asked he“ .... So endigt das Werk
Brownings. Die ruhige Sicherheit Ivan Ivanovitsch., mit der er
erklärt, die Mordtat mit vollem Recht und Gesetzlichkeit begangen
zu haben, stellt einen krassen Gegensatz zu den aufgeregten Streitig-
keiten beim Gerichte dar. Die Schlußworte des Browningschen
Helden schaffen den dramatischen Effekt analog demjenigen, den der
erste Teil des Idylls im Auge hat, wo der, für den Leser völlig uner-
wartete, verhängnisvolle Axthieb, als eine ebenso kühne, wie rasche
Antwort auf die wortreiche Beichte der Mutter, folgt. Das Uner-
wartete dieser Katastrophe macht den Eindruck eines unwillkürlichen
Mordes, eines Aktes der Vergeltung, der sozusagen nicht bis zur Er-
kenntnis des Mörders gedrungen, wie in der amtlichen Tragödie,
nicht seinem Willen nach geschehen ist. Der zweite Teil, namentlich
der Effekt der Schlußscene soll gerade diesen Eindruck abändern.
Dem Gedanken des Autors nach, bricht in der Handlungsweise Ivan
422
Ivanovitschs, das den primitiven und unmittelbaren Vollblutnaturen
eigene und zugleich von großer dynamischer Stärke erfüllte Bewußt-
sein von gewisser althergebrachter, angeborener Moral hervor, vor der
die Schwankenden und zeitlichen Formen der offiziellen Gesetzlich-
keit manchmal zurücktreten müssen. Wenn das der Hauptgedanke
dieses Werkes ist, erscheint dann in diesem Falle das Idyll Brownings
nicht vor allem als Antwort auf eine komplizierte philosophische
Frage und muß dann nicht sein russisches Kolorit als zufällige Hilfe
betrachtet werden, welche eine völlig selbständige und von ihr unab-
hängige philosophische Idee umschließt? Womit ist in den Augen
des Autors die Verlegung des Handlungsortes nach Rußland gerecht-
fertigt und ist die Grundidee mit jenen Einzelheiten der Lebensweise
der russischen Dorfbewohner verknü ft, welche Browning so frei-
gebig überall eingestreut hat. In der letzten Szene z. B. konnte
Browning sih einer Reihe Angaben, rein ethnographischen
Charakters nicht enthalten: hier sind typische russische Namen, die
sehr genaue Schilderung der Vorgänge beim Brotbacken im russischen
Ofen und der „Kreml“, dessen Mauern Ivan Ivanovitsch so kunstvoll
geschnitzt hat, selbst die Ivan Welikykirche, gelb gestrichen, mit zwei
Kuppeln versehen, an denen Kinder anstatt der Glocken Eicheln auf-
hängen; aber Einzelheiten solcher Art und in derselben Menge treffen
wir auch im ersten Teil des Idylls an, wo oo unvermerkt cine
allgemeine und ziemlich richtige Vorstellung von den Sitten und
Gebräuchen des russischen Dorfes geschaffen wird. Die Fülle dieser
Einzelheiten spricht von zielbewußter Auswahl und Anordnung.“)
15) Die russischen Leser haben dieses russische Kolorit des Werkes sehr ver-
schiedenartig bewertet, obgleich man zugeben muß, daß „Ivan Ivanovitsch“ sehr
wenig in Rußland bekannt ist. Bei seinem Erscheinen im Druck ist „Ivan Ivano-
vitsch“ flüchtig in zwei russischen Zeitschriften erwähnt worden. Der anonyme
Referent der ,,JeZelnedelnoje Novoje Vremja“ [Wöchentlihen Neuen Zeit]
(1879, B II Nr. 15, S. 108—115) teilte den Inhalt des Idylls mit, unterließ aber
eine gesamte Abschätzung des Werkes. „Vestnik Evropa“ gab im Gegenteil eine
kurze, aber sehr scharfe Kritik des ganzen Werkes, indem er auch einige Worte
dem uns interessierenden Idyll widmete „als eine der blödsinnigsten und
längsten im ganzen Bande“ (siehe A. Regnard: „Nauka i literatura v Sov-
remennoj Anglii“ („Wissenschaft und Literatur im modernen England“) „Vestnik
Evropy“ 1879, Nr. 7, S. 350—852); diese Rezension ist unter anderem nicht von
Frederik J. Furnivall („A bibliography of Rob. Browning from 1838—1881“,
London, 1882, P 146), vermerkt und ebenfalls von W. Sharp, Life, Bibliography,
p XV. In Rußland hat man auf diese Weise die philosophishe Grundlage des
rowningschen Werkes gar nicht verstanden, auch war sein genaues Schaffen bei
uns recht wenig bekannt, bis zum Ende der 90 er Jahre, da unerwartet ein
großes Interesse für ihn erwachte. Zinaida Vengerova, deren Feder eine selb-
ständige und interessante Skizze über Browning entstammt („Vestnik Evropy“
1896, dasselbe zu ihren Büchern: Literaturnije charakteristiki („Literarische
u kei): St. Petersburg, 1897, Anglijskije pisateli XIX veka“ („Eng-
lische Schriftsteller des XIX. Jahrh.), St. Petersburg, 1918, S. 108—147), finder es
ganz richtig, indem sie sich über Ivan Ivanovitsch äußert, „daß der Mangel an
Zweifeln der Seele eines primitiven Menschen: der Erdscholle und die keine
Schwankungen im entscheidenden Moment kennende, wenn auch zu gewöhnlicher
Zeit apatisch-faule Natur des Slaven in dem Browningschen Helden schr fein
wiedergegeben ist. Beachten wir noch ferner eine für einen Ausländer erstaun-
liche Treue der Wiedergabe einiger Zinzelheiteri der russischen Gebräuche und
sogar der Aussprache der Eigennamen.“ 423
Was ist nun das primäre in der Anlage dieses Werkes: die philosophi-
sche Idee von der Berechtigung, eine Mordtat mit Mord zu sühnen
oder die Darstellung einer Begebenheit, die in Rußland tatsächlich
stattgefunden hat? Hat sich in der Auffassung des Autors auf irgend
eine Weise die zeitliche Weltanschauung seines Helden mit der Vor-
stellung von derjenigen des russischen Bauern 5
Auf alle diese Fragen kann bloß die Analyse der Quellen des
Browningschen Idylls eine genügende Antwort geben. Sie eben muß
es erweisen, aus welchem Kern das Verk entstanden, was den Autor
auf den Gedanken brachte, sich mit der Bearbeitung desselben zu be-
fassen. Daß dem Idyll irgend eine literarische Quelle zugrunde liegt,
nicht aber eine russische Volksiiberlieferung, unterliegt keinem
Zweifel. Browning konnte unmöglich in Rußland die Geschichte von
einer derartigen Mutter hören, weil sie von Grund aus nicht der
Wahrheit entspricht.
Interessant ist zu bemerken, daß im Folklor verschiedener
Völker, insbesondere bei den Slaven, die Geschichten von
Kindermorden sehr verbreitet sind, die aber zu religiösen und
altruistischn Zwecken verübt, gerechtigt werden. Ostslavische
Varianten, russische und ukrainische, sprechen von Opferung des
eigenen Kindes um Gottes und des Glaubens willen, aus Liebe zum
Armen, als Erkenntlichkeit für einen Liebesdienst, endlich zur Er-
rettung eines Freundes von einer Krankheit; eine wunderbare Wieder-
erweckung eines solchen Kindes ist das gewöhnliche Ende der Ge-
schichten von diesem Typus.) Auf slavischem Boden, insbesonders
auf russischem, ist auch noch die Sage von der sündhaften Mutter,
welche ihr Kind aus Scham vor dem Gerede der Leute oder aus per-
sönlichen egoistischen Trieben tötet; aber in solchen Fällen trägt die
Mutter immer eine schwere Strafe davon. Solche Legenden stehen
am häufigsten mit apokriphischen und geistlichen Versen im Zu-
sammenhang. J. A. Jaworsky, der diese Legenden auf russischen
Boden untersucht hat, bemerkt, daß, obgleich das Motiv der Kinder-
morde in der russischen Volksliteratur sehr tiefe Wurzeln geschlagen
hat und originell und farbenprächtig bearbeitet ist, so ist diese Bear-
beitung doch einseitig; „ein Kindermord im direkten Sinne, d. h. ein
bewußter Mord lebendiger Kinder, wie in der westeuropäischen
Volkspoesie, ist hier eigentlich überhaupt nicht vorhanden; der be-
wußte Mord eines lebendigen, schon geborenen Kindes durch die
eigene Mutter — ist als ein zu abstoßendes und grauenhaftes Motiv
von derselben überhaupt nicht aufgenommen worden. Auf diese
18) Einem vergleichenden Studium dieser Legenden widmete M. P. Drago-
manov eine spezielle Untersuchung „Slavische Sagen über die Opferung des
eigenen Kindes“ im „Sbornik za narodni umotvorenia“ I, 65—96 (bulgarisch);
dasselbe (ukrainische Übersetzung) in seinen „Rozvidky“ („Untersuchungen“),
Bd. III, S. 150 ff.
17) J. A. Javorskij. Geistlicher Vers von dem sündigen Weibe (Duchovnij
stih o greinoj devce), „Izbornik Kievskij“, Kiev, 1904, 884—887 (russisch):
großes Folklormaterial auch bei V. Gnatjuk. Pisnia pro pokritku. Materialy
do ukrainskoj Etnologii, XIX—XX, 249—889 (Lemberg, 1919).
424
Weise ist die Psychologie der Heldin im Browningschen Idyll dem
russischen Volksbewußtsein vollständig fremd und weckt eher die Er-
innerung an die antike Mythologie wach (gedenken wir der Medea,
die ihren Bruder in Stücke schnitt, um der Verfolgung zu entgehen).
Aber auf der Suche nach einer Analogie des Sujets des Browning-
schen Idylis ist es wohl kaum nötig, so weit zurückzugreifen. Die
Quelle der Erzählung der Mutter kann, meiner Meinung nach, ganz
genau angegeben werden. Das ist eine Erzählung aus dem Buche von
F. Lacroix „Les mystéres de la Russie. Tableau politique et morale de
l’empire russe“ (1844). Dieses Buch hate großen Erfolg. Die ver-
breitetsten Zeitungen zitierten es und überhaupt übte es unstreitig
einen influß auf die öffentliche Meinung aus. Das Interesse
ü n die große Zahl der Ausgaben und Übersetzungen in
fast ganz Europa. 1844 kommt es in Bruxelles heraus, 1845 in Paris,
dann folgen deutsche, spanische und italienische Obersetzungen.”)
Die Grundlage dieses Buches bildet sozusagen die Handschrift eines
Diplomaten, der lange Zeit in Rußland gelebt haben soll und Muße
hatte, sich Leben und Staatsordnung anzusehen, wie auch Reisenotizen
und verschiedene Aufsätze über Rußland. ets Zoch das Buch in
ruhigem Tone geschrieben und völlige Unparteilichkeit zu zeigen be-
strebt ist, so unterstreicht es doch mit entschiedener Bestimmtheit
die feindselige Gesinnung der französischen öffentlichen Meinun
dem Rußland des Caren Nikolaus I. gegenüber.“) Eben dieses Bu
enthält eine kleine Geschichte, die in nächster Beziehung zum Brow-
ningschen Idyll steht. Ich führe sie hier buchstäblich an: „On ra-
conte qu’une femme russe revenant avec ses trois enfants, d’un
village voisin de sa demeure, au milieu de l’hiver et par un froid
rigoureux, fut assaillie par des loups affamés. Pour échapper à la
suite de ces redoutables animaux, elle excita le cheval attelé
son traineau et chercha, mais vainement, 4 épouvanter les loups par
ses cris. Le traineau avangait rapidement sur la neige, mais le troupe
acharnée allait aussi vite, et la paysanne vit qu’il ne lui restait aucune
chance de salut. En ce moment supréme, va sans doute, croyez-
vous, placer ses enfants sur le traineau, fouetter vigoureusement le
coursier, dans l’espoir qu’il les raménera tout ceul au village, puis se
livrer elle m&me, mére courageuse et devouée à la voracité des loups?
Point. Ce sont ses enfants qu'elle abandonne. Elle en jette d’abord
un, puis, cette proie n’ayant fait qu’aiguiser l’appetit des bétes, elle
laisse tomber le second. Enfin, le troisitme suit bientöt ses deux
fréres; et la mére triomphante rentre, saine et sauvé, sous le toit con-
. Voila, ce que l’esclavage fait d'une femme, d'une mère.
18) Regensburg 1844, 2. Aufl. 1848, Sevilla 1845; ,,Prima versione italiana”
des Dr. G. G., Fiume, 1868 etc. vgl. „Catalogue de la Section des Russica“
(St. Petersburg 1878) t. I, p. „ Nr. 259—268.
19) E. Tarle. „Zapad i Rossija“ (Westeuropa und Rußland). Petersburg,
1918, S. 69, 72—73.
28 ur 6 425
De pareils faits sont possibles partout ou une cause puissante de per-
version agit incessament sur l'esprit et le moral d'un peuple "29
Die frappante Ähnlichkeit dieser Geschichte mit der Erzä
der Mutter bei Browning läßt uns annehmen, daß eben das Buch
Lacroix’ Browning den Anstoß zur Schöpfung seines dramatischen
Idylls gegeben hat. Die Erzählungen stimmen in allen Einzelheiten
überein. Wie bei Lacroix, so auch bei Browning suchen die Heldinnen
anfangs dem sie verfolgenden Rudel zu entgehen; die eine wie die
andere hat drei Kinder, welche eins nach dem anderen im Wolfs-
rachen verschwinden usw. F. Lacroix sagt nicht, woher seine Er-
zählung stammt. In den Büchern, die zweifellos von dem französi-
schen Publizisten für sein Werk benutzt worden waren, findet sich,
soviel ich weiß, diese Erzählung nicht, wie auch in einer Reihe anderer
Werke über Rußland fehlt. Ich fand auch in der russischen Literatur
keine Varianten derselben. Es ist sehr leicht möglich, daß Lacroix
es selbst als Illustration einer der Thesen seines Buches ersonnen hat.
Daß Browning das Buch von Lacroix kannte, ist sehr wahrscheinlich,
obgleich keine Beweisgründe zu unserer Verfügung vorhanden sind,
die es uns erlauben könnten, das kategorisch zu behaupten. Dafür
sprechen einerseits die Popularität des Buches, das viele Auflagen und
bersetzungen erlebt hat, andererseits die Belesenheit Brownings
gerade in der französischen Literatur, die er mit Aufmerksamkeit und
Eifer verfolgte und welche auch in seinem Schaffen zweifellose Spuren
hinterließ.) Browning konnte während eines seiner Besuche in
Paris an dem Buch Lacroix Interesse gewinnen, es konnte ihm von
irgend einem seiner französischen Freunde genannt worden sein,
ließlich konnte er es auch in italienischer Sprache gelesen haben.
Wie verfuhr nun Browning mit der Erzählung, auf die er offenbar
im Buche von Lacroix stieß? Er hat sie zu allererst entwickelt, indem
er sie mit malerischen Einzelheiten bereicherte. Außerdem hat er sie
stark psychologisiert, indem er die zeitliche Exposition durch den für
sein Werk so typischen Monolog der Muter ersetzte, in dem das Vor-
gefallene als Erinnerung wiedergegeben wird. Er veranlaßt die Heldin
selbst, die Tragödie eines willenlosen und schwachen Weibes vor den
Augen des Lesers zu enfalten, in der sogar die Mutterliebe vor den
Qualen und dem Tode schwach wird und welche unwillkürlich sich
selbst betrügt in dem Bestreben, sich vor den Dorfbewohnern zu
rechtfertigen. Diese wesentliche Veränderung mildert die Grausam-
keit des von Lacroix geschilderten Bildes erheblich; seine Mutter, die
eine Mordtat begangen, kehrt ja einfach mit Triumph unter das
eheliche Dach zurück. Ihr fehlt sogar das einfachste Bewußtsein ihrer
Schuld. Browning mußte selbstverständlich die psychologische
Wahrheitstreue einer solchen Szene bezweifeln. Er beschränkte sich
SCH F. Lacroix, Les mystéres de la Russie. Paris 1845 (Pagnerre), p. p. 528
21) Karl Schmidt. Robert Brownings Verhältnis zu Frankreich, Berlin,
1909, S. 7—44.
426
aber nicht darauf, die siindhafte Mutter ihre Zuflucht zu einem ge-
wissermaßen öffentlichen Bekenntnis nehmen zu lassen. Der Schwer-
punkt im Idyll ist auf die Tat Ivan Ivanovitschs verlegt, weshalb auch
die Uebrschrift seinen Namen trägt: „Ivan Ivanovitsch“ ist der eigent-
liche Held des Werkes. Obgleich er selbst fast gar nicht spricht, so
bleibt er dennoch eine beredte Figur, da Browning selbst für ihn
spricht. Infolgedessen ist Browning unendlich weit von der Er-
zählung Lacroix’ entfernt. Für den letzteren ist diese ganze Ge-
schichte nur dazu da, um ein überflüssiges Mal den 3
Einfluß zu unterstreichen, den die Leibeigenschaft auf die russische
Bauernschaft ausübt. Im Gegensatz zu ihm schließt Browning,
wenigstens im ersten Stadium seiner schöpferischen Bearbeitung dieses
Themas, die Augen, was Milieu und Epoche anbetrifft. Ihn inter-
essieren allgemeine philosophische und ethische Fragen. Ihn gehen
die Ursachen, welche die russische Bäuerin zu dem Verbrechen
führten, nichts an, das ist auch keine russische Bäuerin, sondern über-
haupt eine Mutter. Er beschuldigt nicht nur sie, sondern auch die
Willenlosigkeit und Athrophie des Muttergefühles überhaupt. Sein
Zimmermann und sein Priester sind aus demselben Grunde nicht
wahrheitsgetreu. Von den historischen und ethnographischen Bildern
geht Browning fortwährend zu allgemeinen Lebensproblemen über.
Und erst dann, wenn sie gelöst sind, kehrt er wieder zur Handlung
und den Einzelheiten der Sitten und Gebräuche zurück. Das Drama
ist geschaffen. Er stellt die Kulissen auf und kleidet die handelnden
Personen in russische Trachten; die Schminke mag ja tadellos sein,
aber der Eindruck von echtem Leben wird trotzdem nicht hervor-
gerufen, da die Rolle unabhängig von demselben geschaffen ist. So
auch im russischen Idyll Brownings: der Fond ist sehr malerisch, die
Dekorationen und Kostüme ganz echt, aber die Schauspieler haben
sich nicht mit der Rolle, die sie zum erstenmal zu spielen haben, ver-
traut gemacht.
427
POLNISCHE UND LITAUISCHE STUDENTEN
IN KONIGSBERG
Von Theodor Wotsdke.
Es war eine Groftat im Reiche der Kultur- und der Geistes-
geschichte, als der erste Hohenzoller auf Preußens Herzogsthron 1544
an der Grenze der Kultur und der Barbarei eine neue Hochschule
gründete. Eine Bildungsstätte war damit geschaffen, die nicht nur
dem deutschen Grenzlande diente, hier neues geistiges Leben weckte
und, förderte, sondern weit über seine Grenzen hinaus nach dem
Norden und Osten wirkte, wissensdurstige Jünglinge aus Polen und
Litauen und den skandinavischen Reichen anzog, durch sie Wissen
pflanzte, Erkenntnis weckte auch bei den Nord- und Ostleuten, mit
den Humanisten zu reden, bei den Hyperboräern. Keine deutsche
Universität hat etliche Jahrzehnte auf den slavischen Osten so stark
eingewirkt wie die Albertina. In dem großen Geisteskampf des
16. Jahrhunderts, als die Frage nach einer Erneuerung der Kirche die
Herzen bewegte, ist von ihr ein Strom neuer Gedanken nach dem
Osten gegangen, hat sie Männer ausgebildet, die als Herolde der
Reformation hinausgezogen sind, Flugschriften, Bücher ausgehen
lassen, die weithin Kunde gaben von dem, was der Wittenberger
Monch in seinem Ringen vor Gott erkannt hatte, Katechismen,
Kanzionale, Postillen, Neue Testamente gedruckt,. das neue religiöse
Leben, das bis nach Moskaus Grenze hin sich regte, zu pflegen. In
der Hand ihres edlen Gründers war sie das vorzüglichste Instrument,
das, was sein Herz erfüllte, auch dem Osten zu bringen, ihn zu
evangelisieren. Ein fesselndes Bild, ihre Auswirkungen im Lande des
Njemen und der Weichsel zu verfolgen.
Schon die Vorschule der Universität, das sogenannte Partikular,
hatte Bedeutung und Einfluß über Preußens Grenze hinaus. Ihr
Rektor war ja der um seines Glaubens willen aus Wilna geflüchtete
Abraham Culvensis. Als erster Litauer hatte er, ein Sproß des
Bojarengeschlechts der Hadath auf Kulwa nordöstlich von Kauen,
der schon in Löwen zu des Erasmus Füßen gesessen, 1536 die
Leucorea bezogen, auch Leipzig aufgesucht. Nach einer Reise nach
Italien war er zur Lutherstadt, die ihm das Herz abgewonnen, zurück-
gekehrt, dann mit einem Empfehlungsschreiben Melanchthons an den
Wojewoden von Troki, Stanislaus Gastold, in die Heimat geeilt, hatte
428
hier gelehrt und gepredigt, was er von den Reformatoren gelernt.
Aber im Sommer 1542 hatte ihn eine anhebende Verfolgung nach
Königsberg getrieben, wo alsbald ein Ruf Herzog Albrechts an ihn
erging. Auch im Partikular hatte er Litauer unter seinen Schülern.
Unter preußischem Schutze konnte er verschiedentlih auch die
Heimat aufsuchen, hier weiter den Samen neuer Erkenntnis aus-
streuen, seine Landsleute auch Psalmen lehren, die er selbst ins
Litauische übersetzt hatte, wie auch das Lutherlied „Gott sei gelobet
und gebenedeiet“. In der Heimat hat er, in dem seine Freunde schon
den Apostel, den Reformator, Litauens zu erblicken gemeint, auch
frühzeitig (6. Juni 1545) seine Augen geschlossen. Ein schwerer Ver-
lust für die junge Hochschule, an der er die Professur der griechischen
Sprache übernommen hatte, noch schwerer für die Mission, die ihm
im Osten zugedacht war, um so schwerer, da vier Wochen vor ihm
auch der andere Litauer an der jungen Hochschule, der Professor der
Theologie Stanislaus Rapagelan, der Sohn des Bojaren Georg Swiatzko
Rapailowitz, am 13. Mai 1545 vom Lehrkatheder ins Grab gesunken
war. Auch ihn, einen ehemaligen Franziskanermönch, hatte Witten-
berg gebildet, auch ihn hatte Herzog Albrecht gerade mit Rücksicht
auf Polen und Litauen berufen und die wichtigste Professur ihm über-
tragen, dazu angewiesen, die Bibel ins Polnische zu übersetzen. Er
hatte damit bereits begonnen, als der Tod ihm die Feder aus der
Hand nahm. Gleichwohl ist sein Name wie der des Culvensis un-
lösbar mit der Reformation im Osten verbunden, denn sein Vater-
land verdankt ıhm gleichfalls ein litauisches Glaubenslied, Kitta
giesme, d. i. ein anderes Lied von dem Leiden unseres Herrn Christus.
Auch eine Abhandlung über die Ohrenbeichte hatte er zu schreiben
begonnen. In der Fürstengruft im Dom ließ ihn der Herzog bei-
setzen. Mit diesem, der Universität und ihren Studenten trauerten
alle Reformfreunde Polens und Litauens. „Wie schnell ist unsere
Hoffnung zunichte geworden“, klagte der bekannte Drucker und Ge-
lehrte Bernhard Wojewodka in Krakau, der selbst in den Fluten der
Weichsel auch vorzeitig sein Ende fand. Rapagelans Professur er-
hielt Friedrich Staphylus, ein Niederdeutscher, der aber seine Jugend
in Kauen und Vilna verlebt, in Krakau studiert hatte, im Gsten
manchen Freund und Gönner besaß, die polnische und litauische
Sprache beherrschte. Er sollte gleichfalls dem Nachbarlande dienen
und den Studierenden, die aus Im zur Albertina kommen würden,
besonders aber Rapagelans Bibelübertragung fortsetzen. Indessen
hat er diese Arbeit sich nicht angelegen sein lassen, überhaupt nach
jeder Seite enttäuscht.
Doch nicht von Lehrern der Albertina, von Studenten soll diese
Studie handeln.
Aber wir können hier nicht scharf unterscheiden. Zumal in den
ersten Jahren der Hochschule haben sich auch viele einschreiben
lassen, die ihre Studien längst abgeschlossen hatten, in einem Amte
standen, ihrerseits lehrten. So Johann Seklucyan, der Inische
Prediger der Stadt, der Leipziger Baccalar und Posener Flüchtling,
429
der unermüdliche Verfasser, Übersetzer, Herausgeber, Verbreiter
polnischer Schriften, der von Preußens Hauptstadt aus seinem Volke
eine ganze evangelische Literatur geschenkt hat (t 1578), immer
wieder fromme, erbauliche Schriften drucken ließ und sie zu ver-
kaufen, geschützt durch herzogliche Briefe, in seinem Vaterlande
herumreiste, der die Blütezeit der polnischen Literatur im
Reformationsjahrhundert eingeleitet hat. So auch Martin Glossa, der
einstige Krakauer Professor, dann preußische Pfarrer, der es auch als
Ehrensache betrachtete, Bürger der neuen Akademie zu werden. Die
Litauer Johann Zaphischa und Johann Adam, deren Namen uns
bereits auf dem ersten Blatte der Matrikel begegnen, die sich schon
hatten einschreiben lassen, bevor noch die Leuchte der jungen Hoch-
schule, der Humanist Georg Sabinus, Melanchthons Schwiegersohn,
der erste Rektor in Königsberg, eingetroffen war, vermag ich nicht
näher nachzuweisen, Hieronymus Sandicensis aber, der ıhnen bald
folgte, ist der Sohn des Glaubensflüchtlings aus Sandec, Johann
Maletius, der von Herzog Albrecht das Pfarramt in Lyck erhalten
hatte, eines Konkurrenten des eben genannten Seklucyan, der sich
patak die Verbreitung polnischer reformatorischer Bücher ange-
egen sein ließ, auf einer eigenen Druckerpresse einen Katechismus
druckte, ja selbst an ein polnisches Neues Testament sich wagte, das
aber über den ersten Bogen nicht herausgekommen ist. Unser
Hieronymus, nach seinen Studienjahren erst Lehrer in Lyck, dann
Nachfolger seines Vaters im Pfarramte daselbst, folgte ihm auch in
der Pflege des polnischen Schrifttums. Die preußische Kirchen-
ordnung vom Jahre 1558 hat er 1560 übersetzt, mit Radomski auch
die preußische Bekenntnisschrift Repetitio corporis doctrinae
Prutenici übertragen. Wie der Kirche wollte er auch der Wissen-
schaft dienen, er plante die Herausgabe eines groß angelegten
lateinisch-deutsch-polnischen Lexikons, bemühte sidr schon um das
erforderliche Privilegium, das sein Werk vor unbefugtem Nachdruck
schiitzen sollte, da Ee ihm Johann Maczinski mit seinem Wörter-
buche 1564 zuvor und durchkreuzte sein Unternehmen. Erschien
Johann Schuka aus Wilna, so Joachim Cimerikus aus Kauen. Krakau
vertrat Petrus Vogelweider, der Patriziersohn, später Ratsherr in
seiner Vaterstadt, Senior der evangelischen Gemeinde daselbst,
Freund und Gönner des bekannten Christoph Thretius, des Sturm-
schülers, der ihm seines Meisters Buch über den Rhetor Hermogenes
gewidmet hat. Die nähere Heimat von Kaspar Chodzieski, joka
Czekanowski, Albertus Schwath, von dem Litauer Matthaeus Paulus
kenne ich nicht. Sollte Johann Papowski, der gleich nach diesem vor
den Rektor trat, identisch sein mit dem großpolnischen Edelsohn
Johann Pampowski, der 1537 schon in Wittenberg studiert hat, aus
dessen Familie wir verschiedene Glieder in den dreißiger Jahren auch
in Frankfurt und Leipzig sehen? Augustin Jamantowicz, den ich für
das erste Jahr der Albertina als letzten der Studenten aus dem Osten
nenne, war wohl ein Großlitauer, seit 1555 Pastor in Kraupischken,
dann in Ragnit, wo er 1576 gestorben ist. An einer litauischen
430
Übersetzung des Neuen Testamentes hat er gearbeitet, sie aber nicht
mehr abschließen können, und das Manuskript seiner Übertragung
ist verloren gegangen. Als frommer Dichter hat er seinem Volke ver-
schiedene geistliche Lieder geschenkt, darunter eine Bearbeitung des
124. Psalmes.
In ihrem zweiten Jahre sah die junge Hochschule unter ihren
Bürgern die Polen Johann Witunski und Johann Dambro. Dies ist
doch Johann Firlej von Dambrowica, der später zu den ersten Ämtern
emporstieg, Wojewode von Belz, Lublin und 1571 schließlich von
Krakau wurde, der treue Schutzherr der evangelischen Kirche und
Wächter über ihre Rechte, für die er zu früh am 27. August 1574
heimging. In der Geschichte lebt besonders sein kraftvolles Auftreten
bei der Krönung am 21. Februar 1574, da er König Heinrich zum Eid
auf den Religionsfrieden zwang. Seinen Bruder Andreas, den späteren
Hauptmann von Sendomir und Kastellan von Lublin (t 1585) zog
er im Oktober 1551 nach sich zur Albertina. Kasimir Horwidowitz,
Hieronymus Opachowski und Lorenz aus Krakau wollen wir über-
ehen, einen Augenblick aber bei Benedikt Witoslawski, dem im
8 1550 sein Bruder Johann folgte, verweilen. Er war aus
groß polnischem Geschlecht und hat seine Söhne Johann und Benedikt
1572 nach Vittenberg geschickt. Dort sehen wir 1581 auch einen
anderen Johann aus dieser Familie, in Altdorf 1583 einen Albert, ın
Heidelberg das Jahr darauf einen Matthias. Zwei Brüder, Christoph
und Swentoslaus Vitoslawski, begegnen uns noch 1611 als
Gymnasiasten in Thorn. Auch ein Stanislaus Sobek, ein Verwandter
des Kalischer Wojewoden Martin Zborowski, war im Frühjahr 1546
zu Preußens Universität gezogen, während sein Bruder oder Vetter
Nikolaus wenige Monate zuvor zur Reformationsstadt an der Elbe
ewandert war. Unsere volle Aufmerksamkeit beanspruchen die
iden Brüder Jakob und Johann Niemojewski aus Kujawien. Ver-
anschaulichen sie doch so deutlich die Entwicklung der reformatori-
schen Gedanken in Polen. In Königsberg haben sie lutherische Ge-
danken in sich aufgenommen, der ältere Bruder Jakob ist 1550
noch nach Wittenberg gezogen, wo 1592 auch noch sein jüngster Sohn
Alexander studierte, doch hat er sich später den böhmischen Brüdern
und Reformierten angeschlossen, für die er auch mutig gegen die
Jesuiten in die Schranken trat. Der jüngere Bruder Johann, der
Landrichter von Hohensalza, aber hielt sich seit 1562 zu den Uni-
tariern und Anabaptisten, predigte durch Wort und Vorbild die
Nachfolge Christi in Armut und Niedrigkeit, wurde ein Apostel
des Kommunismus und Pazifismus. Auf dem Reichstage 1566 er-
schien dieser ehemalige Student der Albertina inmitten der glänzen-
den Versammlung in einem schlichten grauen Gewande ohne Degen.
Er hat bald auch sein Amt niedergelegt, seine Güter verkauft und
sein Vermögen seinen Glaubensbrüdern in Lublin, zu denen er ge-
zogen war, gewidmet (f 1598). Im letzten Glaubensgrunde mit
Socino, dem großen Theologen des Unitarismus, einig, hat er doch
auch vielfältig, besonders in Verteidigung seiner wiedertäuferischen
431
Gedanken, wider ihn gestritten. Ist der Laurentius aus Krakau, der
noch vor den Brüdern Niemojewski um Aufnahme nachsuchte,
Laurentius Diskordia, der spätere evangelische Hofprädikant? In
Krakau hatte er freilich seit 1539 studiert, doch seine Heimatstadt
war Przasnysz. jedenfalls war Diskordia mit einem Empfehlungs-
schreiben des litauischen Magnaten Stanislaus Kieyzgalo nach Königs-
berg 1546 gekommen. Übrigens müssen wir konstatieren, daß die
Matrikel nicht alle Studenten bietet, die damals in Königsberg um
die Wissenschaften und Sprachen sich bemüht haben. Der Litauer
Johann Melanops, der als verschiedene Schriften in Preußens
Hauptstadt ins Polnische übertrug, von dem Herzoge 1548 an den
obengenannten litauischen Magnaten empfohlen wurde, ist in ihr
nicht verzeichnet, ebensowenig Gregorius Pauli, der spätere Krakauer
Pastor, dann Führer der Unitarier und Anabaptisten. Und doch
wissen wir aus anderen Quellen, daß er 1547/48 in Königsberg ge-
weilt hat, von hier nach Posen als Lehrer an die Pfarrschule ge-
gangen ist.
1546/47, als der schmalkaldische Krieg Wittenberg verödete,
auch Melanchthon flüchtete, konnte in Königsberg sein Schwieger-
sohn Sabinus als Studenten aufnehmen die Edelsöhne Kaspar
Gnoinski, Job Policki aus Großpolen, Christoph VIodzislawski, ein
Sohn jener Familie, die auf ihrem Erbgute Wiodzislaw seit 1557 so
mancher evangelischen Synode freundliche Aufnahme gewährt hat,
ferner Stanislaus und Albert Lachowski, dieser nicht zu verwechseln
mit dem jüngeren Freunde Lismaninos, Albert Latkowski, der 1564
aus Nürnberg an den ehemaligen Franziskanerprovinzial einen
italienischen Brief gerichtet hat. Auch angehende Gelehrte konnte
der Rektor immatrikulieren, so Georg Heuschitz oder Haustinz aus
Litauen, 1541 herzoglicher Stipendiat in Wittenberg, dort auch un-
längst (August 1546) schon in den Kreis der Magister eingetreten,
nachdem er Juli 1543 noch einmal infolge des Todes seiner Eltern
mit herzoglichen Empfehlungsbriefen an den Wilnaer Wojewoden
Johann Chlebowicz zum Schutze seiner bedrängten unmündigen
Brüder in die Heimat geeilt war, so Georg Zablocki. Dieser hatte
bereits seit 1528 in Krakau, seit 1540 in Wittenberg studiert, dann
neben Culvensis in Wilna unterrichtet, mit ihm nach Königsberg
flüchten müssen, dank der Fürsprache des preußischen Herzogs aber
ein neues Amt in Polen erhalten, das er indessen aufgab, um dem in
Litauen wieder missionierenden Culvensis von neuem sich anzu-
schließen. Nun führte ihn dessen Tod noch einmal nach Königsberg.
Er war später Präzeptor in verschiedenen vornehmen Häusern, be-
gleitete auch 1560 die Söhne und Neffen des litauischen Marschalls
Wollowicz nach Tübingen zum Studium. Von dort unternahm er
eine Reise nach der Schweiz. Mit Bullinger stritt er über die Abend-
mahlslehre und vertrat dabei so nachdrücklich und glücklich die
lutherische Auffassung, daß der Züricher Reformator seine Freunde
in Genf vor ihm warnen zu müssen meinte: „Prudentes este“! Auch
als litauischer Liederdichter verdient Zablocki Beachtung, noch mehr
432
sein Kommilitone und Landsmann Martin Mosvid, den Herzog
Albrecht selbst zum Studium nach Königsberg gezogen hat, der schop
nach drei Semestern das Bakkalaureat erwarb, 1549 Pastor in Ragnıt
wurde. Nur 14 Jahre hat er hier gewirkt, schon 1562 raffte ihn der
Tod dahin, aber tief hat er seinen Namen in die Geschichte seines
Volkes und seiner Kirche eingeschrieben. Ahnlich wie Seklucyan
Polen hat er Litauen als Schriftsteller und Evangelist gedient. Die
ältesten Litauer Drucke tragen seinen Namen. Georg Gerullis hat
sie unlängst im Gleichdruck herausgegeben. Noch Student in
Königsberg hat er 1547 einen Katechismus erscheinen lassen. Am
wertvollsten ist sein Gesangbuch, das vier Jahre nach seinem Tode
erschien. Die meisten Lieder hat er selbst gedichtet, einige haben
ihm die Litauer geliefert, die damals mit ihm in Königsberg studiert
haben und die als Schüler der Albertina wir ohnehin hier nennen
müssen: Alexander Radonius, später bis 1583 Pastor in Kuckerneese
in der Niederung, Bartholomäus Villentatius, ein Vetter Mosvids,
seit 1550 litauischer Prediger in Königsberg, bekannt auch als Heraus-
geber eines litauischen Enchiridions.
Wenn wir die Studenten des Wintersemesters 1547 durch-
mustern, bleibt unser Blick gleich bei dem ersten haften, den der neue
Rektor Staphylus einschreiben konnte, Valentin Bohemus Brzozowski.
Er hat 1554 in prächtigem Druck ein polnisches Gesangbuch erscheinen
lassen, eine Übertragung des böhmischen Briiderkanzionals. Hat das
Bedürfnis der Gemeinden und die Sorge für die reformatorische
Kirche so gebieterisch zu den Studenten der Albertina gesprochen,
war in ihnen der dichterische Trieb selbst so lebendig, oder hat ein
Mahnwort des frommen Herzogs sie angehalten, sind sie auch an-
geregt worden von dem herzoglichen Hofmusikus Adrian Petit
Coelico, der damals neben ihnen studierte? Fast unmittelbar nach
dem Sänger Valentin hat sich ein Stanislaus Musa aus Wilna und ein
Litauer Johann Schaduk immatrikulieren lassen. Auch dieser letztere
hat in die Harfe gegriffen, auch von ihm bringt das Mosvidsche Ge-
sangbuch ein Lied. Der Franziskus Jerayski, der nach ihm zur Hoch-
schule kam, ist doch wohl ein Gorajski, ein Sohn jenes Geschlechts,
das seine Söhne in der Folgezeit auch nach Heidelberg, Basel, Alt-
dorf gesandt und in Zbigniew Gorayski, dem Chelmer, dann Kijewer
Kastellan, im folgenden Jahrhundert der evangelischen Kirche einen
hervorragenden Führer geschenkt hat. Nach Leipzig schickte der
Erbherr von Grabow und Kastellan von Nakel, Wenzel Zaremba,
seinen Sohn Nikolaus, wohl weil er selbst 1522 dort studiert hatte,
doch seinen Sohn Johann ließ er nach Königsberg gehen. 1549 rief
er ihn durch Seklucyan zurück, weil er nun in Paris seine Studien
fortsetzen sollte. Mit dem großpolnischen Magnatensohn sehen wir
zusammen zu den Füßen der Königsberger Lehrer verschiedene
litauische, die Söhne des Wojewoden von Nowogrodek, Paul Sapieha,
Nikolaus, paier Wojewode von Minsk und Witebsk, und Johann,
später Kastellan von Brest und Smolensk, von dem Lubliner Kastellan
Johann Tenczynski dem Herzog Albrecht noch besonders empfohlen.
438
Vorübergehend brachen sie in ihrer Familie dem reformatorischen
Gedanken Bahn. Ein Gregor Sapieha ist 1567 nach Leipzig und im
folgenden Jahre zur Lutherstadt gezogen, bis dann Leo Sapieha, auch
in Leipzig gebildet, 1586 zur alten Kirche zurücktrat und als Wilnaer
Wojewode der Wiederhersteller des Katholizismus in Litauen wurde.
Student der Albertina war 1547 ferner der Sohn des Kastellans von
Troki, Johann Chodkiewicz, der spätere Hauptmann von Samo-
itien, der 1550 noch nach Leipzig ging, vorübergehend auch Witten-
Berg aufsuchte, doch nach 1% Jahrzehnten gleichfalls der Reformation
wieder untreu wurde und von sich warf, was er auf den evangelischen
Hochschulen in sich aufgenommen hatte. Sonst finden wir in jenem
Semester in den Bursen der Albertina noch Michael Retzkowski,
Bartholomäus Grzezimbowski, dazu verschiedene Ruthenen, den
Podolier Johann Zernicki, die Litauer Stanislaus Holbitz, Jakob
Villamovius, Valentin Vilkomirius, wohl Begleiter der Sapicha,
schließlich die Polen Nikolaus Ozorowski und Albert Czachowski.
In den nächsten Semestern ging der Besuch der Albertina etwas
zurück. Die politische Lage war unsicher geworden, vielleicht ein
Zug des siegreichen Kaisers nach Preußen zur Vollstreckung der Acht
zu befürchten. Immerhin konnte der Rektor Christoph er im
Sommer 1548 aufnehmen den großpolnischen Magnatensohn Sigis-
mund Czarnkowski, dessen Familie aber trotz des Studiums ver-
schiedener ihrer Söhne auf evangelischen Hochschulen und selbst in
Wittenberg fest zur alten Kirche hielt, seinen Pädagogen Rochus aus
Peisern, weiter den jungen Grafen Andreas Ostrorog, aus Rogasen
den Bürgersohn Johann Klicius, der im November 1549 sich zur
Leucorea am Elbestrande wandte, schließlich einen Jakob Sapieha,
aus Reußen einen Melchior Dainelowicz, aus Kauen einen Lorenz
Gradowski. Im Winter 1549, da aus Wittenberg Luthers Sohn
Johann heranzog, traten zu ihnen Johann Lorenz und Martin
Abdon, zwei hochbegabte Jünglinge der böhmischen Brüderkirche,
denen der König Ferdinand ie Exulantenstab in die Hand ge-
zwungen hatte. Der letztere, ein Bruder des berühmten Seniors
Blahoslaus, seit März 1558 seine Studien in Wittenberg fortsetzend,
von Melanchthon geschätzt, starb schon 1561, der erstere ging 1587
heim, zuletzt Pfarrer in Scharfenort und Senior des großpolnischen
Zweiges der Unität. 1550 finden wir in Königsberg aus Samter
Thomas Wientzkovius, aus Neustadt den Bürgermeistersohn Andreas
Volan, der 1544 schon die Viadrina besucht hat, den späteren Wort-
führer der litauischen Reformierten und mermudlichen Streiter
gegen die Jesuiten, auch Vater eines Theologengeschlechts, von dem
ein Johann 1582 nach Wittenberg, ein Thomas 1604 nach Heidel-
berg, ein Hieronymus 1607 nach Danzig aufs Gymnasium, ein Georg
mit dem Fürsten Janusz Radziwill 1628 nach Leipzig, 1631 nach Alt-
dorf und Leiden gezogen ist. ja noch im 18. Jahrhundert sandte
es Söhne auf deutsche Hochschulen, Johann 1726 und Stephan 1739
zu unserer Albertina, diesen auch 1741 zur Viadrina. Aus Kleinpolen
konnte der Rektor inskribieren Jakob Lisakowski und die Brüder
434
Adrian und Nikolaus Chelmicki. Diese waren Neffen des Krusch-
witzer Kastellans, der den älteren 1554 noch nach Wittenberg
schickte. Wie in Königsberg dem Sabinus ist er hier Melanchthon
näher getreten und hat in der Folgezeit mit ihm korrespondiert.
Gliczner hat ihm neben anderem seine „Apelacya“ gewidmet, die
Wilnaer Synode 1591 ihn zum Generalprovisor gewählt. Der Litauer
Thomas Georgius Giedkonti war später Pastor in Schirwindt. Wohl
schon als Student in Königsberg hat er das Magnificat in seine
Muttersprache übertragen, das Moswid seinem Gesangbuch einver-
leibt hat. An Johann Schosser, dem Humanisten, der aus Thüringen
heraneilte, wollen wir nicht vorübergehen. Als Professor in Frank-
furt hat er später immer mit polnischen Studenten enge Fühlung ge-
habt, mit ihnen und ihren Eltern korrespondiert, jetzt dem vom
Krakauer Bischofe gefangenen Stancaro eine epistola consolatoria
gewidmet. 1587 hat er seinen Sohn, der seinen Vornamen führte,
von Frankfurt zur preußischen Hochschule gesandt. Von den
Studenten des Wintersemesters 1550 weiß ich von Matthias
Ischrividuski nur, daß er aus Reußen stammte und Stipendiat des
Herzogs war. Die beiden Brüder Melchior und Kaspar Gedrotius
aus Litauen waren Freunde des oben genannten Zablocki. Dem
Epicedion des ersteren für die Katharina Wollowicz hat dieser
ein Epitaph beigegeben. Melchior ıst 1560 nach Wittenberg und
Tübingen gezogen.
s 1551 der unglückselige, böse Osiandersche Streit Königsberg
zerriß, traten in die Studentenschaft ein Martin und Florian Heyn,
Söhne des Vogts in Kauen, von denen der ältere noch 1560 sich von
Vergerio nach Tübingen ziehen ließ, und Lorenz Krzyszkowski aus
Thomischewo bei Samter, der spätere Pfarrer in Nieswiez und Freund
des unitarischen Theologen und Bibelübersetzers Simon Budny, der
1588 seinen Sohn Benjamin zu unserer Hochschule geschickt hat.
Krzyszkowski hat in den Kämpfen um die altkirchliche Trinitätslehre
eine führende Rolle gespielt, zur Verteidigung seiner Stellung auch
des Justin Dialog mit dem Juden Tryphon ins Polnische übertragen,
ein schönes Zeugnis, wie weit ihn die Albertina im Griechischen ge-
bracht hat. Wieder in den Kreis der böhmischen Brüder versetzt
uns Petrus Herbert aus Mähren. 1560 ging er mit dem Goluchowoer
Pfarrer Rokyta als Bote der großpolnischen Unität nach Württem-
berg und Zürich. Lutheraner war und blieb Petrus Dresdensis oder
Dresdovius, seit dem 26. September 1551 in der Pregelstadt, später
Pfarrer in Pogorzela im Posener Lande, 1595 Synodale in Thorn,
noch 1607 in Miloslaw, auch Konsenior in Großpolen.
Für 1552 sei der Preuße Christoph Alzumius genannt, 1559
Bibliothekar des Königs in Wilna, 1563 Begleiter des Johann Kiszka
nach Basel und Zürich, 1566 ın herzoglichen Diensten, ferner der
Samogiter Stanislaus David und verschiedene Polen, wie Lorenz
Worlowski, Petrus Lipicus, die die Nacht der Vergessenheit deckt.
Für 1553: Andreas Glinski und Martin Quiatkowski. „Pauper“ be-
merkt die Matrikel neben dem Namen des ersteren, er wird also
435
schwerlich ein Glied des kleinpolnischen Geschlechts gewesen sein, von
dem Christoph Glinski drei Jahre zuvor im Bunde mit anderen
eingekerkerten Stancaro die Freiheit wiedergegeben, vier Brüder auch
die Einladung an Calvin, nach Polen zu kommen, unterschrieben
haben. Quiatkowski (f 1585) war ein Neffe des zweiten klein-
polnischen Superintendenten Stanislaus Lutomirski und ist 1560 noch
nach Leipzig gezogen. Den Druck des polnischen Glaubens-
bekenntnisses seines Onkels in Königsberg 1556 hat er überwacht, er
selbst hat die Augsburger Konfession und ihre Apologie ins Polnische
übertragen. Auch sonst war er ein fleißiger Übersetzer, freilich noch
ein fleißigerer Bettler, der immer wieder und wieder den Herzog
um Unterstützung und Privilegien anging. Sein Onkel Lutomirski,
mit Herzog Albrecht manchen Brief austauschend, gelegentlich auch
in Königsberg, hat sich hier nicht einschreiben lassen. Aber von dem
Theologengeschlecht, das aus seiner Ehe mit der ältesten Tochter
des Reformators Laski entsprossen ist, ist ein Georg Lutomirski noch
1676 zur Albertina gekommen, dann 1678 nach Frankfurt weiter ge-
zogen. Übrigens ist ein Alexander Lutomirski 1653 auch nach Leiden
gegangen. Noch erwähnt die Matrikel für 1553 einen Masuren Paul
Kaczyas. Sollte Goniadz zu desen sein, hätten wir an einen Bruder
des bekannten Antitrinitariers Peter Gonesius zu denken? Jeden-
falls hat ein Salomon Gonesius, vielleicht ein Sohn des Unitariers, von
dem es 1557 hieß, er wolle ein Buch durch die Lycker Presse des
Johann Maletius veröffentlichen, 1587 seinen Wissensdurst in
Königsberg gestillt. Nur sechs Polen traten 1554 vor den Rektor,
unter ihnen Johann Grabowiecki, dessen Familie einen Gabriel, den
späteren Gesandten nach Dänemark, schon 1536 nach Wittenberg
gesandt hat, einen Sebastian, den späteren Blesener Abt, noch 1558
zur Viadrina schickte, Adam Petriwicz und Erasmus Gliczner. Znin
war dessen Vaterstadt, doch kam er nach Preußen mit einem Emp-
fehlungsbriefe des Fürsten von Stuck, 1558 ging er zu weiterem
Studium nach Krakau. Auch er war ein fleißiger Schriftsteller, auch
er ein Übersetzer der Augsburger Konfession ins Polnische. Als groß-
polnischer lutherischer Superintendent hat er mitgewirkt an der
Sendomirer Unionssynode, hat er alle Not der anhebenden Gegen-
reformation erfahren, durch sie seine Gemeinde Grätz verloren. Durch
sie ist er heimatlos geworden, bis ihm das westpreußische Straßburg
ein neues Amt gewährte. Hier ist er vielgeprüft 1603, alt und lebens-
satt gestorben, übrigens Polens erster pädagogischer Schriftsteller.
Der große Zug der polnischen Studenten ging in den fünfziger
Jahren nach Frankfurt, Wittenberg und Leipzig. Das nördlich und
abseits gelegene Königsberg wurde weniger aufgesucht, wenn auch
seine Druckerpressen Polen fortgesetzt mit Schriften versorgten, die
Albertina ihre Studenten aus dem Osten zu Schriftstellern ausbildete
wie keine andere deutsche Hochschule. Nachdem schon 1554 ein
Andreas Kochanowski, 1555 ein Jakob Kochanowski vor den Rektor
getreten war, bat ihn am 11. April um Immatrikulation auch Johann
Kochanowski, Polens großer Lyriker. Fast schon ein Jahr hatte er
436
mit Unterstützung des edien und freigebigen Herzogs in Königsberg
gelebt und studiert, als er akademischer Bürger wurde. Er blieb es
auch nicht lange. Eine Augenkrankheit zwang ihn, Luftveränderung
zu suchen. Wieder vom Herzog mit Reisegeld ausgerüstet, zog er
nach Italien. Sonst seien aus jenem Jahre noch genannt Jakob und
pan Golinski und der Krakauer Stanislaus Verat, Johann Woro-
iowski, den der Herzog 1560 dem Könige empfahl, und Sebastian
Konarski, vielleicht ein jüngerer Bruder des Kaspar und Hieronymus
Konarski, die wir Ende der fünfziger Jahre auf verschiedenen klein-
polnischen Synoden sehen.
Den 23. März 1557 empfahl der Posener Graf Lukas Gorka dem
Herzoge Albrecht den Studenten Martin Nowowiecki, den folgenden
3. Mai nahm ihn auch der Rektor auf, am 5. April 1559 dankt der
Vater Martin Nowowiecki dem Herzoge für die seinem Sohne ge-
währte Unterstützung und ruft ihn zurück. Am 31. Mai 1557 läßt
ein Gregor Bochnensis sich einschreiben, im folgenden Juli ein Franz
Zablocki, Ende des Jahres ein Albert Slowidki, 1558 ein Georg
Prusinski, im Dezember neben zwei Rutenen Petrus Wiesielowski
und Johann Wollowicz. Diese beiden gingen, von dem Italiener
Vergerio bestimmt, mit anderen litauischen Edelsöhnen im Sommer
1560 nach Tübingen. Weshalb ist auf der Rückreise Johann
Wollowicz 1565 nicht zu weiterem Studium in Wittenberg ein-
gekehrt, wo doch Joseph Wollowicz, sein Bruder und Begleiter nach
Süddeutschland, geblieben ist? 1558 ersuchte um Immatrikulation
Johann Girk, der seit dem März des vergangenen Jahres schon in
Wittenberg studiert hatte und den der Herzog 1561 nach Stuttgart
empfahl mit der Bitte, ihm ein Stipendium in Tübingen zu gewähren.
Es war der Sohn des Pastors der böhmischen Brüder in Neidenburg,
des Katechismusvaters, er hat später in Thorn und Lissa gewirkt, diese
Stadt auch auf der Thorner Generalsynode vertreten. Neben ihm
waren Bürger der Albertina ein Stanislaus Bidlowski und Daniel
Krajewski, dazu der Magister Simon Wanrab. Er war ein Rhein-
länder, der seit 1530 an der Leucorea studiert und hier den Magister-
grad erworben hatte. Wir gedenken seiner, weil er im November
1560 nach dem Osten ging, d Pfarramt an der deutschen lutheri-
schen Gemeinde in Wilna übernahm. Laurentius Granowski kam aus
Großpolen, wo seine Familie das Erbgut Granow bei Grätz besaß,
dagegen wohl aus Wilna vom Radziwillschen Hofe Petrus Mako-
wiecki, ein jüngerer Bruder des Klecker Hauptmannes Hieronymus
Makowiecki, der Frühjahr 1563 mit dem jüngeren Nikolaus Christoph
Radziwill nach Straßburg gezogen, damals von dem Theologen Budny
gebeten worden ist, Bullingers Ansicht über das Recht des „Filioque“
im Glaubensbekenntnis einzuholen. Aus Litauen erschien auch 1560
der Magnat Hieronymus Chodkiewicz, in der Folgezeit Marschall von
Wilna, mit verschiedenen Begleitern, im November Thomas
Rodonius, wohl ein Bruder oder Vetter des oben erwähnten litaui-
schen Dichters und Kuckerneeser Pfarrers Alexander Rodonius, im
Dezember mit ihrem Lehrer Paul Pakostinus drei Brüder Mniski,
437
Johann, Georg und Nikolaus, Söhne des Erbherrn von Mona, Haupt-
manns von Luck und Burggrafen von Krakau. Aus Zürich ließ sich
einschreiben Antonius neeberger. Ich erwähne ihn, weil dieser
schweizer Arzt sich in Krakau niedergelassen und dort bis zu seinem
Tode, 1581, gewirkt hat. Von den beiden Brüdern Stanislaus und
Franz Kanimir weiß ich nichts näheres, doch hat sich ein dritter
Bruder Michael noch 1570 in Wittenberg einschreiben lassen.
Ich sehe davon ab, für das Jahr 1561 die Studenten aus dem
Osten namhaft zu machen. Die Geschichte kennt sonst ihre Namen
nicht, über ihr späteres Leben, wo sie gewirkt, was sie geschaffen,
war nichts zu ermitteln. Nur von Stanislaus Widra weiß ich zu
melden, daß er der Sohn des Bannerträgers von Kauen war und ım
April 1564 noch die Lutherstadt an der Elbe aufgesucht hat. Von
Johann Komajunski sagt das Studentenverzeichnis, daß er ein Sohn
des litauischen Marschalls gewesen sei. Aber des Preußen Matthäus
Motzarus aus der Umgegend von Rhein wollen wir etwas näher ge-
denken, er hat später einige Jahre die Schule in Kleck, dem Radziwill-
schen Städtchen, geleitet, und des Nürnberger Georg Weigel, der im
Sommer des Jahres zur Hochschule kam. Er ist später in die Dienste
des Johann Chodkiewicz getreten, hat in dessen Auftrage gegen die
Antitrinitarier geschrieben, aber, selbst schwankend in seiner reli-
giösen Überzeugung, seinen Herren vom Rücktritt in die römische
Kirche nicht abhalten können. Einige Wochen nach ihm zog durch
Königsbergs Tore Johann Kwilecki, aus dessen Familie ein Matthias
1571 nach Wittenberg ging, im August Simon Chreptowicz aus
Podolien, ferner die Briider 3 Vettern Stanislaus Christoph und
Andreas Rayski, wohl Söhne und Neffen des Johann Rayski, den
wir in den fünfziger Jahren verschiedentlich auf kleinpolnischen
Synoden sehen. Im Jahre 1593 ging ein Alexander Rayski nach Alt-
dorf, 1618 zogen drei Rayski nach Heidelberg, dann auch nach Straf-
burg, 1696 lenkte einer dieses Geschlechts seine Schritte aber auch
noch zur Albertina. Die Chreptowicz hielten auch in der Zeit, da
viele Familien zum reformierten Bekenntnis übergingen, fest an dem
Luthertum, in Gojcieniszki, südlich von Wilna, schufen sie ihm eine
Stätte. Wieder aus altem litauischen Fiirstengeschlechte war der
Nikolaus „dux Rapoloviensis“, der acht Tage nach den Rayski durch
Königsbergs Tore zog, ein Sohn des Fürsten und Marschalls nn
während aus Lemberg ein armer Bürgersohn, Stanislaus Bielecki, um
Inskription nachsuchte, vielleicht ein Bruder des Daniel Bielecki, der in
verschiedenen kleinpolnischen Gemeinden als Pfarrer gewirkt, dann
den Unitariern sich angeschlossen, schließlich aber SE zur recht-
gläubigen reformierten Kirche zurückgekehrt, dann Pastor in Krakau
geworden ist. Zwei weitere Brüder Bielecki, Johann und Vincenz,
die wir später in Wilna sehen, folgten Anfang 1563. In diesem Jahre
bezogen die Akademie auch zwei Brüder Wietzvienius, Georg und
Matthias, und vor allen der Sohn des Wojewoden von Nowogrodeck,
Johann Hornostaj, Stanislaus, dem gegen Ende des Jahres der Litauer
Albert Zalnick und der Pole Albert Oblienski folgten, und im März
438
1565 Paul Jezierski, aus einer Familie, die der reformierten Kirche
manchen Pastor, auch einen Senior gestellt hat und deren Sohne wir
in spateren Jahrzehnten in Heidelberg, Basel und Genf treffen.
Schon diese letzten Jahre zeigen, wie der Zuzug polnischer und
litauischer Studenten nachgelassen hat. In den nächsten Jahren ist er
nicht gewachsen, freilich auch nicht versiegt. Aus den sechziger
Jahren seien noch genannt Kaspar Brzezinski, der spätere Erbherr
von Schmiegel, auch Schutzherr der unitarischen Gemeinde daselbst,
bekannt durch das tragische Geschick, das ihm der Sohn des EEN
Besitzers der Stadt, Christoph Arciszewski, der Amerikafahrer,
reitet hat, ferner Thomas Laski, ein Sohn des polnischen Reformators,
tiir den die verwitwete Mutter schon 1564 das Herz des Herzogs er-
warmt hatte, zwei Briider Radziminski, Johann und Albert, der
samogitische Kimmerer, Johann Tholibowski und Elias Agrippa aus
Wilna. Noch 1612 hat einen Johann Agrippa der Drang seines
Herzens von Litauens Hauptstadt nach Preußens Universitat geführt.
In Wittenberg hat Wenzel Agrippa, 1586 Kastellan von Minsk, 1590
von Smolensk, der bis zu seinem Tode dem Luthertum die Treue
hielt, von Trzecieski ın seiner bekannten Elegie schon 1556 gefeiert,
bereits 1552 studiert, dorthin ist 1575 wiederum auch ein Martin
Tholibowski gezogen. Im September 1569 ließ sich an der Albertina
ein Lukas Manticki Gladisz einschreiben, ein Famulus des Johann
Demetrius Solikowski, des Diplomaten und späteren Lemberger Erz-
bischofes, der selbst 1559 in der Elbstadt zu den Füssen Melanchthons
gesessen hat.
Unter den Studenten des folgenden Jahrzehnts fesseln unsere
Blicke zuerst wieder zwei Brüder Radziminski. Alexander, später
Truchseß von Sagomitien, und Stanislaus, seit 1588 Wojewode von
Podlasien. Beiden galt später nichts mehr, was sie in Königsberg ge-
lernt und in sich aufgenommen, sie wurden eifrige Glieder der alten
Kirche. Ihnen reihen wir an die Söhne des litauischen Schatzmeisters
Nikolaus Naruszewicz, Christoph und Johann (t 1616), später
Marschall am litauischen Tribunal. Mit Adam Talwosz, dem
Sohne des Kastellans von Minsk, Nikolaus Talwosz, und späteren
Hauptmanns von Dünaburg und Kastellans von Samogitien, waren sie
an der preußischen Universität erschienen, mit diesem zog auch ihr
Bruder Paul nach Straßburg, um den großen Sturm zu hören.
Samuel und Albert Naruszewicz gingen bezeichnenderweise an der
preußischen Hochschule vorüber 1592 nach Heidelberg, 1596 nach
Basel, dorthin ging auch Andreas Naruszewicz aus Kupiski, dem der
Baseler Theologe Amandus Polanus 1600 sein Buch über die Prädesti-
nation widmete. Dagegen sehen wir die Söhne des Königsberger
Studenten vom Jahre 1577, Johann Naruszewicz, des Jägers von
Litauen, Alexander und Georg, 1601 wieder unter den Studenten der
Albertina, freilich 1608 auch in Heidelberg und im folgenden Jahre in
Marburg, wo Alexander, der spätere Kastellan von Sagomitien (t 1653),
Direktor der Wilnaer Synode vom Jahre 1652, eine Rede über den
Festungsbau veröffentlichte. Sonst seien genannt der Litauer Benedikt
439
Woitowski, der Samogite Petrus Adamkowicz und der Pole Leonhard
Dembowski aus Turobin. Auch Nikolaus Blothno sei erwähnt, der
Pastorensohn aus Pillupönen. Sein Vater gehört ja zu den ersten
litauischen frommen Dichtern, die ihrem Volke das Lied der
Reformation zu bringen gesucht haben.
Im neunten Jahrzehnt finden wir in den Bursen Königsbergs
Christoph Ostorodt. Er war ein Deutscher, Goslar seine Heimat.
Indessen hat er sich in der Folgezeit den polnischen Brüdern ange-
schlossen, ihnen lange als Pastor in Schmiegel gedient, freilich mit
seiner sittlichen Strenge oft auch angestoßen, durch seinen Eigensinn
und seine Rechthaberei fast eine Spaltung heraufbeschworen. Die
große Schmiegeler Synode des Jahres 1594, zu der auch der bekannte
Fausto Sozino erwartet wurde, hatte sich hauptsächlich mit Fragen, die
Ostorodt aufgeworfen hatte, zu beschäftigen. Lorenz Romanowicz,
der bald nach ihm in Königsberg erschien, wurde Pfarrer in seiner
Heimat, Vater jenes Johann Romanowicz, der 1618 nach Heidel-
berg pilgerte, dem reformierten Zion, von hier durch den Religions-
krieg vertrieben, nach Frankfurt sich zurückwandte, des Übersetzers
der Meditationen des Jenaer Johann Gerhard ins Polnische. Wieder
Söhne des Hochadels konnte ım April 1581 der Rektor inskribieren
in den beiden Zbaraski, Andreas und Petrus, den Söhnen des Woje-
woden von Troki, die mit dem Litauer Christoph Stachowski heran-
gezogen waren, und in Paul Dorohostajski, einem Sohne des Polocker
Wojewoden Nikolaus Dorohostajski. Seinem Bruder Christoph, dem
litauischen Vorschneider, hat der Heidelberger Professor Franz
Junius eine Verteidigung der altkirchlichen Trinitätslehre gegen die
Unitarier im Osten gewidmet, dessen Sohn Wladislaus sehen wir
1632 unter den Studenten in Leiden. Peter Marcianus, seit 1533
Hörer an der Albertina, war ein Stipendiat des Kastellans von
Msicislaw Stanislaus Naruszewicz, Wilkomir seine Heimat. Er hat
auch in Greifswald, Rostock und Wittenberg studiert, dort an der
cathedra Lutheri sich auch für das geistliche Amt in Litauen
ordinieren lassen. Sein Begleiter zur Elbstadt war sein Landsmann
Jesajas Kaspari, der erst im März 1585 aus Litauen nach Preußen
gekommen war. Die drei Brüder Kochanowski, die gleichfalls 1583
die Universität bezogen, waren Söhne des verstorbenen Hauptmanns
von Radomien, Nikolaus Kochanowski, Johann Albert Billewicz, der
ihnen folgte, der Sohn eines treu evangelischen Geschlechtes, das be-
sonders eng an den Herzog Albrecht einst sich angelehnt, sich von
ihm manches Buch, aber auch Raritäten, Affen und Papageien hatte
schenken lassen, das einen Samuel 1599, einen Johann das Jahr darauf
wiederum zur Albertina entsandte. Die beiden Brüder Georg und
Lukas Massalki, Söhne des Hauptmanns von Perstin und Opila Gregor
Massalki, zogen 1589 weiter zur Ruperta am Neckar, 1591 nach
Basel, das Jahr darauf noch nach Padua. Zu ihnen traten ihre Lands-
leute Andreas Saleski und Gabriel Grzibowski, 1586 Andreas Lupian,
der spätere polnische Pastor der lutherischen Gemeinde Posens, der
es nicht lassen konnte, in seinen Predigten die böhmischen Brüder an-
440
zugreifen, deshalb seines Dienstes entlassen wurde, aber, nachdem
Wittenberg, die cathedra Lutheri, seine Haltung gebilligt hatte, von
dem Adelnauer Hauptmann und Gnesener Kastellan Johann
Zborowski in seiner Erbstadt Pleschen ein neues Amt erhielt.
Benedikt nannte er das Söhnlein, das ihm hier nach den Tagen der
Not und Triibsal geboren wurde; er sandte den Herangewachsenen
dann 1614 zur Hochschule, die ihm selbst eine Lehrerin gewesen.
Hatte Bromberg bisher schon 55 Jünglinge nach Witten-
berg und Frankfurt gesandt, so schickte es jetzt einen Lorenz
Dombrowa auch nach Königsberg, hierher rettete sich auch ein bis-
heriger Mönch Adam Podbrzeski. Sonst seien noch genannt Johann
Gantkowski, Johann Skotnicki und Johann Borzewski, dazu der Edle
Abraham Woyna aus litauischem streng katholischen Geschlechte.
Im letzten Jahrzehnt des Reformationsjahrhunderts erbat die
Inskription Lukas Christophori Krasnodomski, der vier Litauer,
einen Johann Mostvilius und drei Brüder Sumoroch im Sommer 1590
nach Königsberg geleitete. Ahnlich brachte gerade ein Jahr darauf
Petrus Mielevius, wohl ein Bruder jenes Jakob Miele vius, der 1579
als Präfekt die jungen Grätzer Grafen nach Straßburg, Genf, Alt-
dorf geführt hatte, drei Litauer, einen Adam Odachovius und zwei
Brüder Solohub, zur Hochschule. Aus Krakau, wo die Lage der
Evangelischen immer gefährlicher wurde, stellte sich ein Johann
Sandrowicz, ein Reformierter, aus Masowien Albert Ilowski, ferner
drei Brüder Jasinski. Zu ihnen traten von anderen abgesehen im
Dezember 1592 die Brüder Samuel und Ludwig Talwosz. Ihre
Familie war evangelisch, seitdem der Minsker Kastellan Nikolaus
Talwosz sich der Reformation zugewandt hatte. Konnte der
litauische Jesuit Andreas Jurgiewicz nicht energisch genug den Kampf
gegen die Evangelischen führen, einer seines Geschlechts, der Mönch
Lorenz Jurgiewicz, suchte nach seiner Flucht aus dem Kloster an der
Hochburg des Evangeliums im Osten, in Königsberg, Schutz und
weitere Belehrung. Andere Mönche, die sich und ihren Glauben nach
Preußens Hauptstadt retteten und hier mit einem neuen Studium
begannen, waren 1598 der Lubliner Andreas Groth, 1600 der
Mogilnoer Nikolaus Fornica. Aus Wilna, wohin sein Vater
Stanislaus eben von der Thorner Generalsynode zurückgekehrt war,
stellte sich noch 1595 ein der Pastorensohn Johann Minwid, später
der dritte Nachfolger seines Vaters ım Pfarramte und Seniorate
(t 1638), einige Monate später aus Kauen Bernhard Wessel, weiter
der Litauer Adam Timinski, drei Brüder und ein Vetter Pietkiewicz,
Söhne und ein Neffe des Wilnaer Notar Melchior Pietkiewicz, der
in Glinkiszki unfern Kiejdany die Reformation eingeführt hat.
Seinen Enkel Samuel sehen wir noch 1638 zu den Füßen Königsberger
Professoren. Stand Daniel Kalisius, der im August 1597 vor La
Rektor trat, in Beziehungen zu jenem Sturmschüler Albert Kalisius,
der in Straßburg und seit dem 16. September 1583 auch in Tübingen
studiert hat, dann in der Heimat als Rektor die Schule in Lewartowa
geleitet, nachher an der Zamoyskischen Akademie gelehrt, die Ver-
20 NF ¢ 441
bindung mit dem letzten deutschen Humanisten, dem Melanch-
thoniaer Johann Caselius, gepflegt hat? Reinhold Eggardt aus
Kauen, seit dem August 1598 Student, war ein deutsches Bürgerkind,
trat aber nach Vollendung seiner Lernjahre in den Dienst des litaui-
schen Oberjägers Naruszewicz und begleitete dessen Söhne Alexander
und Georg 1608 nach Heidelberg und Marburg, 1610 nach Altdorf,
immer zusammen mit Johann Paproski, der 1601 Königsberg auf-
gesucht. Als Andreas Naruszewicz 1605 in Wilna Katharina
Franczkiewicz von Radzimin heimführte, widmete er dem jungen
Paare ein Epithalamium, das Sartorius in Liegnitz gedruckt hat.
Wieder ein deutsches Posener Bürgerkind war Jakob Schrot, ein
litauer Edelsohn Nikolaus Rudzinski, ein ischer Christoph
Kliszewski. Aus vornehmem Bojarengeschlehte war Gabriel
Bialozor, ein Neffe des litauischen Marschalls, aus angesehener masovi-
schen Familie Balthasar Kulecki. Matthias Chronstowski war doch
wohl ein Sohn des Wilnaer Seniors Andreas Chronstowski, Johann
Siedlecki jedenfalls ein Sohn des Landrichters von Hohensalza. Seine
älteren Brüder Nikolaus und Thomas sehen wir schon 1581 an der
Leucorea, einen Alexander Siedlecki noch 1662 wieder an der
Albertina. Er stammte aus Wolhynien, und die Dominikaner in
Lublin hatten ihn als fünfzehnjährigen Jüngling für den römischen
Glauben gewonnen, seine Familie und besonders sein Onkel Alexander
Firlej von Dombrowiza ihn aber schließlich wieder zum evangelischen
Bekenntnis zurückgeführt.
Dem Siegeslaufe der Reformation in Polen, den Trzecieski in
einem Triumphlied besungen, war ein jäher Rückschlag gefolgt. Be-
sonders das Luthertum hatte in dem Kreise des polnischen und
litauischen Adels bald allen Boden verloren, nur die deutsche Be-
völkerung Polens hielt an ihm fest. Seit 1590 sah Wittenberg kaum
noch polnische Studenten in seinen Mauern, auch in dem lutherischen
Königsberg wurden sie eine seltene Erscheinung. Doch schwinden sie
hier nie ganz, vereinzelt finden wir sie durch alle Jahre des 17. und
18. Jahrhunderts. Etliche seien hier mit Namen genannt: die Brüder
Demetrius und Alexander Oginski, die im Juli 1600 die Albertina
aufsuchten, 1606 nach Altdorf, noch in demselben Jahre auch nach
Ingolstadt gingen. Dagegen wanderten Theodor Oginski mit seinem
Lehrer Samuel Rogalla 1636 und Martin Oginski mit seinem
Präzeptor Tobias Drzewinski an unserer Hochschule vorüber nach
Leiden. Ferner aus Kujawien Johann Ruszczinowski und Matthias
Wolski, 1604 aus Litauen Johann Korsak, vielleicht ein Sohn des
Roman Wasilewicz Korsak, der 1599 zum Provisor der Kirche ge-
wählt wurde und aus dessen Familie ein Daniel und David unlängst
(1597) nach Altdorf und Heidelberg seine Schritte gelenkt hatte, und
die Brüder Christoph und Nikolaus Kaweczinski mit ihrem Lehrer
Georg Petroski, denen 1611 ıhr Vetter Alexander Kaweczinski, der
Sohn des Wojewoden von Minsk, folgte und verschiedene andere
ihrer näheren Heimat. Wir nennen von ihnen nur die drei Brüder
Przystanowski, deren Geschlecht der reformierten Kirche auch
442
Pastoren gestellt hat. 1619 saß zu den Füßen Königsberger Lehrer
der Sohn des Bannerträgers von Kauen, Paul Dziewaltowski, Johann,
seit 1614 schon Gymnasiast in Thorn, samt seinem Erzieher Simonides
Chmielewski, 1635 das Brüderpaar Christoph und Andreas
Reczinski, 1650 Martian Czaplic Spanowski, aus unitarischer Familie,
mit seinem Präzeptor Tobias Berningk aus Krasnobrod. Beide schen
wir zwei Jahre später in Leiden.
Von der litauischen Familie Ottenhausen, die so reges kirchliches
Interesse bekundete, finden wir den ersten Sohn Johann Hieronymus
1656 an der Albertina, andere folgten ihm, 1723 auch Kasimir, der
14 Jahre später nach Holland zog, um dort für seine ausgeplünderte
Kirche zu kollektieren. 1752 hat der letzte seines Geschlechts an
unserer Akademie studiert. Von einer anderen Familie, die stand-
haft und treu zum Evangelium hielt, den Olendski, hat eın Johann
schon 1560 an der preußischen Universität sich einschreiben lassen,
1684 tat es ein Christoph, noch 1775 ein Boguslaus. Der Boguslaus
Sieninski, der 1679 nach Königsberg kam, war ein flüchtiger Uni-
tarier, ebenso die Brüder Alexander, Boguslaus und Samuel Christoph
Suchodolski. Ihre Familie hatte einst ın Dazwa in Wolhynien und
in Piaski im Lubliner Lande antitrinitarische Gemeinden beschützt.
Nach ihrer Vertreibung aus Polen war Samuel Suchodolski nach
Preußen geflüchtet, deshalb finden aus seiner Familie wir auch einen
Friedrich Samuel, der 1716 nach Frankfurt zog, 1712 an der
Albertina, einen Theodor 1737, einen Karl Friedrich 1775, einen
Johann Gottlieb 1766. 1715 begegnet uns unter den Studenten
Alexander Hulewicz, der 1718 mit Boguslaus Mikolajeswski nach
Frankfurt ging, 1729 der großpolnische Reformierte Johann Karl
Kurnatowski, dem 1732 der in Litauen heimische Andreas
Kurnatowski folgte, ferner 1750 Michael, das Jahr darauf in Leiden,
Christoph 1765, Sommer 1784 aus dem Gymnasium Kiejdany
Boguslaus, um Theologie zu studieren. „Unsere Familie, einst eine
von den größten in Polen, ist von Gütern und Vermögen herunter-
gekommen“, schreibt den 18. Mai 1729 ein Hofgerichtsrat Grabowski
an August Hermann Francke nach Halle. „An mir aber hat es dem
großen Gott gefallen, seine Allmacht zu zeigen und mich aus meinen
schwachen Umständen unter vielem Kreuz und Verfolgungen zu einer
der ansehnlichsten Stellen in Preußen zu ziehen“. Er bittet dann für
einen Bruder, der dem Beispiele des Vaters folgend, Theologie
studiert habe, aber etwas versäumt sei, schon 16 Jahre Kandidat der
Theologie sei, vielfach an Schulen unterrichtet habe. Da er weder
seinen eigenen Vornamen noch den seines Bruders nennt, kann ich
das Königsberger Studium dieser beiden nicht nachweisen, aber nicht
wenige Söhne dieser Familie haben im 18. Jahrhundert in Preußen
deutsche Wissenschaft in sich aufgenommen, 1733 auch Johann, der
spätere Marschall der Stucker Konföderation, 1765 auch Paul, der
spätere litauische General.
Im 18. Jahrhundert haben besonders zwei Familien der schwer
leidenden reformierten Kirche Litauens zu dienen gesucht, die Wotk
443
und die Estko. Im April 1710 sehen wir Vertreter dieser Kirche zu
Beratungen in Warschau, unter ihnen Michael Laniewski Wolk, den
Fahnrich von Starodub und Schwerttriger der Wojewodschaft Minsk.
Sein Sohn Daniel, 1711 in Frankfurt, begegnet uns mit Joseph Stan-
kiewicz und Theophil Domaslawski aus Lissa 1708 unter den Stu-
denten der Pregelstadt. Schon 1702 sehen wir hier auch einen Petrus
Wolck, der 1708 auch nach Frankfurt eilte, mit Kasimir Borzymowski,
dem späteren Senior von Podlachien und Pastor zu Zabłudów, und
Daniel Reczinski, weiter 1761 einen Gideon mit dem Edelsohn
Michael von Schilling, einen Johann Wolk aus Shuck noch 1772.
Von den Estko hat ein Alexander 1668, ein Michael 1687, ein
Boguslaus aus Stuck 1712, wieder ein Michael 1745 und schließlich
ein Jakob aus Kiejdany 1749 die Albertina aufgesucht. Von ihnen
ist Michael 1745, Jakob 1750 noch nach Frankfurt gegangen. Der
Michael Estko, der in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts das
Pfarramt in Nowe Miasto hinter Wilna versah, hat 1717 nur in
Frankfurt studiert. Von anderen litauischen Edelsöhnen wählten
die nächste deutsche Hochschule noch im 18. Jahrhundert zu ihrem
Studium Tobias Grotkowski 1722, ein Stanislaus Grotkowski noch 1773,
ferner 1725 Michael Stephan Oskierka, der Sohn des katholischen
Kastellans von Nowogrodek, Anton Oskierka, und der reformierten
Anna Grabowska. Um nicht zum katholischen Bekenntnis gezwungen
zu werden, mußte er aus seinem Vaterlande flüchten. In preußischen
Diensten starb er 1761. Weiter studierten an der Albertina 1740
die drei Brüder Ser gies Stanislaus und Johann Krasinski und
25 Jahre später Grat Johann Krasinski; 1752 ein Jakob Gruzewski,
16 Jahre später in den Tagen der Thorner und Stucker Konföderation
zwei Brüder Jakob Ernst und Georg Viktor Gruzewski, 1761
Alexander Lukianski, 1770 zwei Oppeln-Bronikowski, weiter ver-
schiedene Cedrowski, Mikulicz, Petroselin u. a.
Trotz der starken Spannung zwischen den beiden evangelischen
Bekenntnissen verschmähten auch reformierte Theologen die Wissen-
schaft der lutherischen Albertina nicht, so Bartholomäus Büttner
1610, später Pastor in Gieraltowice an der schlesischen Grenze, dann
Senior des Sendomirer Distrikts und Pastor zu Malice. Daß er später
der Union so entschieden das Wort redete, eine fraterna et modesta
ad omnes reformatas ecclesias admonitio ausgehen ließ, war eine
Folge dessen, was ihm unsere Hochschule geboten. Seine Söhne zogen
nach Thorn und Danzig auf die Gymnasien, nach Frankfurt auf die
Universität, doch kehrten seine Enkel, die Söhne des 1651 in Frank-
furt gebildeten Samuel, des unermüdlich tätigen Seniors von Samo-
gitien, Johann Martin 1693 (1700 ın Leiden, später Konsenior von
Samogitien) und Georg 1707 wieder zur Albertina zurück. Die
Przystanowski, gleichfalls 1610 Schüler unserer Akademie, haben ver-
schiedenen Gemeinden gedient, z. B. der in Bortkuniszki in Samo-
gitien. Die Söhne des Chmielniker, dann Oksaer, auch Goryer Pastors
Franz Plachta,im Sterbejahr ihres Vaters 1634 Schüler der Albertina.
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haben 1637 ihre Studien in Leiden abgeschlossen. Daniel wurde 1641
Pfarrer in Wiatowice unfern Krakau, Samuel 1645 Adjunkt des
Sendomirer Seniors Thomas Wengierski. Aus der Brüderunität
finden wir Johann Nason, den Exdekan, 1640, Johann Libanus, den
Pastorensohn aus Eibenschütz, der seit 1642 das Thorner Gymnasium
besucht hatte, 1644, Adam Samuel Hartmann, den späteren groß-
polnischen Senior der Briider, auch ihr erfolgreicher Kollektant in
England, den Oxforder Ehrendoktor, 1647 an der Albertina. Doch
ging er auch nach Frankfurt, ja selbst nach Wittenberg und Leipzig.
Kind der Unität war auch der in Thorn geborene Johann Hyperikus.
Von dem Gymnasium seiner Vaterstadt kam er 1648 im Alter von
21 Jahren zur Albertina, in der Folgezeit führte ihn sein Wissens-
drang noch nach Franeker und Gröningen. Der Litauer Gideon
Reczynski, 1652 Student an unserer Universität, war ein Sohn des
Hofpredigers des Magnaten Chlebowicz, des Pastors in Orla und
Bielica, Gideon Reczynski, der auch das Konseniorat von Nowogrodek
bekleidete. Seine Familie, die Litauen so manchen tüchtigen Pastor
und Senior gestellt hat, hat einen Gabriel noch 1723, einen Boguslaus
David aus Kiejdany noch 1774 zur Albertina entsandt. Christian
Taubmann Trzebicki, Pastorensohn aus Lebiedziow im Minsker
Kreise, wurde Pfarrer in Wilna, wo er 1682 bei der Zerstörung des
Gotteshauses durch den Pöbel der Stadt in Lebensgefahr geriet, dann
1585 Senior von Nowogrodek.
Die drei Alumnatsstellen, die die letzte evangelische Radziwill,
Luise Charlotte, Markgräfin von Brandenburg, zugunsten junger
litauischer Theologen 1687 in Königsberg stiftete, führten auch in der
Folgezeit immer Söhne des Ostens hierher, zumal sich 1701 auch eine
reformierte polnische Gemeinde in Königsberg bildete, deren erster
Pastor der in Frankfurt gebildete Georg Rekuc aus Samogitien wurde.
Schüler der Albertina waren Daniel Rymwid aus Koydanow, später
Superintendent in seiner Vaterstadt, der Sohn des Seniors ın Zabludow
und Seniors von Podlachien Philipp Kopiewicz Wladislaus, Kasimir
Borzymowski, dann Senior in Zabludow (sein Bruder Johann 1693
in Leiden), Johann Budrewicz aus Kiejdany, Pastor in Sereje unfern
Grodno, Michael Hasler aus Stuck, Pastor in Ostaszyn hinter Nowo-
grodek, dessen Söhne dann auch zur Albertina wanderten, freilich
auch nach Holland gingen, Wladislaus Bochwicz, aus altem Pastoren-
geschlecht, 1723 auch in Leiden, Pfarrer in Nurzec hinter Wengrow,
Gabriel Binazewski, Konrektor in Kiejdany, dann 1754 Senior des
Wilnaer Bezirks, Gabriel Reczynski, dann 1728 in Leiden, Pastor in
Stuck, Johann Musonius, Samuel Zuck, Prediger in Ploniany in
Samogitien, Samuel Benedikt Makowski aus altem Pfarrergeschlecht,
Jakob Gordon, Pastorsohn aus Kiejdany, 1746 auch in Leiden,
Stanislaus Stancar, ein Nachkomme jenes Italieners Franzesco
Stancaro, des Mönchs aus Mantua, der in die Reformation in Polen
so verhängnisvoll eingegriffen, Ernst Musonius aus Warschau, der
Sohn des Pfarrers an der reformierten Gemeinde, die sich hier end-
lich nach erlangter Religionsfreiheit hat bilden können.
445
Auch viele lutherische Pastoren Polens und Litauens haben ihre
Ausbildung der Albertina zu verdanken, besonders natiirlich die in
Litauen, also in Wilna, Kauen, Kiejdany, Stuck. Aber auch aus Groß-
polen ist mancher angehende Theologe nach Preußen gepilgert, unter
ihnen ein Enkel des bekannten Fraustadter Predigers Valerius
Herberger, der als Student vorzeitig in Königsberg seine Augen
geschlossen hat. Aber ich sehe davon ab, hier diese deutschen
Pastoren namhaft zu machen, da diese Studie den Einfluß der
Albertina auf den sarmatischen Osten zeigen will. Daß der Pfarrer
von Slawatycze am Bug, Jonas Columbus, seine Söhne Christoph und
Jonas 1659 nach Königsberg geschickt hat, war selbstverständlich.
Als Lubliner haben sie sich inskribieren lassen. Ihr Vater predigte
ja gelegentlich auch den Lutheranern dieser Stadt, die sich einen
eigenen Pastor nicht halten durften.
Besondere Beachtung verdienen die vielen Mönche und Priester,
die, an ihrem katholischen Glauben irre geworden, in Königsberg Zu-
flucht und weitere Belehrung suchten. So erschien an unserer Hoch-
schule 1609 ein Alexander Jurgowski aus Tremessen, 1627 ein
Karmelitermönch Samuel Maniecki aus einem litauischen Kloster,
zwei Jahre darauf ein Masowier, Martin Krajowski, 1635 cin
Prämonstratensermöndh, Georg Hermanni, dessen Wiege aber in
Mähren gestanden hat, 1639 ein polnischer Mönch, Johann Poteka,
1648 Johann Plinius alias Hyacınthus Malinowski aus einem masovi-
schen Kloster, 1662 der Franziskaner Jakob Beklewski, der das Jahr
zuvor seinen Übertritt in Wittenberg vollzogen hatte, in demselben
Jahre auch noch der Veltgeistliche Albert Koloski, Pfarrer in
Bychawa. Der Belzer Konsenior Adam Jazyna, der unglücliche
Pfarrer in Beresteczko, den 1653 die Tataren enthauptet und dessen
Frau sie ın die Sklaverei geschleppt haben, hatte zuerst den Zweifel
am römischen Dogma in seine Seele geworfen. 1667 meldete sich der
Karmeliter Sebastian Sasinowicz aus der Brester Wojewodschaft, den
März darauf ein Sebastian Andreas Loranowicz aus dem Kalischer
Lande, der Rektor der Schule in Kauen, 1676 die Bernhardiner Albert
Zmudzinski und Georg Jakob Przyatkowski, 1694 der Franziskaner
Wladislaus Szembek und zwei andere Konvertiten. Ein ehemaliger
Jesuit trat 1719 vor den Rektor, Joh. Jos. Ostaszewski aus
Wolhynien, das Jahr darauf ein Karmeliter, Leo Golankiewicz, 1733
ein Franziskaner, Anton Potocki. Um nicht zu ermüden, sehe ich
davon ab, weitere mit Namen zu nennen.
Doch ehe wir diese Studie schließen, wollen wir unter den
Königsberger Studenten noch einiger polnischer Liederdichter ge-
denken, mögen es nun Deutsche oder polnische Masuren gewesen
sein, die mit ıhrer Muse dem religiösen Leben der polnisch sprechen-
den evangelischen Gemeinden gedient, für die häusliche Erbauung
und für den Gemeindegottesdienst fromme Lieder selbständig ge-
dichtet oder aus dem Deutschen übertragen und herausgegeben haben.
Joh. Jakob Hoynovius, Pastorensohn aus Milken bei Lötzen, später
Rektor in Soldau, dann Pastor in Graudenz und Danzig, von dem
446
in dem Danziger Kantional des Jahres 1723 verschiedene Lieder
stehen, hat 1667 die Albertina bezogen, sieben Jahre später Johann
Herbin, der Bojanowoer Rektor, Wilnaer und Graudenzer Pastor,
der das Jesuslied: „Meinen Jesum laß ich nicht“, das Osterlied: „Christ
ist erstanden“, das Sterbelied: „Ach wie flüchtig, auch wie nichtig“
und andere übertragen hat. Philipp Fork aus Thorn, der als Student
verschiedene Passionslieder übersetzt, hat sich 1697 in der Pregelstadt
der Theologie beflissen, Jakob Glodkowski, später Pfarrer in Rhein,
der das Abendlied „Hinunter ist der Sonne Schein“ polnisch wieder-
gegeben, 1701, Michael Rüttich aus Wilna, der spätere Lehrer in
Moskau, Professor und Pastor in Thorn, 1708, nachdem er schon
etliche Jahre in Halle studiert. Wir haben von ihm ein Kranken-
lied. Als Königsberger Studiosus veröffentlichte der Pastorensohn
aus Soldau, Samuel Ernst Tschepius, „Eines christlichen Studenten der
Theologie Erstlinge poetischer Früchte in polnischer Sprache d. i.
Zehenden geistlicher Lieder“. Martin Oloff, der spätere Wengrower
Pastor, der 1652 seine Ausbildung an der e Gert H ule
empfangen hat, hat das polnische Kantional vom Jahre 1672 heraus-
gegeben, Michael Speccovius, Pastor in Losendorf und Elbing, 1711
Student der Albertina, hat 1727 ein Kantional erscheinen lassen, das
Abendmahlslied: „Schmücke dich, o liebe Seele“, das Gebetslied:
„Hilf uns, Herr, in allen Dingen“ u. a. übertragen. Andreas
Waschetta, Rektor in Stargard und Pastor in Danzig, der einst 1697
die preußische Hochschule aufgesucht hat, hat die Herausgabe des
Danziger Kantionals 1723 besorgt. Ich will die Reihe der frommen
polnischen Liederdichter und Sammler nicht fortsetzen, um nicht zu
ermüden. Schon die bereits Genannten zeigen den Anteil der Königs-
berger Studenten an der geistlichen polnischen Poesie.
Viele hundert Polen und Litauer hat die Gründung Herzog
Albrechts ausgebildet, aus den Städten Wilna fast 100, aus Kauen 86,
Stuck 60, Kiejdany 38, allerdings einschließlich der deutschen Bürger-
söhne. Deutsche Bildung und evangelischen Glauben hat sie dem
Osten übermittelt, besonders Litauens erste geistliche Liederdichter
gebildet. Noch gesteigert wurde ihre Kulturbedeutung im
Reformationsjahrhundert durch ihre Druckerpressen, die den ganzen
Osten versorgten. Seine Kulturgeschichte muß fast auf jedem Blatte
den Namen Königsberg bringen.
447
II
MISCELLEN
EIN BESUCH IN DER SLAVISCHEN BIBLIOTHEK DES
CECHOSLOVAKISCHEN AUSSENMINISTERIUMS
(SLOVANSKA KNIHOVNA MINISTERSTVA ZAHRANICNICH
VECI)
Von Leopold Silberstein.
Die Teilnehmer am Prager Slavistenkongreß, welche sämtlich das Jahrbuch
des Slavishen Institutes für 1928 („Ročenka Slovanského Ustavu“, sv. I; in
Generalkommission bei Orbis) erhalten haben, wissen, daß die Seiten 55—140
dieser Publikation der Beschreibung der Slovanská knihovna MZV gewidmet sind.
Diese Darstellung, die einzige, von der man dank ihrer Verteilung als Kongre8-
drucksache erwarten kann, daß sie fast alle interessierten Kreise erreicht hat, ist
aber durch die geradezu rapide Entwicklung der Bibliothek (am 1. Januar 1928
waren 119228 Bände vorhanden, am 1. Januar 1980 187584, und schon im März
1980 waren 140000 weit überschritten) schnell überholt worden. Deshalb
därften die folgenden Mitteilungen, welche auf einer im März 1980 erfolgten
persönlichen Besichtigung a, nicht überflüssig sein, obwohl sie aus Raum-
gründen die Angaben der „Ročenka 1928“ nicht einmal auszugsweise reprodu-
zieren, sondern nur ergänzen können.
Die Bibliochek, deren Entstehung auf eine Gelegenheitsinitistive des Ge-
sandıen Girsa zurückgeht und die heute der ah beer) Oberleitung des Direktors
Dr. Otto KfiZek untersteht (welchem für liberalste Auskunftserteilung und Ein-
blicksgewährung an dieser Stelle nochmals verbindlichster Dank ausgesprochen
sei), ist, wie ihr Name besagt, eine Einrichtung des Außenministeriums und wird
von diesem unterhalten, was für die enge Bit ee Durchdringung des Poli-
tischen und Kulturellen in der Cechoslovakei charakteristisch ist und für Bestand
und Wachstum der Bibliothek nur förderlich sein kann. Trotz dieser Sonder-
stellung berücksichtigt die Slov. knih. in ihrer Anschaffungspolitik die Bestände
anderer Prager Bibliotheken und bemüht sich, dieselben lieber zu ergänzen als
ihnen bloße Dubletten an die Seite zu stellen; allerdings soll eine allgemeine
Übersicht über die gesamte slavische Welt auch im alleinigen Rahmen der Slov.
knih. möglich sein. Da die Slov. knih. nunmehr, im gleichen Hause wie die Uni-
versitätsbibliochek (nämlih in dem für diesen Zweck aufs großzügigste reno-
vierten Teil des Klementinums) untergebracht ist und z. B. die Bibliotheken der
slavischen Seminare der beiden Universitäten in 5—10 Minuten von dort aus er-
reichbar sind, so wird der wissenschaftliche Arbeiter ohne allzu großen Zeitverlust
ein reiches Material zusammenbringen können, auch wenn er verschiedene Biblio-
theken dafür in Anspruch nehmen muß. Mit einer, allerdings wesentlichen, Aus-
nahme: die an sich außerordentlich reiche russische Abteilung der Slov. knih.
(Leiter: V. N. Tukalevskij) ist bezüglich der mit den russischen Revolutionen zu-
sammenhängenden Fragen auf die Ergänzung durch die Bestände einer zweiten Ein-
richtung des Außenministeriums angewiesen. Dies ist das leider weit vom Zentrum
448
der wissenschaftlichen Arbeit abgelegene „Ruský zahraniční historický archiv“ (Wenzi-
ova 17), welches unter der Leitung von Prof. Jan Slavik eine Sammlung von
riginaldokumenten, Zeitungen und anderen Periodicis sowie Büchern zur ge-
samten russischen Revolutionsgeschichte im weitesten Sinne zusammengetragen
hat, deren Reichtum in ganz Westeuropa einzig dastehen dürfte, über die aus-
führlih zu berichten wir aber einer späteren Gelegenheit vorbehalten müssen.
Während aber die russische Abteilung der Slov. knih. einzig im Hinblick auf die
Revolutionsgeschichte sich gewisse Besränkungen auferlegt, wird in der decho-
slovakishen Abteilung wegen der anderwärts reichlich vorhandenen Bestände
grundsätzlich nur das Allernotwendigste angeschafft. Zu diesen absichtlichen Be-
schränkungen der Slov. knih. treten solche, die durch den Zufall des Angebots
oder Nichtangebots bedingt werden, welcher ja in manchen slavischen Ländern
mit geringer entwickelter Tradition im Lesen und Sammeln von Büchern und
Periodicis weit launischer ist als etwa in Westeuropa. Man hat einmal Glück
und bekommt eine slovenische Sammlung in die Hand, welche durchaus universell
GE ist und eine Fülle kompletter Serien der verschiedensten Periodica ent-
hält. Dagegen muß etwa die ische Abteilung ihre Bestände großenteils durch
den Ankauf von Spezialbibliotheken vermehren, deren Reichtum vielfach nur in
einer einzigen Richtung entwickelt ist. Dem Wachstum der russischen Abteilung
kommt natürlich das Verkaufsbedürfnis der Emigranten zugute.
Im einzelnen wären zu den Angaben der „Ročenka“, auf die sonst verwiesen
werden muß, heute folgende ergänzende Bemerkungen zu machen:
Russische Abteilung.
Zum Titel „Periodica“ („Rolenka“, S. 58 f.; dort sind auch manche
Spezialzeitschriften genannt, die besser bei den einzelnen Fächern aufzuführen
wären; dagegen sind die ältesten Periodica der Rubrik „Seltene Drucke“ zu-
gewiesen, alle gegenwärtig weiter erscheinenden Zeitschriften aber einem be-
sonderen Verzeichnis, S. 112 ff.). Die Slov. knih. bemüht sich um den Erwerb
der oft schwer erhältlichen, inzwischen eingegangenen Periodica aus den ersten
Zeiten der Soverrepublik. So besitzt sie: „Sovremennik“ (hrsg. vom Moskovskij
Institut Zurnalistiki, 1922—28); „Nakala“ (1921); „Vostok“ (1922—25); „Rossija
(1922—25); „Russkij Sovremennik“ 8 sowie folgende Almanache: „Zapiski
Meòtatelja (1919—22; besonders selten); „Naši Dni“ (1922—25); „Svitok“
(1922—26; mit Ausnahme von Nr. 2); „Literaturnaja Mysl“ (1928—25); „Krug“
ee: „Rol“ (1928—24). Von älteren eingegangenen Periodicis sei ins-
ndere der „Vestnik Azii“ (1910—18) genannt, ferner „Zemskoe Delo“
4918 und als Kuriosität der vom Innenministerium hrsg. „Vestnik Polieif“
1918). Von spezifisch wissenschaftlichen Periodicis können an dieser Stelle nach-
KE n werden: der „Sbornik Russkogo Istorič. Oblxestva“ (komplett einschließ-
ich des seltenen letzten Bandes 148), die „Russkaja Istori¢. Biblioteka“ (komplett),
die „Russkaja Starina“ (inzwischen komplettiert). Auch die „Otčety
darstvennoj Dumy“, wel bis 1917 komplett vorliegen, mögen hier ge-
nannt sein.
Zum Titel „Pu$kiniana“. Erstausg.: „Ruslan i Ljudmila“, „Bachdisaraj-
Veranlassung Peters 1706 in Amsterdam gedruckten „Symbola et Emblemata“.
Die Liste der alten Periodica ist um die „Trudy Vol’nogo Ekonom. O-va“ zu
vermehren. Das „Kamer-Fur’erskij Žurnal (1811—16) ist in der Reproduktion
von 1910—15 vorhanden. Unter den vorhandenen Jahrgängen der ,,Moskovskie
Vedomosti“ sind als besonders interessant 1811, 1812, 1815 zu nennen. Weiter
seien hier die „Otelestvennye Zapiski“ des Pavel Svinin (1820—1880; kompi
erwähnt. Alte Almanache: „Zimcerla“; ,,Kalendaf Muz“ (1827); ,,Podsneznik*
(1829; mit Werken von Puškin und Krylov und einem Porträt des ersteren);
„Raduga (Moskau 1880; mit Werken von Puškin, Zukovskij, Polevoj, Lažečnikov,
Glinka); „Moskovskij Al’manach“ (Hrsg. Glinka); „Moe Novosel“e“ (18860.
Zum Titel „Handschriften“. „Ugličeskoe sledstovennee delo o smerti
careviča Dimitrija“ in der vom Kais. Archäolog. Instieut besorgten phototypischen
Reproduktion. f
Zum Titel „Religion“. Die „Cerkovnye Izvestija“ sind größtenteils
vorhanden.
449
Zu den Titeln ,Sozialwissenschaften, Statistik, Volks-
wirtschaft“. Wichtig zur Geschichte des Genossenschaftswesens: „Vestnik
Kooperacii“ (1900—17, komplett) und „Vestnik 1 ae kredita“ (1912—18,
komplett). Aus den ersten Sovetjahren u. a. der Bericht über den ersten Kongreß
der „Profsojuzy“ und die Publikation „Narodnoe chozjajstvo Rossii 1921—1922 gg.
Manche Seltenheit dürfte sich noch in einer erworbenen und noch nicht ganz
ausgewerteten nationalökonomischen Spezialbibliothek finden.
Zum Titel „Kunst“ Folgende Periodica sind nachzutragen: „Vesy”
(1904—09); „Apollon“ (1900—14); „Vestnik izjalknych iskusstv“ (1888—90);
„Artist“ (1889—95); ferner die seltene Liebhaberausgabe Rovinskij, „Materialy
dlja russkoj ikonografii“ in sechs Bänden großen Formats.
Zum Titel „Puškiniana“. Erstausg.: „Ruslan i Ljudmila“, „Bachčisaraj-
skij Fontan“, „Poltava“, „Graf Nulin“, der „Nevskij Al’manach“ von 1829 mit
Versen aus dem „Onegin“ und sechs bildlichen Darstellungen dieses Helden, die
zwei letzten Hefte des Pulkinschen „Sovremennik“.
Zum Titel „Tolstojana“. 26 unveröffentlichte Originalbriefe. Ge-
plant ist eine analoge Abteilung „Dostojana“.
Betreffs der Titel „Polygraphie, Philosophie, Recht, Poli-
tik, Gesellshaften und soziale Institutionen, Pädagogik,
Ethnographie, Philologie, exakte Wissenschaften, ange-
wandte Wissenschaften, schöne Literatur, Literatur-
wissenschaften, Geschichte, Rossica, revolutionäre Be-
wegung in Rußland, Archäologie, Geographic, Biogra-
p hie“ muß an dieser Stelle die Verweisung auf die Ročenka“ genügen. Aller-
dings wird derjenige, der nur auf ihre sachlichen Angaben angewiesen ist, sich
schwerlich den überwältigenden Eindruck vorstellen können, den z. B. die der
Geschichte Peters d. Gr. gewidmete, allein 20 Bücherbretter einnehmende Sonder-
abteilung in dem Betrachter erweckt. Die so stark durchgeführte Gliederung be-
weist das Bestreben, ein universelles Studium aller Erscheinungen des russischen
Lebens zu ermöglichen. So hat man denn auch nicht verabsäumt, eine reiche
Kollektion von Übersetzungen fremder Werke ins Russische anzulegen, so daß
auch die Beeinflussungen, denen die russische Kultur ausgesetzt war, möglichst
klar erkennbar werden.
Jugoslavische Abteilung.
Von serbokroatischen Periodicis sind in Ergänzung der Angaben der
»Rotenka“ noch zu nennen: die seltene „Danica Ilirska“ (Jahrg. 1886—40, 1845,
1849, 1858); der von Rački, Jagić und Torbar hrsg. „Književnik“ (komplett);
komplett ferner „Glasnik Srpskog Ulenog Društva“ und „Glasnik Društva
Srpske Slovesnosti (nah gegenwärtiger Orthographie; dieser Titel schreibt
„glasnik“ noch mit „Jer“ am Schluß und „srbske“). Veiter: „Neven“ (Zagreb)
Bd. I—VII und „Nada“ 1895—1908. Von Einzelraritäten sei wenigstens das
„Gazophylacium“ des Belostenec 5 Zagreb 1740, genannt. Zum
kostbarsten Besitz der gesamten Slov. knih. aber gehört, wie schon erwähnt, die
Sammlung slovenischer Periodica (in der „Ročenka“ noch nicht genannt). Es sind
komplett vorhanden: „Novice“, „Drobtinice“, „Slovan“, ,,Jezitnik, „Voditelj“,
„Rimski Katolik“, „Mitteilungen des historischen Vereins für Krain“, „Kres“,
„Zvon“ (Hrsg. Stritar), „Zora“, „Slovenka“, die bis heute noch erscheinenden
Zschr. „Ljubljanski Zvon“, „Cas“, „Časopis za zgodovino in narodopisje“ und
„Dom in Svet“; weiter komplett „Pedagoški Letopis“, „Sbornik matice Slovenske“,
„Slovenski Glasnik“ (Hrsg. Janežič), „Katoliški Obzornik“, „Omladina“, „Carnı-
ola“ (i. e. izvestja muzejskega društva za Kranjsko), „Slovenski Branik“, „Veda“,
„Mitteilungen des Musealvereins für Krain“, „Mentor“, „Popotnik“ (komplett in
49 Jahrgangen!), „Planinski Vestnik“, „Knezova in Splošna Knjižnica“. Von
` slovenischen Einzelraritäten sei an erster Stelle die äußerst seltene Hrensche Aus-
gabe der „Evangelia inu listovi von 1612 genannt, ferner Gutsmanns „Deutsch-
windisches Wörterbuch“ von 1789 und seltene Bibelübersetzungen von Japel und
Kumerdej vom Ende des XVIII. und Anfang des XIX. Jahrhunderts.
Wenn wir die polnische Abteilung 555 kurz behandeln, so
tun wir das deshalb, weil der deutsche Leser unserer Ausführungen die nicht un-
450
beträchtlichen Schätze der Slov. knih. an alten Polonicis größtenteils auch in der
Preußischen Staatsbibliothek vorfindet, wogegen dem Mangel an Periodicis nament-
lich aus dem XIX. hdt. auch durch die Bestände der Slov. knih. einstweilen
nicht abgeholfen wird. So waren Periodica von größter geistesgeschichtlicher Be-
deutung wie „Ziewonja“, „Irzeci Maj“, „Mioda Polska“ (klerikales Emigrations-
organ), der Lemberger „Dziennik Literacki“, das Krakauer „Zycie“, die „Krytyka“
und die „Chimera“ zur Zeit meines Besuches entweder gar nicht oder nur Kier
mentarisch vorhanden; auch die „Biblioteka Warszawska“ war — im Gegensatz
zur Pr. Staats-Bibl. — nicht vollständig. Mit Genugtuung begrüßt man dagegen
den „Czas“ (komplett 1848—1911) und eine fast ale „Wisła“. An alt-
Inischen Drucken zählte ich 152 aus dem XVI. und 290 aus dem XVII. Ihdt.
tarowolski, Orzechowski, Cromer, Bielski sind gut vertreten, auffallend schwach
dagegen Długosz. Als Rarissimum gilt „Epistolarum Turcicarum variorum et
diversorum authorum libri V“, Frankfurt a. M., 1598, ein allerdings auch in der
Pr. Staats-Bibl. vorhandenes Stück. Nicht vorhanden ist in Berlin die als Unikum
bezeichnete „Apologia“ des Ostrorodus. Infolge des Erwerbs von historischen
Spezialbibliotheken ist die polnische Abteilung sehr reich auch mit Werken zur
gemeinen Geschichte, insbesondere zur schwedischen Wasazeit, versehen.
Betreffs der restlichen Abteilungen der Slov. knih. sei wieder die Verweisung
auf die „Ročenka“ gestattet. Die absichtliche Kleinhaltung der {ehoslova-
kischen Abteilung ist nach dem, was eingangs über die Anschaffungspolitik der
Slov. knih. gesagt wurde, so selbstverständlich, daß der darauf vorbereitete Be-
sucher bei der NN von den doch vorhandenen Beständen eher angenehm
5 ist; allerdings fehlen in dieser Abteilung die besonderen Glanzstücke
er anderen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Slov. knih. in allererster
Reihe mit dazu beitragen wird, daß Prag sich immer mehr zu einem slavistischen
Forschungszentrum von höchster Bedeutung, namentlich für die nicht auf eine
Nation beschränkte Slavistik, entwickelt. Sie wird auch den deutschen Slavisten
zu häufigen Besuchen in Prag veranlassen, zumal jetzt, nach der Begründun der
„Deutschen Gesellschaft für slavistische Forschung“, die in ihm das Bewußtsein
stärken mag, sich auch in den Räumen der Slov. knih. nicht als verirrter ein-
zelner Gast, sondern als Mitglied einer immer stärker werdenden Berufsgemein-
schaft zu fühlen.
451
III
LITERATURBERICHTE
DIE „BIBLJOTEKA NARODOWA“
Von
Dr. Otto Forst- Battaglia.
Wer auch nur flüchtig mit polnischer Literatur oder Geschichte
sich beschäftigt hat, der kennt die handlichen Bände der ,,Bibljoteka
Narodowa“. Mit dieser groß angelegten Sammlung von vorzüglich
edierten Texten repräsentativer Werke, zu denen sıch seit einiger Zeit
auch Anthologien von Quellen zur polnischen Geistesgeschichte ge-
sellen, hat Polen nicht nur ein unschätzbares Hilfsmittel für den
Unterricht, sondern auch einen segensreich wirkenden Kulturfaktor
empfangen. Nach einem methodischen Plan, dessen Grundzüge vom
Leiter der „Bibljoteka Narodowa“, dem verdienten Historiker der
Pädagogik und der Reformation Prof. Stanisław Kot, stammen,
wird das gesamte Schrifttum Polens, soweit es sich um Werke bleiben-
den oder wenigstens typischen Wertes handelt, in billigen Ausgaben
der Öffentlichkeit erschlossen.
Der Vergleich mit ähnlichen Bücherreihen in anderen Ländern
und mit früheren wesensverwandten Serien in Polen drängt sich auf.
Gegenüber den Reclamschen Heften zeichnet sich die „Bibljoteka
Narodowa“ durch größere Sorgfalt in der Textkritik, durch die prin-
zipielle Beigabe von Einleitung und Kommentar und durch strengere
Auswahl vorteilhaft aus. Sie steht gegenüber der deutschen Samm-
lung an Umfang weit zurück, blickt sie doch erst auf knapp zwölf
Jahre unter schwierigen Verhältnissen entfalteter Tätigkeit zurück.
Sie schaltet ferner Werke, die nicht eigentlich zur Schönen Literatur
gehören, grundsätzlich aus und sie stellt die nationale Literatur in
den Vordergrund. Neben 121 Bänden der Polnischen Serie sind erst
56 der ausländischen erschienen. Das ist jedoch unter den in Polen
herrschenden Umständen nicht zu rügen. Dort lesen an und für sich
die gebildeten Kreise fließend deutsch und französish. Seit dem
Weltkrieg macht die Verbreitung des Englischen große Fortschritte.
Die „Bibljoteka Narodowa“ beschränkt sich also darauf, einmal
klassische Werke in polnischer Übertragung zu geben, dann aber
452
französische, deutsche, englische, italienische Schöpfungen zu bringen,
die entweder in der Schule auch von der Fremdsprache noch nicht
genügend Kundigen gelesen werden oder aber Texte von Essais
philosophischen Schriften mit gutem Kommentar den nach rascher
Orientierung verlangenden Laien zu bieten. Wir haben uns hier mit
der zweiten ausländischen Serie der „Bibljoteka Narodowa“ nicht
weiter zu beschäftigen, obzwar auch in ihr sich Bände finden, die
durch Einleitung — z. B. die Sophoklesbearbeitungen von Kazimierz
Morawski, die Shakespeare-Dramen in der Ausgabe durch Andrzej
Tretiak, die Frankreich. Bande von Boy-Zelenski, die Homer-Edition
von Tadeusz Sinko, die Plautus-Ausgaben von Gustav Przychocki,
die „Bekenntnisse“ des hl. Augustinus mit der Studie von Jerzy
Kowalski — grofe wissenschaftliche Verdienste haben.
Den eigentlihen Wert der Sammlung erblicken wir in der
noch nie zuvor mit der gleichen Energie begonnenen und durch-
geführten systematischen Schaffung einer Bibliothek polnischer Dich-
tung und Geistesgeschichte. Hier übertrifft sie schon jetzt das
Reclamsche Unternehmen, das relativ weniger wesentliche Werke der
neueren deutschen Literatur enthält. Sie übertrifft alle mir bekannten
französischen Sammlungen — deren Einleitungen meist mit denen der
„Bibljoteka Narodowa“.keinen Vergleich vertragen und aufs kläg-
lichste ausgestattet sind —. Sie besteht in Ehren neben den präch-
tigen englischen Reihen, denen sie offenbar nachgebildet wurde, und
sie wird auch neben der vom Österreichischen Bundesverlag in An-
griff genommenen, den Kürschnerschen Bücherschatz zeitgemäß er-
neuernden Bibliothek deutscher Autoren bestehen können. Vor
deutschen und englischen Rivalen zeichnet sich die polnische Samm-
lung durch den sehr niedrigen Preis aus, der dem ne Massenwirkung
ausgehenden Unternehmen erst sein segensreiches kulturelles Walten
ermöglicht.
Der Forscher wird diese Vorzüge der ,,Bibljoteka Narodowa“
zunächst mit einer gelinden Skepsis vernehmen. Sind sie nicht auf
Kosten des wissenschaftlichen Ertrages errungen worden? Hier nun
liegt das Geheimnis eines auf dem ehrenvollsten Weg erzielten Er-
folges: Die Qualität hat der Quantität als Vorspann gedient. Den
an und für sich beklagenswürdigen polnischen Honorarverhältnissen
danken wir es, daß trotz des geringen Preises philologisch muster-
gültige Texte, Einführungen aus den berufensten Federn vom Verlag
den Lesern geboten werden konnten. Die Zahl der ausgezeichneten
Leistungen ist beträchtlich. Fast stets ist ein sehr anständiges Durch-
schnittsniveau überschritten und nur selten — interdum dormit
Homerus — sind Fehlgriffe zu beklagen. Dadurch unterscheidet sich
die „Bibljoteka Narodowa“ rühmlich von ihren Vorgängerinnen, wie
der ,,Bibljoteka Polska“ J. K. Turawskis, der Zuckerkandlschen
„Bibljoteka Powszechna“. Die mit schwer gelehrtem Rüstzeug an-
rückenden Buchreihen der Akademie der Wissenschaften — Bibljoteka
pisarzów polskich, die Bibljoteka zapomni anych poetów i prozaiköw
polskich des verstorbenen Warschauer Achivdirektors Wierzbowski
458
enthalten zumeist verschollene Werke. Nur in der neuerdings vom
Verlag „Bibljoteka Polska“ herausgegebenen „Wielka Bibljoteka“ ist
ein nicht gefährlicher Rivale auf den Plan getreten. Hier kann auf
die ersten hundert Bände der Krakauer Sammlung nur kurz hin-
gewiesen werden. Sie enthalten an Meisterwerken der polnischen
Literatur Jan Kochanowskis „Ireny“ und die „Abfertigung der
griechischen Gesandten“, die Reichstagspredigten von Piotr Skarga,
Mickiewiczs „Pan Tadeusz“ — in einer grundlegenden Ausgabe von
Stanisław Pigoh —, die „Totenfeier“, „Wallenrod“, „Grażyna“, die
„Bücher des polnischen Volks und der Pilgerschaft“, Krasinskis „Un-
göttliche Komödie“, „Irydjon“, „Przedświt“, von Juljusz Słowacki
mehrere der schönsten Dramen wie „Balladyna“, „Kordjan“, ,
Weneda“, „Der silberne Traum Salomeens“, dann „Anhellı“,
„Beniowski“, „Drei Poeme“, Malczewskis „Marja“, Fredros „Rache“
und „Mädchenschwüre“, endlich eine Auswahl Norwidscher Dich-
tungen. Sehr nützlich sind ferner Anthologien wie die des polni-
schen Volksliedes von Bystroń, des polnischen Sonnetts von Fol-
kierski und vor allem die der mittelalterlichen polnischen Literatur
von Aleksander Brückner und Vrtel-Wiercczynski. Mit Vergnügen
empfingen wir die aus der Vergessenheit hervorgeholten und noch
heute aus den verschiedensten Griinden lesenswerten Vertreter des
älteren polnischen Romans, von der „Anmutigen Pasqualina“ Twar-
dowskis über Krasickis „Do$wiadczynski“ bis zu Czajkowski,
Korzeniowski und Kraszewski, Henryk Rzewuski und Walery
Lozinski. Ausgezeichnet sind die Bande, in denen uns Quellen zur
polnischen Geschichte und Kulturgeschichte vorgelegt werden: eine
Schulausgabe des sogenannten Gallus, ein Extrakt aus Diugosz, eine
Auswahl der Schriften des Copernicus, die Denkwürdigkeiten des
Pasek, politische Traktate von Stanistaw Konarski und Staszic, eine
Auswahl aus Towiahski, kritische Abhandlungen von Brodzifski und
Mochnacki, Artikeln Mickiewiczs aus der revolutionären Epoche.
Einige Bände hätten wir nicht ungerne vermißt. Und wir vermissen
dafür schmerzlich andere, wesentliche Werke der polnischen Lite-
ratur. Doch kommt Zeit, kommt Rat. Um nicht ungerecht zu
sein, müssen wir auch das Programm beachten, dessen Ausführung
uns der Verlag für die nächsten Jahre ankiindigt. Wir haben, von
den noch zu besprechenden Bänden 100—121 abgesehen, u. a. folgen-
des zu erwarten: Anthologien zur mittelalterlichen Kulturgeschichte
von R. Grodecki, Jan Dabrowski, St. Arnold, K. Dobrowolski, den
Kadtubek und die Chronik des Jan von Czarnköw, Modrzewskis
„de emendanda republica“, Orzechowskis „Politische Dialoge“, die
sogenannte Eulenspiegelliteratur in der Bearbeitung durch Aleksander
Brückner, Sarbiewskis „Gedichte“, Lukasz Opalinskis „Polnische
Schriften“, Krasickis „Fabeln“, die „Myszeis“ und die „Satiren“, Aus-
wahl aus Wegierski und Knia:nin, die Maiverfassung, herausgegeben
von St. Estreicher, Schriften Kosciuszkos, Sniadeckis, Ausgewählte
Erzählungen Niemcewiczs, Dichtungen von Woronicz, Politische
Abhandlungen, den Cours de littératures slaves und Briefe Mickie-
454
wiczs, von Słowacki die Lyrik, „König Geist“, „Zborowski“, die
„genetischen“ Schriften und „Briefe“, Norwidsche Prosa in Auswahl,
mehrere Romane von Kraszewski, Czajkowski, Kaczkowski, Antho-
logien über Galizien unter altösterreichischem Regime, den „Völker-
hung; die Bauernfrage im 19. Jahrhundert, die polnische Histo-
riographie von Naruszewicz bis zu den Stanczyken, den Warschauer
Positivismus und die polnische Novelle.
Für ziemlich überflüssig halte ich, solange nicht die gleich zu er-
örternden wichtigeren Lücken beseitigt sind, die Fredroschen
Komödien zweiten Ranges — die der großen Öffentlichkeit nicht
nötig sind und dem Fachmann in der Fredro-Ausgabe des Osso-
lineums zugänglich wurden —, die Flut von Kraszewskischen Erzäh-
lungen, die von der „Bibljoteka Narodawa“ getrost einem
Warschauer Konkurrenzunternehmen zu überlassen wären. Was
noch fehlt und als dringendster Wunsch angemeldet sei, umfaßt
etwa dieses Ergänzungsprogramm: einen vollständigen polnischen
Długosz, Ostroróg, Vervollstindigung des Rej gewidmeten
40. Bandes, einen Sammelband über die religiöse Pamphletliteratur
des 16. Jahrhunderts, Morsztyn — diese Forderung sei energisch er-
hoben —, Kollataj (etwa im Rahmen einer Anthologie des polni-
schen revolutionären Gedankens und der Aufklärungsliteratur, in
der auch Turski, die „Schmiede“ Kollatajs, Stanislaw Potocki ver-
treten sein sollten), Zorjan Dolega Chodakowski, Niemcewiczs
„Spiewy historyczne“, Auswahl aus Hoene-Wrohski, Kremer,
EEN Gołuchowski, Cieszkowskis „Ojcze nasz“, Auswahl aus
Klazko, Kalinkas ,,Galicja i Kraków“, Szczepanowskis „Nedza
Galicji“, die beiden Stücke Maleckis, Kaczkowskis Spätromane, eine
treffsichere Auswahl aus dem Werk Deotymas, einige Stücke
Szujskis, die „Brüder Lerche“ von Asnyk, einiges von Balucki,
Lubowski, Narzymski, Blizinski (als Fortsetzung der mit den „Gruby
ryby“ und „Pan Damazy“ begonnenen verheißungsvollen Anfänge).
Da die „Bibljoteka Narodowa“ mit einigen Bänden, wie den weiter
unten zu besprechenden Dichtungen von Kasprowicz und den an-
ekündigten Nowickis bis auf die jüngste Vergangenheit reicht, so
Essen wir auch die Bitte wagen, zwar nicht die von großen Ver-
legern in billigen Ausgaben immer wieder auf den Markt geworfenen
Romane von Prus, Sienkiewicz, der Orzeszkowa, von Reymont und
Zeromski, die Dichtungen der Konopnicka, die Dramen von
Wyspianski, doch andere, sonst zur Vergessenheit bestimmte oder im
Buchhandel schwer aufzutreibende und schon zur historischen Be-
trachtung reife Werke aufzunehmen. Ich denke da an die Romane
von Jez-Milkowski, Dygasyhski, Zacharjasiewicz, Plug, an einige der
Meisterdramen der Zapolska, an Rydels „Zauberkreis“, eine Auswahl
aus Niemojewski, eine der besseren Erzählungen von Danilowski,
3 von Tetmajer, Miriam, Lange, mehreres von Przy-
byszewski. Als Quellensammlungen wären je ein Band über die
polnischen Magnaterja, über die Juden in Polen, über die Katholische
Kirche, über die Mloda Polska zu empfehlen. Das ist ein vor-
455
läufiger Wunschzettel, der dem Eifer Professor Kots und der
Krakowska Spółka Wydawnicza noch weiten Spielraum läßt.
Wenden wir uns indes, nachdem wir die Vergangenheit in Ge-
stalt der ersten hundert Bände und die Zukunft der ,,Bibljoteka
Narodowa“ erörtert haben, der Gegenwart, das heißt der Produk-
tion von drei eben dahingeschwundenen Jahren zu.
Prof. Taszycki') hat die ältesten poln. Sprachdenkmale ge-
sammelt. Die 1 Mikolaj Rejs bildet die Grenze, von der ab das
moderne Polnisch beginnt, dem Taszycki eine zweite, ebenfalls vor-
treffliche Anthologie — „Wybór tekstów staropolskich XVI—XVIII
wieku“. Lwów, K. Jakubowski, 1928 — gewidmet hat. In dem
E Buch sind 28 typische Beispiele vereinigt, die als Belege
für die in einer konzisen Einleitung vorgetragenen Ansichten
Taszyckis über die charakteristischen Eigentümlichkeiten des älteren
Polnisch dienen können, den gebildeten Laien und den Anfänger auf
dem Gebiet der Polonistik auf das monumentale Werk von Jan
Los, die „Początki piśmiennictwa polskiego“ vorbereiten und in
Deutschland die zu ähnlichen Zwecken gebrauchten „Altpolnischen
Sprachdenkmiler“ Nehrings ersetzen sollten. Jede einzelne Nummer
ist mit historisch-sprachwissenschaftlichem Kommentar versehen, der
lateinische von polnischen Ausdrücken unterbrochene, beziehungs-
weise der altpolnische Text ist in der ursprünglichen und in einer
modern polnischen Fassung abgedruckt, oder aber zahlreiche Fuß-
noten ermöglichen das Verständnis des Originals. Wir haben da,
angefangen von der berühmten Papstbulle von 1136 und der Bogu-
rodzica, von den Heiligenkreuzer Predigten und dem St. Florianer
Psalter bis zu den Glossaren, den Hofrechnungen, den Wörter-
verzeichnissen des 15. Jahrhunderts, bis zu dem hübschen Liebesbrief
und der Bibel der Königin Sophie, zum Statut von Wislica und dem
Traktat des Parkoszowic über die Rechtschreibung eine mannig-
faltige Auswahl des Wichtigsten oder Typischen. Vielleicht hätte
Taszycki in den Einleitungen auch auf kontroverse Datierungen hin-
weisen können. Wenn er die „Bogurodzica“ einfach aus der Zeit
um 1300 datiert, so wäre es eher ratenswert gewesen, den Leser mit
einigen Worten von der lebhaften Kontroverse über diese National-
hymne zu unterrichten. Auch in der allgemeinen Einführung wird
— man muß sich vor Augen halten, daß Laien und Studenten das
Hauptkontingent des Autors sind — mitunter die wahrscheinliche
Hypothese zu ausschließlich vorgetragen, 2. B. wenn sich Taszycki
aufs engste an Niederle anschließt und von den zahlreichen Theo-
rien über die slavischen Anfänge nur eine erwähnt. Ohne mich
irgendwie für eine bestimmte Meinung auszusprechen, darf ich wohl
auch bemerken, daß dem polnischen Leser wenigstens über die ab-
weichende Ansicht der deutschen Forschung in der Kaschubenfrage
ein Wort gesagt werden könnte. Vortrefflih sind die aus dem
1) Nr. 104. Witold Taszycki: Najdawniejsze zabytki języka
polskiego. 1927. XLIV u. 150 S. Vgl. J. Łoś, Jezyk Polski 18, 25 ff.
456
Vollen schöpfenden Zusammenstellungen über die Eigentümlichkeiten
der polnischen Sprache bis zum 16. Jahrhundert, sind weiter die
knappen Seiten über die Orthographie, die Phonetik und die Mor-
phologie —, im wesentlichen auf Lo$ und seiner klassischen großen
Grammatik beruhend, haben sie dennoch viel aus der eigenen
Forschung Taszyckis sich bereichert. Als bedauerliche Lücke emp-
finde ich den Mangel einer rudimentären Einführung in die Syntax.
Zur Auswahl der Sprachdenkmäler hätte ich nur die Anregung zur
Aufnahme einer Aufschwörung zu geben, welche Quellenart sehr
instruktiv für die zeitgenössische Sprachentwicklung ist. Daß sich die
Erläuterungen zu den einzelnen Stücken oft an der Grenze des
unfreiwillig Komischen befinden, liegt in der Natur der Sache be-
gründet. Armer Liebesbriefschreiber, der an seine Panna namilejsza
aus Szamotuły heiße Sehnsuchtsworte „weysszzrode“ schrieb: wie
hattest du es ahnen können, daß ein halbes Jahrtausend später
deine Altersgenossen als einzige Bemerkung dazu sehen werden:
„weysszrode, man kann entweder we $rzode oder we jérzode lesen.
Im zweiten Fall hatten wir es mit „uprzedniem pojawieniem sie
palatalności“ zu tun ... Als Ploetz auf dem Sterbebette lag,
wandte er sich zur weinenden Familie: „Je meurs“ oder man könnte
auch sagen „Je me meurs“ ... Und wir könnten sagen „Grandeur
et misere de la vie philologique“. Doch Taszyckis Buch ist ein nütz-
liches, ehrenwertes Buch. Das sind sie ja alle, die philologischen
Textsammlungen, nützlich und ehrenwert!
Und sie sind manchmal vom Zauber des erläuterten Dicht-
werkes so sehr getränkt, daß schon die Einführung vom Schimmer
des poetischen Mysteriums beglänzt wird, in das sie uns geleitet. Ein
schönes Beispiel hierfür bietet uns Tadeusz Sinko mit seiner Auswahl
Kochanowskischer Lyrik.“) Sie knüpft an desselben Gelehrten Be-
arbeitung der „Ireny“ an, erzählt in glänzendem Stil des Poeten
Jugend und schriftstellerische Tätigkeit, schildert die Atmosphäre
der polnischen Renaissance, das Hofleben und die dem doppelten
Antlitz der Epoche, ihrem heidnisch-heiteren und christlich-ernsten,
zugekehrte Dichtung der „Fraszki“ und des „Psalter“. Wir be-
kommen dann ein edel abgerundetes Bild der herrlichen Lyrik
Kochanowskis in ihrem erotischen, geselligen, die Natur betrachten-
den, patriotischen, religiösen und philosophischen Gehalt. Sinko
ist, wenn wir die Distanz in den Größen wahren, ein Kochanowski
kongenialer Mensch: vom Geist der Antike gesättigt und doch der
lebendigen Gegenwart verbunden. Er ist nicht nur Gelehrter,
sondern auch Künstler und beweist beides in seiner biographischen
Studie, ın seinen Exegesen. Daß er es mitunter auch durch bereit-
willige Gefolgschaft an die rege Kombinationsgabe bekundet, wer
2) Nr. 10. Jan Kochanowski: Pieśni i wybór drobnych wierszy.
se von Tadeusz Sinko. 1927. LXXIV u. 208 S. Vgl.
I. ns ach, Ruch Literacki 8, 80 f., J. Krzyżanowski, Przegląd Współczesny
30 NF 6 457
möchte es ihm veriibeln? Will man von der augenblicklichen
Meinung über Kochanowskis Leben und Leistung zureichende Vor-
stellung gewinnen, dann muß eben Sinkos Deutung mit den Lebens-
abrissen Aleksander Brückners in der Einleitung zur Kochanowski-
Ausgabe der Bibljoteka Polska (Warszawa 1924), mit der neuen,
prächtigen Monographie Stanislaw Windakiewiczs (Jan Kochanowski.
Krakéw 1930) und mit mehreren Aufsätzen, Schriften M. Hartlebs
verglichen werden. Dann bleibt es dem Leser freigestellt, sich über
so kontroverse und trotz allem noch unentschiedene Fragen, wie über
die Verknüpfung Kochanowskis mit der italienischen — Petrarca —
und mit der französischen — Ronsard — seine eigene Ansicht zu
formen. Die Auswahl Sinkos ist sehr glücklich getroffen. Sie um-
faßt die „Zgoda“, den „Satyr“, den „Proporzec“ — ausgelassen
Zeile 163—214 —, die „Musen“ — kleine Abkürzung —, aus den
„Fraszki“ 46, große Bruchstücke des „Psalters“, die „Pieśni“
(darunter die „Johannisfeier“, das in Polen allgekannte „Czego
chcesz od nas, Panie, za Twoje hojne dary?), 21 „Fragmente und
eine von Juljan Ejsmond verfaßte vorzügliche polnische Übertragung
des lateinischen Streitgedichts „Gallo crocitantı“. In den Anmer-
kungen hätte ich gerne auch kurzen Hinweis auf die Nachwirkung
des betreffenden Stückes, nicht bloß seinen, meist lateinischen, Ur-
sprung gelesen. Wie viel sagte uns etwa die Parallele zwischen
nCzego chcesz ...“ und dem Krasinskischen „Wszystko nam
es 7!
Die Sinkosche Edition des erst neuerdings zu Ehren gelangten
Lyrikers Sęp-Szarzyński’) zeigt die gleichen Qualitäten wie die
Kochanowskis. Nur daß hier der Kombination und der Polemik
noch mehr Raum bleiben. Über den Dichter, Kochanowskis Schüler
und Antipoden zugleich, wissen wir wenig Authentisches. Ein be-
trachtlicher Teil der ihm zugeschriebenen Verse wird von Sinko
gegenüber Brückner, ihrem Entdecker, und Chrzanowski, ihrem
Herausgeber, in ihrer Urheberschaft bestritten. Wir finden sie als
„Liebesgedichte eines Anonymus in dieser Ausgabe wieder.
Mit weniger Temperament, mit nicht geringerer Kompetenz und
infolge des besseren Quellenmaterials mit mehr zuverlässigen Resul-
taten ist Professor Pollak, der polnische ,,Kulturattaché“ in Rom,
an seine musterhafte Edition des „Dworzanin“ Görnickis ge-
schritten.“) Wir haben zunächst den sorgfältigen Text zu rühmen,
der sich an die Erstausgabe anlehnt, aber deren offenbare Druck-
fehler und Versehen korrigiert. Die umfängliche Einleitung hat
ihren eigenen, hervorragenden Wert. Pollak zeichnet ein lebens-
2) Nr. 118. Mikołaj Sep Szarzyński: Rytmy oraz anonimowe
pieśni i listy mitosne z XVI e Herausgegeben von Tadeusz Sinko. 1928.
XXXVI u. 128 S. Vgl. M. Hartleb, Pamiętnik Literacki 26, 291 ff., L. Kamy-
kowski, Ruch Literacki 4, 21 f.
) Nr. 109. Lukasz Górnicki: Dworzanin polski. Herausgegeben
von Roman Pollak. 1928. LXXVI u 428 S. Vgl. M. Brahmer.
Pamietnik Literacki 26, 283 ff.
458
volles Gemälde der gesellschaftlichen Zivilisation in Italien und Polen.
Er stellt die beiden voneinander so verschiedenen Welten einander
gegenüber, die unter den letzten Jagellonen in den engsten Kontakt
traten. Der ,,Cortegiano“ des Castiglione und sein, übrigens nicht
nur dem einen Beispiel nacheiferndes, polnisches Gegenstück, der
„Dworzanin“ Génickis, lassen uns die Kluft zwischen den beiden
Nationen klar erkennen. Hier die raffinierte Übersättigung, das
durchgeistigte Eros, die Herrschaft der Frauen und des Salons, dort
erst frisch übertünchte Rauheit und Ehrbarkeit einer Gesellschaft
von Männern. In der Sprache, im nach jeder Hinsicht durchbildeten
Italienisch des Cinquecento und im mühsam zur Eleganz ge-
zwungenen Polnisch des Sigismundischen Zeitalters, spiegelt sich der
Gegensatz nochmals wider. Pollak hat das alles sehr fein und klug
ezeigt. Doch es müßte erst ein Schriftsteller von der Art Boy-
lehskis her, um das Problem in seiner ganzen Tiefe und Viel-
fältigkeit zu entschleiern, das im Grunde ein sexualgeschichtliches
ist. Und ein religionsgeschichtliches dazu.
Wie wenig der Import fremder Sitten und Sittenlehren, fremder
Sittenlehrbiicher und Sittenlehrer am polnischen Charakter geändert
hat: die sächsischen Zeiten tun es dar, deren Aspekt uns von Feld-
man in einer wunderhiibschen Quellenpublikation vor Augen ge-
führt wird.“) Sie gewährt uns die Möglichkeit besser als durch die
Lektüre dickleibiger Werke festzustellen, wie sehr sich die an ihre
Scholle geheftete Masse der mittleren und unteren Szlachta — der
Bürger und Bauern zu geschweigen — gegen die Einflüsse des faulen
Westens strãubte. Feldman, der sich um die Erhellung der polni-
schen Barock-Epoche unschätzbare Verdienste erworben hat, breitet
eine Fülle von Zeugnissen vor uns aus und schickt ihnen eine treff-
lich zusammenfassende Einleitung voraus. Es scheint mir freilich,
daß er da zu rosig sieht und sein eigener Text gegen den Interpreten
recht behält. Die „Rettung“ der Sachsenzeit ist Feldman hier, wie
in anderen Abhandlungen, insoweit gelungen, als er die schon
damals starken Strömungen nachweist, der polnischen Anarchie und
Unkultur zu steuern. Allein, daß es nur Magnaten, bei der sarma-
tischen Menge als Verräter verschriene, als Deutsche oder Französ-
linge verhaßte große Herren waren, die der einfältigen Seligkeit
im Stil des Kitowicz, des Matuszewicz und des P. Majchrowicz ein
Ende machen wollten, geht auch auch aus diesen von Feldman sorg-
sam und objektiv gesammelten Extrakten hervor. Bei der kom-
pakten Mehrheit sieht es nicht anders aus wie bei ihren Ahnen, Cie
Görniki durch den ,,Dworzanin“ europäisieren und verfeinern
wollte. Unbeholfenheit der Sprache, Einfalt der Gesinnung, Aber-
glauben, Freude am groben Scherz, Streitsucht, Einsperrung der
6) Nr. 110. Józef Feldmann: Czasy saskie. Wybór zrödel. 1928.
XXXVI u. 256 S. Vgl. VI. Konopczynski, Kwartalnik Historyczny 48, 1, 259 f.,
St. Bednarski, Przegląd Powszechny 179, 153 f., M. Piszczewski, Pamiętnik
Literacki 25, 880 f.
459
Frauen ins Gynäzäum, tyrannısche Gewalt über Kinder und Haus-
gesinde vereinigen sich mit einem mehr in Ablehnung des Anderen
als in opferbereiter Treue zum Eigenen bestehenden Traditionalis-
mus zu dem, was die „echten Polen“ den Neuerern als kostbares
Vätererbe entgegengehalten. Diese anderen aber sind die Wenigen,
bei denen stets der Verstand gewesen ist; sind die sittlich oft ihren
dümmeren Gegnern unterlegenen Oligarchen Szczuka, Dunin Kar-
wicki, Leszczyński (der König!), Antoni Potocki, Poniatowski (der
Vater des Königs!), Sierakowski, endlich der Kolligat und Klient der
„Familie“ Konarski ... Feldman hat die mannigfachsten Quellen
zu seiner Anthologie herangezogen: Memoiren — von Stanisław
August, Moszczehski, Matuszewicz, Wybicki, Streitschriften, Er-
bauungsbücher, die berühmte Enzyklopädie des Benedykt Chmie-
lowski „Nowe Ateny“, Briefsteller, Reden, Gesandtschaftsberichte
und Aufzeichnungen fremder Reisender. Einige Lücken blieben. So
mangelt es an Darstellungen des Hoflebens unter August III. und
Brühl. Es sollte m. E. je eine Charakteristik des Königs, der
Königin, Brühls, Mniszechs, der Häupter der Familie und der
Potocki eingerückt werden. Dazu eine Schilderung der typischen
Hofjagden, ein Besuch des Königs in der Kapelle. Ich möchte ferner
aufgenommen sehen: die Beschreibung einer Schulfeier bei den
Piaristen, eines Unterrichts bei den Jesuiten, einen Ketzer- oder
E die Beschreibung eines Interieurs in polnischen Bürger-
reisen. Unter den Literaturbeispielen darf doch der unsterbliche
Baka nicht fehlen. Eine Poesie des Phönix Radziwill gehört zum
Gesamtbild und aus der Vorrede zu den Tabulae Jablonovianae
abe es einen hübschen Passus zu zitieren. Ein völlig vernach-
assigtes Gebiet, die eigentliche Sittengeschichte, also die Beziehungen
der Geschlechter, ist in Polen noch heute Tabu. Deshalb darf man
Feldmann keinen Vorwurf machen, wenn er uns garnicht mitteilt,
wie man in jenen fernen Tagen liebte. Quellenmaterial gäbe es
immerhin genug, um alle die hier gestreiften Themen zu illustrieren.
Dafür könnten ruhig die meisten Zitate aus den Reformschriften
wegbleiben, die alle einander ähneln und so wenig für das Virkliche
von einst bezeigen. |
Konopczynskis Quellenbuch zur Barer Konförderation“) hat den
unleugbaren Vorzug, daß es die Tatsachen allein sprechen läßt und
polemische Schriften nur insofern beachtet, als sie Ansichten von maß-
gebenden Faktoren der geschichtlichen Entwicklung uns enthüllen.
Das ist nicht der einzige Wert dieses Bandes, der wohl das wichtigste
und beste bedeutet, was bisher über die chaotischen Jahre der polni-
schen Anarchie veröffentlicht wurde. Vorläufer einer seit geraumer
Frist angekündigten Geschichte der Barer Konföderation, zu der
Konopczynski seit 20 Jahren in ganz Europa die ungedruckten
©) Nr. 102. Wiladystaw Kénopczyhski: Konfederacja barska.
Wybór tekstów. 1928. XLVI u. 216 S. Vgl. J. Feldman, Przeglad Powszechny
177, 226 f., M. Piszczkowski, Pamietnik Literacki 25, 881, Selbstanzeige Vl. Konop-
czynskis, Kwartalnik Historyczny 48, 2, 142 f.
460
3 — H— — =- .
n sammelt — ich bin seinen Spuren in fast allen Archiven
Mitteleuropas und Frankreichs begegnet, die Material iiber Polen
bergen —, besteht dieses Buch zum überwiegenden Teil aus Archi-
valien. In der Einleitung zählt der Autor selbst die Fundstätten
seines Materials. auf. Er skizziert aus souveräner Kenntnis auch der
kleinsten Einzelheiten heraus den Gang der polnischen Erhebung von
1768 bis 1774. Er tut endgültig eine Anzahl eingewurzelter Irr-
tümer zum alten Eisen: die etwa, es sei die Konföderation ein Werk
des blinden katholischen Fanatismus gewesen oder sie hätte sich
der Verfassungsreform der Czartoryski prinzipiell entgegengestellt.
Konopczyhski schildert in klaren Worten die historische Bedeutung
der bewaffneten Tat, die vielleicht kein subjektives, jedenfalls ein
objektives Verdienst derer war, die sie entfesselt hatten. Er unter-
sucht ferner aufs feinfühligste, wie sich die Ideologie und die Praxis
der Konföderation als Ergebnis der widersprechendsten und einander
feindlichsten Einflüsse erweist. Wir sehen eifrige Neuerer und ver-
zopfte Sarmaten, westelnde Große Herren und Adelsproletarier, An-
hanger der Czartoryski und deren Feinde, tiefgläubige Katholiken
und Freimaurer, ja Protestanten — Heyking! — nebeneinander. Die
Bewegung war eine Massenerscheinung, in der sich heroischer Opfer-
mut und gemeinste Raubsucht begegneten, die für Händler, Heilige
und Helden Raum hatte, der Einheit in der Leitung und in den
Zielen, darum des letztlichen Erfolgs darbte. Nicht mit wünschens-
werter Entschiedenheit wird die fanatische Gegnerschaft gegen Stanis-
ław August als das einzige die Barer verbindende Dogma und als
die Hauptursache ihres Scheiterns angegeben. Gegen die Auswahl
und Edition der Quellen ist nichts einzuwenden. Nachzutragen bei
einer zweiten Auflage: etwas über die Vorgeschichte des ent-
scheidenden Ereignisses von 1770, des Entthronungsmanifests, und
über die des von 1771, des Attentats auf Stanislaw August; als Proben
ein oder zwei Kronenboten der Konföderierten, z. B. an den Land-
grafen von Hessen-Kassel, je ein Brief Krasifiskis an Choiseul, einer
Maria Antonias, Rußerungen Katharinas, Maria Theresias, Friedrichs
über die Konföderation, noch einiges über den Streit der Ober-
häupter in der Türkei, des Rezeß Radziwilts bei der Rückkehr. Bei
einer kommenden Auflage darf ich wohl auch erwarten, daß Konop-
czyhski den einschlägigen Abschnitt meines „Poniatowski“ beachten
und die von mir in meiner Arbeit ın den „Annales Jean Jacques
Rousseau“ vorgebrachten Argumente über die Entstehungszeit der
den Barern geltenden „Considérations“ benutzen werde.
Weckt die imponierende Leistung Konopezyhskis Bewunderung,
so wird uns die Freude an Kolbuszewskis fleißiger Zusammenstellung
der in den Archiven und Bibliotheken verstreuten, sogenannten Kon-
föderationspoesie,”) durch mehrere dem Herausgeber zugestoßene
7) Nr. 108. Kazimierz Kolbuszewski: Poezja barska. 1928.
LH u. 848 S. Vgl. St. Dobrzycki, Ruch Literacki 8,68 f., J. Kleiner, Pamiętnik
Literacki 25, 884 ff., I. Chrzanowski, Ruch Liseracki 8, 240 f., K. Zawodziński,
Slowo 1928, Nr. 55, 56, Se. Kołaczkowski, Wiadomości Literackie 1928, 29.
461
»Betriebsunfalle“ getrübt. Mindestens drei der abgedruckten Gedichte
sind späteren Ursprungs. — Eines davon ist als von Ujejski her-
rührend genugsam bekannt, und es hätte durch seinen Stil Kolbus-
zewski von der Einverleibung einer offenbar dem 19. Jahrhundert
zuzuweisenden Kunstdichtung in eine Sammlung politischer Gelegen-
heitspoesie des 18. Jahrhunderts abhalten müssen. Ein zweites zeigt
deutliche Anklänge an Słowacki, ein drittes Merkmale, daß es nicht
vor 1795 verfaßt sein kann. Man wird, angesichts dieser Irrungen,
die nützliche Anthologie Kolbuszewskis mit Vorsicht in die Hand
nehmen. Auch die Einleitung befriedigt nicht, wenn sie auch in ihrer
Grundthese, daß die Barer Poesie mehr kulturgeschichtlichen und
nationalpädagogischen als literarischen Wert hat, zutrifft.
Krzyzanowskis Ausgabe des „Pan Podstoli‘*) erfüllt ihre Auf-
gabe, ohne sich um tieferes Eingehen in die zahlreichen mit diesem
repräsentativen Werk des polnischen Siècle éclairé verknüpften Pro-
bleme zu bemühen. Es wäre wohl erwünscht gewesen, den fremden
nationalökonomischen Theorien, die sich in diesem didaktischen
Roman an das polnische Publikum wenden, nachzuspüren. Fran-
zosen, Engländer, ja Deutsche haben ihren Anteil an der Muster-
wirtschaft des Herrn Untertruchsess. Und in gleicher Weise böte die
Forschung nach hier praktisch angewandten literarischen Theorien
reiche Ausbeute. In den sehr spärlichen Anmerkungen zum Text
vermissen wir ebenfalls auch die naheliegendsten Hinweise auf Re-
miniszenzen — die Reminiszenz ist Krasickis Kennzeichen, er ist
der „polnische Voltaire“, der polnische NN, niemals nur er selbst —.
Wie hübsch z. B., die erste Seite des Podstoli als Nachklang. . . des
„Gestiefelten Katers“ zu erweisen! (Den Krasicki, „Minaud“ bei-
genannt, so sehr liebte.) Ein anderes dankbares Feld der noch nicht
begonnenen Forschung wäre das Verhältnis des Krasickischen Romans
zu Krasickis damaligem Idol . . . dem alten Fritz. Nun, es ist nicht
nötig, daß in der Bibljoteka Narodowa auf alles das eingegangen
er wir begrüßten es aber, wenn Krzyzanowski bei einer künf-
tigen Auflage auch an diese Dinge rührte. Zwei andere Literatur-
denkmäler, die zugleich wichtige Quellen zur Kulturgeschichte der
Poniatowski-Zeit sind, )“) haben schlechthin unübertreffliche Be-
arbeiter gefunden. Niemand weiß um das polnische Theater jener
Zeit bessern Bescheid als Bernacki. Der Autor so vieler Schriften und
Abhandlungen über das Drama der polnischen Aufklärung schickt
seiner Ausgabe des „Sarmatismus“ eine in ihrer Gedrängtheit voll-
8) Nr. 101. Ignacy Krasicki: Pan Podstoli. Herausgegeben von
Juljan Krzyżanowski. 197. LXII u. 874 S. Vgl. M. Piszczkowski,
Pamietnik Literacki 25, 888.
o) Nr. 106. Józef Wybicki: Życie moje oraz Wspomnienie o
Andrzeju i Konstancji Zamoyskich. Herausgegeben yon Adam M. Skal-
kowski. 1928. XXXIV u. 856 S. Vgl. WI. Konopczyfski, Kwartalnik
Historyczny 42, 6583 ff.
10) Nr. 115. Franciszek Zabłocki: Sarmatyzm. Herausgegeben
von Ludwik Bernacki. 1928. XLVIII u. 152 S. Vgl. J. Birkenmajer,
Ruch Literacki 8, 276 f., M. Piszczkowski, Pamiętnik Literacki 25, 884.
462
kommene Studie über ee Ve und Schauspielwesen unter Stanis-
law August voran. Skalkowski, Wybickis Biograph und zusammen
mit Askenazy, Konopczynki der beste Kenner der Teilungsperiode,
schenkt uns die lange erwartete kritische Edition von des Autors der
polnischen Nationalhymne wechselvollen Erinnerungen. Die früheren
Drucke des arg verstümmelten Textes sind unbrauchbar. Erst diese
vervollständigte und der Hilfe von Wybickis Ururenkel Dr. Roz-
nowski vielen Dank schuldige Fassung, aus dem Vergleich von zwei
Handschriften in Posner Privatbesitz und aus dem Archiv der Nach-
kommen des Autors hergestellt, darf der Historiker mit ruhigem
Gewissen als authentisch anerkennen. Die Einleitung Skalkowskis
sieht vom eigentlich Biographischen ab, das ja in einer anderen Schrift
des Herausgebers erzählt wurde. Sie schildert nur die historische
Rolle des Memoirenschreibers, charakterisiert die Erinnerungen und
berichtet über die Editionsgrundsätze. Literaturhistoriker werden
hier das Fehlen einer sprachwissenschaftlichen Analyse beklagen.
Dafür muß sich, wer politische Geschichte oder Kulturelle Entwick-
lung aus Wybickis „Leben“ ablesen will, mit Skalkowskis Vorwort
begnügen und für die reichen, fast stets aus dem Vollen schöpfenden
Anmerkungen herzlichen Dank empfinden. Ein paar Versehen hat
Konopczyhski im Kwartalnik Historyczny angemerkt, nicht ohne
selbst in seinen Korrekturen sich zu irren: Traumensdorff ist nicht
Trautmannsdorf, sondern Trauttmansdorff. Weiteres: unter Brakien-
hof (S. 136) ist sicher der berüchtigte Held des Brenckenhoffschen
Defekts“ zu verstehen. Der preußische Diplomat heißt Sandoz-
Rollin, der Marschall des Kardinal Rohan aber Haraucourt
(S. 130, 132).
Den von ihm publizierten Jugenderinnerungen Brodzifskis
schickt A. Łucki eine durch überschwenglichen Enthusiasmus sündi-
gende Einführung voraus.) Mit mehr nüchterner Kritik betrachtet
Kolaczkowski die Gestalt eines Größeren. In seiner feinsinnigen
Studie über den Slowackichen „Fantazy“ ') zeigt er, wie sich in dieser
Tragikomödie der poetischen Irrungen und Verwirrungen, der
Dichter zwischen den beiden Gegenpolen bewegt: der Romantik und
dem derben Realismus; wie bald der gekränkte Rivale mit beleidigtem
Mannes- und Poetenstolz den glücklicheren Krasinski verhöhnt, bald
der vom Stoff und der Stimmung mitgerissene, im Grunde gleich
empfindende Stowacki sich dem lyrischen Zauber der ursprünglich
als Satire gedachten Handlung hingibt. Im Text lehnt sich Kolacz-
kowski an die große Stowacki-Ausgabe des Ossolineums an, während
Ujejski für die „Maria Stuart“ unmittelbar auf denselben Erstdruck
11) Nr. 118. Kazimierz Brodzifski: Wspomnienia mojej młodości
i inne pisma autobiograficzne. Herausgegeben von Aleksander Łucki.
1928. XXXII u. 110 S. Vgl. Br. Gubrynowicz, Pamiętnik Literacki 25, 170 ff.,
J. Korpala, Ruch Literacki 8, 28.
13) Nr. 105. Juljusz Słowacki: Fantazy czyli Nowa Dejanira.
Herausgegeben von Stefan Kołaczkowski. 1927. XLVIII u. 122 S.
Vgl. M. Kridl, Przegląd Współczesny 28, 840.
468
zurückgeht, auf den er auch in der schon genannten Editio ne
varietur sich berufen durfte.“) Die Einleitung in der „Bibljoteka
Narodowa“ kann manches erörtern, das in den „Dzieła“ nicht gestreift
worden ist. In der interessantesten Frage, ob und inwieweit Słowacki
die Schillersche Tragödie benutzt hat, gelang Ujejski nur zu einem
eher ablehnenden, doch nicht endgültig überzeugenden „non liquet“.
Sonst aber bietet er ein vortrefflich abgerundetes Bild des erstaun-
lich reifen Frühwerks eines dramatischen Genies und er bereichert
unsere Anschauung über Slowackis in sich geschlossene Asthetik um
manche wichtige Einzelheiten.
Manfred Kridl, dem wir schon so viele schöne Studien über die
großen Romantiker danken, entledigt sich mit seltenem Takt der
Mission, Krasinskis „Psalmen der Zukunft“ ohne Abschweifen ins
aktuell Politische zu analysieren.“) Er trennt sorgfältig den Künstler
vom Politiker. Nichts Unbilligeres, als die Schätzung des einen von
der Sympathie für den anderen abhängig zu machen. Über den Kon-
flikt des Magnaten Krasinski mit dem Demokraten Slowacki haben
wir bei Kridl das Klügste gelesen, was zu diesem Thema zu sagen
war (S. XXXVIII ff.).
Gegen die beiden Bände, in denen Szweykowski, der vorzüg-
lichste Fachmann auf dem Gebiet des polnischen Romans, die „Denk-
würdigkeiten Soplicas“ ) und den „Owruczanin,, “) Czajkowskis uns
Sorelle ist vom Standpunkt der Editionstechnik aus nichts einzu-
wenden. Den Einführungen fehlt ein gewisses Etwas, das sich schwer
definieren läßt; fehlt der unmittelbare Kontakt mit dem Dichter.
Gewiß sind die Tatsachen über Rzewuski und seinen anekdotischen
Roman jede einzelne richtig geschildert. Trotzdem erfahren wir
durch Szweykowski nicht, wie diese Flucht aus der Zeit mehr als ein
Spiel, wie sie der Umgang eines letzten Ritters des Liberum Veto
mit den Gebilden seines Geistes war. Und in dem Umriß der ver-
sunkenen Welt, in denen sich die Geschichtchen um Karol Radziwill
„Panie Kochanku“ begaben, fehlt das Leben, fehlt die plastische
Figur des ungekrönten Herrschers von Litauen, die wir N
treu nach der Wirklichkeit und den Quellen portraitiert, mit der
Idealgestalt Rzewuskischer Phantasie verglichen haben wollten. Auch
in den Anmerkungen wurde übermäßige Zurückhaltung geübt. Das
Register bietet für das Mangelnde keinen genügenden Ersatz und es
13) Nr. 111. Juljusz Słowacki: Marja Stuart. Herausgegeben von
Józef Ujejski. 1928. XXXII u. 104 S. Vgl. St. Furmanik, Wiadomości
Literackie 1928, Nr. 27, H. Zyczyhski, Pamiętnik Literacki 25, 886 ff.
14) Nr. 107. Zygmunt Krasinski: Psalmy przyszłości. Heraus-
gegeben von Manfred Kridl. 1927. LXIV u. 82 S. Vgl. J. Birkenmajer,
Ruch Literacki 8, 184 ff.
15) Nr. 112. Henryk Rzewuski: Pamiątki Soplicy. Herausgegeben
von Zygmunt Szweykowski. 1928. LVI u. 400 S. Vgl. J. Birken-
majer, Ruch Literacki 8, 119.
16) Nr. 103. Michal Czajkowski: Owruczanin. Herausgegeben von
mn: Szweykowski. 1927. XLIV u. 867 S. Vgl. J. Krzyzanowski,
Ruch Literacki 2, 278 f.
464
ist eher geeignet, den mit dem Thema nicht Vertrauten mit allzu
raschen Gesamturteilen irrezuführen. Dem „Owruczanin“ hat die
Methode Szweykowskis weniger geschadet. Hier drängte sich ja nicht,
wie bei den „Pamiatki Soplicy“ auf jeder Seite die Notwendigkeit
auf, Geschichte und Geschichtchen einander gegenüberzustellen.
Frau Kotowa löste die Aufgabe, einen historischen Roman dem
Laienpublikum und den Geschichtsforschern näherzubringen, in durch-
aus befriedigender Weise. In der Einleitung zum „Tagebuch der
Franciska Krasinska“, “) jenem Werk der Tanska, das — ohne Ver-
schulden der Autorin — seinen Platz außer in der Literatur im all-
gemeinen auch unter den erfolgreichen Mystifikationen behauptet.
Selbst ein Spezialist wie Pierre Boyé ist erst jüngst der guten Tante
Klementyna hineingefallen. Die Herausgeberin nun scheidet sorgsam
Dichtung und Wahrheit, verfolgt die Genesis des Briefromans aus der
Lektüre des „Monitor“ und der mündlichen Überlieferung. Nur in
kleinen Einzelheiten begegnen uns Versehen, so wenn die Frage, ob
die Krasinska den Bischof von Kamieniec zur Aufstellung der Kan-
didatur eines deutschen Reichsfürsten als Bewerber um die polnische
Krone bewogen habe, als strittig bezeichnet wird, während darüber
meine Schrift „Eine unbekannte Kandidatur auf den polnischen
Thron“ längst Klarheit geschaffen hat, oder wenn die Stelle im Tage-
buch, Poniatowski sei in Petersburg als Gesandtschaftssekretär vier
Jahre gewesen (S. 23), der Besuch bei Konstanze Poniatowska am
29. Dezember 1759 ohne Zusätze bleiben, die das eine als falsch, das
andere als möglich erwiesen.
Feldmans Ausgabe des Kraszewskischen „Brühl“ !“) enttäuscht
etwas. Wır hätten von diesem souveränen Kenner der Materie den
eingehenden Vergleich des Ministers, wie ihn die objektive Ge-
schichte uns enthüllt, mit der Kraszewskischen Gestalt erwartet und
nicht bloß die Untersuchung, inwieweit der Erzähler aus Justi oder
Vehse, höchst unzuverlässigen Quellen alle beide, schöpfte. Einige
Grundmotive des Romans: die Anekdoten über Brühls Aufstieg, sein
Verhältnis zur Schwiegermutter, der Sturz Sulkowskis, die Be-
ziehungen zur Gattin erfordern unbedingt Erörterung durch den so
sehr dazu berufenen Historiker der Sachsenzeit. Wir rechnen damit,
diese Ausführungen schon im Hinblick auf den jüngst erschienenen
Panegyricus von Boroviczény, in einer kommenden Auflage zu lesen.
Der Auferstehung eines anderen, zwar nicht historischen, aber
doch seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung keineswegs baren
Romans, der „Heidin“ Narcyza Zmichowskas hat Boy-Żeleński den
Weg bereitet.“) Den Bemühungen dieses unermüdlichen Zerstörers
17) Nr. 119. Klementyna Tanska: Dziennik Franciszki Krasinskiej.
Herausgegeben von Ida Kotowa. 1929. LXX u. 168 S. Vgl. K. Czachowski,
Przegląd Współczesny 31, 160 ff.
16) Nr. 114. Jözef Ignacy Kraszewski: Brühl. Herausgegeben
von Jözef Feldman. 1928. XXIV u. 316 8.
19) Nr. 121. Narcyza Zmichowska: Poganka. Herausgegeben von
Tadeusz Boy-Żeleński. 1980. XXXVIII u. 184 S.
465
falscher Idole und entgegen dem Anschein ebenso unermüdlichen
Idealisten, der in den Schmollwinkel des Pantheons verbannten
Heroen von gestern zu ihrem Platz verhelfen will, ist es gelungen,
für die „Enthusiastin“ Zmichowska Verleger und Publikum zu er-
warmen. Ich fürchte, es wird baldige Abkühlung der angefachten
Begeisterung eintreten. Die Zmichowska ist nicht mehr lebendige
Literatur und nur eine galvanisierte literarische Mumie. Mag die
„Heidin“ um ihres psychologischen und psychopathischen Reizes
willen als historisches und soziologisches Dokument gelesen werden:
sie ist kein Kunstwerk, das seine Epoche überdauert. Verfehlt in
der Komposition, bei aller subjektiven Ehrlichkeit objektiv unwahr,
von grotesker Pathetik, dankt dieses transvestierte Geheimnis einer
alten Mamsell den gewiß vorübergehenden Erfolg nur geweckter
Sensationsgier. Boy verschwendete seine glänzenden Gaben an eine
verlorene Sache. Dieses authentisch falsche Chef d’ceuvre darf er viel-
leicht als sittliche Tat, als Kampfansage an den polnischen Cant und
Huldigung an den moralisch imperativen deutschen Kant preisen,
im Grunde bleibt diese sapphische Ode auf die Kunst trotz der Ver-
quickung mit patriotischer Allegorie die herzlich schlechte Kopie von
„René“ und „Chatterton“, des „Korsar“ und der „Mlle de Maupin“
— warum wohl: Boy, der brillante Mittler französischen Schri
nicht auf die Herkunft der „Heidin“ von Gautier hindeutete?
Den Abschluß der bisher publizierten Bände — die
Nummern 116 und 117 liegen noch nicht vor — bilder eine
prächtige Auswahl aus Kasprowiczs Lyrik.“) Kolaczkowski be-
währt sıch da nochmals in seiner Meisterschaft als Herausgeber und
Dolmetsch poetischer Sprache. Die Verbindung von ästhetischem
Kritiker und fachkundigem Literaturhistoriker, jenes heikle Problem
der Geschichtsschreibung modernen Geisteslebens, hat sich in diesem
ausgezeichneten Schriftsteller harmonisch vollzogen. Der Masse
seiner Landsleute wird Kasprowicz, den jeder erhebt, aber an-
gesichts des Mangels an zugänglichen Ausgaben bis vor kurzem nur
wenige lesen konnten, durch die Bibljoteka Narodowa zum erstenmal
greifbare Wirklichkeit. Es ist Kolaczkowskis Tat, daß er diesen Kon-
takt des großen Dichters mit seiner Nation so verständig, so ver-
ständlich und so verstehend begleitet.
So gipfelt die „Bibljoteka Narodowa“ im Bemühen, die Kette
zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht abreißen zu lassen,
im Streben, einem ganzen Volk das geistige Erbe seiner Ahnen zu
bewahren und diesen Schatz der Allgemeinheit zu öffnen. Die
Wissenschaft leistet ihr dabei redliche und entscheidende Hilfe. Und
sie wird, für diese Dienste, durch den Nutzen reichlich belohnt,
den, in erster Linie edlem Genuß und der Belehrung Heranwachsen-
der bestimmt, das treffliche Unternehmen auch der Forschung
gewährt.
70) Nr. 120. Jan Kasprowicz: Wybór poezyj. Herausgegeben von
Stefan Kotaczkowski. 1929. XXXVIII u. 264 S. Vgl. K. Czachowski,
Przegląd Współczesny 30, 154 ff.
466
IV
BUCHERBESPRECHUNGEN
Bittner, Konrad: Herders Geschichtsphilosophie und die Slaven. —
Reichenberg 1929. Verlag Gebrüder Stiepel. 150 S. (Veröffent-
lichungen der Slavistischen Arbeitsgemeinschaft an der Deutschen
Universität in Prag. 1. Reihe. Heft 6.)
In den geschichtsphilosophischen Ausführungen Herders spielen die Slaven
eine beträchtliche Rolle. Allerdings hat schon Leibniz, wie der Verfasser bemerkt,
auf diesem Gebiete richtunggebend gearbeitet. Es ist schade, daß B. seine Studien
über Leibniz und die Slaven welt nicht vor der obigen Arbeit vorlegen konnte.
Wir würden dann sehen, ob und inwieweit Herder von Leibniz abhängig war.
Auch B. erkennt dies und bedauert es, daß seine Studien auf diesem Gebiete auf
unerwartete Schwierigkeiten gestoßen sind. B. gibt im ersten Abschnitt einen
guten Oberblick über die Wandhungen der Herderschen Geschichts philosophie, die
durch seinen jeweiligen Wohnsitz in Königsberg, Riga, Bückeburg, Weimar ge-
kennzeichnet werden. Auf diesen Abschnitt kann hier nicht näher eingegangen
werden. Nur das Wesen der Herderschen Geschichtsphilosophie soll kurz wieder-
gegeben werden, weil wir daraus ersehen, daß er dem slavischen Fühlen und
Denken innerlich nahestand. Die Geschichte ist ihm die Offenbarung Gottes und
der göttlichen Erziehung in der Menschheit. Das letzte Ziel der Entwicklung sieht
er in vollständiger Staatenlosigkeit. Denn das höchste Ziel der Entwicklung ist
dann erreicht, wenn unter den sich selbst beherrschenden und leitenden Menschen
jegliche Staatsform überhaupt überflüssig geworden ist. Der natürliche Staat ist
ein Volk mit einem Nationalcharakter. Hier berührt sich Herder ganz auf-
fallend mit Gedanken, die ein 5 später Tolstoj, wenn auch in viel
schirferer Form, ausgesprochen hat. B. hat nicht dargelegt, ob diese Herdersche
Auffassung aus seiner Betrachtung der russischen Geschichte entstanden sind. Denn
daß das russische Volk seiner Natur entsprechend sich gegen jeden äußeren Zwang,
der nun einmal in jedem Staatsbegriff enthalten ist, auflehnt, ist sicher.
Im IV. Abschnitt des 16. Buches der „Ideen“ gibt Herder eine Charakte-
ristik der Slaven: Die Slaven seien immer ein stilles, friedliebendes Volk des
Ackerbaues und des Handels gewesen, das niemals, auch nicht zur Selbstvertei-
digung zum Schwerte gegriffen habe, sondern in die verlassenen Gebiete unruhiger
und stürmischer Eroberer nachgerückt sei, um in ruhigem und ungestörtem Leben
sich seiner friedlichen Tätigkeit und den Frieden atmenden Künsten, der Musik
und Dichtung zu widmen. Infolgedessen sind die Slaven berufen, die Mensch-
heit durch ihre Wirksamkeit in der Geschichte der Zukunft dem Ziel der Huma-
nität näherzubringen, die höchste Vollendung der Menschheit aus ihrem innersten
Wesen heraus zu erreichen. B. verzichtet darauf, eine Kritik der Herderschen
Anschauung zu geben. Es wäre aber angebracht gewesen, wenigstens auf die
Arbeiten Joseph Leo Seiferts über die angebliche Friedfertigkeit der alten Slaven
zu verweisen, um den Interessenten die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Urteil
zu bilden. Denn daß Herder in einer geradezu groben Unwissenheit über die Ge-
schichte der Slaven befangen war, werden wir noch sehen.
B. untersucht weiter, wann, wo und in welcher Art Herder zu einem oder
dem anderen der slavischen Hauptstämme in Beziehung trat, wann, wo und wie
467
ihm das Eindringen in das Wesen und Verden eines der slavischen Hauptvölker
zum weit hinaus bestimmenden Erlebnis wurde, er untersucht ferner, inwiefern
andere Gewährsmänner, Gelehrte, Künstler, Dichter, überhaupt führende Männer
slavischer und nichtslavischer Zunge für ihn von bestimmendem Einfluß ge-
worden sind. H. selbst war keiner slavischen Mundart mächtig und mußte sıch
daher durchaus auf das Urteil seiner Gewährsmänner und Quellen verlassen.
erste Gedicht, mit dem H. an die Offentlichkeit trat und das dem noch nicht
siebzehnjährigen Jüngling Anerkennung und Bewunderung eintrug, war dem
russischen Caren Peter III. gewidmet, den er als den großen Friedensfürsten feiert.
Hier hat B. wenigstens kurz gezeigt, daß Herder in einer vollständigen Unkennt-
nis über die Persönlichkeit des Caren befangen war. Es wird sich kaum historisch
erweisen lassen, ob alle Legenden, die über ihn berichtet werden, wahr sind.
Denn die russische Geschichtsschreibung har über den „Ausländer“ nie ein objektiv
richtiges Urteil gefällt. Aber sicher verdiente er nicht, von Herder als der große
König Cyrus gefeiert zu werden. Während Herder Peter III. als den gottgesandten
Friedensfürsten feiert, der den Königen das Blutschwert abgürtet und Ruh und
Glück auf seine Herden regnet, rühmt er Peter d. Gr. als das unerreichte Vorbild
aller männlichen Tugenden und als den großen kriegerischen Helden. B. gibt zu,
daß Herder einem vorgefaßten Ideal zu Liebe von der geschichtlichen 5
abgewichen ist. Dies mag dem Dichter schließlich noch verziehen sein; aber
er so rasch seine Stellungnahme zu Krieg- und Friedensfürsten ändert, verdient be-
sonders hervorgehoben zu werden. Und die Geschichte kann es nur begrü
daß H. seinen Plan, eine Biographie Peters zu schreiben, mit der er Voltaire aus-
stechen wollte, nicht durchgeführt hat. Auch in der Lobpreisung Katharinas kann
man das Gefühl nicht loswerden, daß nur der maßlose Ehrgeiz Herders, auf den
B. mit Recht hinweist, die Urache für seine unwahren Lobhudeleien war.
Geschichte und Gegenwart geben wohl die beste Antwort auf Herders
Prophezeiung: Die Ukraine wird ein neues Griechenland werden, eine neue
Kultur wird im Osten entstehen. Und dieser Geist wird über Europa gehen, das
im Schlafe liegt, und dasselbe dem Geiste nach dienstbar machen. Von Livland
aus wird sich dieser neue Geist über Mittel- und Südrußland ausbreiten und dann
erst seinen Siegeszug nach dem Westen antreten. Es muß aber zugegeben werden,
daß H. mitunter auch die Fehler der russischen Seele kennzeichnet. Er gibt zu,
daß Rußland keine Subordination kennt (das ist in dieser Formulierung übrigens
nicht richtig), daß Rußland die Triebfeder der Ehre nicht kennt. leder Russe ist
ein niedriger Schmeichler, nur Sklave, um Despot zu werden. Trotzdem ist Ruß-
land für ıhn der einzig mögliche Träger seiner Zukunftspläne. Seine Kenntnisse
über Rußland hat H. hauptsächlich aus den Werken Schlözers, Müllers, Büschings,
Lanossovs (so schreibt H.), Frischs und anderer. Er gibt Anweisungen und Rat-
schläge, wie Rußländ seine große Zukunft erreichen kann. Er selbst hält sich für
den Lehrer und Erzieher, Lenker und Berater der Völker des Ostens. Alles, was
er bisher an Schriftstellerei getrieben hat, ist nichtig und verächtlich angesichts
der großen Aufgabe der Erweckung des Ostens, der Bildung und Veredlung der
Völker, die dazu bestimmt sind, eine neue Zeit heraufzuführen. Obwohl H. ganz
unzureichende Kenntnisse als Historiker hatte — die Wenden und Böhmen hält
er für Deutshe —, maßte er sich an, über Schlözers Universalhistorie ein ver-
nichtendes Urteil zu geben. Er mußte es sich dann gefallen lassen, daß letzterer
Herders Beurteilung „als durch Unwissenheit in hohem und erweislichen Grade,
durch vorzügliche Ungezogenheit und durch die Person ihres Verfassers besonders
ausgezeichnet“ zurück weist.
B. weist ferner nach, daß die Volkslieder als Quellen für Herders Anschau-
ungen über die Slaven nicht in Betracht kommen, da er nur wenige slavische
Lieder kannte.
In dem „Slavenkapitel der Ideen“ gibt H. eine vollständig andere Charakee-
risierung der Slaven, die unmittelbar nach der oben genannten Lobpreisung des
friedfertigen slavischen Volkscharakters steht. Die friedliebenden Slaven wurden
von anderen Nationen, besonders von deutschen Stämmen, hart bedrückt.
Durch diese Unterjochung ist der weiche Charakter der Slaven zur arglistigen,
grausamen Knechtsherrschaft herabgesunken. Allerdings sei in den Ländern, wo
sie noch einige Freiheit genießen, ihr altes Gepräge noch erkennbar. Er hofft,
468
daß die Slaven ihre Sklavenketten abwerfen und vom Adriatischen Meere bis zum
Karpathischen Gebirge, vom Don bis zur Mulde herrschen werden.
B. betont, daß Herder seine Lehre von dem Wesen der Slaven nicht aus dem
Einfühlen in das slavische Volkstum geschöpft hat, sondern daß sein Rigaer Er-
leben der slavischen Welt in der Weimarer Zeit unter vollständig veränderten
geschichtsphilosophischen Voraussetzungen gebildet wurde. Die Weimarer Ge-
schichtsphilosophie weist den Slaven eine neue Aufgabe, und damit ein neues Leben
zu: Sie sollten Vegbereiter und Träger der Humanität werden, und damit sie die
neue, ihrer harrende Aufgabe erfüllen können, muß ihr Volkscharakter ins shia ed
liche und Friedliebende umgedeutet werden. Um Förderin der Humanität u
werden, müssen sie selbst wahre Humanität in sich tragen. Das heißt also: Herder
hat seine Anschauungen über den Charakter der Slaven nicht durch wissenschaft-
liches Studium oder Selbstbeobachtungen gewonnen, sondern nach vorgefaßten ge-
schichtsphilosophischen Ideen gebildet. Es versteht sich von selbst, daß solche Kon-
struktionen wertlos sind. Von vornherein befremdet es auch, daß Herder immer
nur von dem Volkscharakter der Slaven im allgemeinen spricht, ohne die ein-
zelnen slavischen Völkerstämme zu trennen. Er scheint eben gar nicht zu wissen,
daß z. B. Russen und Polen ganz verschiedene Stammeseigentümlichkeiten haben.
Den Höhepunkt seiner Unwissenheit erreicht er wohl damit, daß er Huß, diesen
Vorkämpfer der čechischen Nationalität, für einen Deutschen hält.
B. macht es auch wahrscheinlich, daß H. den Comenius und dessen Werke bis
in die Weimarer Zeit nicht näher gekannt hat. Er har ıhn wahrscheinlich nur
durch Vermittlung von Leibniz gekannt. Erst nach dem Erscheinen des zweiten
Bandes von I. G. Müllers: Bekenntnisse merkwürdiger Männer ist er tiefer in
das Leben und die Werke des Comenius eingedrungen. Aber eine Beeinflussung
des Comenius auf die letzte Formulierung der Herderschen Geschichtsphilosophie
ist aus rein äußeren Gründen unmöglich. Das Humanitätsideal Herders ist ein
ganz anderes als das des Comenius.
Im Anhang gibt B. einen vollständigen Abdruck des Lobgesanges auf Peter
den Großen in beiden Fassungen und ein Faksimile der Lichtbilder der Herderschen
Handschrift.
Da H. die deutsche Auffassung über die Slaven nachhaltig beeinflußt hat,
hat Bittners Arbeit auch großen Gegenwartswert. Meines Erachtens hätte aber
B. die ganz unwissenschaftliche Arbeitsweise Herders schärfer herausheben sollen.
Hoffentlich wird B. seine Arbeiten auf dem im Vorwort bezeichneten Wege weiter
fortsetzen.
Breslau. Felix Haase.
Ein neues Sammelwerk zur bulgarischen Literatur- und Kultur-
geschichte: „Bulgarische Schriftsteller: Leben — Schaffen —
Ideen“ (Bigarski pisateli. Zivot-Avorlestvo-idei. Iljustrovana
literarno- istorièeska biblioteka. Pod redakcijatu na prof.
M. Arnaudov. Knigoizdatelstvo Fakel, Sofija).
Eine vollständige, methodische Geschichte der neubulgarischen Literatur ist
noch nicht geschrieben. Die bisher gemachten Versuche haben mehr oder minder
den Charakter von praktischen Hilfsbüchern für Schul- und Unterrichtszwecke.
Unter diesen Versuchen kam dem Ziele einer systematischen Literaturgeschichte
noch am nächsten B. Angelov mit seiner zweibändigen Blgarska lite-
ratura, Sofija 1922, 1924, der den — gerade für das Verständnis der bulgari-
schen literarisch-geistigen Entwicklung mehr als anderswo EA — kultur- und
nationalgeschichtlichen Hintergrund der Literatur wie auch den geistigen Gehalt
der literarischen Werke in den wesentlichen Zügen wenigstens herausarbeitete.
Immerhin fehlt noch eine geschichtliche Darstellung, die unter kritischer Ver-
wertung aller Vorarbeiten systematisch von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus
den Fortschritt, die Entwicklung der Ideen, der Formen, des Stils, die literarischen
Talente und Temperamente ihrer Besonderheit nach, den Einfluß des Milieus und
der historischen Bedingungen, zu einem Gesamtbilde gestalten würde. Die
Schuld an diesem Mangel liegt an äußeren Umständen. Bedenkt man, daß die
Bulgaren erst seit einem halben Jahrhundert die Möglichkeiten und Grundlagen
469
für selbständige, wissenschaftliche Betätigung haben, und übersieht man das bisher
Geleistete, so muß man sagen, daß es alle Anerkennung und Hochachtung ver-
dient, daß das Notwendigste und Möglichste getan wurde. — Da unter den
gegebenen Umständen eine Gesamtdarstellung auch heute noch für einen einzelnen
eine sehr schwer lösbare Aufgabe darstellt, entschloß man sich durch Zusammen-
arbeit der führenden und sachverständigsten Literarhistoriker, Kritiker und
Pädagogen in der Form einer literarhistorischen Bibliothek ein Sammelwerk
5 das für die Kenntnis der literarisch- geistigen Entwicklung wie auch
fiir eine künftige systematische Gesamtdarstellung eine feste Grundlage bilden soll.
Die Bibliothek Bl garski 55 ist auf 6 Bande berechnet, die insgesamt
40 Monographien über die führenden bulgarischen Schriftsteller, angefangen von
Paisij bis zu den modernen Dichtern Javorov, Elin Pelin, K. Christov, enthalten.
Der Inhalt des I. Bandes, der mir bisher vorliegt — nach gelegentlichen münd-
lichen Mitteilungen St. Mladenovs und Jocovs sollen inzwischen auch schon weitere
8 Bande erschienen sein — zeigt, daß die Versprechungen der Redaktion zufrieden-
stellend eingehalten worden sind, daß wir mit dieser Bibliothek tatsächlich eine
modernen Anforderungen entsprechende Grundlage zur Kenntnis der neu-
bulgarischen Literatur- und Geistesgeschichte bekommen haben. Tom I (Sofija
1929, 214 Seiten) enthält folgende Monographien: Paisij, dargestellt von N. Fili-
ov, Sofronij Vradanskı von T. Atanasov, Petr Beron von I. N. Iv.
ankov, Neofit Rilski von St. Cilingirov, Neofit Hilendarski Bozveli
von V. Pundev, Vasil Aprilov von M. Arnaudov, Konstantin Fotinov
von G. Konstantinov, Ivan Bogorov von St. Mladenov. jede
Monographie gibt zunächst eine Lebensbeschreibung und eine Darstellung des
literarischen und kulturellen Schaffens, ferner eine Charakteristik des Ideen tes
und — allerdings leider nicht durchgängig — des Stiles, schließlich eine Würdigung
der allgemeinen Bedeutung. Bibliographische Daten, Bilder der Persönlichkeiten
wie auch historisch wichtiger Orte, sowie Schriftproben (Autographe) sind bei-
gegeben.
Graz. J. Matl.
Akad. D. I. Javornyékyj: Dniprovi porohy. (Die Dnipro-
schwellen.) Ein Photographien-Album nebst einer geographisch-
historischen Abhandlung. — Ukrainischer Staatsverlag 1928.
S. 75. 86 Abbildungen.
Ein derartiges Buch ist zeitgemäß; es ist schr gut dazu geeignct, die all-
gemeine Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet zu lenken, welches infolge Ver-
wirklichung des Dniprelstan-Kraftwerkes unter Wasser versinken soll. Es ver-
liefen bereits 2% Jahre seit dem Beginn des Baues des Dniprelstan und bleiben
noch 3A Jahre Zeit zur Erfüllung der kulturell-historischen Pflicht, die in der
Erforschung dieses eigenartigen osteuropäischen Teilgebietes liegt. Auf dem Terri-
torium der Dnipro-Schwellen wurden bereits mehrere paläontologische, geologische,
archäologishe und historisch-archäologishe Forschungen durchgeführt, und es
wurden bereits mehrere diesbetreffende wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht.
Allein, man kann es mit ruhigem Gewissen behaupten, daß von allen bisherigen
diesbezüglichen Arbeiten über Dnipro-Inseln, Ufern und -Schwellen das vor-
liegende Album und die geographisch-historische Abhandlung „Dnipro-Schwellen“
von deren hervorragendstem Erforscher und Kenner, Mitglied der Akademie
D. I. Javorni¢ékyj allergrößte Bedeutung haben.
Wiewohl die Abhandlung nicht umfangreich ist, gibt sie fast über alle be-
deutenden, historisch bekannten Gegenden, mit 5 der Quellen, kund.
Sie behandelt alle archäologischen Fundstätten, registriert alle bekannten Becken,
Schwellen, Inseln, und gibt über sie erschöpfende historische Daten; ja wir finden
hier die diesbezüglichen Volkssagen und sogar auch Sprüche der Lotsmänner,
welche die Schwellen und ihre Gefahren gut kennen. Die wissenschaftliche Be-
deutung der Arbeit von Javornyckyj liegt auch in der Revision aller irrtümlichen
Benennungen, die in vielen Karten der Schwellen sowie der benachbarten Ge-
biete zu finden sind. Einen einzigen Nachteil weist die Arbeit Javornyékyjs auf,
470
und zwar: es ist viel zu wenig über die Besiedlung der Dnipro-Schwellen und
-Ufer, über diejenigen Dörfer gesagt, welche bald von den geographischen
Karten verschwinden müssen.
Die 88 photographischen Abbildungen im Buche bilden die wertvollste dies-
bezügliche Sammlung überhaupt. Die Photographien sind sorgfältig ausgewählt
und sehr gut ausgeführt.
Die vorliegende Abhandlung wurde vom Ukrainischen Staatsverlag schr
sorgfältig ausgestaltet und mit einem schönen Umschlag von O. Marynkiv
versehen.
Berlin. M. Dolny é kyj.
M. Fil’anskyj ta J. RyZenko: Poltavityna. (Poltavaer Ge-
biet.) — Allgem. Redaktion von M. Kryvorottenko. — Poltavaer
Staatsmuseum 1927. S. VII + 41, Karten, Abbildungen, Tafeln.
Dies ist neben „Natur und Bevölkerung der Slobodischen Ukraine“ und
„Kiev und seine Umgebung“ eine dritte Arbeit, in welcher mehr weniger das ge-
zamte zur allseitigen Erforschung eines Territoriums notwendige Material zu-
sammengefaßt wurde. Der Natur des Poltavaer Gebietes sind in diesem Sammel-
werke folgende Arbeiten gewidmet: Havrylenko: Geographische Skizze. M. Fil“
anskyj: Geologie. S. Illitevskyj: Bodenbeschaffenheit und Flora. V. Danilevskyj:
Wasserenergie. M. Sambikin: Das Klima. P. Postavnyj: Heil- und Giftpflanzen.
Havrylenko: Wirbeltiere. Alle diese Abhandlungen sind sehr interessant und
wertvoll, weil sie von Fachleuten zusammengestellt sind. Es muß aber bemerkt
werden, daß das Material in dieser Sammelschrift ungleichmäßig bearbeitet wurde,
weil manchen Fragen, wie z. B. der Floradarstellung schr wenig Raum gewidmet
wurde. Allein, dieses Buch ist ungemein interessant und sein Erscheinen zeigt uns
deutlih, daß die ukrainische Landeskunde Grundlagen zur gründlichen Er-
forschung der Ukraine aufzubauen beginnt.
Berlin. M. Dol’nyéky)j.
Dr. H. Drohomyreékyj: Vitry Zakarpatt a. (Die Winde in
der Karpathenukraine.) — Lemberg 1927/8. S. 45. Sonder-
abdruck aus der Sammelschrift der Physiogr. Kommission der
Mathematisch - naturwissenschaftlich - medizinischen Sektion der
reg Gesllschaft der Wissenschaft in Lemberg. 1927.
II. Folge.
Die vorliegende Studie ist besonders wertvoll als ein Beitrag zur Er-
forschung der klimatischen Verhältnisse des von den Ukrainern bewohnten Ge-
bietes an den südlichen Abhängen der Karpathen.
Der Inhalt dieser Arbeit: Die Einleitung — eine flüchtige orographische
und klimatische Beschreibung der Karpathenukraine. Das eigentlihe Thema:
die Bearbeitung der Hauptfaktoren, welche die Richtung, die Kraft und den
Charakter der Winde in der Karpathenukraine beeinflussen, und zwar die der
absoluten Höhe, der bergigen Landschaft, der Richtung der Berge und der Täler,
und hauptsächlich der Höhe der Gebirgspässe, durch welche im Winter die kalte
Luft aus Osteuropa hineinströmt, und endlich die der Bewaldung des Landes.
Alle diese Windelemente werden auf Grund der in den Jahren 1881—1910
an 12 Stationen des Netzes des Ungarischen Meteorologischen Institutes gemachten
Beobachtungen bearbeitet.
Die ebnisse dieser Studie sind sehr wertvoll — und dies verleiht der
er Arbeıt eine besondere Bedeutung nicht nur für die karpathenukrainische
andeskunde, sondern auch für die allgemeine, theoretische Erklärung der die
Winde modifizierenden Einflüsse der Orographie.
Der Arbeit wurden Tafeln mittlerer beobachteter Daten und einige Zeich-
nungen beigefügt.
Berlin. M. Dol’nyéky}
471
J. Kral: Svidovec v Podkarpatské Rus, Sídla obyvatelstva.
Hospodářské využití. (Svidovec in der Karpathorus. Die Be-
SE Die wirtschaftliche Exploitation). — Im „Věstník
Kral. Ceské Společnosti nauk. Třída II.“ (Mitteilungen der
Königl. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften. II. Klasse.)
1927. S. 124. 33 Abbildungen. i
Der durch seine Arbeiten über die Karpathenukraine bereits bekannte Ver-
fasser gibt hier eine Monographie über die Verchovynagruppe des Svydoveć in
der Karpathenukraine. Diese Monographie ist ein Ergebnis zahlreicher Forschungs-
exkursionen des Verfassers. Den Hauptinhalt bildet die Erörterung der Frage
der Besiedlung des Svydoveé und dessen wirtschaftlicher Ausbeutung. Außerdem
befaßt sich der Autor ausführlich mit der Frage der Hirtenwirtschaft. Kräls
Studie zeigt, daß im Svydoveé sich bis in unsere Zeit am besten die karpathen-
ukrainischen archaischen Formen des Hirtenlebens erhalten haben. Am wichtigsten
ist aber der Umstand, daß die vorliegende Arbeit viel zur Lösung der Frage der
Ostkarpathenbesiedlung und der allgemeinen Stufe der materiellen Kultur in der
Karpathenukraine beiträgt.
Berlin. M. Dol’nyék yj.
Dr. J. Kral: Geografická bibliografie Podkarpatské Rusi. (Die
grograpnischie Pip iograpmie der Karpathenrus.) — Prag 1928.
In der Sammlung der Cechischen geographischen Arbeiten, die unter dem
Titel „Travaux geographiques tcheques vom Geographischen Institute in Prag
herausgegeben wird, erschien als Nr. 13 die geographische Bibliographie der
Karpathenukraine aus den Jahren 1923—1926.
Der Verf. bearbeitete noch i. J. 1923 die geographische Bibliographie dieses
Landes in einem besonderen Werke, wo 1316 Titeln (Nummern) gesammelt
wurden; die vorliegende Sammlung ist eine Vervollständigung dieser Bibliographie
und ihre Fortsetzung, welche hauptsächlich die Jahre nach 1923 berücksichtigt.
Sie umfaßt weitere 839 Nummern (bis Nr. 2165 einschließlich). Diese sind in
5 verschiedene Abteilungen zergliedert, und zwar: 1. Bibliographie. 2. Allgemeine
und spezielle Chorographie. 8. Physische Geographie. 4. Anthropogeographie
und FHilfs wissenschaften (allgemeine anthropogeographishe Arbeiten, Ethno-
graphie, Volkspoesie, Bräuche, Kunst, Hausgewerbe, Sprache, Volkswirtschaft,
Schulwesen und Volksbildung, Volksgesundheit, Statistik, Geschichte und geschicht-
liche Geographie, Kirchengeschichte und Varia). 5. Karten und Atlanten (die in
Osterreich-Ungarn bis zum Jahre 1870 herausgegebenen und dann die in der
Tschechoslowakei veröffentlichten). Am Schluß finden wir ein Autorenregister
und die Erklärung der im Texte benützten Abkürzungen.
Kräls Bibliographie erlangt eine besondere Bedeutung durch ihre Voll-
ständigkeit. Diese Bedeutung wird sich noch steigern, wenn das Interesse für
55 Erforschung dieses seitens der geographischen Vissenschaft vernach-
assigten Winkels des ethnographischen ukrainischen Gebietes größer wird.
Berlin. M. Dol’nyékyj.
Materijaly ochorony pryrody na Ukrajini. (Materialien zum Natur-
schutz in der Ukraine.) 1928. I. Band. — Herausgegeben von
der Versuchsanstalt (Naturschutz- Kommission) des NK ZS.
Charkov 1928. Redaktionskollegium: V. Averin, J. Homon,
Prof. O. Janata. S. VIII + 185.
In der vorliegenden Sammelschrift finden wir Arbeiten, welche entweder
interessante Naturdenkmäler der Ukraine oder deren Naturschutzgebiete be-
treffen. Diesmal sind es vorwiegend botanische Abhandlungen.
In der Sammelschrift sind folgende Arbeiten veröffentlicht:
N. Des’atov-Sostenko und F. Levin: Die botanische Erforschung der Schwarz-
meer-Nehrungen und -Inseln Tender, Dizarylhaé, Orlovyj und Dovhyj.
S. 1—66. 8 Karten und Phototafeln.
472
Der Wert dieser Abhandlung liegt darin, daß in ihr ein bis jetzt in
botanischer Hinsicht fast unerforschtes Gebiet behandelt wird. Die Vert. haben
ein ziemlich großes, die Flora und die Pflanzenwelt der erwähnten Nehrungen
und Inseln betreffendes Material zusammengetragen. Im Anhang finder man cine
Tafel der Pflanzenverteilung (nach Hauptgruppen) und ein systematisches Ver-
zeichnis aller im erwähnten Gebiete registierten höheren Pflanzen. Außerdem
sind der Arbeit 8 ziemlich wertvolle Karten und 7 photographische Landschafts-
aufnahmen beigefügt.
M. Klokiv: Ein neues Spezies der Art Polygonum auf den Schwarzmeer-Inseln:
Polygonum arenarium spoc. con. (sect. Avicularia Meisn.). S. 78—74.
Eine Beschreibung des Polygonum Janatae, P. arenarium s. l., und zwar
P. pseudoarenarium.
O. Prjaniinikov: Eine botanische Erkursion auf die Nehrung (Insel) Tender.
$. 75—80. Mit einem schematischen botanischen Profil der Insel Tender.
Der Verfasser gibt eine kurze, zusammenfassende Beschreibung der Pflanzen-
welt nach den Zonen.
V. H. Averin: Eine Exkursion auf die Insel Curjuk. S. 88—88.
Eine Beschreibung ornithologischer Beobachtungen und Erwägungen über
Naturschutz, zu denen dem Verf. eine Reise aus Ascania Nova nach der Insel
Curjuk (Mai 1927) Material lieferte.
P. Lytvynenko: Einige Daten über die Verbreitung der Marmota bobac Schreb.
in den Steppen des Starobilsker Kreises. S. 88—98.
Die Abhandlung ist der Verbreitung dieses in der Ukraine äußerst seltenen
Tieres auf dem Gebiete des Starobilsker Kreises gewidmet. Beigefügt sind Pläne
mit schematischer Darstellung der Verbreitung des Marmota ac.
M. M. Hodlin: Die Bodenbeschaffenheit des staatlichen Sevéenko-Naturschutz-
gebietes. S. 101—114.
Ein Versuch der morphologischen Charakteristik des Bodens der Waldmassive
in der Umgegend des Sevéenko-Grabhiigels. Es wird die Mannigfaltigkeit der
Bodenarten in diesem Naturschutzgebiete erklärt.
M. J. Kotov: Die Heiligen Berge im Artemschen Kreise. S. 115—126.
Der Verf. gibt eine Geschichte der botanischen Erforschung der Heiligen
Berge und einen Überblick über den heutigen Zustand dieses Gebietes. An-
schließend sehr wertvolle Beschreibung des einzigen ukrainischen Kreide-Urwaldes.
E. Lavrenko und A. Poreckyj: Die Pflanzenwelt des Celbaver und Ivanover
Massivs und der Kinburger Nehrung am Unterlaufe des Dnipro.
S. 127—177.
Genaue Beschreibung eines Teiles des Gebietes, welches im Bereiche des sog.
„Sandigen Naturschutzgebietes am Unterlauf des Dnipro“ liegt. Die Beschreibung
ist systematisch, nach den Landschaften verfertigt; es wird dabei immer auch die
Genesis der einzelnen Landschaften berücksichtigt. Beigefügt sind 2 Landschaften-
karten und 6 Photographien. l
Berlin. M. Dol’nyékyj.
Pfitzner, ee Großfürst Witold von Litauen als Staatsmann.
— Schritten der philos. Fakultät der deutschen Universität ın
Prag. Heft 6. Brünn-Prag-Leipzig-Wien. Rud. Rohrer. 1930.
249 S.
Unter überaus fleißiger Benutzung der deutschen, polnischen, russischen ‚und
Zechischen Literatur, wobei nur die Nichterwähnung von Stählins Geschichte
Rußlands auffällig ist, unternimmt es Pf., die Persönlichkeit Witolds zu um-
i und seine staatsmännische Leistung nach modernen Forschungsmethoden
gewissermaßen systematisch zu ordnen und geopolish zu erläutern.
Allerdings kann man sich schwer des Eindrucks erwehren, daß Verf. mit-
unter aus einer rückschauenden Betrachtung der Gefahr allzu spitzfindiger Kon-
struktion erlegen ist und seinem Helden Motive und Erwägungen unterschiebt,
die dem primitiveren Denken des 15. Jahrh. fern lagen. Man kann auch des
Guten zu viel tun, und es ist für einen europäischen Herrscher außerordentlich
schwer, seinen Machtbereich zu weiten, ohne daß sich hinterher dafür eine raum-
31 NF 6 473
litische Interpretation finden ließe. Aber ein solcher Zusammenklang ist doch
äufig nur Zufall und keineswegs das Bestimmende. Wie fern müssen aber selbst
noch einem Realpolitiker wie dem Gr. Kurfürsten heutige Gedankengänge ge-
legen haben, wenn er seinem dünn bevölkerten Staat im Schwedenkrieg die Last
der großpolnischen Woiwodschaften aufbürdete.
Doch dadurch wird des Verfs. dankenswerte Leistung nicht geschmälert,
denn sie bringt zum erstenmal Witolds oft unklare und umstrittene Haltung auf
einen einheitlichen Nenner und gruppiert ihn folgerichtig in die großen Ent-
wickelungsreihen seiner Zeit ein.
Aus dem einführenden Kapitel über Grundlagen und Werden des litauischen
Staates ist das Bekenntnis Pf.s bemerkenswert, er alle Versuche, den Slaven,
besonders denen des Westens, vor dem Ende des 12. Jahrh. eine besonders hohe
Kultur, bedeutendes Handelsleben usw. zuzuschreiben, für abwegig hält. Damit
wird der unter dem Eindruck des Jegorovschen Buches wieder belebten gegen-
teiligen Ansicht gebremst.
Für den jungen, durch Mendog geeinten und auf dem Stromgebier der
Memel basierenden litauischen Staat war die Trennung in Kerngebiet und Neben-
länder Schicksalbestimmend. Diesem zugleich ethnischen und später sich zum
kirchlichen erweiternden Dualismus wurde unter Witolds Vater und Oheim durch
eine Doppelherrschaft Rechnung getragen. Aber während Olgierds Osthälfte ın-
folge eines westlich-östlichen Kraftgefälles gegen Rußland gedrängt wurde und den
trennenden Waldgürtel durch die Form föderativer Staatsbildung überwand, so
daß vor Witolds dann auch das Problem der Steppe auftauchte, mußte sich dessen
Vater Kiejstut als Beherrscher der Westhälfte vor allem mit der Ordensfrage
befassen, in die sein Sohn somit von Jugend auf hineinwuchs. Dadurch kam er
zugleich in eine religiös zwiespältige, wenn nicht gar indifferente Atmosphäre,
lernte Toleranz als politische Notwendigkeit kennen und betrachtete, wie sein
mehrfacher Glaubens wechsel dartut, die Christianisierung nur als Handhabe staat-
lichen Machtstrebens. Das führte ihn in Gegensatz zu dem streng heidnischen
Vater und ließ ihn nach Olgierds Tod im Kampf Kiejstuts mit dessen Sohn
Jagiello eine zweifelhafte Rolle spielen, ohne er dadurch sein Erbteil zo
retten vermochte. Nach Kiejstuts Tod mußte er vielmehr zum Hochmeister
fliehen, konnte hier des Ordens skrupellose Politik durchschauen und eignete
sie sich an. Von beiden Parteien umworben und beide gegeneinander ausspielend,
fiel er der mehr bietenden, nämlich Jagiello, zu und erlangte die teilweise Wieder-
einsetzung in sein Fürstentum. Die polnisch - litauische Union entriickte zwar
Jagiello der östlichen Politik, brachte Witold, der durch Heirat seiner Tochter
Sophia mit dem Moskauer Großfürsten zu einer offensichtlichen Gefahr für die
Olgierdovite geworden war, in Konflikt mit seinem Vetter Skirgiello und nötigte
ihn nach einem mißglückten Handstreich auf Wilna zu abermaliger Flucht zum
Orden, wo er infolge von Jagiellos Heirat mit Hedwig von Polen bereitwillig
Unterstützung fand. Dank seiner Beziehungen zu Moskau und der Unbeliebtheit
des orthodoxen Skirgiello im litauischen Kernland erreichte er dann raschen
militärischen Erfolgen als 42 jähriger 1892 im Vertrag zu Ostrow die Herausgabe
des ungeschmälerten Vatererbes.
Von dem verhältnismäßig dicht bevölkerten und dem Westen am nächsten
stehenden Kernland aus ging er kraftvoll an dessen organische Ausbildung, den
noch fehlenden Verwaltungsapparat vorläufig durch unaufhörliches Herumreisen
und persönliches Eingreifen ersetzend. Sein Bestreben war vor allem auf Be-
seitigung der Teilfürstentümer und ihre Ablösung durch Statthaltereien ge-
richtet, wobei er sich auf den in seinen Dienstgütern seßhaft gemachten Klein-
adel stützte.
Im Mittelpunkt seiner Außenpolitik stand das Verhältnis zu
Polen, dem ohne sein Zutun Litauen-Rußland unter Erhaltung seiner Einheit
als sonderstaatliches Gebilde, als Nebenland der Corona regni Polonise, 1886 ein-
gegliedert war. Hier war Witolds Ziel die Zerreißung dieser
Krewsker Union. Jagiełło scheint bei seiner damaligen Kinderlosigkeit ins-
geheim diese Bestrebungen gefördert zu haben, um sich für alle Fälle Litauen
zu sichern. Unter dem Ee Litauen den Litauern, rif Witold seine
Bojaren mit und wurde von ihnen zum König ausgerufen. In dieser schwersten
474
Krisis der Unionspolitik brachten die Polen aber durch Gewährung der Groß-
fiirstenwiirde auf Lebenszeit Witolds Krönungsplan zum Scheitern, zumal nach
ns Tod Jagiellos Rückkehr drohte, Witolds mit der Niederlage an der
Worskla unglücklich endender Kreuzzung gegen die Tataren bevorstand und die
Gegenwirkung seines mit Podolien als polnischem Kronlehn, nicht als Teil Litauens,
ausgestatteten Vetters Swidrigiello zur Vorsicht mahnte. Witolds Bemühung war
indessen auch in der Folgezeit auf Abänderung des Wilna-Radomsker Vertrages
5 und erreichte durch die Union von Horodlo die Verewigung der eigenen
itauischen Großfürsten würde über die Lebensdauer ihres Inhabers hinaus. Die
Vereinigung mit dem Nachbarstaat var mithin für Withold nur ein politisches
Instrument ohne gefühlsmäßige Bindung.
. Stellung gegenüber dem Deutschen Orden
wurde Wesentlich beherrscht durch den Kampf um das strittige Sa maiten, die
Landbrücke von Preußen nach Kurland, den Pf. als einen solchen zwischen dem
historischen und dem Naturrecht charakterisiert. In dieser Form wurde er auf
dem Konstanzer Konzil zwischen Polens Anwalt, dem Krakauer Universitätsrektor
Wiodkiewicz, und dem Dominikaner Joh. Falkenberg als Ordensverteidiger aus-
gefochten. Dabei wurde das geschichtliche Recht mit der Christianisierung
Litauens gelähmt, also die Position der Hochmeister in steigendem Maße ge-
schwächt. Während sich Vithold anfänglich nachgiebig zeigte, um im Osten
freie Hand zu erlangen (Vertrag von Salinwerder 1898), warf der Thorner Friede
ihm und Jagiełło den lebenslänglichen . Besitz Samaitens in den Schoß. Sofort
begann Witold der Meeresküste zuzustreben und Ansprüche auf den Unterlauf
der Memel geltend zu machen. Der Friede am Melnosee 1422 schob diesen Be-
strebungen zwar einen Pie vor, brachte aber Samaiten mit Polangen für immer
in litauischen Besitz, so daß füglich bezweifelt werden muß, ob diese Lösung wirk-
lich alle Beteiligten befriedigt hat (S. 166).
In dem Abschnitt über Witolds Fernpolitik werden die russische,
tatarische und böhmische Frage behandelt. Im Südosten steht die Gewinnung des
Zugangs zum Schwarzen Meer im Vordergrund. Trotz der Niederlage an der
Worskla waren auch hier dem Beherrscher Litauens bedeutsame Erfolge vergönnt,
allerdings erst gegen sein Lebensende, so daß sie nicht auszureifen vermochten.
Das Bild eines Allrußland stand ihm klar vor Augen. Durch Kolonisation und
Belebung des Handels bezwang er die Steppe, während eine Reihe von Festungs-
anlagen die eroberten Gebiete sichern sole Nur gegen Pskow erlitt er eine
Niederlage, während sich Moskau nach Vasilijs Tod seiner Vormundsdmfc unter-
warf und sein Siegeszug 1427 ihn bis weit östlich Smolensk führte. Stets suchte
er aber auch enge Anlehnung an das Abendland. Aus Rache für Siegmunds
dem Orden günstigen Breslauer Spruch von 1420 ist der Einmischungsversuch
in die Hussitenwirren zu erklären, doch die für einen christlichen Fürsten un-
annehmbaren Bedingungen der Ketzer, die is hla ol des Papstes und andere
Verwickelungen bewogen Witold zum Einlenken (Friede mit dem römischen
König zu Kesmark 1428), so daß die mit der böhmischen Thronkandidatur
en Neffen Siegmund Korybut gipfelnde Angelegenheit nur episodenhaften An-
strich trug.
Bei derartig weitschauenden Plänen war es nur folgerichtig, wenn der
Großfürst auch nach der kirchlichen Selbständigkeit seiner ver-
schiedenen Reichsteile, auch Polen gegenüber, hinzielte (Versuch zur Gründung
einer erzbischöflichen Metropolitankirche unter Gregor Camblak), jedoch ohne
seinen Willen in den Hauptpunkten. durchsetzen zu können.
Gegenüber den universalen Mächten der Zeit mußte Witold bei
der Doppelnatur seines Landes unaufhörlich zwischen West und Ost vermitteln
mit der litauischen Staatsidee als Leitstern, was sich unter anderem durch die
Duldsamkeit seiner amtlichen Sprachenpraxis dokumentiert. Andererseits war
Siegmund die Erneuerung des Weltkaisertums Herzenssahe und wies ihn auf
Polen-Litauen an. Das führte ihn als ersten römischen König 1429 auf russi-
schen Boden, zu dem Kongreß von Luck. Hier stand noch einmal durch die
Frage der Erhebung Litauens zum Königreih und Witolds Krönung die Union
mit Polen auf dem Spiel. Allen Widerständen zum Trotz beharrte Witold auf
seinem Willen. 1430 schien er am Ziel. Da raffte der Tod den 80 jährigen
475
Greis dahin. Das war die tiefste Tragik seines Lebens, das Pf. uns als Menschen-
werk aus einem Guß und von einheitlichem Willen geleitet in seinen drama-
tischen Wechselfällen vor Augen führt.
Breslau. M. Lauber.
Wagner, Artur: Handel dawnego Jaroslawia. (Der Handel des
alten Jaroslau.) — Sonderabdruck aus „Prace historyczne“,
hrsg. v. akadem. Verband d. Historiker. Lemberg 1929.
Der Verf., Schüler und Assistent des 1980 verstorb. Prof. J. Pragnik, gibt
einen Ausschnitt aus einer größeren Geschichte von Jaroslau. Die Stadt hatte
bei ihrer Lage an der Kreuzung wichtiger Handelswege zeitweise hervorragende
wirtschaftliche Bedeutung. Die Verleihungszeit des deutschen Stadtrechts an den
schon lange bestehenden, erst kgl., seit 1387 in Privatbesitz befindlichen Ort steht
nicht fest. Die später berühmten, dreimaligen Jahrmärkte sind seit 1416 bezeugt,
Kaufleute der verschiedensten Länder handelten dort besonders mit Tuch, Seide,
Leinen, Metall- und Goldschmiedearbeiten, morgenlindischen Waren, Getreide
und vor allem mit den zumeist nach Deutschland gehenden Ochsen. Den Haupt-
anteil hatten ee Polen und Deutsche, weiter Ruthenen und Armenier. Das
judicium nundinale aus Richter und bedellus arbeitete nach Magdeburger Recht.
Meist handelte es sich um Schuldsachen. Die Stadt mußte infolge feindlicher Ein-
fälle (um 1500 mehrfach Tataren, später Türken, Walachen, Ungarn, Kosaken,
Schweden) und großer Feuersbrünste (1600, 1624, 1625) schwere Krisen durd-
machen, die schließlich ihre Blüte knickten, so daß künstliche Hilfsmittel nicht
mehr fruchteten. Man sieht also die typische Entwickelung der Städte ın Polen-
Litauen auch hier.
Hoffentlich erscheint bald die vollständige, auf Aktenresten, polnischen und
. Veröffentlichungen aufgebaute, anfangs erwähnte große Arbeit
es Verf.
Posen. A. Latter mann.
476
V
ZEITSCHRIFTENSCHAU
Bulgarien und Jugoslavien
Umberto Urbani: Ivan Cankar. — Rivista di letterature slave.
Anno 1, 1 (1929), S. 40—47.
U. charakterisiert Cankar als den von seiner eigenen Nation unverstandenen
und verfolgten Satyriker, der, indem er ihr Leben der Gegenwart in schonungs-
loser Weise geißelte, ein noch in der Ferne liegendes Ideal aufstellen wollte. Er `
hat sich selbst, entgegen den Beschuldigungen ie Kritiker, daß er Pessimist sei,
als Optimist von Kopf bis Fuß bezeichnet. Daß seine Helden vorzugsweise im
Vagabundentum oder im Gefängnis enden, hat seinen Grund in ihrer Abkehr von
einer korrupten Gesellschaft, es ist deshalb zu begreifen, daß der Dichter ein
Gefühl der Brüderlichkeit für sie übrig hat. Sehr zum Verständnis des Dichters
trägt sein letztes Buch (nur mit dem übersetzten Titel „Le immagini dei sogni“
genannt) bei, es ist kein gewöhnliches Kriegsbuch, sondern ein Buch, in dem
Cankar zum Dichter einer neuen Menschheit wird, die durch das Blutbad neu
getauft und an den Quellen einer transcendentalen Wahrheit gereinigt, nichts mehr
von den menschlichen Karrikaturen der früheren Werke Cankars aufweist.
Emmy Haertel.
Stjepko Ilijié: Ivo Vojnović. — Rivista di letterature slave.
Anno 4, 6 (1929). S. 476—477.
In dem Nachruf für den im August d J. verstorbenen Dichter ist eine kurze
Übersicht über sein literarisches Schaffen gegeben. Emmy Haertel.
Arsen Wenzelides: Il romanziere croato August Šenoa. —
Rivista di letterature slave. Anno 4, 1 (1929), S. 29—39.
W. schildert die Epoche, in welche die Jugend Senoas fällt und die Art, wie
sie auf ihn gewirkt. Seine antideutsche Einstellung hat schon in der Schülerzeit
begonnen. Einer kurzen Biographie Senoas folgen Bemerkungen über die Ver-
breitung seiner Werke in anderen Ländern und über die Dramatisierungen seiner
Dichtungen. V. erwähnt die Literatur über Š. und streift kurz die Frage nach der
Affinität Senoas zu Scott und Manzoni. Emmy Haertel.
K. Paul: P. J. Safatik a Vuk Stefanović Karadžić. — Slavia 8, 3
(1929). S. 551—584.
In Stojanović’ „Život i rad Vuka Stef. Karadžića“ (Belgr. 1924), welches
die Beziehungen zu Kopitar sehr ausführlich behandelt, ist auf das Verhältnis
Safatiks zu Vuk nicht in dem Maße Beziehung genommen worden, wie es ihr
Freundschafts verhältnis verdient. Saf. hatte schon während seiner Studien in
Kesmark durch einen Aufsatz von Hanka von V. erfahren, persönlich lernte er
ihn erst 1820 kenen. Auch Kopitar befreundete sich mit beiden, die diver-
gierenden Anschauungen über den Ursprung der kirchenslavischen Sprache blieben
aber nicht „ohne Rückwirkung. Auch die Beziehungen zu Kollar werden er-
wähnt. Saf. hatte die „Danica“ sehr begrüßt und aus ihr Material für seine
topographischen Arbeiten entnommen, er wandte sich auch in der Angelegenheit
477
seiner Evangelieniibersetzung an Vuk. Über Vuks Interesse für Safariks slav.
Sprach- und Literaturforschung hat schon Bandtke gehandelt. V. freute sich,
daß Saf. die Slavonen, Bosnier und Dalmatiner Serben nennt, und daß er sich
für Vuks Streben nach einer neuen Literatursprache interessierte. Er unter-
stützce deshalb Saf. durch Verbreitung seiner Abhandlung über Surowieckis
Schrift über die Abkunft der Slaven, war hilfreich bei seinen geographi
Balkanstudien und bei der geplanten Veröffentlichung altserb. Denkmäler, be-
schaffte ihm die erforderlichen Handschriften zur „Sammlung Serbischer Sprache
und Literatur“ und hat auch zur Neuausgabe der Slavischen Altertümer hilfreich
beigetragen. Aber auch Saf. half Vuk bei seinen Arbeiten zur Drucklegung
kyrillischer Schriften für Armenien, er nannte ihm die montenegrinischen Drucke
des 15. Jhs. als die besten, sogar um die Matritze bei dem Stecher Lerche war
er besorgt. Saf. wies auch in seiner „Promluvenf k Slovákům“ auf Vuks Lieder-
sammlungen hin und auf ihre homerische Schönheit. Auch beim Erscheinen des
4. Bandes von Vuks Liedern äußerte er sich wieder über den Wert solcher
Sammlungen zur Erforschung des Volkstums. Auch auf Vuks Arbeiten selbst
machte er durch Veröffentlichung eines Briefes von ihm in CCM 1888 aufmerk-
sam, den P. hier zitiert. In demselben Band der CCM hat Saf. in dem biblio-
raphischen Überblick über slav. Volksliedersammlungen Vuks Verdienste
ervorgehoben. Er sah es aber nicht gern, daß Vuk unter der Beschäftigung
mit den Volksliedern die Neuausgabe seines Wörterbuches und der serb Gram-
matik vernachlässigte. Safariks Interesse an Vuks Bemühungen um die neue
serb. Orthographie und den darum entbrannten Streit wird durch 5
verdeutlicht. p hat eine radikale orthographishe Reform anscheinend
für unbedingt nötig gehalten, Briefe von ihm in diesem Sinne sind mehrfach
mißverstanden worden. Verf. zitiert den Briefwechsel mit Vuk über einzelne
Fragen, hier die schriftliche Fixierung des h. Auch über Vuks Reorganisation
der Schriftsprache hatte Saf. sich zustimmend geäußert in seinem Lob der Schön-
heiten des Serbischen (Gesch. der slav. Spr. u. Lit.), ohne auf den innerserb. Streit
einzugehen. Er war ein Gegner der im serb. Gottesdienst traditionell erhaltenen
bulgar. Texte und hat sih im Vorwort zur Novějšá literatura illyrských
Slovanů über den Mischdialekt tadelnd ausgesprochen und diese Gelegenheit be-
nützt, um ganz für Vuks Sprachreformen einzutreten und deren Gegner
anzugreifen. Verf. zitiert den ganzen Text und die Polemik, die er hervor-
eruten. Die Bedeutung der serb. Volkssprache ist in den „Serbischen Lese-
örnern“ eingehend behandelt; shon Vuk selbst hatte davon in seinem Wörter-
buch v. J, 1818 gesprochen. Šaf., in der Erkenntnis, daß eigentliche Quellen der
altslav. Volksprachen kaum vor dem 10. Jh. vorhanden sind, forderte zu Be-
achtung slav. Worte in griech. und lat. Schriften, Chroniken usw. auf. Verf.
eht auf die grammatikalische Untersuchung solcher alten Wortformen durch
Back ein. Er hatte richtig erkannt, daß das Serbische bereits zu Kyrills und
Methods Zeiten alle Kennzeichen einer selbständigen Sprache besaß, in Einzel-
heiten sind seine Schlüsse anfechtbar. Safariks Verdienste sind von Pavlović und
Subotić gewürdigt worden. Auch in Rußland erregten die „Serb. Lesekörner”
großes Interesse, sie wurden vom Fürsten Gagarin ins Russ. übersetzt. Daß Saf.
in der kirchenslav. Frage richtiger geurteilt hat als Kopitar, ist heute von Jagić
zugegeben. Er hat, als Nachfolger Grimms und nach dem vergleichenden System
Dobrovskys und Bopps arbeitend, auf der Höhe seiner Zeit gestanden. D:
ist er selbst sich seiner Unvollkommenheiten bewußt gewesen. Verf. erwähnt
noch die näheren Umstände von Safariks Anerkennung der Arbeit des Suborié
bei der von der Srbska Matice ausgeschriebenen Preisaufgabe für eine serbische
Grammatik v. J. 1844. Schließlich wird noch erwähnt, daß Saf. hinsichtlich des
bulgar. Schriftwesens und der Zugehörigkeit mancher serb. Distrikte zum :
Volkstum sich im Gegensatz zu Vuk befand. Emmy Haerte
A. V. Solov’ev: Neizdannye spiski zakanodatel’stva „Carja
Dušana“. — Slavia 8, 3 (1929). S. 597—604.
Der Zakonnik des Caren Dušan gehört zu den interessantesten Rechtsdenk-
mälern der Südslaven, er entstand 1349 in einer Blütezeit des serb. Staates.
478
— D — — U — — — äwͤ2w +
Seine Untersuchung ist aber schwierig, weil das Original nicht erhalten geblieben
ist und die erhaltenen Abschriften voneinander sehr abweichend sind. Durch
T. D. Florinskij und Stojan Novakovié sind 20 Abschriften untersucht worden,
von denen eine vom Ende des 14. . stammt, andere aus dem 15., 16. und
17. Das ist das Material, aus dem das Original des Zakonnik erschlossen
werden soll. Texte aus dem 18. Jh. (auch solche gibt es unter den 20 Kopien)
stellen eine neue Redaktion dar. So können neuaufgefundene Texte wertvolle
Aufschlüsse geben. Es ist S. gelungen, drei weitere Niederschriften des Zakonnik
aufzufinden, die er hier bespricht: den „Chilandarskij Spisok“, „Baran’skij
Spisok“ und „Grbal’skij Sbornik“. Der Vollständigkeit wegen nennt und be-
spriht er hier noch einen vierten Text „Studenickij Sbornik“, der sich auf
jugoslavischem Gebiet befindet und wissenschaftlichen Untersuchungen wenig zu-
gänglich ist. Emmy Haertel.
V. Burian: Po stopách češství a české knihy v starším slovinském
pisemnictvi. — Slavia 8, 1—3 (1929). S. 54—75, 248—270,
449—482.
Aus den vorübergehenden Berührungen, die bis zur Wende des 1. und
2. Jahrtausends die Slovenen mit Cechen und Slovaken gehabt haben, läßt sich
auf eine Beeinflussung in sprachlicher und kultureller Hinsicht kaum schließen,
auch aus den Freisinger Denkmälern ist eine Spur čech. Einflusses nicht zu er-
sehen. Im dritten Viertel des 18. Jhs. befand sich das slovenische Gebiet in-
mitten der österreichischen Länder unter Otokar II., der die Leitung ihrer An-
egenheiten seinem čech. Standesherren überließ, aber seine Regierung war
urz, zu einem kulturellen oder nationalen Einfluß kam es damals nicht zwischen
Cechen und Slovenen, ebenso wird man unter Karl IV. nicht nationale An-
sätze einer dechisch-slovenischen Kulturgemeinschaft vermuten dürfen. Erst im
15. Jh. kam es zu bezeugten literarischen Berührungen zwischen Cechen und
Slovenen, wie die H: vom Zisterzienser-Kloster in Stiški in Krain beweist,
einem Kodex von 3 Bänden, von denen der 1. und 8. sichtlich čech. Herkunft ist.
Aus dem Inhalt ist zu ersehen, daß čech. Zisterzienser, die vor den Hussiten
hatten fliehen müssen, bei ihren Ordensbrüdern in Stilki Aufnahme fanden.
Verf. untersucht die Zusammenhänge der verschiedenen Autorschaften, der von
ihm mit B. bezeichnete Zisterzienser muß, nach den von ihm stammenden Auf-
zeichnungen, ein guter Kenner der antihussitischen Bewegung gewesen sein. Viel-
leicht hat er seinen antihussitischen Traktat schon in der Heimat angefangen und
das Ms. mit fortgenommen. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß als Vor-
lage der ,,Kladivo kacifu“ des Stepan z Dolan nutzt wurde. Auch eine
andere, aus Stiški stammende und in Laibach verwahrte Hs. (lateinische Predigten
für das ganze Jahr) beweist, daß die tech. Flüchtlinge die erforderliche Literatur
mit sich brachten. Auch ein čech. Weihnachtslied „Buoh všemohúcí“, der Ortho-
graphie nach aus vorhussitischer Zeit, wird genannt. Aus einer schr fragmen-
tarısch erhaltenen sloven. Dichtung, deren Inhalt kaum zu erraten ist, wird man
auf die literarische Tätigkeit der čech. Ordensbrüder schließen können. Grafenauer
hat ein Volkslied darin vermutet, richtiger wird Radics auf ein Lied zu Ehren
der Jungfrau Maria hingewiesen haben. Die Sprache des Denkmals ist slovenisch,
aber hinsichtlich der Orthographie kann man Spuren erkennen. Man wird
zwischen den čech. und sloven. Ordensbrüdern eine gemeinsame geistige Atmo-
sphäre vermuten dürfen, die sich in der literarischen Tätigkeit der čech. Flücht-
linge auswirkte. Sie waren ja auch ‚gezwungen, für ihre Amtsaufgaben zu sorgen
durch Aneignung der sloven. liturgischen Formeln, für die anscheinend keine
schriftlichen Vorlagen bestanden, und bei ihrer Niederschrift bedienten sie sich
der čech. Graphik. Vielleicht haben sie dadurch ihren sloven. Brüdern die An-
regung zur eigenen Initiative gegeben. Jedenfalls haben sie das Verdienst,
hundert Jahre vor Trubar in der Niederschrift der sloven. Gebete dem sloven.
Schriftwesen geeignete Denkmäler hinterlassen zu haben. Sie werden auch als
erste unter den Slovenen die antihussitische Bewegung verursacht haben, denn
die hussitischen Ideen waren im Vordringen begriffen. Andererseits wurde durch
den geistigen Kontakt zwischen Cechen, und Slovenen auch das čech. Hussiten-
479
tum neu belebt. Daß čech. Agitatoren unter den Slovenen jenseits der Mur
tätig waren, geht aus einer Klage des Wiener Professors Jan Siwart (Sybart) an
den Bischof von Agram v. J. 1418 hervor. Auf den Salzburger Synoden
v. J. 1418 und 1420 wurde auch über die Ausbreitung der Hussiten unter den
Slovenen geklagt. — In der sloven. Literatur finden sich zwar keine direkten
Spuren der hussitischen Lehre, aber es sind solche für antihussitische Meinungen
vorhanden. So bei dem slovenischen, in lateinischer Sprache dichtenden Nicolaus
Petschacher, dessen Fabeln gegen den Utraquisten Ruckenzan polemisieren. Auch
in der mündlichen Literatur der Slovenen haben sich antihussitische Spuren
erhalten, in dem Volkslied von Pegam und Lamberg. Pegam ist die Verkörpe-
rung des fremden, ungläubigen Elementes, Lamberg das des heimischen Bauern-
standes. Dieses Lied, das aus der 2. Hälfte des 15. Jhs. stammt, aber erst um
die Wende des 15. zum 16. Jh. seine endgültige Fassung erhielt, hat sich im
sloven. Volk bis in die neueste Zeit lebendig erhalten. Verf. nennt die ver-
schiedenen Veröffentlichungen des Textes.
II. Reformation, Gegenreformation und die Periode des katholischen
Schriftcums.
Erst das 16. Jh. brachte den Slovenen einen großen geistigen Umschwung.
Bei ihrer Nachbarschaft mit den Deutschen erlagen sie natürlicherweise den auf-
rüttelnden Zeitereignissen, die in der Reformationszeit von ersteren ausgingen.
Ihre reformatorische Literatur entstand auch nach deutschen Mustern. Dan
ging ein starker čech. Einfluß auf sie aus, teils direkt durch die čech. Refor-
mation und humanistische Bewegung, und indirckt auf dem Wege über den
deutschen Buchdruck. Literarische Belege für die Berührungen zwischen Cechen
und Slovenen sind aber nur in geringem Umfang erhalten.
Primož Trubar druckte in Deutschland sein Abecedarium a Catechismus
(Tübingen 1550) nach dem Vorbilde Luthers, der seinerzeit dem der Böhmischen
Brüder gefolgt war, d. h. indem er sich zuerst an die Kinder und das einfache
Volk wandte. Hier ist also auch Cech. Einfluß zu sehen. Auch in Trubars
Evangelienübersetzung sind die Spuren der čech. Übersetzung unverkennbar.
Bei seinen Beziehungen in Nürnberg und Wittenberg konnte Tr. leicht zu
čech. evangelischen Büchern gelangen, um so mehr als ihm durch P. P. Vergerius
Anregung und Hilfe zuteil wurde. Dieser war ein Freund des čeh. Humanisten
Gelenius, der auch in der čech. Sprache einen Brunnen der übrigen slavischen
Sprachen sah. Die Ubersetzungstechnik Trubars im Vergleich zu Luther und
der Vulgata, bei der Anwendung von Fremdworten und Erfindung neuer Worte
wird durch umfängliche Textproben verdeutlicht. Als Präger neuer Worte für
neue riffe hat sich Tr. auch in der Cerkovna ordninga gezeigt, vielfach hat
er sich hier nach čech. Vorbildern gerichtet. In der Cerk. ordninge müssen
neben Vittenbergischen, Nürnbergischen und Mecklenburgischen Organisationen
auch noch andere zum Muster herangezogen worden sein, welche Verf. noch
nicht genau festgestellt hat, weil ihm zurzeit die Quellen unzugänglich sind.
Die Frage nach den Vorbildern Tr.s für das Kirchenlied ist noch offen. In
seinem Katechismus v. J. 1550 hat er 6 gereimte Glaubensartikel mit Melodien
nach denen der böhmischen Brüder aufgenommen, und auch die Texte weichen
ab von den deutschen protestantischen Vorlagen. Es muß noch untersucht
werden, ob hier und anderswo Texte nach Vorlagen der böhmischen Brüder
entstanden sind, vielleicht nach dem damals auch unter deutschen Protestanten
sehr verbreiteten Kanzional. — Bei Tr. ist auch in orthographischer Hinsicht
čech. Einfluß zu erkennen. Wie weit er selbst die čech. Sprache gekannt, ist
nicht sicher zu sagen, er wird, als er in Deutschland die Bibelübersetzung
gann, lateinische, deutsche und Zechische Bibelübersetzungen verglichen haben.
Seb. Krelj, ein Schüler der kroat. protestantischen Theologen Flacia Illy-
rika, druckte i. J. 1566 seinen kleinen sloven. Katechismus, die sogenannte
Otrozhia Biblia, dessen erster Teil eine Art sloven. Fibel ist. Der 2. Teil be-
steht aus Fragen, stimmt aber in der Einteilung des Stoffes mit keinem der
früheren protestantischen Katechismen überein. Er ähnelt sehr dem „Cate-
chismus der Rechtgleubigen Behemischen Brüder“ v. J. 1554, dessen Verf. der
Superintendent der Böhm. Brüder in Preußen, Jan Gyrk, war. Wahrscheinlich
480
hat er auch die Laienbibel als Vorlage benützt. Die Übereinstimmung mit Gyrk
wird durch Textproben gezeigt. Krelj wird auch die Nürnberger čech. Bibel
benützt haben bei Übersetzung der Wochenevangelien. Er übersetzte zuerst die
Evangelien aus dem Griechischen, verglich dabei mit Luther, benützte daneben
noch einen kirchenslavischen Text, verglich auch mit Trubar und hatte die
tech. Übersetzungen vor Augen. An das Cechische klingen gewisse formale und
syntaktische Eigenheiten an. — Auch Jurij Dalmatin nahm die čech. Bibel zu
Hilfe bei Übersetzung des Alten Testaments, für das es bisher noch keine sloven.
Vorlage gab. Die Wahl mancher Worte erinnert direkt an Trubar, der sie auch
dem Cechischen entnahm. — Bei Adam Bohoric, der eine sloven. Grammatik
„Arcticae horulae succisivae“ schrieb, tauchen Ideen über Alter, Schönheit und
Vorzüge der slavischen „Dialekte“ auf, wie sie bei gleichzeitigen tech. und poln.
Geschichtsschreibern und sogar auch bei den deutschen Humanisten verbreitet
waren. Der čech. Humanist Zikmund Hruby z Jeleni war Hauptvertreter
dieser Ideen, zugleich guter Kenner anderer slavischer Sprachen. Er galt als
Autorität in slavischen Fragen. Seine Ideen sind übernommen worden in Konrad
Gesners „Mithridates“, wo die tech. Sprache für die schönste unter den Slavinen
genannt wird. Neben Hruby hat Bohoric auch noch andere zeitgenössiche Lite-
ratur über Slaven, darunter Herberstein, benützt. Die Zusammenhänge zwischen
den Slavinen wies er in seiner Grammatik durch Gegenüberstellung des Vater-
unser in verschiedenen slav. Sprachen nach.
Die aufblühende sloven. Literatur der Reformation wurde durch die Gegen-
reformation schwer betroffen, der deutsche Einfluß wich dem romanischen sowohl
in Literatur wie Wissenschaft. Auch die Berührungen mit den Cechen hörten
auf und sollten erst nach dem 80 jährigen Krieg wieder anfangen. Die An-
regung dazu ging von Bettelmöchen des Augustinerordens, den sogenannten
Diskalceaten oder Eremiten, aus, die im Josephkloster in Laibach ihren Sitz
hatten. Aus den Totenlisten ist zu ersehen, wie viele Cechen unter ihnen
waren. Es war die Zeit der jesuitischen Rekatholisierung Krains. In ihr ent-
standen verschiedene Wörterbücher der „krainischen“ Sprache, unter ihnen der
„Anonym“ mit einer Menge dem Cechischen entnommener Wörter. Zu erwähnen
sind zwei geschichtliche Werke über das Krainer Land von Schönleben und
Vajkart Valvasor, die sich čech. Quellen bedienten, sich zu ihnen aber kritisch
verhielten. Sie waren die ersten nach Bohoric, die auf geschichtliche čech. Quellen
zuriickgriffen. Unter den čech. Exulanten ist P. Hipolit als Übersetzer von
Comenius Orbis pictus zu nennen.
III. Die čech. Quellen der Krainischen Grammatik von Pohlin und die
Frage der Cechismen in seinen Wörterbüchern.
Nach langer Stagnation war P. Marcus vom Orden des Hl. Antoinus von
Padua, genannt Pohlin, der erste, der wieder für nationale Interessen eintrat,
angeregt durch den Cech. vaterländischen Gedanken. Der Untertitel seiner
„Crainerischen“ Grammatik besagt, daß die Sprache aus Liebe zum Vaterland
regelrichtig gelernt werden müsse. Er hat als Vorlage die čeh. Grammatik des
Rosa benützt. An dieser Feststellung waren Dobrovsky ebenso interessiert wie
neuerdings Jagić. Verf. vergleicht Rosa und Pohlin in ihren Grammatiken auf
das Eingehendste: nach Übereinstimmung der beiderseitigen Vorworte, der Ab-
sicht beider zur Schöpfung neuer Wörter, ihren Anschauungen über den Zweck
der Wörterbücher, Lob der Muttersprache, slavischer Orientierung, ihren apolo-
getischen Tendenzen usw. Anschließend wird die Grammatik von Pohlov mit der
Pohlinschen genau verglichen und die Frage nach den Quellen und Cechismen
erörtert. Im Nachwort wird anerkannt, daß Pohlin ungeachtet des Bemängelns-
werten in seiner Grammatik, große Verdienste hat um die vaterländische Sache,
der nationale Gedanke aber ist bei ihm unter čech. Einfluß entstanden.
Emmy Haertel.
481
Rußland
Vladimir Parchomenko: Rus’ i Petenegi. — Slavia 8, 1
(1929). S. 138—144.
P. will das Interesse der Historiker für eine gründlichere und vorurteils-
freiere Einschätzung des sozialen und kulturellen Horizontes der Pečenegen und
ihrer Beziehungen zur Kiever Rus’ wachrufen. Man ist traditionsgemäß gewöhnt
in ihnen ein halbwildes Steppenvolk zu sehen, das der Rus’ nur Schaden und
Verderben gebracht. Die Archäologen wiederholen das Urteil der Historiker
anstatt die Pečenegishen Altertümer, so weit es überhaupt welche gibt, auf den
Stand ihres Kulturgrades erst zu untersuchen. Allein die Tatsache, daß sie an
den Geschicken des Kiever Staates einen hervorragenden Anteil gehabt als Nach-
barn und Bundesgenossen bei Feldzügen und schließlih durch ihre Niederlage
v. J. 1086 selbst, sollte dazu auffordern, ihre wirkliche geschichtliche Rolle näher
zu prüfen. Es folgt eine kurze Übersicht über alle irgendwo überlieferten Be-
rührungspunkte zwischen Poljanen und Pelenegen, wobei die der Urchronik ent-
nommene fürstliche Ge Ae vielfach angegriffen und großes Gewicht darauf
gelegt wird, das Stammesverhältnis der Drevljanen als ackerbauende Bevölkerung
des nördlicheren Landstriches gegenüber den mehr der Steppe nach Lage und Sitte
angenäherten Poljanen ins rechte Licht zu setzen. Die Schlußfolgerung zu dieser
Betrachtungsweise liegt darin, daß zwischen Poljanen und Pelenegen vielmehr ein
freund-nachbarliches als ein durchaus feindliches Verhältnis bestanden haben muß.
Zudem müssen sie, wie ehemals die Skythen, deren reichste fürstlihe Kurgane
in der Nähe der Dnjeprstromschwellen konzentriert waren, an diesen ein be-
sonderes Interesse gehabt haben und somit auch aufs engste in ökonomischer Hin-
sicht am Kiever Handel interessiert gewesen sein. — (Hat niche übrigens schon
vor schr langer Zeit Rostovcev in seinem „Iranians and Greeks in South Russia“
auf die staatsorganisatorische und kuturelle Bedeutung der den Skythen folgenden
Steppenvölker in der Vorgeschichte der Rus’ aufmerksam gemacht? Zitiert hat
ihn P. nicht.) Emmy Haertel.
S. Volkobrun: Sull’ attività del gabinetto dei ministri sotto
Pimperatrice Anna Ioannovna. — L’Europa Orientale. Anno
9, 9—10 (1929). s. 348—360.
Verf. bringt die Schritte der sogenannten „Verchovniki“ bei der Wahl
Anna Joannovnas in Erinnerung, die darauf abzielten die carische Macht ein-
zuschränken und die der Mitglieder des Obersten Geheimen Rates zu ver-
größern. Die nach der Auflösung des Geheimen Rates geschaffene Lage bewies
die Unvollständigkeit der gesamten Organisation des Regierungszentrums, vie
es von Peter d. Gr. geschaffen worden war. V. stellt die Versuche dar, die
zur Neubildung eines entsprechenden Organismus unternommen wurden und be-
schäftigt sich in der Hauptsache mit den Amtspflichten des neuen Kabinetts und
besonders mit seinen Obliegenheiten in den Verwaltungsgeschäften des Kaiserl.
Hauses, zunächst bei der Ubersiedlung des Hofes von Moskau nach Petersburg,
später bei den verschiedensten, die wirtschaftliche Versorgung betreffenden Einzel-
heiten. V. stützt sich dabei auf die Kabinettsurkunden selbst.
Emmy Haertel
Ettore Lo Gatto: Dall epica alla cronaca nella Russia Soviet-
tista. — L’Europa Orientale. Anno 9, 11—12 (1929). S. 419
bis 439. |
Dieser, dem gleichnamigen Buch Lo Gattos, das als Veröffentlichung des
Istituto per d’Europa Orientale 1929 erschien, entnommene Aufsatz beschäftigt
sich mit dem Kampf um die Kollektivierung der ländlichen Betriebe, mit den
Problemen der Industrialisierung, mit Bürokratie und Bürokratismus und mit dem
Eigentum unter dem kommunistischen Regime. Lo G. berichtet hier auf Grund
eigener Beobachtungen auf einer Studienreise in Sovetrußland. Die statistischen
482
„
Zahlen über die kärglichen Erfolge in der Steigerung der ländlichen Produktion
sind den Berichten Kalinins auf dem 16. Parteikongreß entnommen. In dem Ab-
schnitt über die Industrialisierung werden die oftiziösen „Izvestija“ zitiert und
auch anderweitige Klagen über die Verschlechterung von Materialien und Ver-
arbeitung aus der russ. Presse gebracht. Verf. beschäftigt sich besonders mit der
Frage nach der Qualität der, zum größten Teil vom Lande nach der Stadt ab-
gewanderten Arbeitskräfte und dem Anlaß zur Klage, die sie den Regierungs-
organen geben, daneben spielt der Alkoholismus eine große Rolle. — Im Ab-
schnitt über den Bürokratismus weist Lo G. auf die satyrischen Schriftsteller
Andrej Novikov, Neverov und Kataev hin, die z. T. ihren Vorbildern Gogol’
und Saltykov-Stedrin nahekommen in der Verspottung der herrschenden Zu-
stände. Außerdem nennt er die Zs. „Gudok“ v. Juli 1928 und v. Februar 1929
und die „Izvestija“ v. Mai 1929 mit ihren einschlägigen Aufsätzen. Lo G. schließt
diesen Abschnitt mit der Bemerkung, daß die Passivität des Russen, die dieser
selbst überwunden zu haben glaubt, doch immer wieder an die Oberfläche kommt
und das Leben beherrscht. — Bei den Erörterungen der Frage nach der Zu-
lässigkeit oder Nichtzulässigkeit von Privateigentum in Sovetrußland betont
Lo G. die Diskrepanz En dem in das russ. BG aufgenommenen § 54, der
zich kaum von ähnlichen Gesetzen europäischer Länder unterscheidet und dem
Fehlen eines Paragraphen, der die Unverletzlichkeit des Eigentums garantiert.
Augenscheinlich ist die Anerkennung einer Möglichkeit von Privateigentum nur
als cine Konzession an, gewissermaßen, ausnahmsweise und nur zeitwillig gegebene
Verhältnisse anzusehen, die wieder verschwinden soll, sobald die angestrebte
Sozialisierung sich verwirklicht haben wird. Da sowohl der Staat wie auch ein
Privatmann Besitzer einer bestimmten Sache sein können, liegt auf der Hand,
daß im gegebenen Fall die Besitzfrage zugunsten des Staates entschieden werden
müßte, umsomehr, als hierbei auch die Rechte der Besitzer sih nach dem
rößeren oder geringeren wirtschaftlihen Wert des Besitzes richten. Die Un-
arheit über die Frage des Eigenbesitzes an Land im Dorfe hat, wie Verf. des
näheren zeigt, dazu geführt, daß unrechtmäßig Verkäufe und Hypotheken zu-
stande kommen können, was zu einem Teil die Erbitterung erklärt, mit der der
Kampf gegen die Kulaken geführt. wird. Auch die Möglichkeit, an Stelle des
Erwerbs eines zweiten Hauses, der verboten ist, zum Erwerb einer Werkstatt
oder eines Ladens zu schreiten, widerspricht der angestrebten Aufhebung der
Klassenunterschiede, es liegt dabei die Vermutung nahe, daß derartiges ziemlich
häufig geschieht. Es scheint eben doch, daß die Wirklichkeit, und zwar nicht nur
die russische, sondern eine allgemein menschliche, den abstrakten Theorien un-
besieglichen und uniiberwindlichen Widerstand leistet. Emmy Haertel.
Russische Verfassung.
Konstanty Grzybowski: Ustrój związku socjalistycznych
sowieckich republik. (Die Verfassung von S.S.S.R.) — Przegląd
Współczesny Bd. 27 (1928), S. 295—317.
Eine Skizze wesentlich informativer Tendenz und aus Werken zweiter Hand
geschöpft, bloß auf deutsh und französisch geschriebenen Büchern aufgebaut.
Orto Forst-Battaglia.
Russische Emigration.
Walery Viliski: Życie religijne emigracji rosyjskiej. (Das
religiöse Leben der russishen Emigration.) — Przegląd
Powszechny Bd. 183 (1929), S. 118—137.
Wiliński entwirft ein düsteres Bild über den Hader in der pravoslaven Kirche,
der das religiöse Leben der russischen Emigration fortwährend vergiftet. Zwischen
den Metropoliten Eulogius und Platon einerseits und Antonius anderseits herrscht
bittere Fehde. Sie hat ihre politischen Hintergründe. Denn Eulogius und Platon
entsprechen in ihrer Gesinnung etwa der bürgerlichen, westlich orientierten Demo-
kratie. Sie vertragen sich leidlich mit dem Katholizismus und sehr gut mit Angli-
kanern und Protestanten. Die geistigen Koryphäen der Emigration, wie Berdjaev
483
und Stepun gehören zu ihren Anhängern. Antonius dagegen steht mit den un-
beichrbaren Monarchisten im Zusammenhang und er setzt die Tradition des
„istynno russkij celovek“ noch in der Verbannung fort. Wilidski schildert auch
die katholisierenden (Soltykow) und die spärlichen katholischen Strömungen in der
Emigration. Otto Forst-Battaglia.
Ettore Lo Gatto: L'intelligenzia russa, la rivoluzione e la
letteratura. — Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 (1929).
S. 442—448.
Unter Hinweis auf die der russischen Literatur des 19. Jhs. und der Jahr-
zehnte vor dem Weltkrieg eigen gewesenen sozialen und politischen Tendenzen
erörtert Verf. die Frage, wie sich die Situation nach der Revolution gestaltet
hat, und greift dabei im wesentlichen auf die Untersuchungen des kommunistischen
Kritikers Polonskij zurück. Er eröffnet seine „O&erki literaturnago dvizenija
! „Intelligenz“ EE ist, doch sei sie das nur bis
zum Anbruch der proletarischen Epoche der russ. Geschichte gewesen. Sicht-
gelungen sei. Die erfolgreichste literarische Gruppe nach der Revolution, die
Schriftsteller, wenn auch einige
Flügel, wodurch die Situation nicht nur nicht geklärt, sondern verwirrt wird,
denn die allgemeine Tendenz der poput£iki, sich mit der Wirklichkeit abzufinden,
dabei aber den formellen Kanon der traditionellen Literatur beizubehalten,
wird dabei aus dem Auge verloren. Besser hat Gorbatev in „Sovremennaja
russk. literatura“ (Lgrd „Priboj“ 1928) die poputtiki als kleinbürgerliche Gruppe
bezeichnet, neben einer neubürgerlichen, die Alks. Tolstoj, Ehrenburg u. a. dar
stellen. goma steht fest, daß die „bürgerliche“ Literatur der poputčiki die
bedeutendste und tiefste Strömung der sovetistischen Literatur ist. Die politische
und soziale Tendenz der alten russ. Intelligenz ist als Kanon der neuen bei-
behalten. Sollte dieser Richtung Bedrückung durch die Sovetzensur drohen, so
wird sie ein Blatt zur Geschichte des hundertjährigen Märtyrertums der russ.
Intelligenz hinzufügen, wenn auch das Folterwerkzeug jetzt in anderen
Händen liegt. Emmy Haertel.
A. D. Sedel’nikov: Neskol’ko problem po izučeniju eier
russkoij literatury. Metodologičeskie nabljudenija. — Slavia 8,
(1929). S. 503—525.
1. Bestand und Verwahrung der Literatur. Die Rolle der Geistlichkeit...
in Abschrift und Auswahl der Bücher. Reform des Buchwesens im XIV—XV. Jh.:
Veränderung des Materials und der Schreibtechnik; ihre Bedeutung für grö
Freiheit des Schriftwesens. Die Zensur bis zum XV. und nach dem XV. Jh. —
484
Die Ursachen werden aufgezählt, welche dazu führten, daß das älteste Schrift-
wesen hauptsächlich auf Anregung und in Verwahrung der Geistlichkeit ent-
stehen und sich befinden mußte, und das Buchbedürfnis und Geschmack der
weltlichen Kreise in gewisser Abhängigkeit von ersterer blieben. Grundsätzlich
konnte freilih der Sbornik sich freier gestalten als das Buch für gottesdienst-
liche Zwecke. Für das weltliche Publikum lag auch durch die reiche Möglich-
keit, sich durch die mündliche Literaturgattung: Lieder, Novellen usw. Unter-
haltung zu verschaffen, wenig Bedarf an Schriftlihem vor. Die Chronik
konnte derartige Stoffe nur verarbeiten, wenn sie in sich den Keim trugen in
Erzählungen zu zerfallen, die keinerlei, sozusagen, belletristischen Charakter
hatten, sondern geschichtliche Ereignisse behandelten. Verf. bespricht von diesen
5 ausgehend das Igorlied. Ober die Achtung vor dem Buchwesen
unterrichten der Izbornik des Svjatoslav, die verschiedenen Slovo und der
„Izmaragd“. Hier kommt auch die Verabscheuung der alten Volksbräuche,
Aberglauben usw. zum Ausdruck, die letzten Endes zu einem Index führte.
Obersetzungsliteratur weltlichen Charakters hat in der vormongolischen Zeit
eine verschwindende Rolle gespielt. Die pergamentene Literatur Westeuropa;
auch der geistlichen, hatte einen von der russ. sehr verschiedenen Charakter,
da hier das Kirchliche vom Weltlichen nicht vollständig abgetrennt erschien.
Ober diese russ. Literatur unterrichtet der Panegyrik auf Jaroslav und seine
Beschäftigung mit Büchern in der Chronik. S. stellt seine Anschauungen über
mutmaßlichen Bestand des alten russ. Buchwesens den von N. K. Nikol’skij und
A. I. Sobol’evskij vertretenen gegenüber. Über den Bestand an weltlicher Lite-
ratur innerhalb der russ. Klosterbibliotheken hat N. V. Volkov auch jetzt noch
wertvolle Daten und Zahlen zusammengestellt, obgleich manches darin nach
80 Jahren (Pam. dr. Pis’m. 128, 1987) natürlich überholt ist.
Vom 15. Jhdt. an besserten sich die Bedingungen für das Buchwesen durch
Verwendung des Papiers anstatt des Pergaments und Einführung des Halbustav,
was beides wirtschaftliche Vorteile bot. Die starke Zunahme an erhaltenen
Hsn im 15. Ihdt., gegenüber denen aus dem 14., ist nicht bloß dadurch zu er-
klären, daß ım Laufe der Zeit viele ältere Schriftstücke verloren gegangen sein
können. Wie weit hier die aus Südslavien eindringende neuere Literatur schuld
daran gewesen ist, daß die älteren russ. Werke nicht mehr so häufig abge-
schrieben wurden, wird von S. eingehend berücksichtigt. Eines der bedeutendsten
Zentren des reformierten Buchwesens war das Kirillo-Belozerskij Monastyr’, der
vom Mönche Evfrosin Ende des 15. Jhs. verfaßte Nachtrag zum Verzeichnis der
Klosterbibliochek zeigt die bibliographische Leistungsfähigkeit auf erstaunlicher
Höhe. Evfrosin war auch über die Bücherbestände anderer Klöster unterrichtet,
wie aus diesbezüglihen Notizen hervorgeht. Von Zensur der kirchlichen
Schriften sind deutliche Spuren erst zu sehen im 15./16. Jh., auf ihr Vorhanden-
sein schon bedeutend früher kann aus mehreren Fällen, die Verf. hier anführt,
mit Sicherheit geschlossen werden.
2. Anonymität und Pseudonymität in der Literatur und die sich daraus
ergebenden wierigkeiten für die Untersuchung. Autoreninstinkt der altruss.
riftsteller. — Die Anonymität der alten Literatur bringt es mit sich, daß,
verglichen mit den Aufgaben des Literarhistorikers unserer Tage, der Er-
forscher der alten Literatur in erster Linie Philologe sein muß, selbst bei
Namensnennung des Autors wird zunächst die kritische Würdigung ihrer Echt-
heir einsetzen müssen. Die zeitliche Bestimmung kann oft einen einhundert-
jährigen Spielraum zulassen, die sprachlichen Kriterien versagen häufig, da du
mehrfaches Kopieren Änderungen der Urschrift angenommen werden müssen.
Eine Reihe von Beispielen zählen vorgefallene kritische Irrtümer auf, und ihnen
folgt Nennung der für zeitliche und lokale Einordnung der älteren Literatur-
denkmäler üblichen Methoden. Emmy Haertel.
B. Varncke: Stili russkoj dramy XVII v. — Slavia 8, 1 (1929).
S. 132— 137.
Zwei Aufsätze von V. V. Sipovskij und P.P. Rulin in den „Izvestija Otd,
Russk. Jaz. i Slov. Ross. Akad. Nauk“ aus den Jahren 1917 und 1923 geben
485
Verf. Anlaß darauf aufmerksam zu machen, daß die vielfach übliche Methode,
in den Komödien des 18. Jhs. einen streng „klassischen“ Inhalt von realistischen
und dem Leben entnommenen Motiven in dem Sinne zu scheiden, daß man einen
„klassischen Dramenstil getrennt von einem gemischten nachweisen will, nicht
zutreffend ist. Er geht dabei vielfach auf deutsche Literarhistoriker: Schneegans,
Erich Schmidt, Klemperer u. a. zurük. Nach seiner Meinung hat das Aufkommen
der im 18. Jh. so beliebten „sentimentalen“ Bühnenstoffe aus dem Leben des
einfachen Volkes, die mehr und mehr aufhörten sentimental zu sein, viel dazu
beigetragen die Fundamente des Klassischen zu untergraben.
Emmy Hertel.
V. Cerny le v: Stichotvorenija A. S. Puškina, napisannye v stile
russkich narodnych pesen. — Slavia 8, 3 (1929). S. 585—596.
Ober die im volkstümlichen Stil geschriebenen Lieder in Pulkins Werken
herrscht noch manche Unklarheit, es läßt sich sogar kaum entscheiden, ob hier
eigene Schöpfungen P.s vorliegen oder von i aufgezeichnete Volkslieder.
Vengerov hat in Bd. IV seiner Pulkinausgabe „Volkslieder nach Niederschriften,
Umänderungen . . . P.s“ gegeben, und in der 7. Abt. davon „Lieder, die künst-
lerisch umgearbeitet worden sind“. Dabei steht keineswegs fest, ob irgendein
bestimmtes Volkslied von P. umgearbeitet worden ist. Selbst bei den drei
Stenka-Razinliedern, die an Volkslieder erinnern, ist das eine „Tol“ ko čto na
rotalinych vesennych“ mit keinem der bekannten Volkslieder zu identifizieren.
E. untersucht die einzelnen Lieder, „Vyšla Dunja na dorogu, nemoliviis’ bogu“
ursprüngl. für „Evg. Oneg. bestimmt (in Izd. „Prosvekenija“ IV, 829), hält e
für eigene Schöpfung P.s. „Cernyj voron vybral beluju lebedulku“ Pro-
sveščenie. V,5) war, nach Morozov, für „Arap Petra Yelik.“ bestimmt, paßt
aber nicht in den Inhalt, es ist ein Heiratslied. Ibragim aber hatte keine
Heiratsabsichten. Die Razinlieder bei P. enthalten Themen, die in keinem
volkstümlichen Razinlied anzutreffen sind. Verf. nennt die Literatur über sie.
Den Stoff zum Lied von der Opferung der pers. Fürstin an die Wolga kann
P. nur aus „Les voyages Jean Struys en Moscovie“ entnommen russ.
Übersetzungen gab es von dieser Reise nicht zu P.s Zeiten. Für das Lied „Voz’-
mu fuba...“ hat P. höchst wahrscheinlich eine gehörte oder aufgezeichnete Ober-
lieferung benützt. Das Lied „Kak za cerkov’ju za nemeckoju“ mit dem
„Chorolu Zeng často v cestnoj pir zovut“ (Vengerov, IV, 78) wird, einer Brief-
stelle bei P. zufolge („znaed’ russkuju pesnju“) als russ. Volkslied angesehen.
Verf. hält aber für wahrscheinlich, daß P. in dem Brief an seine Frau nur hat
sagen wollen: ein russisches, kein französisches Lied. Unter den herangezogenen
Volksliedern findet sich keine Parallele dazu. Das Lied „Drug moj milyj”
(Vengerow IV, 79) scheint nach einer Romanze, die sich in Liederbüchern aus
der ersten Hälfte des 19. Jhs. findet, von P. gedichtet zu sein. Verf. zitiert
zum Beweis einen Text v. J. 1810. Zu dem Lied ,,Odin-to byl u otca, u materi
edinyj syn“ (Vengerow IV, 79) hält C. für ein von P. auf seiner Reise nach
Orenburg selbst aufgezeichnetes Lied. Parallelen zu dem Text stammen alle aus
dem Ural. Emmy Ha ertel.
A. Be m: ol' i Puškin v tvortestve Dostoevskogo. II. — Slavia
8, 1 (1929). S. 82—100.
Orrazenija „Pikovoj Damy“ v tvor&estve Dostoevskogo.
1. Im „Podrostok“ hat D. dem Helden die 5 Worte über
das „Kolossale“ im Charakter Hermanns in den Mund gelegt, man wird aber
vermuten können, daß diese Auffassung des Hermann schon viel früher bei D.
sich herausgebildet hatte. Bem erinnert hier an eine Stelle in einem Briefe Die
aus Ems und an die „Peterburgskija snovidenija v stichach i proze“, in denen
ganz ähnliche Worte über die traumhafte Stadt, deren typischer Vertreter Her-
mann zu sein scheint, gesagt werden, wie sie auch im „Podrostok“ im Anschluß
an die Worte über Pukkins Hermann stehen. Auffallende Ahnlichkeit mit diesen
Ideen zeigt auch eine Stelle in „Slaboe serdce“. Diese bisher noch nicht genügend
ausgewertete Erzählung möchte B. „als Geburt des Helden“ bezeichnen bei D,
486
und, noch weiter ausgreifend, auch als eigentlichen Kern von „Prestuplenie i
nakazanic“. Nicht umsonst heißen die Heldinnen von Puškins Erzählung und in
„Siaboe serdce“: Liza. Auffallend ist auch die unverkennbare Ähnlichkeit im
Epilog bei Puškin und bei D Von beiden Mädchen wird gesagt, daß sie sich
shli lih verheiratet haben, Puškin schweigt über die Herzenstragödie seiner
Liza, D. spinnt dieses psychi Problem weiter aus, seine Heldin zeigt un-
verhohlen ihren Kummer.
2. Unverkennbar hat Gogol’s Popryškin in „Gospodin Procharčin“ und den
krankhaften Phantasien des Garibaldiseins großen Einfluß gewonnen. Aus Puškins
„Skupoj Rycar“ ist andererseits die Idee des Suchens nach Macht vermittelst Geld-
gewinnung entnommen, hier erinnert B. auch wieder an die Parallele: Hermann
und Raskoľnikov. Auch im „Podrostok“ klingt sie an. Solov’ev in „Gosp.
Procharčin“ erscheint D. auch „kolossal“.
8. So zugänglich D. Beeinflussungen durch die Werke anderer war, lag für
ihn das Anziehende nicht in der stofflichen Ahnlichkeit, sondern in der Ver-
tiefung der psychischen Probleme, die andere geboren. D. überwand Gogols „bez -
idejnost“, wenn er sich auch ungeniert seiner Details und Sujets bediente. Daher
ein Unterschied in den geistigen Beziehungen D.’s zu Puškin und zu Gogol’. Des
ersteren Einfluß entsprang organischer Verwandtschaft und ging in Fleisch und
Blut über bei D., nur war ihm nicht gegeben, die Harmonie Puškins zu finden.
Dessen Gestalten leben bei D. ein durchaus tragisch-ruheloses Leben, was be-
sonders im Einfluß der ,,Pikov. Dama“ auf „Prestuplenie i nakazanie“ deutlich
wird. Es wird hier das Vort: Einfluß nicht im üblichen literar- historischen Sinne
meint. Nicht um gewisse Ahnlichkeiten handelt es sich hier, sondern um seelische
Been flussung, eventuell auf Jahre hinaus. Um zu beweisen, wie weit das Ideen-
schema der ,,Pikov. Dama“ in „Prestuplenie i nakaz.“ das gleiche ist, hebt B.
hervor, einmal den Grundgedankeen „durch Verbrechen zur Erreichung des
Ziels“, dann das Ergriffenwerden unschuldiger Opfer: Lizaveta Ivanovna und
der Stiefschwester der Wucherin, wobei charakteristisch für D., daß er das Milieu
gemeine Stimmung wird gewahrt; auch bei äußerer Verschiedenheit der Um-
stinde. Zum Vergleich stellt B. die Texte von Pušk. und D. gegenüber, wo sich
beider Helden ins Haus ihres Opfers begeben. Bei beiden tragen auch die zwei
Mitbewohnerinnen die Züge von Abhängigkeit und Schüchternheit. Nach weiteren
Vergleichen beider Werke schließt B. mit der Frage: „von welcher Gräfin die
Rede ist in „Prest. i nakaz.“, als Razumichin, nach geschehenem Verbrechen, dem
Raskol’nikov zur Beruhigung ne »Beunruhige Dich nicht, von der Gräfin ist
kein Wort worden.“ Soli das eine Andeutung sein an das ähnliche Ver-
brechen bei in, oder ist hier etwas im Sinne der Freudschen Theorie vom
Versprechen und Verschreiben bei D. unbewußt, d. h. aus dem Unterbewußtsein,
in den Text eingedrungen? Emmy Haertel.
A. Bem: Gogol’ i Puškin v tvorćestve Dostoevskogo. Okoncanie.
— Slavia 8, 2 (1929). S. 297—311.
4. „Homne sans moeurs et sans religion“ hatte Puškin als Motto des
4. Kapitels der „Pikovaja Dama“ gewählt, das fand in D. Widerhall, aber im
Prozesse des Umdenken: der Puškinschen Gestalt war diesem „das Kolossale“ des
Hermann, der wahre Petersburger Typ aufgegangen. Das spricht auch aus Auf-
zeichnungen zum „Prestuplenie i nakazanie“. Puškin ließ seinen Hermann von
einer fixen Idee (nepodviinaja ideja) beherrscht werden, bei D. entwickelt sie
zich zur Theorie des Anrechts auf Verbrechen. Hier berührt er sich eng mit
Balzac; L. Großmann hat in seinem „Bal’zak i Dostoevskij“ auf das Erwachsen
des „Übermenschen“ bei beiden hingewiesen. Dem „homme supérieur“ lag hier
wie dort der Gedanke an Napoleon zugrunde. Auch Hermann war kein ge-
wöhnlicher ` Verbrecher, bei Puškin klingt nicht nur hier, sondern auch im
„Evgenij Onegin“ der Gedanke an Napoleon an. Nicht bloß Bal’zac ist, wie
Groban dachte, der Ausgangspunkt für Raskol’nikov. B. vergleicht eingehend
die Ahnlichkeit der inneren Überzeugung bei Hermann und Raskol’nikov nach
begangenen Verbrechen.
487
5. Verf. zieht noch einmal „Igrok“ in seine Argumentation ein, auch hier
ist Aleksej Ivanovic vergiftet von einer fixen Idee, ebenso wie Hermann und
Raskol’nikov. Die Leidenschaft zum Spiel und das Verhalten des PuSkinschen
Helden zu dem Mädchen, das ihm vertraut hat, treten in unverkennbar ähn-
licher Weise auf im „Igrok“. Der Gefühlskälte beider entspricht die stille Ver-
achtung Lizas und die beleidigende Geste Polinas. Das Endschicksal beider He
wird durch das Verhalten der beiden Frauengestalten bestimmt. D. ergänzte
dabei den PuSkinschen Gedanken, ähnlich wie Puškin selbst zum „Faust“ eine
Ergänzung gegeben. B. weist zum Schlusse noch einmal hin auf das „Jenseits
von Gut und Böse“, das Puškins Hermann und die Dostoevskijschen Gestalten
miteinander verbindet. Emmy Haertel
A. Skaftymov: „Zapiski iz podpol’ja“ sredi publicistiki Dosto-
evskogo. — Slavia 8, 1 (1929). S. 101—117.
Die „Zapiski iz podpol’ja“ sind immer als eine Absage D.’s an frühere Ideale
angesehen worden in Übereinstimmung mit L. Sestov, der das zum e
ausgesprochen. Ähnlich werden sie beurteilt von L. Großman, A. $. Dolinin und
V. L. Komarovik, deren Urteile Verf. kurz charakterisiert. Er hält alle der-
artigen Deutungen für irrig. In den Zapiski wird nicht nur nicht m ichen
Idealen abgesagt, sondern im Gegenteil besteht der Zweck ihrer Dialetik darin
deren Unausrottbarkeit zu erweisen. Die Zapiski sind organisch mit den slavo-
hilen Ideen der publizistischen Zeit D.s verbunden und stützen seine stets ge-
forderte Notwendigkeit des Verzichts auf individualistishe Selbstverherrlichung.
Allerdings verteidigt ihr Held Individualismus und das Unversöhnliche individu-
ellen Wollens, aber diese Verteidigung hat keineswegs den Sinn, den Sestov u. a.
vermuten. Die Zapiski sind ein polemisches Werk, der Held ist nicht so sehr
„oblikitel“ als „obličaemyj“. Die mißverständliche Auslegung ist das Resultat der
Betrachtung ihres Inhalts nach den einzelnen Abschnitten, die Tiraden des Helden
über die individuelle Willkür wurden jede für sich und nicht im Zusammenhang
des ganzen Ideenkomplexes betrachtet. Deshalb muß hier der ganze Ablauf des
Werkes überblickt werden, auch auf die Gefahr hin, längst Bekanntes in Er-
innerung zu bringen.
2. Zugrunde liegen, wie immer bei D. die psychischen Tatsachen. Wie auch
sonst immer ist das Dargestellte für den Leser zunächst unverständlich, er soll über
die einzelnen Themen nachdenken, aus denen zuletzt die Schlüsse gezogen werden.
Zuerst kommt das Rätsel von der absichtlichen Bosheit. Sie wird erklärt als
Ausfluß der Eigenliebe, dem Unvermögen sich der eigenen Schwäche bewußt zu
werden. An drei Beispielen wird die Freude an der „Obida“ dargelegt, sie er-
folgt nach normalen, vom Individiuum unabhängigen Gesetzen. Der Held der
Zapiski sieht darin nichts Aussöhnendes, immer wieder war der psychologi
Kern der Bosheit als ein innerer Protest eines von außen bezwungenen „Ich“ auf-
gedeckt worden. Es ist wichtig zu sehen, daß die Freude am Unrechttun klar dar-
gelegt wird als ein Ausbruch von rebellischem Stolz.
In Kap. 5—6 tritt eine neue Rätselfrage hinzu: die Prinzipienlosigkeit des
Helden, Er ist voller Widersprüche, untätig, ohne träge zu sein. Auch diesem
Ideal kann er nicht treu bleiben, wie auch keinem anderen. Kap. 7—9, die das
Hauptinteresse der Kritiker auf sich gezogen haben, beschäftigen sich vor allem
mit der Ausgestaltung der zwei vorgenannten Themen. Zunächst wird die
Wichtigkeit des unabhängigen Wollens betont. In Kap. 8 lehnt sich der Held
egen die ,,Tabellierung des menschlichen Glückes auf. In Kap. 9 wird be-
e daß der Mensch neben aufbauenden auch zerstörende Instinkte besitzt,
und daß es kein vernunftgemäßes Prinzip gibt, den einen dem andern vorzu-
zichen. Der Held verzichtet in Kap. 10 auf das „wohlweise Gebäude aus
Kristall“, es kann seine Wünsche nicht befriedigen und folglich auch nicht die
Bekrönung seiner Ideale bilden. In der Absage auch an dieses Ideal bestätigt der
Held nochmals das Aussichtslose seines Verharrens, seiner „inercija“.
Im 2. Kap. war das Verhältnis des Helden zum „Schönen und Hohen“
Gegenstand gewesen, das in der Kritik in verstellter Form aufgenommen wurde.
Bei dem Helden sind 8 Grundzüge in diesem Punkt zu bemerken: zuerst die
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„Tränen, Rührung“ usw., zu zweit steht immer er selbst im Mittelpunkt, er
ist der „Schönste, Höchste“, schließlich wird das eigene Verhältnis zum „Schönen
und Hohen“ ironisch beleuchtet. Es gab ein „Schönes...“ für ihn nur, solange
dabei Selbstbeweihräucherung möglich war, nach dem Wegfall dieses Trostes gibt
es für ıhn auch kein wirklich „Schönes und Hohes“ mehr. Verf. geht zu den
Handlungen des Helden über: dem Zusammentreffen mit dem Offizier, der
as Zusammenkunft für Zverkov und der Episode mit Liza, bei welch
etzterer er am längsten verweilt. Hier zeigt sich: zuerst überflüssige Senti-
mentalität, dann am darüber, daraus resultierender Ärger über Liza als
Schuldige daran und zur Schau getragene Veraditung. Es folgt die so berühmt
gewordene Phrase „mag die Welt zugrunde gehen, wenn ich nur Thee habe“, die
als vollständiger Anormalismus bezeichnet worden ist, aber auch zu Unrecht, denn
hier ist alles vom Helden dE Häßliche und Niedrige auch in seinen Augen
häßlich und niedrig. Er will nur durch seine pathetische Tirade der gemutmaften
Verachtung Lizas mit einem Fußtritt begegnen. Hier findet keine „Umwertung
der Verte statt. Liza begreift das auch, sie fühlt, daß er selbst unglücklich ist.
Ihm aber ist es nicht gegeben irgendwie und -wo ein Opfer zu bringen, ihre Teil-
nahme anzunehmen usw. Unter dem Deckmantel des Unrechttuns verbirgt sich
oft ein Streben nach dem „Guten, der Liebe“ usw., doch der Stolz des Menschen
aus dem Podpol’e bäumt sich dagegen auf. Emmy Haertel.
A. Skaftymov: „Zapiski iz podpol’ja“ sredi publicistiki Dosto-
evskogo. Okonlanıe. — Slavia 8, 2 (1929). S. 312—339.
Sk. prüft die Bedeutung der Simonov, Zverkov u. a. in den Zapiski für
den Ablauf der Ideen des Menschen aus dem Podpol’e. Ihre Unbedeutendheit
erhöht nur sein Selbstgefühl.e Von besonderer Wichtigkeit ist die Szene, wie
Liza ihm den Brief vorzeigt, in dem ein Student der Medizin ihr in Ausdrücken
größter Hochachtung schreibt. Verf. er hier bis ins Kleinste die beider-
seitigen seelischen Vorgänge um zu dem Schluß zu kommen, daß der Held sich
darin endgültig vom „lebenden Leben“, von den moralischen Grundlagen
des Lebens lossagt. Sk. wiederholt, daß man irrtümlich hier ein Losreißen D.s
von humanistischen Idealen hat schen wollen. Es ist aber hier nur eine Absage an
das Ideal rationalistischer Theorien zu sehen. Die ganze Dialektik des Werkes
dient nur dazu das nteil des vom Helden Gesagten zu beweisen. Seine
Ideen führen zum „Krach“, zur Verzweiflung usw. Verf. weist auf gedankliche
Übereinstimmung hin zwischen dem Inhalt der Zapiski und dem unter dem Titel
„Prigovor“ im „Dnevnik pisatelja“ enthaltenen Brief eines logischen Selbst-
mörders. Allem was D. in dem Chaos der Ideen im Podpol’e verurteilenswert
erschien, stellt er als Inhalt der „Zivaja Zizn“, von der der Held sich losgerissen,
das elementare Verlangen nach Liebe und Selbstopferung für andere entgegen,
wie es in Liza verkörpert ist.
III. Eine genaue Verfolgung der von D. in „Vremja“ und „Epocha“ aus-
gesprochenen Ideen über die geistigen Defekte der zeitlichen Strömungen ver-
deutliche es, daß diese Ideen künstlerisch in den Zapiski zur Darstellung gelangten.
Immer wieder hat D. als Publizist von der Verdunkelung der moralischen Grund-
sétze, der individualiscischen Absonderung usw. gesprochen, aber diese u. a. an-
fechtbaren Eigenheiten der Zeitgenossen werden vom Helden des Podpol’e in
ihrem höchsten Ausmaß vertreten, die große Masse ist „naiver“ als er und leichter
mit den Verhältnissen auszusöhnen. Der Held des Podpol’je ist „bespokvennik“,
folgerichtig bis zum äußersten durchgeführt. Er ist Phraseur, aber ausgereifter
Phraseur. Die letzten Ideen der Zapiski gipfeln in der slavophilen Verherr-
lichung des Wahren im Volke, wie es auch in Liza verkörpert ist. Die Zapiski
dürfen daher nicht aus dem ganzen System der D.schen Weltanschauung aus-
gesondert werden, er geht darin nur zu einer neuen Etappe seines Schaffens über,
zu einer Bereicherung seiner künstlerischen Dialektik und zur Verfeinerung der
ischen Kontroversen.
IV. Unzweifelhaft hat D.s empirische Persönlichkeit viel von dem Gift in
sich getragen, welches dem Helden aus dem Podpol’e eignete. Er war von un-
endlicher Güte, aber argwöhnisch, krankhaft reizbar usw. Er selbst empfand
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das Schlechte als etwas, das nicht sein sollte, das Gute als Erwünschtes und
Heiliges. Es ist fraglich, wie weit in seinem persönlichen Leben D. dieses Ideal
erreicht hat, er hat danach aber immer gestrebt und forderte die Menschheit auf
ihm zu folgen. Auch hierin stellen die Zapiski keine Ausnahme dar. Er tadelte
nur das Losgerissensein vom eigenen Boden bei den Zeitgenossen besonders, weil
sie es selbst nicht merkten. Im Helden des Podpol’e sind die daraus erwachsenen
Fehler zum Aufersten ausgebildet. Emmy Haertel
Ettore Lo Gatto: Su «guerra e pace». — Rivista di letterature
slave. Anno 4, 5 (1929). S. 363—368.
Verf. erinnert an den Ausspruch von Strachov: „Wenn es kein russisches
Kaiserreich mehr geben wird, dann werden die fremden Nationen aus Krieg
und Frieden erfahren, was für ein Volk das russische war“, um selbst hinzu-
zufügen: „Nach der Revolution können nicht nur die fremden Völker, sondern
auch das russische Volk — und schneller als Strachov das geahnt — aus „Krieg
und Frieden“ erfahren, was die russische Aristokratie gewesen ist. Über den
Adel, als im Roman vorwiegende Gesellschaftsschicht und über den Zusammen-
hang mit ihm seitens Tolstojs haben sich letzthin zwei bekannte russische
Kritiker geäußert: L’vov-Rogalevskij untersucht das gesamte Schaffen T.s darauf-
hin, wie sich darin der Übergang von den sozialen Anschauungen der Aristokratie
zu denen des Volkes vollzogen hat (O usadby k izbe. M. Federacija 1928), und
Sklovskij verweilt bei der Geschichtsepoche von „Krieg und Frieden“ (Materijal
i stil’ v romane Lea Tolstogo „Vojna i mir“. M. Federacija 1928). L.-R. hebt
hervor, daß T.s Antipathie gegen die gesellschaftliche Mittelschicht, die es wohl
zu Tolstojs Zeiten gegeben hat, aber nicht in der Zeit, wo der Roman spielt,
dazu beigetragen haben wird, daß die darin geschilderten Klassen in so präg-
nanter Weise zur Darstellung gebracht worden sind. Beiläufig erwähnt hier
Lo G. die auch von L.-R. behandelte Frage der ausgedehnten französischen Text-
stellen im Roman, die infolge scharfer Angriffe in der russ. Kritik in späteren
Ausgaben durch den entsprechenden russ. Text ersetzt worden sind, und er-
innert daran, daß in der ausgezeichneten italienischen Übersetzung des Werkes
durch die Herzogin d’Andria (Turin, „Slavia“ 1928) auf Wunsch der Hrsgr.
der französische Text beibehalten worden ist. — Sklovskij, als Formalist, hat in
seinen Untersuchungen ganz neue Wege beschritten, indem er das Zeitgemäß-
Moderne in den Anschauungen des Romans dem archaischen Prinzip der Helden-
verehrung gegenübergestellt hat.
Die vielumstrittene Frage, inwieweit T. in den Gestalten des Romans
Persönlichkeiten seines Kreises geschildert hat — von T. selbst war das im
„Russkij Archiv“ v. J. 1868 bestritten worden! — wird durch die Memoiren
seiner Schwägerin Bers „Moja Zen" doma i v Jasnoj Poljane“ (M. 1928) in
gliicklichster Weise beleuchtet. L.-R. hatte an diesen Fragen ein ganz besonderes
Interesse, weil er das Aristokratische in den Anschauungen T.s dadurch analysieren
zu können hoffte. Die große Familienchronik der Rostovs und Volkonskijs
im Rahmen der russ. Geschichte mußte ja Gegenstand der Untersuchungen,
Exaltionen und Ablehnungen werden. Gerade in der Fachkritik haben die Be-
urteilung der Tolstojschen Geschichtsphilosophie in „Krieg und Frieden“ vielfach
hemmend für die Schätzung des Werkes gewirkt, während die Leserwelt sofort
davon begeistert war. N. N. Apostolov in seinem von der Kommission zur
Jahrhundertfeier für T. herausgegebenen „Lev Tolstoj nad stranicami istorii
(M. 1928) behandelt das aufs Eingehendste; er selbst hält dafür, daß das ge-
schichtliche Material treu wiedergegeben ist, während Sklovskij dieses Material
als umgestaltet und stark überarbeitet ansieht. Hier spielt die Beurteilung der
zwei Gestalten Napoleon und Kutuzov die Hauptrolle. Man hat in der ersteren
verschiedentlich eine Karikatur oder doch etwas gewollt von der Wirklichkeit
Abweichendes sehen wollen. Apostolov hält diesen Vorwurf für unberechtigt,
er beruft sich hierbei auf Beschreibungen von Personen aus der Umgebung des
Kaisers, de Segur, de las Cases u. a., die ganz solche Züge festgehalten haben,
wie T. sie beschreibt. A. selbst hat aus diesen Schriften direkt den Eindruck
des Karikaturenhaften gewonnen. Die Ergebnisse der Untersuchungen Sklovskijs
450
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werden von größtem Wert sein fiir ein abschließendes Werk über diese Fragen,
welches zurzeit noch nicht existiert. Auch Gusev bringt im zweiten Bande
seiner Tolstojbiographie nichts Erschöpfendes darüber. Aleks. Amfiteatrov hatte
in seinen Skizzen über den russischen Patriotismus bestätigt, daß bei einer Nach-
prüfung des massenhaften Materials über die E e von „Vojna i mir“ zu er-
sehen ıst, daß T. nicht „erfunden“ hat. Gusev aber hebt gerade diejenigen Stellen
hervor, in denen zu erschen ist, daß T. „erfunden“ hat. Lo G. hält es für wahr-
scheinlich, daß gerade in diesem „Erfinden“ und „Nichterfinden“ die Ursache für
den epischen Charakter dieses Werkes liegt, der es möglih machen wird, daß
es zum Mythos wird, durch den in künftigen Jahrhunderten die Welt erfahren
kann — wie Strachov sagte —, was für ein Volk das russische gewesen ist
Emmy Haertel.
A. Pogodin: „Provincial'nye očerki“ Annenkova. — Slavia 8, 1
(1929). S. 118—131.
Zweck dieses Aufsatzes ist es, den russ. Literarhistorikern die nicht ge-
nügend geschätzte Bedeutung Annenkovs als treuen Schilderer der russ. Zustände
in der Provinz und auf dem flachen Lande in Erinnerung zu bringen. Seine Be-
ziehungen zu Turgenev sind bekannt, wer seine „Pisma iz provincii“ gelesen,
kann sich überzeugen, daß gewisse Mädchentypen, die A. in den Häusern der
Gutsbesitzer kennen gelernt und in seinen Pis’ma beschrieben hat, den Turgenev-
schen weiblichen Typen sehr ähneln, die, oft gebildeter als ihre Umgebung, wie
z. B. Elena in „Nakanune“ einer gewissen Vereinsamung verfallen mußten. P.
zählt andere von A. gezeichnete Typen auf, wie Wahrheits- und Gottsucher, die
in der Literatur der 40er und 50 er Jahre so häufig werden sollten. Ferner
sind Momente aus dem Volksleben, besonders dem Volksgesang, den A. in seiner
anzen Eigenart erlebt und beobachtet hat, und ethnographisch wichtige Einzel-
eiten in seinen Briefen aus der russ. Provinz, die mehr beachtet werden sollten,
als das gemeinhin geschieht. Verf. würde es begrüßen, wenn ähnliche Erinne-
rungen, z. B. aus den Schriften Sologubs oder Panaevs, wo sich auch Turgenevsche
Frauentypen finden, jetzt einmal daraufhin durchgesehen würden, wo in der
Literatur der 40er und 50er Jahre das „dokumentale“ Schaffen aufhört, und wo
die „Schule“ beginnt, zu der nicht allein Turgenev gehörte, sondern auch so
viele seiner Zeitgenossen. Emmy Haertel.
Andrej Bilyj.
Sergjusz Kułakowski: Andrzej Bielyj. — Wiadomości Lite-
rackie 1929, Nr. 21.
Kulakovskij schildert den Lebenslauf und die Bedeutung des verstorbenen
russischen Dichters. 1880 geboren, Sohn eines bekannten Mathematikers, stand der
junge Borais Bugaev, als er sich in den Poeten Andrej Bélyj verwandelte, unter
dem beherrschenden Einfluß von Solovevs Philosophie. Die „Symphonien“, in
denen er den Kampf der verderbten Welt mit dem Guten, des Antichrist gegen
Christus orchestrierte, sind Marksteine der russischen rhythmischen Prosa. Der
Gedankenwelt MereZkovskijs verwandt, ist hier die Lehre vom Widerstreit
Ahrimans und Ormuzds (übrigens läßt sich auch die Parallele zu Zeromski leicht
aufzeigen). Bald gerät Bélyj unter die suggestive Wirkung von Steiner und der
Anthroposophie. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens aber wird der Poet aus einem
Schüler zum Meister und zwar — nur in Rußland konnte aus den Voraussetzungen
eines strengen Individualismus derartiges sich ereignen —, der neuen proletarischen
Literatur, die von Bélyj ihre Prosodik und noch mehr entlehnte. 1929 ist er ge-
storben. Otto Forst-Battaglia.
Józef Mirski: Nemirovit-Dantenko. — Wiadomości Lite-
rackie 1929, Nr. 33.
„ mit dem berühmten russischen Theatermann, der sich, anläß-
lich eines Kuraufenthalts in Karlsbad mit diplomatischer Vorsicht über die zeit-
genössische Bühne und ihre Aufgaben äußert. Otto Forst-Battaglia.
491
Ukraine
V. Mjakotin, „Rus“ i Ukraina“: ,,Poslédnija Novosti“ (Paris)
Nr. 3079 v. 27. August 1929.
S Die für das historische Verständnis der ukrainischen F notwendige
Klärung der Begriffe „Rui“ und „Ukraina“ — für die in der 3 Literatur
O. Hoetzscs in ihrem positiven Gehalt für die methodische Bearbeitung von
Fragen der älteren russischen Geschichte seinerzeit nicht genügend gewürdi
„Russischen Probleme“ (Berlin 1917) im ersten Abschnitt über „Kiev und Moskau“
die beste Einführung geben — wird nach dem Urteil V. Mjakotins durch die Unter-
suchung von Fürst A.M. Volkonskij: „Der Name Rus in der vormongolischen
Zeit“ (Imja Rusi v do-mongol’skuju poru. Izd. obščestva „Edinstvo“. Prag 1929)
gefördert. 1 der Propaganda der ukrainischen ratisten ist daran fest-
zuhalten, ie russischen Chroniken vor dem Tatareneinfall das Vort
„Ukraina“ als Eigennamen, als Bezeichnung eines bestimmten Territoriums, nicht
kennen; es bedeutete damals vie später in den nördlichen Chroniken des 18. bis
16. Jahrhunderts lediglich „Grenzbezirk“ einzelner Fürstentümer. Daher gab es
auch in der Moskauer Periode Ukraine als offizielle Bezeichnung, die Ukrainy
Meščerskija, Mordovskija, Rjazanskija, Tul’skija, Smolenskija, Litovskija, Pskov-
skija, Tatarskija, Nemeckija, — worunter die Grenzstriche der Melkerjaken, Mord-
vinen, von Rjazan, Tula, Smolensk, Litauen, Pskov, gegen die Tataren und
Deutschen (Livland) verstanden wurden.
Nach Kostomarovs Bemerkungen zur Terminologie der Worte Rossija
(Rosija, rossijskij, rossijanin, Ruf, Russkij) in der von der Ukrainischen Akademie
der Wissenschaften i. J. 1929 veröffentlichten Sammlung seiner publizisti-
schen und polemischen Schriften läßt sich die Wandlung jener Begriffe durch die
ukrainische Publizistik des 19./20. Jahrhunderts ermessen. F. Epstein.
Knjaz’ A. Volkonskij: Come la storia della Russia premon-
golica può divenire una questione di attualità. — L’Europa
Orientale 9, 3—4 (1929), S. 93—117.
Durch den Aufsatz von Onatskij in L’Europa Orientale 1928, Nr. 7—8 „Il
problema ucraino a traverso la storia“ veranlaßt, hat Fürst V. alle gegen die
ukrainischen Hypothesen Onatskijs sprechenden historischen Data zusammen-
gestellt, so zunächst chronologisch geordnet, die vom 9,—18. Jh. nachweisberen
Quellen, aus denen die übereinstimmende Bezeichnung Rus’ etc. für das prä-
mongolische Rußland zu ersehen ist. Er weist in einer Anm. auf die willkürliche
Umänderung des Wortes „russisch“ in „ruthenisch“ aus Daniels Reise zum HI.
Grabe durch Gr. M. Tyszkiewicz in „Histoire de la littérature ukrainienne“ hin.
Um die Unzulänglichkeit der von O. vertretenen Meinung, es habe ursprünglich
ein bewußter Gegensatz zwischen süd- und nordrussischem Gebiet gegeben, zu
entkräften, stellt Fürst V. eine Tabelle für die bald im südlichen, bald im nörd-
lichen Gebiet gelegenen Fürstensitze von 16 regierenden Fürsten auf, angefangen
von Vladimir d. Hl. bis zu Mstislav II. Izjaslavié. Für die von alters übliche An-
wendung des Wortes „ukraina“ im Sinne von „marca“ der karolingischen Herr-
schaft führt er zum Beweis die 18 Zitate der russischen Chroniken an, in denen
es gebraucht ist, unter denen nur 8 im Sinne von Grenzgebiet stehen, und zwar
während der vormongolischen Zeit; für die nachmongolische Zeit sind dann Zitate
angeführt, die mit „ukraina“ Grenzgebiete bezeichnen. Fürst V. behandelt dann
noch die Beziehungen Galiziens zum übrigen Rußland der vor- und nachmongoli-
schen Zeit. Emmy Haerte
Ju. A. Javorskij: Galicko-russkaja virda o zloj žene. — Slavia 7, 4
1929), S. 922—926.
Javorskij zitiert ein Gedicht vom Ende des 18. Jahrhunderts über das beliebte
Thema von der „bösen“ Frau, welches sich, nebst anderem altem handschriftlichen
Material, in dem galizisch- russischen Museum von A. S. Petruleviè in Lemberg be-
fand und leider nach der russischen Evakuation vom Jahre 1915 verschollen ist.
492
Daß die Klage über die böse Frau, mit der zu leben schlimmer ist al? in der Wüste
mit einem Löwen, letzten Endes auf eine Stelle im Buch Sirach und die Sprüche
Salomonis zurückzuführen ist, wird niemand bezweifeln. Jav. geht hier der Frage
nach, wie weit späterhin asketische Strömungen dazu beigetragen haben können,
diesen ablehnenden Standpunkt gegen das Weib frisch zu beleben. Für das
Russische kämen dann vor allem byzantinische Schriftsteller in Betracht. Solche
antifemininen Aussprüche waren das Hauptmotiv in dem Johannes Chrysostomus
zugeschriebenen „Slovo o zlych Zenach“, die in die entsprechenden altrussischen
Sborniks übergingen, so in die „Plela“, „Slovo Daniila Zato£nika“ usw. Die dich-
terische Umgestaltung des alten Themas, wie in dem zuerst zitierten Vers, ist
nichts seltenes, Jav. führt eine Reihe derartiger Gedichte älterer Sammlungen an.
Das Motiv finder sich auch in umgekehrter Anwendung, d. h. gesungen von
Frauen gegen verhaßte Ehemänner. Es bleibt die Frage offen, welchem literari-
schen Typ das Gedicht aus der Lemberger Sammlung nachgebilder ist. Auffallend
ist es, daß es, ebenso wie das „Slovo o zlych Zenach“, über das biblische Original
herausgehend, nicht nur von Löwe und Schlange spricht, sondern eine Menge
anderer Tiere einbezieht. Ob hier unmittelbar eine Übernahme aus dem „Slovo“
erfolgt ist, oder ob ein Zwischenglied das Muster abgab, läßt sich zurzeit nicht
entscheiden. Emmy Haertel.
K. PuSkarevié: F. L. Celjakovskij v ukrainskich perevodach. —
Slavia 8, 2 (1929). S. 289—296.
C. gebührt, als einem der „Erwecker“ des nationalen Bewußtseins in der
Literatur, eine ganz besondere Stellung innerhalb des russ.-Cechischen und ukrain.-
&echischen Literaturaustausches. Verf. erinnert an die verhängnisvolle Wirkun
eines Zeitungsaufsatzes von C., der an Nikolaj I. und seiner Polenpolitik Kritik
übte und uld daran war, daß er nicht als Universitätslehrer nach Rußland be-
rufen wurde. €. hat in den „Literni zpravy“ Berichte über neue, auf russ. und
ukrain. Literatur bezugnehmende Bücher gebracht, dort äußerte sich auch Hanka
über das Buch „Dumkı i pesni, ta ite de Sto“ von Amvrosij Mogila, aus dem
8 Jahre später C. einiges übersetzte. Die Folgen der slawischen Wiedergeburt
machten sich besonders in Galizien bemerkbar, wo sich Salkeviè, Golovackij u. a.
bemühten eine Sprach- und Literatureinheit herzustellen. Damals nahm auch das
Interesse der polnischen Intelligenz für alles das Volkstümliche Betreffende zu,
daher kamen C.s „Slavjanskie narodnye pesni“ sehr in Aufnahme, ebenso wie
Kollars panslavische Ideen die Geister bewegten. Doch bestand zwischen den
slavophilen Ideen in Großrußland und der Ukraine ein Unterschied, auf den
auch Dragomanov hingewiesen, die ukrainische Slavophilie ist dagegen eng mit
der &echischen Wiedergeburt verknüpft.
Den Übersetzungen aus dem Cechischen ins Ukrainische gebührt in der
1. Hälfte des 19. Jhs. entschieden ein Vorrang vor dem polnisch-ukrainischen
Literaturaustausch. Kollar wurde von Metlinskij übersetzt, der dessen germano-
hobe Gesinnung teilte. Er übersetzte auch Celachovskf; ein künstlerischer Wert
ist seinen Übersetzungen jedoch nicht zuzuerkennen. P. gibt durch Textgegen-
überstellungen den Beweis. Als nächstfolgender Übersetzer Celachovskys ist
Nikolaj Ustjanovié genannt und zuletzt A. A. Korsun. Des letzteren Über-
setzungen sind wörtlich treu aber nach der künstlerischen Seite hin auch an-
fechtbar. Emmy Haertel.
Cechoslovakai
Wolfango Giusti: Un «Contrasto tra l’anima e il corpo»
nella letteratura céca del XIV secolo. — Rivista di letterature
slave. Anno 4, 5 (1929). S. 293—299.
Die čech. Literatur des Mittelalters besitzt mancherlei künstlerisch Wert-
volles, ist aber unter der čech. Intelligenz, bei deren ausschließlich nationalen
Bestrebungen zugänglich gewesener Sinnesrichtung, absichtlich unbeachtet ge-
493
blieben. Man ist dem katholischen Mittelalter gegenüber noch jetzt in der
Cechoslovakei größtenteils uninteressiert. Zu den interessantesten Erschei-
nungen dieser Literatur gehört der „Spor duše s tělem“, der, wie G. nach wert,
sich stark unterscheidet von der allgemein bekannten Art dieser im Mittelalter so
beliebt gewesenen Dichtungen und auch von dem im 8. Jahrzehnt des 13. Jhs.
enstandenen italienischen „Contrasto“. So gut wie ausnahmslos trägt in diesem
Streit, zwischen Seele und Leib überall die Seele den Sieg davon, und die dem
Leib zugeschriebenen Argumente muten abstoßend an in ihrer Vulgarität. Ganz
anders verläuft aber der „Spor“. Nicht nur ist von einem Sieg der Seele nichts
zu sehen, sondern beide Gegner legen einfach ihren verschiedenen Standpunkt
dar, und der Leser behält den Eindruck, daß der Streit unentschieden ge-
blieben ist.
Sehr richtig hat Roman Jacobson im Vorwort zu dem von ihm heraus-
gegebenen „Spor duše s tělem (Praha. Kuncif 1927) bemerkt, daß der Verf.
des „Spor“ absichtlich diesen Verlauf gewählt hat, um dadurch die Möglichkeit
zu gewinnen zur freien Ausgestaltung der eigenen dichterischen Inspiration. Nach
Giustis Meinung muß der Dichter eine Mentalität gehabt haben, die fünfund-
einhalbes Jahrhundert später „positivistisch“ genannt werden würde. Ihm er-
scheint nicht so wichtig, daß hier mancher Gedanke geäußert wird, der den kirch-
lichen Dogmen zuwiderläuft, als daß der Streit mit einer solchen Objektivität
dargestellt wird. G. greift aus der reichen mittelalterlichen Literatur dieser
Gattung zum Vergleich die ,,Contenzione infra l' anima e corpo“ von Jacopone
da Todi heraus und stellt die Texte auszugsweise einander gegenüber. Bei
Jacopone endet der Streit in traditioneller Veise zugunsten der Seele. Im
čech. Text sind die der Personifikation des Leibes zugeschriebenen Gedanken-
ginge keineswegs abstoßend, sondern tragen ein Gepräge von heidnischer
Lebensfreude und klassischer Ruhe. Zudem sind ihr auch religiöse Motive in
den Mund gelegt, sie beruft sich darauf, daß durch den Kreuzestod Christi alle
von ihrer Sünde erlöst worden sind. So zeigt der Zech Text eine innerliche
Bereicherung beider Streitenden, wenn ihm auch die starke Überzeugungskraft
fehlt, die für Jacopone da Todi so charakteristisch ist. Emmy Haertel
Wolfango Giusti: Dalla poesia ideologica alla pocsia pura in
Cecoslovacchia. — Rivista di letterature slave. Anno 4, 6
(1929). S. 373—390.
Die neuere Cech. Literatur in ihrer Gesamtheit ist oft ungerecht beurteilt
worden, sowohl von Fremden wie von Cechen selbst. Man sollte sich bei der-
artigen Urteilen immer die geographische Lage, die Geschichte und nationalen
Probleme der Cecholv.vor Augen halten. Beiläufig weist G. darauf hin, wie un-
erläßlih das beim Studium jedes einzelnen der slawischen Länder ist, und wie
bald die Phantastik von einer slavischen literarischen Einheit verschwinden
würde, wenn man so im einzelnen Fall verführe. G. macht auf gewisse Parallel-
erscheinungen in der Geistesgeschichte Italiens und der Cechosl. hin, auf gewisse
Stagnationen, die eintreten konnten, während in anderen europäischen Ländern,
die die Grenzen des Autochthonismus längst überschritten hatten, bereits Fragen
von universeller Bedeutung in der Literatur angeschnitten wurden. In der čech.
Literatur der letzten Zeit hat sich die soziale Frage im Anschluß an die
patriotische bewegt, zunächst als ein Anhängsel von sekundärer Bedeutung,
später als Gleichgewicht haltend, und zu guter Letzt in vollem und markantem
Gegensatz zu der nationalen Sache. Die nationale Bewegung hatte sich, ebenso
wie die soziale, eine Zeit hindurch einmütig gegen das deutsche Übergewicht in
Politik und Wirtschaft gewandt. Mehr oder weniger waren die Probleme mit-
einander eng verschmolzen von den frühesten Zeiten des Cech. „risorgimento“ an
bis in die Jahre des Weltkriegs hinein. Der nationalistische Dichter war sic
bewußt auch für eine soziale Umgestaltung mitzukämpfen, der soziale, oder
vielleicht auch sozialistische, kämpfte mit um die nationale Freiheit. Der
Militarismus schien im beiderseitigen Feinde (Osterreich) verkörpert, die Selbst-
494
bestimmung der Völker wurde von allen Klassen ersehnt, und der soziale Kampf
war weniger cin Klassenkampf als ein Kampf des tech. Volkes gegen die deutschen
und jüdischen Kapitalisten. Nach Erlangung der nationalen Einheit wandelt sich
die soziale Dichtung um zur proletarischen, und an Stelle der sozial-nationalen
Ideen treten ausgesprochene Tendenzen des KlassenbewuStseins. Zu aller Letzt
aber taucht die Frage auf: da die proletarische Dichtung dasselbe sagt, was ein
Zeitungsartikel ebensogut sagen könnte, wozu noch Verse schreiben? Dem-
gegenüber tritt die Bedeutung des Poetismus als rein künstlerische Angelegen-
heit ins rechte Licht. Er will die Dichtung von Ideologie, Logik und Ratio-
nalismus befreien und betrachter die Lyrik als spontanen Gefühlsausbruch, der
das gesamte Leben erfassen und einem Europäismus entgegenstreben soll. Diese
radikale Umgestaltung der Lyrik bringt eine Bereicherung, keine Verarmung
der Kunst mit sich, und sollte nicht als Kinderei oder Primitivität abgeurteilt
werden.
G. betrachtet, ausgehend von diesen allgemeinen Gesichtspunkten, als ehe-
mals hochaktuell gewesen, im Augenblick inaktuell geworden die Dichter:
Machar, Bezruč, S. K. Neumann und Volker. — In letzter Zeit hat Vaclav
Cerny mit seinem „Kořeny současného umění“ (Praha. Girgal 1929) lebhafte
Diskussionen hervorgerufen, da er für die gesamte zeitgenössiche Dichtung die
Philosophie und Ästhetik Bergsons als Ausgangspunkt annimmt. Bergson selbst wird
von Cerny wieder mit Schelling und Schopenhauer in Kontakt gebracht, wodurch
der Eindruck entsteht, als sei letzten Endes der jetzige Vortrab der Dichtung
romantisch orientiert. C. beugt zwar einer solchen Auslegung vor und will nur
nachweisen, daß die Grundlagen der Bergsonschen Philosophie tief eingedrungen
sind in die Sphäre des modernen Denkens, gleich ob bewußt oder unbewußt.
G. möchte jedoch, daß Cerny in einer Neuausgabe seines Buches seine Aus-
lassungen über den Bergsonschen Einfluß revidierte und das Kapitel über den
Parallelismus zwischen Bergson und Marinetti ganz ausließe. Cernf hat sich auch
die Ideen Freuds zu eigen gemacht, und hiermit ist er an den Wurzeln des
Poetismus angelangt, der das Gefühlsmäßige will und das Rationelle ver-
abscheut. Unter diesen Gesichtspunkten bespriht G., als Übergang von
ideologischer Dichtung zum Poetismus, Seifert und als unmittelbar im Poetismus
stehend Nezval. Der Poetismus wird unbedingt zu einer Reaktion führen. In
der früheren Generation stellt Březina eine Art Synthese dar, in der Gegenwart
scheint Vančura, als über den Poetismus hinausreichend, zu einer synthetischen
Persönlichkeit werden zu sollen. Emmy Haertel
Ettore Lo Gatto: Otokar Březina. — Rivista di letterature
slave. Anno 4, 6 (1929). S. 473—475.
Verf. widmet dem im März d. J. verstorbenen Dichter einen Nachruf, dem
eine Aufzählung der bedeutendsten Aufsätze über Bfezina und der Über-
setzungen seiner Werke beigegeben ist. Emmy Haertel
V. Tille: Zlatohlävek. — Slavia 7, 4 (1929), S. 895—918.
Durch J. Boltes Bearbeitungen des alten Märchenmotivs vom Goldkopf (bzw.
Grindkopf, Goldhaar usw.) angeregt, fiir das dieser Varianten aus germanischen,
romanischen, slavischen und außereuropäischen Sprachen beigebracht, will T. die
in &echischen Texten anzutreffenden Varianten untersuchen. Die Grundidee des
Märchens nähert sich dem Typ des unbekannten Helden, auch des verstellten
Narren. T. stellt dazu noch Varianten aus dem östlichen Riesengebirge mit der
Fabel vom „Honza“, vom „Květ“, „Sirotek Ondřej“, „Hanzl“, „Jan Pecival“
anderer Sammlungen und dergleichen mehr. T. kommt zu dem Schluß, daß das
Gerüst der &echischen Varianten verschiedentlich abweicht von dem von Bolte be-
sprochenen Märchentyp. Emmy Haertel
496
Polen
Gumowski Marian: Sprawa braniborska w XII wieku. (Die
Brandenburger Frage im XII. Jahrh.) — Slavia Occidentalis VII.
91—134, VIII. 160— 221.
Der Staat der Stodoranen, welche einen Teil des Liutizen- Stammes bildeten.
umfaßte das Gebiet an der mittleren Havel um Brandenburg (slav. Branibor). Ob-
wohl schon 928 von Heinrich I. erobert, bewahrte das Fürstentum Brandenburg
seine Selbständigkeit noch im Anfang des XII. Jahrh. und erlag dem deutschen
Vordringen erst nach dem Ableben des Fürsten Meinfried, in Se 1127 getötet
wurde. Sein Nachfolger war der schon früher mit seiner Gemahlin Petrissa ge-
taufte Przybysław — Heinrich. Zahlreiche Tatsachen, welche die freundschaft-
lichen Beziehungen zwischen Przybystaw und Albrecht dem Bären bezeugen, führen
den Verf. zur Annahme, daß in Brandenburg 1127 ein Staatsstreich von
Przybystaw mit Hilfe Albrechts vollzogen wurde; dabei wurde Meinfried ums
Leben gebracht und sein Verwandter Jaksa war gezwungen, nach Polen zu fliehen.
Die Folge davon war, daß Przybystaw seither beständig unter dem deutschen Ein-
fluß stand. Albrecht war sogar einige Zeit Mitregent von Brandenburg; nach
seinem Sturze 1139 übte die srs Geistlichkeit (Bischof Wigger) und die
Fürstin Petrissa, welche ein Werkzeug Albrechts war, starken Einfluß auf
Przybystaw aus. Petrissa ermöglichte nach dem Tode Przybystaws 1150 Albrecht
dem Bären die Besitzergreifung Brandenburgs.
Unterdessen verweilte der aus Brandenburg gebannte Jaksa in Polen. Der
polnische Herzog Boleslaus Krzywousty war nicht imstande, irgend etwas zu-
nsten Jaksa’s zu erreichen, beschenkte ihn aber reichlich mit großen Giiter-
omplexen. In Polen vermählte sich Jaksa auch mit der Tochter des dortigen
Magnaten Peter Wlast. Dieser versuchte in den Jahren 1144/5 in Brandenburg
zugunsten seines Schwiegersohnes zu intervenieren, zog sich aber dadurch nur die
Feindschaft Albrechts zu, welche wahrscheinlich viel zu der Verstiimmelung Peters
auf Befehl des polnischen Großherzogs Ladislaus II. beitrug. In der nächsten Zeit
erfolgte zwar der Sturz des den Deutschen geneigten Ladislaus, welcher, von seinen
Brüdern aus Polen verjagt, nach Deutschland flüchtete und dort Hilfe suchte.
Seine siegreichen Brüder wollten einer eventuellen Intervention von seiten Deutsch-
lands zugunsten Ladislaus zuvorkommen und aus diesem Grunde ließen sie sich zu
einem Vertrage mit Albrecht dem Bären in Kruschwitz 1148 bewegen. Albrecht
cl sing sich wahrscheinlich, jede Intervention deutscherseits zugunsten
Ladislaus II. zu verhindern, die polnischen Herzoge versprachen dagegen, dem
Jaksa keine Hilfe zu leisten. Dieser Vertrag erleichterte bedeutend Albrecht die
Besitzergreifung Brandenburgs (1150). Von den Herzogen im Stich gelassen, führte
Jaksa mit Hilfe der polnischen Rittergeschlechter den von ihm längst geplanten
Angriff auf Brandenburg 1154 aus und herrschte daselbst bis 1157. Erst in diesem
Jahre brachte Albrecht der Bär den Feldzug Kaiser Friedrich Barbarossas gegen
Polen zustande und eroberte bei dieser Gelegenheit Brandenburg, während der
Magdeburger Erzbischof Wichman sich Jüterbogs bemächtigte. In den Händen
Jaksas verblieb aber der östliche Teil des Brandenburger Fürstentums, d. h. die
späteren Territorien Barnim und Teltow mit der Hauptburg Kopytnik (Köpenick,
östl. v. Berlin), deren Besitz ihm in dem 3 Vertrage zu
Krzyszkowo bestätigt wurde. Dort regierte Jaksa bis zu seinem Tode (1176).
Seine polnischen Besitzungen verschenkte er an die Geschlechter, die ihm bei der
Eroberung Brandenburgs behilflich waren, oder er verwendete sie zu frommen
Stiftungen, welche nach seiner Pilgerschaft in das heilige Land von ihm gegründet
wurden. Er nahm auch beständig Teil an dem öffentlichen Leben Polens, trotz-
dem aber war die Stellung der polnischen Herzöge ihm und der Brandenburger
Frage gegenüber gleichgültig. Die Folge davon war wahrscheinlich eine An-
näherung des kinderlosen Jaksa in seinen letzten Jahren an die pommerschen
Herzöge.
Im vorliegenden Aufsatze folgt Verf. im Allgemeinen den Ansichten des Pro-
fessors St. Zakrzewski über die Brandenburger Frage im XII. Jahrh. und ihren
496
Zusammenhang mit den deutsch-polnischen Verhältnissen in dieser Zeit, begründet
aber seine Darstellung mit zahlreichen Quellen, wobei er auch das numismatische
Material in Betracht zieht. S. Zajaczkowski.
Wlodarski Bronislaus: Rzekomy dokument Swietopelka
pomorskiego z 1180 r. (Die angebliche Urkunde Swantopolks
von Pommerellen vom Jahre 1180.) — Roczniki historyczne.
B. V, H. I, 1—16. 1928.
Den 5 der Abhandlung bildet die Urkunde Herzog Swantopolks
von Pommerellen v. J. 1180, in welcher der genannte Herrscher die kirchliche Zu-
gehörigkeit des Gebietes Stolp (Stupsk) zu Gnesen bezeugt. Übereinstimmend
mit der bisherigen Literatur (Klempin, Duda) hält Verf. diese Urkunde für
ein Falsifikat, welches im Zusammenhange mit den seit der ersten Hälfte des
XIII. Jahrhundertes dauernden Fehden zwischen dem Erzbischof von Gnesen und
dem Bischof von Kammin um die kirchliche Zugehörigkeit des Gebietes Stolp ent-
standen ist. Der Narratio dieser Urkunde entnimmt aber Verf. manche Angaben,
welche, mit anderen Quellenzeugnissen zusammengestellt, ihm die Möglichkeit
bieten, das Problem der Oberherrschaft des großpolnischen Teilfürsten Ladislaus
Laskonogi über Stolp zu beleuchten und in Verbindung mit dem Fürstentage zu
Gasawa v. J. 1227, wo der Krakauer Teiltürst Leszek Biaty ermordet wurde, zu
setzen. Verf. beweist also, daß Laskonogi als vermutlicher Vormund des minder-
jährigen Herzogs von Stolp die Oberherrschaft daselbst ausgeübt und damals dem
König Waldemar II. von Dänemark Huldigung geleistet hat (1205). Nach dem
Zusammenbruche der dänischen Macht an den Gestaden der Ostsee 1228 wurde
Laskonogi von seinem Neffen Ladislaus Odonic und von Swantopolk angegriffen;
dabei bemächtigte sich Odonic der Burg Ujście in Großpolen, während Swantopolk
das Gebiet Stolp besetzte. Um das Verlorene wiederzuerobern, vereinigte sich
Laskonogi 1227 mit Leszek Bialy zum gemeinsamen Mai sees gegen Odonic und
Swantopolk. Verf. nimmt an, Leszek sich in diese Fehden hineinziehen ließ,
nicht nur um Swantopolk zur Fügsamkeit zu zwingen, sondern auch um i
Stolp zu entreißen. Die Stolper Frage war also eine der Ursachen der Gasawer
Katastrophe. S. Zajaczkowski.
Pohorecki, Felix: Rytmika kroniki Galla - Anonima. — Uber
die Rhythmik der Chronik des Gallus-Anonym. — Roczniki
Historyczne. B. V, 105—169 und VI, 12—75. Poznań 1929
und 1930.
Die älteste polnishe Chronik des sog. Gallus-Anonym war schon mehrere
Male Gegenstand der Studien einzelner Gelehrten. Sie nahmen fast ausschließ-
lich den historischen Inhalt der Chronik und deren Bedeutung als einer histori-
schen 8 in Betracht, vernachlässigten aber fast gänzlich ihre literarische Form.
Folge davon war, daß in den letzten Ausgaben der Chronik ihre literarischen
5 die aber auch ihren historischen Vert aufklären können,
vollständi verwischt wurden. In vorliegendem Aufsatz untersucht Verf., mit
Zuhilfenahme der Arbeiten W. Meyers und K. Polheims über die mittelalter-
lihe Rhythmik und Reimprosa, die Chronik ausschließlich als literarisches Denk-
mal und bringt ihre Eigenrümlichkeiten und Eigenschaften ans Licht. In der
Chronik des Gallus sind viele Verse und zwar 10 Leonine, 2 im Texte verwischte
Hexameter und 250 rhythmische Versc enthalten, die Chronik selbst ist meisten-
teils in Reimprosa verfaßt. Als Haupteigenschaft dieser Reimprosa sind der zwei-
silbige Reim und der Kursus velox, welcher unlängst vor der Entstehung der
Chronik (ca. 1118) zum erstenmal in der päpstlichen Kanzlei eingeführt wurde,
hervorzuheben. Wenn man diesen Umstand in Betracht zicht und dabei berück-
sichtigt, daß die Reimprosa im 11. und 12. Jahrh. in Blüte steht, der Gebrauch
der rhythmischen Verse dagegen bis im 12. und 18. Jahrh. in Europa verbreitet
ist, so muß man gestehen, daß die Chronik des Gallus-Anonym schon in der
Zeit ihrer Entstehung allen Forderungen der damaligen Schreibmanier vollständig
entsprach. Im Anschluß daran kann man vermuten, daß die weiteren Forschungen
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in dieser Richtung manche Aufschliisse iiber die Entstehungsfrage der Chronik und
die Person des Verfassers bringen können. St. Zajączkowski
Polaczek, Helene: Geneza orła Piastowskiego. — Über den
Ursprung des Piastenadlers. — Roczniki Historyczne. Bd. VI,
1—11. Poznah 1930.
‚Zweck des vorliegenden Aufsatzes ist den Ursprung des weißen Adlers als
polnischen Reichswappens zu erklären. Dieser Adler tritt zuerst auf den Siegela
der polnischen Teiltürsten seit Ende des ersten Viertels des 18. Jahrh., also circa
fünfzig Jahre später als in Westeuropa auf. Er wurde von diesen Fürsten an-
perendi, welche entweder in Krakau a oder Ansprüche auf Krakau erhoben
atten. Daraus kann man schließen, daß dieser Adler ursprünglich das Familien-
zeichen des mit Krakau verbundenen Hauptes der Piastendynastie war. Später
aber, um 1800, ist der weiße Adler S bot: des polnischen Staates geworden und
seither sehen wir ihn auf den Siegeln der königlichen Städte und der Staats-
behörden auftreten. Da das bis jetzt erhaltene numismatische Material das Er-
scheinen des Adlers auf den polnischen Münzen im 18. und auch früher im 10.
bis 12. Jahrh. aufweist, kann man somit vermuten, daß zwischen der Piasten-
dynastie und dem weißen Adler eine noch in der vorheraldischen Zeit angeknüpfte
Verbindung bestand. Infolge dessen ist später der Adler zum Wappen dieser
Familie geworden. Dieses Ergebnis widerspricht den Ansichten der deutschen
Heraldiker (Hauptmann, Siegenfeld), welche den polnischen Adler von
Reichsadler der Kaiser abzuleiten suchten und dessen Anwendung in Verbindung
mit dem Vasallenverhältnis Polens zum deutsch-römischen Kaisertum setzten.
St. Zajączkowski
Zajączkowski, Stanislaw: Polska a Zakon Krzyżacki w ostatnich
latach Wiadyslawa Łokietka (Polen und der Deutsche Orden in
den letzten Regierungsjahren Ladislaus Locticus). — Lwów,
Towarzystwo Naukowe 1929. S. 292. Archiwum Towarzystwa
Naukowego we Lwowie, Dział II, Tom VI, Zeszyt 2.
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Darstellung des Kampfes, den der
Inische König Ladislaus Łokietek mit dem Deutschen Orden wegen Pommerellen
führte. Dieser Kampf begann nach der Krönung König Ladislaus im Jahre 1320.
Anfangs machte der König den Versuch, das strittige Land mit Hilfe von diplo-
matisch-gerichtlichen Mitteln wiederzugewinnen und brachte seinen Streit mit dem
Orden vor den päpstlichen Stuhl. Der vom Papst angeordnete Prozeß hatte einen
günstigen Ausgang für Polen, indem das zu Inowroclaw (Hohensalza) gefällte Ur-
teil dem König Pommerellen zuerkannte. Der Deutsche Orden entwickelte aber
dagegen eine rege Tätigkeit und erreichte, daß der Papst mit zwei Bullen vom
9. Juni 1321 das Urteil aufhob und die abermalige Durchtührung des Prozesses dem
Bischof von Samland anvertraute. Die genannten Bullen sind aber nicht aus der
päpstlichen Kanzlei expediert worden und der Papst bewahrte seitdem eine ab-
wartende Stellung in dieser Angelegenheit. Die Umwandlung der Stellung der
Kurie dem pommerellischen Problem gegenüber war also nicht so groß, wie die
bisherige Literatur angenommen hatte. Zu gleicher Zeit bemühte sich der Orden
für den eventuellen Krieg mit Polen Verbündete zu gewinnen. Lokietek aber, ob-
wohl er schon die Hoffnung auf eine friedliche Auseinandersetzung mit dem Orden
aufgegeben hatte, brach nicht gegen die Kreuzritter los, da er sich ihrer Macht nicht
le fühlte.
Im Jahre 1325 wurde das polnisch-litauische Bündnis geschlossen und seit
dieser Zeit trat eine Wendung in der Stellung Lokietek’s ein. Da die Litauer
bis zum Jahre 1827 durch einen früher mit dem Deutschen Orden geschlossenen
Friedensvertrag gebunden waren, brachte Lokietek vorläufig mit ihrer Hilfe einen
Feldzug gegen die Mark Brandenburg zustande und begann erst im Jahre 1327
den Krieg gegen den Orden, indem er die mit demselben verbündeten masovischen
Teilfürsten angriff. Nun entflammte der Kampf. Anfangs zeigten die kämpfenden
Parteien eine gewisse Zurückhaltung und Angst vor einander, im Laufe der Zeit
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wurde aber der Krieg immer mehr und mehr hartnäckig und rücksichtslos geführt.
Während des Feldzuges, den die Kreuzritter gemeinsam mit König Johann von
Luxemburg gegen Litauen im Jahre 1829 unternahmen, griff Lokietek das Culmer
Land an, um seinem litauischen Verbündeten zu Hilfe zu kommen. Aus Rache
dafür überfielen die Kreuzritter mit Johann Polen und eroberten das Dobriner
Land, wonach Johann den Fürst Wenzeslaus von Plock zur Anerkennung seiner
Oberherrschaft zwang. In den nächsten Jahren 1829/80 machten die Kreuzritter
viele Streifzüge nach Kujavien, was Lokietek wiederum mit einem großen Feld-
zuge in das Culmer Land im Jahre 1880 beantwortete. Im folgenden Jahre unter-
nahmen die Kreuzritter zwei große Raubzüge nach Großpolen, während des zweiten
Zugen kam es zur Schlacht bei Plowce, deren Ausgang im allgemeinen für die
Polen günstig war. Trotzdem aber verlor bald Lokierek Kujavien zugunsten des
Deutschen Ordens und sein zweiter Feldzug in das Ordensland endete mit einem
Waffenstillstande.
In der wissenschaftlichen Literatur gab es bisher keine erschöpfende Dar-
stellung des Krieges, welcher zwischen Polen und dem Deutschen Orden wegen
Pommerellen geführt wurde. Abgesehen von den allgemeinen Darstellungen der
Geschichte Polens und Preußens, welche diesen Krieg in großen Zügen beschreiben,
gibt es, hauptsächlich in der polnischen Literatur, nur kleine Aufsätze und Bei-
träge, welche die Einzelheiten des Krieges behandeln. Diese Lücke füllt erst die
vorliegende Arbeit aus, indem sie das volle Bild dieses blutigen Ringens darbietet.
Sie stützt sich auf das ganze schon publizierte Quellenmaterial, überdies nützt sie
zwei Bullen Johann's XXII. vom Jahre 1821 aus, welche bis jetzt nur aus dürftigen
Auszügen in Voigt's Geschichte Preußens bekannt waren. Vas die gedruckten
Quellen anbelangt, legt Verf. viel Gewicht auf den von Prochaska veröffentlichten
Bericht des Deutschen Ordens über dessen Krieg mit Polen, zieht dabei in Betracht
die bisher nicht berücksichtigten Nachrichten Vilhelm's de Machaut, welcher, als
Sekretär König Johanns von Luxemburg, seinen Herrn auf dessen Kriegsfahrten
nach Polen und Litauen begleitete. Dies alles ermöglicht dem Verf. die ein-
zelnen Tatsachen anders, als es die bisherige Literatur getan hat, zu konstruieren
und in Zusammenhang miteinander zu bringen. Somit haben wir eine neue Fest-
stellung der Tatsache des sog. Umschwunges in der Stellung der Kurie dem
pommerellischen Problem gegenüber, dann eine neue Auffassung des Leczyca’er
Waffenstillstandes v. J. 1326, des Verhältnisses der Kreuzritter zum polnischen
Feldzuge gegen Brandenburg, der Gründe, die Lokietek bewogen haben, im
J. 1829 das Culmer Land anzugreifen usw. Viel davon ist ganz richtig und
überzeugend, manches aber scheint nur gewagt zu sein. Dabei muß auch hervor-
gehoben werden, daß der Verfasser abweichend von der ganzen polnischen Lite-
ratur, die Eröffnung der Kriegsoperationen dem König Lokietek und nicht dem
Deutschen Orden zuschreibt. K. Tyszkows ki.
Stanislaw Kętrzyński: Do genezy kanclerstwa koronnego.
(Zur Entstehung des Kronkanzleramts.) — Kwartalnik
Historyczny, Bd. 42 (1928), S. 713—760.
Derselbe: Uwagi o pieczęciach Władysława Łokietka i Kazimierza
Wielkiego. (Bemerkungen zu den Siegeln Władysław Łokieteks
und Kazimierzs des Großen.) — Przegląd Historyzny, Bd. 28
(1929), S. 1—67.
Kętrzyński findet inmitten seiner angestrengten, auf ganz anderen Gebieten
als dem der historischen Hilfswissenschaften liegenden Tätigkeit noch Muße, die
polnische Diplomatik um neue gründliche Studien zu bereichern, die im Verein
mit Arbeiten von Semkowicz, Maleczyfski und wenigen Spezialforschern den
ualitativ beträchtlichen, quantitativ sehr armen Ertrag dieser Disziplin in Polen
rstellen. Diesmal untersucht Ketrzynski den Ursprung des Kronkanzleramts,
über das die Monographien von Kutrzeba und Balzer allgemeine juristische und
historische Nachrichten enthalten. (Kutrzeba: „Urzedy koronne i nadworne w
Polsce. Przewodnik naukowy i literacki 1908, 4 ff.; Balzer: Skarbiec i Archiwum
koronne 1917, passim und Królestwo polskie 1919 passim). Das Kronkanzleramt
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ist aus dem Krakauer Kanzlertum 5 Unter Ludwig von Anjou
beginnt sich der Kanzler von Krakau Jan Radlica „cancellarius regni Poloniae zu
nennen. Der Titel wird erst im 15. Jahrhundert zum ständigen. Schon vorher,
seit 1888, hieß sich der Unterkanzler von Krakau „Subcancellarius aule“ (oder
curie), und seit 1867 „vicecancellarius regni“ (Polonie). Die Kanzler der Teil-
fürstenrümer verschwinden seit dem letztgenannten Jahr aus den Dokumenten, in
denen sie nur sporadisch erscheinen: ihre Amter wurden offenbar des realen Ge-
halts beraubt.
Kętrzyński erörtert die tieferen Ursachen dieser an sich bereits einwand-
frei verbürgten Tatsachen. Er geht mit Recht davon aus, daß die Einigung
Polens unter Lokietek noch keine endgültige war und deshalb in der Verwaltung
die Spuren des Separatismus noch weiterbestehen mußten. Wir würden heute mit
juridischer Terminologie sagen: aus dem Staatenbund gleichberechtigter Staaten,
unter denen faktisch oder rechtlich ein Fürst als primus inter pares den Vorrang
hatte, wurde unter Lokietek ein Bundesstaat, dessen Zentralgewalt bei dem König
in ähnlicher Weise lag, wie im neuen Deutschen Reich die kaiserliche Autorität
beim König von Preußen. Der dominierende Staat des Bundesstaates aber — und
dieser Staat drückte auf die kleineren Genossen, wie die masovischen Herzogrümer,
noch stärker als Preußen etwa auf Bayern —, das wieder zum Königreich ge-
wordene „Polen“ war vorläufig eine Realunion seiner noch nicht zum Einheits-
staat verschmolzenen Teilgebiete. Deshalb behielten zunächst die acht Kanzler der
„dzielnice“, von Krakau, Großpolen, Sieradz, Łęczyca, Kujawien, Pommerellen,
Dobrzyn und Reußen, sowie der Krakauer Unterkanzler gleichzeitig ihre Ämter.
Trotzdem gab es nur eine gemeinsame Kanzlei. Es urkundete mit ihrer Hilfe
jeweils der Kanzler, auf dessen Gebiet die Aufzeichnung einer Urkunde geschah,
wobei die Person des Empfängers, dessen territorialer Gerichtsstand, der Ort des
Urkundengegenstandes keine Rolle spielten. Kurz, nicht das Actum, sondern das
Datum entschied. Eine gewichtige Ausnahme: der Krakauer Unterkanzler trat
überall als Substitut des betreffenden Kanzlers eines Teilgebietes auf. Warum?
Die Antwort vermag Kętrzyński nicht mit absoluter Sicherheit zu erteilen, indessen
scheint mir seine Hypothese, daß der Krakauer Unterkanzler als Vorstand der ge-
meinsamen Kanzlei zu dieser allumfassenden Kompetenz gelangt sei, zuzutreffen.
Der Aufstieg des Krakauer Kanzlers ist zunächst in der Bedeutung Krakaus
als des einstigen Sitzes der Großherzöge und nunmehr der Könige, dann in dem
Ansehen der Träger einer an sich schon hochgeachteten Würde ünder. Man
muß nur an Zbigniew, den langjährigen Krakauer Kanzler und mächtigen Vor-
kämpfer der Anjous, denken. Dazu kam noch die aus den mangelhaften Itineraren
Lokieteks und Kazimierz zwar nicht in allen Einzelheiten, doch genugsam be-
zeugte Tatsache, daß die Könige den weitaus größten Teil ihrer Regierung auf
Krakauer Territorium verbrachten, mithin kraft des Territorial-Datar- Prinzips der
SC Kanzler auch die meisten Urkunden ausstellte.
Kanzlei unter zwei Vorständen, dem Kronkanzler und dem Unterkanzler bestand.
Dem Krakauer, später Kronunterkanzler, drohte jedoch die Gefahr einer
erneuten Rangsverminderung. Unter Kazimierz dem Großen verliert er lan
seine Position an die Teilkanzler, zumal Großpolens. Dabei scheinen persönli
Momente den Ausschlag gegeben zu haben. Ein neuer Umschwung vollzog sich,
als 1367 Jan von Czarnköw, der berühmte Chronist, zum Unterkanzler ernannt
wurde. Nunmehr ist die Zeit der Teilgebiets-Kanzler endgültig vorbei. Ja, noch
mehr: der Vorgesetzte Jans, der Krakauer Kanzler, muß den Rivalen als Mit-
Datar dulden. Entgegen dem althergebrachten Usus, nur einen Urkundenaus-
fertiger zu nennen. Und Wire nicht der Unterkanzler gestürzt worden: die Ver-
schmelzung des Unterkanzleramts mit dem Krakauer Kanzlertum zum Kron-
kanzleramt hätte nicht auf sich warten lassen. So fand die Entwicklung ihren
Abschluß darin, daß nach dem Verschwinden der Teilkanzler eine einheitliche
KetrzyAskis die vorhandenen Dokumente erschöpfend verwertende Arbeit ist in
doppelter Hinsicht zu rühmen: wegen ihrer umsichtig erzielten Ergebnisse und
um der Zurückhaltung willen, mit der Hypothesen von Tatsachen getrennt
werden. Nur zu oft verleitet in der Diplomat die Vermutung dazu, sie als Ge-
wißheit zu bezeichnen. Einen Vorbehalt können vir indessen nicht unterdrücken:
500
Kętrzyński hat cs unterlassen, die Entwicklung in Deutschland zu verfolgen. Ich
kann hier nicht auf Einzelheiten hindeuten. Allein es sei gesagt, daß die Umwand-
lung einer einheitlichen Kanzlei mit nach territorialer Kompetenz getrennten Ober-
äuptern in der Praxis des Kaiserlichen bezw. Königlichen Hofes nicht nur eine
Parallele, sondern vielleicht sogar eine Erklärung findet. Auch in deutschen
Landesfürstentümern, die durch Teilung in Sondergebiete zerfielen und später neu
vereinigt wurden, finden wir interessante Analogien.
Die sphragistische Abhandlung Ketrzyüskis befolgt dagegen mit Erfolg eine
vergleichende Methode, um über den Ursprung der Majestätssiegeln Lokieteks und
Kazimierz des Großen Klarheit zu gewinnen. Nach einleitender Besprechung der
sehr primitiven Herzogssiegeln Lokieteks vor der Krönung, wendet sich der Autor
dem Siegel des so kurz herrschenden Przemysiaw zu. Dessen Siegel ist, so meint
Ketrzyfiski, von einem polnischen oder in Polen lebenden fremden Künstler nach
einem gerade rasch zur Hand befindlichen Muster, nämlich ungarischen Diplomen
des 18. Jahrhunderts, verfertigt worden. Es fiel recht schön aus. An dieses Vor-
bild knüpfte Wladyslaw, in allem die Tradition Przemystaws aufgreifend, an.
Kazimierz des Großen Siegel aber ist eine verschönte Erneuerung des von Lokietek
benutzten Typs, der über die Arp4den auf französische Muster zurückgeht. Vom
politisch-historischen Standpunkt aus ist als wichtiges Ergebnis der Studie
Ketrzyhskis die neuerliche Bekräftigung für Lokieteks „Königsgedanken“ zu
nennen. Vielleicht führen uns künftige Forschungen noch weiter und birgt sich
hinter der Verwendung eines ungarischen Siegeltyps mehr als bloßer Zufall.
Kunstgeschichtlich müssen wir die hohe 3 r Arbeit betonen, die den
Inischen Siegelstechern alle Ehre macht. Es handelt sich um ausgesprochene
orträtsiegel, die den Emblemen, selbst dem Thron, nur sekundäre Rolle zu-
weisen. Otto Forst- Battaglia.
Polnische Reformationsgeschichte.
Stanisław Bodniak: -Hieronim Baliński, nieznany polemista
katolicki ze schyłku XVI wieku. (Hieronymus Baliński, ein un-
bekannter katholischer Polemist aus dem Ende des 16. Jahr-
hunderts.) Reformacja w Polsce, Bd. 5 (1928), S. 104—114.
Wiodzimierz Budka: Faust Socyn w Krakowie. (Faustus
Socinius in Krakau.) Ibid., S. 120—123.
Edmund Bursche: O unitaryzmie wogóle i o polskim w
szczególności. (Über den Unitarianismus im allgemeinen und
den polnischen im besonderen.) Ibid., S. 129—157.
Kazimierz Kolbuszewski: Przegląd prac z zakresu dziejów
reformacji w Polsce. (Überschau der Arbeiten auf dem Gebiet
der 5 Reformationsgeschichte.) Ibid., S. 490—506.
Stanislaw Kot: A. Frycza Modrzewskiego list do kröla Zyg-
munta un rzy wręczeniu dzieła o Poprawie Rzltej. (A.
Frycz Modrzewskis Brief an Zygmunt August, geschrieben bei
der Überreichung des Werks „Von Verbesserung der Republik“.)
Ibid., XX, S. 115— 119.
Stanislaw Ptaszycki: Konfederacja Warszawska r. 1573.
(Die Warschauer Konföderation von 1573.) Ibid., S. 90—97.
Józef Siemie ski: Dysydenci w ustawodawstwie. (Die Dissi-
denten in der Gesetzgebung.) Ibid., S. 81—89.
Derselbe: W obronie „dóbr“ Konfederacji 1573 r. (Zur Ver-
teidigung der „Güter“ der Konföderation von 1573.) Ibid.,
S. 98—103.
Aus der Übersicht Kolbuszewskis läßt sich ein Bild über die qualitativ sehr
hoch stehende polnische Forschung zur Reformationsgeschichte gewinnen, die
501
quantitativ freilich mit den üblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen har.
Diese Jb. haben mit Wotschkes Arbeiten sehr wertvolle und von der polnischen
Kritik anerkannte Beiträge geliefert. An erster Stelle ist allerdings die hier
besprochene Fachzeitschrift „Reformacja w Polsce“ zu nennen. (Sonst nur noch
verstreute Artikel in Zeitschriften wie dem Pamietnik und dem Ruch Literacki,
in den Thorner Zapiski, im Przeglad Powszechny, in den häufigen Festschriften,
wie der zu Ehren Brückners [die auch in den Jb. angezeigt wurde].)
Der neueste Jahrgang der Reformacja w Polsce schließt mit einem sehr ın-
haltsreichen Heft, aus dem hier die einzelnen Beiträge kurz verzeichnet seien.
Bodniaks Studie gilt dem durch geistige und Herzenseigenschaften hervorragenden
Konvertiten Hieronim Balifski. Einer protestantischen Familie entsprossen, deren
Glieder in der Verwaltung der Bergwerke von Wieliczka tätig waren, erwarb sich
der Jüngling an deutschen Hochschulen und auf der Reise ın Italien gründliche
Bildung. Er bezeigte sie in den polemischen Schriften, mit denen er sih nach
seiner Rückkehr ins polnische Vaterland und zur katholischen Kirche, gegen die
Dissidenten wandte. Baliński bewahrt eine für jene rauhen Zeiten seltene Mägi-
gung im Ton. Suaviter in modo, fortiter in re. Besonders den Socinianern und
den sonstigen Gegnern des Dogmas von der E trat er entgegen. In-
haltlich überragen die Schriften Balinskis nirgends den Durchschnitt. Er starb
nach 1600, etwa 60 Jahre alt. In der sozialen Hierarchie hat er es nie über die
Würde des „Wojski“ gebracht.
Budka berichtet über den Aufenthalt von Socinius in Krakau (1579—1588
und 1587—1598). Während bis vor kurzem die Daten des Krakauer Itinerars
bezweifelt waren, kann Budka sogar die beiden Wohnungen des italienischen
Reformators feststellen. Bursches ungemein lehrreiche Ausführungen nehmen von
dem Werk Morse Wilburs „Our Unitarian Heritage“ (Boston 1925) den Ausgang
und gibt nicht mehr und nicht weniger als eine kurze Geistesgeschichte des Uni-
tarianismus, zumal in seinen polnischen Abschattungen. Die Tendenz der Be-
trachtung weise bleibt den Antitrinitariern als Vertretern des Toleranzgedankens,
stets freundlich. Die Krakauer Jagellonische Bibliothek bewahrt ein Dedikations-
exemplar des berühmten Werkes „De emendanda Republica“ von Frycz-
Modrzewski auf, in dem sich eine eigenhändige Widmung des Autors an König
Zygmunt I. von Polen findet. Dem darin enthaltenen Wunsch nach einem aus-
kömmlichen Beneficium, das dem Verfasser sorgenfreie Studien und Forschungen
gestattet hätte, ist der Herrscher nur E und in geringem Maße nachgekommen.
Die Bitte stammt aus dem Jahre 1551; einen Monat nach der Publikation des
Buches ward sie vorgebracht. 1552 werden 100 Zloty jährlicher Pension Frycz aus
dem Erträgnis von Wieliczka angewiesen, die 1555 ein königlicher Gnadenakt
verdoppelt. Damit war ein angenehmes Gelchrtenleben in Krakau, dem Sitz der
geistigen Bewegung, unmöglich. Frycz zog sich, enttäuscht und verbittert, nach
Wolborz zurück, wo ihn der Bischof von Kujawien, Drohojowski, mit der Vogtei
beschenkte. Dort, von der Bibliothek und dem Verkehr mit der Welt abge-
schieden, wandte sich Frycz notwendigerweise vom Staatsrecht und der Politik ab,
und der Theologie zu, die keines so ausgedehnten gelehrten Apparates bedurfte.
Siemienski knüpft an den Aufsatz von Edmund Bursche über die juristische
und historische Entwicklung des Begriffs „Dissidenten“ („Z dziejów nazwy
dysydenci“, Przeglad Historyczny 26 (1926), 22 ff.) an. Bursche hatte folgende
Phasen festgestellt: in der Warschauer Konföderation von 1578 bedeutet „dissi-
dentes de religione“ die Gesamtheit der Staatsbürger, die eben über religiöse Dinge
nicht mehr einer Meinung sind. Unter Bathory sind Dissidenten die vom Staat
tolerierten nichtkatholischen Christen. Seit 1588 und zumal seit 1682 versteht
man darunter nur mehr die Protestanten. Während der Regierungszeit
Wladyslaws IV. werden die der „Zgoda Sandomierska“ von 1570 nicht beige-
tretenen Protestanten, also zunächst die Arianer und ihre Absplitterungen von
den Dissidenten, ebenfalls unterschieden.
Gegen diese Ausführungen hat Siemienski zwar keine grundsätzlichen, doch
mehrere ins Detail gehende Einwendungen. Zunächst sind, so meint Siemiehski,
im Akt von 1573 bereits die Pravoslaven nicht unter dem Namen der Dissidenten
einbegriffen worden. Die „Dissidenz“ bezieht sich nur auf die westliche Kirche.
502
Ferner seien 1648 die der Zgoda Sandomierska nicht beigetretenen Arianer zu den
Dissidenten noch weiter gerechnet worden.
Die zweite Arbeit Siemienskis polemisiert gegen Sobieskis Aufsatz ,,A nie
o wiarę“ (Reformacja Polska 5 (1928), 60 ff.). Der Autor hält daran fest, daß
in der umstrittenen Klausel der Konföderation von 1578 hinter „in spiritualibus“
uam in saecularibus“ „bonis“ zu ergänzen sei und nicht „rebus“, wie Siemiehskis
egner meinte. Ptaszycki aber wendet sich wieder der Ansicht Sobieskis zu und
er führt eine Reihe, meiner Ansicht nach überzeugende, sprachliche Argumente an.
Im Aufsatz Ptaszyckis ist noch der Hinweis auf die außer dem jüngst wiederauf-
gefundenen Original als sogenannte „Oblaten“ in den Grodbüchern vorhandenen
Kopien der Warschauer Konféderationsakte von 1578 bemerkenswert.
Otto Forst- Battaglia.
Bud ka, Włodzimierz: Bibljoteka Decjuszöw. — Silva rerum
1928. S. 110—126.
Der als Historiker bekannte Justus Ludwig Decius (Dietz), geb. 1485 zu
Weißenburg im Elsaß zählte einige zwanzig fire als er bei Jan Boner in
Krakau in Dienste trat. Er ist dann in Krakau zu einflußreichen Stellungen
und beträchtlichem Vermögen gelangt, wodurch er in den Stand gesetzt wurde,
sih eine seinen wissenschaftlichen Neigungen entsprechende Bibliothek an-
zulegen, die späterhin noch von seinen Nachkommen vermehrt wurde. Alek-
sander Hirszberg, der Decius 1874 in einer Monographie behandelt hat („O
zyciu i pismach J. L. Decyusza“) wußte um seine Bibliothek aus
einem Epigramm Andrzej Trzecieskis. Prafnik hat dann im Rocznik
Krakowski VII in seiner Arbeit über die Boners das Inventar dieser
Bibliothek aufgewiesen und kurz besprochen. Budka gibt es hier auf Grund
der drei erhaltenen Niederschriften von a) 1580 und b) und c) 1590 mit einer
eingehenden Besprechung sowohl der Schicksale der Besitzer als auch der Bestände
heraus. Das interessante Verzeichnis weist 400 Positionen auf und ist fach-
männisch nach Formaten gegliedert. Der jüngste der drei erhaltenen Texte gibt
auch die Preise der einzelnen Bücher an, die Budka mit zum Abdruck bringt.
Die Bibliothek, die, wie aus anderen Notizen hervorgeht, noch einige Werke
mehr als das Register enthalten haben muß, setzte sich aus etwa 350 lateinischen,
85 polnischen, ebensoviel deutshen und 11 italienischen, griechischen und
&echischen Werken zusammen, die nicht immer identifizierbar sind. 195 von
ihnen waren theologischen Inhalts. Von den übrigen bezogen sich auf klassische
Literatur und Geschichte 28, auf Literatur überhaupt 37, auf Naturwissenschaft
und Mathematik 82, auf Rechtswissenschaft 18 und einige wenige auf Sprachen,
Kriegswissenschaft, Architektur und Bergbau. Unter den theologischen über-
wogen die protestantischen Genfer Richtung. Im Anfang des 17. Jahrhunderts
ist die Bibliothek zerstreut worden, und heut sind nur Teile eines Sammelbandes
und ein Werk in Krakau nachweisbar. E. Koschmieder.
Stanislaw Görski, Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts.
Senex: Zapomniany dziejopis. (Ein vergessener Geschichts-
schreiber.) Tecza 1928, Nr. 37.
Erinnerung an den Krakauer Domherrn Stanislaw Górski ( 1572), den
Sammler der als „Tomiciana“ bekannten und zum großen Teil publizierten
Materialien, die ihren Namen vom Bischof Tomicki, dem Gönner Görskis, emp-
fingen. Als Sekretär der Königin Bona hatte Görski Einblick in das politische Ge-
triebe seiner Epoche, und Gelegenheit Urkunden, Quellen der verschiedensten Art
z ir polnischen Geschichte zusammenzubringen.
Otto Forst- Battaglia.
Bibljoteka Piotra Wolskiego biskupa płockiego. 1. Kazimierz
Piekarski: Odkrycie ,,Volsciany“ w zbiorach Bibljoteki
Jagiellońskiej. 2. Włodzimierz Budka: Dar biskupa Piotra
503
Wolskiego dla katedry płockiej. — Silva rerum 1928.
S. 127—141.
Der Plocker Beichtvater Wawrzyniec 2 Wszerecza (1538—1614), der
Diugosz’s Vitae episcoporum Plocensium fortgesetzt hat, gibt in
der Charakteristik des Bischofs von Plock Piotr Dunin Wolski an, dieser habe
eine große ee Biichersammlung der Domkirche von Plock, und eine
überaus große Bibliothek der Krakauer Akademie hinterlassen. Während sich
nun im Verzeichnis der der Domkirche in Plock vermachten Werke gefunden
hat (von Budka im 2. Teil dieser Arbeit veröffentlicht), ist ein solches über das
Krakauer Vermächtnis Wolskis unbekannt, ja die Historiker der Jagiellonischen
Bibliothek erwähnen diese Schenkung überhaupt nicht. Piekarski rekonstruiert
hier mit erstaunlichem Scharfsinn den allergrößten Teil dieser „Bibliotheca
Volsciana“ in den Beständen der Jag. Bibliothek in Gestalt der konkreten
Bücher und nicht nur bloßer Nachrichten über sie. Von einer Notiz in einem
Krakauer Ausleihebuch vom Jahre 1681 ausgehend, die aus der „Bibliotheca
Volsciana“ verliehenen Werke aufführt, hat er weitere Nachforschungen für aus-
sichtsreich gehalten und an Hand der Kataloge Vislockis in den Handschriften
und Inkunabeln und älteren Büchern zunächst einige Bände dieser Bibliothek
aufgetrieben, die sich mit Superexlibris oder Besitzvermerk als zur Volsciana ge-
hörig aus wiesen. Ein großer Teil dieser Bände wies Eintragungen eines Datums
an derselben Stelle auf, die offenbar einen Akzessionsvermerk darstellten. Diese
Eintragungen waren von der Hand Wolskis gemacht, und bald fanden sih noch
mehr Bände mit diesen Eintragungen: im ganzen 505. Der zroßen Meh
dieser Bände sind auffällige Besonderheiten im Einband und in der Beschriftung
eigentiimlich, nämlich italienische Art des Pergamentbandes und spanische Art der
Längsbeschriftung des Rückens, die bei Wolski erklärlih sind, da er lange in
Italien und Spanien gelebt hat. Aus der Geschichte der Krakauer Bestände legt
Piekarski weiter dar, daß derartige Bände mit vielleicht nur ganz wenigen Aus-
nahmen von Wolski stammen müssen und eine Nachsuche ergibt, es sich
um nicht weniger als 912 Exemplare handelt, die man mit Sicherheit als zur
„Volsciana“ gehörig ansehen muß. Rechnet man dann noch die Bände dazu, die
aus irgendwelchen Gründen anders behandelt worden waren, so dürfte diese
Bibliothek über 1000 Bände gezählt haben. Gute Bildbeigaben des Superexlibris
und der Bindung und Beschriftung erläutern die interessanten Ausführungen.
Im zweiten Teil dieser interessanten Arbeit verfolgt dann Wt. Budka
uellenmäßig die Geschichte der Kapitel-Bibliothek in Plock bis zur Überweisung
es Vermächtnisses Wolskis, wobei er zum Schluß das Verzeichnis dieser
Schenkung nach den Aufzeichnungen des Kapitels „Acta capituli Plocensis“ ab-
druckt. Es enthält 79 Werke in 180 Bänden. E. Koschmieder.
Jan Sobieski.
Wiadysiaw Bogatyhski: Siedziby króla Jana Sobieskiego (Die
Residenzen König Jan Sobieskis). — Tecza 1929, Nr. 33.
Pierre Jacques Charliat: Dary Ludwika XIV dla Polski (Ge-
schenke Ludwigs XIV. an Polen). — Przeglad Wspölczesny
Bd. 27 (1928), S. 318—324.
Ezesiaw Chowaniec: Z dziejów powiedenskiej ityki
Jana III. Do genezy sprawy wschodniej (Aus der Geschichte von
Jan III. Sobieskis Politik nach der Befreiung Wiens. Zur Vor-
geschichte der orientalischen Frage). — Ibid. Bd, 30 (1929), S. 321
—341
Kazimierz Piwarski: Sprawa pruska za Jana III. Sobieski
1688—1689) (Die preußische Frage unter Jan III. Sobieski 1
bis 1689). — Kwartalnik Historyczny Bd. 43 (1929), S. 152—186.
504
Kazimierz Tymieniecki: W trzechsetna rocznicę urodzin
Jana Sobieskiego (Zum 300. Geburtstag Jan Sobieskis). — Tecza
1929, Nr. 33.
Zum 800. Geburtstag des Befreier: Wiens von den Türken (17. August 1629
—1929) sind in Polen eine große Anzahl von Jubiläumsartikeln erschienen.
Unter den allgemein und populär gehaltenen verdient der Professor Tymienieckis
vorzüglich Beachtung. In diesem von tiefer psychologischer Einsicht in den
Charakter und die daraus hervorgehende tragische WE Sobieskis zeugenden
Pcrtrait ist die Summe dessen gezogen, was wir auf Grund der bisherigen For-
schung vom König und vom Menschen sagen können und wohl auch später sagen
müssen. Damit soll nicht geleugnet werden, daß zur Aufhellung der diplomati-
schen Peripetien einer an Intrigen und Kabalen überreichen Regierung noch sehr
viel Neues den Archiven zu entnehmen ist. Trotz der Biographien Korzons und
Waliszewskis wissen wir z. B. noch sehr wenig über die weitausgreifenden
orientalischen Projekte des Polenkönigs und nicht alle Einzelheiten über seine
dynastische, mit inneren Problemen des Reiches eng verknüpfte Politik.
Chowaniec hat sich angelegen sein lassen, die orientalische Seite von Sobieskis
Geschichte zu beleuchten. Bei Korzon finden wir begreiflicherweise, schon infolge
der zeitlichen Begrenzung fast nichts, bei Konarski nur wenig, bei Waliszewski
nicht viel. Chowaniec hat schon im Kwartalnik Historyczny . 40, 151 ff.)
gezeigt, wie der König bis nach Persien seine Fühler ausstreckte; wie er als
3 einer christlichen Liga nicht nur Polen von der türkischen Gefahr befreien,
sondern überhaubt die Osmanen aus Europa vertreiben wollte. In dem neuen
Aufsatz unterstreicht der Autor noch stärker, daß nur Sobieski es war, der nicht
zuließ, daß der glorreiche Sieg bei Vien eine Episode im Habsburgisch-Türkischen
Kampf um Ungarn blieb. Sollen wir indessen darum den gekrönten Feldherrn
für eine Art überdimensionalen Don Quijote ansehen, der im 17. Jahrhundert die
Ideen der Kreuzzüge zu den seinen machte? Chowaniec beweist, daß dic heroi-
sche Gebärde und die sie auslösende innere Überzeugung des tapferen Christen schr
im Einklang mit der gesunden Politik eines Polenherrschers standen, dem die
Hegemonie in einem von Polen geführten slavischen Osteuropa als Ziel vor-
schwebte. Politischer Rechenfehler Sobieskis war aber, daß er im Kaiser diesen
Plänen ein gefügiges Werkzeug vermutete. Als ob sich der Schirmherr der
Christenheit mit dem Sieg des Kreuzes über den gedemütigten Halbmond über die
Einbuße an Macht des rings von polnisch-slavischem Gebiet umklammerten Habs-
burgers getröstet hätte! Der verunglückte Feldzug von 1686 war offenbar eine
Folge des Irrtums, Wien könne aufrichtig den polnischen Triumph über die Os-
manen herbeisehnen. . . . Die letzten Sätze von Chowaniecs bedeutendem Essay
rühren an die Wurzel des hinter der Episode Sobieski sich bergenden größeren
historischen Problems: Polens und Habsburgs gemeinsamer Kampf gegen den
Islam war nur eine Vorstufe der späteren russisch-österreichischen Kooperation,
die ebenfalls mit dem Konflikt beider Verbündeter und im weiteren Verlauf mit
ihrer beider Untergang enden mußte. Es handelte sih um die Rivalität der
deutschen und der slavischen Welt, sich die Herrschaft über den Landweg in den
Nahen und darüber hinaus in den Fernen Osten zu sichern. Für die For-
schungen von Chowaniec wäre es, wie ich schon einmal betonte, unbedingt nötig,
daß sie auf orientalische Originalquellen zurückgreifen und sich nicht mit polni-
schen, Wiener und allenfalls Pariser Archivalien begnügen. Im übrigen sind sie
eine wirkliche Bereicherung der polnischen und europäischen Geschichte.
‚ Piwarski lenkt die Aufmerksamkeit auf eine andere Frage der Sobieskischen
Politik. Während der König im Osten beschäftigt war, konnte er naturgemäß den
reußischen Dingen keine gebührende Sorgfalt widmen. Der brandenburgische
urfürst hatte bis etwa 1684 mit dem polnischen Hofe gute Beziehungen be-
wahrt, was die Hohenzollern nicht hinderte, zugleich ihre früher und später be-
folgte Politik der direkten Verständigung mit oppositionellen Magnaten fortzu-
setzen. Nach der mißglückten Expedition in die Moldau von 1686 überwarf sich
Sobieski mit dem Hause Habsburg und er kehrte zu den französischen Freunden
seiner früheren Jahre zurück. Dagegen wandte sich der große Kurfürst, bisher
französischer Klient, dem kaiserlihen Lager zu. Ein Familienstreit verschärfte
33 NF 6 505
die Spannung zwischen Polen und Brandenburg. Jan III. wollte die reiche Erbin
des Hauses Radziwill mit seinem Sohne Jakdb vermählen, dem dadurch den Weg
zum Thron bahnen. Friedrich Wilhelm dagegen suchte die Prinzessin für seinen
Sohn und auf diese Weise den Hohenzollern die Anwartschaft auf die polnische
Krone zu gewinnen. Die Heiratsangelegenheit fand einen unerwarteten Ausgang.
Louise Charlotte Radziwiłł vermählte sich erst mit dem brandenburgischen Prinzen
und nach dessen frühem Tode mit dem Pfalzgrafen von Neuburg, dem öster-
reichischen Kandidaten auf den polnischen Thron. Sobieski, auf das tiefste in
seinen Familiengefühlen beleidigt und gegen den Kaiser erbittert, neigte dazu, den
französischen Einfliisterungen zu gehorchen und sich aktiv an dem Krieg zu be-
teiligen, der im Jahre 1688 von einer habsburgischen Koalition, zu der auch
Brandenburg zählte, gegen Frankreich geführt wurde.
Man dachte an eine Diversion in Ostpreußen, Gerade damals war der
Große Kurfürst gestorben. Sein Nachfolger sollte die Huldigung empfangen, stand
aber vorläufig am Rhein, wo er wider die französischen Heere kämpfte. Die
Lage war bedenklich genug und die Hohenzollern vermochten der Gefahr eincs
polnischen Angriffs bloß dadurch zu begegnen, daß sie ihre Beziehungen zu den
Sobieski feindlichen Magnaten spielen ließen. Die Sapieha waren dabei dic wert-
vollsten Bundesgenossen. Nach der Art der polnischen Obligarchen sahen sie nichts
außer dem ihrem Hause drohenden Gespenst einer Erhöhung der Sobieskis. Jaköb,
der königliche Prinz, als Gatte der Radziwill: das war nun abgewendet. Indessen
noch konnte er Herzog eines revindizierten Preußen werden und dieses als Erb-
fürstentum nach dem Tode des Vaters mit der polnischen Königswürde ver-
einigen. Konsequenz: die leidenschaftliche Opposition der Sapicha und ihrer
Fraktion auf dem im Dezember 1686 zusammengetretenen Reichstag. Sobieski
wurde so in der Freiheit seiner Entschliisse gelähmt. Die offeabaren Kriegs-
pläne erfuhren erst eine Verzögerung, dann ließ man sie fallen. Entscheidend
war hierfür, daß nicht nur mit einer Revolte der litauischen Magnaten zu rechnen
war, sondern auch mit der noch fortdauernden Türkennot. Daß hier die Fran-
zosen nicht völlige Abhilfe schaffen konnten, gab den Ausschlag. Mitgewirkt
dürfte auch die rein dynastische Motive berücksichtigende Königin E en die von
den französischen Agenten keine positiven Versprechungen einer standesgemäßen
Verheiratung ihres Sohnes zu Geen vermochte, während von Wien aus dem
Prinzen Jakeb die Hand einer Pfalzgräfin von Neuburg, der Schwester der Kaiscrin
und des glücklicheren Rivalen um die Hand Louise Radziwills verheißen wurde.
Sobieski und seine Gattin scheuten davor zurück, sich von einem vereinsamten
Frankreich als Sturmbock brauchen zu lassen. Im Herbst 1689 war die preußische
Diversion von der Tagesordnung verschwunden. Bald hernach wandte sich der
polnische Hof wieder dem Hause Habsburg zu, damit besserten sich automatisch
die brandenburgisch-polnischen Beziehungen. Die Huldigung in Ostpreußen
geschah am 24. Mai 1690 in Anwesenheit polnischer Kommissäre, wie das der
Wehlauer Vertrag von 1657 vorgesehen hatte.
Piwarski hat die Tatsachen gut geschildert. Seiner Interpretation aber
dürfen wir nicht durchweg beipflichten. Zunächst bleibt bestehen, daß die Idee
einer Diversion nach Ostpreußen ein Bestandteil der diplomatischen Rüstung Frank-
reichs war. Nur während die polnisch-französischen Beziehungen herzlich waren
und solange sich diese Intimität gegen die Habsburgische Koalition richtete, wurde
der Gedanke ernstlih erwogen, Er verschwand sofort, als die Voraussetzungen
weggefallen waren. Von einem elementaren Verlangen der Szlachta nach Krieg
gegen Berlin kann keine Rede sein. Moderne Vorstellungen mischen sich beinahe
stets in die Abhandlungen deutscher oder polnischer Historiker, wenn sie auf die
Geschichte der preußisch-brandenburgisch-polnishen Relationen zu sprechen
kommen. Andererseits hat auch die unbezweifelbare Sympathie der ostpreußischen
Herren für eine eventuelle polnische Intervention keinen anderen als ständischen
Charakter. Die Sehnsucht nach polnischer Herrschaft war Haß gegen den sich
breitmachenden, die adelige Omnipotenz bedrohenden Absolutismus der Hohen-
zollern; die Neigung, mit den bösen Brandenburgern abzurechnen und nach Ost-
preußen zu marschieren, stellte sich als ein Gemisch von Kliententreue zu den
Sobieski, Wirkung französischer Umtriebe dar, während ebensoviel und ebensogute
(«der schlechte) Polen mit den Radziwiłł und Sapieha zu Brandenburg hielten.
506
Von den kleineren Beiträgen zur Geschichte der Sobieski-Zeit behandelt der
Charliats die Gaben an Sobieskis Familie, die sich im ,,Recueil des présents faits
par le Roy“ von 1721 finden, den die Archives du Ministère des Affaires
Etrangères zu Paris aufbewahren. Die Namen mehrerer Geschenkempfänger aus
dem polnischen Hochadel sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt, vielleicht vom
Herausgeber des Textes schlecht gelesen, atynskis Skizze über die Schlösser
Oleski, Podhorce, Zioczöw, Pomorzany, Wilanów, ist mit wunderschönen Repro-
duktionen versehen. Otto Forst- Battaglia.
Kościuszko.
Jan Pietrzycki: W kościuszkowskiej Solurze. (Im Solothurn
Kościuszkos.) — Tęcza 1929, Nr. 37.
Adam M. Skatkowski: Listy Kościuszki ze spuścizny po gen.
Paszkowskim. (Briefe Kościuszko aus dem Nachlaß General
Paszkowskis.) — Kwartalnik Historyczny Bd. 43 (1929),
S. 34—43.
Pietrzycki publiziert in polnischer Obersetzung zeitgenössische Texte über das
Begräbnis Kościuskos in Solothurn. Skalkowski veröffentlicht aus dem Nachlaß
General Paszkowskis, der Koßciuszkos Freund und erster Biograph war, Briefe, die
den Jahren 1802—1817 entstammen. Auch in diesem Artikel finder sich am Schluß
eine Relation über KoSciuszkos Ende, und zwar cin Bericht über die Todeskrank-
heit und das Hinscheiden des Naczelnik, aus der Feder des schweizer Obersten
Franz Grimm. Otto Forst- Battaglia.
Koiciuszko- Manuskripte in der Bibliothek zu Kórnik.
Adam M. Skalkows ki: Pamiatki Kosciuszkowskie w Kórniku.
(Erinnerungen an Kościuszko in Kórnik.) Tęcza 1929, Nr. 45.
Eines der Manuskripte, die „Beschreibung der Campagne von 1792“, ist
längst Bu 1917) bekannt, Von einem zweiten, einem Schulheft aus
Kosciuszkos Lehrzeit bei den Piaristen in Lubieszöw (1755/60), sowie von den
beiden herzlich unbedeutenden Aufzeichnungen aus der Warschauer Kadetten-
schule, die Kościuszko als Gast des Königsschlosses erweisen, geschieht hier erste
Nachricht. Im Text ein sinnstörender Druckfehler: Shuillier statt Lhuillier.
Otto Forst-Battaglia.
Bronisław Pawłowski: Poczatki służby ks. Józefa Poniatows-
kiego w wojsku polskiem. (Die Anfinge von Fürst Józef
Poniatowskis polnishem Heeresdienst.) — Kwartalnik His-
toryczny Bd. 42 (1928), S. 532—579.
Skalkowski hat vor 16 Jahren eine Reihe von Briefen und Akten in seiner
Biographie Poniatowskis publiziert, die bereits damals zeigten, wie sehr sich der
Fürst bemühte, seiner undankbaren Aufgabe als Befehlshaber und später als Ober-
befehlshaber der gegen Rußland bestimmten polnischen Armee gerecht zu werden.
Pawlowskis Studie, die im wesentlichen auf den Berichten des Fürsten an die Kriegs-
kommission und deren Befehlen beruht, welche Materialien sich im Warschauer
Archiwum Główne Akt Dawnych befinden, unterrichtet uns noch eingehender über
die umsichtige und nur durch die widrigen Umstände zum Scheitern verdammte
Tätigkeit des angeblich nur seinem Vergnügen lebenden schönen „Pepi“. Der
traurige Ausgang der Kampagne von 1792 wäre auch von keinem Napoleon zu
verhindern gewesen. Otto Forst-Battaglia.
Polnische Burschenschaften.
Z. F.: Korporacje polskie (Polnische Burschenschaften). — Tecza 1929,
Nr. 36.
Kurze Geschichte der polnischen Burschenschaften, deren älteste 1828 in
Dorpat begriindet wurde (die „Polonia“, heute in Wilna). Jetzt gibt es ihrer 90
mit 8500 Mitgliedern und ebensoviel Alten Herren. Otto Forst-Battaglia.
507
Roman Pollak: Kazimierz Machnicki. — Kwartalnik Historyczny
Bd. 42 (1928), S. 580—587.
Aus dem Posener Archiv teilt Prof. Pollak Dokumente mit, die tiber das Los
des von Mickiewicz und Żeromski verherrlichten polnischen Revolutionirs Machnicki
nach dessen Emigration aus Kongreßpolen berichten, und Angaben Prof. Hahns
in einer früheren Arbeit im Przeglad Powszechny (Bd. 17, 841 ff.) berichtigen.
Es zeigt sich, daß Machnicki seit Dezember 1880 in Posen weilte, wo er, in trauriger
finanzieller Lage, den preußischen König um eine Pension bat, auf die er als che-
maliger „südpreußischer“ Justiziarius, allerdings nur moralischen, Anspruch hatte.
Das Ansuchen wurde abgeschlagen und Machnici starb später in Frankreich, wohin
er sich Ende Juli begeben hatte. Otto Forst-Battaglia.
Anna Różycka.
Wiktor Hahn: Anna Różycka. — Przegląd Powszechny Bd. 181
(1929), S. 349—363.
Kurze biographische Skizze des Lebens einer politischen Martyrerin. Tochter
des polnischen Generals Rözycki, war Anna in irgendwelche, nicht näher aufge-
klärte — übrigens wohl aus Wiener Akten festzustellende — Verschwörerpläne
verwickelt, die zur Verhaftung der damals Vierunddreißigjährigen führten. Aus
Krakau nach Wien gebracht, wurde sie endlich Ende 1884 zu vierjähriger Haft
verurteilt, die sie in Theresienstadt verbüßte. Die schwache Gesundheit der zarten
Frau vermochte nicht den Stra n zu widerstehen, denen sie am 5. Mai 1856
erlag. Wenige Tage später traf die kaiserliche Begnadigung ein. Hahn vermutet
ohne Beweis, daß diese Begnadigung mit Absicht bis zum Tod der Unglücklichen
verschoben worden sei. Wer den damaligen österreichischen Amtsgang kennt,
wird diese Vermutung ablehnen. Otto Forst-Battaglia.
Polen in Sibirien. BE
Pawel Hulka-Laskowski: Les Polonais en Sibérie. Pologne
Littéraire 1928, Nr. 25.
Von Janiks „Dzieje Polaków na Syberji“ ausgehend, zeichnet der Autor
dieses Artikels ein erschütterndes Bild des Leidenswegs der Martyrer, die das
Regime der Caren zu Tod und Qual im asiatischen Rußland verdammte.
Otto Forst-Bartagliıa.
Ludwik Finkel: Karola Szajnochy Próba krytyki literackiej w
r. 1839. (Karol Szajnochas Versuch auf dem Gebiet der lite-
rarischen Kritik aus dem Jahre 1839.) — Pamiętnik Literackı
Bd. 25 (1928), S. 586—595. , :
Ein fiktiver Dialog zwischen einem jungen Mädchen und einem nicht minder
jungen Dichter. Der künftige große Historiker zählte zur Zeit der Nieder-
schrift dieses Gesprächs 21 Jahre. Indes der kühle, dem Realismus und den
pseudoklassischen Gesetzen geneigte Verstand, der hier gegen romantischen
Überschwang sich wendet, scheint eher der Protest eines müden Greises.
Otto Forst-Battaglia.
Der Tag des Entstehens des neuen polnischen Staates. =
Józef Siemienski: Dzień odbudowy Rzeczyposp litej. (Der
Tag der Wiedererrichtung der (Polnischen) Republik.) — Prze-
glad Historyczny Bd. 27 (1928), S. 169—184.
iemieński, wie es hier zu erinnern nottut, nicht nur ein hervorragender
Historiker und Jurist, sondern auch eine der leitenden Persönlichkeiten unter den
Männern des polnishen Wiederaufbaus, untersucht die Frage nach dem Geburts-
datum des neuen Polenstaates, die aus rein historischen, aus praktisch-staatsrecht-
lichen und aus politischen Gründen sehr wichtig ist. Er entscheidet sich für den
14. November 1918, als den Tag, an dem Polen ein „Gouvernement régulier“
508
|
ET ee d, mr — os
erhielt, womit — das konzediert er den Vertretern einer anderen Theorie — das
mit Pilsudskis Einmarsch ins ehemalige Königreich am 6. August begonnene Werk
vollendet worden war. Otto Forst-Battaglia.
Jan Malaszewski: Polskie godła państwowe. (Polnische
EE Tecza 1928, Nr. 45.
Kritische Auseinandersetzung mit der in der Tat heraldisch unmöglichen
Form, die das polnische Wa seit 1928 erhalten hat. Der polnische Minister-
rat hat damals einen Adler Wappentier oder E der eine fünfzackige Krone
an Stelle der ursprünglich bei der Erneuerung des Staates gewählten Königs-
krone trägt, während richtigerweise gar keine Krone oder ein Symbol der repu-
blikanischen Staatsform zu wählen war. Otto Forst-Bactaglia.
Polnische Wirtschaftsgeschichte unter Stanislaw August.
Marja Śliwińska: Duchowieństwo a a wloscianska za
Stanislawa Augusta. (Die Geistlichkeit und die Bauernfrage unter
Stanislaw August.) — Przegląd Powszechny Bd. 183 (1929),
S. 138—154.
Verf. will rühmend den hervorragenden Anteil betonen, den katholische
Priester an der Verbesserung des Loses dee Bauern nahmen, um die sich unter
Stanislaw August die aufgeklärten Schichten der Nation bemühten. Krasicki,
Naruszewicz, Bohomolec, Pawel Brzostowski, Wincenty Skrzetuski, Michal
Karpowicz, Popławski, bezeugen durch ihre Schriften und ihre Tätigkeit diese Für-
sorge um die Stiefkinder des polnischen Schicksals. Inwieweit freilich Bischof
Massalski und gar Kołłątaj), Staszic, die vom Priester nur das Kleid trugen (und
auch das nicht immer) hier als Zeugen für die Verdienste des Klerus, als Kämpfer
„für die Lehren Christi“ anzuschen sind, das bleibt mehr als zweifelhaft.
Otto Forst-Battaglia.
Piotr Wawrzyniak.
Roman Fengler: Ostatni kréi polski. (Der letzte polnische
König.) Tecza 1929, Nr. 5.
Unter dem hyperbolishen Titel verbirgt sich eine recht oberflächliche
Silhouette des bedeutenden Organisators der polnischen Wirtschaft, die im Posen-
schen an Stelle der berüchtigten „Polnischen Wirtschaft“ trat, Prälat Wawrzyniak.
Otto Forsc-Battaglia.
Polnisches Wirtschaftsleben des letzten Jahrzehnts.
Roman Rybars ki: Rozwój g czy Polski w latach 1918
bis 1928. (Polens wirtschaftliche Entwicklung in den Jahren
1918—1928.) Tęcza 1928, Nr. 45.
Allgemeine Betrachtungen, die in der Warnung vor Pessimismus und in
der nicht minder nötigen Warnung vor Optimismus (Oberfremdung der Wirt-
schaft und passive Handelsbilanz werden als ungünstige Momente vorangestellt)
gipfeln. Otto Forst-Battaglia.
Leopold Caro: Idea gospodarcza Polski. (Polens wirtschaftliche
Idee.) — Przeglad Powszechny Bd. 180 (1928), S. 13—30,
161—170; Bd. 181 (1929), S. 25—37.
Ahnlich Krzyzanowski spricht sich auch Caro, der bekannte Vorkämpfer des
christlichen Gedankens in der Nationalökonomie, gegen den überspitzten Etatismus
und gegen die forzierte Industrialisierung Polens aus. Otto Forst-Battaglia.
Badecki, Karol: Na inesie „Literatury mieszczańskiej w
Polsce XVII w.“ I. Nagrobki. — Silva rerum 1928. S. 86—90.
Im Archiwum Akt tee hs m. Krakowa befindet sich eine Handschrift aus
der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, die eine Sammlung verschiedenster Verse wie
509
„Fraszki“, Anekdoten, ärztliche Ratschläge, Gelegenheitsreden usw. darstellt, auf-
gezeichnet von Jakob Boczylowicz, dem Verfasser der „Cztery części świata
natury bialoglowskiejf“ (Warsz. 1691). Nach kurzer Charakteristik ihres
Inhalts druckt Badecki eine Reihe von Epitaphien daraus ab, indem er den Be-
weis erbringt, daß sie aus der heut verlorenen, aber aus Notizen Jablonowskis,
Maciejowskis u. a. bekannten Broschüre: „Nagrobki“, Lwów 1626, stammen.
Aus dem Charakter dieser zur Gattung der „literatura mieszczańska“ gehörigen
Epitaphien ist ersichtlich, daß von der Broschüre „Nagrobki“ historishe Ent-
hüllungen über Lemberg kaum zu erwarten sind. E. Koshmieder.
Englische Autoren des Barock in Polen.
Stanisław Helsztyński: Polskie przekłady Miltona i Pope’a.
(Polnische Übersetzungen Miltons und Popes.) — Pamiętnik
Literacki Bd. 25 (1928), S. 300—309, 474—489.
Helsztynski kann in einer bibliographishen Übersicht 15 Übertragungen
Miltons und 60 Popes finden. Hier bespricht er die polnische Nachdichtung des
„Verlorenen Paradieses“ von Przybylski (1791) — mit Einschränkungen aner-
kennend —, Leon Borowskis, eines Lehrers von Mickiewicz, Benedykt Lenartowiczs
und Juljan Niemcewiczs Versuche (von 1819—1827, 1830 und 1820), Konstancy
Piotrowskis von 1850 und die neue Übertragung des ,,Verlorener. Paradiese von
Wladyslaw Bartkiewiecz (1902) — gegen die Helsztyhski Bedenken und den Vor-
wurf willkürlicher Kürzungen und Änderungen erhebt. — Popes polnische Ober-
setzer beginnen mit den Poeten der Poniatowski-Zeit. Unter ihnen hat Woronicz
den ersten Rang. Die Namen von Podoski und Przybylski werden rühmend er-
wähnt. Bykowski („ein talentierter Graphomane“), Chotoniewski, Chometowski,
Kruyszanski folgen. Die Übertragungen von J. Marcinkowski, Kajetan Gorczynski,
Ludwik Kamiński aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts werden wenig be-
achtet. Seither hat sich niemand mehr mit Pope eindringlicher dichterisch beschäftigt.
Otto Forst-Battaglia.
Ludwik Bernacki: Drobiazgi literacki z czasów Stanisława
Augusta (Literarishe Kleinigkeiten aus der Zeit Stanisław
Augusts). — Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 596—610.
Derselbe: Rękopisy w bibljotece Ignacego Krasickiego (Die Hand-
schriften in der Bibliothek Ignacy Krasickis). — Ibid. Bd. 26
(1929), S. 228—232.
Mieczysław Brahmer: „Monachomachja“ a „Orland szalony“
(Die „Monachomachie“ und der „Orlando furioso“). — Ibid.
Bd. 25 (1928), S. 568—570.
Derselbe: „Elegji na śmierć szambelana“ raz jeszcze (Nochmals
die „Elegie auf den Tod des Kammerherren“). — Ruch Literacki
Bd. 3 (1928), S. 285.
Wiktor Brumer: Nieznany wiersz Wojciecha Bogusławskiego
(Ein unbekanntes Gedicht Wojciech Bogustawskis). — Ibid.
Bd. 4 (1929), S.. 126—127.
Aureli Drogoszewski: Czy „Sybilla“ jest echem „Ruin“
Volneya? (Ist die „Sybille ein Echo der „Ruines“ von Volney ?).
— Pamiętnik Literacki Bd. 26 (1929), S. 1—22.
Marja Dunajówna: Nieznana pieśń konfederatów barskich (Ein
unbekanntes Lied der Barer Konföderierten). — Ruch Literacki
Bd. 3 (1928), S. 206—209.
510
Kazimierz Kolbuszewski: Do poezji barskiej (Zur Barer
Dichtung). — Pamietnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 610—616.
Stanistaw Matachowski-Lempicki: Wojciech Bogu-
slawski wolnomularzem (Wojciech Bogustawski Freimaurer?). —
Ruch Literacki Bd. 4 (1929), S. 69—71.
Ludwik Simon: Dwa etaty teatralne Bogustawskiego z lat 1788
i 1784 (Zwei Theaterbudgets von Bogustawski aus den Jahren
1783 und 1784). — Ibid. S. 175—178.
Derselbe: Repertuar teatrów w Polsce za czasów Stanisława
Augusta (Das Theaterrepertoire in Polen unter Stanislaw August).
— Pamietnik Literacki Bd. 26 (1929), S. 242—282.
Jan Urbaäski-Nieczuja: Echa wielkiej rewolucji francuskiej
w bezimiennej poezji polskiej XVIII wieku (Echos der großen
Französischen Revolution in der polnischen Dichtung des
18. Jahrhunderts). — Ibid. Bd. 25 (1928), S. 571—579.
Unter den zahlreichen Beiträgen zur Literatur der „französischen“ Epoche in
der polnischen Literatur kommt dem Aufsatz Simons über das Repertoire der
polnischen Theater unter Stanistaw Augusts wohl die größte Bedeutung zu. Er
ergänzt die so wertvolle Zusammenstellung Bernackis in dessen grundlegendem
Werk „Teatr, dramat i muzyka za Stanisława Augusta (Bd. 2, 191 ff.). Wir
finden da zunächst für das Warschauer Theater Aufzeichnungen über die Balette
von 1781 (2) bis 1794, hernach einiges über Provinztheater (in Wilna, Krakau,
Lublin und Dubno) und Privatbühnen der Magnaten. Simon erörtert weiter die
Frage nach der Autorschaft der anonymen Stücke „Amant doktor“ (verkürzte Be-
arbeitung des Moliéreschen „Amour medicin“), „Podejrzliwi“ (nach Molières
„Sganarelle“), „Sądy u wójta“ (Lokalisierung von Brueys und Palaprats „Avocat
Patelin“) — wobei wir Simon beipflichten, während die Frage nach der Autorschaft
des von Bernacki dem Bischof von Ermland zugeschriebenen „Zygmunt August”
durchaus nicht endgültig zugunsten von Vybicki entschieden wurde.
Mehrere Notizen über den „Vater des polnischen Theaters“, Bogustawski,
unterrichten uns über die finanzielle Basis von dessen Warschauer Dircktions-
führung in den Jahren 1788 und 1784. Die Gagen der Tänzer bewegten sich
zwischen 7 und 25 Dukaten monatlich, die der Schauspieler zwischen 7 und
15 Dukaten. Um diese Zahlen zu würdigen, sei bemerkt, daß in Polen damals das
Existenzminimum in Warschau etwa 10 Dukaten jährlich betrug, ein Lakai im
Jahr 24 Dukaten empfing und eine Equipage 80 Dukaten jährlich kostete.
Malachowski-Lempicki, der beste Kenner des polnischen Freimaurerwesens,
teilt uns Etappen von Bogusiawskis maurerischer Laufbahn mit. Dieser ist zuerst
in Dubno in die Loge zum Ausgezeichneten Schweigen aufgenommen worden, dann
in die Warschauer „Zum Heiligtum der Isis“, wo er zugleich mit Józef Poniatowski
seine Probezeit durchmachte. Offenbar haben dem Theaterdirektor die dort mit
den Spitzen der polnischen Aristokratie angeknüpften brüderlichen Beziehungen
schr viel genützt. Unter der preußischen Herrschaft war er Mitglied der Loge
„Tempel der Weisheit“. Indessen hat er es nie über den dritten Grad eines
Meisters gebracht. Brumer zeigt uns Bogusławski in der Rolle eines mutigen
Patrioten, der unter den Augen der preußischen Provinzialregierung in kaum ver-
hüllter Allegorie den Glauben an die Wiederauferstehung Polens predigte. An-
läßlich der Aufführung einer deutschen Tragödie „Otto von Wittelsbach“ wurden
511
ins Publikum von Bogustawski verfaßte und der Zensur entschlüpfte Verse eines
Gelegenheitsdrucks geschleudert, deren eine Strophe den Helden (und niemand
mochte zweifeln, wen eigentlich) sagen ließ: „Jeszczem nie zgingl na wieki...
Bernacki, unerschöpflich in seinen Materialien, veröffentlicht einen Brief Alber-
trandis an Stanislaw August über verschiedene wissenschaftliche Angelegenheiten,
Verse auf Bohomolec, des letzteren Bitte an den König, auch nach der Auf-
powstane”, offenbar auch eine Anspielung an den Mazurek Dąbrowskiego.
hebung der Jesuiten Leiter der bekannten Gazeta oder der Druckerei zu bleiben,
weiter eine Druckercirechnung aus desselben Bohomolec Druckerei — der Druck
eines Bogens kostete 18—20 Zloty, im Vergleich zur Gegenwart ergibt sich, daß
damals das Existenzminimum in der Hauptstadt dem Preis von 10 Druckbogen
gleichkam, während es z. B. heute in Wien dem Wert von ca, 40 Druckbogen
entspricht. — Hierauf finden wir einen Brief Naruszewiczs an Albertrandi uber
Forschungen im Päpstlihen Archiv zu Rom, drei Karten Trembeckis an den
Kammerherrn Comelli und an einen ungenannten Fürsten, der an eine Spiel-
schuld gemahnt wird, ein Brief desselben Trembecki an Engestrém, den schwedi-
schen Gesandten in Warschau, und Gesuche Wegierskis an Stanislaw August um
den Stanislaus-Orden, die nicht beantwortet wurden.
Bernacki publiziert einen Katalog der Handschriften des Bischofs von Erm-
land und Brahmer stellt neuerlich fest, daß für Krasickis „Monachomachie“ der
„Orlando furioso“ in gewissem Maße Quelle und Anreger gewesen ist. Veit
weniger zweifelsfrei scheint mir das Ergebnis von Drogoszewskis Untersuchung
über die „Sybille“ Woroniczs. Gegenüber Cwik, der in diesem Lehrgedicht des
Polen eine Transponierung der Volneyschen „Ruines“ erblickte, behauptet Dro-
goszewski, es sei überhaupt kein Einfluß des einen auf den anderen zu erweisen,
ja. die verschiedene Geistesart des französischen Aufklärers und des frommen
Polen schlössen eine literarische Interaktion aus. Mag auch Cwick in seiner Arbeit
zu weit gegangen sein: dem, der nicht an Einzelheiten haftet, bleibt die Gemein-
samkeit der beiden Poeme fühlbar. Ihre Musique intérieure ist dieselbe. Und
die Differenz der Weltanschauungen bereitet dem Kenner der polnischen Auf-
klärung keine Überraschung. Stets sordiniert sich deistische oder pantheistische
Schwärmerei zu mildern, wenn nicht katholischen, so doch den Katholiken nicht
störenden Tönen, sobald einmal ein französisches Thema, eine französische Idee
polnischen Boden betritt. Schließlich sei der allgemeinen Regel nicht vergessen, daß
jedes Produkt der stanislawitischen Literatur irgendein französisches Vorbild hat.
Für das Theater ist das genugsam gezeigt worden. Eben erst nennt Brahmer
einige Vorlagen der geistreihen „Elegie auf den Tod des Kammerherrn“ in
Niemcewiczs „Powrót posta’ (deren unmittelbares Muster freilich noch zu finden
wäre).
Original, wenn auch nicht originell, ist in jener Epoche nur die „Barer“
Poesie. Kolbuszewski, der Herausgeber einer, in der Bibljoteka Narodowa er-
schienenen Anthologie dieser frommen Kampfdichtungen, und Marja Dunajöwna,
publizieren einige ungedruckte Proben der zwar glaubenseifrigen und patriotischen,
doch niche gerade künstlerisch begeisternden Muse. Wesentlich politischer Natur ist
ferner das Interesse, das wir den Bruchstücken entgegenbringen, an denen
Urbanski-Nieczuja die Ausstrahlungen der französischen Revolutionsidee bis nach
Polen verfolgt. Octo Forst- Battaglia.
Jézef Korzeniowski.
Józef Kor pala: Józef Korzeniowski jako professor literatury w
Krzemiehcu. (Jozef Korzeniowski als Literaturprofessor in
Krzemieniec.) — Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 616—630.
Korzeniowski kam an das in der polnischen Literaturgeschichte berühmte
Lyzeum als Nachfolger Felihskis (1828). Adam Czartoryski hatte bei der Berufung
512
den Ausschlag gegeben. Er hat sich nach übereinstimmenden Zeugnissen als Lehrer
sehr gut bewährt, besser als seine Vorgänger, deren jeder einzelne auf anderem
Gebiete einen ausgezeichneten Namen besaßen (Osihski, Felihski, Euzebjusz
Słowacki, der Vater des Dichters). Korpala veröffentlicht weiter den Text eines
Fragments von Korzeniowskis Vorlesungen „über das Wesen der Poesie“. Es zeigt,
wie sehr die romantischen Anschauungen damals schon bei den Universitaires den
Boden vorfanden. Otto Forst-Battaglia.
V. en obaev: Krasinskij i Mickevié. — Slavia 7, 3 (1928), S. 585
Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, wenn alle Wechsel-
wirkungen zwischen den beiden Dichtern erwähnt werden sollten, es sollen daher
nur diejenigen genannt werden, die zweifellos feststehen. C. zieht einen Ver-
gleich zwischen dem geistigen Zuschnitt der Universitäten Wilna und Warschau.
Die erstere war traditionsloser in bezug auf den ausgehenden Klassizismus,
Warschau hing daran fest und war daher kein Boden für das Aufkommen der
Romantik. C. führt zum Beweis dafür einiges über den ausgesprochen moralisch-
religiösen Grundton im Geschichts- und Philosophieunterricht der Warschauer
Universität an. Krasihski, der dort seine Studienzeit absolviert, konnte für den
Geist von Wilna keine allzugroße Sympathie haben. Die Jugend beider Städte
kam aber in persönliche Berührung, und im Elternhause Krasihskis fanden ge-
sellige Zusammenkünfte statt, wo in ziemlich vorurteilsloser Weise auch neue
Ideen beurteilt wurden. Der Hauptvermittler zwischen Krasiński und Mickiewicz
is: der begeisterte Vertreter der Romantik und Freund Mickiewicz’ E. Odyniec
gewesen; er wird in Krasihski das Interesse für Mickiewicz’ Werke erweckt haben.
Den stärksten Eindruk wird ihm „Konrad Wallenrod“ gemacht haben; als
Krasiński zu schreiben anfing, genoß das Wallenrodproblem die größte Popularität.
Es blieb aber immer der Einfluß des Vaters und der älteren Richtung bestehen,
und man darf den Einfluß von Mickiewicz auf Krasiński nicht über-
@rieben hoch einschätzen, Krasihski war aber einer der wenigen, die die Be-
deutung des Pan Tadeusz sogleich erkannten. Die aus der Towianskischen Periode
stammenden Dichtungen von Miciewicz lehnte er dagegen ab, durch die väter-
liche Erziehung an klare und nüchterne Denkart gewöhnt. C. verfolgt die An-
klänge an den Wallenrod, welche sich in den Jugendwerken Krasinskis finden.
Daneben machen sich Byronsche Einflüsse bemerkbar, doch auch als diese an
Intensität zunehmen, vergißt Krasinski nicht den „litauischen“ Dichter. C. erinnert
an seine Rezension der französischen Wallenrod-Obersetzung in der Oktober-
nummer der „Bibliothèque Universelle“ vom Jahre 1880, in der Krasiński als
Mickiewicz’ größtes Talent seine Gabe ansieht, die alltäglichsten Dinge von einem
neuen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Er wird aber vor dem persönlichen Be-
kanntwerden mit M. kaum alle seine Stimmungen verstanden haben. Auf der mit
Mickiewicz unternommenen Reise durch die Schweiz werden Krasiński die ersten
Anregungen zum „Iridion“ gekommen sein. C. vervollständigt die von T. Pini
in „Studyum nad genezą Iridiona“ .. . (Lwów 1899) niedergelegten Beobachtungen
über die Obereinstimmungen zwischen Wallenrod und Iridion.
Emmy Haertel.
Stanislaw HelsztyAski: Anglofil Koźmian. (Koźmian, der
Anglophile.) — Wiadomości Literackie 1929, Nr. 27.
Einer aus dem Literaturgeschlecht der Koźmian, Stanislaw Egbert (1811—1885)
ist 1838 als Emigrant nach England gekommen, wie er im Kontakt mit der Gesell-
schaft — durch Lord Dudley Stuart, dessen Sckretär er wurde — und mit roman-
tischen Dichtern wie Moore, Campbell — zwölf Jahre verbrachte. Seit 1851 haust
513
der ehemalige Revolutionär als friedlicher Landedelmann auf einem kleinen Gut
bei Posen. Er setzt dort seine Arbeit an der Übersetzung Shakespeares fort, die
noch in London begonnen hatte. Zwei Bände davon sind 1866 und 1800 erschienen.
Otto Forst-Battaglia.
Pollak, Roman: Trzeci autograf Hymnu o zachodzie słońca“
Stowackiego. — Silva rerum 1928. S. 90—93.
Zu den beiden bisher bekannten Autographen dieses Hymnus tritt jetzt
ein drittes aus einer Autographenmappe der Bibljoteka Körnicka (Rps. 733),
die von Tytus Działyński als „Manuskrypta — niedrukowane — własnoręczne“
betitelt ist. Das hier abgedruckte Autograph, das die Jahreszahl 1886 trägt und
offenbar vor 1839 in den Besitz DziatyAski’s gelangt ist, steht der Fassung des
ersten Abdrucks im Posener „Tygodnik literacki (6. V. 1880) sehr nahe.
E. Koschmieder.
Antonio Stefanini: Pessimismo e ottimismo Fredriano. —
Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 (1929). S. 415—441.
St. will es versuchen, die Grenzen zwischen Optimismus und Pessimismus
bei Fredro nicht durch eine streng philosophische Definition des letzteren zu
verbarrikadieren, wie das mehrfach in der polnischen Kritik geschehen. Fredros
Pessimismus ging nicht aus philosophischen Abstraktionen sondern aus den Er-
fahrungen des Lebens hervor; er schildert ja auch nur die einfachen Realitäten
des Lebens. Wer müßte nicht anerkennen, daß die klagende Lyrik des Leopar-
dischen „Canto notturno di un pastore errante nell’ Asia“ viel verzweifelter
ist als seine philosophische Prosa? — St. betrachtet die Schicksale Fredros darauf
hin, wie weit sie seine natürlichen Anlagen zur Melancholie steigern mußten,
die von seinen Familienmitgliedern bezeugt ist, und geht ihren Spuren in
Fredros Gedichten, wie „Zapiski starucha“, „Pajaki“, „Zal mi“ u. a. nach. Immer
wieder klagt der Dichter über die Nichtigkeit menschlichen Tuns, über die ent-
schwundene Jugend, über das Schwinden der Jugendhoffnungen; selbst der Ge-
danke an den eigenen Ruhm olieb ihm gleichgültig. Auf Menschen und Gesell-
schaft blickte Fr. gleichfalls nicht optimistisch, die Moral des Lebens ist enthalten
in dem Vers „Każdy dusi — bo żyć musi“ aus dem Gedicht „Jaskółka“. In
„Cmentarz“ sieht der Dichter nur Gräber und Kreuze, Liebe auf den Lippen
und Haß im Herzen. Ähnlich äußert er sich in seiner Prosa. Im „Dziennik
wygnanca“, in „Choroby Chroniczne“ u. a. wiederholen sich dem obigen ähn-
liche Gedanken. — Wie konnte dieser pessimistische Mensch Komödien von
solchem Lachreiz schreiben? St. findet Antwort darauf in Aussprüchen Fredros
„Kto sie nigdy śmieje — od tego zimno wieje“ und in „Sobie spiewam, a
Muzom“. Seine Komödien haben nicht ihren Ursprung in großen Ideen und
tiefen Wahrheiten, sondern aus Fredros Verlangen nach Lachen und dem
Komischen, daher auch das Fehlen eines strengen Urteils, der Strafe für die
Übeltäter, z. B. in „Mąż i zona“, dessentwegen Fr. in der Literaturkritik der
Unmoralität geziehen worden ist.
Chrzanowski und Kucharski haben verschiedene Meinungen geäußert über
den vermeintlich heiteren Ausgang vieler Komödien. St. betrachtet einige von
ihnen daraufhin, ob sie wirklich optimistisch ausgehen, z. B. „Zrzednos£ i
przekora“, „Odluki i poeta“ und „Mąż i zona“, und weist‘ nach, daß das nicht
der Fall ist. In „Przyjaciele“ klingt eine innere Saite Fredros mit, Erinnerungen
an eine große unglücklich ausgegangene Jugendliebe, hier also mußte natürlicher-
weise der Grundton schmerzlich sein. Traurig bleibt auch der Eindruck von
„Ciotunia“, und selbst der „Pan Jowialski“, diese Apothese des vergnügten Land-
514
edelhauses, sollte den Polet zu denken geben, denn hier wird die Schuld dieses
leichtlebigen Landadels an den vaterländischen Geschicken gezeigt, ebenso hält St.
„Dozywocie“, entgegen den Anschauungen Günthers (Fredro jako poeta naro-
dowy. Bibioteka Warszawska, 1—2), für durchaus nicht optimistisch. In den
Komödien der späteren Zeit wird das Leben meistens noch schwärzer gezeichent,
z. B. in „Ostatnia wola“ und in „Wychowanka“, sogar die spaßigsten Komödien
dieser Periode, „Pan Benet“ und „Wielki człowiek do małych interesów“ zeigen
nur seichte, kleinliche Gestalten.
Um auch dem Optimismus bei Fr. gerecht zu werden, weist St. zunächst
auf die Lichtblicke hin, die das Leben dem großen Melancholiker bot: Liebe zur
Dichtkunst, Vaterlandsliebe und vor allem die treuen Erinnerungen, die Fr. an
seine Jugendzeit bewahrte, an den „Dwór“, wo er sie verbracht. Dem ent-
sprang auch seine Liebe für die Jugend überhaupt und der Vorzug, den er
jugendlichen Personen seiner dramatischen Verke gab. Aus dieser Liebe für die
Vergangenheit erklärt St. auch seine, von aller satyrischen Verurteilung absehende
Darstellung so vieler nachteiligen Seiten der polnischen Schlachta auf dem Lande,
er wollte ihr gegenüber nicht als Richter auftreten. Einen Lichtblick bildet auch
in Leben und Schaffen Fredros die Idealisierung der Liebe, freilich lassen gewisse
Aussprüche der späteren Komödien auch in bezug auf sie eine skeptische Ein-
stellung erkennen. Zuletzt untersucht St. Fredros Verhältnis zur Religion. Es
muß überraschen, daß Fr. bei seiner pessimistischen und melancholischen Ein-
stellung ein guter Katholik gewesen ist, solche verzweifelte Angriffe auf die
Weltordnung wie in „Brytan — Bryś“, wo die Tiere selbst danach fragen, wozu
sie da wären, läßt das schwer erklärlich finden. St. sucht diesen Widerspruch
zu lösen unter Hinweis auf christliche und indische Veltanschauung, auf die,
im Grunde christliche, Philosophie Schopenhauers und auf Augustin, Schelling
u. a., die durch den Pessimismus dem Leben gegenüber zu innerer Religiosität
gelangten. Auch Vagner und Tolstoj sind, auf verschiedene Veise, einem solchen
christlichen Pessimismus erlegen. Schließlich solle man sich auch nicht auf die
termini „Optimismus“ und „Pessimismus“ als Kriterien versteifen. Ein Blick in
einen Bibliothekskatalog kann darüber unterrichten, daß z. B. bei Schopenhauer
und Leopardi die Zettel bald den Optimismus, bald den Pessimismus dieser
beiden Großen bestätigen. Emmy Haertel.
FernandBaldensperger: Alfred de Vigny a Polska. (Alfred
de Vigny und Polen.) — Przeglad Wspölczesny Bd. 29 (1929),
S. 14—27.
Der Inhalt ist weiter als der Titel vermuten ließe: wir finden Notizen über
Vignys Beziehungen zu Russen. Hernach einiges über des Dichters Bekanntschaft
mit dem Engländer Reeve, Krasinskis Freund, vor allem aber Nachrichten über
die Polonophilie Vignys, die sich in hier abgedruckten Briefen an Mickiewicz
und die Fürstin Czartoryska bekundet. Otto Forst-Battaglia.
Maximilian Fredro.
Stanislaw Wasylewski: Czwarty Fredro. (Der vierte
Fredro.) Tecza 1929, Nr. 29.
Der vierte Fredro, das ist Graf Maximilian Fredro, der älteste Bruder des
polnischen Moliére, steht im Schatten seines großen Namens: wie der jüngere
Corneille in dem des unsterblichen Pierre. Durch sich selbst hat er nur einmal
in der Literaturgeschichte von sich reden gemacht. Als er, vordem ein Mitglied
der Warschauer pseudoklassizistischen Kreise um Osinski, eine heftig romantische
Tragödie „Harold“ aufführen ließ (1827). Mickiewicz, Mochnacki klatschten Bei-
fall. Heute sind Autor und Werk vergessen.
Otto Forst-Battatag!ia.
515
Korpala, Józef: Uwagi o polskiej prasie literackiej przed
powstaniem listopadowem. — Silva rerum 1928. S. 93—100.
Indem Korpała auf das Erstehen einer literarishen Presse in Polen im
19. Jahrhundert eingeht, die in ganz anderem Umfange im geistigen Leben der
Nation wurzeln sollte als die im wesentlichen für die Information des Auslandes
bestimmten literarischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, zeigt er, daß vor dem
Novemberaufstand trotz mehrfacher Versuche ein dauerndes literarisches Organ
mit festem, zeitgemäßen Programm nicht zustande gekommen ist. Tiichtige
Persönlichkeiten von starker Initiative waren da, es fehlte an guten Organı-
satoren. Zu diesen Versuchen, eine der damaligen Zeit entsprechende literarische
Zeitschrift zu gründen, gehört auch ein Projekt eines „Pamiętnik literacki“ für
den Fürsten A. Czartoryski aus der Feder Aloizy Feliüskis um 1810/11, das
Korpala hier aus dem Archiv der Fürsten Czartoryski in Krakau (Nr. 150) ab-
druckt. E. Koschmieder.
Walery Łoziński.
Adam Bar: „Pan Tadeusz“ w powiesciach Walerego Łozińskiego.
(„Pan Tadeusz“ in den Romanen Walery Łozińskis.) — Pamiętnik
Literacki Bd. 25 (1928), S. 292—299.
Łoziński hat zur Charakteristik des Kleinadels in seinen Erzählungen viel
aus dem Epos Mickiewiczs geschöpft; sogar einzelne Redewendungen übernommen.
Trotzdem hat diese Anleihetitigkeit des jungen Autors der Lesbarkeit seiner
Bücher nicht geschadet. Otto Forst- Battaglia.
Stanislaw Przybyszewski.
Tadeusz Boy-Żeleński: Kłamstwo Przybyszewskiego. (Die
Lüge Przybyszewskis.) Wiadomości Literackie, 1928, Nr. 39.
Derselbe: O „Kłamstwo“ i prawdę Przybyszewskiego. (Ober
Lüge und Wahrheit bei Przybyszewski.) Ibid., Nr. 46.
Derselbe: Smutny Szatan. (Ein trauriger Satan.) Ibid., Nr. 52/53.
Wiadysław Buchner: Stanislaw Przybyszewski a utwory
Dagny. (Stanisław Przybyszewski und die Dichtungen Dagnes.)
Ibid., Nr. 44.
Kazimierz Czachowski: Bibljografja pism Przybyszewskiego. (Biblio-
graphie der Schriften Przybyszewskis.) Ruch Literackie, Bd. 3
(1928), S. 215—219.
Stefan Demba: Autobiografja Kasprowicza i Przybyszewskiego.
(Selbstbiographien Kasprowiczs und Przybyszewskis.) Ibid.,
Bd. 4 (1929), S. 73— 77.
Karol Klein: Przybyszewski i Dehmel. (Przybyszewski und
Dehmel.) Ibid., S. 200—204.
Adam Münnich: Korrespondencja Przybyszewskiego z P. Scheer-
barthem. (Briefwechsel Przybyszewskis mit P. Scheerbarth.)
Ibid., S. 319—320.
516
Derselbe: Lata szkolne Przybyszewskiego. (Przybyszewskis
Schuljahre.) Ibid., Bd. 4 (1929), S. 172—175.
Leon Ploszewski: Do bibljografji pism Stanislawa Przyby-
szewskiego. (Zur Bibliographie von Przybyszewskis Schriften.)
Ibid., S. 68.
Michal Siedlecki: Echa zagadki Przybyszewskiego. (Echo des
Rätsels Przybyszewski.) Wiadomości Literackie, 1928, Nr. 43.
Marja Johanna Wielopolska: Zagadka Przybyszewskiego.
(Das Rätsel Przybyszewskis.) Wiadomości Literackie, 1928,
Nr. 52/53.)
Antoni Wysocki: Prawda Przybyszewskiego. (Die Wahrheit
Przybyszewskis.) Ibid., Nr. 42.
Wären auch die von Boy enthüllten, bisher nur einem kleinen Kreis von
Eingeweihten bekannten Tatsachen aus dem Leben Przybyszewskis schlechter be-
ubigt, als es der Fall ist; die Reihe der Artikel in den ,,Wiadomoéci Literackie“
äße wenigstens das Verdienst, den ziemlich vergessenen „traurigen Satan“ wieder
in den Mittelpunkt einer literarischen Diskussion gerückt zu haben. Das Inter-
esse an Przybyszewski ist wieder rege geworden und vom Dichter überträgt es
sich auf dessen Werk oder zum mindesten auf des Werks psychologische Deutung;
denn nichts kann in diesem Augenblick Freude am unbefangenen Genuß einer
uns völlig fremd gewordenen Literatur hervorrufen, deren Voraussetzungen durch
den Krieg hinweggeweht worden sind.
Boys überzeugend bewiesene These ist, daß Przybyszewski, eine willens-
schwache, von sexuellen und anderen Exzessen entnervte Kiinstlernatur, durch
Rücksicht auf die rasende Eifersucht der zweiten Gattin — Kasprowiczs ge-
schiedener und von Przybyszewski dem Freund abspenstig gemachter Frau —
sich bewogen fühlte, den beherrschenden Einfluß und die erloschene Liebe zur
ersten Gattin, der norwegischen Dagne, zeitlebens zu verleugnen, ja die einst heiß
Verehrte in den Schmutz zu ziehen. Diese menschliche Tragödie habe ihren ver-
heerenden Einfluß auf Przybyszewskis Dichtung geübt. Alles Große und Starke
stammte aus der Zeit der befruchtenden ersten Ehe. Nach Dagnes Tod sei auch
Przybyszewskis poetischer Stern erblichen. Jedenfalls stand Dagne dem Gatten
während dessen deutscher Periode und hernach in der polnischen Glanzepoche,
der Tätigkeit am „Życie“ (1898—1901), als wahre Egeria zur Seite. In seinen
Memoiren hat der Wandelbare, dem erst der Haß gegen die Gefährtin seiner
Jugendtriumphe aufgezwungen und dann zur zweiten Natur geworden war, die
Sache so hingestellt, als sei Jadwiga seine Muse und ihre Vorgängerin ein tief be-
reuter Jugendirrtum gewesen.
Wysocis Publikation bringt nun für Boys Behauptungen und zur end-
ültigen Vernichtung der von Przybyszewski noch durch die „Erinnerungen“ ver-
reiteten Ansicht entscheidendes Material. Im Jahre 1911 wollte die Lemberger
„Theater - Gesellschaft“ während eines Gastspiels in Zakopane Dagne
Przybyszewskas Stück „Krucze gniazdo“ aufführen. Przybyszewski protestierte in
erregten Briefen dagegen, daß „durch Veranstaltung irgendeines Abends mein
Namen in Verbindung mit der Dame gebracht werde, die diesen Namen mit
Schande bedeckte“. Auf empörte Rückfrage der Lemberger Theaterfreunde rückte
dann Przybyszewski mit dem Geständnis heraus: „Ich vertraue Ihnen das blutige
Geheimnis meines Verbots an. Meine gegenwärtige Frau ist geradezu wahn-
517
sinnig, wenn es sich um die Verstorbene handelt. Nicht ich bin es, der Briefe
und Verbote absendet, sondern ein Mensch, der seit einigen Jahren voll Verzweif-
lung über eine schwer kranke Frau wacht. Durch schwere Opfer erkaufe ich
mir Ruhe zur Arbeit.“ Wäre hier noch ein Kommentar nötig, so steht es in dem
Brief Professor Siedleckis, der vor einem Menschenalter zum engsten Freundes-
kreise der Przybyszewski gehörte und Boys Ausführungen vollinhaltlich be-
stitigt. Venn nun Stanislaw Maykowski (im „Slowo Polskie 1928, 278) und
Jakéb Geszwind in einer separat erschienenen Broschüre „Klamstwo
Przybyszewskiego i kłamstwo o Przybyszewskim‘ sich gegen Boys Artikel wenden,
so mag ihnen darin beizupflichten sein, daß Persönliches nur mit Widerstreben
vom Literarhistoriker zu erörtern ist; im übrigen vermögen sie nichts gegen die
Richtigkeit der Tatsachen einzuwenden und sie unterscheiden sich von Boy nur
in der ethischen (dem Forscher an sich gleichgültigen) Wertung einer Handlungs-
weise, die der eine als entschuldbare, der andere als verächtliche Schwäche, der
dritte als heroisches sacrificio del cuore e dell’intelletto bezeichnen wird. Das
Antlitz des Dichters aber bleibt, so schildert es uns Boy im letzten seiner Aufsätze,
das des traurigen Satans, der an Dagnes Seite, glücklich in seinem Unglück, un-
glücklich in seinem Glück, zerstörend und erst in der Zerstörung zum Schaffen
befähigt, eine Poesie der Nacht stammelte, dergleichen Polen nicht vorher und
nicht nachher kannte. Im übrigen mag, wenn es zur psychologischen Erklärung
von Przybyszewskis Metastasen kommt, nicht gerade die Berufung auf Goethe
und sonst komplizierte Deutung vonnöten erscheinen. Schon das Sprichwort hat
ja lapidar den Weg beschrieben, den der Sänger der „chud“ genommen hat: Mas
kennt den Anfang; am Ziel steht „Alte Berschwester“.
Von den im „Ruch Literacki“ abgedruckten Materialien ist die Bibliographie
Czahowskis, zusammen mit den Ergänzungen Ploszewskis, am wertvollsten. In
ihr fehlen indes die zahlreichen von Przybyszewski während seines Aufenthalts
in Deutschland publizierten und einige seiner später deutsch veröffentlichten Zeit-
schrifts- und Zeitungsartikel, die den Gegenstand einer kleinen Arbeit eines
deutschen Bibliographen bilden sollten. Die Autobiographie aus den Sammlungen
Dembas stammt aus dem Jahre 1899 und ist nur durch ein enthusiastisches Be-
kenntnis zum Polentum und zur jungvermählten Gattin bemerkenswert. Eine
Abschrift des Taufscheins von Przybyszewski belehrt uns authentisch, daß der
Dichter am 7. Mai 1868 zu Lojewo als Sohn des Schullehrers Joseph Przybyszewski
und der Dorothea Grabczewska geboren und am 11. desselben Monats getauft
wurde, wobei Leo Siewicz, Gutsherr auf Szarley, und Theresia KoScielska, Herrin
auf Karczyn, als Paten des kleinen Stanislaw Felix fungierten. Münnich teilt sehr
interessante Zeugnisse des Gymnasialschülers Przybyszewski mit. An dem Thorner
Kgl. Gymnasium hat er im Jahre 1884 beim Abgang aus Obertertia ein recht
mittelmäßiges Zeugnis erhalten. Die Noten schwanken in den vichtigeren Gegen-
ständen zwischen 2 und 8. Von 1884 bis 1889 besuchte er das Gymnasium in
Wagrowiec. Hier waren die Leistungen noch schwächer, indes gab ihm der
Polnisch-Professor folgendes Endurteil auf den Weg: „In seiner polnischen Mutter-
sprache drückt er sich mündlich wie schriftlich gewandt und völlig fehlerfrei aus,
seine bezüglichen Klassenleistungen konnten meist als sehr gut bezeichnet werden.
Nicht minder hervortretend sind seine Kenntnisse in der polnischen Literatur-
geschichte. Gesamtprädikat Sehr gut.“ Beim Abdruck der deutschen Dokumente
hat der nachlässige Herausgeber eine Reihe unentschuldbarer Druckfehler stehen
lassen. Die von Münnich publizierten Briefe an Scheerbarth sind gänzlich be-
deutungslos.
Auc Kleins Aufsatz über Przybyszewski und Dehmel bringt nichts Neues,
es seien denn einige weitere Druckfehler, wie „blaser“, „verliss“.
Otto Forst-Battaglia.
518
Bronisława Chrzaszczewska: Żółkiewski. Tęcza 1928,
Nr. 42.
Auszug aus einem vorbereiteten größeren Werk, das Zeromskis Schaffen
analysiert, versucht diese im Stil Żeromski nachahmende Charakteristik zugleich
die tragische Größe und das Problem des Mannes zu erfassen, dem in der „Duma
o Hetmanie“ die Führerschaft der polnishen Nation beansprucht wird.
Otto Forst-Battaglia.
Marja Pawlikowska.
Irena Krzywicka: O poezyi Marji Pawlikowskiej. (Ober die
Dichtung von Marja Pawlikowska.) — Wiadomości Literackie
1929, Nr. 1.
Eine subtile und nur etwas zu weitschweifige Studie über die Lyrik der Paw-
likowska, gedeutet als Manifestation einer aus Furcht vor der Empfindsamkeit
auch das Empfinden bändigenden Frauendichtung. Als Typus erinnert die Paw-
likowska — so versichert uns ihre Exegetin — an Boy: dieselbe metaphysische
Grundlage des Physiologishen im Poetishen. Schade nur, daß cine andere
Parallele fehlt, die auffallende mit Mme. de Noailles.
Otto Forst-Battaglia.
Juljusz Kaden - Bandrowski.
Emil Breiter: O świçte prawo człowieka. (Um das heilige
Menschenrecht.) — Wiadomości Literackie 1929, Nr. 16.
Als Summe der letzten Entwicklung Kaden-Bandrowskis die Abkehr vom zer-
flacternden Lyrismus Zeromskis und die Hinwendung zu jenem Realismus, der
als Neue Sachlichkeit die gesamte europäische Nachkriegserzählung beherrscht.
Im Zyklus der „Czarne skrzydła“ hat sich das alles vollendet. Gleich weit vom
pessimistischen Naturalismus und vom nur aufs Ich gekehrten Romantismus
bekennt Kaden-Bandrowski den mutigen Realismus, der das Opfer fordert, einer
furchtbaren Wirklichkeit gerade ins Auge zu sehen, sie zu ertragen, um sie
zukunftsgläubig emportragen zu können. Otto Forst-Battaglia.
Cecylja Walewska.
M. J. Wielopolska: Cecylja Walewska. — Wiadomości Lita
rackie 1929, Nr. 26.
Das fünfzigjährige Schriftstellerjubilium der Walewska hat für einen
Augenblick diese letzte Veteranin des Warschauer Positivismus der Gegenwart in
Erinnerung gebracht, die in ihr mehr die bürgerlichen als die literarischen Ver-
dienste ehrte. Otto Forst-Battaglia.
Tadeusz Lopalewski.
Witold Hulewicz: Tadeusz Lopalewski. Tecza 1929, Nr. 10.
Der nun Dreißigjährige (geb. 1900) begann mit Gedichten romantischer
Färbung, erregte einiges Aufschen durch eine mit der vierten Dimension
kokettierende Erzählung aus der letzten russischen Revolution (Podwójny cień)
und er sucht noch, zwischen Skamander und Czartak, den Weg zum Parnaß.
Hulewicz geht in seiner Sympathie für den Autor etwas weit. Trotz unleug-
barer sprachlicher Qualitäten entbehrt Lopalewski der eigenen Physiognomie.
Otto Forst-Battaglia.
519
Mieczysław Braun.
Jerzy Liebert: O poezjach Mieczysława Brauna. (Über
Mieczysław Brauns Dichtungen.) — Wiadomości Literackie 1929,
Nr. 35.
Liebert skizziert den poetishen Weg Brauns von revolutionärer Neuerung
über den „Skamander“ und die Neuromantik zum Pseudoklassizismus. Als ver-
bindende Eigenschaft haftet allen Stadien dieser Entwicklung die didaktische
Absicht an, die Lust, statt darauf los zu fabulieren, zu beschreiben: erst Hand-
werke und Gewerbe, dann Seelenzustinde und endlich die Natur. Liebert
betrachtet die Hinkehr Brauns zu Trembecki und Koźmian mit großem Mig-
vergnügen. Unseres Erachtens ist an dem Dichter nur verwunderlich, daß er schon
in jungen Jahren die Straße zur Tradition sucht, auf der alle polnischen Autoren
nach revolutionärem Beginn landen. Otto Forst-Battaglia.
Włodzimierz Szymański: Poeta Madon. (Der Sänger der
Madonnen.) Tęcza 1929, Nr. 4.
Die kurze Aufzählung der Werke und ein recht allgemein gehaltenes Lob auf
den nebst Morstin und Miłaszewski repräsentativen Dichter des polnischen Neo-
klassizismus, wird dem über manchen Modepoeten vernachlässigten Pietrzyda
nicht gerecht. Sie weckt nur den Wunsch, daß diesem polnishen Le Cardonnel
— die Parallele drängt sich geradezu auf — das bessere Los seines französischen
Doppelgängers beschieden werde. Otto Forst-Battaglia
Neue polnische Erzählerinnen.
Stanisława Jarocińúska-Malinowska: Quelques jeunes
prosateurs féminins. Pologne Littéraire 1929, Nr. 30.
Silhouetten von Marja Kuncewiczowa, Herminja Naglerowa, Ewa Szelburg,
Hanna Mortkowiczówna, vier Schriftstellerinnen, von denen die erste in der Tat
ein außerordentliches Talent besitzt, die zweite eine shöne Begabung ankündigt,
die beiden übrigen indes ungebiihrlich überschätzt werden.
Otto Forst-Battaglia.
Polnische Lyrik des Nachkriegs.
K. W. Zawodziński: Poezja Polski odrodzonej. (Die Dichtung
des wiedergeborenen Polen.) Swiat książki 1928, Heft 1/3,
S. 19—25.
Viel feine Bemerkungen. Und noch mehr gehässige Feindseligkeit gegen-
über dem Verf. unsympathishen Richtungen. Dem „Skamander“ ertönt ge-
bührendes Lob. Die Leute vom „Czartak“ werden schändlich karikiert und mig-
handelt. Der Gruppe Galuszka ergeht es nicht besser. Dem Kundigen gibt
Zawodzinskis Übersicht manches, Der mit dem Thema nicht Vertraute sei vor
ihr gewarnt. Otto Forst-Battaglia
Stefan Papée: Teatry dramatyczne e latach 1918—1928. (Die
dramatischen Bühnen in den Jahren 1918—1928.) Tecza 1928,
Nr. 45.
Aufs Unentbehrliche kondensierte und trotz des klar betonten Standpunkts
objektive Übersicht der Entwicklung, die das polnische Theater und die drama-
tische Literatur in den letzten zehn Jahren genommen haben.
Otto Forst-Bartaglia.
520
Zygmunt Falkowski: O sposób pojmowania realizmu w
badaniach literackich. (Über die Art der Konzeption des Realis-
mus in literarishen Forschungen.) — Przegląd Powszechny
Bd. 183 (1929), S. 23—41, 277—294.
Die gehaltvolle, feinsinnige Studie Falkowskis ist hier anzuführen, da sie ihre
allgemeinen Erörterungen zum großen Teil mit Beispielen aus der polnischen
Literatur belegte. So werden etwa die Definitionen des Realismus durch Sniadecki,
Mochnacki, Brodzinski, Odyniec, Mickiewicz erörtert, die entweder expressiv verbis
gegeben wurden oder sich aus den Werken dieser Dichter ableiten lassen. Falkowski
unterscheidet ganz richtig verschiedene Arten des Realismus; die wahrheits-
getreue Erfassung der Außenwelt, der Innenwelt und beider wahrheitsgemäßen
Ausdruk. Dabei bleibt aber Realismus nie Kopie, sondern stets künstlerische
Umdeutung, Wahrheit sui generis. Otro Forst-Battaglia.
Polen in Brasilien.
Józef Staäczewski: Polacy w piśmiennictwie brazylijskiem.
(Die Polen im brasilianischen Schrifttum.) — Przegląd Współ-
czesny, Bd. 27 (1928), S. 337—342.
Kurze Notiz über polnishe Motive in der brasilianischen Literatur.
Otto Forst- Battaglia.
Die Jiidin als literarische Egeria im polnischen Schrifttum.
Adolf Nowaczyfiski: Esterki w literaturze. (Estherchens in
der Literatur.) Tecza 1929, Nr. 12.
Eines der Probleme, an denen die Literaturgeschichte gerne verschämt vorbei-
schleicht: der Einfluß, den Jüdinnen auf ihnen rassenfremde und von ihnen an-
gezogene arische Autoren geübt haben. Nowaczyhski beschäftigt sich in der sehr
oberflächlichen Studie, die nur das Verdienst hat, eine Anregung zu bieten, auch
mit der Gestalt der dämonischen, perversen Jüdin in der neuesten polnischen
Literatur (Witkiewicz, Strug, Ulanowski .. . warum nicht bei Weyssenhoff und
zum Teil bei Wyspiafski, den Schöpfern des Typus?).
Otto Forst- Battaglia.
Kor pala, Józef: Dzieje drugiej edycji Historji literatury
polskiej Bentkowskiego. — Silva rerum 1928. S. 100—110.
Ein weiterer sehr interessanter Beitrag Korpalas zur Geschichte der Biblio-
graphie in Polen, der sih auf größtenteils bisher ungenutztes Quellenmaterial
stützt. Bentkowskis „Historja literatury polskiej“, Teil 1, 2, Warszawa i Wilno
1814, eine Bibliographie mit biographishen Angaben über die Autoren hat für
die Entwicklung der Bibliographie in Polen eine sehr große Bedeutung gehabt.
Sie hat eine ganze Schar von Männern zur Bearbeitung der Bibliographie und
Literaturgeschichte in Polen angeregt. Überall, besonders eifrig aber in Wilna
und Krzemieniec, arbeitete man an der Vervollständigung dieser wertvollen
Sammlung, und Bentkowski trug sich von vornherein mit dem Gedanken einer
Neuausgabe, für die ihm Lelewel, Bandtkie, der Krakauer Buchhändler Ambroży
Grabowski u. a. ihre Unterstützung zusagten. Das Manuskript erwarb
Zawadzki in Wilna, während die Redaktion der Neuausgabe Mikołaj Malinowski,
ein Schüler Lelewels und Freund Mickiewicz’s, übernahm. Aus der Korre-
spondenz Malinowskis, die in der Bibljoteka Jagiellońska in Krakau aufbewahrt
ist, berichtet Korpala weiter über den Verlauf der Arbeiten Malinowskis von
1824—1829. 1880 löste dann Zawadzki seine Beziehungen zu Malinowski und
übergab die Redaktion Ludwik Sobolewski, der jedoch noch im selben Jahre
521
34° RF 6
verstarb. Darauf übernahm Adam Jocher die Bearbeitung der Neuausgabe, für
welche Zawadzki die Materialien Sobolewskis, Bandtkies, Karol Sienkiewicz’s und
JuszyAkis aufgekauft hatte. Nach jahrelanger Arbeit und Umfrage bei den ver-
schiedensten Bibliotheken brachte dann Jocher die Neuausgabe des Werkes
Bentkowskis, den „Obraz bibljograficzno-historyczny literatury i nauk w Polsce“
in 3 Bänden 1840—1857 heraus. E. Koschmieder.
Tagung der Dichter in Posen.
Marja Kuncewiczowa: Zjazd literatów w Poznaniu. (Die
Zusammenkunft der Literaten in Posen.) — Wiadomości Lite-
rackie 1929, Nr. 25.
Bericht über den Verlauf und die Beschlüsse des Kongresses, der zwischen
6. und 9. Juni 1929 in Posen stattfand. Sein wesentliches Ergebnis war die Er-
zielung einer überraschenden Einmütigkeit zugunsten der neuen Polnischen
Akademie, deren Gegner, wie Irzykowski, sich der Mehrheit fügten.
Otto Forst-Battaglia.
Grycz, Józef: Trzeci Zjazd Bibljofilöw Polskich we Lwowie. —
Silva rerum 1928. S. 81—84.
Kurzer Bericht über den 3. Bibliophilen-Kongreß in Lemberg Pfingsten 1928,
an dem nach Ansicht des Berichterstatters die Ausstellungen an Druck, Einbänden
usw. sowie die zur Verteilung gelangten bibliophilen Festgaben alle Erwartungen
übertrafen, während die Beratungen und Vorträge die Organisation des Bibliophilen-
tums nicht wesentlich gefördert haben. Als Aufgaben des nächsten Kongresses
stellt Grycz die Festlegung des Charakters der Kongresse und des Bibliophilen-
Rates hinsichtlich der Organisation des Bibliophilentums sowie überhaupt die
Aufstellung der Aufgaben der polnischen Bibliophilie auf.
E. Kos chmie der.
Das „Atheneum“-Theater in Warschau.
Kz.: „Atheneum“ pod nową dyrekcja. (Das „Atheneum“ unter seiner
neuen Direktion.) — Wiadomości Literackie (1929), Nr. 33.
Marja Strońska, die Leiterin der sehr rührigen, von den Warschauer
Arbeitern erhaltenen und ihnen gewidmeten Bühne, stellt in ciner von stolzer Be-
scheidenheit erfüllten Unterredung fest, daß — ein wichtiger Beitrag zur Diskussion
über die proletarische Literatur — um ein Wort Froebels zu variieren, für die
Kinder des Volkes gerade das Beste gut genug ist. Otto Forst-Battaglia.
EEN Pawel: Jedno z wazniejszych zadań polskiej
bibljofilji. — Silva rerum 1928. S. 84—86.
Bei aller Anerkennung dessen, was die polnische Bibliophilie bisher an Aus-
gaben herausgebracht hat, wird hervorgehoben, daß das illustrierte Buch zu wenig
Beachtung gefunden hat. So wird die geschichtliche Bearbeitung der Budh-
illustration in Polen besonders vom 18. Jahrhundert ab den polnischen Biblio-
philen warm ans Herz gelegt. E. Koschmieder.
Jözef Kotarbinski. . l
Kazimierz Czachowski: Józef Kotarbinski. — Wiadomości
Literackie 1929, Nr. 2. ,
Kotarbinski, der, fast achtzig Jahre alt, am 19. Oktober 1928 starb, war ein
vortrefflicher Schauspieler, ein verdienter Theaterdirektor — von dessen Tätigkeit
am Krakauer Theater die Erinnerung an die Erstaufführung der „Wesele“
522
Wyspianskis unzertrennlich ist — und ein verstindiger Kritiker, Kollege von
Sienkiewicz, Swietochowski und Chmielowski an der Warschauer Szkoła główna,
hat Kotarbinski zeitlebens die Atmosphire des Warschauer Positivismus auf sich
einwirken lassen. Umso schitzbarer war die Vorurteilslosigkeit, mit der er dem
ihm wesensfremden polnischen Symbolismus zum Bühnenerfolg verhalf.
Otto Forst-Battaglia.
Zofja Stryjehska.
ne Wallis: „Tańce polskie“ Stryjehskiej. (Die
„Po en Tänze“ der Stryjehska.) — Wiadomości Literackie
1929, Nr. 29.
Derselbe: Les Danses polonaises vues par Zofja Stryjehska. — Pologne
Littéraire 1929, Nr. 33.
Wallis spricht mit vollkommen gerechtfertigter Begeisterung von der genialen
Künstlerin, die, wie vor ihr niemand, verstanden hat, aus den Tiefen der nationalen
Tradition und einer nie um den Ausdruck verlegenen Gestaltungskraft Werke zu
schaffen, aus denen die polnische Seele und zugleich die glänzendste Fähigkeit des
Malers, im Bild zu cherakterisieren und die Illusion der Bewegung zu erwecken,
spricht. Die „Tänze“ sind ein Zyklus, der sich den höchsten Leistungen der zeit-
genössischen Malerei zur Seite stellen darf. Leider geben die schlechten Reproduk-
tionen, die noch der Farbenwirkung beraubt sind, nur ganz unzulänglich den Zauber
der Originale wieder, zu denen man greifen muß, um das Urteil von Wallis selbst
zu bestätigen. Otto Forst-Battaglia.
Stanislaw Wiechowicz: Renesans starej muzyki polskiej.
(Renaissance der alten polnischen Musik.) Tecza 1929, Nr. 21.
Nach französischem Vorbild (auf das in diesem Artikel nicht hingewiesen
wurde) bildete sich eine polnische Gesellschaft der Freunde alter Musik, die
praktisch — durch Konzerte — und theoretisch — durch Publikationen älterer
Werke — viel geleistet hat. Sehr fesselnd ist die Parallele zwischen der an die
Commedia dell’arte erinnernden und mit ihr übereinstimmenden Technik der
Partituren, in denen der Begleitmusik freier Spielraum gelassen wird, und der
modernen Jazzmusik. Otto Forst- Battaglia.
Henryk Opiens ki: Polska twórczość symfoniczna. (Polni-
sches Schaffen auf dem Gebiet der Symphonik.) Tecza 1929,
Nr. 24.
Andeutungen aus sachkundiger Feder über die Marksteine, die ein künftiger
Historiker der polnischen Symphonie zu beachten hätte. Seit dem 19. Jahr-
hundert treten hervor: Ignacy Dobrzydski, V. Zelenski, Z. Noskowski,
M. Karlowicz, endlich die modernen Meister Szymanowski, Rözycki, Fitelberg,
Paderewski. Otto Forst-Battaglia.
Peter Vischer in Posen.
GwidoChmarzyäAski: Piotr Vischer i Poznan. (Peter Vischer
und Posen.) Tecza 1929, Nr. 26.
Ober vier herrliche Arbeiten des großen Bildhauers, Sarkophage für Lukasz
Gérka, Bernard Lubrafski, Uriel Görka und Feliks Paniewski, sämtlich aus dem
Ende des 15. Jahrhunderts. Posen hat außerdem viele Werke von Peter Vischers
Söhnen Peter, Hans und Paul aufzuweisen. Octo Forst-Battaglia.
sure 523
Polnische Volkskunst.
W. Lam: Książka o dawnych kilimach w Polsce i na Ukrainie. (Ein
oe alte Kilime in Polen und in der Ukraina.) Tecza 1929,
r. 25.
e i = tor: Malowidia na szkle. (Glasmalereien.) Tecza 1929,
r. e
Es liegt im Sinne des Programms der „Tecza“, daß sie häufig auf die boden-
ständige und dem Kulturgeschichtsforscher so bedeutsame polnische Volkskunst
die Aufmerksamkeit lenkt. Szumans Buch über „Kilime“, die eigenartige Teppiche
orientalischer Provenienz, in deren Anfertigung die Bevölkerung der Ostprovinzen
Polens exzellierte, bot Anlaß zu W. Lams Aufsatz. Viktor behandelt die
originellen Glasmalereien des Podhale und der Zips.
Otto Forst-Battaglia.
Polen in Freiburg in der Schweiz.
Tadeusz Stryjeński: Witraże Mehoffera w kolegjacie sw.
Mikołaja we Fryburgu. (Die Vitragen Mehoffers in der Kollegiat-
kirche zum Hl. Nikolaus in Fribourg.) — Przeglad Powszechny
Bd. 180 (1928), S. 289—306.
Derselbe: Polaczy we Fryburgu. (Polen in Fribourg.) — ibid. Bd. 181
1929, S. 50—57.
Verf. dieses Aufsatzes hat 1894 den jungen Maler Mehoffer aufgefordert, sich
an dem Wettbewerb um die Ausführung der Glasfenster bei St. Nikolaus in Frei-
burg zu beteiligen. Unter zahlreichen Konkurrenten aus allen Lindern errang
Mehoffer auch tatsächlich den Preis und seine Entwürfe wurden ausgeführt. Sie
fanden die größte Bewunderung und trugen den Namen Mehoffers durch ganz
Europa. — Stryjenski berichtet dann von den polnischen Professoren an der Frei-
burger katholischen Universitit, wie Kallenbach, Kowalski, Dobrzycki, Cybichowski,
von hervorragenden ehemaligen Hörern dieser Hochschule, die stets auf die Polen
eine große Anziehungskraft ausübte. Otto Forst-Battaglia.
Kirchenschätze auf der Jasna Göra.
W. St. Tur czy sk Ii: Skarbiec Jasnogörski. (Die Schatzkammer
auf der Jasna Göra.) Tecza 1929, Nr. 24.
An der Hand des Katalogs durch die in den Jahren 1918—1925 neugeord-
neten Schätze des Paulinerklosters auf der Jasna Góra bei Czestochowa schildert
der Verfasser die kostbarsten Denkmale der Goldschmiedekunst urd die schönsten
Paramente dieser Sammlung, die frommer Freigebigkeit früherer Jahrhunderte ihr
Entstehen und ihre Blüte, der Scheu fremder Zwingherrn vor dem Raub an ehr-
würdigem Gut ihr Bestehen bis auf unsere Tage dankt. Gute Illustrationen
ergänzen den Text. Otto Forst-Battaglia.
Marjan Gumowski: Architektura i styl przedromanski w
Polsce. (Die Architektur und der vorromanische Stil in Polen.)
— Przeglad Powszechny Bd. 180 (1928), S. 211—232; Bd. 181
(1929), S. 58—76.
Fortsetzung der diese Jb. N.F. 5, 272 angezeigten Arbeit. Vorzüglich über
Bauten aus Krakau und Umgebung. Otto Forst-Battaglia.
524
me EE — `"
Wissenschaftliches Leben in Posen.
Zygmunt Wojciehowski:. Ruch naukowy w Poznaniu w
dziedzinie historji w latach 1923—1928. (Die wissenschaftliche
Tätigkeit auf dem Gebiet der Geschichte in Posen während der
Jahre 1923—1928.) — Kwartalnik Historyczny Bd. 43 (1929),
2, S. 155—175.
Bericht über die Veröffentlichungen und die Wirksamkeit der Universität, der
Vereine, dann über die Zeitschriften und Zeitungen. Aus der Tagespresse fehlt der
Przeglad Poranny. Sonst keine wesentlichen Lücken. Otto Forst-Battaglia.
Kazimierz Czachowski: Querelle autour de Académie. —
Pologne Littéraire 1929, Nr. 30.
Informativer Bericht über die vorläufig durch den Beschluß des Posener
Literatenkongresses beendete Fehde um die Nützlichkeit einer zu errichtenden
Polnischen Akademie. Orto Forst-Battaglia.
Polonica in den ,,Izvéstija“ der Leningrader Akademie.
Jan Łoś: Rzeczy, mające związek z Polska, w „Izviestijach“
Akademji Petersburskiej. (Polonica in den ,,Izvéstija“ der Peters-
burger Akademie.) — Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928),
S. 320—32.
In den 32 Bänden dieser russischen Publikation sind viel wertvolle Materialien
zur polnischen Literaturgeschichte enthalten. Los berichtet darüber, und hebt die
Artikel von Čižikov über Mickiewicz in Rußland (Bd. 20, 1915, 125—151) — es
werden mehr als 800 russishe Arbeiten über den polnischen Dichter verzeichnet —,
von Ptaszycki, dem polnischen Forscher, über die mittelalterlihen Romane in
Polen (Bd. 7, 819—858), Francev, dem ehemaligen russischen Professor an der
Warschauer Universität, über die kaschubische Wiedergeburt (Bd. 17, 1912, 31—76),
endlich die Studie über das polnische und Gerd volkstümliche Drama von
V. Perec (Bd. 10, 12, 14, 15, 16) hervor. Otto Forst- Battaglia.
Polnische Landschaft.
Znasz-li ten kraj? (Kennst du das Land?) Tecza 1929 (in zahlreichen
Nummern, von verschiedenen Autoren).
Von Emil Zegadlowicz angeregt und konsequent gepflegt, ist die Reihe der
in der „Tęcza“ veröffentlichten Artikel über polnische Städte, Schlösser und
Berge, dank des literarischen und mitunter wissenschaftlichen Wertes der Texte
und der stets vorzüglichen photographischen Beigaben für uns von großem kiinst-
lerischen und dazu sowohl geographischen als historischen Interesse.
Otto Forst- Battaglia.
Adam Czekalski: Ołyka Tęcza. 1929. Nr. 40.
Kurzer Abriß der Geschichte und Schilderung von Olyka, der bekannten
Radziwillschen Residenz. Otto Forst- Battaglia.
Schloß Lancut.
Wladysiaw Bogatynski: Zamek Łańcut. Tęcza 1929,
Nr. 17 |
Schloß Lancut, die stolze Residenz eines Zweiges der Potocki, ist vielleicht
das schönste Denkmal der polnischen Frühbarokke. Es wurde von den Lubo-
525
mirski an Stelle eines älteren Palastes der Stadnicki im 4. Jahrzehnt des 17. Jahr-
hunderts erbaut. Heirat brachte es in den Besitz der Potocki. Bogatyhski ver-
mittelt uns eine annähernde Vorstellung von dem Luxus und dem 5 an
Kunstschätzen aller Art, der dem Besucher des königlichen Sitzes die Pracht und
die Macht polnischen Magnatentums eindrucksvoll vor Augen führt.
Otto Forst-Battsglia.
Alteste Städteansichten in Polen.
Mieczysław Skrudlik: Najstarsze widoki miast
(Die ältesten Städteansichten in Polen.) Tęcza 1929, Nr. 3.
Nach alten Stichen illustriert, skizziert dieser übersichtliche Artikel die Ent-
wicklung des polnischen Städtebilds von Sched! und Sebastian Münster bis ins
17. Jahrhundert, von willkürlicher Phantasie und Unbeholfenheit bis zur geome-
trishen Exaktheit der Festungspläne aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
Otto Forst-Battaglia.
Stanislaw Arnold: Geografja historyczna, jej zadania i
metody. (Die historische Geographie, ihre Aebi und Me-
thoden.) — Przegląd Historyczny Bd. 28 (1929), S. 91—120.
Trotz des allgemeinen Titels enthält diese Abhandlung Arnolds auch eine
Fülle von speziellen und sehr nützlichen Bemerkungen zur historischen Geographie
Polens. Sie beschäftigt sich mit der Rekonstruktion des natürlichen Landschafts-
bildes (Oberflächengestaltung, Klima, Hydrographie, Flora (warum nicht auch
mit der Fauna?),. dann mit der Rekonstruktion des kulturgeographischen und
5355 ar Milieus, er gar der Siedlungskunde, der Grundkarten-
orschung, der Administrativgeschichte) Otto Forst-Battaglia.
526
NEKROLOG
LUDWIG FINKEL t
Ludwig Finkel, geboren 1857 in Tarnopol, studierte Geschichte
an der Universität Lemberg beim berühmten Historiker Liske, dann
als Stipendist in Wien, Berlin und Paris. Er wurde als Dozent für
Geschichtskunde an der Universität Lemberg habilitiert, wo er es
auch zum Ordinarius der österreichischen Geschichtskunde brachte
und später die höchsten Universitätswürden erreichte. —
Mit Ludwig Finkel verliert die polnische Geschichtswissenschaft
einen ihrer bedeutendsten Männer, einen stillen Arbeiter, der mit
nie müder Kraft und Zähigkeit stets vermittelnd zwischen Ausland
und Inland stand, indem er dem Auslande polnische Forschungen
fortlaufend übermittelte (Mitteilungen d. Institutes für öst. Geschichts-
forschung und Jahresberichte der Geschichtswissenschaft 1899—1908)
und gleichzeitig das fremde Wissen seinem Lande zugänglich machte
(Kwartalnik Historyczny“). Er versammelte um sich eine große
Anzahl Lernbegieriger, von denen er Fleiß und historische Genauig-
keit verlangte, ihnen zugleich Lehrer und Förderer war. Auch
menschlich suchte er seinen Schülern näherzukommen, hatte immer
für jeden ein gutes Wort, eine Ermunterung in Bereitschaft. Wenn
man ihm in seinem Zimmer, in der kleinen Wohnung vis-a-vis der
Universität, an dem kleinen Tisch gegenüber saß, auf dem scheinbar
vollendete Unordnung. herrschte, konnte der Professor stundenlang
erzählen und über verschiedene Fragen lebhaft debattieren. Seine Be-
hauptungen pflegte er mit einer Notiz zu bekräftigen, die bald in
dem scheinbaren Chaos herausgefunden war und deren der Besucher
am meisten bedurfte. So lenkte er unmerklich seine Schüler zum
Wesentlichen.
Das unsterbliche Verdienst Prof. Finkels liegt in der Bearbeitung
der „historischen Bibliographie der polnischen Geschichte“. In zwanzig-
jähriger emsiger Arbeit mit umermüdlichem Fleiß schuf er die grund-
legende Methode. Andere eilten zur Mitarbeit herbei, die Seele aber des
epochemachenden Werkes war und blieb der Professor. Mit diesem Werke,
das er aus völlig unbearbeitetem Material gestaltete, ermöglichte er den
weiteren Ausbau der polnischen Geschichtsforschung und schuf neben Karl
Estreichers allgemeiner polnischen Bibliographie das umfangreichste
Werk dieser Art. — Auch eine Geschichte der Universität der Stadt
527
Lemberg hat er verfaßt. Die dankbare Stadt bot ihm hierfür das
Höchste das sie besaß, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Lemberg.
Auch vieles andere hat Professor Finkel in seinem langjahrigen
Schaffen geschrieben. Ihn interessierte alles, was mit Geschichte im
Zusammenhang stand. Besonders widmete er sich aber der Epoche
der polnischen Renaissance, der Zeit der Jagiellonen. Dieses Studium
begleitete ihn von seiner ersten Jugend an. Schon seine Dissertation
war über den polnischen Historiker „Martin Kromer“ und den Höhe-
punkt seines Schaffens erreichte er in der „Elektion Sigismund L“.
Bis zum letzten Augenblicke blieb er unermüdlich und arbeitete an
einer Monographie des Historikers Szajnocha, deren Teil „Szajnocha
als Bibliothekar“ bereits erschien, wie auch an der Vorrede zu einer
großen Weltgeschichte.
Die „Historische Gesellschaft“ wie auch der „Kwartalnik Histo-
ryczny“ verdanken ihm ihren Aufschwung, der „Historische Jugend-
verband“ seine Entstehung. In Anerkennung seiner Bedeutung
er nicht nur von der österreichischen und später von der polnischen
Regierung, sondern auch von allen wissenschaftlichen Kreisen mit
Würden und Ehren überhäuft. So wurde er Mitglied der Akademie
der Wissenschaften in Krakau, der Gesellschaft der Wissenschaften in
Lemberg, Ehrenmitglied des Historiker-Vereins etc. etc. Er wurde
auch zum Rektor im Jahre des dreihundertjährigen Jubiläums der
Universität Lemberg gewählt.
Sein Gesundheitszustand veranlaßte ihn, sich frühzeitig vom
öffentlichen Leben zurückzuziehen. Er arbeitete aber trotzdem fleißig
weiter, und so wurde sein 70 jähriges Jubiläum 1927 durch eine
Akademie an der Universität und eine Medaille mit der Inschrift
„Dem Schöpfer der polnischen Geschichtsbibliographie“ geehrt. Zwei
Jahre nachher wurde er Laureat der Stadt Lemberg.
Seine letzte Schrift war die Vorrede zu einer populären Dar-
stellung des November-Aufstandes, welche einige Wochen vor seinem
Tode im Verlage der Macierz Polska erschien. — Es ist bezeichnend
für den immer jungen Geist des Verstorbenen, daß er in diesen
letzten Zeilen die neue Stellungnahme der geschichtlichen Forschung
betonte, welche mit der Wiedererlangung der politischen Unab-
hängigkeit zusammenhängt.
Im Oktober 1930 kündete die schwarze Fahne an der Uni-
versität vom Scheiden desjenigen, der immer lebendig in seinem
Werke fortleben wird. Von gleicher Dauer wie sein Lebenswerk
bleibt das lebendige Andenken, daß er sich als Mensch im Herzen
seiner Schüler und aller derjenigen, die mit ihm je in Berührung
kamen, aufbaute.
Lemberg. K. Tyszkowski.
528
INHALTS-VERZEICHNIS
DES BANDES VI N.F. (1980).
I
ABHANDLUNGEN
S. Gar : Polen und die Weltwirtschaft .
Th. A amezyk: Die Reise Katharinas II. nach Südrußland
im Jahre 1787
W. Kühne: Neue Einblicke in Leben und “Werke Cièr-
kowski I.
Th. Frankl: 5 als Orientalist und: sein v zur
Slavistik í
I. Mirtschuk: Der Messianlemus bei jes Slaven
M. Alekseev: Die Quellen zum ee ve Ivanovi
von Rob. Browning
Th. Wotschke: Polnische und itauische Studenten. in
Königsberg a A
MISCELLEN
J. Matl: Ksaver Sandor Gjalski f
J. Matl: Bulgarische historische Bibliothek
H. Simon - Eckardt: Sophie Kovalevskij .
O. Forst- Battaglia: Conférence des Historiens des Etats
de PEurope et du monde Slave
L. Silberstein: Ein Besuch in der slavischen Bibliothek des
oslovakischen Außenministeriums . 9
II
LITERATURBERICHTE
F. Epstein: Die Marxistische Geschichtswissenschaft in der
Sovetunion seit 1927
J. Matl: Neue Ausgaben südslavischer poctindice Liceratur
und Quellen zur Kultur- und Geistesgeschichte .
V. Hruby: Die Quellen zur Cechoslovakischen Geschichte in
sei ersten zehn Jairen be Cechoslovakischen Reps:
K. Völker: Neuere Literatur zur Kirdengeshice Polens ;
St. Zajączkowski: Archeion . . 9
E. Kos ch mie der: Przegląd Bibljoteczny ; r ;
O. Forst-Battaglia: Drei polnische Festschriften ;
O. Forst-Battaglia: Die „Bibljoteka Narodowa“
BOCHERBESPRECHUNGEN
JosefSchränil: Die Vorgeschichte Böhmens und Mährens,
bespr. v. M. Jahn e
Dr. Blažena RyneSovd: Listä a listinář Oldřicha z
Rožmberka z let 1418—1462, sv. I, eee
bespr. v. L B. Novák . .
Dr. Vavro Šrobár: O EEDE Slovensko, 5 v.
L. Silberstein
Georg Ostrogorski: Studien zur Geschichte des ZE
dinischen Bilderstreites, bespr. v. F. Haase ;
Georg Sacke: W. L. Solowjews SES
bespr. v. F. Haase
Hildegard Schaeder: Moskau das dritte Rom, bep
v. F. Haase
J. Mirò uk: Tolstoj und Skovoroda, zwei le Typen,
bespr. v. F. Haase
Joseph Strzygowski: Die Altslavische Kunst, bespr. v.
W. Zalozieckyj. .
Petur Panov: Die altslavische Volks- dnd Kirchenmusik,
bespr. v. E. Koshmieder DN
Zdzistaw Jachimecki: Muzyka ponsa L, = v.
E. Kos di mie der
Emil Sembritzki: Slawen-Spuren auf deutschen Fluren,
bespr. v. K. Eistert .
A. V. Florovskij: Sostav zakonodatel'noj kommis
1767—74 gg., bespr. v. Georg Sadke. f
D. I. Bahali j: Narys istoriji Ukrajiny na RE CH EC
mitnomu grunti, I, bespr. v. D. Doroschenko
Pylyp Klymenko: Cechy na Ukrajini — Das Zunftwesen
in der Ukraine I, bespr. v. D. Doroschenko. .
A. Petrov: Karpatoruské pomistni názvy z pol. XIX a z
pot. XX. st., Baa D. 55 Së
M. A. Aldanov: Zeitgenossen, bespr. v. O. Forst-
Battaglia ey a Me at Oe Ge ee
530
Wsewolod Iwanow: „Der Buchstabe G.“ — Wera
Inber: Der Platz an der Sonne. — P. N. Kras-
now: Der weiße Kittel. — Anatolij Marien-
gof: Zyniker. Bespr. v. O. Forst-Battaglia
Ettore Lo Gatto: Storia della letteratura russa I, EH
v. E. Haertel ge g
Giovanni Maver: „Meditazione“ di Ee, bespr v.
E. Haertel . 8 i
Anton Navina (Anton Luckevið: „Adbita nye,
bespr. v. Vl. Samojlo .
Anton Luckevié: Za dvadzat pjac CR (1903—1928),
bespr. v. VI. Samojlo. . .
K. Nosovský u. V. Pražák: Soupis československé
literatury za léto 1901—1925, H. 1—4, EE v.
H. Ji le k ;
Josef Volf: Geschichte des Buchdrucks in Böhmen aaa
Mähren bis 1848, bespr. v. E. Kos chmie der
Marjan Kukiel: "em, historji wojskowości w Polsce,
bespr. v. K szkowski . .
Lucja Chars irora Dzieje miasta Zloczowa, bespr.
v. A. Wagner
Luc ja Charewiczowa: Lwowski organizacje zawodowe
za czasów Polski EEN ad v.
A. Wagner.
L. Bernacki, R. . WI. Podlacha:
Modlitewnik Władysława ai ail a v.
K. Sochaniewicz.
Bene dy kt . Pamigtnik, bespr v. K. Tysz-
kowski .
Kazimierz EE EN Nord Archiwistyka Polska
i jej zadania, bespr. v. St. Zajaczkowski. g
Mieczysław Gebarowiz: Katalog rękopisów Bibljoteki
im. Gwalberta ee DE v. K. T ys sz-
kowski :
„Rzeczpospolita Polska. Ada Statystyczny“, bers v.
J. Czed . .
Elisabeth Kloß: Das Gründungrbuch de Stadt Dirschau,
bespr. v. E. Piirschel. .
Ernst Petersen: Die frahgernaniche Kultur in Ost-
deutschland und Polen, bespr. v. E. Pürscel. .
Konrad Bittner: Herders er und ER
Slaven, bespr. v. F. Haase.
367
383
467
Ein neues Sammelwerk zur bulgarischen Literatur- und Kultur-
Fear ee ër leg pisateli 15 redakcijatu na Gier
. Arnaudov), bespr. v. J. Wat!
D. I. 8 1 porohy, bese: v.
M. Dol ny ky . . :
M. Fil’anskyj u. J. Ry fenko: Poltaviéyna, bespr. v.
M. Dol“ ny é ky j :
H. Drohomyreékyj: Vitry Zakarpata, bespr. v.
M. Dol’nyé GE :
J. Kral: Svidovec v Podkarpatské Rusi, ep v.
M. Dol ny ky . E
Materijaly ochorony pryrody na Ukrajini, E v.
M. Dol ny ky j
Josef Ri Großfürst Witold von en als Staats-
mann, bespr. v. M. Laubert
Artur Wagner: Handel malen Jaroslawia, bespr. v.
. Lattermann. . a
ZEITSCHRIFTENSCHAU
Allgemeines
Bulgarien.
Jugoslavien . 2. 2 2 2 2 2 M08
Rußland s s ër G ] 9
Weißrußland
Ukraine
Cechos lova kee 409; 479;
Polen
NOTIZEN
Die Gründung einer slavist. Sektion auf en panam
Neuphilologentag in Breslau
Jan Pta$nik ¢ (Nekrolog v. A. W agn er) ke. 8
Ludwig Finkel (Nekrolog v. K. TySsz ko ws ki)
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me:
LIBRARY, UNIVERSITY OF CALIFORNIA, DAVIS
Book Slip—Series 458
N? 821944
Dl
Jahrbücher für Kultur J28
und Geschichte der Ne Se
Slaven. v. 6
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
DAVIS