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Full text of "Jahrbuch für sexuelle zwischenstufen mit besonderer berücksichtigung der homosexualität"

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Jahrbuch  für  sexuelle 
Zwischenstufen  mit  besonderer ... 


Wissenschaftlicf' 


anitäres  Komitee  (Berlin,  German\ 


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Jahrbuch 

für 

sexuelle  Zwischenstufen. 

III.  Jahrgang. 


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Der  Berliner  Sopransänger  W.  W. 

(Nach  einer  Photographie). 


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Jahrbuch 

für 

sexuelle  Zwischenstufen 

mit  besonderer  Berückslehtigrung  der 

Homosexualität. 

Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  namhafter  Autoren 

im  Namen  des 

wissenschaftlich-humanitären  Comit6es 

von 

Dr.  med.  Magnus  Hirschfeld, 

prakt.  Arzt  in  Charlottenburg. 


III.  Jahrgang. 


Leipzig. 

Verlag  von  Max  Spohr. 
1901. 


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JAN  6     192Z 


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Inhalts^  Verzeichnis. 


Neue  Studien  auf  dem  Gebiete  der  Homosexualität.  Von 

R.  von  Krafft-Ebing,  Wien 1 

1.  Zum  Verständnis  der  konträren  Sexualempfindung      1 

2.  Ueber  tardive  Homosexualität     ....         7 

3.  Zur  weiblichen  Homosexualität   ....       20 
Sind  sexuelle  Zwischenstufen  zur  Ehe  geeignet?    Von 

Dr.  M.  Hirschfeld-Charlottenburg       ....       37 
Uranismus  oder  Päderastie  und  Tribadie  bei  den  Natur- 
völkern.   Von  Dr.  F.  Kar  seh,  Privatdozent,  Berlin  72 
Abgrenzung  der  Begriffe  Päderastie  und  Tribadie        75 
Abgrenzung  des  Begriffes  Naturvölker   ...       82 
Tribadie  bei  den  Natuvölkem 

I.  Die  negerartigen  Naturvölker 

II.  Die  malayischen  Naturvölker 
IH.  Die  amerikanischen  Naturvölker 
IV.  Die  Arktiker  oder  Hyperboreer 

Päderastie  bei  den  Naturvölkern 

I.  Die  negerartigen  Naturvölker 

II.  Die  malayischen  Naturvölker 

III.  Die  amerikanischen  Naturvölker  oder  Indianer  112 

IV.  Die  Arktiker  oder  Hyperboreer  .       158 

Schlusswort 175 

Literatur 182 

H.  C.  Andersen.    Beweis  seiner  Homosexualität   von 

Alb.  Hansen,  Kopenhagen  .       .       *       .       .     203 

Elagabal.   Charakterstudie  aus  der  römischen  Kaiserzeit 

von  Ludwig  von  Scheffler,  Weimar       ...     231 

Oskar  Wilde.    Ein  Bericht  von  Drjur.  Numa  Prätorius    265 


85 
85 
.       .       88 
oder  Indianer  88 
.       .       89 
.       .       89 
.        cQ 
.      105 


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-  vm  - 


Öskar  Wllde's  „Dorian  Gray."  Von  Johannes  Gaulke.  27 > 
Die  Wahrheit  über  mich.    Selbstbiographie    einer 

Konträrsexuellen 292 

Wie  ich  es  sehe.    Von  Frau  MF 308 

Vom  Weibmann  auf  der  Bühne.  Eine  Studie  v.  Dr.  med.  W.  S  313 
Die  Bibliographie  der  Homosexualität  für  das  Jahr  1900, 

sowie  Nachtrag  zu  der  Bibliographie  des  ersten  und 

zweiten  Jahrbuches.  Von  Dr.  jür.  Numa  Prätorius.  326 
Der  Prozess  von  Georges  Eekhoud  wegen  seines  Romanes 

«Escal-Vigor« 520 

Zeitungsausschnitte 526 

Jahresbericht  1900 598 

Zeichner  von  Jahresbeiträgen 610 

4.  Abrechnung  bis  31.  Dezember  1900  .611 


Verzeichnis  der  Abbildungen. 

Berliner  Sopransänger  W.  W Titelblatt 

Ein  Ehepaar       . 64 

Beschäftigung  der  Hermaphroditen  in  Florida  .116 

Der  Dichter  H.  C.  Andersen 202 

Büste  Elagabals 232 

Oskar  Wilde 266 

Murray  Hall,  man-woman ^? 


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Neue  Studien  auf  dem  Gebiete 
der  Homosexualität 

von 
R.  von  Krafft-Ebingr  (Wien). 

1. 

Zum  Verständnis 

der  konträren  Sexualempfindung. 


Als  die  medizinische  Wissenschaft  begann,  sich  ernst- 
lich mit  konträrer  Sexualität,  als  einer  Perversion  des  ge- 
schlechtlichen Fühlens  zu  beschäftigen  und  sie  von  bioser 
Perversität  (d.  h.  bei  mangelndem  Geschlechtsgefühl 
Personen  des  eigenen  Geschlechts  gegenüber  erfolgende 
sexuelle  Akte  an  solchen,  aus  seiner  Ziele  und  Zwecke 
noch  unklarem  geschlechtlichem  Drang  im  Stadium  eines 
noch  nicht  diflferenzierten  Geschlechtsgeftthls  —  bei  jungen 
Leuten,  aus  Eigennutz  —  bei  männlichen  Hetären,  aus 
sexualem  Kitzel  —  bei  verkommenen  Wüstlingen,  aus  über- 
grosser Libido  — bei  hypersexualen  sonst  normalen  Menschen 
faute  de  mieux)  zu  unterscheiden,  da  erschien  die  homo- 
sexuale Perversion  selbst  dem  ärztlichen  Forscher  als  eine 
solche  Monstrosität,  dass  er  sie  als  eine  psychopathische 
Erscheinung  auffassen  zu  müssen  glaubte. 

Casper  (Klinische  Novellen  1863)  hatte  sich  darauf 
beschränkt  zu  erklären,  dass  es  sich'hier  um  einen  , wunder- 
baren dunklen  unerklärlichen  angeborenen  Drang*  handle. 

Jahrbach  in.  1 


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T-      2      — 

Westphal  (Archiv  für  Psychiatrie  II),  der  die  Anomalie 
ebenfalls  als  eine  angeborene  erklärte,  wobei  aber  der 
Träger  derselben  das  Bewusstsein  ihrer  Krankhaftigkeit 
besitze,  Hess  es  unentschieden,  ob  sie  Symptom  eines  neuro- 
oder  eines  psychopathischen  Zustandes  sei  oder  als  isolierte 
Erscheinmig  vorkommen  könne. 

Die  folgende  wissenschaftliche  Forschung  hat  für 
alle  diese  von  Westphal  vorgesehenen  Möglichkeiten  Be- 
lege beigebracht,  ist  aber  immer  deutlicher  zur  Erkennt- 
nis vorgedrungen,  dass  die  konträre  Sexualempfindung  an 
und  für  sich  keine  Krankheit,  sondern  nur  eine  Anomalie 
bedeutet  und  dass  eventuell  zugleich  mit  ihr  vorfindliche 
Neuro-  und  Psychopathien  aus  gleicher  Quelle  (Belastung 
meist  hereditäre)  entstammende  oder  auch  direkt  oder  in- 
direkt, psychisch  oder  körperlich  durch  die  konträre 
Sexualempfindung  vermittelte  neurotische  oder  psychische 
Krankheitszustände  sind.  Damit  nähert  sich  die  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  dem  Standpunkt  der  konträr 
Sexualen  selbst,  die  nicht  müde  wurden,  im  Gegensatz  zu 
den  Anschauungen  der  Forscher  zu  betonen,  dass  ihre 
eigenartige  Geschlechtsempfinduug  zwar  im  Widerspruch 
mit  der  der  übergrossen  Majorität  ihrer  Geschlechts- 
genossen sei  und  den  Zwecken  der  Natur  nicht  ent- 
sprechend, gleichwohl  in  ihrem  Bewusstsein  als  eine 
adaequate,  natürliche  und  damit  berechtigte  sich  ihnea 
darstelle. 

Ulrichs  u.  A.  gingen  sogar  soweit,  die  staatliche  und 
soziale  Anerkennung  der  umischen  Liebe  aus  solchen 
Gründen  zu  verlangen,  selbst  mit  der  Konsequenz  einer 
„Ehe"  unter  Homosexualen.  Ein  schlagenderer  Beweis 
für  die  Tiefe  und  Lauterkeit  einer  solchen  Geschlechts- 
empfindung seitens  zahlreicher  ernst  zu  nehmender  Mit- 
bürger, die  sich  als  Märtyrer  ihrer  Organisation  und  ge- 
sellschaftlicher Zustände  fühlen,  könnte  nicht  erbracht 
werden.    Als  Correlat  steht  die  Thatsache  da,  dass  die 


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—    3    — 

meisten  derselben  Horror  vor  Personen  des  anderen  Ge- 
schlechtes empfinden  und  zu  sexualen  Akten  nur  mit 
solchen  des  eigenen  Tähig  sind.  Was  der  §  175  verpönt^ 
erscheint  ihnen  geradezu  natürlich  und  sittlich^  was  er 
zulässt,  widernatürlich,  und  unstatthaft!  Nach  mannig- 
fachen Irrtümern  über  Wesen  und  Bedeutung  der  k.  S. 
auf  Grund  einseitiger  psychologischer  Auffassungen  hat 
sich  wissenschaftlich  die  Ueberzeugung  herausgebildet^ 
dass  nur  entwicklungsgeschichtliche;  anthropologische,  bio- 
logische Thatsachen  hier  den  Weg  des  Verständnisses 
erschliessen  können.  Man  hat  sich  davon  überzeugt,  dass 
die  k.  S.  die  Verletzung  eines  empirischen  Naturgesetzes 
darstellt,  nach  welchem  die  Geschlechtlichkeit  eine  mono- 
sexuale ist  und  die  psychische  Artung  des  Geschlechts- 
lebens (Gefühl,  Trieb)  conform  der  Art  und  Entwicklung 
der  Anlage  der  Keimdrüsen  sich  vollzieht,  sodass  der 
Mann  nach  erreichter  Geschlechtsreife  ausschliesslich  vom 
Weibe,  dieses  vom  Manne  sinnlich  sich  angezogen  fühlt. 
Dasselbe  gilt  für  die  körperlichen  Geschlechts- 
charaktere, die  sich  dem  Typus  des  männlichen  resp.  des 
weiblichen  Körpers  entsprechend  herausgestalten,  je  nach- 
dem Hoden  oder  Ovarien  sich  aus  der  embryonalen  bi- 
sexuellen Anlage  entwickelt  haben.  Unter  dem  Einfluss 
noch  recht  dunkler  Störungen,  welche  die  empirisch  ge- 
setzliche Entwickelung  aus  der  foetalen  Existenz  eines 
Wesens  zur  monosexualen  und  der  Keimdrüse  kongruenten 
geschlechtlichen  Persönlichkeit  erfährt,  kann  es  nun  ge- 
schehen, dass  die  bisexuelle  Anlage  sich  behauptet  und 
doppelseitig  sich  entwickelt,  wobei  aber  regelmässig  die 
der  Keimdrüse  konträre  (cerebrale)  psychische  Anlage 
mehr  ausgebildet  ist  als  die  homologe  (psych.  Herma- 
phrodisie)  oder  dass  gar  die  vermöge  der  Keimanlage 
zur  Entwicklung  praedestinierte  untergeht  und  statt  ihrer 
sich  die  psychischen  (Geschlechtsgefühl,  Geschlechtstrieb, 
Charakter  etc.)  und  eventuell  auch  körperlichen  gegen- 

1* 


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—    4    — 

sätzlichen  Geschlechtscharaktere  entwickehi  und  behaupten 
(konträre  Sexualempfindung). 

Die  begreifliche  Folge  ist  dann  die,  dass  in  solchem 
Fall  ein  vermöge  seiner  primären  Geschlechtscharaktere 
(Hoden,  Genitalien)  als  Mann  anzusprechendes  Individuum 
weibliches  Geschlechtsgefühl  und  damit  ausschliesslich 
Inclination  zu  sexuellem  Umgang  mit  Personen  des  eigenen 
Geschlechtes  hat  und  umgekehrt  Weiber  (Schein weiber, 
weil  sie  männliches  Geschlechtsgefühl  haben  und  von 
den  psychischen  und  körperlichen  Geschlechtscharakteren 
des  Weibes  angezogen  werden)  zu  Weibern. 

Es  ergeben  sich  innerhalb  dieser  anormalen  Artung 
Nuancen,  Gradstufen,  insofern  blos  das  konträre  Ge- 
schlechtsgefühl entwickelt  ist  (Homosexualität)  oder  alle 
psychischen  Geschlechtscharaktere  konträr  geartet  sind 
(Effeminatio  —  Mann,  Viraginität  —  Weib)  oder  daran 
sogar  die  körperlichen  Geschlechtscharaktere  beteiligt 
sind  (Androgynie  —  Mann;  Gynandrie  —  Weib). 

Mit  dieser  Erkenntnis  nähert  sich  die  wissenschaft- 
liche Auffassung  des  Problems  den  Anschauungen,  welche 
Ulrichs  u.  A.,  selbst  Effeminierter,  s.  Zeit  dem  Wesen  des 
Uranismus  entgegenbrachte,  indem  er  von  einer  ^Anima 
muliebris  in  corpore  virili  inclusa"  allen  Ernstes  sprach. 
Als  Laie  vermochte  er  sein  weibliches  Empfinden  nicht 
anders  zu  deuten.  Hätte  er  erklärt,  dass  das  Geschlechts- 
gefühl, überhaupt  das  ganze  Empfinden  des  Mannes  (als 
Scheinmann,  re  vera  Weib)  weiblich  sein  könne  und  da- 
durch Personen  des  eigenen  Geschlechtes  zugewendet,  so 
wäre  man  eher  zu  einem  gegenseitigen  Verständnis  ge- 
langt und  hätte  die  Schriflen  Ulrich's  gelesen,  die  als 
Anschauungen,  Erfahrungen,  Gefühle  eines  Weibmannes, 
dazu  eines  gebildeten  und  wahrheitsliebenden,  für  die 
Forschung  auf  diesem  Gebiet  nicht  gering  veranschlagt 
werden  dürfen. 


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—    5    — 

Der  Erkenntnis  gegenüber,  dass  die  k.  S.  eine  ein- 
geborene Anomalie,  eine  Störung  in  der  Evolution  des 
Geschlechtslebens  qua  monosexualer  und  der  Artung  der 
Geschlechtsdrüsen  congruenter  seelisch-körperlicher  Ent- 
wickelung  darstellt,  lässt  sich  der  Begriff  der  , Krank- 
heit* nicht  festhalten.  Viel  eher  kann  man  hier  von 
einer  Missbildung  sprechen  und  die  Anomalie  mit  körper- 
lichen Missbildungen,  z.  B.  anatomischen  Abweichungen 
vom  Bildungstypus  in  Parallele  stellen.  Damit  ist  aber 
der  Annahme  einer  gleichzeitigen  Psychopathie  nichts 
praejudiziert,  denn  Personen,  welche  derartige  anatomische 
und  auch  funktionelle  Abweichungen  vom  Typus  (Stig- 
mata degenerationis)  darbieten,  können  zeitlebens  psychisch 
gesund  bleiben,  ja  selbst  überwertig  sein.  Immerhin  wird 
ein  so  schwerwiegendes  Ausderartschlagen,  wie  die  ver- 
kehrte Geschlechtsempfindung,  eine  viel  grössere  Be- 
deutung für  die  Psyche  haben,  als  so  manche  anderweitige 
anatomische  oder  funktionelle  Entartungserscheinung.  So 
erklärt  es  sich  wohl,  dass  die  Störung  in  der  Entwick- 
lung eines  normalen  Geschlechtslebens  öfters  der  Ent- 
stehung eines  bestimmten  und  festen  Charakters,  der 
£nt\yicklung  einer  harmonischen  psychischen  Persönlich- 
keit abträglich  werden  kann. 

Nicht  selten  stösst  man  bei  konträr  Sexualen  auf 
neuropathische  und  psychopathische  Veranlagungen,  so 
z.  B.  auf  konstitutionelle  Neurasthenien  und  Hysterien,  auf 
mildere  Formen  periodischer  Psychose,  auf  Entwicklungs- 
hemmungen psychischer  Energien  (Intelligenz,  moralischer 
Sinn)  unter  welchen  besonders  die  ethische  Minderwertig- 
keit^ namentlich  wenn  zugleich  Hypersexualität  vorhanden 
ist,  zu  den  schwersten  Verirrungen  des  Geschlechtstriebes 
führen  kann.  Immerhin  kann  man  nachweisen,  dass, 
relativ  genommen,  die  Heterosexualen  viel  grössere  Cyniker 
zu  sein  pflegen,  als  die  Homosexualen. 

Auch  weitere  Entartungserscheinungen  auf  sexuellem 


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—    6    — 

Gebiet  in  Gestalt  von  Sadismus,  Masochismus,  Fetischis- 
mus finden  sich  ungleich  häufiger  bei  den  Ersteren. 

Alle  diese  Erscheinungen  sind  jedenfalls  der  konträren 
Sexualempfindung  an  und  für  sich  nicht  zukommende, 
sondern  ihr  koordinierte  und  aus  der  gemeinsamen  Quelle 
der  Belastung  herzuleitende. 

Das  Gleiche  gilt  für  eine  besondere  Art  des  Feti- 
schismus —  die  von  mir  so  genannte  Paedophilia  erotica. 

Auch  diese  finde  ich  häufiger  bei  Hetero-  als  Homo- 
sexualen. Es  ist  eine  Fabel  oder  eine  Verleumdung,  dass 
der  Konträrsexuale  als  solcher  der  Jugend  gefährlich 
wird.  Es  ist  dies  ebenso  wenig  annehmbar  als  beim 
Heterosexualen  an  und  für  sich,  denn  die  Homosexuali- 
tät ist  ein  Aequivalent  der  HeteroSexualität  und  der  Ge- 
schlechtstrieb des  erwachsenen  normalen  Heterosexualen 
niemals  auf  das  Unreife  gerichtet 

Als  die  Bedingung  für  Paedophilia  vera  erscheint 
ein  besonderer  fetischistischer  Zwang,  eine  eigenartige 
Perversion  der  Vita  Sexualis.  Ausserhalb  dieser  Per- 
version besteht  die  Möglichkeit,  dass  ein  Imbeciller  oder 
ein  Senil-  oder  paralytisch  Verblödeter,  ein  in  einem 
epileptischen  oder  sonstigen  psychischen  Ausnahmszustand 
Befindlicher  sich  an  der  Jugend  vergreift.  Dass  die  kon- 
träre Sexualempfindimg  an  und  für  sich  nicht  als  psych- 
ische Entartung  oder  gar  Krankheit  betrachtet  werden 
darf,  geht  u.  A.  daraus  her\^or,  dass  sie  sogar  mit  geist- 
iger Superiorität  vereinbar  ist.  —  Beweis  dafür  Männer 
bei  allen  Nationen,  deren  konträre  Sexualität  festgestellt 
ist  und  die  gleichwohl  als  Schriftsteller,  Dichter,  Künstler, 
Feldherm,  Staatsmänner  der  Stolz  ihres  Volkes  sind. 

Ein  weiterer  Beweis  dafür,  dass  die  konträre  Sexual- 
empfindung nicht  Krankheit,  aber  auch  nicht  lasterhafte 
Hingabe  an  das  Unsittliche  sein  kann,  liegt  darin,  dass 
sie  alle  die  edlen  Regungen  des  Herzens,  welche  die 
heterosexuale   Liebe   hervorzubringen   vermag,    ebenfalls 


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entwickeln  kann  —  in  Gestalt  von  Edelmut,  Aufopferung, 
Menschenliebe,  Kunstsinn,  eigene  schöpferiscbe  Thätig- 
keit  usw.,  aber  auch  die  Leidenschaften  und  Fehler  der 
Liebe  (Eifersucht,  Selbstmord,  Mord,  unglückliche  Liebe 
mit  ihrem  deletären  Einfluss  auf  Seele  und  Körper  usw.) 
Auf  Grund    dieser  Thatsachen   lässt  sich  annehmen: 

1.  Konträre  Sexualempfindung  ist  eine  gänzlich  un- 
verschuldete, weil  durch  Störimg  des  Waltens 
empirischer  Naturgesetze  begründete,  Erscheinung. 

2.  Sie  verdient  Mitleid,  nicht  aber  Verachtung,  gleich 
jeder  anderen  Missbildung  oder  Funktionsstörung. 

3.  Ihr  Vorhandensein  präjudiziert  nicht  der  An- 
nahme einer  Ungetrübtheit  der  seelischen  Funk- 
tionen, ist  mit  normaler  geistiger  Funktion  verträglich. 


2. 

Ueber  tardive  Homosexualität 

Es  geschieht  zuweilen,  dass  homosexuelle  Empfind- 
ungen und  Antriebe  erst  im  späteren  Leben  auftreten, 
als  anscheinend  erworbene,  nach  Umständen  als  gezüch- 
tete Anomalie,  während  in  der  Regel  die  konträre  Sexual- 
«mpfindung  schon  pubisch  oder  selbst  praepubisch  zu  Tage 
tritt.  Ein  sorgfältiges  Studium  dieser  hinter  den  ange- 
borenen numerisch  stark  zurückbleibenden  Fälle  hat  mir 
folgendes  ergeben: 

1.  seltene  Fälle  von  tardiver  Entwickelung  des 
Sexuallebens  überhaupt,  bei  übrigens  als  primäre  und  an- 
geborene   Anomalie    feststellbarer    konträrer    Sexualität. 

2.  Fälle  von  sog.  psychischer  Hermaphrodisie,  in 
welcher  Wille  und  sittliche  Widerstandskraft  zu  Gunsten 
der  (immerhin  schwachen)  heterosexualen  Veranlagung 
den  Geschlechtstrieb  im  Sinne  dieser  ausschliesslich  thätig 
«ein  Hessen,  die  Antriebe  aus  der  konträren  Veranlagung 


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—    8    — 

zu  reprimieren  vermochteD^  bis  aus  äusseren  Gründen 
(Leidenschaft,  Verführung,  Ansteckung  durch  ein 
Weib  etc.)  oder  inneren  (s.  3.  Gruppe)  jene  eines  Tages 
versagten  und  das  konträre  Geschlechtsgebiet  zur  aus- 
schliesslichen Herrschaft  gelangen  Hessen. 

Diese  Gruppe  ist  jedenfalls  die  häufigste  und  wich- 
tigste und  nächst  der  folgenden,  die  für  die  Therapie 
aussichtsvollste. 

8.  Diese  Gruppe  besteht  aus  mannigfachen,  aus  der 
stärkeren  oder  geringeren  Belastung  sich  ergebenden 
Uebergangsfällen  zu  heterosexual  ursprünglich  empfinden- 
den Individuen,  bei  welchen  allerdings  zur  Zeit  der  Ent- 
wicklung des  Geschlechtslebens  die  der  Keimdrüse  adaequate 
cerebrale  Organisation  zur  Herrschaft  gelangt  ist  Die 
mangelhafte  harmonische  Entwicklung  einer  Heterosexuali- 
tät  bei  diesen  Existenzen  giebt  sicli  aber  nicht  blos 
durch  die  folgende  Katastrophe  anlässlich  geringfügiger 
Anlässe  kund,  sondern  auch  durch  Hinweise  auf  eine 
nicht  ganz  zur  Unterdrückung  gelangte,  mindestens  latent 
fortbestehende  konträre  Sexualität  in  Gestalt  von  verein- 
zelten konträren  körperlichen  oder  psychischen  sekun- 
dären Geschlechtscharakteren,  durch  eventuell  im  Traum- 
leben oder  in  psychischen  Ausnahmszuständen  z.  B.  im 
Bausch  zu  Tage  tretende  Zeichen  von  Erregbarkeit  der 
sonst  latenten  konträren  Sexualsphäre. 

Niemals  habe  ich  bei  sog.  erworbener,  richtiger  tar- 
diver  konträrer  Sexualempfindung  Hinweise  auf  eine  bi- 
sexuelle Veranlagung  verroisst.  Gewöhnlich  bestand  auch 
ein  abnorm  starkes  sexuelles  Bedürfnis.  (Hyperaesthesia 
sexualis.) 

Damit  ein  dergestalt  ungünstig  veranlagtes,  d.  h.  mit 
ungenügenden  Streitkräften  ausgestattetes,  im  Kampfe 
um  Hetero-  und  Monosexualität  nicht  erstarirtes  Zentrum 
eines  Tages  zu  Gunsten  des  gegensätzlichen,  bisher  latent 
gebliebenen  depossediert  wird  und  eventuell  dauernd  die 


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—    9    — 

Herrschaft  verliert,  dazu  bedarf  es  aber  bei  dem  über- 
haupt Veranlagten  einer  Reihe  von  weiteren  seelischen 
und  körperlichen  Schädigungen  und  nicht  blos  gering- 
fügiger psychologischer  Veranlassungen,  die  nur  die  Be- 
deutung eines  letzten  Gliedes  in  der  Kette  der  Ursachen 
haben. 

Gewöhnlich  handelt  es  sich  um  belastete  hypersexu- 
ale Individuen  von  abnorm  früh  sich  regenden  Bedürf- 
nissen, die  schon  im  frühen  Kindesalter  der  Mas1.urbation 
verfallen.  Bei  solchen  Belasteten,  auch  spinal  wenig 
Widerstandsfähigen,  kommt  es  aber  fiüh  zu  Neurasthenie. 
Diese  schwächt  die  Libido  zum  anderen  Geschlecht,  ruft 
psychische  und  physische  Impotenz  hervor  und  Mangel 
der  Wollustempfindung  (Anaphrodisie)  beim  geschlecht- 
lichen Akt  und  drängt  vom  Weibe  ab.  In  anderen  Fällen 
konmit  dazu  noch  der  üble  Einfiuss  auf  die  Psyche  in 
Gestalt  einer  am  Körper  des  Weibes  erlittenen  Infektion. 
Immer  wieder  kehrt  der  sexuell  abnorm  Bedürftige  zur 
Masturbation  zurück  und  fordert  damit  seine  Neurasthenie, 
die  ihrerseits  wieder  schädigend  auf  Geist  und  Körper 
wirkt  In  solchem  Zustand  physischen  und  moralischen 
Unbehagens,  auf  dem  Nullpunkt  normaler  geschlecht- 
licher Empfindungsweise  entwickelt  sich  nun  aus  seiner 
bisherigen  Latenz  bei  dem  immer  noch  Libidinösen  das 
gegensätzliche  sexuale  Zentrum.  Damit  erwacht  Ge-* 
schlechtsgefühl  für  das  eigene  Geschlecht  und  nun  ver- 
mag dann  allerdings  Verführung  das  letzte  Glied  in 
der  Kette  der  Ursachen  abzugeben  und  eine  neue  Sexu- 
alität zu  schaffen.  Hier  hat  die  ärztliche  Kunst  Spiel- 
raum insofern  eine  rechtzeitige  Bekämpfung  der  Mastur- 
bation und  der  Neurasthenie,  eventuell  unter  Zuhülfe- 
nahme  suggestiver  Behandlung  die  normale  Sexualität 
wieder  herstellen  kann,  wobei  allerdings  die  Ge&hr  be- 
steht, dass  jeweils  mit  Wiederkehr  der  alten  Schädlich- 
keiten neuerliche  Entgleisung  erfolgt. 


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—    10    — 

Immerhin  sind  dies  die  günstigsten  Fälle  für  die 
Therapie  und  hängt  es  im  Allgemeinen  nur  von  deren 
rechtzeitigem  Eingreifen,  ihrer  Dauer  imd  günstigen 
äusseren  Umständen  ab,  um  den  Erfolg  sicher  zu  stellen. 

Da   solche   Fälle  von  , erworbener"    Homosexualität 
nicht  sehr    häufig,  noch  seltener  aber  vorurteilsfrei  beo- 
bachtet sind,  lasse  ich  einige  einschlägige  Beobachtungen 
hier  folgen. 
Beob.  1.  Erworbene  konträre  Sexualempfindung. 

Herr  B.,  32  J.,  Beamter,  seit  4  Jahren  verheiratet, 
Eltern  angeblich  unbelastet,  Bruder  Idiot,  2  Schwestern 
hochgradig  neuropathisch.  B.  war  von  Kindesbeinen  an 
schwächlich,  nervös,  emotiv,  litt  viel  an  Cephalaea,  war 
vom  16.  Jahre  ab,  wo  seine  Vita  sexualis  erwachte,  sehr 
sinnlich,  befriedigte  sich  zunächst  durch  Masturbation, 
vom  17.  Jahre  an  schon  mit  Coitus  cum  muliere,  in  dem 
er  häufig  excedirte.  Bis  zum  26.  Jahre  hatte  B.  nur  für 
das  Genus  femininum  Interesse  und  anlässlich  Pollutionen 
nur  heterosexuelle  Träume  gehabt  Er  erinnert  sich,  dass, 
als  ihn,  etwa  im  15.  Lebensjahre,  ein  Kamerad  verführen 
wollte,  er  diesen  nicht  begreifen  konnte  und  zurückwies. 

Mit  25  Jahren  hatte  B.  aus  Neigung  geheiratet.    Seine 

Frau    ist    eine    frigide  Persönlichkeit,    verhielt   sich   ab- 

stossend  beim  maritalen  Verkehr.   Ueberdies  entdeckte  er 

•bei  ihr  einen  kleinen  Schönheitsfehler,  der   ihn    peinlich 

berührte. 

Sinnlich  und  auf  seine  Frau  angewiesen,  da  er  sich 
nicht  entschliessen  konnte,  sich  Personen  der  demi-monde 
zuzuwenden,  forcirte  er  maritalen  Coitus,  in  der  Hoffnung, 
die  sinnliche  Liebe  der  Frau  zu  erwerben. 

Diese  Hoffnung  erfüllte  sich  nicht.  Der  Coitus  wurde 
immer  unbefriedigender,  die  Ejakulation  trat  tardiv  und 
ohne  Wollustgefühl  ein.  B.  wurde  neurasthenisch,  ver- 
kehrte immer  seltener  cum  uxore. 

In  dieser  seelisch    körperlichen  Verfassung   geschah 


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—  11   — 

€S  ihm,  dass  er  einen  Soldaten  erblickte,  der  sofort 
seine  Aufmerksamkeit  fesselte.  ^Es  war  ein  liebens- 
würdiger junger  Mann,  der  etwas  Mädchenhaftes  an  sich 
hatte*.  Es  zwang  den  B.,  sich  diesem  zu  nähern  und  als 
er  dessen  Hände  berührte,  fühlte  er  eine  bisher  nie  ge- 
kannte geschlechtliche  Aufregung. 

Von  da  ab  war  sein  Interesse  für  das  "Weib  fast  er- 
loschen. Er  fand  nur  noch  junge  Männer  hübsch  und 
begehrenswert,  musste  sich  zusanmiennehmen,  um  solche 
auf  der  Strasse  nicht  anzureden.  Besonders  gefährlich 
waren  ihm  noch  bartlose  junge  Männer  von  strammem 
Körper  und  anständigem  Aussehen.  B.  war  sehr  im- 
glücklich  über  diese  Entdeckung,  die  •  er  peinlich  und  un- 
begreiflich fand.  Er  bemühte  sich  seinem  Drang,  sexuell 
mit  Männern  zu  verkehren,  zu  widerstehen,  gab  sich  Mühe, 
sich  mit  maritalem  Coitus  zu  begnügen,  suchte,  als  ihm 
dies  nicht  gelang,  zum  Schutz  gegen  seine  homosexualen 
Antriebe,  sexuellen  Verkehr  mit  käuflichen  Weibern  auf, 
fand  aber  dabei  nicht  die  geringste  Befriedigung  mehr 
und  unterlag  eines  Tages  seinem  homosexuellen  Drang. 
Da  blose  Berührung  seiner  partes  genitales  durch  Männer- 
hand zur  Ejakulation  genügte,  beschränkte  er  sich  auf 
Masturbatio  passiva,  die  mit  grossem  sexuellem  Genuss 
verbunden  war. 

Nach  solchem  Akt  empfand  er  aber  Ekel  vor  der 
Handlung  und  vor  Demjenigen,  der  sich  ihm  hingegeben 
hatte.  Eines  Tages,  nach  dem  Zusammensein  mit  einem 
jungen  Mann,  trat  diese  Ernüchterung  aber  nicht  mehr  ein. 
B.  verliebte  sich  sterblich  in  diesen  Adonis  und  fand 
Gegenliebe.  Nachdem  er  alle  Seligkeiten  und  Qualen 
einer  solchen  Liebe  durchgemacht  hatte,  erschrak  er  bezüg- 
lich seiner  Zukunft,  zumal  sein  Genosse  über  diese  unglück- 
liche Richtung  der  Vita  sexualis  ebenso  bestürzt  war,  wie 
er.  B.  erkannte,  dass  ein  solches  homosexuales  Verhältnis 
der  Ruin  seiner  Ehe  imd  der  Ruin  seines  Genossen  sein 


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—    12    — 

müsste,  gewann  es  über  sieh,  ihm  zu  entsagen,  erkannte 
aber  bald,  dass  zu  solchem  Heroismus  seine  Kraft  nicht 
ausreichte  und  wandte  sich  um  Rat  und  Hilfe  an  den 
Arzt.  Bemerkenswert  ist,  das  die  homosexualen  Ent- 
gleisungen des  6.  regelmässig  mit  Exacerbationen  seiner 
Neurasthenie  zusammengefallen  waren.  Energische  Wach- 
suggestionen und  antineurasthenische  Behandlung  waren 
die  ärztlichen  Massregeln. 

B.  ist  eine  stattliche,  durchaus  virile  Erscheinung. 
Ausser  massiger  Neurasthenie  bietet  er  seelisch  imd 
körperlich  nichts  Bemerkenswertes. 

Beob.  2.  L.  31  J.  von  an  Hemicranie  leidender 
nervöser  Mutter  normal  geboren,  von  Kindesbeinen  auf 
selbst  nervös,  hat  eine  treffliche  Erziehung  genossen. 
Vom  11.  Jahre  ab  litt  er  einige  Zeit  an  Chorea.  Im 
14.  Jahre  verführte  ihn  ein  Schulkamerad  zur  Onanie. 
Von  der  Pubertät  ab  kamen  zeitweise  depressive 
Stimmungen,  ohne  allen  Grund  über  ihn,  die  wohl  als 
milde  Anfälle  periodischer  Melancholie  zu  deuten  sind 
und  auch  neuerlich  wiexlerkehren,  aber  nach  aussen  hin 
beherrschbar  sind.  Vom  17.  Jahre  ab,  als  seine  Kameraden 
junge  Damen  anzuschwärmen  begannen,  wunderte  er  sich 
stets,  dass  er  kein  rechtes  Interesse  für  das  weibliche  Ge- 
schlecht empfand.  Er  verweilte  lieber  in  der  Gesellschaft 
von  jungen  Männern,  aber  ohne  jegliche  geschlechtliche 
Neigung  zu  solchen. 

Auf  der  Universität  konnte  er  sich  nicht  entschliessen, 
dem  Beispiel  der  Anderen  zu  folgen  und  das  Bordell  zu 
besuchen.  Er  zog  sich  dadurch  manchen  Spott  zu.  Zum 
Teil  um  seine  Onanie  loszuwerden,  versuchte  er  vom  20. 
Jalire  ab  Coitus  cum  puella,  hatte  normale  Erection  aber 
präcipitirte  Ejaculation,  empfand  gar  keinen  Genuss  beim 
sexuellen  Akt,  sodass  er  es  vorzog  seinen  Detumescenz- 
trieb  durch  Masturbation  zu  befriedigen.  Er  wurde  neu- 
rasthenisch,  erkannte  als  Ursache  die  Masturbation,  suchte 


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—    13    — 

sie  thunlichst  zu  unterdrücken,  was  ihm  auch,  da  sein 
geschlechtliches  Bedürfnis  kein  grosses  war,  oft  längere 
Zeit  gelang.  In  eine  solche  Episode  gebesserter  Neu- 
rasthenie fiel  eine  Neigung  zu  einer  jungen  Dame.  Sie 
war  aber  nicht  tief  und  verflüchtigte  sich  mit  der  Abreise 
der  Betreffenden.  Vom  23.  Jahr  ab  fingen  hübsche  junge 
Männer  an  ihn  zu  interessieren.  Er  suchte  ihre  Gesell- 
schaft auf,  will  aber  damals  noch  keine  sinnlichen  Neig- 
ungen zu  ihnen  gefühlt  haben.  Sein  geschlechtlicher 
Verkehr  mit  dem  anderen  Geschlecht  beschränkte  sich 
zu  jener  Zeit  auf  seltene  Cohabitationen,  wobei  ihn  zwar 
puella  nuda  einigermassen  reizte,  aber  der  Akt  als  solcher 
nach  wie  vor  ohne  Befriedigung  blieb.  Das  Interesse  am 
Weib  schwand  immer  mehr.  Nun  erwachte  Geschlechts- 
gefühl gegenüber  dem  Manne  und  die  Sehnsucht  mit 
Personen  des  eigenen  Geschlechts  sexuell  zu  verkehren, 
die  er  mühsam  bekämpfte.  Mittlerweile  hatte  Z.  sein 
Domizil  in  der  Grossstadt  genommen.  Dort  fielen  ihm 
bald  die  männlichen  Hetären  auf.  Es  trieb  ihn  förmlich 
zu  solchen  und  an  Orte,  wo  sie  sich  herumtrieben.  Nach 
qualvollen  Kämpfen  erlag  er,  empfand  momentan 
die  höchste  Wollust,  dann  aber  Scham  über  seinen 
Fehltritt^  wurde  über  diesen  Gemütsbewegungen  und  durch 
Surmenage,  das  er  sich  auferlegte,  um  nicht  rückfallig  zu 
werden,  wohl  auch  durch  Masturbation,  schwer  neu- 
rasthenisch.  Längerer  Aufenthalt  in  einer  Wasserheil- 
anstalt wirkte  günstig.  Heimgekehrt  vermochte  er  sich 
längere  Zeit  durch  intensive  geistige  Arbeit  von  aller 
Sinnlichkeit  frei  zu  halten  und  sein  seelisches  Gleich- 
gewicht zu  behaupten. 

Eine  Neigung  zum  Weibe  stellte  sich  gleichwohl 
nicht  ein.  Als  der  Geschlechtstrieb  sich  wieder  stärker 
regte,  zwang  er  sich  zum  Umgang  mit  weiblichen  Hetären^ 
aber  mit  dem  gleichen  Erfolg  wie  früher.  Nun  kam  eine 
Zeit,   wo    , trotz    fürchterlicher   Gewissensbisse   und    des 


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—     14    — 

Gefühls  der  tiefsten  Erniedrigung  und  Selbstverachtung* 
sich  die  homosexualen  Uebertretungen  mehrere  mal  wieder- 
holten. Da  lernte  er  einen  jungen  Mann  kennen^  dessen 
Freundschaft  reinigend  und  erhebend  auf  ihn  wirkte. 
Die  , unsauberen  Gedanken*  traten  in  dessen  Gegenwart 
ganz  in  den  Hintergrund. 

Z.  fühlte  sich  beglückt^  veredelt  in  dessen  Nähe. 
Dieser  Verkehr  dauerte  durch  Wegzug  des  Betreffenden 
nur  kurze  Zeit  Nun  folgte  eine  Periode  stark  sinnlicher 
Erregung,  erfolgloser  Versuche  apud  feminas  und  durch 
Masturbation  sich  vor  Rückfällen  in  homosexualen  Ver- 
kehr zu  schützen,  Flucht  auf  das  religiöse  Gebiet,  Versuch 
ablenkender  Berufsarbeit  —  Alles  erfolglos.  Mit  exa- 
cerbirender  Neurasthenie  homosexuelle  Orgien,  dann  Liebes- 
verhältnis mit  einem  jungen  Mann.  Dieses  that  moralisch 
und  physisch  wohl.  Z.  wurde  ruhiger  und  fing  an  seine 
abnorme  Vita  Sexualis  mit  Resignation  und  als  ein  krank- 
haftes Etwas  zu  betrachten.  Endlich  versuchte  er  ärztlichen 
Rat  und  Hilfe  dagegen,  was  mir  seine  Bekanntschaft  ver- 
schaffte. Ich  fand  an  ihm  einen  distinguierten,  intellek- 
tuell und  ethisch  hochstehenden  Menschen,  tief  gebeugt 
durch  seine  fatale  Situation,  durchaus  viril,  von  normalen 
Genitalien,  ohne  alle  Degenerationszeichen,  mit  Erschein- 
ungen allgemeiner  Neurasthenie  und  riet  zu  Unterdrück- 
ung der  Masturbation,  frugaler  Lebensweise,  Abstinenz 
von  Alkohol,  Selbstzucht,  Behandlung  in  einer  Wafiser- 
heilanstalt,  mit  eventueller  Zuhilfenahme  einer  Suggestions- 
therapie. 

Beob.  3.  X.  Jurist,  23  Jahr,  von  neuropathischen  Eltern^ 
fing  schon  im  8.  Jahre  an  sich  für  die  Genitalien  seiner 
Gespielen  zu  interessieren,  ohne  sich  geschlechtlicher  Dinge 
bewusst  zu  sein.  Die  Anteriora  von  Mädchen  zu  be- 
schauen, kam  ihm  nicht  in  den  Sinn.  Eines  Tages  ent- 
deckte er  bei  einem  israelitischen  Mitschüler  ein  be- 
schnittenes Membrum,  erfuhr  den  Sachverhalt  und  musste 


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—    15    — 

von  nun  ab  viel  über  die  BeschDeidung  grübehi.  Mit  13 
Jahren  erwachte  seine  Vita  sexualis.  Es  war  hypersexual, 
masturbierte,  besuchte  seit  dem  18.  Jahr  eijfrig  das  Lupa- 
nar,  war  potent,  hatte  aber  nur  sehr  geringe  Befriedig- 
ung. Daneben  Masturbation,  die  ihm  mehr  zusagte.  Er 
wurde  neurasthenisch,  h3^ochondrisch  verstimmt^  hatte  eine 
Zeit  lang  Lebensüberdruss,  erkannte  die  Schädlichkeit  der 
Masturbation,  bezwang  sie  eine  Zeit  lang;  suchte  Ersatz 
beim  Weib,  ejaculierte  aber  zu  früh,  hatte  auch  gar  keine 
Befriedigung  mehr  und  geriet  wieder  an  Onanie,  die  seine 
Neurasthenie  exacerbieren  machte.  Nun  erwachte  Interesse 
an  hübschen  Männern,  aber  es  war  vorläufig  ein  blos 
ästhetisches.  Er  besuchte  fieissig  öffentliche  Bäder,  um 
ihres  Anblickes  teilhaftig  zu  werden.  Glücklicherweise 
nahte  ihm  kein  Verführer.  Er  erkannte,  dass  er  sexuell 
auf  Abwege  gerate,  zumal  da  es  ihn  zwang,  an  Anstands- 
orten herumzulungern,  um  der  Genitalien  andrer  Männer 
ansichtig  zu  werden. 

Erfolgreich  gegen  Masturbation  ankämpfend,  suchte 
er  neuerlich  seinen  Trieb  im  Lupanar  zu  befriedigen.  Es 
gelang  ihm  Coitus  und  er  erzielte  leidliche  Befriedigung, 
wenn  er  sich  inter  actum  Genitalia  virilia  vorstellte. 

Da  er  seiner  Widerstandskraft  gegen  männliche 
Attraktionen  misstraute,  suchte  er  ärztliche  Hilfe.  Unter 
antineurasthenischer  Behandlung  und  hypnotisch  suggestiver 
Kur  mit  dem  Zweck,  ihm  Abscheu  vor  Masturbation  und 
vor  Männerliebe  einzupflanzen  (Pat.  erwies  sich  ziemlich 
hypnotisierbar  und  suggestibel)  gelang  es,  ihn  dauernd  von 
homosexuellen  Neigungen  zu  befreien  und  dem  Weibe 
gegenüber  potent  zu  machen.  Er  coitierte  seither  ohne 
Schwierigkeit  und  ohne  in  der  Phantasie  an  membra 
virilia  denken  zu  müssen,  mit  ziemlicher  Befriedigung. 

Beob.  4.  V.  23  Jahr,  Privatbeamter,  von  hystero- 
pathischem  Vater  und  höchst  nervöser  Mutter,  seit  der 
Kindheit  mit  Tic  convulsif  behaftet,  als  12jähriger  Knabe 


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—    16    — 

von  Kameraden  zur  Masturbation  verführt,  trieb  sie  seit- 
her leidenschaftlich,  selbst  bis  zu  dreimal  an  einem  Tage, 
coitierte  seit  dem  17.  Jahre  mit  Potenz,  aber  sehr  geringer 
Befnedigung.  Er  fühlte  keine  Neigung  zum  Weibe, 
coitierte  nur,  um  das  auch  mitzumachen,  und  fühlte  sich 
mehr  befriedigt,  wenn  ihn  die  puella  manustuprierte, 
sowie  durch  tactus  genitalium  feminae.  Seine  Haupt- 
befriedigung blieb  solitäre  Onanie.  Vom  20.  Jahr  ab 
wurde  er  neurasthenisch,  anaphrodisisch  im  Umgang  mit 
dem  Weibe,  verzichtete  auf  Coitus  und  fühlte  sich  sehr 
unglücklich,  verstimmt,  dabei  von  Pollutionen  geplagt, 
bei  welchen  anfangs  auch  Traumbilder  von  nackten  noch 
unentwickelten  Mädchen,  dann  aber  von  mutuelle  Mastur- 
bation mit  ihm  vollziehenden  Jünglingen  sich  einstellten. 
In  solcher  Verfassung  berührte  eines  Tages  im  Strassen- 
gewühl  ein  junger  Mann  seine  Genitalien.  Sofort  Erektion 
und  Ejakulation  unter  Wollustschauer.  Von  nun  an 
hatten  nur  noch  etwa  ISjährige  junge  Leute  für  ihn  Reiz. 
Es  drängte  ihn  solche  zu  küssen,  an  sich  zu  drücken. 
Er  vermochte  diesem  Gelüste  zu  widerstehen,  suchte  und 
fand  Aufklärung  über  seine  ihm  selbst  pathologisch  er- 
scheinende geschlechtliche  Situation  und  war  sehr  ge- 
tröstet, als  er  den  Sachverhalt  erfuhr^  Pat.  hat  anatomische 
Degenerationszeichen  (verbildete  Ohren  etc.),  die  aber 
grossenteils  (verbildeter  Schädel,  Misswachs  der  Zähne) 
auf  Rachitismus  zurückgeführt  werden  konnten.  Daneben 
Tic,  Neurasthenie.  Genitalien  normal  gebildet  Pat. 
wurde  einer  entsprechenden  Behandlung  zugeführt  Der 
Erfolg  derselben  konnte  nicht  eruiert  werden. 

Beob.  5.  W.  28  Jahre,  aus  belasteter  Familie,  mit 
12  Jahren  von  Kameraden  zur  Masturbation  verleitet, 
fröhnte  ihr  bis  zum  19.  Jahr  und  will  oft  Phantasien  nach- 
gehangen haben,  er  befinde  sich  in  der  Gewalt  kraftvoller 
Männer,  denen  er  in  jeder  Weise  unterwürfig  sein  müsse. 
Der  sexuellen,  speziell  masochistischen  Bedeutung  solcher 


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—    17    — 

Vorstellungen  will  er  sich  aber  nicht  bewusst  gewor- 
den sein. 

Mit  19  Jahren  wandte  sich  W.  aus  eigenem  Antrieb 
dem  Weibe  zu,  coitierte  mit  Genuss,  fühlte  sich  glück- 
lich, so  die  Onanie  los  zu  werden.  Da  kam  das  Ver- 
hängnis in  Gestalt  einer  Gonorhoe.  Genesen,  empfand  er 
Scheu  vor  derartigen  ansteckenden  Elrankheiten,  getraute 
sich  nicht,  den  früheren  Verkehr  mit  Hetären  wieder 
aufzunehmen,  verfiel  neuerlich  in  Onanie,  Mrurde  neu- 
rasthenisch,  entschloss  sich,  um  von  dieser  Neurose  los- 
zukommen, das  Lupanar  wieder  aufzusuchen,  war  aber 
nun  impotent  und  darüber  untröstlich.  In  dieser  seelisch 
körperlichen  misslichen  Situation  kamen  wieder  die 
früheren  homosexual  masochistischen  Phantasien  aus  der 
Pubertätszeit.  Er  hing  ihnen  nach,  hatte  auch  bezügliche 
Traumbilder  zur  Zeit  von  Pollutionen,  fühlte  sich  inmier 
mehr  zu  kräftigen  Männern  geschlechtlich  hingezogen  und 
erlag  eines  Tages  der  Verführung  eines  solchen. 

Beob.  6.  Erworbene  konträre  Sexualempfin- 
dung. Unzucht  wider  die  Natur.  Keine  Ver- 
urteilung. Sanierung  der  Vita  sexualis  durch 
ärztliche  Behandlung. 

Am  20.  August  1898  wurde  der  37  Jahre  alte  ledige 
Handelsagent  Z.  in  Haft  genommen,  weil  gegen  ihn  der 
begründete  Verdacht  sich  ergeben  hatte,  dass  er  mit  dem 
Komptoiristen  L.  Unzucht  wider  die  Natur  durch  gegen- 
seitige Masturbation  ti*eibe. 

Bei  L.  hatten  sich  Briefe  vorgefunden,  in  welchen 
Z.  ihn  als  Grauner,  Schuft^  Scheusal  in  Menschengestalt, 
ab  seinen  bösen  Dämon,  Mitglied  eines  Ausbeuter- 
konsortiums bezeichnet  hatte.  Gleichzeitig  nannte  er  ihn 
seinen  lieben  Freund,  schilderte  in  überspannter  Weise, 
dass  er  ihn  als  seinen  Schutzengel  angesehen,  für  das 
Heiligste  auf  Erden  gehalten  habe,  für  den  er  sein  Ver- 
mögen geopfert,  da  er  ihn  abgöttisch  geliebt  habe.    Sich 

Jahrbach  ni.  2 


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—     18    — 

selbst  bezeichnet  er  als  Unglücklichen,  am  Abend  seines 
Lebens  stehend,  dem  Wahnsinne  nahe.  Seine  Nervosität 
steigere  sich  von  Minute  zu  Minute  —  er  müsse  vor 
seinem  rasch  zu  gewärtigenden  Tode  noch  mit  L.  ab- 
rechnen, da  er  sich  in  ihm  getäuscht  habe. 

In  Haft  und  Verhören  geberdet  sich  Z.  wie  ver- 
zweifelt, weint  fast  beständig. 

Ueber  seine  Familie,  von  der  er  mit  10  Jahren  ge- 
trennt worden,  weiss  er  nur  wenig  zu  berichten,  unter 
anderem,  dass  ein  Bruder  seines  Vaters  in  der  Irren- 
anstalt starb.  Er  klagt  über  Vernachlässigung  in  seiner 
Erziehung,  habe  als  Kellner,  seit  8  Jahren  als  Agent  seine 
Existenz  gefunden,  in  den  letzten  Jahren  viel  Kummer 
durch  einen  Erbschaftsprozess  gehabt,  sei  dadurch  ins 
Trinken  geraten  und  habe  immer  weniger  vertragen.  Seit 
der  Kindheit  leide  er  viel  an  Cephalaea.  Seit  Jahren 
sei  er  immer  nervöser,  erregbarer  geworden,  seit  Monaten 
schwer  neurasthenisch. 

Er  will  vom  16.  Jahre  ab  in  normaler  Weise  seinen 
Geschlechtstrieb  befriedigt  haben,  bis  er  vor  ungerähr 
3  Jahren  L.  kennen  lernte.  Dieser  habe  ihn  zu  mutueller 
Onanie  verführt.  Er  sei  ganz  verliebt  in  L.  geworden, 
habe  alle  Lust  am  natürlichen  Geschlechtsverkehre  ver- 
loren und  etwa  einmal  wöchentlich  in  L.'s  Wohnung  mit 
diesem  Unzucht  getrieben.  Er  begreife  jetzt  gar  nicht, 
wie  diese  Wandlung  in  ihm  zu  Stande  gekommen  sei. 
Sichergestellt  ist,  dass  diese  Aenderung  mit  dem  Beginne 
der  neurasthenischen  Erkrankung  des  Z.  zusammenfiel. 
Er  habe  oft  sich  von  L.  losmachen  wollen,  da  dieser  ihn 
finanziell  ruinierte,  aber  L.,  der,  wie  die  Untersuchung 
ergab,  mit  angeborener  konträrer  Sexualempfindung  be- 
haftet ist,  habe  durch  Schmeicheleien  oder  auch  durch 
Drohungen  mit  gerichtlicher  Anzeige  ihn  immer  wieder 
an  sich  zu  fesseln  gewusst 
•      Das  Gutachten  der  Gerichtsärzte  stellt  schwere  Neu- 


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—    19    — 

rasthenie  mit  grosser  psychischer  Erregbarkeit,  neuro- 
pathische^  respektive  hereditäre  Konstitution  fest,  dabei 
sexuelle  Hyperästhesie  und,  daraus  resultierend,  abnorme 
geschlechtliche  Bedürftigkeit.  Die  erworbene  Perversio 
sexualis  wird  auf  Belastung  und  Neurasthenie  zurück- 
geführt, der  psychische  Zustand  des  Z.,  so  lange  er  im 
Banne  des  L.  sich  befand,  als  pathologisch  anerkannt  und 
die  Unwiderstehlichkeit  des  Dranges  zu  geschlechtlichem 
Verkehre  mit  L.  zugegeben.  Darauf  wurde  die  Unter- 
suchung gegen   Z.  und  L.  im  November  1898  eingestellt. 

Kaum  aus  der  Haft  entlassen,  erwachte  bei  Z.  die 
frühere  Leidenschaft  zu  L.  wieder.  Er  verfolgte  den  L., 
der  nichts  mehr  von  ihm  wissen  wollte,  mit  unzüchtigen 
Anträgen  und  drohte  schliesslich,  er  werde  L.  erschiessen, 
wenn  dieser  ihm  nicht  zu  Willen  sei.  Schliesslich  trieb 
es  Z.  so  toll,  dass  L.  die  Hilfe  der  Polizei  gegen  Z.  an- 
rufen musste. 

Verhaftet  behauptete  Z.,  die  Situation  sei  gerade  um- 
gekehrt. L.  habe  ihn  neuerlich  verführen  wollen  und  er 
sich  vor  ihm  flüchten  müssen.  Durch  Zeugen  wurde  aber 
das  Gegenteil  konstatiert  So  berichteten  die  Gerichts- 
ärzte, dass  Z.  am  zweiten  Tage  nach  seiner  Entlassung 
aus  der  Haft  höchst  aufgeregt  und  angetrunken  in  ihrem 
Bureau  sich  einfand,  ganz  verstört  war,  weinte  und  wie 
verzweifelt  sich  geberdete,  klagend,  er  könne  von  L.,  in 
welchen  er  ganz  verliebt  sei,  nicht  lassen,  man  möge  ihm 
helfen. 

Das  neuerliche  Gutachten  konstatiert  Zeichen  von 
Alkoholismus,  schwere  Neurasthenie.  Psychisch  wird  Z. 
charakterisiert  als  ein  belasteter,  äusserst  überspannter, 
leidenschaftlicher,  von  Eifersucht  geplagter,  seine  krank- 
haften Triebe  und  seine  Aflekte  zu  beherrschen  unfähiger, 
für  die  Bedeutung  und  Folgen  seiner  Handlungsweise 
einsichtsloser,    in   Aflekt    und  Trunk    geradezu    gemein- 

2* 


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—    20     — 

gefährlicher  Mensch,  dessen  Behandlung  in  einer  Humani- 
tätsanstalt  dringend  wünschenswert  sei. 

Am  24.  Januar  1899  gelangte  Z.  auf  meiner  Klinik 
zur  Aufhalime. 

Er  bot  psychisch  nichts  Auffälliges,  beklagte  seine 
Leidenschaft  für  L.  und  war  erfreut,  als  man  ihm  die 
Möglichkeit  einer  Remedur  in  Aussicht  stellte. 

Seine  Angaben  quoad  vitam  sexualem  ergänzte  er  da- 
hin, dass  ihn  der  Coitus  cum  muliere  nie  recht  befriedigt 
habe,  dass  er  den  homosexualen  Verkehr  weit  vorziehe, 
und  dass  dieser  in  Masturbatio  mutua,  coitus  inter  femora 
aut  in  OS  bestanden  habe.  In  einer  bestimmten  sexuellen 
Rolle  habe  er  sich  dabei  nie  gefühlt. 

Die  Isolierung  in  der  Klinik,  die  Enthaltung  von 
Alkohol  und  antineiutisthenische  Behandlung  wirkten  sehr 
günstig. 

Im  Februar  und  März  versuchte  man  Suggestiv- 
behandlung. Patient  gelangte  leicht  in  Engourdissement, 
nahm  Suggestionen  contra  Alkohol,  Masturbation  und 
amorem  praeternaturalem  sin,  bot  bei  der  Entlassung  Mitte 
März  1899  das  Bild  eines  sittlich  rehabilitierten  und 
körperlich  wieder  hergestellten  Mannes.  Die  fernere  Be- 
obachtung ergab  tadellose  Lebensführung,  normale  Vita 
sexualis  und  Abstinenz  von  Alkohol.  (Eigene  Beobachtung 
in  Jahrbücher  für  Psychiatrie.) 


Zur  weiblichen  Homosexualität 

Ein  noch  wenig  geklärtes  Gebiet  ist  das  der  kon- 
trären Sexualempfindung  bei  Frauen.  Die  Spärlichkeit 
der  bisherigen  Casuistik  verbürgt  nicht  die  Seltenheit 
der  Erscheinung.  Bedenkt  man,  dass  eine  Belastungs- 
grundlage bei  der  konträren  Sexualempfindung  aetiologisch 


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—    21     — 

das  aiisschlaggebeDde  Moment  ist  und  dass  hereditär  be- 
lastende Einflüsse  sich  beim  Weib  ebenso  geltend  machen, 
als  beim  Mann,  so  ist  die  Annahme  gerechtfertigt,  dass 
konträre  Sexualität  qua  Empfindung  ebenso  häufig 
beim  Weib  vorkommen  mag,  als  beim  Mann.  Da  aber 
beim  normal  sexualen  Weib  der  Geschlechtstrieb  nicht 
so  stark  veranlagt  zu  sein  pflegt  als  wie  beim  Manne  und 
die  konträre  Sexualität  ein  Aequivalent  der  normalen  ist, 
mag  es  geschehen,  dass  jene  auf  rudimentärer  Stufe 
vielfach  bleibt,  jedenfalls  das  konträr  sexuale  Weib 
nicht  so  leicht  in  Not-  und  Zwangslagen  bringt,  wie  sie 
beim  konträr  sexual  gearteten  Mann  an  der  Tagesordnung 
sind.  Schon  darin  liegt  ein  gewichtiger  Grund,  dass  die 
Anomalie  beim  Weib  nicht  oft  zur  Kenntnis  kommt. 
Noch  wichtiger  ist  aber  der  Umstand,  dass  hier  die 
physische  Fähigkeit  zur  Leistung  des  Coitus  nicht  be- 
hindert ist,  wie  so  häufig  beim  Manne,  der  durch  psych- 
ische Impotenz  ex  horrore  feminae  Erektion  nicht  er- 
zwingen kann.  Dazu  kommt  endlich,  dass  die  homosexuale 
Befriedigung  unter  Weibern  nicht  unter  Straf drohung 
steht,  wie  bei  konträr  sexualen  Männern,  womit  öffent- 
liche Biosstellung  durch  Chantage  und  gerichtliche  Ver- 
folgung ausgeschlossen  ist  Der  deutsche  Gesetzgeber 
kennt  bekanntlich  nicht  das  Delikt  der  Sodomia  ratione 
sexus  inter  femin  as  begangen. 

Es  erklärt  sich  dies  daraus,  dass  man  bei  der  Ueber- 
nahme  des  §  175  des  deutschen  Strafgesetzbuchs  aus  dem 
früheren  preussischen  sich  die  Art  des  Delikts  inter  mares 
nur  als  aktive  und  passive  Paederastie  dachte  und  da  die 
Genitalien  des  Weibes  ein  derartiges  Delikt  inter  feminas  aus 
anatomischen  Gründen  ausschliessen,  entfiel  eine  bezügliche 
Straf  drohung,  ein  deutlicher  Hinweis  darauf,  dass  die  Er- 
findung der  ,  beischlaf  ähnlichen*  Handlungen  in  der 
neueren  Judikatur  als  zum  Thatbestand  des  Delikts  inter 
mares  genügend,  nicht  dem  Standpunkt  des  Gesetzgebers 


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—    22    — 

entspricht,  vielmehr  eine  unrichtige,  imgerechte  Inter- 
pretation des  §  175  darstellt. 

Die  unterlassene  Einbeziehung  der  Weiber  unter  die 
Strafdrohung  des  §  175  beruht  auf  zwei  Irrtümern:  1.  dass 
der  Akt  inter  mares  Päderastie  sei  —  eine,  wie  die  heutige 
Erfahrung  lehrt,  wenigstens  bei  Konträrsexualen  nur  ganz 
ausnahmsweise  Art  der  Befriedigung;  2.  dass  Weiber 
unter  einander  sexual  nicht  deliktfähig  seien. 

Dies  sind  aber  Weiber  ebensogut  als  Männer,  denn 
physiologisch  kommt  es  doch  nur  darauf  an,  dass  durch 
irgend  einen  sexualen  Akt  Orgasmus  bis  zur  Ejakulation 
und  damit  geschlechtliche  Befriedigung  hervorgerufen 
werde. 

Auch  beim  Weibe  kommt  es  durch  genügende  Rei- 
zung erogener  Zonen  zu  einem  der  Ejakulation  des 
Mannes  analogen  Vorgang,  und  der  diesen  bewirkende 
Akt  wird  damit  zu  einem  Aequivalent  des  Coitus,  ganz 
abgesehen  davon,  dass  durch  Anwendung  eines  Priaps 
der  Geschlechtsakt  dem  natürlichen  sehr  sich  nähern 
kann.  Die  Reizung  erogener  Zonen  geschieht  beim  Akt 
inter  feminas  gewöhnlich  durch  Cunnilingus  oder  auch 
durch  frictio  genitalium  mutua,  beides  „beischlaf ähnliche* 
Handlungen,  wie  sie  die  deutsche  Strafrechtspraxis  als 
zur  Statuierung  des  Delikts  nach  §  175  ausreichend  er- 
achtet. 

Da  erscheint  die  österr.  Gesetzgebung  konsequenter, 
indem  sie  dieses  Delikt  auch  inter  feminas  vorsieht. 
Uebrigens  scheint  während  der  nimmehr  halbhundert- 
jährigen Wirksamkeit  dieses  Strafgesetzbuches  niemals 
ein  Weib  wegen  eines  horaosexualen  Deliktes  unter  An- 
klage gestanden  zu  sein,  (in  dem  denkwürdigen  Prozess 
der  Gräfin  Sarolta  geschah  dies  ja  nur  wegen  Betrug 
und  Urkundenfälschung).  Die  öffentliche  Meinung  be- 
trachtet in  Oesterreich  offenbar  sexuelle  Handlungen 
inter  feminas  begangen  nur  als  Handlungen  contra  bonos 


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-     23    — 

mores,  nicht  aber  contra  leges.  Nun  sind  aber  Cunni- 
lingus  feminarum  ganz  analoge  Akte  wie  die  fellatio 
inter  viros,  desgleichen  die  Tribadie  ganz  gleichstehend 
den  stossenden  Bewegungen  inter  femora  oder  anderen 
beischlarähnlichen  Handlungen,  wie  sie  bei  Männern  als 
strafbare  gelten. 

Man  kann  der  deutschen  Gesetzgebung  nnd  nament- 
lich der  Rechtsprechung  den  Vorwurf  nicht  ersparen 
dass  sie  inkonsequent,  naiv  und  auf  irrthümliche  Voraus- 
setzungen hin  den  §  175  schuf  und  ihn  handhabt.  Soll 
man  nun  wünschen,  dass  der  deutsche  Gesetzgeber  bei 
einer  Revision  dieses  §  die  Deliktfähigkeit  auch  auf 
Weiber  ausdehne?  Da  scheint  es  doch  vernünftiger,  dass 
er  denselben  eliminiert,  denn  die  Gründe,  welche  den  § 
Männern  gegenüber  unhaltbar  erscheinen  lassen,  können 
auch  Frauen  gegenüber  geltend  gemacht  werden. 

Fragt  man  nach  der  Häufigkeit  der  lesbischen  oder 
sapphischen  Liebe,  so  muss  dieselbe  nach  allen  neueren 
Forschungen  als  sehr  gross  bezeichnet  werden.  Nament- 
lich sollen  es  Bordelle,  Gefängnisse,  Pensionate  und 
aristokratische  Kreise  sein,  in  welchen  derlei  getroffen 
wird. 

In  der  Mehrzahl  der  Fälle  scheint  es  sich  aber  nur 
um  Perversität,  nicht  um  Perversion  zu  handeln.  Es 
kann  nicht  genug  betont  werden,  dass  geschlechtliche 
Akte  an  Personen  desselben  Geschlechts  an  und  für  sich 
durchaus  nicht  konträre  Sexualität  verbürgen.  Von  dieser 
kann  nur  die  Rede  sein,  wenn  die  physischen  und  psychischen 
sekundären  Geschlechtscharaktere  einer  Person  des 
eigenen  Geschlechts  Anziehungskraft  für  eine  andere 
haben  und  bei  dieser  den  Impuls  zu  geschlechtlichen 
Akten  an  jener  hervorrufen. 

Ich  habe  längst  den  Eindruck  gewonnen,  dass  die 
konträre  Empfindung  bei  Weibern  in  der  Anlage  ebenso 
häufig  besteht  als  bei  Männern,  dass  aber,  da  als  Wirkung 


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—    24    — 

von  züchtender  Erziehung  der  Geschlechtstrieb  nicht  die 
dominierende  Stelle  spielt,  wie  bei  Männern,  da  Ver- 
führung in  Gestalt  mutueller  Masturbation  weniger  an 
das  Mädchen  herantritt,  als  an  den  Knaben,  da  der 
Sexualtrieb  des  Weibes  erst  mit  dem  geschlechtlichen 
Umgang  sich  entwickelt  und  dieser  meist  ein  hetero- 
sexualer ist  —  dass  durch  alle  diese  günstigen  Umstände 
die  abnorme  Veranlagung  wirkungslos  bleiben  mag  und 
eventuell  ihre  Korrektur  und  Remedur  durch  den  von 
Gesetz  und  Sitte  verlangten  natürlichen  Verkehr  zwischen 
Weib  und  Mann  finden  mag.  Bestimmt  lässt  sich  aber 
annehmen,  dass  solche  milde  Fälle  von  unentwickelter 
oder  erstickter  konträrer  Sexualität  eine  erhebliche  Quote 
stellen  zu  jener  Frigidät  und  Anaphrodisie  als  Dauer- 
erscheinung, die  so  häufig  bei  Ehefrauen  vorgefunden  wird. 

Ganz  anders  ist  die  Situation,  wenn  die  veranlagte 
weibliche  Person  mit  der  weiteren  Anomalie  der  Hyper- 
sexualität  belastet  ist  und  dadurch  an  und  für  sich,  oder 
auch  durch  Verführung  seitens  Geschlechtsgenossinnen,  zu 
Masturbation  und  homosexualen  Akten  gelaugt.  In 
solchen  Fällen  bestehen  analoge  Situationen,  wie  ich  sie 
oben  beim  Manne  hinsichtlich  erworbener  konträrer  Sexual- 
empfindung aus  der  Erfahrung  geschildert  habe. 

Eine  Veranlagung  in  Form  der  Bisexualität  oder  der 
mangelhaften  Fundierung  einer  der  Entwickelung  der 
normalen  Sexualität  dienenden  Einrichtung  oder  der  kon- 
trären Sexualität  vorausgesetzt,  lassen  sich  folgende  Ent- 
stehungsmöglichkeiten für  homosexuelle  Liebe  anführen: 

1.  es  besteht  Hypersexualität,  die  zur  Automastur- 
bation  drängt  Diese  führt  zu  Neurasthenie  mit 
deren  Folgen,  so  zur  Anaphrodisie  bei  natürlichem 
Geschlechtsverkehr,   bei   fortbestehender  Libido. 

2.  auf  gleicher  Grundlage  (Hypersexualität)  kommt 
es  zu  homosexuellem  Verkehr  faute  de  mieux 
(Gefängnisinsassen,  Töchter  höherer  Stände,  die 


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—    25    — 

vor  Verführung  durch  Männer  gehütet  sind  oder 
vor  Gravidität  zurückschrecken).  Diese  Gruppe 
ist  die  zahlreichste.  Oft  sind  weibliche  Dienst- 
boten die  Verführerinnen,  gelegentlich  auch  kon- 
trärsexuale Freundinnen  und  selbst  Lehrerinnen 
in  Pensionaten. 

3.  Es  handelt  sich  um  Ehefrauen  impotenter  Männer, 
die  blos  zu  reizen,  nicht  aber  zu  befriedigen  ver- 
mögen und  Libido  insatiata,  Nachhilfe  mit  Mas- 
turbation, PoUutiones  feminae,  Neurasthenie  und 
endlich  Ekel  vor  dem  Coitus,  überhaupt  dem 
Verkehr  mit  Männern  herbeiführen. 

4.  Prostituierte  von  grosser  Sinnlichkeit  die,  ange- 
widert von  dem  Umgang  mit  perversen  oder  im- 
potenten Männern,  von  denen  sie  zu  den  abscheu- 
lichsten geschlechtlichen  Akten  missbraucht  wer- 
den, sich  zu  sympathischen  Personen  des  eigenen 
Geschlechts  flüchten  und  an  ihnen  sichregressieren. 

Solche  Fälle  von  vermeidbarer,  weil  gezüchteter  k. 
S.,  sind  bei  Weibern  dieser  verschiedenen  Kategorien 
überaus  häufig. 

Dass  aber  auch  originäre  Fälle  von  k.  S.  beim  weib- 
lichen Geschlecht  nicht  selten  sind,  geht  teils  aus  der 
bisher  gesammelten  Kasuistik  hervor,  teils  aus  der  All- 
tagserfahrung. Wer  aufmerksam  die  Damen  in  der  Gross- 
stadt betrachtet,  findet  gar  häufig  Persönlichkeiten,  die 
durch  kurze  Haare,  mehr  männlichen  Zuschnitt  der  Ober- 
kleider etc.  des  üranismus  verdächtig  erscheinen. 

ünvergesslich  ist  mir  eine  Dame  von  mehr  harten 
Gesichtszügen,  sehnig  muskulösem  Bau,  schmalem  Becken^ 
männlicher  Gehweise,  die  kurzgeschorene  Haare  trug^ 
einen  Männerhut,  Zwicker,  Herrenpaletot  imd  Stiefel  mit 
Absätzen.  Nähere  Nachforschungen  ergaben,  dass  sie 
eine  nicht  untalentierte  Malerin  sei,  die  trank  und  rauchte 
trotz  einem  Studenten,  nur  männlichen  Sport  Hebte,  aus- 


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—    26    - 

schliesslich  in  Damengesellschaft  sich  bewegte,  in  welcher 
sie  wegen  ihrer  virtuosen  Fähigkeit,  zum  Klavier  pfeifend 
sich  zu  begleiten,  beliebt  war.  Auch  Schauspielerinnen 
und  Operettensängerinnen  sind  nicht  so  selten  Konträr- 
sexuale, besonders  solche,  die  in  Hosenrollen  brillieren, 
denn  hier  sind  sie  in  ihrem  Element  und  spielen  ihren 
wahren  d.  h.  männlichen  Charakter. 

Da  die  Kasuistik  weiblicher  konträrer  Sexualität  noch 
dürftig  ist,  kaum  50  Fälle  erreicht,  als  Vergleich  mit 
männlicher  von  grosser  Bedeutung  ist,  lasse  ich  hier  einige 
prägnante  Fälle  folgen : 

Beob.  1.  Erworbene  konträre  Sexualempfin- 
dung. Frau  Z.  Dame  aus  der  höheren  Gesellschaft, 
40  Jahre,  lernte  ich  1897  in  einem  Sanatorium  kennen. 
Ueber  die  Gesundheitsverhältnisse  der  Eltern  war  nichts 
Sicheres  zu  erfahren.  Die  Dame  hat  Spuren  von  Rachitis 
am  Schädel,  keine  anatomischen  Degenerationszeichen, 
war  von  Kindheit  auf  schwächlich,  nervös  gewesen,  hatte 
sich  geistig  und  körperlich  normal  entwickelt,  von  der 
Pubertät  ab  ein  sinnliches  Temperament  gezeigt,  aus- 
schliesslich heterosexual  empfunden,  aber  erst  mit  29  J. 
aus  Familienrücksichten  eine  Ehe  geschlossen.  Der  Mann 
erwies  sich  impotent,  Frau  Z.  wurde  nur  gereizt,  nicht 
aber  befriedigt,  half  sich  mit  Onanie,  wurde  neurasthenisch, 
schloss  sich  an  eine  Freundin  an,  fühlte  sich  mit  der 
Zeit  geschlechtlich  zu  ihr  hingezogen,  empfand  beim 
Küssen  und  Liebkosen  derselben  Orgasmus  und  Befrie- 
digung. Nach  Entfernung  dieser  Freundin  trat  eine  Ver- 
wandte an  deren  Stelle.  Wittwe  geworden,  verkehrte 
Frau  Z.  nur  mehr  in  Damenkreisen.  Sie  verliebte  sich 
in  ihre  Gesellschafterin.  Ueber  Liebkosungen  ging  der 
Verkehr  nicht  hinaus.  In  einer  bestimmten  geschlecht- 
lichen Rolle  dachte  sie  sich  nicht  dabei.  Nebenher  excessive 
Masturbation,  wobei  Pat  sich  das  Bild  geliebter  weib- 
licher Personen  vorstellte.     Hie  und  da  Pollutionen,  von 


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—     27    — 

-ebensolchen  Traumbildern  begleitet.  Wiederholte  Kuren 
in  Wasserheilanstalten  mit  Zuhilfenahme  von  Suggestions- 
behandlung^  die  tiefes  Engourdissement  erzielte.  Temporäre 
Beseitigung  von  Onanie  und  Besserung  der  Neurasthenie, 
womit  jeweils  die  heterosexuale  Empfindungsweise  wieder- 
kehrte. Eine  energisch  während  Monaten  durchgeführte 
derartige  Behandlung  erzielte  endlich  ein  definitives  Re- 
-sultat.  Die  homosexuale  Empfindung  machte  einer 
dauernden  heterosexualen  Platz.  Pat.  trug  sich  mit  Ge- 
danken zu  heiraten,  kam  aber  vemtinfligerweise  wieder 
davon  ab.  Das  gute  Befinden  hat  sich  seit  Jahren  er- 
halten, obwohl  es  noch  ab  und  zu  zu  Rückfällen  in 
Masturbation  kam. 

Beob.  2.  Psychische  Hermaphrodisie.  Frl.  X., 
56  Jahre,  von  hysteropathischer  Mutter,  hat  in  ihrer 
Blutsverwandtschaft  mehrere  neuro-  und  psychopathische 
Angehörige.    Ein  Bruder  war  irrsinnig  in  einer  Anstalt. 

Pat.  hat  leicht  rachitisch  hyderophalen  Schädel  von 
55  Cf.,  ist  von  durchaus  weiblichem  Typus  und  ohne 
anatomische  Degenerationszeichen.  Mit  13  Jahren  Puber- 
tät. Von  da  ab  trieb  das  sinnlich  veranlagte  Mädchen 
Masturbation.  Ein  ausgesprochenes  Geschlechtsgefühl 
bestand  damals  noch  nicht  Sie  wurde  bald  neurasthenisch 
und  nach  einem  psychischen  Shok  mit  15  Jahren  schwer 
hysteropathisch;  mit  16  Jahren  erwachte  eine  decidierte 
ausschliessliche  Neigung  zum  eigenen  Geschlecht  Sie 
verliebte  sich  in  Freundinnen,  später  in  die  eigene  einige 
Jahre  ältere  Schwester.  Erotische  Träume,  gelegentlieh 
von  Pollutionen  begleitet,  hatten  nur  Amplexus  feminarum 
zum  Inhalt.  Es  genügten  ihr  Küsse,  brünstige  Umar- 
mungen von  Geschlechtsgenossinnen.  Es  geschah  zuweilen, 
dass  sie  durch  brünstige,  stürmische  Liebkosungen  sol- 
cher unliebsames  Aufsehen  erregte.  Mit  22  Jahren  erster 
Anfall  einer  schweren  hysterischen  Psychose  mit  mehr- 
monatlichem  Aufenthalt  in  einer  Heilanstalt.     Von  dieser 


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—    28    — 

genesen  und  von  neurasthenischen  Beschwerden  ziemlich 
befreit,  hatte  sie  zum  erstenmal  in  ihrem  Leben  Inclination 
zu  Männern.  Sie  war  schon  halb  und  halb  entschlossen^ 
eine  von  ihrer  Mutter  dringend  gewünschte  Ehe  einzu- 
gehen. Da  sie  aber  fühlte,  dass  sie  doch  nicht  solche 
Neigung  zum  Mann  empfand,  wie  sie  das  Weib  empfinden 
müsse,  Angst  vor  dem  ehelichen  Verkehr  mit  einem 
Manne  hatte  und  einen  solchen  nicht  unglücklich  machen 
wollte,  lehnte  sie  eine  Heirat  ab.  Sie  geriet  bald  wieder 
auf  konträrsexuale  Bahnen  unter  dem  Einfluss  von  Onanie 
und  Neurasthenie,  entwickelte  sogar  mit  26  Jahren  Trans- 
formationsgefühle, indem  es  ihr  vorlram,  ihre  Genitalien 
bildeten  sich  zu  männlichen  um,  sie  harne  wie  ein  Mann,, 
wandle  sich  geistig  und  leiblich  in  einen  solchen  um. 
Auch  empfand  sie  gar  keine  Scham  mehr  in  Gegenwart 
eines  Mannes  Toilette  zu  machen,  während  sie  sich  vor 
einem  Weibe  genierte.  Diese  Transformation  schritt  aber 
nicht  weiter  vor,  im  Gegenteil  kamen  wieder  Episoden, 
in  welchen  sie  mit  Besserung  ihrer  Hysteroneurasthenie 
in  Kuranstalten  wieder  heterosexual  empfand,  das  ganze 
Gebiet  homosexualer  Empfindungsweise  zurücktrat,  Pat. 
sich  in  Aerzte  verliebte  und  ernstlich  ans  Heiraten  dachte. 
Diese  Coincidenz  von  gebesserter  Neurose  mit  Wieder- 
kehr von  HeteroSexualität  wiederholte  sich  noch  mehr- 
mals, sodass  an  zufälliges  Zusammentreffen  nicht  gedacht 
werden  konnte. 

Ein  schwerer  neuerlicher  Anfall  von  hysterischer 
Psychose,  der  viele  Monate  dauerte,  brachte  Patientin 
in  meine  ständige  Behandlung.  Bemerkenswert  war,  das& 
während  dieser  Psychose  homo-  und  heterosexuale  Ge- 
fühlskreise förmlich  um  die  Herrschaft  kämpften,  dass 
eine  nymphomanische  Episode  ausschliesslich  in  hetero- 
sexualem Gebiete  sich  abspielte. 

Von  der  Psychose  genesen,  wurde  Patientin  einer 
dauernden    antineurasthenischen     und    suggestiven    Kur 


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—    29    — 

unterworfen.  Der  Erfolg  war  ein  sehr  befriedigender, 
insofern  es  gelang  Masturbation  und  konträre  Sexualität 
dauernd  zu  bannen,  sodass  Patientin,  die  glücklicherweise 
auch  von  neuerlichen  Psychoseanfällen  verschont  blieb, 
ihre  Hysteroneurasthenie  losgeworden  ist  und  ihre  volle 
Selbstbeherrschung  wieder  gewonnen  hat,  von  ihrer  zu 
dem  mit  den  Jahren  abgeklungenen  Sinnlichkeit  nicht  mehr 
belästigt  wird  und  anstandslos  in  der  Gesellschaft  ver- 
kehrt. Nur  menstrual  und  im  Traumleben  erscheinen 
gelegentlich  noch  Andeutungen  der  früheren  konträren 
Sexualempfindung. 

Beob.  3.  Homosexualität.  Eines  Tages  wurde 
ich  zu  einer  Familie  gerufen  deren  18jährige  Tochter 
Elsa  wegen  der  Trennung  von  einer  geliebten  19jährigen 
Freundin  Franziska  gemütskrank  geworden  sei,  die  Nah- 
rung weigere  und  energisch  Fluchtversuche  mache,  um 
wieder  zur  in  der  Provinz  weilenden  Freundin  zu  ge- 
langen. Die  Eltern  fanden  die  Freundschaft  dieser  beiden 
Mädchen  sonderbar,  da  dieselben  einander  glühende 
Liebesbriefe  schreiben,  einander  anschmachten,  beständig 
nur  mit  einander  allein  sein  wollen,  sich  stürmisch  küssen 
und  umarmen  und  jeden  gesellschaftlichen  Verkehr  mit 
jungen  Herren  meiden. 

Von  Elsa  wurde  mir  berichtet,  dass  sie  von  Kind- 
heit eigentümlich,  leutescheu,  exzentrisch,  nervös  gewesen 
sei,  immer  nur  Bücher  lesen  wollte.  Sie  habe  nie  Tanz- 
unterhaltungen mitmachen  wollen.  Die  beiden  Mädchen 
hätten  dieselbe  Schule  besucht^  sich  immer  inniger  be- 
freundet. Im  letzten  Jahre  sei  Franziska  durch  ihre 
Eifersucht,  wenn  Elsa  mit  anderen  Mädchen  verkehrte, 
auffällig  geworden.  Auch  dass  dieselbe  mit  einem  Herrn 
tanze,  wollte  sie  nicht  leiden.  Das  „Freundschaftsverhält- 
nis'^  sei  schliesslich  so  exaltiert  geworden,  dass  man  die 
beiden  jungen  Damen  trennen  musste.  Ich  fand  in  Elsa 
eine  gut  gewachsene  durchaus  weiblich  geartete  Persön- 


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—    30    — 

lichkeit  vor,  ohne  alle  DegenerationszeicheD.  Sie  war 
sehr  gereizt  gegen  die  Eltern,  erklärte  mit  allen  Mitteln 
die  Wiedervereinigung  mit  der  Freundin  anzustreben^ 
ohne  welche  sie  nicht  leben  könne.  Sie  lasse  sich  nicht 
hindern,  das  Urteil  der  Welt  geniere  sie  nicht  Sie  werde 
nie  heiraten,  hasse  die  Männer,  wolle  zeitlebens  mit  der 
gleichgesinnten  Freundin  in  separatem  gemeinschaftlichen 
Haushalt  leben.  Sie  sei  nicht  für  eine  Ehe  geschaffen^ 
habe  noch  nie  irgend  eine  Neigung  zu  einem  Manne  ge- 
habt, wohl  aber  seit  ihrem  14.  Jahr  für  Mädchen.  Sie 
wäre  lieber  ein  Knabe  geworden.  Um  das  Urteil  der 
erbärmlichen  Menge  kümmere  sie  sich  nicht.  Sie  müsse 
ihre  Franziska  haben,  ertrage  das  Getrenntsein  von  ihr 
nicht  länger,  würde  lieber  sterben.  So  ein  herrliches 
Geschöpf  gebe  es  auf  der  Welt  nicht  wieder. 

Aus  einem  Tagebuch  der  E.  ersehe  ich,  dass  dieser 
die  Freundin  ein  „Napoleon  in  Weibergestalt  ist.*  Die 
beiden  schenkten  sich  Blumen,  die  F.  trägt  ein  von  E» 
geschenktes  Armband. 

Der  Mutter  der  E.  fiel  auf,  dass  diese  seit  geraumer 
Zeit  sich  geniere  vor  der  Mutter  die  Toilette  zu  wechseln. 
Die  gleiche  Erfahrung  hat  sie  beim  Zusammensein  ihrer 
Tochter  mit  der  Freundin  gemacht  —  also  pudor  dem 
eigenen  Geschlecht  gegenüber! 

Der  Vater  der  E.  ist  eine  degenerative  Erscheinung, 
Der  Mutter  Schwester  war  irrsinnig  und  hat  durch  Sui- 
cidium  geendet.  Ein  Bruder  der  E.  ist  an  einer  Gehim- 
krankheit  gestorben,  ein  zweiter  höchst  neuropathisch. 

Mein  Rat  lautete  auf  Ueberwachung  der  E.  und 
strenge  Trennung  von  der  Freundin,  die  offenbar  gleich 
der  E.  sexuell  nicht  normal  empfinde. 

Am  folgenden  Tage  kam  Franziska  in  meine  Privat- 
wohnung gestürmt,  um  meinen  Consens  zur  Wieder- 
vereinigung mit  der  Geliebten  zu  erlangen,  eventuell  mit 
Hilfe  der  Gerichte  die  Befreiung  der  Freundin  aus  ihrer 


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—    31     — 

Gefangenschaft  zu  erzwingen!  Sie  habe  von  der  Not 
dieser  gehört  und  sei  hergereist,  um  sie  zu  befreien.  Sie 
selbst  werde  nie  heiraten,  ihr  ganzes  Leben  der  E.  dem 
, herrlichsten  Geschöpf*  widmen.  Die  F.  macht  einen 
exaltierten,  sehr  selbstbewussten  Eindruck,  ist  von  mehr 
männlichen  Allüren  aber  von  durchaus  femininem  Typus. 
Zu  einem  Eingehen  auf  ihre  eigene  Persönlichkeit  war 
sie  nicht  zu  bewegen  und  stürmte  fort,  als  sie  erkannte 
dass  ich  ihren  Wünschen,  die  Freundin  wieder  zu  er- 
langen, nicht  Vorschub  leisten  wollte. 

Beob.  4.  Frau  v.  T.,  Fabrikantensgattin,  26  J.,  seit 
wenigen  Monaten  erst  verheiratet,  wurde  mir  von  ihrem 
Gemahl  1896  zur  Konsultation  gebracht,  weil  sie  nach 
einem  Diner  im  Salon  einer  Dame  aus  der  Gesellschaft 
um  den  Hals  gefallen  war,  sie  abgeküsst  und  geliebkost 
und  damit  einen  Skandal  provoziert  hatte.  Frau  T.  be- 
hauptet, sie  habe  ihren  Mann  vor  der  Ehe  über  ihre 
konträr  sexualen  Gefühle  aufgeklärt,  sowie,  dass  sie  ihn 
nur  um  seiner  geistigen  Eigenschaften  willen  schätzte. 
Gleichwohl  hatte  sich  die  T.  der  ehelichen  Pflicht  unter- 
worfen, sofern  sie  nicht  anders  konnte.  Sie  stellte  nur 
die  Bedingung  Incubus  zu  sein  und  will  dabei  sogar  eine 
leidliche  Befriedigung  erfahren  haben  indem  sie  ihre 
Phantasie  zu  Hilfe  nahm  und  sich  ein  geliebtes  Weib 
als  Succubus  dachte.  Der  Vater  der  Dame  ist  neuropathisch» 
von  mehr  weiblichem  Typus,  litt  an  hysterischen  Anfällen 
und  soll  nie  sexuell  bedürftig  gewesen  sein;  dessen 
Schwester  soll  ihrem  Gatten  die  Leistung  der  ehelichen 
Pflicht  abgekauft  haben,  indem  sie  ihm  eine  Summe 
schenkte  und  ihm  die  Freiheit  gab,  sich  anderwärts  zu 
regressieren.  Die  Mutter  der  T.  war  hypersexual,  soll 
eine  Messaline  gewesen  sein.  Sie  liess  die  Tochter  bis 
zum  14.  Jahre  bei  sich  im  Bett  schlafen.  Erst  im 
15.  Jahre  wurde  diese  von  der  Mutter  getrennt  und 
ihre   Erziehung   in    einem    Institute    durchgeführt.      Sie 


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—    32    — 

war  sehr  begabt,  lernte  leicht,  spielte  eine  dominierende 
Stelle  in  der  £lasse.  Mit  7  J.  erfuhr  sie  ein  psychisches 
Trauma,  indem  ein  Freund  der  Familie  vor  ihr  sich  zu 
einem  exibitionistischen  Akte  hinreissen  liess.  Menses 
mit  12  J.,  in  der  Folge  regelmässig  und  ohne  nervöse 
Begleiterscheinungen.  Die  T.  versichert,  schon  mit  12  J. 
sich  zu  anderen  Mädchen  hingezogen  gefühlt  zu  haben. 
Sie  sei  sich  jahrelang  dabei  noch  keiner  sexuellen  Em- 
pfindungen bewusst  geworden,  habe  aber  gleich  von  An- 
fang an  diesen  Zug  zum  eignen  Geschlecht  als  eine 
Anomalie  empfunden.  Sie  will  nur  vor  Personen  des 
•eigenen  Geschlechts  sich  geniert  haben,  sich  zu  entblössen. 
Erst  mit  etwa  20  Jahren  sei  der  eigentliche  Geschlechts- 
trieb erwacht.  Er  wendete  sich  nie  Männern  zu,  sondern 
gleich  von  Anfang  an  Mädchen  und  jungen  Frauen.  Es 
folgte  nun  eine  Reihe  von  höchst  sinnlichen  Liebschaften 
mit  solchen«  Ins  elterliche  Haus  aus  dem  Pensionat 
zurückgekehrt,  ungenügend  überwacht  und  mit  Geld  reich- 
lich versehen,  fiel  es  ihr  nicht  schwer,  ihre  Gelüste  zu 
befriedigen.  Sie  fühlte  sich  von  jeher  als  Mann  dem 
Weibe  gegenüber.  Ihre  sexuelle  Befriedigung  fand  sie  in 
Masturbatio  feminae  dilectae,  später,  nachdem  sie  durch 
«ine  Kousine  in  die  ihr  bisher  fremde  lesbische  Liebe 
«ingeweiht  worden  war,  trieb  sie  auch  Cunnilingus.  Sie 
war  inmier  nur  in  aktiver  Bolle  und  konnte  es  nicht 
über  sich  bringen,  am  eigenen  Körper  Anderen  Befriedigung 
zu  gewähren.  Auch  liebte  sie  nur  heterosexuale  feminae. 
Homosexuale  Weiber  waren  ihr  ein  Gräuel.  Es  gefielen 
ihr  auch  nur  ledige  Damen  von  Stand,  geistigen  Vor- 
zügen, mehr  herbe  Schönheiten,  Dianagestalten,  keusch, 
zurückhaltend,  nicht  sinnlich. 

Traf  sie  auf  eine  solche  Persönlichkeit,  so  wurde  die 
bypersexuale  und  schwer  belastete  T.  so  erregt,  dass  sie 
wiederholt  ihre  Brunst  nicht  beherrschen  konnte  und 
^ich  geradezu  impulsiv  auf  die  Betreffende   stürzte.    Sie 


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—    33    — 

behauptet  in  solchen  Momenten  sei  ihr  Alles  in  rotem 
Scheine  erschienen  und  ihr  Bewusstsein  momentan  getrübt 
gewesen.  Frau  T.  gab  an,  dass  sie  überhaupt  sehr  reiz- 
bar sei  und  ihre  Affekte  mühsam  beherrsche.  So  sei  es 
ihr  einmal  noch  im  Institut  passiert,  dass,  als  sie  ein 
Mädchen  verspottete,  es  ihr  rot  vor  den  Augen  wurde 
und  sie  in  förmlicher  Wut  sich  auf  die  Kameradin  ge- 
stürzt habe  und  dieselbe  fast  erwürgt  hätte. 

Mit  23  J.  durch  den  Umgang  mit  einer  anscheinend 
nicht  homosexualen  aber  hypersexualen  und  durch  Impotenz 
ihres  Mannes  nicht  zur  Befriedigung  gelangen  könnenden 
jungen  Frau  steigerte  sich  die  Homosexualität  und  Be- 
dürftigkeit der  T.  ausserordentlich.  Sie  hatte  sich  ein 
Absteigequartier  gemietet,  wo  sie  wahre  Orgien  feierte, 
eum  digito  et  lingua  sich  befriedigte,  selbst  stundenlang, 
bis  sie  oft  selbst  ganz  erschöpft  war.  Sie  hatte  eine 
Zeit  lang  ein  festes  Verhältnis  mit  einer  Probiermamsell^ 
Hess  sich  in  männlicher  Kleidung  mit  dieser  photogra- 
phieren,  erschien  auch  in  gleichem  Kostüm  mit  derselben 
in  öffentlichen  Lokalen,  ohne  gerade  aufzufallen,  ausser 
einmal  dem  geübten  Auge  eines  Polizisten,  der  sie  auch 
arretierte. 

Sie  kam  mit  einer  Verwarnung  davon  und  Hess  es 
nun  bleiben,  in  männHcher  Kleidung  auf  der  Strasse  zu 
erscheinen. 

Ein  Jahr  vor  der  Eheschliessung  war  die  T.  vorüber- 
gehend melancholisch.  Damals  schrieb  sie,  in  der  Absicht 
aus  dem  Leben  zu  scheiden,  einen  Abschiedsbrief  an 
eine  frühere  Freundin,  eine  Art  von  Konfession,  aus  der 
Folgendes  Charakteristisches  hier  mitgeteilt  werden  möge : 

»Ich  bin  als  Mädchen  geboren,  aber  durch  verfehlte 
Erziehung  ist  meine  glühende  Phantasie  schon  früh  in 
eine  falsche  Richtung  gedrängt  worden.  Schon  mit  12  J. 
hatte  ich  die  Manie,  mich  für  einen  Knaben  auszugeben 
und  die  Aufmerksamkeit  der  Damen  auf  mich  zu  lenken. 

Jahrbuch  UI.  3 


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—    34    — 

Ich  erkannte  wohl,  dass  diese  Manie  ein  Irrwahn  sei, 
aber  sie  wuchs  mit  den  Jahren  wie  ein  Verhängnis.  Ich 
hatte  nicht  mehr  die  Kraft,  mich  von  ihm  zu  befreien. 
Er  war  mein  Haschisch,  meine  Seligkeit.  Er  wurde  zur 
gewaltigen  Leidenschaft.  Ich  fühlte  mich  masculin,  nicht 
zur  passiven  Hingabe  sondern  zur  That  gedrängt.  Bei 
meinem  überschäumenden  Temperament,  meiner  glühenden 
Sinnlichkeit,  bei  meinem  tiefgewurzelten  perversen  Instinkt 
lies  ich  mich  von  der  sog.  lesbischen  Leidenschaft  nach 
und  nach  total  unterjochen.  Ich  hatte  ein  Interesse  für 
den  Mann,  aber  bei  der  flüchtigsten  Berührung  von  Frauen 
vibrierte  mein  ganzes  Nervensystem.  Ich  litt  unsäglich 
darunter. 

Lektüre  französischer  Autoren  und  leichtfertiger 
Umgang  machten  mich  bald  mit  den  Ejufien  einer  un- 
gesunden Erotik  bekannt  und  der  dumpfe  Trieb  wurde 
zur  bewussten  Perversität.  Bei  mir  hat  die  Natur  in  der 
Wahl  des  Geschlechts  einen  Fehlgriff  gethan  und  für 
diesen  Fehler  werde  ich  mein  ganzes  Leben  lang  büssen 
müssen,  denn  ich  hatte  nicht  die  moralische  Kraft,  das- 
Unvermeidliche  mit  Würde  zu  tragen  imd  so  wurde  ich 
unaufhaltsam  in  die  Wirbel  meiner  Leidenschaften  ver- 
strickt und  von  ihnen  versohl  ungen 

Ich  dürstete  nach  deinem  süssen  Leib.  Auf  deinen 
Victor  war  ich  eifersüchtig  wie  der  Rivale  auf  den  andern. 
Ich  litt  alle  Höllenqualen  der  Eifersucht.  Ich  hasste 
diesen  Menschen  und  hätte  ihn  gern  getötet.  Ich  fluchte 
meinem  Geschick,  das  mich  nicht  als  Mann  geschaffen 
hat  Ich  begnügte  mich,  dir  eine  alberne  Komödie  vor- 
zuspielen, ein  künstliches  Glied  anzulegen,  das  meinen 
Trieb  noch  mehr  erhitzte.  Ich  hatte  nicht  den  Mut,  dir 
die  Wahrheit  zu  gestehen,  weil  sie  so  erbärmlich  und 
lächerlich  gewesen  wäre.  Nun  weisst  du  Alles.  Du  wirst 
mich  nicht  verachten,  nur  nachfühlen,  was  ich  gelitten 
habe.    All  meine  Freuden  gleichen  eher  einer  momentanen 


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—    35    - 

Berauschung  als  dem  echten  Gold  des  Glückes.  Alles 
war  nur  ein  Truggold.  Ich  habe  das  Leben  genarrt 
und  dieses  hat  mich  genarrt.  Nim  sind  wir  quitt.  Ich 
nehme  Abschied.  Gedenke  auch  in  den  Stunden  des 
Glückes  zuweilen  an  den  komischen  armen  Narren,  der 
dich  treu  und  innig  geliebt  hat.* 

Bezüglich  der  Vita  sexualis  dieser  Konträren  ist  noch 
zu  erwähnen,  dass  dieselbe  auch  Züge  von  Masochismus 
und  Sadismus  enthält.  So  erzählt  Frau  T.  dass  ihr  jedes 
Schimpfwort  von  einer  Angebeteten  eine  Wonne  war 
und  dass  selbst  eine  Ohrfeige  von  einer  Solchen  ihr  eine 
Lust  gewesen  wäre.  Auch  hätte  sie,  wenn  sexuell  auf- 
geregt, lieber  beissen  als  küssen  mögen. 

Ich  lernte  in  Frau  T.  eine  offenbar  als  d^generde 
sup^rieure  zu  bezeichnende  Persönlichkeit  kennen.  Sie 
war  sehr  gebildet  und  intelligent,  empfand  die  fatale 
Situation,  in  welche  sie  geraten  war,  peinlich  aber  offen- 
bar nur  ihrer  Familie  wegen.  Ihre  Handlungsweise  er- 
schien ihr  als  ein  Fatum,  dem  sie  nicht  entrinnen  konnte. 
Ihre  Intelligenz  war  unversehrt.  Sie  beklagte  ihre  kon- 
träre Sexualität,  sei  bereit  Alles  zu  thim,  um  von  der- 
selben frei,  eine  honette  Frau  und  gute  Mutter  zu 
werden,  die  ihr  Kind  nicht  so  unvernünftig  erziehen 
würde,  wie  sie  selbst  erzogen  wurde.  Sie  wolle  ja  Alles 
thun,  um  den  Gatten  zu  versöhnen  und .  zufriedenzustellen, 
ihm  die  eheliche  Pflicht  leisten,  wobei  nur  sein  Schnurr- 
bart unausstehlich  sei.  Vor  Allem  aber  müsse  sie  ihr 
unglückseliges  impulsives  Wesen  verlieren. 

Die  psychischen  und  physischen  sekundären  Ge- 
schlechtscharaktere sind  teils  männlich,  teils  weiblich. 
Männlich  ist  die  Neigung  zum  Sport,  zum  Hauchen, 
Trinken,  die  Bevorzugung  von  Kleidern  mit  mehr  männ- 
lichem Zuschnitt)  der  Mangel  von  Schick  und  Lust  zu 
weiblicher  Handarbeit,  die  Vorliebe  für  ernste,  selbst 
philosophische  Lektüre,  der  Gang,  die  Haltimg,  die  kräftigen 

3* 


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—    36    — 

LinieD  des  Gesichts,  die  tiefe  Stimme,  das  derb  entwickelte 
Skelett^  die  stark  entwickelte  Muskulatur  und  das  spär- 
liche Fettpolster.  Auch  das  Becken  (schmale  Hüften, 
IKstantia  spinarum  22  Cm,  cristarum  26,  trochanterum  31) 
nähert  sich  dem  männlichen.  Vagina,  Uterus,  Ovarien 
normal,  CHtoris  vergrössert.  Mammae  gut  entwickelt, 
Mons  Veneris  weiblich  behaart 

In  einer  Wasserheilanstalt  gelang  es,  während  einiger 
Monate  einem  erfahrenen  Kollegen  Pat.  durch  Hydro- 
und  Suggestionstherapie  von  jeglicher  Homosexualität  zu 
befreien  und  zu  einer  dezenten,  sexuell  mindestens  neu- 
tralen Persönlichkeit  zu  gestalten,  die  seit  langer  Zeit 
wieder  bei  ihren  Verwandten  weilt  und  sich  höchst 
korrekt  benimmt. 


-eK^J^^ 


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Sind  sexuelle  Zwischenstufen 
zur  Ehe  geeignet? 

Von 

Dr.  H.  Hirschfeld- Charlottenburg. 

Die  Erfahrung  lehrt,  dass  eine  beträohüiche  Anzahl 
homosexuell  empfindender  Männer  und  Frauen  verheiratet 
sind.  Welches  sind  die  Gründe  dieser  auf  den  ersten  Blick 
so  befremdlichen  Thatsache,  da  doch  Ehe  xmd  konträre 
Sexualempfindung  fast  wie  ein  Widerspruch  in  sich  er- 
scheinen? 

Zweifellos  giebt  es  zahlreiche  männliche  und  weib- 
liche Urninge,  die  erst  nach  der  Verehelichung  zur  Er- 
kenntnis ihrer  eingeborenen  Natur  gelangten.  Besonders 
ist  das  bei  Mädchen  der  Fall,  deren  Unerfahrenheit  und 
, Unschuld*  vielfach  als  etwas  geradezu  Erstrebenswertes 
gilt  Der  erotische  Charakter  der  überschwänglichen 
Zärtlichkeiten  für  Freimdinnen  wird  dabei  meist  über- 
sehen. Zwar  regte  sich  nichts  von  Liebe,  als  der  Be- 
werber kam,  eher  eine  unbestimmte  Abneigung,  aber  die 
Ehe  war  doch  nun  einmal  der  Beruf  des  Weibes  und  die 
Angehörigen  sprachen  so  viel  von  der  guten  Partie,  der 
glänzenden  Versorgung,  bis  das  brave  Kind  folgte.  Wenn 
sie  in  der  Brautzeit  den  Küssen  scheu  auswich,  den  Um- 
armungen sich  wie  geängstigt  entzog,  so  hielt  man  diese 
Zurückhaltung  für  Schamhaftigkeit,  auch  wohl  für  Prü- 
derie, die  sich  mit  der  Zeit  schon  legen  würde. 


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—    38    — 

Auch  umische  Männer^  die  ohne  Kenntnis  ihres  Zu- 
standes  in  die  Ehe  treten^  sind  nicht  selten.  Sie  haben 
nie  anders  gedacht,  als  dass  der  Mann  zum  Weibe,  das 
Weib  zum  Manne  gehöre.  Alles,  was  sie  in  ihrer  Um- 
gebung sahen  und  hörten,  wandelte  sich  in  eine  starke 
Autosuggestion  um,  deren  mächtigem  Eindruck  sie  sich 
nicht  zu  entziehen  vermochten.  Diese  Annahme  hat  um- 
somehr  für  sich,  als  ja  Fälle  konstatiert  sind,  in  denen 
Urninge  durch  hypnotische  Suggestion  wenigstens  zeit- 
weilig zum  Aufgeben  ihrer  eigentlichen  Natur  bestimmt 
wurden.  Dass  der  imbewusst  Homosexuelle  als  Bräutigam 
sich  und  andern  recht  kühl,  , vornehm  reserviert**,  vor- 
kam, war  um  so  weniger  auffallend,  als  es  sich  ja  um 
eine  Yemunftheirat  handelte. 

Wir  finden  in  unserer  Kasuistik  einen  alten  Herrn, 
der  erst  mit  53  Jahren  über  sich  und  seine  Homosexuali- 
tät klar  wurde,  nachdem  er  20  Jahre  zuvor  wegen  Impo- 
tenz sich  hatte  scheiden  lassen,  femer  eine  Ehefrau,  die 
erst  mit  nahezu  vierzig  Jahren  in  der  konträren  Sexual- 
empfindung die  wahre  Ursache  ihres  unglücklich  hyster- 
ischen Zustandes  erkannte  und  zwar  sehr  zu  ihrem  Vorteil; 
Fälle,  wo  die  Aufklärung  erst  Ende  der  zwanzig,  oder 
in  den  dreissiger  Jahren  erfolgte,  sind  häufig,  warum 
sollte  man  da  nicht  annehmen,  dass  es  Menschen  giebt, 
zumal  leidenschaftsloser  veranlagte,  die  überhaupt  nie  zum 
Bewusstsein  ihres  Umingtums  gelangen.  Sie  verbringen 
ihr  Geschlechtsleben  in  einer  Art  dumpfer  Täuschung, 
führen  häufig  eine  besonders  nach  aussen  befriedigend 
erscheinende  Ehe,  kein  Ineinander-Leben,  aber  ein  er- 
trägliches Nebeneinander,  oft  sogar  ein  ganz  glückliches 
Miteinander. 

Verhältnismässig  noch  am  günstigsten  eignet  sich 
zur  Ehe  die  nach  unserer  Erfahrung  allerdings  nur  kleine 
Gruppe  von  Personen,  bei  denen  die  Liebe  zu  einem  be- 
stimmten   Typus,   ihrem    , Genre*,   die    Liebe   zu   einem 


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—    39    — 

bestimmten  Geschlecht  überwiegt;  es  sind  Frauen,  welche 
^ich  beispielsweise  in  gleicher  Weise  von  feminin  ge- 
arteten, schon  etwas  älteren  Männern  sowie  von  ihnen 
verwandten  altjüngferlichen  Frauen  angezogen  fühlen  oder 
-etwa  Männer  aber  auch  viele  Weiber,  die  ebensowohl  zu 
zarten  Jünglingen  als  dem  diesen  verwandten  Typus 
knabenhafter  Mädchen  meist  im  sogenannten  Backfisch- 
alter Neigung  verspüren. 

Eine  recht  ansehnliche  Schar  von  Urningen  schreitet 
zur  Ehe,  weil  sie  sich  über  die  Art  xmd  Tiefe  ihrer  ihnen 
an  und  für  sich  bekannten  homosexuellen  Neigung  täu- 
schen und  durch  die  Heirat  von  ihrer  Anomalie  befreit 
zu  werden  hoffen.  In  letzterer  Ansicht  werden  sie  nicht 
nur  von  Verwandten,  sondern  häufig  von  Aerzten,  denen 
sie  sich  anvertrauen,  bestärkt.  Sehr  viele  Aerzte  sind 
noch  heute  in  dem  Irrtum  befangen,  dass  es  sich  bei  Homo- 
43exuellen  um  eine  Verirrung  handle,  die  durch  Heirat 
in  normale  Bahnen  gelenkt  werden  könne.  Dies  ist  in 
der  überwiegenden  Zahl  der  Fälle  ein  verhängnisvoller 
Irrtum.  Mancher  Urning  hört  in  seiner  Verzweiflung, 
selbst  nicht  genügend  von  der  Unauslöschbarkeit  seines 
Triebes  unterrichtet,  auf  den  JRat  des  Arztes  und  ent- 
schliesst  sich  zur  Ehe.  Aber  er  hat  nicht  den  Trieb, 
sondern  der  Trieb  ihn.  Verheiratet  sieht  er  nur  zu  bald, 
dass  der  Rat,  welchen  der  Arzt  ihm  erteilte,  ein  recht 
schlechter  war. 

Einer  unserer  Patienten  schrieb: 

,,Sie  wünschen  zu  wissen,  wie  ich  dazu  kam,  mich  zu 
verheiraten  und  dann,  welche  Erfahrungen  ich  in  der 
Ehe  gemacht  habe. 

Bevor  ich  mich  dazu  entschloss,  mich  zu  verheiraten, 
war  ich  in  einer  höchst  traurigen  sozialen  Lage.  Wie 
Sie  wissen,  lebe  ich  in  einer  grossen  Stadt  Ich  war 
meinem  unglücklichen  Triebe,  der  mich  Umgang  mit  dem 
eigenen  Geschlecht  suchen   liess,   häufiger  gefolgt.    Dies 


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—    40    — 

musste  bekannt  geworden  sein,  wenigstens  hatte  ich  stet» 
das  Gefühl,  in  manchen  Fällen  vielleicht  unberechtigt^ 
dass  man  meinen  Umgang  zu  meiden  suchte.  Zu  fein- 
fühlend, um  in  der  Lage  zu  sein,  irgend  Jemanden 
meinen  Umgang  aufdrängen  zu  können,  zog  ich  mich 
immer  mehr  von  Geselligkeit  und  freundschaftlichem  Ver- 
kehr zurück. 

Ich  verbrachte  Tage  und  Nächte  in  Verzweiflung 
hin,  die  besten  Lebensjahre  verstrichen  im  einförmigsten 
Einerlei. 

Dieser  traurigen  Lage  wollte  ich  ein  Ende  machen. 
Meine  Altersgenossen  waren  verheiratet,  Familie  imd 
einige  Bekannte  rieten  ebenfalls  dazu.  Aber  den  Grund^ 
warum  ich  nicht  heiraten  wollte,  durfte  ich  Niemanden 
sagen.  Dies  gehört  auch  zu  den  traurigen  Seiten  unseres 
Schicksals,  dass  wir  ein  Geheimnis,  das  unser  Innerstes 
aufs  tiefste  bewegt.  Niemand,  nicht  einmal  den  nächsten 
Anverwandten,  anvertrauen  können.  Ich  sah  andere 
Menschen  glücklich  und  zufrieden  und  wollte  auch 
glücklich  werden. 

Wenn  mir  auch  der  innere  Drang  zur  Ehe  fehlte,  so 
hoffte  ich  doch  innere  Ruhe  und  Zufriedenheit  in  der- 
selben zu  finden. 

Um  mein  Gewissen  zu  beruhigen  und  mich  zu  ver- 
gewissem, ob  ich  meinen  ehelichen  Pflichten  nachkommen 
könne,  wandte  ich  mich  an  einen  Arzt.  Derselbe  sagte 
mir,  ich  möge  einmal  zu  einer  puella  gehen,  um  mich  zu 
überzeugen,  ob  ich  im  Stande  sei,  den  coitus  auszuführen. 
Wenn  mir  nun  auch  der  coitus  nicht  den  geringsten  oder 
nur  sehr  wenig  Genuss,  ja  eher  Widerwillen  bereitete,  so 
war  ich  doch  im  Stande  ihn  auszuführen.  Ich  sagte  dies 
meinem  Arzte  und  riet  er  mir  in  Folge  dessen  zur  Heirat. 
Da  ich  mich  aber  noch  mehr  vergewissem  wollte,  um 
meine  Zweifel  zu  beruhigen,  wandte  ich  mich  noch  an 
einen   auswärtigen  bekannten  Arzt,  dem  ich  meinen  Zu* 


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—    41    — 

stand  und  mein  Anliegen  ausführlich  berichtete.  Der- 
selbe antwortete  mir  Folgendes: 

„Da  Sie  Erektionen  haben,  können  Sie  unbedingt 
ruhig  heiraten,  ich  bin  der  Meinung,  dass  dadurch  all- 
mälig  Ihre  konträre  Empfindungen  sich  oalmieren  werden." 

Ich  wandte  mich  schliesslich  an  Professor  K.,  der 
mir  schrieb: 

, Heirat  ist  möglich,  da  Potenz  besteht.  Ich  kenne 
manchen  verheirateten  Urning,  der  Familienvater  ist.  Eine 
prekäre  Sache  ist  immerhin  die  Heirat  eines 
Urnings. 

Ich  habe  Ihnen  dies,  geehrter  Herr  Doktor,  absicht- 
lich etwas  ausführlich  mitgeteilt,  um  Ihnen  zu  zeigen, 
dass  ich  nicht  ohne  grosse  Bedenken  in  die  Ehe  ging, 
die  aber  mehr  oder  weniger  von  den  Herren  Aerzten 
beseitigt  wurden.  Jedenfalls  ging  ich  mit  der  Hoffnung 
und  dem  Wunsche  in  die  Ehe,  dass  ich  durch  dieselbe 
von  meiner  Anomalie  befreit  würde. 

Nachdem  ich  Ihnen  in  Vorstehendem  auseinander- 
setzte, wie  ich  zur  Ehe  kam,  gehe  ich  jetzt  dazu  über, 
Ihnen  meine  Erfahrungen   während  der  Ehe  mitzuteilen. 

Schon  auf  der  Hochzeitsreise  machte  ich  die  Bemerk- 
ung, dass  mir  die  Ausführung  des  coitus  viel  eher  eine 
lästige  Verpflichtung  war,  denn  ein  Vergnügen.  Dabei 
blieb  aber  mein  Hang  zum  eignen  Geschlecht  bestehen. 
Ich  gab  mir  die  denkbar  grösste  Mühe,  mich  auch  inner- 
lich und  geistig  von  dieser  Neigung  unabhängig  zu  machen, 
aber  vergeblich. 

Wie  war  und  ist  nun  das  Verhältnis  zu  meiner  Frau? 

Ich  liebe  und  schätze  meine  Frau  ihrer  vielen  aus- 
gezeichneten Eigenschaften  willen;  wegen  der  Tiefe  ihres 
Gemüts,  wegen  ihrer  Pflichttreue,  auch  finde  ich  sie 
körperlich  hübsch,  aber  trotz  alledem  ist  diese  Liebe 
mehr  einem  innigen  Freundschaftsverhältnis  ähnlich,  wie 
einer  Liebe,  wie  sie  zwischen  Eheleuten  besteht  und  die 


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—    42    — 

nach  meiner  Empfindung  ausser  in  der  moralischen  Wert- 
schätzung auch  auf  einer  in  sinnlichen  und  körperlichen 
Gefallen  beruhenden  Grundlage  aufgebaut  sein  muss. 

Bei  diesem  Mangel  an  sinnlicher  Liebe  zu  meiner 
Frau,  geht  nebenher  die  sinnliche  Liebe  zum  eignen  Ge- 
schlecht. Meine  Frau  fühlt  diesen  Mangel  an  sinnlicher 
Liebe  zu  ihr  wohl  heraus,  indem  sie  mir  zuweilen  den 
Vorwurf  des  Mangels   innerer  Seelengemeinschafl  macht. 

Wir  würden  aber  ganz  glücklich  zusammen  leben,  wenn 
nicht  ein  Umstand  wäre,  der  mir  das  Leben  zur  Qual  macht. 

Ich  lebe  in  beständiger  Furcht  vor  Entdeckung  und 
Ausstossung  aus  der  Familie,  sowie  in  dem  Bewusstsein, 
von  meinen  Mitmenschen  verachtet  zu  sein.  Dass  ein 
derartiges  Leben  mehr  eine  Qual,  denn  ein  Glück  ist^ 
werden  Sie  verstehen,  etc.  etc.* 

Unter  unseren  Fällen  finden  wir  nicht  ein  einziges 
Mal  durch  die  Ehe  Heilung  der  Homosexualität,  nur 
selten  Besserung,  fast  stets  bleibt  der  Trieb  sich  gleich. 
Ein  Weinhändler,  der  sich  später  scheiden  Hess,  berichtet, 
dass  bereits  auf  der  Hochzeitsreise  nach  Italien  die  junge 
Frau  sein  Interesse  für  Männer  entdeckte,  in  einem 
allerdings  ganz  exorbitanten  Fall  erfuhren  wir,  dass  ein 
Wirt  die  erste  Nacht  nach  der  Hochzeit  statt  mit  der 
Frau  mit  seinem  im  Hause  aufgenommenen  früheren 
Geliebten  verbrachte.  Wir  greifen  einige  concrete  Bei- 
spiele heraus. 

1.  K.,  Arbeiter,  45  Jahre,  4  Kinder,  sexueller  Verkehr  mit 
Männern  vor  und  sehr  stark  nach  der  Ehe;  ausserehelicher  Ver- 
kehr mit  Weibern  niemals.  Die  Frau  hat  Kenntnis  von  der  kon- 
trären Sexualempfindung  des  Mannes,  trotzdem  leidlich  gutes 
Znsammenleben,  nur  gelegentliche  Eifersucht  der  Frau  und  Aerger, 
wenn  der  Mann  zur  Befriedigung  seiner  Leidenschaft  zu  viel 
verausgabt. 

2.  Seh.,  Malermeister,  B8  Jahre,  3  Kinder,  vor  und  nach  der 
Ehe  Geschlechtsverkehr  mit  Männern,  niemals  mit  Frauen  ausser 
der  Ehefrau.    Die  H.-S.  des  Mannes  führte  schon  zu  zeitweiliger 


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—    43    — 

Trennung,   jetzt  wieder  ansgesöhnt,   aber  ein  gezwungenes,  dis- 
harmonisches Zusammenleben. 

3.  0.,  Kommunalbeamter,  80  Jahre,  neuvermählt,  setzt  den 
mannmännliohen  Verkehr  nach  der  Ehe  fort,  wenn  auch  in  be- 
schränkterem Maasse,  lebt  bisher  gut  mit  der  nichts  ahnenden 
Ehefrau. 

4.  H.,  Zuckerbäcker,  36  Jahre,  1  Kind.  Vor  und  nach  der 
Ehe  sexueller  Verkehr  mit  Männern,  niemals  mit  Frauen  ausser 
der  Ehefrau,  lebte  bald  nach  der  Ehe  von  ihr  völlig  getrennt, 
wollte  sich  schon  scheiden  lassen. 

5.  A.,  Arbeiter,  48  Jahre,  4  Kinder,  zweimal  verheiratet, 
das  erste  Mal  starb  die  Frau  schon  nach  sechs  Wochen.  Vor 
und  nach  der  Ehe  stärkerer  geschlechtlicher  Verkehr  mit  Männern. 
Jahrelanges  „festes  Verhältnis**  mit  einem  jüngeren  Arbeiter,  den 
er  schliesslich  als  Kostgänger  in  die  eheliche  Wohnung  auf- 
nimmt. Die  Frau  hat  Kenntnis  von  der  H.-S.  des  Mannes, 
insbesondere  von  der  Natur  des  Verhältnisses  mit  dem  jungen 
Arbeiter.  Trotzdem  duldet  sie  letzteres  und  ist  sogar  damit  zu- 
frieden, da  ihr  Mann  durch  den  ordentlichen^  sparsamen  und  sehr 
gutmütigen  jungen  Arbeiter  von  seinem  früheren  ausschweifenden 
Verkehr  mit  immer  verschiedenen  abgehalten,  der  Häuslichkeit 
erhalten  bleibt.  Ausserehelicher  Verkehr  mit  Weibern  niemals. 
Das  Zusammenleben  der  Eheleute  trotz  der  H.-S.  des  Mannes 
kein  unglückliches.  Ihre  letzte  Schwängerung  führt  die  Frau 
auf  den  Neujahrstag  zurück,  wo  der  Mann  in  grosser  Er- 
regung, dass  der  junge  Arbeiter  die  ganze  Nacht  mit  einem 
Freunde  auswärts  zubrachte,  gleichsam  „aus  Rache  an  seinem 
Geliebten  sich  an  seiner  Frau  entschädigte.  ** 

6.  Seh.,  Wirt,  82  Jahre,  1  Kind.  Vor  und  nach  der  Ehe 
gleichgeschlechtlicher  Umgang,  niemals  mit  Weibern,  ausser  mit 
der  Ehefrau.  Behandelt  seine  nichts  ahnende,  etwas  beschränkte 
Frau  sehr  schlecht,  möchte  ihrer  gern  entledigt  sein.  Es  ist  der 
Mann,  von  dem  wir  oben  mitteilten,  dass  er  die  Brautnacht  mit 
seinem  Geliebten  verlebte. 

7.  M.,  40  Jahre.  Heiratete  eine  schon  ältere  Person.  Vor 
der  Ehe  sehr  starke  h.-s.  Bethätigung,  namentlich  ein  längeres 
Verhältnis  mit  einem  Unteroffizier.  Seit  der  Ehe  fühlt  er  sich 
glücklicher,  er  sei  ein  anderer  Mensch,  die  Gefühle  für 
Männer  bestehen  fort,  doch  sei  er  durch  seine  Frau  immer  be- 
hindert. Die  früheren  weibischen  Manieren  haben  sehr  nach- 
gelassen.   Diese  Ehe  kann  als  eine  glückliche  bezeichnet  werden. 


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—    44    — 

8.  H.,  55  Jahre,  wohlhabender  Kanünann,  war  etwa  15  Jahre 
verheiratet,  4  Kinder,  hat  in  seiner  Jagend,  während  der  Ehe 
und  anch  nach  dem  Tode  der  Frau  viel  h.-s.  verkehrt.  Lebte 
sehr  unglücklich  mit  seiner  Frau,  die  seine  Homosexualität  ent- 
deckte; behandelte  sie  sehr  schlecht.  Ein  Sohn  ertränkte  sich, 
vermutlich  aus  Kummer  über  die  bei  seinem  Vater  bemerkte 
Leidenschaft. 

9.  W.,  Bureauvorsteher,  50  Jahre,  sehr  frommer  und  ange- 
sehener Familienvater,  5  Kinder.  Hat  von  Jugend  auf  mit  Männern^ 
besonders  Soldaten  mutuell  masturbiert.  War  in  grosser  Angst, 
ob  er  seiner  Frau  beiwohnen  könnte,  es  gelang,  doch  wurde  der 
gleichgeschlechtliche  Verkehr  fortgesetzt.  Er  lebt  gut  mit  der 
nichts  ahnenden  Frau. 

10.  S.,  besserer  Kaufmann,  58  Jahre,  2  Kinder.  Vor  der 
Ehe  homosexualer  Verkehr,  ebenso  nach  der  Heirat,  doch  nur 
selten.  Ein  Erpressungsfall  zwang  ihn,  als  Zeuge  vor  Gericht 
zu  erscheinen,  seitdem  noch  vorsichtiger.  Vor  mehreren  Jahren 
verliebte  er  sich  in  einen  jungen  Mann  aus  einer  Bürgersfamilie, 
mit  dem  er  verkehrte;  erklärt,  er  hätte  niemals  geheiratet,  wenn 
er  den  jungen  Mann  früher  gekannt  hätte.  Seit  einiger  Zeit  hat 
er  mit  dem  jungen  Mann  gebrochen,  weil  er  fürchtet,  er  könne 
sich  kompromittieren  und  die  Zukunft  seiner  im  heiratsfähigen 
Alter  befindlichen  Tochter  gefährden. 

11.  E.,  44  Jahr,  Novellist,  kinderlos,  hat  vor  seiner  Heirat 
ungefähr  vier  Mal  Verhältnisse  mit  Frauen  gehabt,  stets  gebildete 
Weltdamen,  ohne  aber  jemals  eine  besondere  Leidenschaft  für 
das  Weib  empfunden  zu  haben.  Von  jeher  Neigung  zum  Manne, 
wurde  sich  aber  über  seine  Gefühle  erst  nach  der  Hochzeit  klar. 
Seitdem  mannmännlioher  Verkehr,  obgleich  selten,  da  sehr  vor- 
sichtig und  nicht  sehr  bedürftig.  Etwas  feminines  Wesen.  Mit 
seiner  Frau,  die  auch  nicht  bedürftig,  seltenen,  mit  anderen  Frauen 
nach  der  Ehe  keinen  sexuellen  Umgang.  Das  harmonische  Zu- 
sammenleben mit  seiner  geistig  und  gesellschaftlich  gut  zu  ihm 
passenden  Frau  wird  durch  seine  diskreten  und  vorübergehenden 
Abenteuer  mit  Männern  nicht  berührt. 

12.  Seh.,  Versicherungsbeamter,  kinderlos,  82  Jahr.  Hat  vor 
der  Ehe  nie  ein  Weib  berührt,  dagegen  mit  Männern  geschlecht- 
lich verkehrt,  namentlich  mit  einem  Studenten  ein  leidenschaft- 
liches Verhältnis  gehabt  Er  liebt  seine  jetzige  Frau  geistig,  aber 
auch  sinnlich,  glaubt  in  ihr  das  Ideal  einer  Frau  gefunden  zu 
haben;  leider  gestattet  ihr  Gesundheitsznstand  nur  selten  den 


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—    45    — 

Coitus.  Wäre  derselbe  regelmässig  mOglich,  so  meint  er  der 
Mämierliebe  entsagen  zu  können.  So  aber  verkehrt  er  noch 
homosexnal,  namentlioh  auf  Reisen.  Verkehr  mit  einer  anderen 
Frau  würde  er  als  unmoralisch  empfinden,  während  ihm  seine 
homosexuellen  Beziehungen  nicht  als  Untreue  erscheinen.  Gebildet 
und  ideal  veranlagt,  lebt  er  glücklich  mit  seiner  ahnungslosen 
Gattin,  die  er  auf  Händen  trägt. 

13.  0.,  Arbeiter,  30  Jahr,  1  Kind.  Vor  der  Ehe  niemals  mit 
einer  Frau  verkehrt,  aber  sehr  häufig  homosexual,  setzt  den  gleich- 
geschlechtlichen Verkehr  auch  nach  der  Ehe  fort.  Erst  zwei 
Jahre  verheiratet,  erklärt  er,  dass  er  die  Heirat  bereue,  trotzdem  er 
mit  seiner  „herzensguten**  Frau  in  bestem  Einvernehmen  lebt. 
Der  Coitus  mit  ihr  war  ihm  anfangs  nicht  unangenehm,  doch 
empfand  er  nie  die  Befriedigung,  wie  in  dem  ihm  normalen  Ver- 
kehr mit  dem  Manne;  er  cohabitiert  sein  Weib  im  Monat  zwei- 
mal „weil  man  dies  in  der  Ehe  thun  müsse",  das  Verlangen 
nach  häufigerem  Verkehr  weist  er  mit  Ausflüchten  „zu  grosser 
Müdigkeit«  u.  dgl.  ab. 

14.  Ein  Herr  W.,  normalsexueller,  völlig  gesunder  Architekt, 
will  sich  von  seiner  Frau  wegen  „Verkehrs  mit  dem  Dienst- 
mädchen'^ scheiden  lassen,  er  wünscht  von  mir  ein  Gutachten, 
dass,  da  seine  Frau  zweifellos  homosexuell,  der  geschlechtliche 
Verkehr  ihrerseits  mit  dem  Weibe  dem  Ehebruch-  gleichzusetzen  sei. 
Yr&n  Elise  W.  geb.  D.,  26  Jahr,  aus  Berlin,  ist  seit  4  Jahren 
verheiratet.  Ihr  Grossvater  von  B.  sehr  exzentrisch,  Alkoholist, 
mit  starkem  Hang  zur  Vagabondage,  wurde  als  Amtsrichter  seines 
Amtes  entsetzt.  Elise  ähnelt  äusserlich  diesem  Grossvater.  Ihr 
Vater  sehr  jähzornig.  Sie  litt  als  Kind  an  Krämpfen,  Bettnässen, 
Kauen  an  den  Fingernägeln,  hatte  ausgesprochene  Abneigung 
gegen  Puppenspiele,  liebte  Schneeball  werfen,  Raufen  mit  Jungen, 
hatte  besonderes  Interesse  für  Rechnen  und  Mathematik,  schon  auf 
der  Schule  deutliche  Neigimg  für  schwache,  zierliche,  weibliche 
Personen. 

Gegenwärtiger  Zustand:  a.  Knochengerüst  nicht  besonders 
kräftig,  Becken  schmal,  Schädel  breit,  Kürperkonturen  eckig^ 
Knochen  treten  hervor,  Oberarm  zylindrisch  abgeflacht,  Ober- 
schenkel schlank,  Hände  schmal,  robust,  lebhafter,  mehr  männ- 
licher Händedruck,  Muskulatur  schwach  aber  fest,  Schritte  fest, 
gravitätisch,  schnell,  kann  pfeifen,  unreiner  Teint,  Brüste  sehr 
wenig  entwickelt,  Haupthaar  schwach,  Haartracht  ungeordnet 
leichter  Bartflaum,  grosse  Ohren,  ruhiger  „herausfordernder"  Blick, 


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—    46    — 

männlicher  Gesiohtstypus,  laute  Sprache,  kann  nicht  singen,  Töne 
werden  in  tiefer  Alt-  fast  Bassstimme  hervorgebracht  Sie  leidet 
an  Schwindel,  Herzklopfen,  häufigem  Farbenwechsel,  unruhigem 
Schlaf,  steht  nachts  oft  auf,  ahmt  während  des  Schlafs  häufig  die 
Bewegungen  des  Mannes  beim  coitus  nach. 

b,  GemUtsleben  mehr  männlich,  filr  Freude  und  Schmers^ 
wenig  empfänglich,  Familiensinn  gering,  hatte  sehnlichsten  Wunsch, 
von  Kindern  frei  zu  bleiben.  Als  im  Anfang  der  Ehe  die  Periode 
ausblieb,  gab  sie  sich  grösste  Mühe  durch  fortwährendes  Beiten, 
Radiahren  und  Bergsteigen  dieselbe  „wiederzubekommen'',  was 
auch  gelang.  Sehr  heftig,  erregbar,  ehrgeizig,  Uebertreibung  der 
Personalität;  —  herrschsüchtig,  ausgesprochener  Hang  zum  Wohl- 
leben, sehr  starker  Trieb  zum  Vagabundieren.  Elise  blieb  nie 
Kachmittags  zu  Hause,  sondern  bummelte  zwischen  3  und  8  Uhr 
durch  die  Strassen  Berlins.  Nach  häuslichen  Szenen  bestieg  sie 
sofort  das  Rad,  um  tagelang  nicht  nach  Hause  zu  kommen. 
Geistige  Bildung  im  allgemeinen  oberflächlich,  sie  studiert  am 
liebsten  Prozesse,  verfasst  selbst  Klagen,  mit  Begierde  las  sie 
Darwins  Werke,  sie  ist  sehr  veranlagt  für  Mathematik,  künstlerische, 
litterarische  Neigungen  und  Fähigkeiten  sind  kaum  vorhanden.  Vor- 
liebe für  Pferde,  Sport,  Schiessen,  sie  interessiert  sich  für  Techniker- 
und Seemannsberuf,  bevorzugt  enganliegende  Kleidung,  die  Schrift 
würde  man  für  die  eines  Mannes  halten. 

c.  Stets  entschiedene  Neigung  zu  Personen  desselben  Ge- 
schlechts, Liebesträume  bezogen  sich  ausschliesslich  auf  weibliche 
Personen.  In  den  Museen  und  Galerieen  suchte  sie  besonders 
nach  nackten  Göttinnen.  Vor  dem  normalen  Coitus  starker  Wider- 
wille, sie  fühlte  sich  durchaus  unbefriedigt,  erklärte  schon  in  den 
Flitterwochen,  sie  könne  nicht  begreifen,  „was  man  dabei  finden 
könne'',  sie  verlangte  von  ihrem  Manne,  dass  er  nicht  incubus, 
sondern  succubus,  sie  selbst  aktiv  sei.  Der  geschlechtslose  Um- 
gang mit  Damen  war  sehr  geniert,  sie  verkehrte  ungern  mit 
Frauen  der  besseren  Gesellschaft.  Bei  einer  grösseren  Radpartie 
nach  Fr.  nahmen  Damen  teil,  die  zurück  einen  Wagen  benutzten, 
sie  weigerte  sich  dem  Manne  gegenüber  energisch,  mit  einzu- 
steigen, „weil  sie  sich  geniere^  xmd  fuhr  zu  seinem  Verdruss  den 
ganzen  Weg  mit  dem  Rade  als  einzige  Dame  unter  12  Herren. 
Der  sexuelle  Verkehr  wurde  bereits  im  Eltemhause  am  liebsten 
mit  Dienstmädchen  gepflogen.  In  der  Ehe  dauerte  die 
Homosexualität  unverändert  fort.  Sie  nahm  besonders 
kleine,  zarte  Dienstmädchen,  die  sie  bald  völlig  beherrschte. 
Der  Mann,  welcher  bis  zur  Ehe  überhaupt  nichts  vom  Wesen  der 


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—    47    — 

konträren  SeznalitSt  kannte,  wurde  erst  auimerksam,  als  er  wieder- 
holt bei  unverhofftem  Eintreten  in  seine  Wohnung  die  Frau  mit 
dem  Dienstmädchen  umschlungen  oder  letztere  zu  Füssen  der 
Frau  fand.  Die  Frau  hielt  sich  mit  Vorliebe  im  Zimmer  des 
Dienstmädchens  auf.  Schliesslich  setzte  sie  es  durch,  dass  der 
Mann  das  gemeinsame  Schlafzimmer  mit  seiner  Frau  aufgab.  Sie 
nahm  dann  bald  das  Dienstmädchen  in  das  Schlafzimmer  und  ver- 
weigerte dem  Manne  jeglichen  Eintritt.  Die  noch  schwebend» 
Ehescheidung  ist  erschwert,  da  das  neue  bürgerliche  Gesetzbuch 
gegenseitige  Abneigung  und  Einwilligung  nicht  mehr  als  Schei- 
dungsgrund anerkennt  und  Ehebruch  einer  Frau  mit  einer  Frau 
nicht  vorgesehen  ist. 

Ist,  wie  wir  sehen,  die  Hoffnung,  dass  die  H.-S.  in 
der  Ehe  und  durch  die  Ehe  schwindet,  fast  stets  eine 
trügerische,  so  ist  die  Enttäuschung  bei  einem  weiteren 
Grunde,  welcher  viele  Urninge  zur  Heirat  veranlasst,  bei 
dem  Verlangen  nach  eigenem  Hausstand  keine  so  all- 
gemeine. Wie  den  meisten  Menschen,  so  ist  auch  dem 
umischen  eine  tief  innere  Sehnsucht  eingepflanzt,  mit  einer 
geliebten  Person  zusammenzuleben,  mit  welcher  er  Freuden 
und  Leiden,  Gedanken  und  Empfindungen  teilen  kann» 
Namentlich  wenn  die  Betreffenden  älter  werden,  feste 
Lebensstellimgen  errungen  haben,  in  Amt  und  Würden 
sind,  macht  sich  häufig  das  Gefühl  der  Vereinsamung 
geltend,  wenn  sie  die  gleichaltrigen  Freunde  und  Ge- 
nossen einen  nach  dem  andern  ihr  Weib  heimführen 
sehen.  Es  kommt  hinzu,  dass  sehr  viele  Urninge  gerade 
einen  ausgesprochenen  Familiensinn  besitzen,  ein  hohes 
Verständnis  für  das  stille,  friedliche  Glück  des  eigenen 
Herdes.  Deshalb  glauben  Unkundige  von  ihnen  auch 
vielfach,  dass  sie  ganz  besonders  'gute  Ehemänner  ab- 
geben würden.  Ein  konträrsexueller  Herr  schrieb  uns: 
»Der  Anblick  glücklich  wandelnder  Paare,  ja,  das  Be- 
trachten eines  Bildes,  auf  welchem  bräutliches  oder 
Familienglück  dargestellt  ist,  konnte  mich  oft  unter  aus- 
brechenden Thränen  in  die  Einsamkeit  jagen.* 


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Bei  der  Urninde  ist  dieser  häusliche  Sinn  bei  weitem 
nicht  80  stark  entwickelt^  vor  allem  ist  der  elterliche 
Instinkt  bei  ihr  gewöhnlich  nur  in  sehr  geringem  Grade 
vorhanden,  sie  macht  sich  nichts  aus  Kindern,  doch  wird 
bei  ihr  der  Trieb  nach  eigenem  Heim  vielfach  ersetzt 
durch  den  natürlichen  Wunsch,  versorgt  zu  sein.  Ein 
Umstand  wirkt  jedoch  bei  beiden  günstig,  das  Verständ- 
nis, welches  der  homosexuelle  Teil  für  die  Interessen  des 
anderen  durch  seine  Veranlagung  besitzt,  der  Urning  für 
die  Toiletten,  die  Küche  der  Frau,  die  Urninde  für  den 
Beruf  des  Mannes,  seinen  Sport,  seine  Politik.  Diese 
Interessengemeinschaft  ist  oft  stark  genug,  auf  die  Dauer 
ein  erträgliches  Zusammenleben  herbeizuführen,  voraus- 
gesetzt, dass  der  normale  Teil  nicht  besonders  sinnlich 
veranlagt  ist,  es  bildet  sich  ein  freundschaftliches  Ver- 
hältnis heraus,  wie  zwischen  Kameraden,  zwischen  Bruder 
und  Schwester,  ein  leidenschaftsloses  Glück,  oft  noch  er- 
hellt durch  den  Glanz,  den  strahlende  Kinderaugen  über 
ein  Haus  auszubreiten  vermögen. 

Das  Verlangen  nach  Kindern  ist  beim  Urning  viel 
grösser  und  häufiger,  wie  bei  der  Urninde.  Allerdings 
entspringt  dasselbe  nicht  einem  instinktiven  Fortpflanzungs- 
trieb, sondern  der  naiven  Zuneigung  für  Kinder,  oft  auch 
einem  stark  pädagogischen  Hang,  der  namentlich  vielen 
supervirilen  Urningen  eigen  ist.  Der  Wunsch,  Nach- 
kommen zu  besitzen,  Tällt  beim  Eingehen  einer  Ehe  für 
den  Urning  noch  mehr  ins  Gewicht,  wenn  er  der  Geburts- 
oder Geldaristokratie  oder  gar  einem  regierenden  Hause 
angehört,  sodass  die  ganze  Familie  auf  den  Erben  harrt, 
der  die  Dynastie,  das  Geschlecht,  die  bedeutende  Firma 
fortsetzen  soll.  Nur  wenige  besitzen  den  Mut,  in  letzter 
Stunde  zurück  zu  treten,  wie  Ludwig  EL  von  Bayern 
gegenüber  der  von  ihm  aufrichtig  verehrten  Braut  Herzogin 
Sophie  in  Bayern,  der  späteren  Alen9on.  Nicht  selten 
dagegen  sind  bei  diesen   konventionellen  Ehen  die  Fälle 


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von  „rätselhaftem*  Selbstmord  am  Tage  vor  oder  nach 
der  Hochzeit. 

Den  soeben  genannten  schliessen  sich  die  vielen 
Homosexuellen  an^  welche  aus  Repräsentationsgründen 
heiraten  ,mu8sten",  weil  sie  für  ihre  gesellschaftliche 
Stellung,  in  ihrem  Stande,  ihrem  Geschäft  notwendiger- 
weise eine  Frau  brauchten. 

In  noch  höherem  Maase  sind  praktische  Gesichts- 
punkte bei  denjenigen  Urningen  massgebend,  —  und  leider 
giebt  es  auch  deren  mehr  als  genug  —  welche  um  der 
Mitgift  willen  heiraten.  Wiederholt  haben  uns  Homo- 
sexuelle mitgeteilt,  sie  würden  keine  Ehe  eingegangen 
sein,  wenn  sie  nicht  gezwungen  gewesen  wären,  standes- 
gemäss  aufzutreten  oder  ihre  Schulden  zu  decken,  „sich 
zu  arrangieren*,  wie  der  terminus  technicus  lautet;  sie 
nahmen  nicht  das  Mädchen  mit  Geld,  sondern  das  Geld 
mit  dem  Mädchen.  In  ähnlicher  Weise  lassen  sich  auch 
Uminden  durch  Rang  und  Titel  des  Bewerbers  be- 
stimmen, der  Stimme  ihres  Herzens  entgegen  zu  handeln. 
Gewiss  ist  es  oft  schwer,  standhaft  zu  bleiben,  wenn  die 
Vennittler  mit  den  ^glänzenden  Vorschlägen*  kommen, 
allein,  sind  diese  materiellen  Gründe  bei  den  Heterose^ni- 
ellen  schon  nicht  zu  billigen,  so  stellen  sie  bei  den  homo- 
sexuell Empfindenden  ein  grosses  Unrecht  dar. 

Einige  Urninge  gaben  uns  endlich  noch  als  Grund 
an,  sie  hätten  geheiratet,  um  nicht  für  homosexuell  ge- 
halten zu  werden,  ein  sonderbarer  Grund,  aber  immerhin 
verständlich,  wenn  man  die  Auffassung  bedenkt,  welche 
die  öffentliche  Meinung  noch  heute  vielfach  dem  ur- 
nischen  Phaenomen  gegenüber  einnimmt.  Namentlich  in 
kleinen  Städten  kommen  ältere  Junggesellen,  welche  viel 
mit  jungen  Leuten  verkehren  und  etwas  „Mamselliges* 
-an  sich  haben,  leicht  in  den  Verdacht,  ,Päderasten"  zu 
jsein.  Schrieb  doch  ein  sehr  bekannter  Schriftsteller,  als 
ihm  die  Eingabe  zur  Abschafinng  des  Umingsparagraphen 

Jahrbach  III.  4 


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—    50    — 

vorgelegt  wurde,   der   einzige  Grund,   weshalb   er   nicht 
unterschriebe,  wäre,  weil  er  »noch  unverheiratet*  sei. 

Alle  die  genannten  Gründe,  welche  die  Homosexualen 
zur  Heirat  veranlassen,  entsprechen  dem  Zweck  der  Ehe 
nur  insofern,  als  diese  eine  wirtschaftliche  Verbindung 
darstellt  im  Sinne  des  Allgemeinen  preussischen  Land- 
rechts, welches  den  Satz  aufstellte:  „auch  zur  wechsel- 
seitigen Unterstützung  allein  kann  eine  giltige  Ehe  ge- 
schlossen werden";  sie  entsprechen  aber  nicht  dem  natür- 
lichen Grund,  auf  welchen  die  wirtschaftliche  Vereinigung 
sich  stützen  muss.  Die  Ehe  soll  ein  Bund  sein,  welchen 
Mann  und  Weib  zur  Befriedigung  eines  Naturtriebs  aus 
gegenseitiger  Liebe  eingehen.  Die  Liebe  ist  ja  nach 
Plato  nichts  anderes  als  der  Wunsch  nach  genauester 
Vereinigung  mit  dem  geliebten  Gegenstand,  und  mit 
vollstem  Kecht  behauptet  Paul  Mongr6  in  seinem  Buche 
«Aus  der  Landschaft  Zarathustras*:  „reine  Konvenienz- 
heirat  ist  Sünde  gegen  die  Natur,  ist  widernatürlich.  Wie 
sich  die  Elemente  im  Alltagszustand  nicht  verbinden, 
sondern  nur  unter  erhöhtem  Druck,  erhöhter  Temperatur^ 
80  bedarf  auch  die  eheliche  Verbindung  einer  gewissen 
Erotik.* 

An  und  für  sich  ausführbar  ist  allerdings  die  ge- 
schlechtliche Vereinigung  auch  ohne  sinnlichen  Trieb. 
Dafür  liegen  zweifellose  Beweise  vor,  nicht  nur  von  kon- 
trär Veranlagten,  sondern  auch  von  normal  Empfindenden 
sowie  monosexuellen  und  sexuell  anästhetischen.  Beim 
Weibe  ist  das  angesichts  ihrer  anatomischen  und  physio- 
logischen Einrichtung  ohne  weiteres  klar;  sie  kann  den 
Geschlechtsakt  des  Mannes  dulden,  wenn  sie  selbst  auch 
nichts  dabei  empfindet,  ja  sogar  in  der  Hingabe  an  einen 
ihr  widerwärtigen  Mann  schwere  seelische  Qualen  leidet. 
Anders  beim  Manne,  wo  die  potentia  coeundi  an  die 
Erektionsfähigkeit  geknüpft  ist  Eme  beträchtliohe  An- 
zahl   von  Urningen,   namentlich   stark  femininer,   besitzt 


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—    51    — 

dieselbe  dem  Weibe  gegenüber  nicht,  alle  diesbezüglichen 
Versuche  fallen  iruchtlos  aus,  aber  sehr  viele  Homo- 
sexuelle sind  doch  imstande,  den  normalen  Akt  zu  voll- 
ziehen. Nicht  inmier  ist  dazu  ein  heterosexuelles  Rudi- 
ment erforderlich.  Manche  Autoren  neigen  dazu,  jeden 
verheirateten  Urning  für  bisexuell,  für  einen  psychischen 
Hermaphroditen  zu  halten.  Das  ist  nicht  richtig.  Nur 
solche  verdienen  die  Bezeichnung  bisexuell,  welche  beiden 
Geschlechtem  gegenüber  libido  und  Orgasmus  empfinden, 
das  ist  nach  unserer  Erfahrung  fast  nur  in  der  bereits 
oben  erwähnten  Gruppe  der  Fall,  bei  welcher  nicht  das 
Geschlecht^  sondern  der  Typus  das  Entscheidende  ist 
Bei  verheirateten  Urningen  kann  selten  von  eigentlicher 
libido  die  Rede  sein.  Die  erforderliche  Blutfüllung  der 
Corpora  cavernosa  penis  wird  bei  vielen  leicht  durch 
mechanische  Reizungen,  bei  andern  durch  künstliche 
Vorstellung,  durch  eine  Selbstvorspiegelung  falscher 
Thatsachen  hervorgerufen.  Zahlreiche  H.-S.  geben 
an,  dass  sie  und  zwar  häufig  unter  grosser  Willens- 
anstrengung beim  heterosexuellen  Akt  an  Personen  des- 
selben Geschlechte  denken,  einer  berichtete,  dass  er  sich 
hierbei  männlicher  Kosenamen  bediene,  wie  «mein  Hans", 
ein  anderer,  verheirateter  Urning  von  ungewöhnlicher 
geistiger  Bildung,  schreibt  folgende  beachtenswerte  Zeilen: 
,So  siedend  heiss  das  Blut  bei  dem  Anblick  eines  wahr- 
haft Geliebten  strömt,  so  träge  rinnt  es  in  einem  er- 
zwungenen Bunde.  Wehe  dem  Armen,  dem  die  tausend 
abstossenden  intima  eines  gemeinsamen  Schlafraumes,  bei 
denen  der  Geruch  nicht  die  kleinste  Rolle  spielt,  die 
Augen  öfihen  über  vorher  nicht  geahnte  Einflüsse.  Kleine 
eheliche  Verstimmungen  werden  am  besten  überwunden, 
wenn  die  Macht  der  allgewaltigen  Liebe  in  stiller  Stunde 
ihre  Triebkraft  entfaltet  und  Koseworte  ungesucht  auf 
die  Lippen  treten.  Erwarte  diese  Wirkung  nicht 
bei    einer  Pflichterfüllung,    zu   der   Du   Dich 

4* 


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—     52    — 

anständiger-  oder  mitleidigerweise  wieder  ein- 
mal nach  demKalender  entschliessen  musstest^ 
selten  zu  Beginn  der  Nachtruhe,  sondern  meist  erst,  wenn 
Du  in  einem  Liebestraum  nach  Deiner  Art  in  der 
nötigen  Verfassung  aufwachst.  Sage  niemand,  das  seien 
frivole  Enthüllungen,  nein  es  sind  zu  ernster  Warnung 
aufgedeckte  drakonische  Naturgesetze,  die  oft  das  Glück 
eines  armen  betrogenen  Weibes  zermalmen,  ganz  abge- 
sehen von  dem  schon  durch  ein  Leben  der  Qualen  mürbe 
gemachten  Mann.  Wohl  fehlt  einer  ehrbaren  Frau  der 
Vergleich,  aber  ein  volles  Glücksgefühl  kann  ihr  solche 
Vereinigung  nicht  bringen  und  je  feinfühliger  sie  ist, 
desto  mehr  wird  sie  eine  ihr,  wenn  auch  noch  so  heroisch 
verborgene  Lebensuntiefe  des  geliebten  Mannes  ahnen 
und  —  leiden.  Warnen,  auf  das  inständigste  warnen  lasse 
sich  jeder  Homosexuelle,  eine  Ehe  einzugehen.  Es  ist 
die  lähmendste  Unwahrheit  und  Unwürdigkeit,  und  da 
in  den  meisten  Fällen  aus  hundert  Rücksichten  keine  Be- 
freiung möglich  ist,  im  innersten  ein  tägliches  Fegefeuer." 

Ebensowenig  wie  die  libido  gleicht  der  Orgasmus  der 
Urninge  beim  coitus  demjenigen,  wie  er  bei  dem  ihrer 
Natur  entsprechenden  Verkehr  eintritt.  Man  hat  die  rein 
mechanische  geschlechtliche  Vereinigung  als  onania  per 
vaginam  bezeichnet.  Dieser  Ausdruck  erreicht  bei  H.-S. 
die  Wahrheit  nicht.  Nach  übereinstimmender  Schilderung 
empfanden  dieselben  bei  früher  geübter  Automasturbation 
wesentlich  mehr  voluptas  als  beim  coitus,  wo  sie  nur  eine 
abgestumpfte  Empfindung  der  eintretenden  Ejakulation 
verspüren,  ein  Patient  vergleicht  dieses  Gefühl  mit  dem, 
welches  man  in  ,eingeschlafenen  Füssen*  wahrnimmt. 
Auch  von  Urninden  liegen  uns  ähnliche  Mitteilungen  vor. 

Auch  das  Verhalten  post  coitum  ist  bei  männ- 
lichen und  weiblichen  H.-S.  sehr  charakteristisch. 
Während  sich  unter  normalen  Verhältnissen  nach  be- 
endetem Akt  ein  Gefühl  von  Ruhe,  Wohlbehagen,  einer 


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-    53    — 

gewissen  Glückseligkeit  bemerkbar  macht,  berichten 
die  H.-S.  von  Empfindungen  des  Widerwillens,  Ekels, 
grosser  Zerschlagenheit  und  Selbstunzufriedenheit;  ver*- 
schiedene  geben  an,  dass  sie  unmittelbar  .nach  dem 
Verkehr  geradezu  von  Hass  und  Abscheu  für  den  andern 
Teil  erfüllt  waren. 

Für  die  H.-S.  gelten  in  ganz  besonderem  Maasse 
die  Worte,  welche  Mantegazza  in  der  Physiologie  der 
Liebe  im  Kapitel  über  »die  eheliche  Pflicht*  im  allge- 
meinen ausspricht:  »Es  giebt  wohl  keine  grössere  Tortur 
als  die,  welche  ein  menschliches  Wesen  zwingt,  sich  die 
Liebkosungen  einer  ungeliebten  Person  gefallen  zu  lassen/* 
Was  dem  einen  zur  Lust  ist,  ist  dem  andern  zur  Last. 
Welche  peinlichen,  oft  verzweifelten  Situationen  entstehen, 
wenn  der  umische  Teil  nicht  die  geringste  Neigung  zum 
Geschlechtsverkehr  hat,  während  der  andere  sich  danach 
sehnt,  bedarf  nicht  näherer  Ausführung.  Wohl  lässt  auch 
in  den  Ehen  Normalsexueller  die  gegenseitige  Anziehung 
oft  viel  zu  wünschen  übrig,  aber  nie  ist  doch  der  seelische 
und  geschlechtliche  Unterschied  zwischen  den  Ehegatten 
in  diesen  ein  so  grosser  wie  in  Urnings-Ehen. 

Aus  einem  unbestimmten  Schuldbewusstsein  heraus 
giebt  sich  der  urnische  Teil  vielfach  Mühe,  dem  anderen 
Liebe  und  Zuneigung  zu  bekunden,  die  in  Wirklichkeit 
nicht  vorhanden  ist,  aber  instinktiv  fühlt  doch  der  eine, 
wenn  ihm  auch  die  anormalen  Neigungen  des  anderen 
unbekannt  sind,  dieses  heraus  und  klagt  über  Nicht- 
verstandensein,  Vernachlässigung,  Kälte.  Es  fehlt  eben 
die  wechselseitige  Durchdringung  der  zwei,  welche  nach 
Kant  erst  das  ganze  Menschenwesen  bilden.  Namentlich 
das  normale  Weib  mag  in  der  Liebe  nichts  Halbes,  wer 
sie  nicht  stark  und  mächtig  umfängt,  wird  von  ihr  nicht 
geachtet.  Aus  der  Gleichgiltigkeit  entsteht  die  Lange- 
weile, aus  Langeweile  innere  Entfremdung,  wenn  nicht 
gar  Hass. 


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—    54    — 

Der  Homosexuelle  bringt  aber  noch  die  Gefahr  eines 
die  Ehefrau  in  Mitleidenschaft  ziehenden  Skandals  mit 
in  die  Ehe.  Der  Hochzeitstag  bietet  der  homosexuellen 
Leidenschaft  und  ihrer  Bethätigung  fast  niemals  Halt. 
Legt  der  Urning  sich  Schranken  auf;  so  trägt  er  stets 
ein  unbefriedigtes  Gefühl  mit  sich  herum^  folgt  er  seinem 
Triebe^  so  katm  er  nicht  nur  sich  und  seine  Angehörigen, 
sondern  auch  seine  Frau  und  deren  Familie  in  grösste 
soziale  Unannehmlichkeiten  stürzen.  Aus  diesem  qual- 
vollen Konflikt  entspringen  oft  die  traurigsten  Folgen. 
Wir  kennen  nach  dieser  Richtung  den  Fall  einer  in 
Deutschland  sehr  bekannten  Persönlichkeit.  Der  Be- 
treffende verehrt  seine  Frau  ausserordentlich  und  hat 
auch  anfangs  mit  ihr  geschlechtlich  verkehren  können. 
Seit  Jahr  und  Tag  lebt  er  in  fortwährender  Besorgnis, 
dass  seine  umische  Neigung  ihn  zu  irgend  einer  Unbe- 
sonnenheit hinreissen,  der  §  175  ihn  ins  Unglück  stürzen 
könne,  wobei  er  immer  die  Frau  im  Auge  hat.  Tem- 
peramentvoll wie  er  ist,  konnte  er  nicht  allen  Versu- 
chungen aus  dem  Wege  gehen  und  verlebt  oft  Zeiten 
grösster  Kämpfe.  Glücklicherweise  gestatten  die  Ver- 
hältnisse grössere  Beisen  und  häufigen  Wechsel  des 
Aufenthaltes,  aber  die  ewigen  Angstgefühle  und  das 
Unterdrücken  der  eigenen  Natur,  die  er  nicht  zum 
Schweigen  bringen  kann,  erzeugten  Nervenstörungen,  die 
sich  vor  allem  in  Schlaflosigkeit  und  hochgradigen  hy- 
sterischen Anfällen  äussern. 

Ein  sehr  wichtiger  Faktor  für  eheliches  Glück  sind 
Kinder,  deren  Pflege,  Erziehung  und  Versorgung  fort- 
gesetzte Ablenkimg  und  Beschäftigung  bringen.  Besitzen 
Urninge  die  potentia  coeundi,  so  pflegt  auch  die  potentia 
generandi  meist  vorhanden  zu  sein.  Nur  stark  feminine 
Männer,  besonders  GynI&omasten  und  vor  allem  sehr 
virile  Uminden  sind  nach  unserer  Erfahrung  gewöhnlich 
unfruchtbar.    In  Ehen  mit  umischen  Frauen  beobachteten 


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—    55    — 

wir  häufiger  Kinderlosigkeit^  als  in  Ehen  homosexueller 
Männer  mit  normalen  Frauen.  Fehlen  Kinder,  so  fehlt 
das  stärkste  Bindeglied  zwischen  den  Ehegatten.  Die 
normal  empfindende  kinderlose  Frau  ist  zudem  in  ihrem 
unerfüllten  Sehnen  den  Andeutungen  gefälliger  Zuträger 
leichter  zugänglich,  sie  grübelt  mehr,  imd  bei  ihr  ist  die 
Wahrscheinlichkeit  grösser,  dass  sie  von  dritter  Seite  über 
die  wahre  Natur  des  Mannes  aufgeklärt  sich  in  Zorn  von 
ihm  wendet. 

Und  doch  ist  es  schwer  zu  entscheiden,  ob  in  Urnings- 
eben  der  Besitz  oder  der  Mangel  von  Nachkommen  das 
wünschenswertere  ist.  Ganz  abgesehen  davon,  dass  auch 
die  Söhne  und  Töchter  von  dem  Skandal  betrofi*en  werden 
können,  mit  welchem  der  homosexuelle  Vater  stets  zu 
rechnen  hat,  sind  hier  die  Gesetze  der  Vererbung  sehr 
zu  berücksichtigen.  Denn  nicht  gering  ist  die  Wahr- 
scheinlichkeit, dass  von  Urningen  und  Uminden  Kinder 
und  Enkel  stammen,  welche  ein  ähnliches  Schicksal  mit 
auf  die  Welt  bringen,  als  die  Vorfahren  tragen  mussten. 
Und  sind  die  Nachkommen  auch  nicht  selbst  homosexuell, 
so  sind  sie  doch  stets  hereditär  belastet.  Es  ist  zweifel- 
los, dass  es  unter  den  konträrsexuellen  viele  gesunde 
und  kräftige  Menschen  giebt,  aber  ebenso  sicher  ist  es, 
dass  die  Homosexualität  vor  allem  auf  dem  Boden  neu- 
ropathischer  Familiendisposition  gedeiht.  Dafür  sprechen 
die  übereinstimmenden  Familienanamnesen,  in  welchen 
wir  fast  nie  die  mannigfachsten  nervösen  und  psychischen 
Störungen  vermissen,  dafür  spricht  das  so  häufige  Vor- 
kommen urnischer  Geschwisterpaare.  Unter  den  wenigen 
Nachkommen  urnischer  Frauen,  die  ich  prüfen  konnte, 
fismden  sich  mehrere  homosexuelle  junge  Männer.  Ich 
will  aus  meinem  Material  die  Familiengeschichte  heraus- 
greifen, welche  mir  Graf  R.  zur  Verfügung  stellte,  sie 
ist  eine  der  lehrreichsten  Beispiele  für  die  Macht  der 
Vererbung.     Ich  will  betonen,  dass  an    der  Wahrhaftiig- 


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—    56    — 

keit  der  Angaben  nicht  zu  zweifeln  ist,  nur  manches  gar 
zu  Krasse  weggelassen  wurde,  weil  es  nach  des  Patienten 
eigenem  Ausspruch  die  Satyren  2,  6  und  9  des  Juvenal 
weit  überbieten  würde. 

Graf  R.,  jetzt  28  Jahr,  war  ein  stilles,  sehr  frühreifes  Kind, 
das  mit  6  Jahren  deutsch,  englisch,  französisch  und  slovakisoh 
fliessend  sprach  und  sich  mit  Vorliebe  in  der  Privatbibliothek 
aufhielt,  welche  8000  Bände  umfasste.  Sein  Urgrossvater  mütter- 
licherseits war  ein  überaus  jähzorniger  Mann,  er  besass  einea 
Kammerdiener,  an  dem  er  mit  so  zärtlicher  Liebe  hing,  dass  er 
deshalb  für  geistesschwach  galt.  Aus  seiner  Ehe  mit  der  sehr 
hochmütigen,  sozial  völlig  „untraktabelen''  Urgrossmutter  gingen 
zwei  Söhne  und  eine  Tochter  hervor.  Der  älteste  Sohn,  ein  sehr 
verschlossener,  von  Menschenhass  erfüllter  Charakter  hatte  fünf 
Kinder,  von  diesen  starb  der  älteste  Sohn  an  Rückenmarks- 
schwindsucht „trotz  wiederholter  Besuche  des  heiligen  Wassers 
von  Lourdes",  der  zweite  war  von  so  furchtbarer  Härte  und  so 
grossem  Geiz,  dass  seine  Kinder  gezwungen  waren,  wegen  mangel- 
hafter Verköstigung  und  unwürdiger  Behandlung  das  Elternhaus 
zu  verlassen.  Aehnüche  Eigenschaften  zeigte  eine  Tochter,  die 
einen  schwachsinnigen  Sohn  hatte,  eine  zweite  überaus  religiöse 
Tochter  war  an  einen  rein  homosexuellen  Mann  verheiratet,  der 
sie  auch  nicht  ein  einziges  Mal  berührte,  die  jüngste  Tochter 
endlich  war  so  religiös,  dass  sie  sich  in  eine  eigens  gebaute 
Klausnerhütte  einsperrte,  sich  blutig  geisselte  und  oft  acht  Tage 
lang  nur  Wasser  und  Brot  ass.  Die  einzige  Tochter  des  Urgross- 
vaters  litt  an  einem  chronischen  Gesichtsausschlag  imd  kam  nur 
ihrer  hohen  Mitgift  wegen  an  einen  Mann,  der  verarmt  und  Alko- 
holiker war.  Ihrer  Ehe  entstammte  ein  Sohn  und  vier  Töchter. 
Der  Sohn  mit  einem  Zungenpolyp  behaftet,  erkrankte  an  Syphilis, 
steckte  seine  Frau  an  und  erzeugte  einen  schwachsinnigen  Sohn, 
der  nur  lallende  Laute  stammelt,  und  eine  völlig  gelähmte  Tochter, 
deren  eines  Auge  syphilitisch  zerstört  ist.  Die  älteste  Tochter 
hatte  ein  ganz  männliches  Gebahren.  Sie  war  so  menschenfeind- 
lich und  grausam,  dass  die  Bauern  sie  1848  ermorden  wollten 
und  ihr  mehrere  Kugeln  in  den  Rücken  schössen.  Sie  marterte 
eine  kleine  Stieftochter  in  haarsträubender  Weise  zu  Tode,  um 
sich  in  den  Besitz  ihres  Vermögens  zu  setzen.  Die  infolgedessen 
anhängig  gemachte  gerichtliche  Untersuchung  wurde  sistiert. 
Wegen  eines  geringfügigen  Vergehens  lässt  sie  ihr  Dienstmädchen 
300  mal  die  Treppen  des  4  Stock  hohen  Schlosses  auf-  und  nieder- 


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steigen.  Als  die  UDgllickliche  beim  285  male  zusammenbricht, 
ohrfeigt  sie  dieselbe  mit  Vehemenz.  Sie  ist  ausserdem  von 
grösstem  Geiz  beseelt.  Der  Sohn  dieser  Frau  Hess  als  Leutnant 
die  Stall  wache  von  2  anderen  Soldaten  anf  sein  Kommando  so- 
lange prügeln,  bis  dieselbe  ohnmächtig  zusammen  sank.  Dann 
zertrat  er  ihr  mit  den  Stiefelabsätzen  das  Gesicht,  bis  es  eine 
unkenntliche,  blutige  Masse  bildete.  Der  Gnmd  war:  Die  Stall- 
wache hatte  nicht  salutiert.  Er  wurde  infam  cassiert  und  zu 
20  Jahren  Festung  verurteilt,  jedoch  nach  7  Jahren  aus  der  Haft 
entlassen.  Von  den  drei  anderen  Töchtern  der  Urgrosstante  ist 
die  eine  höchst  wahrscheinlich  homosexuell,  sie  hasst  die  Männer, 
blieb  ledig  und  lebt  seit  40  Jahren  intim  mit  einer  Dienerin,  die 
nächste  ist  wegen  ihrer  Boshaftigkeit  allgemein  gefürchtet  und 
gemieden,  die  jüngste  wurde  als  fünfzehnjähriges  Mädchen  er- 
tappt, wie  sie  bei  einer  Gasttafel  von  60  Personen  einen  jungen 
Offizier  unter  der  Tischdecke  onanisierte. 

Wir  kommen  nun  zum  zweiten  Sohne  des  Urgrossvaters,  dem 
Grossvater  unseres  Grafen  R.  Dieser  war  so  jähzornig,  dass  er 
wiederholt  Wilderer  eigenhändig  niederschoss,  den  Patronatspfarrer 
wegen  Meinungsverschiedenheiten  zum  Fenster  des  Schlossturmes 
hinaus  warf.  £r  war  masslos  im  Begehren  nach  dem  Weibe, 
wurde  mit  Gewalt  von  einem  Inoest  zurückgehalten,  den  er  mit 
seiner  Tochter  begehen  wollte.  £Ir  ging  schliesslich  nach  Ver- 
schwendung des  10  Millionen  Gulden  betragenden  Vermögens  an 
Gehirnerweichung  zu  Grunde.  Von  den  zahlreichen  Kindern  dieses 
Mannes  war  der  älteste  Sohn  sehr  ausschweifend  mit  einer  nicht 
weniger  ausschweifenden  Frau,  illegitimen  Kinde  aus  höchstem 
Hause,  verheiratet.  Aus  der  Ehe,  welche  später  gelöst  wurde, 
gingen  2  Kinder  hervor.  Der  Sohn  war  ein  Taugenichts,  er  wurde 
ans  der  Schule  entfernt,  weil  er  in  der  dritten  Lateinklasse  dem 
Professor  vor  den  Kameraden  hinterrücks  ins  Gesicht  urinierte, 
zur  Besserung  nach  Australien  geschickt,  brachte  er  es  später 
doch  noch  durch  Protektion  mit  grossen  Kosten  zum  Reiteroffizier. 
Seine  Schwester  stürzte  sich,  ihren  eigenen  Sohn  und  einen 
18jährigen  Kadetten,  den  sie  liebte,  bei  Sturm  vom  Segelboot 
ins  Meer,  aus  Verzweiflung  und  Elif ersucht,  weil  der  Kadett  ihrem 
Sohne  mehr  zugethan  war.  Sie  und  der  Kadett  ertranken.  Der  ge- 
rettete Sohn  gab  an,  dass  seine  Mutter  ihn  noch  im  Wasser  zu 
erwürgen  versuchte.  Der  zweite  Sohn  des  Grossvaters  hat  Ver- 
folgungswahnideen, er  hält  sich  in  Wien  vier  Wohnungen,  jede 
mit  Doppelausgang. 

Das  dritte  Kind  des  Grossvaters  war  die  Mutter  des  Grafen 


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R.,  sie  fühlte  sich  bis  zum  25.  Jahr  nur  von  Mädchen  angezogen. 
Aus  der  Zeit  ihrer  Ehe,  die  im  63.  Lebensjahre  getrennt  wurde, 
sind  homosexuelle  Akte  nicht  bekannt,  später  scheint  die  alte 
Neigung  wieder  stärker  aufgetreten  zu  sein;  sie  war  litterarisch 
sehr  begabt,  ungemein  willensstark,  überstand  5  schwere  Geburten, 
bei  zweien  trat  Tetanus  ein.  Sie  war  Ton  enormer  Korpulenz 
und  starb  an  Nierenwassersucht  Von  den  jüngeren  Brüdern  der 
Mutter  ist  einer  Junggeselle  und  starker  Sonderling,  er  kopierte 
dreimal  handschriftlich  die  ganze  Bibel,  ein  anderer,  der  sehr  aus- 
schweifend lebt,  macht  einen  schwachsinnigen  Eindruck,  er  liebt 
es,  auf  offener  Strasse  ganz  unbekannten  Damen  Blumensträusse 
zu  überreichen,  welche  ein  angenommener  Junge  im  offenen  Korbe 
nachtragen  muss.  Er  hat  zwei  Töchter,  welche  in  eine  ge- 
richtliche Untersuchung  verwickelt  wurden,  weil  sie  bei  einer 
gegenseitig  vorgenommenen  homosexuellen  Handlung  betroffen 
wurden.  Die  Untersuchung  wurde  niedergeschlagen.  Ein  letzer 
Onkel  mütterlicherseits  war  so  jähzornig  wie  sein  Vater,  ausser- 
dem derart  hochmütig,  dass  er  als  junger  Mann  aus  dem  Institut 
entfernt  werden  musste,  weil  er  sich  konsequent  weigerte,  die 
Professoren  zu  grüssen.  Die  beiden  Kinder,  welche  er  besass 
nahmen  sich  an  einem  Tage  das  Leben,  der  Sohn  erhängte  sich 
auf  dem  Dachboden,  das  Mädchen  stürzte  sich  mit  einem  Stein 
um  die  Hüften  in  den  tiefen  Schlossteich.  In  einem  hinterlassenen 
Schreiben  geben  sie  an,  „sie  wollten  sehen,  welcher  Tod  ange- 
nehmer sei''.  Von  den  beiden  Schwestern  der  Mutter  trieb  die 
eine  geschlechtliche  Ausschweifungen  aller  Art  mit  Männern,  sie 
lebte  in  kinderloser  Ehe  mit  dem  Vetter,  von  welchen  wir  oben 
berichteten,  dass  er  an  Rückenmarksdarre  starb.  Sie  tritt  schüess- 
lich  unter  päpstlichem  Dispens  als  Nonne  in  den  sacr^coeur 
Orden,  nachdem  sie  ihr  halbes  Vermögen  Leo  XUL  in  goldener 
Kassette  geopfert  hatte.  Ihr  linkes  Ohr  ist  von  Lupus  zerfressen. 
Die  jüngste  Schwester  der  Mutter  blieb  aus  „Schamhaftagkeif 
jungAüulich.  Sie  war  eine  geistig  bochbedeut^ide  Persönlich- 
keit, sehr  geschätzt  vom  Fürsten  Bismarck,  ausgezeichnet  durch 
Ideenreichtum,  Originalität  und  Beherrschung  der  Philosophie. 
Nur  in  religiöser  Hinsicht  war  sie  so  extrem,  dass  sie  sich  mitten 
im  Winter  mit  einem  Büsserhemde  bekleidet  14  Tage  und  14 
Nächte  mit  geringen  Unterbreehongen  auf  ein  eigens  dazu  ver- 
fertigtes Kreuz  legte,  das  vor  dem  Hochaltar  der  kalten  Schloss- 
kapelle angebracht  war. 

Auch  die  väterliche  Familie  ist  reich  an  Abnormitäten.    Der 
Vater  des  Vaters  war  Kleptomane.  ,|Kein  silberner  Löffel,  kein 


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Bing^  war  vor  ihm  sicher.  Er  verschwendete  in  wenigen  Jfthren 
2  Millionen  Gulden.  Seine  Frau  war  hochgebildet,  geistreich,  aber 
80  frivol,  dass  sie  sich  jedem  beliebigen  Manne  hingab.  Die 
Moral  nannte  sie  „ein  nndentsohes  Wort  ohne  Inhalt."  Der  älteste 
Sohn  dieses  Ehepaares  wurde  bei  einer  Skandala£färe  vom  Gatten 
der  beteiligten  Dame  getötet,  der  zweite,  der  Vater  des  Grafen, 
war  überwiegend  homoseznelL  Sogar  in  der  besten  Zeit  der  Ehe 
wu*  längere  Zeit  die  erste  Person  im  Hause  ein  junger  Bursche, 
den  er  als  Kutscher  aufgenommen  hatte  und  in  dessen  Zimmer 
er  stundenlang  verweilte.  Vor  allem  liebte  er  schwärmerisch 
seinen  Halbbruder,  welchem  er  die  grössten  Opfer  brachte.  Die 
Frau  desselben,  welche  ihm  nachsteUte,  wies  er  derb  zurück.  Der 
Halbbruder  besitzt  13  Kinder,  meist  Priester  und  Nonnen  mit 
teilweise  kontHirem  Empfinden.  Der  Vater  ist  ausserdem  Alko- 
holist, und  ist  jetzt  nach  80  Jahren  stärkster  Ausschweifungen 
und  zeitweiliger  Intemierung  in  Anstalten  völlig  paralysiert.  Seine 
vier  Söhne,  von  denen  Graf  R.  der  dritte  ist,  sind  ohne  Aus- 
nahme konträrsezuelL 

Der  älteste  ist  zugleich  Stiefelfetischist.  Er  hat  hundertund- 
achtzehn bemerkenswert  hohe  Stiefelpaare.  Ein  Mann  ohne  Stiefel 
übt  keine  Anziehungskraft  aus,  wohl  aber  der  Stiefel  ohne  Bursch, 
besonders  interessiert  er  sich  für  die  Knöohelfalten.  Trotzdem 
er  ein  überaus  wohlhabender  Mann  ist,  schmiert  und  putzt  er  die 
Stiefel  eigenhändig  und  entfernt  etwaigen  Staub  mit  Hülfe  kost- 
barer Seidentücher.  Es  war  das  schon  in  jungen  Jahren  beim 
Militär  seine  Freude,  wo  er  sich  den  Kameraden  als  Stiefelputzer 
aufdrängte.  Die  mit  bestem  Gänsefett  geschmierten  Lieblings- 
paare werden  mit  ins  Bett  genommen.  Ein  Weib  per  vaginam 
zu  gebrauchen  ist  ihm  total  unmöglich,  er  fühlt  sich  zu  Burschen 
niedersten  Standes  hingezogen.  Sein  Geruchssinn  zeigt  merk- 
würdige Anomalien.  Seine  sexuelle  voluptas  wird  durch  nichts 
so  angeregt  wie  durch  flatus  der  nur  mit  Stiefel  bekleideten 
Burschen,  er  veranlasst  daher  dieselben  gegen  gute  Bezahlung 
schon  tagelang  vorher  Bohnen,  Sauerkraut  und  Knobel  zu  ge- 
messen. Dagegen  ist  ihm  der  Geruch  des  Franenkörpers  so  zu- 
wider, dass  er,  wenn  er  seine  Nähe  nicht  meiden  kann,  Kampfer 
schnupft.  Auf  einem  Hof  ball  Hess  er  seine  Tänzerin  Herzogin 
H.  plötzlich  EU  allgemeiner  Verwunderung  im  Saale  stehen  und 
eilte  nach  Hause,  weil  ihm  der  Schweras  der  hohen  Dame  trotz 
angewandter  Parfüms  unerträglich  roch.  Infolge  seines  mehr  als 
sonderbaren  Gebahrens  konnte  er  es  zu  keinem  Wirkungskreis 
bringen,   der   seiner  geistigen  Befähigung  entspricht.    Er  ist  be- 


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—    60    — 

sonders  veranlagt  für  höhere  Mathematik,  musikalische  Kompo- 
sition und  Schachspiel,  gleich  virtuos  als  Klavierspieler  und  — 
Koch.  £r  leidet  an  melancholischen  Zuständen,  unter  deren  £in- 
fluss  er  öfter  monatelang  im  Bett  bleibt.  Bei  seiner  Geburt,  die 
mittelst  Zange  erfolgte,  wurde  er  nicht  unerheblich  am  Hinter- 
haupt verletzt. 

Der  zweite  Bruder  ist  ebenfalls  aktiver  Paederast  Er  ähnelt 
geistig  und  körperlich  sehr  seiner  Grossmutter,  die  sich  durch 
besondere  Frivolität  auszeichnete.  Mit  22  Jahren  wurde  er  in 
Smyma  im  Verkehr  mit  einem  männlichen  Prostituierten  syphilitisch. 
Er  ist  verheiratet  und  hat  ein  Töchterchen.  Von  scharfem  Ver- 
stand und  umfangreichen  Wissen,  weissagt  man  ihm  eine  grosse 
Zukunft,  zumal  er  die  Homosexualität  wohl  zu  verbergen  weiss 
und  fast  nur  mit  seinen  Kousins,  den  Söhnen  des  Halbbruders 
väterlicherseits,  sexuellen  Umgang  pflegt. 

Von  dem  jüngsten  Bruder  ist  ausser  seiner  zweifellosen  Homo- 
sexualität nichts  Besonderes  zu  berichten. 

Graf  R.  selbst  ist,  abgesehen  von  starken  Hämorrhoiden  ge- 
sund und  kräftig;  Neigung  zu  Fettleibigkeit.  Er  lebt  massig,  ist 
unauffälüg  gekleidet  und  sieht,  wie  er  selbst  sagt,  darauf,  dass 
im  Hause  peinlichste  Ordnung  sowie  thatsächliche,  jedoch  nicht 
übertriebene  Religiosität  herrschen.  Er  liebt  sehr  die  Litteratur 
und  ist  selbst  nicht  ohne  dichterische  Beanlagung.  In  seinem 
Gesicht  sind  feminine  Züge  deutlich.  Seine  Stimme  besitzt  weib- 
Uche  Klangfarbe  und  was  die  Höhe  betrifft,  so  macht  ihm  sogar 
die  berühmte  Arie  der  „Königin  der  Nacht"  in  der  Zauberflöte 
keine  Schwierigkeit.  Die  Brustwarzen  schwellen  zeitweise  an 
und  werden  dann  so  empfindUch,  dass  er  kein  steifes  Hemd  tragen 
kann.  In  seiner  sexualen  Geschichte  fUhrt  er  die  erste  Anregung 
zur  Masturbation  auf  einen  Vorgang  zurück,  der  sich  ihm  mit 
photographischer  Schärfe  einprägte.  Man  hatte  ihm  wegen  seiner 
frühen  geistigen  Entwickelung  bereits  mit  4  Jahren  einen  Haus- 
lehrer engagiert  Eines  Abends  sah  er,  als  die  Mutter  verreist 
war,  aus  seinem  Bette,  das  vom  Schlafzimmer  der  Mutter  nur  durch 
Vorhänge  und  eine  ThUr  getrennt  war,  in  allen  Einzelheiten, 
wie  sein  V^ter  mit  dem  jungen  Lehrer  sexuell  verkehrte.  Von 
da  ab  übte  er  Anto-Masturbation  besonders  in  einem  von  Jesuiten 
geleiteten  Lehrinstitut,  wo  er  sich  „für  den  Hausknecht  mehr  inte- 
ressierte als  für  die  Kameraden,  ansschüessUch  Söhne  des  reichsten 
und  ältesten  europäischen  Adels. ** 

Im  16.  Jahre  siedelte  er  nach  Paris  über,  wohin  die  Eltern 
bereits  früher  gezogen  waren.    Hier  wurde  er  von   einem  Abb^> 


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—     61    — 

der  zu  seinen  Lehrern  gehOrte,  in  alle  homosexuellen  Praktiken 
eingeführt.  Mit  dem  Weibe  hat  Graf  R.  trotz  denkbarster  Ver- 
suche nicht  verkehrt.  Es  war  ihm  stets  unbegreiflich,  „wie  man 
die  Frauen  als  das  schöne  Geschlecht  bezeichnen  könne.  **  Im 
homosexuellen  Verkehr  ist  er  passiv  und  zwar  zieht  er  Soldaten, 
Matrosen,  Fleischerburschen  u.  dergl.  „Gebildeten"  vor.  Graf  K. 
schllesst  seine  ausführliche  Lebensgeschichte  mit  einer  Bemerkung, 
welche  wir  in  ähnlicher  Weise  wiederholt  in  den  Selbstbiographien 
Homosexueller  finden,  und  die  sich  nur  dadiu'ch  erklären  kann^ 
dass  die  Träger  der  Homosexualität  dieselbe  wie  ein  untrennbares 
Stück  ihres  eigenen  Selbst  wahrnehmen;  er  schreibt:  Ich  empfinde 
die  Homosexualität  nur  insofern  als  Uebel,  als  sie  sich  am  Ver- 
fall unseres  Hauses  beteiligte  und  mich  bereits  öfter  den  Armen 
der  „Gerechtigkeit"  nahe  brachte.  Sonst  aber  bildete  gerade  mein 
Leiden  für  mich  die  Quelle  jeder  Lebensfreudigkeit.  Am  nächsten 
Baumast,  der  100  Kilo  tragen  kann  —  das  ist  mein  Gewicht  — 
knüpfte  ich  mich  auf,  falls  der  Trieb  erlöschen  oder  umsuggeriert 
würde." 

Wir  aber  möchten  die  Geschichte  dieser  Familie 
und  die  Betrachtungen  über  die  Vererbung  mit  einer 
Frage  schliessen:  Sollte  die  Homosexualität,  welche  auf 
dem  Boden  der  neuropathischen  Belastung  reift,  nicht 
vielleicht  eines  der  Mittel  sein,  mit  welchem  die  Natur 
einem  Stamme  in  sich  ein  Ende  zu    setzen  bestrebt  ist? 

Soviel  steht  fest:  würde  die  normale  Ehehälfte  vor- 
her über  die  Homosexualität  der  anderen  aufgeklärt  sein, 
wären  ihr  die  hier  geschilderten  wahrscheinlichen  oder  auch 
nur  möglichen  Folgen  dieser  Veranlagung  bekannt,  sie 
würde  wohl  in  den  meisten  Fällen  verzichtet  haben* 
Der  urnische  Teil  giebt  dem  anderen  nicht,  was  er  er- 
wartet und  worauf  er  Anspruch  hat.  Es  ist  nicht  zu 
viel  gesagt,  wenn  wir  behaupten,  der  über  sich  selbst 
unterrichtete  Urning,  der,  ohne  sich  als  solcher  zu  er- 
kennen zu  geben,  zur  ehelichen  Lebensgemeinschaft 
schreitet,  macht  sich  des  Betruges  schuldig.  In  ver- 
stärktem Maasse  gilt  das  gegenwärtig,  wo  nach  dem  neuen 
bürgerlichen  Gesetzbuch  die  Ehescheidung  auf  Grund  un- 


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überwindlicher  Abneignug  nicht  mehr  zulässig  ist.  Blosse 
AndentungeD;  man  mache  sich  nichts  aus  dem  sexuellen 
Yerkehr,  man  betrachte  die  Ehe  nur  als  eine  gegenseitige 
Unterstützung;  genügen  nicht,  sie  werden  meist  nicht 
verstanden.  Uns  sind  mehrere  Fälle  bekannt,  in  denen 
sich  später  die  Männer  darauf  beriefen,  sie  hätten  ja  den 
Frauen  vorher  Hinweise  gegeben,  wo  in  Wirklichkeit 
aber  die  Frauen  keine  Ahnung  hatten.  Früher  oder 
später  erreichen  in  den  meisten  Ehen  Gerüchte  vom 
homosexuellen  Verkehr  des  Mannes  die  Ohren  des  Weibes. 
Oft  sind  es  Chanteure,  die  unter  Hindeutung  auf  den 
§  175  R.-Str.-G.-B.  die  Frau  ängstigen.  Wie  gut  ist  es, 
wenn  sie  den  von  Hass  oder  Gewinnsucht  erfüllten  Per- 
sonen dann  entgegnen  kann:  „Das  weiss  ich  und  wusste 
es  von  Anfang  an.^  In  den  meisten  Fällen  wird  allerdings 
die  Aufklärung  die  Wirkung  haben,  dass  der  normale 
Teil  zurücktritt,  es  sei  denn,  dass  rein  praktische  Gesichts- 
punkte, manchmal  auch  wahre  Sympathie  den  Ausschlag 
geben.  Würde  über  die  Homosexualität  die  richtige  Er- 
kenntnis herrschen  und  der  §  175  beseitigt  sein,  so  würde 
man  vorkommenden  Falles  diesen  Punkt  wie  andere  Vor- 
fragen ruhig  und  eingehend  im  Schosse  der  Familie  be- 
sprechen können. 

Hierzu  ist  fireilich  erforderlich,  dass  auch  das  weib- 
liche Geschlecht  von  dem  noch  jetzt  vielfach  beliebten 
Standpunkt  grösster  Unkenntnis  aller  sexuellen  Dinge 
geheilt  werde  und  die  Ausschreitungen  der  Prüderie  auf- 
hören, welche  mit  dem  naturwissenschaftlichen  Charakter 
unserer  Zeit  in  so  grellem  Widerspruche  stehen.  Ver- 
zichten wir  auf  jenes  künstliche  Produkt  völliger  Harm- 
losigkeit, das  ja  auf  manchen  Mann  vorübergehend  einen 
gewissen  Beiz  ausübt  und  helfen  wir  den  Frauen,  dass 
sie  den  Zustand  kindlicher  Unfreiheit  abstreifen.  Wenn 
erst  das  Weib  seine  eigene  Geschlechtsnatur,  sowie  die- 
jenige des  Mannes  klar  zu  erkennen  imstande    ist,   dann 


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werden  auch  die  unzähligen  Missverständnisse  vor  und 
in  so  vielen  Ehen  nachlassen^  und  auch  über  die  umische 
Gefühlsrichtung  wird  sich  die  so  wünschenswerte  Klar- 
heit verbreiten. 

Immerhin  wird  es  Frauen  geben,  die  sich  entschliessen, 
auch  einem  nicht  normal  empfindenden  Manne  die  Hand 
zum  Lebensbunde  zu  reichen,  vor  allem  solche,  bei  denen 
geschlechtliche  Wünsche  gamicht  oder  nur  in  sehr  ge- 
ringem Grade  hervortreten.  Eine  entschiedene  nicht 
selten  zur  Ehe  führende  Wahlverwandtschaft  besteht 
zudem  zwischen  homosexuellen  Männern  einerseits  und 
homosexuellen  Frauen  andererseits;  die  robuste,  energie- 
volle Uminde  sympathisiert  mit  dem  zartbesaiteten,  oft 
so  hilflosen  unselbstständigen  Urning  und  umgekehrt. 
Diese  Ehen,  wo  beide  Teile  bewusst  oder  unbewusst 
mehr  oder  weniger  sexuelle  Zwischenstufen  darstellen, 
sind  viel  häufiger  als  man  glaubt,  und  sie  sind  nicht  die 
unglücklichsten. 

Wir  bringen  umstehend  das  Bild  eines  derartigen  uns 
bekannten  Ehepaares;  der  blosse  Augenschein  lehrt^  wer  in 
dieser  Ehe  die  aktiv  virile,  und  wer  die  passive,  feminine^ 
Hälfte  ist. 

Auch  folgende  uns  übersandte  Selbstbiographie,  die 
wir  im  Auszuge  wiedergeben  (unter  Hinfortlassung  der 
ausführlichen  Toilettenschilderungen)  ist  in  dieser  Hin- 
sicht lehrreich. 

„loh  stamme",  heisst  es  in  diesem  Bericht,  „aus  guter,  reicher 
Familie,  meine  Mutter  war  eine  seelensgute  Frau,  hie  und  da  mit 
etwas  exoentrischen  Ideen  behaftet,  meinen  Vater  habe  ich  nicht 
gekannt,  da  er  kurz  nach  meiner  Geburt  starb;  er  soll  ein  sehr 
kleiner,  schmächtiger  Mann  gewesen  sein  mit  sehr  wenig  Bart- 
wuchs und  auffallend  hoher  Stimme;  meine  Mutter  sprach  nicht 
gerne  von  ihm,  warum  konnte  ich  nie  erfahren.  Ich  hatte  eine 
Schwester,  die  um  ein  Jahr  älter  war  als  ich  und  der  ich  frappant 
ähnlich  sah.  Ich  war  ein  durch  seine  Schönheit  auffallendes,  aber 
ungemein  zartes  und  kleines  Kind  und  wurde  bis  zum  10.  Jahre 
mit  meiner  Schwester  zusammen  von  einer  Bonne  erzogen.    Meine 


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Schwester  war  ganz  normal,  ich  jedoch  war  gar  nicht  so,  wie 
andere  Knaben,  ich  mied  ihre  Gesellschaft,  da  sie  mir  zu  turbu- 
lent nnd  roh  waren,  an  ihren  Spielen  fand  ich  keinen  Geschmack, 
hingegen  weilte  ich  gern  bei  den  Gespielinnen  meiner  Schwester. 
Mit  Vorliebe  zog  ich  männlichen  Puppen  weibliche  Kleider  an 
und  umgekehrt;  für  weibliche  Arbeiten  hatte  ich  dezidierten  Sinn 
und  grosse  Geschicklichkeit,  ich  stickte,  häckelte  und  nähte 
fleissig  mit  meiner  Schwester.  Etwas  ganz  Unwiderstehliches  zog 
mich  zur  Mädchenkleidung  hin.  Wenn  ich  mich  im  Spiegel  be- 
sah, kam  ich  mir  in  meinen  Manneskleidem  lächerlich  vor.  Mein 
Erzieher,  den  ich  im  11.  Jahre  bekam,  schalt  mich  oft  wegen 
meiner  Mädchenhaftigkeit;   er  hätte  mich  gern  zu  einem  wilden 


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Jungen  gemacht,  sodass  ich  oft  weinen  mosste.  Ich  studierte 
privat,  lernte  gut  und  machte  mit  17  Jahren  die  Maturitätsprüfung. 
Am  Klavier  hatte  ich  derartige  Fortschritte  gemacht,  dass  ich 
künstlerisch  spielte. 

Um  diese  Zeit  sollte  von  Amateurs  eine  Theatervorstellung 
veranstaltet  werden  und  mir  wurden  zwei  Damenrollen  zugeteilt 
Endlich  sollte  mein  sehnlichster  Wunsch  in  Erfüllung  gehen,  mich 
als  Mädchen  kleiden  und  benehmen  zu  können  und  noch  dazu 
öffentlich.  Mit  Feuereifer  ging  ich  an  das  Studium  meiner  Rollen, 
wobei  mir  meine  Schwester  half.  Als  ich  mich  zuerst  im  Spiegel 
ganz  als  Mädchen  sah,  bebte  ich  am  ganzen  Körper  vor  Freude 
und  Wonne ;  ich  fühlte  mich  wie  neugeboren,  mir  war  es,  als  ob 
dies  die  Kleidung  sei,  die  immer  zu  tragen  mir  bestunmt  sei. 
Ich  konnte  mich  nicht  vom  Spiegel  trennen,  ich  drehte  mich,  um 
die  Röcke  fliegen  zu  lassen,  hob  sie  an,  um  die  Unterröcke  und 
Schuhe  zu  sehen,  ging  auf  und  ab,  wobei  das  Rauschen  der 
seidenen  Unterröcke  mich  glücklich  machte,  betrachtete  mich  von 
allen  Seiten  und  konnte  mich  nicht  satt  sehen. 

Die  Proben  zu  unserer  Theatervorstellung  hatten  begonnen, 
bei  denen  ich  stets  als  Dame  gekleidet  erschien,  worüber  man 
anfangs  erstaunt  war,  doch  sollte  loh  ja  Frauenrollen  geben  und 
so  fand  man  es  bald  natürlich,  dass  ich  so  angezogen  kam.  Mama 
brachte  mich  gewöhnlich  im  Wagen  hin  und  holte  mich  wieder 
ab.  Eines  Tages  schlug  mein  Kousin,  der  auch  mitspielte,  vcr, 
mich  zu  Fuss  nach  Hause  zu  geleiten.  Ich  erschrak  über  diesen 
Vorschlag:  „So  soll  ich  auf  die  Gasse?  man  wird  mich  ja  gleich 
in  meiner  Verkleidung  erkennen?^  „Gar  keine  Spur,  kein  Mensch 
wird  eine  Ahnung  haben,  denn  du  siehst  ja  aus,  wie  ein  echtes 
Mädel**,  war  seine  Antwort  Dies  gab  mir  Mut,  ich  nahm  seinen 
Arm  und  wir  gingen.  Der  erste  Schritt  in  Weiberkleidem  auf 
der  Gasse.  Anfangs  war  ich  doch  etwas  ängstlich,  doch  als  ich 
merkte,  dass  man  mich  nicht  erkannte,  gewann  ich  Vertrauen, 
wir  gingen  sogar  in  eme  Konditorei,  wo  ich  als  Fräulein  tituliert 
wurde,  was  uns  köstlich  amüsierte. 

Endlich  kam  der  Tag  der  Vorstellung,  mein  Erfolg  war  ein 
durchschlagender;  keine  wirkliche  Dame  hatte  besser  gespielt 
Man  fand  nicht  nur  mein  Aussehen,  sondern  auch  mein  Spiel 
echt  weiblich.  Man  war  so  entzückt,  dass,  als  eine  Woche  nach- 
her in  demselben  Hause  ein  kleiner  Ball  gegeben  wurde,  allgemein 
der  Wunsch  geäussert  wurde,  ich  möge  auf  demselben  als  Mäd- 
chen gekleidet  erscheinen.  Mama  war  so  gut,  es  zu  gestatten 
und  als  auf  dem  Balle  meine  Schwester,  der  ich  zum  Verwechseln 

Jahrbuch  in.  5 


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Uhnlich  sah  and  ich  hinter  Mama  eintraten,  ging  ein  allgemeines 
Ah  durch  den  Saal,  alle  Tänzer  rissen  sich  um  mich,  ich  war 
entschieden  die  Ballkönigin  und  bekam  beim  Kotillon  die  meisten 
Bouquets. 

Ein  Jahr  darauf  starb  meine  Schwester  am  Typhus  und  aber- 
mals ein  Jahr  später  meine  Mutter  an  Lungenentzündung.  Da  ich 
ruhig  und  vemttnAig  war,  liess  mich  mein  Vormund  mit  21  Jahren 
grossjährig  erklären.  Bevor  ich  zu  der  jetzigen  Phase  meines 
I^bens  komme,  will  ich  ein  Bild  von  mir  in  diesem  Momente 
geben. 

Obzwar  21  Jahr  alt,  sehe  ich  aus  wie  ein  zarter,  kleiner, 
Ujähriger  Knabe,  Gesichtszüge  ungemein  fein,  Teint  rosig,  kleiner 
Mund,  grosse  dunkelblaue  Augen  mit  grossen  Wimpern,  voll- 
kommen bartlos,  ein  wahres  Mädchengesicht;  Haut  sehr  weich 
und  weiss,  Gestalt  zierUoh,  Hüften  breit,  Arme  rund,  auf  der  Brust 
etwas  Fettpolster,  sodass  die  Brüste  etwa  denen  eines  15jährigen 
Mädchens  gleichen,  Hände  und  Pttsse  klein,  der  ganze  Körper 
glatt,  nur  die  Geschlechtsteile  schwach  behaart,  der  Penis  so 
klein,  wie  der  eines  10jährigen  Knaben,  im  Scrotum  nur  ein 
Hoden,  etwas  grösser  wie  eine  Haselnuss  (Kryptorchismus),  Stimme 
sehr  hoch,  ein  Greschlechtstrieb  fehlt  vollkommen ;  mein  Kopfhaar,, 
das  sich  weich  und  seidig  anfühlt,  trage  ich  A  la  vierge  gekämmt 
So  war  ich  als  ich  ganz  selbstständig  wurde  und  ein  bedeutende» 
Vermögen  zu  meiner  Verfügung  stand.  Da  meme  Neigungen 
stärker  denn  je,  ging  ich  baldigst  daran,  mich  ganz  zu  feminisieren. 

Meine  bisherige  Wohnung  war  mir  zu  herrenmässig,  ich  richtete 
mir  daher  in  einigen  Räumen,  die  früher  von  meiner  Mutter  und 
Schwester  bewohnt  waren,  eine  Wohnung  her  mit  allem  Luxus 
einer  eleganten  Modedame.  Das  Schlafzimmer  wurde  weiss,  das 
Boudoir  blau,  das  Toilettezimmer  rosa,  der  eine  Salon  mit  gelbem, 
der  andere  mit  rotem  Damast  eingerichtet,  das  Esszimmer  weis» 
und  gold.  Männliche  Bedienung  habe  ich  nie  gemocht  und  wurde 
dieselbe  jetzt  durch  weibliche  ersetzt.  Marianne  und  ihre  Tochter 
Julie,  die  beiden  Kammerfrauen,  waren  nach  dem  Tode  meiner 
Mutter  und  Schwester  ohne  Beschäftigung,  beide  dem  Hause  sehr 
attachiert  und  da  sie  meine  Passionen  genau  kannten,  für  mich 
sehr  passend.  Ich  setzte  sie  von  meinen  Plänen  in  Kenntnis, 
appellierte  an  ihre  Anhänglichkeit  und  Verschwiegenheit,  beide 
nahmen  freudig  an.  JuUe  übernahm  sogleich  meine  persönliche 
Bedienung.  Nun  füllten  sich  bald  die  Kästen  mit  der  besten 
Damenwäsche,  Hemden,  Hosen  aus  feinstem  Battist  und  Seide 
mit  Spitzen  und  Bändern  geziert,  seidene  und  Battist-Unterröcke, 


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—    67    — 

ebenfalls  mit  Spitzen,  seidene  Strümpfe,  Hüte,  Schübe  etc.,  vor 
all^m  die  sohönston , Roben  aller  Art;  es  waren  ihrer  viele, 
solche  für  junge  Mädchen  nnd  solche  für  jnnge  Frauen,  Ballroben 
mit  und  ohne  Schleppe,  Soir^etoiletten,  allerlei  Strassen-  und 
HaustoUetten,  Deshabill^s,  >latinee8,  Mäntel,  Jäckchen,  auch 
Kostüme  für  Maskenbälle,  ich  erwähne  nur  Bäuerin,  Spanierin 
Baby,  Fantasieblumenmädchen,  Schäferin  4  la  Watteau,  Rococo- 
dame,  Marie  Stuart,  Empirekostüme.  Was  meine  Tageseinteilung 
anlangt,  so  nehme  ich  nach  dem  Frühstück  um  10  Uhr  ein  laues, 
parfümiertes  Bad,  nachher  kleidet  mich  Julie  an,  irgend  eine  ele- 
gante mit  Spitzen,  verzierte  Matinee  oder  ein  Hauskleid.  Den  Vor- 
mittag verbraclite  ich  dann  mit  Stricken^  Häckeln,  Klavierspiel, 
Lektüre,  Nach  dem  Dejeuner,  das  uni  1  Uhr  serviert  wird,  musste 
ich  mich  manches  Mal  noch  als  Mann  kleiden,  doch  geschah  dies 
nur  sehr  selten,  da  ich  mich  aus  meinepi  früheren  Kreise  mehr 
und  mehr  zuiiickgezogen  hatte.  Die  Männerkleider  waren  mir 
sehr  lästig,  meist  blieb  ich  Dame,  auch  wenn  ich  ausfuhr  imd 
ausging,  niemand  erkannte  meine  Verkleidung,  ich  war  eben  für  den 
Unterrock  geboren.  Marianne  war  als  Gardedame  hcransstaffiert 
worden.  Um  7  Uhr  war  Dinerstunde,  abends  pflegte  ich  öfters 
das  Theater  zu  besuchen,  hierzu  kleidete  ich  mich  als  junges 
Mädchen  oder  als  junge  Frau,  Marianne  chapronierte  mich  und 
sah  sehr  possierlich  an  ihrem  Ehrenplatze  aus.  Besonders  gern 
besuchte  ich  ein  Operettentheater,  dessen  Star,  eine  Sängerin, 
namens  Lea,  beinahe  ausschliesslich  in  Hosenrollen  auftrat.  Sie 
war  für  dieses  Genre  wie  geschaffen,  hoch  und  schlank  ge- 
wachsen, das  Gesicht  schön  doch  scharf  geschnitten  mit  männ- 
lichen Zügen,  die  Stimme  n^it  merkwürdig  tiefem  Timbre.  Wenn 
sie  als  Man^  auftrat,  war  sie  ganz  Mann,  sie  ging  und  bewegte 
sich  als  solcher,  alles  weibliche  war  bei  ihr  verschwunden;  sie 
trug  kurz  geschorenes  Haar  imd  ging  zu  Hause  stets  in  Männer- 
kleidem,  auch  hörte  ich  von  ihr  erzählen,  sie  fühle  sich  unglück- 
lich in  ihrem  Geschlecht.  Es  drängte  mich,  ihre  Bekanntschaft 
zu  machen.  In  einem  Briefe  entwarf  ich  ein  Bild  von  mir,  meinem 
Fühlen  und  Denken  und  drückte  den  sehnlichsten  Wunsch  aus, 
mich  ihr  vorzustellen.  Umgehend  erhielt  ich  eine  bejahende 
Antwort;  sie  lud  mich  für  den  folgenden  Tag  nach  dem  Theater 
zu  sich,  mit  dem  Beifügen,  dass  wir  allein  sein  würden, 
da  wir  uns  viel  zu  sagen  haben  würden.  Ich  machte 
sorgfältige  Toilette,  mein  Haar  wurde  in  einen  griechischen 
Knoten  gesteckt  und  mit  Brillanten  umgeben  etc.  etc.,  in  einen 
langen  mit  Seide  gefutterten  Mantel  gehüllt,  fuhr  ich   zu  Lea, 


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—    68    — 

welche  mich  in  einem  chiken  Fraokanziige  erwartete;  sie  machte 
wirklich  ganz  und  gar  den  Eindruck  eines  feinen  jungen  Herrn. 
Als  ich   eintrat,   kam  sie  verwundert  auf  mich  zu,   wir  standen 
einen  Moment  unter  dem  Eindrucke,  dass  wirseelenverwandt, 
uns     gefunden;     welche     merkwürdige    Metamorphose,    sie 
das  Weib  stand  da,  als  eleganter  junger  Mann  und  ich  der  Mann 
dagegen  als  schüchternes  Mädchen.    Endlich  küsste  mir  Lea  ga- 
lant die  Hand  und  machte  mir  Komplimente  über  mein  Aussehen 
und  meine  Toilette,   wir  freundeten  uns  gleich  an,   wir  waren  ja 
ganz   dazu  geschaffen,   uns   zu  verstehen.    Beim  Thee   sitzend, 
sprachen   wir  lange,  lange   über   unser  Empfinden  und  Denken, 
gleich  am  ersten  Tage  schütteten  wir  uns  das  Herz  aus ;  ich  hatte 
richtig  vermutet,   Lea  war  das  Gegenstück  zu  mir,   mir  gefiel 
an   ihr   das   männliche  Wesen  und  sie  wiederum  fand 
Gefallen   an  meiner   Mädchenhaftigkeit.    Erst  spät  in 
der  Nacht  kehrte  ich  heim.    Wir  sahen  uns  beinahe  täglich.    Ich 
lernte  bei  ihr  auch  einen  Prinzen  aus  kOnigUchem  Hause,  der  im 
gewöhnlichen  Leben  Leutnant  in  einem  Kavallerie-Regiment  ist, 
in  einem  reizenden  duftigen  Kleidchen  aus  weissem  Thautropfen- 
tüll  mit  Maiglöckchen   etc.    kennen.    Er   klagte  sehr  über  seine 
Stellung,   wie   gern   lÄÜrde  er   die  Uniform  mit  Mädchenkleidem, 
den  Säbel  mit   dem  Fächer  vertauschen,  der  arme  Junge!    Bis 
nun  war  ich  wirklich  ganz  unverdorben,  ganz  unschuldig.    Durch 
Lea   wurden   mir   die  Augen  geöfibet,   mein  Staunen  war  gross, 
doch    der    natürliche  Trieb   ist  mächtiger,    als  alle  Gesetze,   ich 
fürchte  mich  nur  vor  dem  Moment,  wo  ich  wieder  Mann  werden 
muss,  wenn  die  Täuschung   nicht  mehr  fortgesetzt  werden  kann. 
Dennoch  tröste  ich  mich  mit  dem  Gedanken,  dass  ich  mehr  Glück 
hatte,  als  viele  meiner  Leidensgenossen,  indem  ich  eine  Zeit  lang 
wirklich  das  sein  konnte,  was  ich  bin  imd  dabei  glücklich  war." 
Nur    ein    kleiner   Bruchteil   umischer    Männer   und 
Frauen  werden   unter   den    geschilderten  Umständen    zu 
einer  Art  Scheinehe  gelangen  können,  die  meisten  werden 
auf  die  grossen  Güter,   die    eine    eigene  Familie  in  sich 
birgt,  von  vornherein  verzichten  müssen.     Es  ist  zu  ver- 
stehen   und    zu  verzeihen,    wenn  Urninge  selbst  in  ihrer 
traurigen  Vereinsamung  auf  den  sonderbaren  Gedanken 
verfielen,   dass   auch  Ehen    zwischen  Personen  desselben 
Geschlechts  eingegangen  werden  könnten,  selbst  ein  Mann 
wie  Ulrichs  spielte  mit  dieser  Idee,  deren  Widersinnigkeit 


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—    69    — 

doch  schon  daraus  erhellt,  dass  in  solchen  Fällen  der 
Hauptzweck  der  Ehe,  die  Erhaltung  der  Art,  die  Er- 
zeugung und  Erziehung  von  Kindern  unmöglich  ist  Fällt 
aber  auch  für  die  Urninge  der  Zweck  hinweg,  so  bleibt 
doch  auch  für  sie  der  Grund  zur  Einehe,  die  individuelle 
Liebe  bestehen.  Denn  nur  in  der  Richtung,  nicht  in  der 
Stärke  und  Art  ist  die  homosexuelle  Liebe  von  der  hetero- 
sexuellen verschieden.  Dort  wie  hier  kommt  neben  der 
Neigung  zu  einem  bestimmten  Genre  die  rein  individuelle 
Liebe  vor  mit  ihrer  starken  Tendenz  zur  Dauerhaftigkeit, 
mit  ihrer  Sehnsucht  und  Eifersucht,  der  Sorge  um  den 
Alleinbesitz  und  den  Schwüren  ewiger  Treue. 

Hierdurch  erklärt  es  sich,  dass  auch  unter  Personen 
gleichen  Geschlechts  Bündnisse  von  langer  Dauer  vor- 
kommen, die  den  Charakter  der  Ehe  an  sich  tragen. 
Namentlich  unter  Frauen  ist  uns  eine  beträchtliche 
Anzahl  «fester  Verhältnisse*  bekannt  geworden ;  die 
eine  »der  Mann"  steht  im  aktiven  Erwerbsleben,  die 
andere  versieht  das  Haus.  Auch  ümingspaare,  welche 
jähre-  und  jahrzehntelang,  manchmal  ihr  Leben  lang  zu- 
sammenwohnen und  wirtschaften,  gehören  in  Grossstädten 
nicht  zu  den  Seltenheiten.  In  Berlin  giebt  es  ein  Schau- 
spielerpaar, wo  der  jüngere  sogar  den  Namen  des  älteren 
angenommen  hat.  Die  Hochzeitsfeste  römischer  Cäsaren 
mit  Jünglingen,  von  denen  die  alten  Schriftsteller  be- 
richten, sind  weder  ein  Vorrecht  der  Cäsaren  noch  der 
Antike.  Die  unterbrochene  Hochzeitsfeier  des  Amerikaners 
Withney  mit  einem  preussischen  Ulanen  erregte  vor 
einigen  Jahren  in  Berlin  grosses  Aufsehen,  aber  dieser 
Fall  steht  durchaus  nicht  vereinzelt  da. 

Es  sind  jetzt  etwa  fünf  Jahre,  dass  ich  selbst  einmal  Ge- 
legenheit hatte,  einem  solchen  Vorgang  beizuwohnen.  Ein 
Patient  von  mir,  der  mein  Interesse  für  dieses  noch  so  wenig 
erforschte  Gebiet  menschlichen  Lebens  kannte,  schrieb  mir, 
ob  ich  der  Trauung  eines  homosexuellen  Paares  beiwohnen 


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—     70    — 

wolle.  Ich  willigte  ein  und  fand  mich  zur  angegebenen 
Stunde  Soüntag  Nachmittägig  in  dem  bezeichneten  Lokal 
der  Friedrichstädt  ein.  Als  ich  eintrat,  sah  ich  gegen 
50  Herren,  diö  öffenbai*  den  besseren  Ständen  angehörten, 
in  Gesellschaftstoilistte  versammelt;  ein  Altar,  von  Blatt- 
pflanzen umgeben,  war  errichtet,  zahlreiche  Kerzen 
brannten;  nicht  lange  und  es  erschien  ein  älterer  bartloser 
Herr  in  der  Tracht  eines  Geistlichen  und  betrat  den 
Altar;  auf  dem  Harmonium  tvarde  ein  weihevolles  Lied 
gespielt,  in  das  die  Versammelten  einstimmten.  Unter 
diesen  Klängen  zog  da6  Bräutpaar,  voü  Bräutjungfern, 
ebenfalls  Herren,  geführt,  ernst  imd  feierlich  in  den 
Raum,  es  waren  zwei  jüüge  Leute,  der  eine  Ende^  der 
andere  Anfang  der  Zwanziger,  beide  im  Frackainzug,  der 
ältere  trug  einen  Myrthenstrauss  im  Knopfloch,  der  jüngere 
einen  Myrtenkranz  und  einen  lang  hei^abwallenden  Schleier. 
Der  Pseudogeistliche  hielt  eine  Rede,  in  welcher  er  auf 
die  Innigkeit  dieser  Freundesliebe,  den  Entschluss,  auch 
äusserlich  den  Bund  zu  besiegeln  hinwies  und  beide  auf- 
forderte, in  allen  Lagen  des  Lebens  treu  zu  einander  zu 
halten.    Beim  Wechseln  der  Ringe  sagte  er: 

Und  nun  vereinigt  Euch  das  Sakrament, 
Bis  Zwietracht  oder  Tod  Euch  trennt. 

Dann  wieder  Musik  und  allgemeines  Beglückwünschen. 
Aufmöin  Befragien  teilte  mir  der  .Kaplan*,  —  do  nannten 
sie  den  Geistlichen,  —  mit,  dass  er  zum  neunten  Mal  in  dieser 
Wieise  amtiere.  Für  manche  Teilnehmer  gchien  der  Vor- 
gang etwas  Scherzhaftes,  für  viele  Leser  wird  er  etwas 
Blaspheitiisches  haben,  für  mich  hatte  es  etwas  tief  Er- 
schütterndes. Uebrigens  sah  ich  das  Paar  vor  einigen 
Wochen  zum  ersten  Male  "wieder  in  einem  CafShause 
und  erfuhr,  das  bisher  das  Verhältnis  ein  ungetrübtes  sei. 

Wenn  man  auch  aus  naheliegenden  Gründen  solche 
Geschehnisse  nicht  wird  billigen  können,  so  hat  es  doch 
für  einen  Urning  stets   grosseh  Vorteil  mit   gleich  Em- 


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—    71    — 

pfindenden  in  nähere  Beziehungen  zu  treten.  Das  ist  vor 
allem  therapeutisch  wohl  zu  beachten.  Man  denke  dabei 
nicht  an  sexuelle  Verhältnisse,  aber  die  Urninge  haben 
unter  demselben  Drucke  stehend,  so  viele  gemeinsame 
Interessen,  dass  allein  der  Meinungsaustausch  gleich 
Fühlender  Trost  und  Erleichterung  in  hohem  Maasse  ge- 
währt Schon  der  unverheiratete  Urning  hat  den  grossen 
Vorzug  vor  den  verheirateten,  dass  er  wenigstens  abends 
in  seinen  vier  Wänden  die  Maske  der  Heuchelei  ablegen 
kanuy 'Welche  der  Tag  ihm  aufzwingt,  er  hat  nicht  zu 
fürchten,  dass  die  Seufzer,  die  sich  seiner  Brust  ent- 
ringen, jemanden  verletzen.  Gewiss  liegt  in  dem  Ver- 
zicht auf  eheliches  Glück  eine  der  grössten  Entsagungen, 
welche  einem  Menschen  auferlegt  werden  kann,  aber  zur 
Unfruchtbarkeit  ist  man  damit  nicht  verurteilt.  Unter 
den  Grössten  aller  Zeiten  gab  es  solche,  die  nicht  Menschen 
der  Ehe  waren  und  sich  vielleicht  grade  darum  leichter 
frei  von  vielen  Rücksichten  und  Lasten  zur  Supervirilität 
entwickelten.  Kann  der  Homosexuelle  auch  nicht  leib- 
liche, so  kann  er  doch  auf  allen  Gebieten  menschlichen 
Fortschritts  geistige  Früchte  hinterlassen,  viele  thaten  es 
und  jedes  strebe  danach,  im  Blleinen  oder  im  Grossen 
jeglicher  nach  seiner  Kraft. 


-^^ 


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Uranismus 

oder 

Päderastie  und  Tribadie  bei 
den  Naturvölkern. 

Von 

Dr.  F.  Karsch, 

Privatdozent  in  Berlin. 

„.    .    .    trahit  sua  quemquc  Toluptas'^ 
Vergilins:  Alexis  65. 

Einleitung. 

In  einer  Zeit,  welche  die  bewunderungswürdigsten 
Erfindungen  zum  Gemeingute  Aller  macht^  Erfindungen, 
an  die  unablässig  die  verbessernde  Hand  gelegt  wird,  um 
immer  neue  Geheimnisse  der  Materie  und  der  Kräfte 
aufzuspüren,  bleibt  ein  Bestandteil  des  menschlichen 
Liebestriebs  zur  Unfruchtbarkeit  verurteilt  und  Unge- 
zählten, Unterrichteten  und  Ununterrichteten,  ein  Buch 
mit  sieben  Siegeln.  Diesen  Ungezählten  erscheint  ein 
Liebestrieb,  der  zum  Verkehr  der  beiden  verschiedenen 
Geschlechter  mit  einander  drängt,  an  deren  Zusammentreffen 
die  Erhaltung  und  Vermehrung  ihrer  Art  gebunden  ist, 
als  eine  Selbstverständlichkeit  und  deshalb  weiterer  Be- 
achtung kaum  wert;  und  darüber  hinaus  giebt  es  nur 
ein  —  Laster  oder  ein  Nichts! 

Nun  aber  drängte  sich  im  sozialen  Leben  eines  der 
hervorragendsten     Kulturvölker,     der     alten     Griechen, 


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—    73    — 

eine  andere  Form  des  Liebestriebs  mit  aller  Macht  an 
die  Oberfläche;  sie  musste  dadurch  aufTallen^  dass  sie  dem 
Bedürfnisse  nach  Erhaltung  und  Vermehrung  in  keiner 
Weise  Rechnung  trug^  demungeachtet  aber  als  eine  leiden- 
schaftliche,  sinnige  oder  sinnliche  Neigung  von  Personen 
des  gleichen  Geschlechtes  zu  einander  sich  kundgab  — 
eine  Form  des  Liebestriebs,  welcher  daher  seitdem  die 
Bezeichnung  ^griechische  Liebe*  verblieben  ist.  Sie 
trat  überall  im  Volke  hervor,  ihr  konnte  kein  Stand  sich 
entziehen,  und  gewaltige  Persönlichkeiten,  wieSokrates 
und  Sappho,  wurden  dermassen  von  ihr  ergriffen,  dass 
sie  von  ihr  sich  vollkommen  beherrscht  fühlten.  In 
Deutschland  beginnt  eine  analoge  Entwickelung  sich  zu 
vollziehen:  die  griechische  Liebe  treibt  hier  aus  schimpf- 
licher Verborgenheit  an  das  helle  Licht  des  Tages  und 
kämpft  mit  allen  erlaubten  Mitteln  für  ihre  gesellschaft- 
liche Berechtigung.  Aber  noch  überträgt,  wer  ihr  fern- 
steht in  Deutschland  und  als  Mann  Plato's  herrliche 
Schriften  geniessen  will,  den  immer  wiederkehrenden 
, Knaben*  oder  , Jüngling"  in  die  ihm  als  Liebesgegen- 
stand allein  verständliche  , Jungfrau*  oder  „Maid".  Die 
von  griechischer  Liebe  Erfüllten  begreifen  wohl  die 
deutsche  Liebe  des  Mannes  zum-  Weibe  und  des  Weibe» 
zum  Manne  und  sie  wissen  deren  möglichen  hohen  ethischen 
Wert  vollauf  zu  würdigen  —  allein  verstanden  werden 
sie  selbst  noch  nicht;  Aufrichtigkeit,  Erziehung  und  Ge- 
wohnheit können  da  vielleicht  Wandel  schaffen,  wenn  man 
mit  M^ry^s  verständnislosem  „plaignons  et  passons"*)  — 
bedauerQ  und  dulden  wir  sie!  —  sich  nicht  zufriedengeben, 
sondern  als  ebenbürtiges  Glied  mit  den  Anderen  der 
Nation,  gemäss  den  persönlichen  Anlagen  und  Fähigkeiten, 
auf   seine  Art^    dem  Ganzen  sich  nützlich  erweisen  will. 


*)  Joseph  M6ry,  Monsieur  Auguste,  Nouvelle  Edition,  Paris, 
1867,  Michel  Uvy  freres,  Seite  93. 


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—    74    — 

Der  griechischen  Liebe  wird  nachgesagt,  dass  sie  bei 
Tieren  nicht  vorkomn^e  und  daher  unnatürlich  sei  und 
dass  sie  nur  als  ein  Ergebnis  von  Ueberkultur  sich  ein- 
zustellen pflege.  Beide  Vorwürfe  sind  unberechtigt. 
Ueber  das  häufige,  unter  Umständen  regelmässige  Vor- 
kommen derselben  im  Tierreiche  brachte  der  2.  Jahrgang 
•dieses  Jahrbuchs  erst  im  vergangenen  Jahre  eine  Zu- 
isammenstelluilg,  welche  leicht  bereichert  werden  könnte, 
und  hier  wird  nunmehr  der  Versuch  unternommen,  eine 
zusammenhängende  Darstellung  der  griechischen  Liebe 
bei  den  Naturvölkern  der  Erde  zu  liefern,  gegenüber 
denen  aller  Verdacht  ausgeschlossen  ist^  dass  Verfeiner- 
ung der  Sitten,  dass  Ueberdruss  am  Normalen,  dass  Ueber- 
kultur in  irgend  einer  Richtung  sie  könne  herbeigeführt 
habeUi  Von  Friedrich  von  Hell wald  liegt  (456)  der 
allgemeine  Ausspruch  vor,  dass  «^unnatürliche  Laster**, 
wie  man  vorzugsweise  die  griechische  Liebe,  wenigstens 
in  einigen  ihrer  Formen,  zu  nennen  beliebt^  nirgends 
häufiger  seien,  als  gerade  unter  wilden  Stämmen. 

Josef  Müller  (Renaissance,  Zeitschrift  f ür  Kultur- 
gefechichte^  Religion  und  Belletristik,  1:  Jahrgang,  Heft 
1 — 4,  Augsburg,  Lampart)  hat  1900  eine  Arbeit:  ^D&s 
«exuelle  Leben  der  Naturvölker*  erscheinen  lassen  (auch 
«eparat,  50  Seiten),  in  welcher  mit  keinem  Worte  der 
griechischen  Liebe  gedacht  wird.  ,  Statt  der  Anhäuf- 
ung massenhaften  Materiales,  unkontrollierbarer  Reise- 
berichte u.  s;  w.**  8ucht6' J.  Müller  »unter  sorgfältiger 
Sichtung  und  Kritik  des  reichen  Sto'ffes  das  Prägnante 
und  Typische  herauszustellen  und  den  gefundenen  That- 
bestand  möglichst  einfach  zu  erklären.*  Allein  die 
.griechische'  Liebe  ist  ein  wesentlicher  Bestandteil  des 
sexuellen  Lebens  der  Naturvölker.  Schon  A.  Er  man 
hat  mit  Nachdruck  betont,  dass  ihr  Vorkonunen  bei  Ur- 
völkern  in  der  Anthropologie  nicht  dürfe  tibersehen 
werden,  sei  es  nun,  dass  man  wegen  derselben  den  Menschen 


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—    75    — 

um  so  eher  mit  den  Affen  verwandt  oder  gerade  um- 
gekehrt Seine  Abstammung  voü  irgend  einem  imver- 
derbten  Tiere  für  unwahrscheinlich  halten  wolle  (Er- 
man  1871,  163^164). 

Obwohl  mit  dcfr  grössten  Sorgfalt  und  ohne  Schonung 
•der  Zeit  angelegt  und  dtu-chgeführt,  erhebt  die  vor- 
liegende Arbeit  dennoch  nicht  den  Anöpröch  auf  Voll- 
ständigkeit und  Musterhaftigkeit.  Schön  d^r  Umfang  der 
grösstenteils  äusserst  schwer  ^  edangendefi,  Vielfach  sehr 
seltenen  oder  überaus  kostspieligen  Liferatiir  Hess  diesen 
Wunsch  geradezu  unausführbar  erscheinen;  auch  bildete 
die  Mannigfaltigkeit  dek'  Sprachen^  in  denen  der  hier  er- 
<)rterte  Gegenstand  Behandlung  gefunden^  ein  fast  un- 
überwindbares,  in  jedem  Falle  aber  zeiti'aubendes  Hinder- 
nis. Für  jede  gerällige  Mitteilung  von  Auslassungen  wird 
-der  V^rfassefr  daher  hei-zlich  dankbar  seinf 

Abgrenzung  der  Begriffe  Päderastie  und 
Tribadie., 

Päderastie  und  Tribadie  sind  hier  im  umfassendsten 
Sinne  genommen:  jedfe  Erregung  geschlechtlicher  Natur 
(Orgasmus),  in  welche  rin  männliches  Wesen  durch 
-ein  anderes  männliches  Wesen  seiner  Art  versetzt 
w^ird,  fäUt  unter  den  Begriff  Päderastie  (eigentlich 
Liebe  zu  Knaben  oder  Jünglingen);  jede  Aufwallung  der 
Oeschlechtsthätigkeit,  in  Welche  ein  weibliches  Wesen 
•durch  ein  ari  deres  weibliches  Weseü  seiner  Art  gerät, 
fällt  unter  den  Begriff  Tribadie.  Es  kommt  dabei  gar 
nicht  in  Betracht,  ob  der  sexuelle  'Reiz  ausgelöst  werde 
oder  nicht  uüd  noch  w^igfer,  in  welcher  Weise  er  etwa 
ausgelöst  werde;  es  spielt' dabei  durchaus  keine  Rolle,  ob 
die  sexuell  erregte  Persoti  des  Glaubens  lebt^  dass  ledig- 
lidi  allgemeine  Schönheit  eines  menschlichen  Wesens 
des  gleichen  Geschlechtes,  dass  Liebenswürdigkeit  oder  eine 


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eigene  Art  von  passiver  Hingebung  seitens  eines  Knaben^ 
eines  Mannes  oder  eines  weiblichen  Individuums  die 
Ursache  der  sexuellen  Erregung  abgebe,  oder  ob  die 
sexuell  erregte  Person  fühlt  und  weiss,  dass  ein  bestimmter 
Körperteil,  der  Geschlechtsteil,  die  Lenden,  die  Augen, 
das  Haar,  oder  ein  dem  geliebten  Körper  entströmender 
Geruch,  oder  die  Stimme,  oder  die  Bewegungen  des  Er- 
regers den  Orgasmus  hervorrufen ;  es  ist  auch  nicht  er- 
forderlich, dass  die  sexuelle  Erregung  durch  ein  Wesen 
des  gleichen  Geschlechts  die  einzig  mögliche  sei;  wer 
noch  anders,  wer  als  Mann  ausser  durch  ein  männliches 
Wesen  auch  noch  durch  ein  weibliches  geschlechtlich  er- 
regt werden  kann,  ist  eben  mehr  als  reiner  Päderast,  und 
wer  als  Weib  ausser  durch  ein  weibliches  Wesen  auch 
noch  durch  ein  männliches  sexuell  gereizt  werden  kann, 
ist  eben  nicht  blos  reine  Tribade.  Innerhalb  der  un- 
endlich mannigfaltigen  Abstufungen  und  Kombinationen 
von  Erregung  geschlechtlicher  Thätigkeit  oder  von  Liebes- 
empfindungen und  Triebeshandlungen ,  zu  denen  der 
päderastische  und  tribadische  Liebestrieb  führen  kann, 
scharfe  Grenzen  ziehen  zu  wollen  und  etwa  nur  die 
Personen  für  Päderasten  oder  Tribaden  anzuerkennen, 
welche  mit  dem  Kusse  auf  die  Lippen  des  geliebten 
Gegenstandes  gleichen  Geschlechts  sich  nicht  begnügen 
können  oder  wollen,  erscheint  ebenso  ungereimt,  wie  es 
dem  Helden  in  Fridolin's  heimlicher  Ehe  von  Adolf 
Wilbrandt  unmöglich  war,  Grenzen  zwischen  weissen 
und  schwarzen  Menschen  in  Hinsicht  ihrer  Färbung  auf- 
zustellen: wer  eine  Lücke  in  der  Reihe  findet,  der  trete 
nur  hinein,  denn  er  hatte  sich  selbst  ausser  Acht  ge- 
lassen; es  giebt  eben  auch  Uebergangsp äderasten 
und  Uebergangstri baden.  Der  geringere  oder  höhere 
Grad  von  Selbstbeherrschung  ändert  doch  an  der  ger 
gebenen  sexuellen  Anlage  nichts;  denn  so  gewiss  der 
ein  Blumenfreund  sein  muss,  welcher  Blumen  pflückt,  um 


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—    77     — 

mit  ihnen  seinen  Wohnraum  zu  schmücken^  so  gewiss  ist 
es  auch  der,  der  ihren  Duft  geniesst,  ohne  es  über  sich 
gewinnen  zu  können^  sie  zu  brechen;  das  Wesentliche 
bei  der  Päderastie  und  Tribadie  ist  der  durch  ein  Wesen 
desselben  Geschlechtes  hervorgerufene  Orgasmus. 

Die  von  mir  für  die  vorliegende  Arbeit  gewählten 
Bezeichnungen  Päderastie  und  Tribadie  haben  nun  aber 
in  der  auf  Naturvölker  bezüglichen  Literatur  fast  gar 
nicht  Anwendung  gefunden.  Ausser  gewissen,  einer  vor- 
urteilslosen wissenschaftlichen  Forschung  unwürdigen  und 
dem  rücksichtslosen  Bekenntnis  der  Thatsachen  hinder- 
lichen Umschreibungen,  wie  ,  Verbrechen  wider  die  Natur*, 
.verabscheuungs würdige,  unnatürliche  Laster*  und  der- 
gleichen mehr,  kehrt  besonders  häufig,  wenigstens  in  den 
französischen  und  italienischen  Werken,  der  Ausdruck 
Sodomie  wieder;  da  er  sowohl  den  Gebrauch  des 
Weibes  durch  den  Mann  an  unrechter  Stelle  (ultra  vas 
debitum)  als  auch  den  Gebrauch  des  Mannes  durch  den 
Mann  beim  coYtus  in  anum  bezeichnet,  so  fällt  er  nicht 
ganz  mit  Päderastie  zusammen;  für  den  Geschlechts- 
verkehr zwischen  Mensch  und  Tier,  der  vielfach  Sodomie 
heisst,  verwenden  dann  jene  Schriftsteller  die  Bezeichnung 
Bestialität.  Der  geistvolle  Montesquieu  behandelt 
die  Päderastie  als  eine  „crime  contre  nature*,  ein  Ver- 
brechen gegen  die  Natur.  Die  spanischen  Geschichts- 
schreiber der  Lidianer  haben  für  den  päderastischen 
Verkehr  den  Ausdruck  .pecado  nefando*  oder  ,,pecado 
abominable'*  oder  „pecado  aborrecible*,  bald  ohne  Zusatz, 
bald  mit  dem  Zusätze  ^contra  natura"  oder  ,de  Sodoma*; 
hier  häufen  sich  in  den  Schriften  G  o  m  a  r  a^s  und  O  v  i  e  d  o's, 
bei  der  Empörung,  in  welche  diese  befangenen  Be- 
obachter der  Naturvölker  sich  hineinschrieben,  die 
„schmückenden*  Beiwörter,  so  in  „abominable  4  sucio 
pecado"  oder  gar  ^diabölico  4  nefando  acto  de  Sodoma" ; 
die  der  Päderastie  Ergebenen  aber  nannten  sie  „sodomitas 


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—     78    ^ 

abominables".    Bei  Peter  Martyr   findet   sich  der  ger 
schmackvolle  Terminus  „odia  intestina*'. 

Es  bedarf  nun  noch  der  Erläuterung  einiger. Aus^- 
drücke,  welche  gleichsam  das  Gerippe  für  die  verschiedenen 
Formen  der  Päderastie,  und  Tribadie  abgeben.  Schwär- 
merische Liebe  des  Päderasten  heisst  nach  dem  Philo- 
sophen-P  lato  platonische  Liebe;  sie  wird  unter  den 
Naturvölkern  von  den  Manghabei  auf  Madagaskar  ange- 
geben; schwärmerische  Liebe  bei  den  Tribaden  wird  nach 
der  Dichterin  Sappho  sapphische  Liebe  genannt;  ihr 
Gegensatz  ist  die  rein  sinnliche  Liebe,  die  auch  lesbische 
Liebe  heisst.  Von  den  geschlechtlichen  Akten  zwischen 
Personen  desselben  Geschlechts  sind  die  wichtigsten: 
1.  die  Auslösung  des  Orgasmus  mit  Hülfe  der  Hsuid 
oder  eines  Instrumentes,  die  Masturbation  oder  Manustu- 
pration,  eine  gegenseitige  Onanie  bei  Päderasten  und 
Tribaden ;  über  sie  wird  von .  den  Mädchen  •  mehrerer 
Negerstämme  Afrikas  berichtet,  sowie  von  den  Tribaden 
Zanzibars  mit  Hülfe  eines  Penis  aus  Ebenholz;  2.  die 
Befriedigung  des  Wollustkitzels  durch  blosses  Reiben 
der  Schamteile  an  den  Schamteilen  oder  sonst  am  Körper 
eines  anderen  Individuums  des  gleichen  Geschlechtes, 
ohne  Eindringen  in  eine  Körperöffnung,  eine  bei 
Päderasten  und  Tribaden  vorkommende  Friktion;  die  so 
Handelnden  heissen  FriktricC'S  oder  Fricatrices;  ge-i- 
scbieht  die  Befiiedigung  beim  Päderasten  zwischen  den 
Schenkeln  des  Geliebten,  so  wird  der  Akt  als  eine  Nach- 
ahmung der  Begattung  (imitatio  coitus)  aufgefasst;  ähn-f 
lieh  bei  den  Tribaden  Kamtschatkas  mit  Hülfe  der 
Clitoris;  S;  das  Aufsuchen  des  Geschlechtsteiles  des  geliebten 
Wesens  gleichen  Geschlechts  mit  den  Lippen  oder  der  Zunge; 
der  das  Glied  des  Partners  in  den  Mund  aufnehmende 
Päderast  heisst  F^llator,  der  sein  Glied  Einführende 
Irrumator,  der  entsprechende  Akt  F.ellation,  be- 
ziehungsweise Irrumation;  diese  Art  der  Befriedigung 


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—    79    — 

wird  unter  den  Naturvölkern  als  der  von  den  Indianerin 
Nordamerikas  bevorzugte  geschildert;  die  Tribade,  welche 
ihren  Orgasmus  durch  Lecken  der  Scham  der  Geliebten 
auszulösen  sucht,  ist  ein  Cunnilingus;  4.  erfolgt 
Eindringen  des  männlichen  Oliedes  in  den  After  eines^ 
anderen  männlichen  Wesens,  so  heisst  der  Akt  Pädi* 
kation,  der  aktive  (handelnde^  einführende)  Teil  ist  der 
Pädikator,  der  passive  (leidende)  Teil  Pathicus  oder 
Cinädus,  der  Putos  der  Spanier;  nach  der  Literatur 
ist  diese  Form  des  päderastischen  Geschlechtsaktes  bei 
den  Arktikem  (Hyperboreern)  die  gewöhnliche;  Pädi- 
kation  heisst  aber  auch  derselbe  Akt,  von  einem  Manne 
beim  Weibe  ausgeführt. 

Da  nun  Päderastie  und  Tribadie  doch  nur  als  Teil- 
erscheinungen eines  besonderen,  auf  das  gleiche  Geschlecht 
gerichteten  Sexualtriebessich  darstellen,  so  ist  es  wünschens- 
wert, eine  Bezeichnung  zu  haben,  welche  beide  zusammen- 
fasst;  und  obwohl  eine  solche  in  dem  Ausdruck  „griech- 
ische Liebe"  bereits  vorhanden  war,  so  hat  doch  der 
hannoverische  Amtsassessor  Karl  Heinrich  Ulrichs 
(Numa  Numantius)  einen  neuen  Terminus  dafür  einge- 
führt, den  ich  in  die  Ueberschrift  der  vorliegenden  Studie 
übernahm.  Li  seiner  ersten  Schrift  über  mannmänn- 
liche Liebe  „Vindex*,  sozial-juristische  Studien,  Leipzig, 
Matthes,  1864  (neue  Aufl.  1898  bei  Spohr),  nennt  Ulrichs 
Seite  1  den  mannliebenden  Mann  Urning,  den  weib-^ 
liebenden  Dioning  und  spricht  von  urnischer  und 
dionischer  Liebe;  diese  seine  Bezeichnungen  ent- 
standen durch  Umwandlung  der  griechischen  Göttemamen 
Uranus  und  Dione,  da  eine  poetische  Fiction  des- 
Philosophen  Plato  in  dessen  Gastmahl,  Kapitel  8  und  9, 
den  Ursprung  der  mannmännliehen  Liebe  vom  Gotte 
Uranus  allein,  ohne  Mitwirkung  eines  Weibes  ableitete^ 
den  weibliebenden  Mann  dagegen  auf  dem  übliehen  Wege 
von  der  Göttin  Dione  entstehen  liess  (Ulrichs  ,Vindex*'- 


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—    80    — 

Seite  2).  Für  die  Liebe  der  Urninge  und  der  Tribaden 
■oder  Uminginnen  bediente  sich  dann  später  Ulrichs  in 
seiner  dritten  Schrift  über  mannmännliche  Liebe, 
,  Vindicta",  Kampf  für  Freiheit  von  Verfolgung,  Leipzig, 
Matthes,  1865  (1898  bei  Spohr),  Seite  20,  des  zusammen- 
fassenden Terminus  Uranismus.  Für  Uranismus  ist 
jetzt  das  sprachwidrige  Wort  Homosexualität  (Liebe 
zum  gleichen  Geschlechte)  im  Gegensatze  zu  Hetero- 
sexualität  (Liebe  zum  anderen  Geschlechte)  sehr  in 
Mode  gekommen.  Die  Päderasten  von  heute  reden  von 
Urningtum,  und  da  sie  den  Worten  Urning  und  Urningin 
^s  unschön  klingend,  abhold  sind,  so  haben  sie  selbe  in 
Uranier  imd  Urninde  umgewandelt.  Unter  seinen 
Urningen  unterschied  Ulrichs  scharf  solche,  die  Männer 
in  den  besten  Lebensjaliren  lieben  und  oft  ein  mehr 
weibisches  als  männliches  Wesen  zeigen,  die  er  Weib- 
linge  nannte,  und  solche,  welche  an  jungen  Männern, 
an  Knaben  im  Pubertätsalter  und  an  Jünglingen  Gefallen 
finden  und  meist  mehr  männlich  erscheinen  mit  nur  dem 
Kennerauge  bemerkbaren  weiblichen  Zügen,  die  er  Man  n- 
linge  nannte,  so  dass  das  Urningtum  aus  einem  Weib- 
lingtum  und  einem  Mannlingtum  sich  zusammensetzt. 

Das  Studium  des  Uranismus  bei  den  Naturvölkern 
«rgiebt  eine  sehr  merkwürdige  Erscheinung,  welche  die 
Naturvölker  in  einen  gewissen  Gegensatz  zu  den  Kultur- 
völkern bringt  Bei  dem  Kulturvolke  der  alten  Griechen 
nicht  nur,  sondern  anscheinend  auch  bei  allen  heutigen 
Kulturvölkern,  herrscht  unter  den  Päderasten  das 
Mannlingtum  in  einer  so  auffallenden  Weise  vor, 
<lass  man  die  Sittlichkeit  der  männlichen  Jugend  durch 
sie  bedroht  glaubt  und  durch  Gesetze  sie  zu  schützen 
«ucht;  bei  den  allen  Griechen  ward  die  mannmännliche 
Liebe  ebendaher  auch  als  Päderastie,  d.  h.  als  Liebe  zu 
den  Knaben  oder  Jünglingen,  aus  der  Taufe  gehoben. 
-Ganz   im   Gegenteil   tritt   bei   den  Naturvölkern   der 


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—    81    — 

Mannling   vollständig  in  den  Hintergrund   und  auf  der 
Bildfläche  erscheint  ein  ausgesprochenes  Weiblingtum, 
welches  sich  nicht  darauf  beschränkt,  von  Männern  auf- 
gesucht zu  werden,  sondern  selbst  Männer  aufsucht  und 
sich  gern  in  die  Tracht  des  Weibes  kleidet,  um,  womög- 
lich,   die  Verbindung   mit   dem   geliebten  Manne  durch 
eine  Heirat  gesetzlich  zu  krönen.    Fast  jede  ihrer  Sprachen 
hat  für  die  Weiblinge,  Pathici  oder  Cinäden,  der  zuge- 
hörigen Yölkerstämme   ein  besonderes,   oft  überaus  be- 
zeichnendes Wort    Ich  möchte  nicht  unterlassen,  alle  mir 
bekannt  gewordenen  hier  alphabetisch  geordnet  zusammen- 
zustellen,   obwohl    der    Leser    ihnen    allen    im    Kapitel 
„Päderastie  bei  den  Naturvölkern'^  noch  einmal  begegnen 
wird.    Die  Weiblinge  heissen: 
Achnutschik  bei  den  Konjagen,  nach  Holmberg; 
Agokwas  bei  den  Tschippewäem,  nach  Tanner; 
Bar  daches  bei  den  Canadiern,  nach  Prinz  Max.  zu  Wied; 
Bote  bei  den  Crow-Indianem,  nach  Holder; 
Burdash  in  der  Tulalip-Sprache,  nach  Holder; 
Gamayoa  in  der  Cueva-Sprache,  nach  Oviedo; 
Cudinas  bei  den  Guaicurus,  nach  v.  Martins; 
Gusmos  bei  den  Laches,  nach  Piedrahita: 
Hanisi  bei  den  Negern  Zanzibar's,  nach  Baumann; 
Joyas  bei  den  Califomiem,  nach  Duflot  de  Mofras; 
K^elgi  bei  den  Korjaken,  nach  Erman; 
K  oiach  oder  Koiachtschit  seh  bei  denKamtschadalen, 

nach  Steller;  Koj  ektschutschi  nach  Erman; 
Kotoruie    (russisch)   bei     den    Kamtschadalen,     nach 

Krascheninikow; 
M  ari  cones  bei  Indianern  der  Anden  Perus,  nachPöppig; 
Mahhus  (Mahoos)  auf  Tahiti,  nach  Turnbull; 
Mihdäckä  bei  den  Mandan,  nach  Prinz  Max.  zu  Wied 
Mke-simume bei denNegem Zanzibar's,  nachBaumann 
Mujerado  bei  den  Pueblo-Indianem,  nach  Hammond 
Mzebe  bei   den  Negern  Zanzibar's,  nach  Bau  mann; 

Jahrbuch  UI  .  6 


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—    82    — 

Sarimbavy  bei  den  HovaMadagaskar's^  nach  Lasnet; 
Schoopan  (russisch)  beiden  Konjagen,  nachLisiansky» 
S  e  c a tr  a  bei  den  Sakalaven  Madagaskar's^  nach  Lasn  e t; 
Secatses  bei  den  Betanimenen^  nach  Lacombe; 
Tsecats  beidenManghabei  Madagaskar's^  nach  Flacourt. 


Abgrenzung  des  Begriffes  Naturvölker. 

Die  Naturvölker  werden  hier  ungefähr  in  demselben 
Umfange  gefasst^  welchen  ihnen  Waitz  in  seiner  Anthro- 
pologie derselben  gegeben  hat;  nur  die  Abyssinier  und 
die  Nubier  bleiben  ausser  Behandlung. 

Die  Begriffe  Naturvölker  und  Kulturvölker 
sind  so  alt  wie  die  Ethnologie.  Sie  haben  mannigfache 
Wandlungen  durchgemacht.  Denn  während  z.  B.  im 
18.  Jahrhunderte  der  Zustand  der  Naturvölker  noch  mit 
dem  Zustande  der  Urzeit  des  Menschengeschlechtes  von 
den  Ethnographen  identifiziert  wurde,  Hessen  die  Ethno- 
logen des  19.  Jahrhunderts  diese  Auffassung  als  irrig 
und  irreführend  gänzlich  fallen.  Naturvölker  sind  nun 
nicht  mehr  auf  der  Stufe  der  Urzeit  stehen  gebliebene 
Völkerschaften,  sondern  Völkerstämme,  welche  sich  in 
so  vollständiger  Harmonie  mit  ihrer  Umgebung  befinden^ 
dass  ein  Gefühl  sorglosen  Frohsinnes  und  ruhiger  Zu- 
friedenheit, eine  freiwillige  Beschränkung  auf  das  Vor- 
handene oder  ohne  grosse  Mühe  Erreichbare,  eine  Enge 
des  geistigen  Umkreises  sie  an  weiterem  Fortschritt  ver- 
hindert Naturvölker  brauchen  daher  nicht  weit  ab  von 
aller  Kultur  zu  leben  oder  den  Einflüssen  bestimmter 
Klimate  ausgesetzt  zu  sein,  um  Naturvölker  zu  bleiben; 
sie  können  vielmehr  neben,  selbst  mitten  unter  Kultur- 
völkern wohnen,  ohne  dass  eine  Kulturübertragung  ein- 
tritt Zwar  ist  nicht  erforderlich  für  ein  Naturvolk  das 
völlige  Fehlen  jedweder  Empfänglichkeit  für  Kultur  über- 
haupt;  sie  können  sogar  weniger  oder  mehr  zu  ihr  hin- 


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—    83    — 

neigen;  indessen  bleibt  die  charakteristische  Erscheinung 
bestehen^  dass  sie  selbst  durch  die  engste  Berührung  mit 
Kulturvölkern  kaum  bemerkbar  gefördert  werden,  also 
Naturvölker  bleiben  und  als  solche,  neuen  Einflüssen  er- 
liegend, entweder  aussterben  oder  aber  in  einem  Kultur- 
volke völlig  aufgehen  imd  so  ihre  Selbständigkeit  ver- 
lieren. Das  Wesentliche  der  Naturvölker  liegt  daher  im 
Stillstand,  das  der  Kulturvölker  in  der  unaufhaltsam  fort- 
schreitenden Entwickelung;  in  der  Beharrung  findet  das 
Naturvolk  sein  Lebensglück,  im  Fortschritt  nach  allen 
Richtungen  das  Kulturvolk;  Hauptbedürfnis  ist  den 
Naturvölkern  die  ßuhe,  den  Kulturvölkern  die  Arbeit 
Die  beachtenswerte  Thatsache,  dass  innerhalb  der  Kultur- 
völker ein  individueller  Gegensatz  zwischen  Fortschritt 
und  Selbstbeschränkung  überall  sich  wiederfindet,  spricht 
dann  viel  weniger  gegen  einen  fundamentalen  Unter- 
schied zwischen  Naturvölkern  und  Kulturvölkern,  als  für 
die  von  allen  Ethnologen  der  Gegenwart  vorausgesetzte 
Einheit  des  Menschengeschlechtes. 

Innerhalb  des  Begriffes  Naturvölker  ist  unlängst  ein 
neuer  Unterbegriff  aufgetaucht,  der  Begriff  der  H  ord  en- 
völker;  als  Horden  Völker  gelten  zur  Zeit  in  Afrika  die 
Buschmänner,  die  Batua,  die  Ewd  (Akkä),  die  Akkoa 
(Abongo)  und  die  Bojaeli,  auf  Ceylon  die  Wedda;  alle 
diese  Hordenvölker  kennzeichnen  sich  als  Zwergvölker 
(BernhardBruhns,  Definition  des  Horden  Völkerbegriffs 
auf  Grund  einiger  gegebener  typischer  Formen,  Inaugural- 
Dissertation,  Leipzig,  Naumann,  1898).  Ueber  Päderastie 
und  Tribadie  bei  den  Hordenvölkem  ist  mir  nichts  be- 
kannt geworden. 

Wer  den  Wunsch  hegt,  sich  über  die  hier  in  Rede 
stehende  schwierige  Materie  weiter  zu  unterrichten,  findet 
Ausführliches  in  den  nachfolgend  angeführten  Schrift- 
werken: 

Th.  Waitz,  Anthropologie  der  Naturvölker.    1.  TeiL 

6* 

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—    84     — 

Ueber  die  Einheit  des  Menschengeschlechtes  und  den 
Naturzustand  des  Menschen.  Leipzig,  Fleischer,  1859. 
2.  Auflage  von  G.  Gerland,  1877. 

Th.  Achel  is,  Moderne  Völkerkunde,  deren  Ent- 
wicklung und  Aufgabe.  Nach  dem  heutigen  Stande  der 
Wissenschaft  gemeinverständlich  dargestellt.  Stuttgart, 
Enke,  1896  (Seite  316—330). 

A.  Vierkandt,  Naturvölker  und  Kulturvölker. 
Leipzig,  Duncker  &  Humblot,  1896. 

H ei nr.  Sc  hurt z,  Urgeschichte  der  Kultur,  Leipzig, 
Bibliographisches  Institut,  1900  (Seite  63—77). 

Die  für  Päderastie  imd  Tribadie  in  Betracht 
kommenden  Naturvölker  sind: 

1.  Die  negerartigen  Naturvölker:  die  Austra- 
lier, die  Melanesier,  die  Neger  Afrika's  und  Madagaskar's; 

IL  die  malayischen  Naturvölker:  die  Malayen 
tiuf  den  ostindischen  Inseln  Sumatra,  Java,  Capul,  die 
Malayen  auf  Madagaskar  und  die  Polynesier; 

in.  die  amerikanischen  Naturvölker  mit 
Ausschluss  der  Eskimo:  die  Indianer,  und  endlich 

IV.  die  Arktiker  oder  Hyperboreer:  die  Es- 
kimo, zumeist  in  Nordamerika  (Grönländer,  Konjagen)  und 
die  mongolenartigen  Berings Völker'  des  nordöstlichen 
Asiens  (Tuski,  Benntier-Tschuktschen,  Korjaken,  Itelmen 
und  Aleuten). 

Während  hinsichtlich  der  Päderastie  bei  den  Natur- 
völkern ein  Material  in  der  Literatur  vorliegt,  so  umfang- 
reich, dass  es  in  den  mir  zugewiesenen  Bahmen  sich  kaum 
einzwängen  lässt,  stellt  sich  das  Quellenmaterial  bezüglich 
der  Tribadie  als  äusserst  dürftig  heraus.  Ich  schicke 
deshalb  das  kurze  Kapitel  Tribadie  dem  längeren  Kapitel 
Päderastie  voraus. 

Was  aber  meine  Darstellungsweise  anbetriflft,  so  habe 
ich  vielfach  die  Schriftsteller,  welche  mir  als  Quelle 
dienten,  ganz  oder  fast  wörtlich  übernommen,  da  ich  es 


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—    85    — 

nicht  als  ein  Verdienst  anerkenne^  deutlich  und  charak* 
teristisch  Ausgedrücktes  blos  deshalb  mit  anderen  Worten 
zu  geben,  um  den  £indruck  zu  verwischen,  dass  man  den 
Spuren  Anderer  gefolgt  ist.  Ueberall  ist  die  Quelle  ge* 
nau  bezeichnet;  eine  einfache  arabische  Zahl  bedeutet 
die  Seite,  nur  wenn  sie  vierstellig  ist,  das  Erscheinungs- 
jahr; eine  römische  Zahl  den  Band;  d  ist  decas  (Decade), 
1  ist  liber  (Buch),  c  ist  Capitel,  n  ist  Notiz. 

Tribadie  bei  den  Naturvölkern. 
I.  Die  negerartigen  Naturvölker. 

Dass  lesbische  Liebe  bei  den  Negern  zu  Hause  sei, 
hat  schon  Bastian  (III  310;  Schnitze  1900,  163)  be- 
merkt; jedoch  sind  seine  Angaben  ohne  Quellennachweis 
und  viel  zu  allgemeiner  Natur. 

Unter  den  dunkelfarbigen  B  an  tu  ne  gern  kommt 
bei  den  südwestlichen  Ovaherero  (Damara)  eine  Art  Ver- 
bindung zwischen  Personen  desselben  Geschlechtes  vor, 
welche  Oupanga  oder  Omapanga  heisst;  wenn  Männer 
in  einem  derartigen  Verhältnisse  stehen,  so  besitzen  sie 
ihre  Frauen  gemeinsam,  sind  aber  Personen  weiblichen 
Geschlechtes  omapanga,  so  bedeutet  dieses,  dass  sie  mit 
einander  geschlechtlichen  Verkehr  pflegen,  was  mit  Wissen 
und  Willen  ihrer  Eltern  geschehen  kann(Frit8ch  227). 

Konträrsexual  angelegte  Weiber  sind  nach  Bau- 
mann bei  den  Negervölkern  Zanzibar^s  nicht  selten.  Die 
orientalische  Sitte  macht  es  ihnen  zwar  unmöglich, 
Männerkleidung  öffentlich  zu  tragen,  doch  thun  sie  solches 
in  häuslicher  Zurilckgezogenheit.  Andere  Weiber  ihrer 
Geschlechtsnatur  erkennen  sie  an  deren  männlicher  Hal- 
tung, sowie  daran,  dass  ihnen  ihre  weibliche  Kleidung 
nicht  steht  (kawapendezwi  na  ngno  zä  kike).  Sie  zeigen 
Vorliebe  für  männliche  Verrichtungen.  Geschlechtliche 
Befriedigung  suchen  sie  bei  anderen  Weibern,  teils  kon- 


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—    86    — 

trär  angelegten,  teils  normalen  Weibern,  die  sich 
aus  Zwang  oder  Gewinnsucht  dazu  hergeben.  Die  aus- 
geführten Akte  sind:  einander  lecken  (kulambana),  die 
Geschlechtsteile  an  einander  reiben  (kusagana),  und  sich 
den  Ebenholz-Penis  beibringen  (kujitia  mbo  ya  mpingo); 
die  letztgenannte  Art  des  Genusses  ist  insofern  bemerkens- 
wert, als  dazu  ein  besonderes  Gerät  erfordert  wird;  es 
ist  dieses  ein  Stab  aus  Ebenholz  in  der  Form  eines 
männlichen  Gliedes  von  ansehnlicher  Grösse;  derselbe 
wird  von  schwarzen  und  indischen  Handwerkern  zu  dem 
bezeichneten  Zwecke  hergestellt  und  insgeheim  verkauft; 
er  soll  bisweilen  aus  Elfenbein  gefertigt  werden.  Es 
kommen  zwei  Formen  des  Stabes  vor :  die  eine,  einfache 
Form  hat  am  stumpfen  Ende  eine  ringförmige  Kerbe, 
um  welche  eine  Schnur  geschlungen  wird,  die  das  eine 
der  Weiber  sich  um  den  Leib  bindet,  um  an  dem  anderen 
den  männlichen  Akt  nachzuahmen;  dieser  Stab  ist  meist 
durchbohrt,  und  es  wird  dann  zur  Nachahmung  der  Eja- 
kulation warmes  Wasser  eingefüllt;  bei  der  anderen  Form, 
einem  Doppelpenis,  ist  der  Stab  an  beiden  Enden  eichei- 
förmig zugeschnitzt,  so  dass  er  von  den  beiden  beteiligten 
Weibern  zugleich  in  die  Scheide  eingeführt  werden  kann, 
zu  welchem  Behufe  dieselben  eine  sitzende  Stellung  ein- 
nehmen; auch  dieser  Stab  ist  durchbohrt.  Vor  dem 
Gebrauche  werden  die  Ebenholzstäbe  eingeölt.  Die  be- 
schriebenen Geräte  werden  ausser  von  Konträrsexualen 
auch  von  normalen  Weibern  in  den  Harems  der  Araber 
angewendet,  in  denen  die  Frauen  bei  strenger  Abschliess- 
img  genügende  geschlechtliche  Befriedigung  nicht  finden, 
und  gelten  als  eine  arabische  Erfindung.  Nach  den 
arabischen  Gesetzen  wird  Tribadie  bestraft,  ebenso  machen, 
sich  auch  die  Handwerker,  welche  den  Ebenholzstab  liefern, 
strafbar;  dieser  kann  daher  nur  schwer  und  mit  ziemlichen 
Unkosten  erworben  werden  (Baum  an n  669 — 671,  mit 
zwei  Figuren  der  Ebenholzstäbe). 


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Unter  den  bellfarbigen  NegervölkemSüdafrika's  findet 
fiich  bei  den  Hottentotten  (Koi-koin)  die  Mastur- 
bation der  weiblichen  Jugend  als  eine  so  häufige  Art  der 
geschlechtlichen  Befriedigung,  dass  man  versucht  sein 
könnte,  sie  als  Landessitte  hinzustellen;  Fritsch  (283) 
hält  es  nicht  für  ausgeschlossen,  dass  die  regelmässige 
Verlängerung  der  Schamlippen  (sogenannte  Hottentotten- 
schürze) und  auch  die  Verlängerung  der  Clitoris  bei  der 
Hottentottin  gar  nichts  Absonderliches  darstelle,  sondern 
recht  wohl  wesentlich  nur  eine  Hypertrophie  in  Folge 
der  ausserordentlich  häufigen  Masturbation  sein  könne. 
Aus  dieser  wird  auch  nicht  ein  Geheimnis  gemacht,  viel- 
mehr von  ihr  wie  von  der  alltäglichsten  Sache  in  den 
Erzählungen  und  Sagen  gehandelt;  so  erzählt  man,  einem 
Mädchen  sei  dabei  das  Herz  abgestossen  worden;  in 
einem  anderen  Falle  soll  ein  Mädchen  von  den  auf  ihm 
hockenden  Gespielinnen  erdrückt  worden  sein ;  aber  diese 
Vorgänge  werden  durchaus  nicht  ihrer  Wunderbarkeit 
halber  erzählt,  sondern  sie  dienen  nur  als  Anknüpfungs- 
punkte und  Ausgangspunkte  für  nachfolgende  Gespenster- 
geschichten (Fritsch  351).  Auf  meine  Anfrage,  ob  in 
solchen  Fällen  Masturbation  zu  zweien,  also  Tribadie  ge- 
meint sei,  hatte  Herr  Geheimrat  Professor  Dr.  Gustav 
Fritsch  die  Freundlichkeit,  mir  zu  erwidern  und  die 
Veröffentlichung  seiner  Erwiderung  mir  zu  gestatten: 
,Wenn  Mädchen  mit  einander  ,omapanga*  sind,  so  treiben 
sie  Unzucht  mit  einander.  Dabei  handelt  es  sich  also 
sicher  um  mindestens  zwei  Individuen ;  die  Art  der  Un- 
zucht ist  wohl  wechselnd,  doch  scheint  lesbische  Liebe 
jedenfalls  weniger  verbreitet  als  gegenseitige  Masturbation, 
sei  es  manuell,  sei  es  mittelst  eines  passenden  oder  un- 
passenden Fremdkörpers.  Auf  einen  Fall  letzterer  Art 
bezieht  sich  die  Stelle,  wo  die  eine  Gespielin  der  andern, 
indem  sie  auf  ihr  hockte,  das  Herz  abgestossen  habe. 
Dabei  handelt  es  sich  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  um 


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—    88    — 

ein  Durchstossen  des  Scheidengewölbes  und  Eröffiiung 
der  Peritonealhöhle  mittelst  eines  harten  Gegenstandes, 
loh  erinnere  mich  aus  meiner  Studienzeit  eines  von 
Langenbeck  erwähnten  Falles^  wo  ein  Mädchen  sich  selbst 
mittelst  eines  Bleistiftes  masturbierte,  beim  unerwarteten 
Erscheinen  der  Lehrerin  sich  niedersetzend^  den  Bleistift 
durch  das  Scheidengewölbe  in  die  Blase  stiess  und  daran 
zu  Grunde  ging/ 

IL  Die  malaylschen  Naturvölker. 
Auf  Tahiti  gab  es  nach  Bastian  unzüchtige  Tänze 
der  Mädchen  (Timoradi-Tänze),  an  denen  Weiber  nach 
ihrer  Verheiratung  nicht  mehr  teilnehmen  durften  (Bas- 
tian m  307);  um  welche  Art  Unzucht  es  hier  sich  han- 
delt, wird  nicht  bezeichnet,  auch  eine  Quelle  nicht  angegeben. 

m.  Die  amerikanischen  Naturvölker  oder  Indianer. 
Die  Indianer  Nordamerikas.  Im  Handbuche 
der  Geographie  und  Statistik  für  die  gebildeten  Stände^ 
begründet  durch  C.  G.  D.  Stein  und  Ferd.  Hörschel- 
mann,  neu  bearbeitet  von  J.  E.  Wappäus,  7.  Auflage, 
1.  Bandes  2.  Abt.  Nord- Amerika,  Leipzig,  Hinriehs  1855^ 
wird  Seite  353  ausgeführt,  der  Hauptgrund  des  raschen 
Aussterbens  der  Urbewohner  von  Neu-Caledonia  scheine, 
wenigstens  bei  vielen  Stimmen,  in  einer  tiefen  sittlichen 
und  physischen  Gesunkenheit  der  Race  gesucht  werden 
zu  müssen;  nicht  am  wenigsten  hätten  zu  dieser  Ge^ 
sunkenheit  wohl  die  , beispiellosen  Ausschweifungen*  bei- 
getragen, denen  das  weibliche  Geschlecht  schon  in  den 
Kinderjahren  sich  hingebe  und  welche  unmöglich  so  all- 
gemein sein  könnten,  wenn  sie  erst  durch  den  Verkehr 
mit  den  Weissen  wären  veranlasst  worden.  Eine  Quelle 
für  diese  Notiz  aufzufinden,  habe  ich  mich  vergeblich  be- 
müht: und  da  ich  nicht  zu  erraten  vermag,  ob  es  sich 
bei   diesen  beispiellosen  Ausschweifungen,   denen  bereits 


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—    89    — 

die  Kindheit  sich  hingiebt,  um  Masturbation  oder  Tribadie 
oder  um  beides  handelt,  so  habeich  das  oben  zitierte  Werk 
in  die  Literatur  am  Ende  dieser  Arbeit  auch  nicht  auf* 
genommen. 

Die  Indianer  Süd- Amerikas.  Unter  den  bra- 
silianischen Tupistämmen  leben  Indianerinnen^  weflche  das 
Keuschheitsgelübde  ablegen;  sie  wollen  sich  mit  einem 
Manne  nicht  einlassen  und  würden  auch  selbst  dann  sich 
einem  Manne  zu  ergeben  nicht  einwilligen,  wenn  man  sie 
tötete ;  diese  Personen  widmen  sich  niemals  einer  ihreni 
Geschlechte  zustehenden  Beschäftigung;  sie  ahmen  in 
Allem  den  Männern  nach^  als  wenn  sie  aufgehört  hätten^ 
Weiber  zu  sein;  sie  tragen  ihr  Haar  wie  bei  Männern 
geschnitten;  in  den  Krieg  ziehen  sie  mit  einem  Bogen 
und  Pfeilen;  sie  gehen  mit  den  Männern  auch  auf  die 
Jagd.  Jede  von  ihnen  hat  zu  ihrer  Bedienung  eine  In- 
dianerin und  sie  sagt  aus,  dass  sie  mit  dieser  verheiratet 
sei;  beide  leben  zusammen  wie  Ehegatten  (Gandavo 
116-117;  Bastian  III  310;  Schnitze  1900,  163). 

IV.  Die  Arktiker  oder  Hyperboreer. 

Tribadie  wurde  für  die  mongolenartigen  isolierten 
Naturvölker  des  nordöstlichen  Asiens  (Beringsvölker)  fest- 
gestellt. ^Auf  Kamtschatka  treiben  auch  Weiber  mit 
Weibern  Unzucht,  vermittelst  der  Clitoris,  welche  sie  am 
Bolschaia  Reka  Netschitsch  nennen:  vordem  haben  die 
Weiber  sehr  stark  Unzucht  mit  Himden  getrieben* 
(Steller  289a;  Klemm  II  207;  Wuttke  I  184). 


Päderastie  bei  den  Naturvölkern. 

I,  Die  negerartigen  Naturviflker. 

1.  Die  Australier. 

Wenn  die  Knaben  des  Wiraijuri-Stammes  auf  Neu- 

Süd-Wales  mannbar  werden,  so  wird  ein  Fest  ihrer  Ein- 


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—    90    — 

weihung  gefeiert.  Die  Sittenlehre,  welche  bei  dieser  Ge- 
legenheit ihnen  beigebracht  wird,  erscheint  auf  den  ersten 
Blick  im  höchsten  Grade  unsittlich  und  lässt  sich  nicht 
leicht  wiedergeben.  In  pantomimischen  Tänzen  werden 
ihnen  verschiedene  Verletzungen  gegen  Eigentum  und 
Keuschheit  vorgeführt,  aber  indem  die  das  Fest  leitenden 
Greise  und  die  bestellten  Wächter  der  Knaben  diese  Dar- 
stellungen liefern,  teilen  sie  den  Jünglingen  mit,  was  die 
Folgen  wären,  wenn  sie  nach  dem  Verlassen  des  Ein- 
weihungslagers die  dargestellten  Verletzungen  begehen 
würden.  So  sagt  z.  B.  ein  Greis:  „wenn  ihr  von  hier 
nun  fortgeht  und  etwas  dem  Älmliches  thut,  was  ihr  hier 
sehet,  so  sollt  ihr  sterben",  d.  h.  entweder  durch  magische 
oder  durch  unmittelbare  Gewalt.  Dasjenige  nun,  was 
auf  diese  Art  verboten  wird,  ist  dadurch  genügend  ge- 
kennzeichnet, dass  unter  Anderem  darunter  sich  befinden : 
der  Mangel  an  Achtung  vor  den  Greisen,  die  Notzucht, 
die  Päderastie,  die  Selbstbefleckung;  den  Jünglingen  aber 
wird  es  bei  Todesstrafe  untersagt,  etwas  von  dem  zu  er- 
zählen, was  sie  bei  dieser  Einweihungsfeierlichkeit  zu 
hören  und  zu  sehen  bekommen  (Howitt  450;  454;. 

2.  Die  Melanesier. 
Nach  Waitz  (VI  631)  und  Müller  (310)  sollen 
„unnatürliche  Laster"  weder  auf  den  Fidschiinseln  noch 
überhaupt  in  Melanesien  und  Australien  bekannt  sein; 
indessen  hat  Foley  vor  etwa  20  Jahren  sehr  eingehende 
Mitteilungen  über  die  Lebensgewohnheiten  der  Neu-Cale- 
donier  veröffentlicht,  aus  denen  hervorgeht,  dass  Päderastie 
bei  ihnen  Volkssitte  ist  Nach  Foley  giebt  es  auf  Neu- 
Caledonien  Dörfer  verschiedener  Art.  Reiche  und  be- 
festigte, wie  Poepo,  liegen  auf  einem  vollständig  ge- 
schützten Platze.  Auf  dem  Wege  von  Poepo  nach  Bailad 
dagegen  triflfl  man  andere,  ärmere  und  unbefestigte,  weit- 
hin   sichtbare  Dörfer   in   weniger   günstiger    Lage.     Die 


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—    91    — 

Hütten  der  EingeboreDen  in  diesen  zweierlei  Dörfern 
Bind  ebenfalls  verschieden.  In  den  befestigten  Dörfern 
hat  man  zwei  Arten  von  Hütten:  grosse  und  höhere  aus- 
schliesslich zum  Gebrauche  der  Männer^  und  kleine,  nied- 
rigere nur  für  die  Weiber  mit  ihren  Eandem  bestimmt. 
Alle  Hütten  einer  Art  bilden  eine  für  sich  abgeschlossene 
Gruppe.  Die  Hütten  der  Männer  liegen  einander  gegen- 
über und  grenzen  so  nahe  aneinander,  dass  ein  Labyrinth 
von  Gängen  gebildet  wird,  durch  welche  ein  Ortsun- 
kundiger sich  gar  nicht  hindurch  findet;  alle  Männer- 
hütten sind  reich-,  aber  so  gleichartig  verziert,  dass  sie 
fiich  nicht  von  einander  unterscheiden  lassen;  die  Gruppe 
der  Männerhütten  wird  ganz  von  Pfahlwerk  eingeschlossen. 
Die  Hütten  der  Weiber  sind  einfach  verziert  und  liegen 
ausserhalb  der  Befestigung.  In  den  ärmeren  Dörfern 
bewohnen  zwar  beide  Geschlechter  eine  und  dieselbe 
Hütte,  welche  vollständig  unter  Bäumen  verborgen  liegt 
und  daher  schwer  zu  finden  ist;  aber  die  Männer  schlafen 
auf  der  einen,  die  Frauen  mit  den  Kindern  auf  der  anderen 
Seite  der  Hütte.  Ausser  den  sesshaften  Dorfbewohnern 
birgt  die  Insel  noch  umherziehende  Nomadenstämme,  die 
weder  Dörfer  anlegen  noch  überhaupt  feste  Hütten  be- 
sitzen; diese  Stämme  werden  in  den  DörferUj  deren  Nähe 
sie  aufsuchen,  um  zu  lagern,  nicht  geduldet;  sie  reissen 
dürres  Kraut  aus  der  Erde,  fügen  es  zu  einem  Haufen 
und  zünden  es  an;  halten  sie  den  Boden  durch  die  Glut 
des  Feuers  für  genügend  erwärmt,  so  löschen  sie  das 
Feuer  und  strecken  sich  in  der  Asche  zum  Schlafe  aus; 
auch  bei  diesen  Nomaden  aber  schlafen  die  Männer  von 
den  Frauen  getrennt.  Ausser  der  Sitte  der  nächt- 
lichen Geschlechtertrennung  haben  alle  Stämme  Neu- 
Caledonien's  noch  die  Sitte  gemeinsam,  dass  sie  ihren  Ge- 
schlechtstrieb niemals  in  der  Hütte,  sondern  nur  im  Ge- 
hölz befriedigen  und  dass  der  Begattungsakt  in  der  Stellung 
der  Hunde   vollzogen   wird.     Diese   Naturvölker   bilden 


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—    92    — 

zwar  Familien  verbände,  in  denen  die  Eltern  ihre  leib- 
lichen Kinder,  die  Kinder  ihre  Eltern  und  auch  die  Ge- 
schwister einander  als  solche  kennen;  aber  es  fehlt  ihnen 
der  häusliche  Herd  und  das  gemeinsame  Gattenlager;  die 
Einwohner  eines  Dorfes  speisen  gemeinsam  und  die  beiden 
Geschlechter  schlafen  getrennt.  Die  Männer  stehen  unter- 
einander in  einer  mit  Päderastie  eng  verflochtenen,  viel- 
leicht auf  ihr  beruhenden  Waffenbrüderschaft.  Die  vielen 
Frauen,  welche  zur  Zeugung  dienen,  sind  nur  Sklaven 
und  Lasttiere  der  Männer  und  werden  von  diesen  nach 
Laime  Verstössen;  neben  ihnen  giebt  es  in  geringerer  An- 
zahl alte  Weiber  und  in  jedem  Dorfe  einige  Buhlerinnen? 
die  alten  Weiber  wissen  als  Zauberinnen  sich  Achtung 
zu  verschaffen  und  fertigen  die  wenigen  Gerätschaften^ 
deren  man  bedarf,  an;  die  Buhlerinnen  aber  sind  die  ge- 
borenen Feinde  der  Päderastie;  sie  suchen  durch  Putz 
und  herausfordernde  Geberden,  in  denen  sie  es  zu  einer 
grossen  Kunst  bringen,  die  Männer,  und  zwar  vornehm- 
lich die  Oberhäupter,  für  sich  zu  gewinnen  (Foley 
604—606;  678;  Ellis-Symonds  5). 

3.  Die  Neger. 

Unter  Negern  sind  hier  nur  die  dunkelfarbigen,  woll- 
haarigen Eingeborenen  Afrikas  verstanden,  alle  hellfarb- 
igen Südafrikaner  und  alle  helleren,  locken-  und  straff- 
haarigen Ost-  und  Nordafrikaner  aber  davon  ausge- 
schlossen; von  den  Bewohnern  der  grossen  Insel  Mada- 
gaskar gehören  die  Sakalaven  den  Negern  zu. 

Nach  Ratzel  (II 14 — 15)  sollen  „unnatürliche  Laster* 
angeblich  erst  durch  Fremde  bei  den  Negern  verbreitet 
worden  sein.  Dieser  Auffassung  würde  aber  ein  allge- 
meiner Ausspruch  von  G.  F ritsch  schroff  gegenüber- 
stehen, welcher  lautet:  ^Jedenfalls  bedarf  es  keiner  grossen 
Einsicht,  um  zu   erkennen,  dass  die  Sinnlichkeit  und  die 


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—    93    — 

beim  Mangel  an  Moral  daraus  folgende  Unsiitlichkeit  im 
afrikanischen  Blute  liegen''  (Fritsch  55). 

Die  Bantuneger.  Oskar  Baumann  ist  der  ein- 
zige Ethnograph,  welcher  den  kontrSarsexnellen  Erschein- 
iungen  bei  den  Negervölkern  tiefere  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt zu  haben  scheint;  zu  bemerken  ist  nur,  dass  die 
Darstellung  des  von  ihm  Beobachteten  sichtlich  voll- 
ständig unter  dem  Einflüsse  der  Lektüre  der  Krafft- 
Eb in g- Moll-Literatur  zu  Stande  kam.  Nach  Bau- 
mann  soll  bei  der  männlichen  Negerbevölkerung  Zanzi- 
bar's  sowohl  angeborene  als  auch  erworbene  konträre 
Triebrichtung  ziemlich  häufig  vorkommen,  angeborene 
unter  den  Stämmen  Lmer- Afrikas  aber  seltener  auftreten; 
die  grössere  Häufigkait  in  Zanzibar  schreibt  er  dem  Ein- 
flüsse der  Araber  zu,  welche  zusammen  mit  Komorensem 
und  wohlhabenderen  Swahili- Mischlingen  das  Hauptkon- 
tingent zu  den  Erworben-Konträren  stellen  sollen.  Bei 
diesen  Leuten  trete,  da  sie  meist  sehr  früh  zum  Geschlechts- 
genusse  gelangten,  bald  Uebersättigung  ein,  welche  es 
ihnen  nahe  lege,  durch  konträre  Akte  neuen  Anreiz  zu 
suchen^  nebenher  aber  auch  normale  Akte  auszuführen. 
Später  gingen  sie  jeder  Libido  zum  weiblichen  Geschlecht 
verlustig  und  würden  aktive  Päderasten,  um  mit  ein- 
tretender Impotenz  zu  passiver  Päderastie  überzugehen; 
ihre  Objekte  gehörten  fast  ausschliesslich  der  schwarzen 
Sklaven-Bevölkerung  an;  nur  selten  gäben  sich  arme  Freie, 
Araber,  Belutschen  u.  a.  aus  Gewinnsucht  dazu  her.  Die 
zur  Pädikation  auserlesenen  halbwüchsigen  Sklaven  würden 
von  jeder  Arbeit  femgehalten,  gut  gepflegt  und  plan- 
mässig  verweichlicht.  Anfangs  fänden  sie  am  normalen 
Geschlechtsakte  Gefallen  und  blieben  auch  normal,  wenn 
sie  nicht  zu  lange  als  Lust-Knaben  Verwendung  fänden; 
geschähe  dieses,  so  schrumpfe  allmählig  das  Sero  tum, 
das  Glied  verliere  die  Fähigkeit  zur  Erektion  und  das 
Lidividuum   fände  nur  noch  an  passiver  Päderastie  Ge- 


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—    94    — 

schmack.  und  Nachahmung  dieser  fremden  Sitten  sei 
es,  durch  welche  auch  die  Neger  Zanzibar's  zu  konträren 
Akten  gelangten.  Indem  diesen  nämlich  eigene  Sklaven 
vielfach  nicht  zur  Verfügung  ständen,  so  habe  sich  eine 
männliche  Prostitution  entwickelt,  welche  sich  teils  aus 
früheren  Lustknaben  der  Araber,  teils  aus  anderen  Negern 
ergänze.  Die  Betreffenden  lebten  hauptsächlich  in  Ngambo 
und  betrieben  ihr  Gewerbe  ganz  öffentlich ;  manche  unter 
ihnen  trügen  Weiber-Beeidung;  bei  fast  jedem  Tanze  in 
Ngambo  könne  man  sie  mitten  unter  den  Weibern  sehen; 
andere  erschienen  in  männlicher  Tracht,  trügen  jedoch 
an  Stelle  der  Mütze  ein  Tuch  um  den  Kopf  geschlungen;  viele 
endlich  verschmäheten  jegliches  Abzeichen.  Die  meisten 
dieser  Leute  sollen  nach  Baumann  an  Mastdarm-Leiden, 
die  sie  anfangs  durch  Verstopfen  mit  Tüchern  und  An- 
wendung von  Parfüms  zu  verbergen  trachteten,  zu  Grunde 
gehen;  alle,  sowohl  aktive  als  passive  Päderasten  ständen 
im  Rufe,  starke  Trunkenbolde  zu  sein,  woher  es  komme, 
dass  die  Swahili-Bezeichnung  für  Säufer  (walevi)  vielfach 
direkt  für  Päderast  angewendet  werde.  Männer  von  an- 
geboren-konträrer Sexualität  zeigten  von  Jugend  auf  Trieb 
zum  Weibe  nicht,  fänden  vielmehr  an  weiblichen  Arbeiten, 
wie  Kochen,  Mattenflechten  u.  dergl.  Vergnügen;  sobald 
ihre  Angehörigen  dieses  bemerkten,  fügten  sie  sich  ohne 
Widerstreben  dem  Thatbestande  dieser  Eigenheit;  der 
junge  Mann  lege  Weiberkleidung  an,  trage  das  Haar  nach 
Weiberart  geflochten  und  benehme  sich  völlig  als  Weib; 
sein  Verkehr  bestehe  hauptsächlich  aus  Weibern  und 
männlichen  Prostituierten ;  geschlechtliche  Befriedigung 
suche  er  wesentlich  in  Pädikation  und  in  beischlafähn- 
liehen  Akten;  kufira  heisse  pädicieren,  kufirwa  pädiciert 
werden ;  in  ihrer  äusseren  Erscheinung  seien  die  angeboren- 
konträren Männer  von  männlichen  Prostituierten  nicht 
zu  unterscheiden;  gleichwohl  sähen  die  Eingeborenen 
zwischen  ihnen  einen  scharfen  Unterschied,  indem  sie  die 


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—    95     — 

berufsmässigen  Lustknaben  verachteten,  das  Verhalten 
der  geborenen  Konträren  dagegen  als  Willen  Gottes  (amri 
ya  muungu)  zu  dulden  pflegten.  Für  homosexuale  Männer 
habe  die  Swahili-Sprache  die  Bezeichnung  mke-simume 
d.  h.  Weib,  kein  Mann;  doch  fände  auch  der  Ausdruck 
mzebe  und  das  dem  Arabischen  entlehnte,  eigentlich  Im- 
potente bedeutende  hanisi  auf  sie  Anwendung.  Da» 
arabische  Gesetz  sei  in  der  Verfolgung  der  männlichen 
Konträren,  obwohl  der  Korkn  die  Päderastie  streng  ver- 
biete, ziemUch  tolerant  (Baumann  G68— 670). 

Aus  den  Negerstämmen  Inner- Afrikas  waren  Bau- 
mann  nur  zwei  Fälle  von  Effemination  und  passiver 
I^äderastie  zur  Kenntnis  gekommen;  der  eine  betraf  einen 
Mann  aus  Unyamwesi,  der  andere  einen  Mann  aus  Uganda 
(Baumann  668,  1). 

Johns  ton  (408 — 409,  1)  hat  sich  mit  grosser  Ent- 
schiedenheit gegen  die  Berechtigung  ausgesprochen,  ge- 
wisse, das  konventionelle  Schicklichkeitsgef  ühl  verletzende 
Missbräuche  oder  Unregelmässigkeiten  im  geschlechtlichen 
Verkehr  der  Neger,  wie  sie  z.  B.  bei  festlichen  Tänzen 
unter  Gebrauch  des  Phallus  als  Symboles  der  schöpfer- 
ischen Kraft  alljährlich  einmal  stattfinden,  als  lasterhaft 
hinzustellen;  solche  Sitten  möchten  unrecht  sein,  den 
vitalsten  Interessen  der  Gemeinschaft  widerstreiten,  auch 
Aufsicht  und  Einschränkung  erfordern,  aber  lasterhaft 
seien  sie  nicht;  der  Neger  sei  überhaupt  sehr  selten  laster- 
haft, wenn  er  nur  erst  das  Pubertätsalter  überwunden 
habe;  er  sei  massig  und  viel  mehr  ftei  von  Lastern  als 
die  meisten  europäischen  Nationen.  Einzig  die  Neger- 
k  n  a b  e  n  seien  lasterhaft;  unter  denen  des  Atonga-Stammes 
herrsche  nach  Mitteilung  eines  Missionars  an  ihn  ein 
Laster,  das  er  nicht  einmal  mit  verschleierndem  Latein 
bezeichnen  möge  und  von  dem  er  vermute,  dass  ihm  die 
männliche  Jugend  aller  Negerstämme  huldige. 

Schneider  (I  295—296)  bemerkt,   Päderastie  und 


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—    96    — 

andere  ,  unnatürliche  Laster*'  in  den  östlichen  Negerländern 
seien  durch  die  Nubier  dorthin  importiert  worden ;  in  den 
Quellen  werken  von  Werne  und  Combes^  auf  die 
Schneider  sich  beruft^  ist  davon  nichts  enthalten. 

Die  Sudanneger.  Nach  Werne  (120)  ist  das 
, schändliche  Laster  der  Päderastie*,  welches  in  Griechen- 
land wie  im  ganzen  Oriente  überhaupt  gleichsam  zu 
Hause,  selbst  zum  Gegenstande  der  Unterhaltung  ohne 
alle  Scham  gebraucht  werde,  glücklicherweise  im  ganzen 
Lande  Sudan  weder  bei  den  Eingeborenen,  noch  bei  den 
arabischen  Stämmen  bekannt.  Dass  jedoch  die  Türken 
von  dem  Grössten  bis  zum  Kleinsten  es  zu  verbreiten 
bemüht  seien  und  sich  ihre  Knaben  halten,  die  man  Pust 
nenne,  verstehe  sich  von  selbst.  Die  von  W  erne  alsdann 
mitgeteilten  Beispiele  zur  Belegung  seiner  Behauptung 
sind  so  lebendig  geschildert,  aber  zugleich  so  nichts- 
beweisend und  andere  Deutungen  zulassend,  dass  ich  nicht 
unterlassen  möchte,  sie  ausführlich  wiederzugeben,  ob- 
schon  sie  strenge  genommen  nicht  mehr  in  den  Bahmen 
vorliegender  Arbeit  gehören. 

Fel'zulla  Capitan  hatte,  aus  Vorsicht,  um  bei  ein- 
tretender Epilepsie  sogleich  Hilfe  zur  Hand  zu  haben, 
«inen  ägyptischen  Matrosen,  mit  Namen  Chattap,  zum 
Koch,  welcher  mit  einem  jungen  Dongolaner  in  Werne's 
Kajüte  an  der  Erde  schlief.  Li  der  Nacht  wollte  dieser 
Fellach  den  Ejiaben  missbrauchen  und  hielt  ihm  (üe 
Gurgel  zu^  während  Werne  von  seinem  Lager  auf  ihn 
herabstürzte  und  ihn  zur  Thüre  hinausriss,  um  ihn  in  den 
Nil  zu  werfen,  woran  er  jedoch  durch  die  Wache  ver- 
hindert wurde«  Felzulla  Capitan  hatte  bereits  den  Koran 
wieder  mit  der  Schneiderei  vertauscht,  bei  Soliman  Kaschef 
von  Neuem  Araki  getrunken  und  schlief  dergestalt,  dass 
er  nicht  aufzuwecken  war.  Als  ihm  Werne  am  Morgen 
den  Vorfall  erzählte,  geriet  jener  mehr  in  Verlegenheit, 
wie    er   seinen   Mundkoch    und  Calefaktor   retten  möge. 


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als  darüber,  ihn  augenblicklich  zu  bestrafen.  Eine  solche 
Gleichgiltigkeit  hatte  Werne  wirklich  nicht  erwartet; 
als  der  „unverschämte .  Mundkoch*  nun  auf  die  Kajüte 
zukam^  um  dem  Kapitän  Kaffee  zu  bringen,  verbot  ihm 
W  ern  e  unter  Androhung  von  Misshandlung  den  Eintritt, 
während  der  Koch  sein  gewöhnliches  langweiliges  Gesicht 
machte  und  dem  jungen  Dongolaner  Befehl  gab,  den 
Kaffee  entgegen  zu  nehmen.  Da  die  Päderastie  nicht 
allein  durch  den  Koran,  sondern  auch  durch  die  Kriegs» 
artikel  schwer  verpönt  wird,  so  trug  Werne  auf  Be- 
strafung des  Kochs  bei  den  beiden  Kommandanten  an, 
da  er  ihn  in  flagranti  gepackt  habe  und  sein  Vergewal- 
tigungsversuch auch  durch  den  Dongolaner  bestätigt 
werde.  Aber  auch  die  Kommandanten  nahmen  die  Sache 
nicht  so  ernsthaft  ;^  sie  stundeten  dem  Koch  die  verdienten 
500  Stockprügel  und  versetzten  ihn  auf  ein  anderes 
Schiff,  wo  er  ungeachtet  vorgeblicher  Elrankheit  gleich 
den  übrigen  Matrosen  arbeiten  musste  (Werne  120—121). 
—  Noch  bunter  gestaltet  sich  ein  anderes  päderastisches 
Bild :  An  der  Spitze  steht  Selim  Capitan,  dem  es  wahrer 
Ernst  um  die  Sache  ist^  ihm  zur  Seite  Soliman  Kaschef, 
der  dem  würdigen  Sohne  von  Kreta  ,in  der  Kultur  nichts 
nachgeben  und  lachen  und  Zeitvertreib  haben  will*.  Nicht 
nur,  dass  sie  auf  ihren  Schiffen  obscöne  Manipulationen 
mit  den  Buben  vornehmen,  suchen  sie  auch  die  Knaben 
der  Eingeborenen  mit  Glaskorallen  zu  gewinnen  und 
lassen  sie  durch  die  türkischen  Soldaten  einfangen,  was 
natürlich  blos  im  Scherze  geschieht  Für  Werne  war 
es  ein  empörender  ^nblick,  besonders  wenn  er  bedachte, 
auf  welche  «grässliche  Art  die  Moralität  dieser  Völker 
von  vom  herein  durch  die  türkischen  Bestien  unter- 
graben'^ werde.  Was  man  dem  Hauptmann  Selim  A^, 
dem  Russen,  in  Bezug  tflif  die  griechische  Liebe 
nachsagte,  fand  Werne  hier  zur  Genüge  bestätigt;  da 
stand   er   vor   der  Kajüte  des  Selim  Kapitän  imd  fasste 

Jahrbuch  UL  7 


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—    98    — 

einen  dort  befindlichen  eingeborenen  Knaben  auf  eine  un- 
anständige Art  an.  Die  Eingeborenen  selbst  standen  am 
Ufer  nahe  dabei  und  lachten,  «da  sie  die  Bedeutung 
dieser  Unanständigkeit  nicht  kannten*.  Werne  befand 
sich  ebenfalls  am  I^ande,  wo  er  sich  einige  Holzproben 
aböägen  liess  und  schrie  sogleich  drohend  dem  Mosko- 
witen  zu;  dieser  aber  hörte  nicht  auf  ihn,  bis  Werne 
ein  Stück  Holz  nahm,  um  es  dem  Hauptmann  an  den 
Kopf  zu  schleudern.  Thibaut  und  Sabatier  hinderten  ihn 
an  der  Ausführung  dieser  Absicht  und  meinten,  man 
müsse  sich  über  eine  solche  Sache  hinwegsetzen.  Der 
Russe  zog  sich  danach  sofort  in  die  Kajüte  zurück,  wahr- 
scheinlich um  Werne  bei  Selim  Capitan,  welcher  als 
Päderast  seinem  kretischen  Ursprünge  Ehre  machte,  zu 
verklagen.  Auch  Achmet  Bascha  kannte  den  Russen  sehr 
gut  und  wollte  ihm  daher  nicht  erlauben,  seine  Weiber  von 
Alexandrien  nach  Chartüm  kommen  zu  lassen,  um  ihnen 
den  «trostlosen  Anblick'^  seiner  Buben  oder  Pust  (wohl  von 
7]  noüöriy  das  männliche  Glied,  neugriechisch  xoXovfißa^ac) 
zu  ersparen.  Gerade  deshalb  hatte  auch  Werne  sein  An- 
erbieten in  Chartüm,  auf  seinem  Schiffe  die  Fahrt  mit- 
zumachen, mit  der  geraden  Erklärung  ausgeschlagen,  dass 
er  «Weiberfeind*  sei.  «Wo  wird  —  schliesst  Werne  — 
die  vom  Koriui  angedrohte  Todesstrafe  vollzogen!  —  Die 
Neugriechen  schrieen, drakonische  Gesetze!^,  als  das  Gesetz- 
buch von  Maurer  promulgiert  wurde  — •  (Werne  383). 
Auch  nach  Barth  sind  «unnatürliche  Laster*  in 
Börnu  (Zentral-Sudän)  im  Allgemeinen  unbekannt;  die 
Erzählung,  an  welche  diese  Bemerkung  geknüpft  wird, 
rechtfertigt  die  gemachte  Einschränkung.  Unter  den  Bömu- 
Freunden  Barth's  waren  um  diese  Zeit  die  «belehrendsten* 
Schitüna  Makar^nmia  und  Amssakai.  Der  Erstere  dieser 
beiden,  der  ein  Hofinann  der  alten  Dynastie  gewesen  war 
und  sein  Leben  durch  seine  Litriguen  gerettet  hatte,  war 
ein  höchst  gescheidter   alter  Mann,  aber  ein  anerkannter 


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—    99    — 

Gauner,  dem  „unnatürliche  Laster"  zugeschrieben  wurden, 
„die  im  Allgemeinen  in  diesen  Gegenden  unbekannt  zu 
sein  scheinen*.  Er  war  der  einzige  mit  der  Geschichte 
der  alten  Dynastie  wohl  bekannte  Mann;  ausserdem  sprach 
er  die  Knaori-Sprache  mit  so  ausgezeichneter  Schönheit, 
wie  Barth  es  von  {Niemanden  ausser  ihm  hörte.  Er 
hatte  zwei  sehr  schöne  Töchter,  deren  eine  er  so  glück- 
lich war  mit  dem  Vezier  zu  verheiraten,  deren  andere 
mit  dessen  Gegner  *Abd  e'  Rahmän.  Das  war  der  Glanz- 
punkt seines  intriguanten  Daseins;  aber  bald  darauf,  im 
Dezember  1853,  ward  er  mit  dem  einen  dieser  beiden 
Schwiegersöhne,  dem  Vezier  Hadj  Beschir,  von  dem 
anderen  Schwiegersohne  hingerichtet,  und  bei  der  Teil- 
nahme, die  Barth  für  das  unglückliche  Ende  seines 
Freundes,  des  Veziers,  hatte,  that  ihm  nichts  mehr  leid, 
als  dass  er  mit  diesem  Schurken  zusammen  war  hinge- 
richtet worden    (Barth  11  374—375). 

Die  Dahomey-Neger.  Ein  völlig  abweichendes 
Bild  zeigt  die  Päderastie,  wie  sie  bei  den  Negervölkem 
der  Sklavenküste,  im  Königreiche  Dahomey,  sich  ent- 
wickelt hat  Die  schrankenlose  Selbstsucht  des  Herr- 
schers von  Dahomey,  der,  als  vollkommen  mit  seinem 
Lande  identisch,  einfach  „der  Dahomey*  genannt  wird, 
belegte  fast  alle  Frauen  seines  Landes  für  seine  Person 
mit  Beschlag;  die  Mehrzahl  der  Männer  im  Volke,  an 
der  ihnen  zusagenden  Befriedigungsweise  des  Geschlechts- 
triebes hierdurch  verhindert,  ahmte  das  von  Päderasten 
ihnen  gegebene  Beispiel  nach,  und  die  Päderastie,  ein- 
mal Volkssitte  geworden,  wurde  dann  später  von  dem 
IJerrscher  und  den  Vornehmen  selbst  angenommen,  um 
so  zu  einer  gesetzmässigen  Einrichtung  ausgestaltet 
zu  werden  (Bastian  III  305,  Schnitze  1900,  162). 
Nach  Fleuriot  de  Langl«  (243)  giebt  es  in  Whydah 
bei  Hofe  eine  Art  ,Eunuchentum",  welches  aber  nicht, 
wie  anderwärts,  nur  eine  private  Wache  für  den  Frauen- 

7 


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—   im  — 

barem  des  Herrschers  darstellt,  soDdem  eine  Staatsein* 
richtung  ist;  die  Lagredis  oder  EffeminierteD  des 
in  jeder  Beziehung  unumschränkten  Dahomeyherr- 
schers  werden  unter  den  Söhnen  der  Vornehmen  des 
Landes  ausgewählt  und  von  ihrer  frühesten  Jugend  zum 
Genüsse  solcher  Getränke  gezwungen,  welche  die  Leiden^ 
Schäften  des  Blutes  ersticken;  ihr  Oberhaupt,  selbst  ein 
Effeminierter,  spielt  am  Hofe  eine  bedeutende  Rolle  und 
gehört  zum  Staatsrate.  Die  Gesandten  gehen  nur  in 
Begleitung  von  zwei  Lagredis  auf  Reisen,  und  diese  sind 
verpflichtet,  deren  Verträge  zu  tiberwachen  und  über 
Ausführung  derselben  dem  absoluten  Könige  unmittelbaren 
Bericht  zu  erstatten.  Nach  Barret  (I  164 — 1G5)  wird 
der  Dahomeykönig  von  einem  Rate  seiner  Landesgrössen, 
die  demütige  Schmeichler  seiner  Willensäusserungen  sind, 
in  der  Regierung  des  Landes  unterstützt;  mit  der  Ver- 
waltung des  ganzen  grossen  Königreiches  sind  acht 
hohe  Beamte  beauftragt:  einM^hou  als  erster  Minister, 
ein  Minghan  als  zweiter  Minister,  ein  Kambod^  als 
Kammerherr, ein  A  v og ha n  oder  Yavogan  als  Kommandant 
von  Whydah,  ein  Gao  und  Poissou  als  Kriegsminister, 
ein  Cab^c^re  als  Distriktsgouvemeur,  ein  Rac ädere 
als  Adjutant  des  Königs  und  ein  Tolonu  (Tolonou)  als 
erster  „Eunuch"  und  Mundschenk  des  Königs;  diesem 
Tolonu  sind  die  Frauen  und  Effeminierten  des  Königs 
unterstellt,  und  sein  Rang  ist  so  hoch,  dass  er  unmittelbar 
zwischen  den  König  und  seinen  ersten  Minister  sich  ge- 
stallt sieht  Als  Residenz  des  Königs  gilt  nicht  Whydah, 
sondern  Abomey  (oder  Agbom^,  die  durch  Thore  ge- 
schlossene Stadt);  nie  erscheint  der  König  in  Whydah 
(franz.  Ouidah),  welches  die  Stadt  der  Weissen  ist  (Barret 
I  IGC).  Bei  Norris  (415)  wird  ausser  von  Hängebetten- 
Trägem  noch  von  „Verschnittenen"  berichtet,  welche  die 
Portechaise-Träger  ablösten;  ihrer  nahmen  (Norris  422) 
dreissig,  wie  Weiber  gekleidet,  an    einer  Art  Prozession 


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—    101     — 

teil^  und   jeder    hielt    eine    blinkende    eiserne  Gerte    in 
seiner  Hand. 

Die  Neger  der  Insel  Madagaskar.  Bei  den 
Manghabei  herrschten  um  die  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts sehr  lockere  Sitten;  schon  kleine  Knaben  und 
kleine  Mädchen  trieben  Liebesspiele  im  Beisein  ihrer 
Eltern,  welche  darüber  lachten  und  selbst  dazu  den  An- 
reiz gaben;  bisweilen  nahmen  kleine  Buben,  ohne  Scham, 
m  Gegenwart  ihrer  Eltern,  Ausschweifungen  an  Kälbern 
und  Zicken  vor.  Die  Sklaven  in  ihrer  Mittellosigkeit, 
die  ihnen  unmöglich  machte,  den  Mädchen  ihre  Dienste 
zu  bezahlen,  gebrauchten  zur  Befriedigung  ihrer  Begierden 
ohne  Strafe,  ja  ohne  Tadel,  die  Kühe  ihrer  Herrschaft. 
Auch  gab  es  einige  verweiblichte  und  als  impotent 
geltende  Männer,  welche  man  Tsecats  nannte;  diese 
geberdeten  und  kleideten  sich  wie  Weiber  und  stellten 
den  Jünglingen  nach ;  sie  ,thaten,  als  seien  sie  in  dieselben 
verliebt''  und  boten  ihnen  auch  an,  mit  ihnen  zu  schlafen ; 
sie  legten  sich  selber  Frauennamen  bei  und  spielten  die 
Rolle  verschämter  und  schüchterner  Mädchen  (Flacourt 
86).  Dennoch  soll  nach  demselben  Gewährsmanne  bei  den 
Manghabei  Päderastie  nicht  in  Gebrauch,  ja  diesem 
Stamme  ganz  unbekannt  gewesen  sein.  Auf  seine  Er- 
kundigungen nämlich  bei  den  tsecats  selbst,  weshalb  sie 
fc^o  lebten,  erhielt  Flaoourt  die  Auskunft,  sie  widmeten 
sich  dieser  Lebensführung  seit  ihrer  Jugend,  gemäss  der 
Sitte  ihres  Landes,  hätten  das  Gelübde  der  Keuschheit 
abgelegt,  und  dass  sie  die  Gesellschaft  junger  Burschen 
suchten,  gehe  weder  aus  niedrigen  Absichten  her- 
vor, noch  werde  ihre  Zuneigung  von  unanständigen 
Handlungen  begleitet;  dieses  alles  wurde  ihm  auch  von 
seinen  Negern  und  deren  Frauen  bestätigt;  dieselben 
erklärten,  die  Tsecats  dienten  durch  ihre  Lebensart  Gott ; 
sie  verabscheuten  die  Weiber  und  wollten  ihnen  nicht 
beiwohnen  (Flacourt   86;    Bastian  IH    311).     Nach 


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—    102    — 

Lasnet  (475)  ist  unter  den  männlichen  Sakalaven  die 
Päderastie  ziemlich  verbreitet.  Es  giebt  bei  ihnen  auch 
normal  gebildete  Männer^  welche  sich  vollkommen 
als  Weiber  fühlen;  schon  in  früher  Jugend  werden  diese 
ihres  zarteren  und  schwächlicheren  Aussehens  wegen  wie 
Mädchen  behandelt  und^  mit  den  Jahren  als  Frauen  an- 
gesehen, legen  sie  auch  deren  Kleidung  und  nehmen 
deren  Charakter  und  Gewohnheiten  an.  Grosse  Sorgfalt 
verwenden  sie  auf  ihre  weibliche  Tracht;  ihr  Haar 
tragen  sie  lang,  in  kugelförmig  endende  Zöpfe  geflochten; 
in  ihren  Ohren  hängen  Ringe  mit  Silberstücken;  am 
linken  Nasenflügel  haflet  ein  Geldstück;  Handgelenk  und 
Fusswurzel  werden  mit  Bändern  geschmückt;  dem  Weibe 
noch  mehr  ähnlich  zu  sehen,  bilden  sie  deren  Brüste 
durch  Lappen  nach;  alle  Behaarung  wird  sorgfältig  vom 
Körper  entfernt;  auch  der  wiegende  weibliche  Gang  und 
die  weibliche  Stimme  ist  ihnen  eigen.  Einen  Mann,  der 
ihr  Gefallen  erregt,  bezahlen  sie,  auf  dass  er  bei  ihnen 
sclilafe;  sie  lassen  ihn  in  ein  mit  Fett  gefülltes  Ochsen- 
horn,  das  sie  zwischen  die  Beine  klemmen,  den  Coitus 
ausführen  oder  dulden  Pädikation.  Verlangen  zum 
Weibe  kennen  sie  nicht,  und  eine  durch  Weiber  bei  ihnen 
veranlasste  Erection  ist  ausgeschlossen.  Ihre  Beschäftigung 
besteht  aus  leichterer  Frauenarbeit  in  Haushalt  und 
Küche,  im  Strohflechten  und  dergl.  Sie  hüten  weder  das 
Vieh,  noch  beteiligen  sie  sich  am  Kriege.  Die  Ge- 
sclilechtsnatur  dieser  Männer,  welche  bei  den  Sakalaven 
Sekatra  heissen,  wird  von  Jedermann  anerkannt  und 
ihnen  sogar  eine  gewisse  übernatürliche  Macht  zuge- 
schrieben, denn  man  fürchtet,  ein  Sekatra  könne  ihm  zu- 
gefügte Beleidigungen  durch  Fluch  und  Krankheit 
rächen  (Lasnet  494—495). 

Ueber  Päderastie  beiden  hellen  Negern  Süd- 
afrika's  ist  nicht  berichtet  worden.  Herr  Geheimrat  Professor 
Dr.  Gustav  Fritsch  teilte  mir  unter  dem  23.  Dezember 


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—    103    — 

1900  auf  meine  Anfragen  brieflich  mit:  „Ueber  Päderastie 
unter  südafrikanischen  Eingeborenen  habe  ich  übcrliaupt 
nichts  in  Erfahrung  gebracht  und  bin  überzeugt,  dass  sie^ 
damals  wenigstens,  überhaupt  kaum  vorgekommen  ist. 
Die  Abneigung  gegen  diese  Perversität  sehe  ich  daher 
als  dem  Naturzustand  entsprechend  an.  Im  Gegenteil  ist 
Päderastie  bei  den  seit  Jahrtausenden  hochziviUsierten 
Persern  in  wahrhaft  schreckenerregender  Verbreitung. 
Als  Ausfluss  einer  dekadenten  Ueb^kultur  charakterisiert 
sich  bei  den  Persem  diese  Unsitte  besonders  dadurch,  dass 
mir  von  vornehmen  Leuten  im  Vollbewusstsein  ihrer 
höheren  Kultur  ganz  offen  erklärt  wurde:  Jm  Winter 
benutzt  man  die  Frau,  im  Sommer  den  Knaben,  denn  im 
Sommer  stinkt  die  Frau!'  Auch  hier  haben  wir  es  also 
unzweifelhaft  mit  einer  allmählig  üblich  gewordenen 
Perversität  zu  thun.  Bezeichnend  ist  in  gleichem  Sinne 
auch  der  von  Krafft-Ebing  geführte  Nachweis,  dass 
Päderastie  (seil.  Pädikation!)  unter  den  sogenannten 
Konträrsexuellen  nur  als  grosse  Ausnahme  vorkommt. 

»Ich  will  nun  dabei  nicht  verschweigen,  dass  ich  die 
ganze  Urnings-Theorie  als  vom  wissenschaftlichen  Stand- 
punkte ungenügend  fundiert  erachte  und  die  dabei  zu 
Tage  tretenden  Erscheinungen  als  Ausflüsse  einer  besonders 
gearteten  Perversität  ansehe.  Logischer  Weise  könnten 
ja,  da  nur  die  entgegengesetzten  Geschlechter  sich 
normaler  Weise  anziehen,  zwei  Urninge  ^ar  nicht  mit 
Genuss  zusammen  kommen,  wie  es  thatsächlich  geschieht. 
Der  normalsexuelle  Mann  könnte  sich  doch  von  dem 
konträrsexuellen  Mann,  für  den  ihm  jedes  Verständnis 
mangelt,  nicht  angezogen  fühlen;  zwei  konträrsexuelle 
Männer  zusammen  gebracht,  sollten  sich  doch  ebenso  ab- 
stossen  wie  zwei  normal- weibliche  Personen,  so  lange 
nicht  Perversität  in's  Spiel  kommt 

»Man  müsste  also  für  den  Umingsverkehr  die  offen- 
bar recht  gewagte  Hypothese  aufstellen,  dass  dabei  die 


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—     104    — 

Vereinigung  eiqes  Konträrsexuellen  mit  einem  Pervers- 
sexuellen stattfände.  Offenbar  im  Bewusstsein  dieser 
Schwierigkeit  hat  sich  Krafft-Ebing  stets  eingehend  be- 
müht^ festzustellen,  welcher  Teil  sich  als  der  aktive, 
welcher  sich  als  der  passive  fühle.  Auch  gegen  die  hypo- 
thetische Erklärung  Krafft-Ebing's  über  das  anatomische 
Zustandekommen  der  Abweichung  muss  ich  Widerspruch 
erheben.  Es  ist  unerweislich,  wie  neuerdings  so  vielfech 
behauptet  wird^  dass  die  ursprüngliche  Anlage  der  Organe 
eine  hermaphroditische  sei;  denn  alsdann  müssten  die  ent- 
scheidenden Keimdrüsen  (Hoden  und  Eierstock)  neben 
einander  aus  verschiedenen  Anlagen  entstehen, 
während  dieselbe  Keimanlage  Hoden  oder  Eierstock 
liefert.  Die  leitenden  ursprünglich  indifferenten,  durch 
Funktionswechsel  aus  anderen  (Excretions-)  Systemen 
übernommenen  Wege  sind  nicht  entscheidend.  Auch  ist 
in  der  Stammesgeschichte  die  ungeschlechtliche 
und  monogene  Fortpflanzung  älter  als  die  zwei- 
geschlechtliche, welche  auf  einer  durch  Arbeitsteilung 
bedingten  höheren  Differenzierung  ursprünglich  gleich- 
wertiger Zellen  beruht.  Es  ist  femer  embryologisch  un- 
haltbar, anzunehmen,  dass  die  konträr-sexuellen  Erschein- 
ungen auf  einer  falschen  (gekreuzten)  Verbindung  der 
zentralen,  ebenfalls  hermaphroditisch  gedachten  Anlagen 
mit  den  peripherischen  beruhen;  denn  die  peripherischen 
Organe  sind  längst  fertig  ausgebildet,  ehe  auch  nur  der 
Anfang  mit  der  Herstellung  der  zentralen  Leitungsbahnen 
gemacht  ist;  sie  erscheinen  bekanntlich  erst  ganz  all- 
mählig  nach  der  Geburt  im  Zusammenhang  mit  der  sich 
einstellenden  Funktion.  Dass  sich  eine  zentrale  Leitungs- 
bahn für  ein  gar  nicht  vorhandenes  weibliches  Organ 
oder  umgekehrt  für  ein  nicht  vorhandenes  männliches 
ausbilden  sollte,  ist  gänzlich  unerfindlich  und  widerspricht 
auch  dem  je  nach  Bedarf  eintretenden  vikariierenden  Ver- 
halten benachbarter  ßindengebiete. 


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—     105    — 

,Auch  in  den  konträr-sexuellen  Erscheinungen  glaube 
ich  daher  eine  besondere  Form  sehr  früh  und  vielfach 
wohl  durch  Zufälligkeiten  besonders  entwickelter  ge- 
schlechtlicher Perversität  sehen  zu  sollen.  In  der  Be- 
urteilung dieser  ausserordentlich  schwierigen  Sache  befinde 
ich  mich  mit  einem  grossen  Teil  unserer  Spezialisten  in 
Widerspruch/* 

II.  Die  malayischen  Naturvölker. 

1.   Die  Malayen  der  ostindis'chen  Inseln. 

lieber  das  Sexualleben  der  B attaer  (Battaker)  auf 
Sumatra  teilt  Junghuhn  (U  157)  mit^  sie  hätten  ein 
Gesetz,  welches  Ehebrecher  ohne  Gnade  verurteile,  auf- 
gegessen zu  werden,  während  sonst  von  allen  übrigen, 
selbst  den  schwiersten,  Vergehen  Abkaufbarkeit  möglich 
sei ;  dieses  Gesetz  habe  eine  grosse  Keuschheit  der  Wei- 
ber in  den  Battaländern  zur  Folge,  sq  dass  Junghuhn 
versichern  zu  können  behauptet,  diese  Keuschheit  komme 
beinahe  der  der  Nonnen  gleich  und  leite  sich  davon  ab, 
dass  die  Weiber  niemals  in  Versuchung  kämen.  Das  ge- 
nannte strenge  Gesetz  gegen  Ehebrecher  erscheine  auf- 
fallend bei  einem  Volke,  das  sonst  gerade  nicht  als  Muster 
der  Moralität  dastehe,  indem  das  «Laster  der  Sodomie'' 
allgemein  verbreitet  sei  und  nicht  bestraft  würde.  Dem- 
ungeachtet  soll  der  Battaer  nach  Junghuhn  (II  237) 
„ohne  bedeutende  Wollust*  sein,  womit  wieder  nicht  recht 
die  Angabe  stimmen  will,  dass  die  Battaer  ihre  Särge 
und  nachher  ihre  Gräber  mit  unkeusclien  Holzstatuen,  die 
sich  hauptsächlich  durch  ihre  unverhültnismässig  grossen 
Genitalien  auszeichneten,  verzierten,  —  eine  Eigentümlich- 
keit, von  der  sich  keine  Spur  bei  den  Javanen  finde 
(Junghuhn  II  140;  Wuttke  I  184);  diese  aber  sollen 
stark  wollüstig  sein,  doch  der  Gemeine  weniger  als  der 
Häuptling   und    die  Fürsten;    die  Fürsten   von  Solo  und 


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—    106    — 

Djoqo  stten  aller  Art  Wollust  ergeben  gewesen;  die 
zahlreichen  Prinzen  und  Halbprinzen  zu  Djocjokarta  hätten 
um  1835  ihre  geschlechtliche  Wollust  zuweilen  auf  eine 
so  unnatürliche  Art  ausgeübt^  dass  es  an's  Unglaubliche 
grenze;  so  war  einer  von  diesen  feinen  Herren  unter  allen 
Geschöpfen  vorzugsweise  in  E  n  t  e  n  verliebt  (Junghuhnll 
241;  BastianIII315).  Mit  diesen  Angaben  decktsich  nicht 
die  allgemeine  Bemerkung  von  Waitz  (V  1.  Abtl.  157), 
den  Malayen  seien  geschlechtliche  Ausschweifungen  fremd. 
Auf  den  Sulu -Inseln  scheint  Päderastie  eine  ver- 
breitete Sitte  gewesen  zu  sein.  Als  im  Januar  1588  Tho- 
mas C  and  isch  auf  seiner  Seefahrt  die  Insel  Capul  be- 
rührte^ traf  er  die  meisten  Leute  nackt,  die  Männer 
höchstens  mit  einem  aus  Bananenblättem  hergestellten, 
ihre  Geschlechtsteile  bedeckenden  Schurze;  dieser  Schurz 
wurde  zwischen  die  Beine  geklemmt  und  vom  auf  dem 
Nabel  befestigt.  Die  sämtlichen  herangewachsenen  männ- 
lichen Eingeborenen  zeigten  eine  merkwürdige  Art  von 
Iniibulation :  jedem  männlichen  Kinde  wurde  nach  der 
Beschneidung  ein  Nagel  von  Zinn  durch  die  Eichel  der 
Rute  getrieben ;  die  Spitze  des  Nagels  war  gespalten  und 
dann  umgebogen,  der  Nagelkopf  bildete  ein  Krönchen; 
die  durch  das  Eintreiben  des  Nagels  verursachte  Ver- 
wundung heilte  im  Kindesalter,  ohne  dem  iniibulierten 
Kinde  viel  Pein  zu  bereiten;  die  Leute  zogen  den  Nagel 
heraus  und  steckten  ihn  je  nach  Bedarf  und  Gefallen 
wieder  in  die  Eichel.  Um  sich  von  der  Richtigkeit  die- 
ser Thatsache  selbst  zu  überzeugen  und  wohl  auch  aus 
begreiflicher  Neugier,  machten  die  Begleiter  von  Can  disch 
selber  die  Probe  des  Ausziehens  und  Einsteckens  dieses 
Nagels  bei  einem  der  Söhne  des  Häuptlings  (Caciken), 
einem  zehnjährigen  Knaben.  Diese  Sitte  oder  Gewohn- 
heit war  angeblich  auf  Betreiben  der  Weiber  eingeführt 
worden;  als  diese  nämlich  sahen,  dass  die  Männer  stark 
der  Sodomie  (Päderastie)   ergeben  waren,   unterbreiteten 


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—     107    — 

8ie   den  Häuptlingen  ein  Gesncb  und  erimogten  fär  die 

Zukunft  den  Gebrauch  der  beschriebenen  Infibulation^  um 
der  für  sie  so  grossen  Unannehmlichkeit  vorzubeugen 
(Prettie  15—16;  Brosse  I  226 — 227;  Mantegazza 
83).  Zu  dem  letzten  Punkte  bemerkt  ganz  richtig  Pauw, 
die  Beschreibung  Prettie 's  gebe  keine  Vorstellung  da- 
von, in  welcher  Weise  durch  den  Gebrauch  des  Nagels 
der  Erfolg  erreicht  werden  könne,  den  man  von  ihm  er- 
wartet habe;  es  sei  gewiss,  dass  er  die  Männer  ebenso 
hindere,  wenn  sie  richtig,  als  wenn  sie  unrichtig 
coitieren  wollten    (Pauw  II  150). 


2.  Die  Malayen  auf  Madagaskar. 

Bei  den  Betanimenen  bilden  die  Tänzer,  welche 
zur  Erhöhung  der  Festfreuden  in  den  Dörfern  beitragen, 
eine  getrennte,  wenn  auch  nicht  zahlreiche  Klasse  von 
Männern.  Sie  haben  besondere  Sitten  und  Gebräuche, 
leben  abgesondert,  verheiraten  sich  niemals  und  hassen 
und  verabscheuen  die  Weiber  (d.  h.  wohl  nur,  den  ge- 
schlechtlichen Verkehr  mit  ihnen),  obwohl  sie  deren 
Kleidung  tragen  und  deren  Stimme,  Gesten  und  Eigen- 
tümlichkeiten kopieren;  sie  tragen  in  den  Ohren  breite 
Hinge,  um  den  Hals  goldene  oder  silberne  Bänder  mit 
Korallen  oder  gefärbten  Glaskugeln  und  an  den  Armen 
silberne  Spangen;  sie  rasieren  sich  sorgfältig;  man  nennt 
sie  Sekatses  d.  h.  Bastarde,  „vielleicht,  weil  es  unehe- 
liche Kinder  sind*.  Uebrigens  pflegen  diese  Tänzer 
einfache  Sitten  zu  führen,  sie  leben  sehr  massig,  sind 
beständig  auf  Reisen  und  werden  überall,  wohin  sie  ihr 
Weg  führt,  gern  aufgenommen;  zuweilen  erhalten  sie 
sogar  beträchtliche  Geschenke;  Vornehme  geben,  nachdem 
die  Tänzer  ihnen  einige  Tage  hindiu'ch  die  Zeit  angenehm 
vertrieben   haben,  bei  deren  Abreise  als  Geschenk  zwei 


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—    108    — 

oder  drei  Sklaven  mt.  Diese  T&nzer  sind  zugleich  die 
Nationaldichter  oder  Barden  der  Betanimeneu,  indem  sie 
Lobgesänge  erfinden  auf  diejenigen  Personen^  von  denen 
sie  angemessen  bezahlt  werden  (Legu^vel  de  Lacombe 
I  97—98;  Waitz  II  438;  Mantegazza  105). 

Unter  den  Hova's  kommen  auch  zur  Jetztzeit  effe- 
minierte  Männer^  z.  B.  in  Miarinarivo^  vor;  sie  heissen 
in  Eraymien  Sarimbavy,  von  sar,  Bild,  und  »vavy", 
Weib  (nach  Rencurel  bei  Lasnet  494);  von  ihnen 
gilt  im  allgemeinen  dasselbe,  was  von  den  Sakalaven,  die 
aber  nicht  Malayen,  sondern  Neger  sind,  mitgeteilt  wurde 
(siehe  vorher  S.  102). 

3.  Die  Polynesien 

Sowohl  vor  Zeiten  als  auch  noch  in  den  CO.  Jahren 
des  19.  Jahrhunderts  bestanden  (nach  Remy  S.  XLIII) 
die  Wohnungen  der  Eingeborenen  von  Hawaii  aus  Hütten 
von  Pandanus-Blättern  oder  von  Rasen  und  bildeten  nur 
einen  einzigen  Raum,  in  welchem  alle  Familienangehörigen 
und  Gäste  unter  Matten  nächtigten.  In  Folge  dieses 
engen  Zusammenhausens  bildete  sich  eine  sittliche  Ver- 
weichlichung aus,  die  besonders  die  Kinder  ergriff  und 
eine  schrankenlose  Vermischung  herbeiführte.  Scham  war 
ein  unbekannter  Begriff;  die  ^Verbrechen  wider  die 
Natur",  Sodomie  und  Bestialität,  waren  allgemein.  Remy 
liefert  zu  seiner  Schilderung  aber  noch  einen  sehr  merk- 
würdigen Zusatz :  unter  10  UOO  Geburten  solle  wenigstens 
ein  Hermaphrodit  stecken,  es  solle  solchen  Misch- 
wesen eine  ebenso  lange  Lebensdauer  wie  den  anderen 
beschieden  sein,  und  sie  sollen  mehr  den  Geschmack  der 
Weiber  als  den  der  Männer  hinsichtlich  ihrer  geschlecht- 
lichen Begierden  teilen. 

Auf  seiner  Fahrt   von   den   Marquesas-Inseln    nach 


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—     109    — 

Tahiti  zu  Ende  des  18.  Jahrhundei-ts  traf  Wilson  (277) 
in  verschiedenen  Distrikten  Männer,  welche  sich  wie 
Weiber  kleideten,  mit  diesen  an  der  Verfertigung  von 
Zeugen  arbeiteten,  dieselben  Nahrungsmittel  zu  sich  nahmen 
und  überhaupt  denselben  Gesetzen  unterworfen  waren 
wie  die  Weiber;  diese  durften  auch  weder  mit  den 
Männern  noch  von  deren  Speisen  essen,  sondern  besassen 
eigene  Pflanzungen  zu  ihrem  Privatgebrauche.  Wilson 
hebt  besonders  hervor,  dass  die  Polynesier  , ungeachtet 
dieser  und  anderer  bei  ihnen  im  Schwange  befindlicher 
Laster*  in  Gegenwart  der  Engländer  niemals,  weder  in 
Geberden  noch  Handlungen,  irgend  etwas  Anstössiges 
begingen. 

Tahiti  oder  Otaheiti  hatte  eine  Klasse  von  Männern, 
welche  sich  in  Weibertracht  kleideten,  weibliche  Be- 
schäftigungen aufsuchten,  in  Betreff  ihrer  Ernährung  und 
dergleichen  denselben  Einschränkungen  unterworfen  waren 
wie  die  Frauenspersonen  und  gleich  diesen  die  Gunst 
der  Männer  zu  gewinnen  strebten;  sie  zogen  dabei 
die  Männer  allen  anderen  vor,  welche  mit  ihnen  zu- 
sammen lebten  und  auch  ihrerseits  allem  Umgange  mit 
Weibern  entsagten.  Solche  Männer  hiessen  Mahhus 
(Mahoos).  Dieselben  erwählten  die  angedeutete  Lebens- 
weise schon  in  früher  Jugend.  Da  zur  Zeit  Wilson 's 
nur  6  bis  8  Mahhus  vorhanden  waren,  so  wurden  diese 
vorzugsweise  von  den  vornehmsten  Anführern  begehrt 
und  gehalten.  Selbst  von  den  Weibern  wurden  diese 
Menschen  nicht  verachtet,  sondern  beide  lebten  mit  ein- 
ander in  Freundschaft.  Wilson  (318)  hatte  einen  sach- 
kundigen Begleiter  gebeten,  dass,  wenn  ein  Mahhu  auf 
ihrem  Wege  sich  blicken  liesse,  er  denselben  ihm  zeigen 
möchte,  und  so  bekam  er  einen  in  dem  Gefolge  des 
Häuptlings  Pomärre  zu  sehen;  der  Mahhu  ging  wie  ein 
Weib  gekleidet  und  ahmte  die  Stimme  und  jede  Eigen- 
heit  des   Weibes   nach.     Als   Wilson    den    Häuptling 


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-     110    — 

P  o  m  ä  r  r  e  fragte,  wer  jener  sei,  antwortete  dieser :  ,Taata, 
mawhu',  d.  h.  ein  Mann,  ein  Mahhu,  und  als  Wilson 
seinen  Blick  auf  den  ,Kerl"  heftete,  verbarg  dieser  sein 
Gesicht;  anfangs  legte  der  Unkundige  dieses  als  Scham 
aus,  bald  aber  erkannte  er,  dass  es  ein  Weibertric  sein 
solle  (Wilson  318 — 319).  Diejenigen  Männer  auf  Tahiti, 
welche  nicht  reich  an  Zeugen,  an  Schweinen  oder  an 
englischen  Artikeln  waren,  mit  denen  sie  ein  Weib  sich 
hätten  erkaufen  können,  mussten  ohne  ein  solches  sich 
behelfen;  das  führte  nun  zwar  nicht  zur  Enthaltsamkeit, 
wohl  aber  dahin,  dass  sie  in  erschreckendem  Maasse  Onanie 
trieben,  welche  sie  nachher  unfähig  machte,  Weibern  bei- 
zuwohnen —  aber  Wilson  lehnt  es  ab,  alle  „Verbrechen 
dieser  Art",  welche  bei  den  Tahitiern  vorkamen,  mitzu- 
teilen, da  sie  »zu  entsetzlich*  seien  (311),  und  will  lieber 
einen  Schleier  über  Gewohnheiten  decken,  die  „zu  scheuss- 
lich*  wären,  als  dass  man  ihrer  erwähnen  könnte  (319). 
Turnbull  sah  (282—283)  Anfangs  des  19.  Jahrhunderts 
zwei  Mahhus,  den  einen  im  Gefolge  Pomärre's,  den 
anderen,  wie  er  an  TurnbulPs  Wohnung  vorüberging. 
Die  „Gottlosigkeit*  dieser  Menschen  schien  ihm  gross  ge- 
nug, um  das  unmittelbare  Gericht  des  Himmels  auf  sie 
herabzurufen;  er  glaubte,  Gottes  Hand  sei  unter  ihnen 
schon  sichtbar,  und  die  Tahitier  würden,  wenn  sie  sich 
nicht  änderten,  unter  der  Zahl  der  Nationen  nicht  mehr 
lange  verbleiben;  das  Schwert  der  Krankheit  sei  nicht 
minder  wirksam  als  die  Wasser  der  Sündflut!  Turn- 
bull (282)  bestätigt  mit  Genugthuung  Wilson 's  Angabe, 
dass  den  Mahhus  Gunst  fast  nur  von  Seite  der  Häupt- 
linge zu  Teil  werde.  Der  Kronprinz  Otoo,  Sohn  Po- 
m  ärre's,  sei  ein  „Ungeheuer  von  Ausschweifung*  gewesen 
und  seine  »Laster  spotteten  aller  Beschreibung*.  Ellis 
traf  gegen  1830  ähnliche  Verhältnisse  an;  er  weist 
aber  nur  auf  sie  hin,  ohne  sie  genau  zu  bezeichnen; 
er  wünscht  alles   in  Dunkelheit  zu  lassen,  so  dass  man 


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-   111  — 

nie  recht  weiss,  was  er  eigentlieh  meint.  Es  herrschten 
nach  ihm  auf  Tahiti  , unnatürliche  Gebräuche^,  für  deren 
Ausübung  man  nicht  nur  die  Sanktion  der  Priester  fand, 
sondern  sogar  auf  das  direkte  Beispiel  einer  Gottheit  als 
vorbildlich  hinweisen  konnte  (Ellis  I  340;  Moeren- 
hout  II  168;  Waitz-Gerland  VI124;  Müller  301). 
Die  Schilderung,  welche  der  Apostel  Paulus  (Römer  1, 27) 
von  den  Heiden  gebe,  passe  vollkommen  auch  auf  die 
Tahitier  (Ellis  II  25).  Unter  den  späteren  christlichen 
Gesetzen  in  Huahine  befand  sich  eins,  das  XVL,  welches 
«unnatürliche  Verbrechen^  (,unnatural  crime^  betraf  und 
lebenslängliche  Verbannung  oder  siebenjährige  ununter- 
brochene schwere  Arbeit  als  Strafe  über  den  verhängte, 
welcher  ihrer  Verübung  schuldig  befunden  wurde  (Ellis 
II  432).  Moerenhout  kann  (I  229— 230)  nicht  umhin, 
seiner  Verwunderung  über  die  naive  Unbefangenheit 
Ausdruck  zu  geben,  mit  welcher  diese  aller  Verlogenheit 
baaren  Naturmenschen,  die  Tahitier,  Männer,  Frauen  und 
Kinder,  über  alles  sich  aussprachen,  jedes  Ding  beim 
richtigen  Namen  nennend;  sie  kannten  eine  Ausschweifung, 
die  ihnen  verwerflich  schien,  überhaupt  nicht;'  sie  fanden 
in  ihren  Vergnügungen  weder  Begel  noch  Maass;  es  gab 
für  sie  weder  Schande  noch  Tadel,  und  Verbrechen 
existierten  nicht  für  sie.  Schneider  (I  278 — 279)  meint. 
Turnbull  habe  die  Mahhus  richtig  als  ,monster^  be- 
zeichnet, ein  Ausdruck,  den  er  mit  ,Ungeheuer^  übersetzt 
und  acceptiert;  Ratzel  (1 177;  257)  dagegen  findet,  dass 
von  den  Ausschreitungen  bei  den  Tahitiem  viel  dem 
gesamten  Eulturzustande  der  Polynesier  zuzuschreiben  sei 
und  dass  vorzugsweise  Leichtsinn  und  Müssiggang  die 
Bedingungen  seien,  welche  die  »geschlechtlichen  Zügel- 
losigkeiten",  besonders  der  oberen  Klassen,  „ins  Unglaub- 
liche* hätten  ausarten  lassen.  Siehe  Ulrichs  Memnon  97. 


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—     112     — 

IIL  Die  amerikanischen  Naturvölker  oder  Indianer. 

Ein  genauer  Kenner  der  amerikanischen  Yölker- 
gruppe  aus  persönlicher  Anschauung,  Eduard  Pöppig, 
erklärte  1840  (374—375):  dass  die  .Verirrungen*  des 
Geschlechtstriebes  unter  den  Indianern,  von  denen  be- 
sonders die  älteren  Schriftsteller  viel  erzählten,  nicht  in 
Abrede  zu  stellen  seien;  sie  kämen  ebenso  unter  sehr 
rohen  und  in  Mangel  lebenden  Horden  wie  bei  denjenigen 
vor,  welche  in  der  entgegengesetzten  Lage  sich  befänden ; 
man  begegne  ihnen  in  Canada,  auf  den  Bergen  von  Quito 
und  in  den  Wäldern  von  Amazonas  und  Paraguay. 
Diese  Richtung  im  Geschlechtsleben  bei  den  Urbewohnem 
Ajnerikas  erscheint  um  so  auffallender,  als  derselbe  Ge- 
währsmann die  vielerorts  ausgesprochene  Behauptung  zu- 
geben zu  müssen  glaubt,  die  Indianer  legten  im  Allge- 
meinen weniger  Neigung  zum  geschlechtlichen  Umgange 
an  den  Tag  als  andere  Menschenracen;  unter  Berufung 
auf  Hennepin  und  Falkner  legt  Pöppig  dar,  dass 
dieselbe  Erscheinung  an  den  beiden  Enden  Amerikas,  in 
Louisiana  und  in  Patagonien,  beobachtet  worden  ist. 
Wilhelm  Robertson  (Geschichte  von  Ajnerika,  aus 
dem  Englischen  von  Johann  Friedrich  Schiller,  2  Bände, 
I,  Leipzig  1777,  S.  335—340)  suchte  einen  Zusammen- 
hang der  schwächeren  geschlechtlichen  Begierden  der 
Indianer  mit  äusseren  Verhältnissen  ihrer  Heimat  nach- 
zuweisen; jedoch  steht  damit  der  ausgesprochene  Trieb 
zur  Päderastie  in  schreiendem  und  anscheinend  unlös- 
lichem Widerspruche.  Den  »Fluch  der  Unfruchtbarkeit" 
hebt  auch  Martins  (1832,27)  hervor. 

Eine  seltsame  Erscheinung  unt^r  den  Indianern  sind 
nach  Klemm  (II  82)  die  Mannweiber,  die  unter 
allen  nordamerikanischen  Indianerstämmen  und  seit  den 
Zeiten  der  ersten  Entdeckung  auch  im  Süden  von  Amerika 
sich  finden. 

Nach  Mantegazza  (105)  sieht  man  von  Alaska  bis 


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—    113    — 

Darien  als  Frauen  erzogene  und  gekleidete  Jünglinge,  die 
mit  den  Fürsten  und  Herren  im  Konkubinat  leben.  Nach 
Batzel  (I  555;  562 — 563)  scheinen  Männer  in  Weiber- 
tracht, „verweibte  Männer*,  kaum  einem  Stamme  Nord- 
amerikas gefehlt  zu  haben;  sie  standen  in  Nordamerika 
den  Priestern  nahe,  wurden  aber  in  Brasilien  gering  ge- 
achtet. 

Die  Kenntnis  der  Mannweiber  allein  ist  indessen 
nicht  ausreichend,  ein  klares  Bild  von  der  unter  den  In- 
dianern verbreitet  gewesenen  und  noch  herrschenden 
Päderastie  zu  liefern.  Hennepin  unterschied  bereits 
1697  drei  Formen  von  Männern,  welche  mit  mannmänn- 
licher Liebe  in  Zusammenhang  gebracht  werden  mussten, 
nämlich  1.  Hermaphroditen,  d.  h.  Zwitter,  Personen 
mit  angeblich  männlichen  und  weiblichen  Geschlechts- 
organen, 2.  Männer  von  weiblichem  Aussehen, 
die  sich  mit  weiblichen  Arbeiten  beschäftigten  und  weder 
auf  die  Jagd  gingen  noch  als  Krieger  in  den  Krieg  zogen; 
sie  unterschieden  sich  von  den  Hermaphroditen  dadurch, 
dass  sie  bloss  als  Männer  galten;  endlich  3.  Männer, 
welche  sich  anderer  Personen  männlichen  Geschlechts, 
unter  ihnen  auch  der  Männer  von  weiblichem  Aussehen, 
zur  Befriedigung  ihres  Geschlechtstriebes  bedienten.  Die 
Hermaphroditen  aber  wurden  wohl  mit  Unrecht  von  den 
Männern  mit  weiblichem  Aussehen  scharf  getrennt  ge- 
halten und  dürften  höchstens  einen  Unterschied  im  Grade 
der  Verweiblichung  (Effemination)  geboten  haben,  was 
denn  auch  von  Co  real  (33 — 34)  am  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts unbedenklich  angenommen  wird.  Eine  kurze 
Uebersicht  über  die  Geschichte  dieser  Effeminierten  ge- 
bietet indessen,  sie  vorläufig  auseinander  zu  halten. 

1.  Die  Hermaphroditen.  Wenn  man  den  zahl- 
reichen Schriftstellern,  welche  Hermaphroditen  oder 
Zwitter  unter  den  Indianern  gesehen  oder  von  solchen 
gehört  haben  wollen  oder   die  Angaben  anderer  über  sie 

Jahrbuch  III.  g 


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—     114     — 

iD  gutem  Vertrauen  hinnahmen,  Glauben  schenken  wollte, 
so  müsste  die  neue  Welt  nicht  nur  zur  Zeit,  als  sie  ent- 
deckt wurde,  solche  mit  mehr  oder  weniger  vollkommenen 
Zeugungsorganen  der  beiden  Geschlechter  ausgestattete 
Wesen  in  grosser  Menge  hervorgebracht  haben,  sondern 
müsste  auch  noch  jetzt  von  derlei  Geschöpfen  wimmeln 
und  ein  Dorado  für  den  Anatomen  sein.  Wenn  jedoch, 
was  selten  geschah,  an  einem  solchen  hypothetischen 
Wunder  einmal  eine  Ocularinspektion  vorgenommen 
wurde,  so  stellte  es  sich  jedesmal  als  einen  normal  ge- 
bauten Mann  heraus,  welchem  weibliche  Formen,  Be- 
wegungen und  Triebe  anhafteten,  so  dass  es  nicht  um 
einen  rein  somatischen,  wie  man  vermutete,  sondern  um 
einen  psychophysischen  Hermaphroditismus  sich  handelte. 
Hermaphroditen  in  grosser  Zahl  sollten  besonders  die 
nordamerikanischen,  von  vielen  Indianerstämmen  be- 
wohnten Gebiete  Florida  und  Louisiana  zur  Zeit  ihrer 
Unterwerfung  unter  europäischen  Besitz  beherbergt  haben; 
ihr  Vorkommen  in  Florida  behauptete  anscheinend  zu- 
erst 1586  Laudonnifere  (ed.  1853,  9)  und  1591  le 
Moyne  (4),  später,  1717  Dapper  (56)  und  1744Charle- 
voix  (127);  eine  ausführliche  Abhandlung  über  die 
Hermaphroditen  von  Florida  verfasste  1769  Pauw:  »Des 
Hermaphrodites  de  la  Floride*  (LI  83  —  117),  in  der  er 
die  Sage  von  ihnen  für  Gewissheit  ihrer  Existenz  nahm 
und  eine  Erklärung  für  sie  zu  geben  versuchte ;  der  un- 
gläubige Zimmermann  (V  70 — 71)  entschuldigt 
ihre  Erwähnung  lediglich  mit  dem  Ansehen,  in  welchem 
Pauw  stehe,  und  meint,  Pauw  habe  sich  von  dem 
Wunsche  leiten  lassen,  durch  ihre  Hermaphroditen  die 
Ausartung  der  Amerikaner  noch  deutlicher  bewiesen  zu 
sehen;  er  giebt  verschleiert  der  Ansicht  Ausdruck,  dass 
es  bei  den  Hermaphroditen  nur  um  als  Weiber  ver- 
kleidete und  gezierte  Mannspersonen  sich  gehandelt  habe. 
Ganz    ohne    Bedenken     äussert    Schneider    ([    288), 


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—    115    — 

der  Eifer,  mit  welchem  Paiiw  , diese  Kinäden*  zu  Her- 
maphroditen umzustempeln  gesucht  habe,  könne  ihm  nur 
ein  Lächeln  abnötigen.  Lafitau  (153)  vermochte  1724 
in  den  Hermaphroditen  nur  effeminierte  Männer  zu  er- 
blicken, deren  Wesen  er  mit  der  griechischen  Liebe  in 
Verbindung  bringt  und  idealisiert,  und  auch  Bruzen 
La  Martini fere  (93)  schliesst  sich  1726  ganz  an  Coreal 
an,  nach  dem  diese  angeblichen  Hermaphroditen  eben 
nichts  als  effeminierte  Männer  waren,  welche,  wie  Coreal 
(34)  hinzufügte,  in  gewissem  Sinne  ja  auch  wirkliche 
Hermaphroditen  sind  („qui  en  un  sens  sont  de  veritables 
Hermaphrodites**,  der  Wortlaut,  den  La  Martini^re 
von  Coreal  übernimmt).  Dumont  (247 — 249)  mochte 
1753  zwar  nicht  behaupten,  dass  es  in  Louisiana  Herma- 
phroditen unter  den  Indianern  nicht  gegeben  hätte,  da 
nach  fast  allen  Schriftstellern  dieses  Land  voll  von 
solchen  Leuten  gewesen  sein  solle;  allein  er  ver- 
sichert seinerseits,  auf  seinen  weiten  Reisen  in  jenem 
Lande  nicht  einen  einzigen  Hermaphroditen  angetroffen 
zu  haben;  er  glaube,  die  Fabel  von  ihnen  beruhe  aut 
einer  Verkennung  der  Aufseher  der  Frauen  bei  den 
Natchez  und  anderen  Stämmen,  welche  nicht  nur  ihr 
Haar  lang  trugen  und  in  weiblicher  Tracht  einhergingen, 
sondern  den  Barbaren  wahrscheinlich  auch  zur  Befriedig- 
ung ihrer  Lüste  gedient  hätten,  wenn  sie  selbe  auf  deren 
Jagd-  und  Kriegszügen,  die  unter  Zurücklassung  der 
Frauen  vor  sich  gingen,  begleiteten.  Nicht  ohne  wesent- 
liches Interesse  ist  übrigens,  dass  in  Louisiana  auch  die 
in  den  Tempeln  auf  Fellen  schlafenden  Priester  in  weib- 
licher Tracht  erscheinen  mussten     (Bastian  HI  309). 

Eine  von  einer  Kupfertafel  begleitete  Schilderung 
der  Thätigkeit  der  Hermaphroditen  in  Florida  liegt  vor 
von  Jacobus  le  Moyne  1591;  eine  nach  einem  etwas 
verkleinerten  photographischen  Abdruck  dieser  Kupfer- 
tafel (Fol.  XVII)  hergestellte  Textabbildung  wurde   der 

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55 


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—     118    — 

vorliegeoden  Abhandlung  beigefügt;  die  Hermaphroditen 
sind  hier  in  langem  Haare,  als  Pfleger  ihrer  erkrankten 
Landsleute,  die  sie  teils  auf  dem  Rücken,  teils  auf  Baiiren 
in  die  für  Kranke  bestimmten  Pflegestätten  tragen,  dar- 
gestellt. Diese  Hermaphroditen,  von  kräftigerer  und  mehr 
ausdauernder  Konstitution  als  die  Weiber,  wurden  nach 
le  Moyne  in  Florida  als  Träger  von  Lasten  aller  Art 
beschäftigt;  besonders  trugen  sie  den  in  den  Krieg 
ziehenden  Häuptlingen  deren  Gepäck  nebst  Speisevor- 
räten; die  durch  Verwundung  oder  {Erkrankung  Kampf- 
unrähigen  schafften  sie  vom  Platze,  die  Toten  auf  die 
Grabstätte;  von  ansteckenden  Krankheiten  Befallene 
brachten  sie  an  abgelegene  Orte  und  pflegten  sie  dort 
bis  zu  ihrer  Genesung. 

Nach  de  La  hont  an  (142)  gab  es  bei  den  Illinois 
ausser  notorischen  Päderasten  noch  Hermaphroditen,  welche 
beider  Geschlechter  ohne  Unterschied  sich  bedienten 
(„mais  ils  fönt  indiff5äremment  usage  de  deux  sexes"), 
eine  Behauptung,  welche  wohl  nur  auf  Vermutung  be- 
ruht. Ross  Cox  schilderte  (169 — 171)  seine  seltsame  Be- 
gegnung mit  einem  „hermaphroditischen*  Häuptlinge  der 
Kettle-Indianer;  1814  spricht  de  la  Salle  (283)  von 
Hermaphroditen  bei  den  Illinois  als  einer  Wirkung  des 
Klimas  ihres  Heimatlandes,  und  auch  noch  im  vorletzten 
Jahrzehnt  des  19.  Jahrhunderts  ist  von  sogenannten  Herm- 
aphroditen unter  den  Indianerstämmen  Nordamerikas 
im  Osten  und  Westen  des  Felsengebirges  seitens  einiger 
Aerzte  im  Dienste  der  Vereinigten  Staaten  die  Rede 
(Holder  (523).  Holder  selbst  hat  einen  im  Absaroke- 
Stamme  lebenden  jungen  Indianer,  der  weiblich  gekleidet 
ging  und  den  er  deshalb  für  hermaphroditisch  hielt,  nach 
dem  Vorgange  Hammond's  körperlich  genau  unter- 
«ucht  und  zu  seiner  Ueberrasehung  als  durchaus  normalen 
Mann  befunden;  mehrere  Jahre  hatte  die  junge  Rothaut 
als  weiblicher  Teil,  wie  man  sagte,  einer  ehelichen  Gemein- 


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—    119    — 

Schaft  mit  einem  wohl  bekannten  männlichen  Indianer 
des  Absaroke-Starames  zusammengelebt  (Holder  624); 
Holder  lüftet  auch  den  Schleier  über  den  unter  den 
Päderasten  des  Absaroke-Stammes  üblichen  Akt  der  ge- 
schlechtlichen Befriedigung:  es  wird  der  Penis  statt  in 
den  Mastdarm  in  den  Mund  eingeführt.  Wenn  Holder 
auf  Grund  dieser  Befunde  das  Vorkommen  der  Päderastie 
bei  den  Indianern  in  Abrede  stellt  oder  als  einen  selteneren 
Vorgang  bezeichnet,  so  ist  das  nur  ein  ungenauer  Ausdruck ; 
die  Päderasten  unter  den  Indianern  geben  der  Irrumation 
und  Fellation  als  Befriedigungsakt  den  Vorzug  (während, 
wie  sich  später  zeigen  wird,  bei  den  Itelmen  die  Pädi- 
kation  ausgeübt  zu  werden  pflegt). 

2.  Die  verweibten  Männer  oder  Effemi- 
nierten.  Von  verweibten  Männern  unter  den  Indianern 
handelte  bereits  1555  Cabe^a  de  Vaca  (fol.  36  am 
Schlüsse;  femer  ed.  1852,  537 — 538);  er  scheint  sie  für 
Impotente  angesehen  zu  haben.  Wie  weibliche  Personen 
von  so  männlicher  Herzhaftigkeit,  dass  sie  sich  sogar  aus 
dem  Kriegshandwerk  eine  Ehre  machten,  unter  den  In- 
dianern gefunden  wurden,  so  gab  es  auch  andererseits 
Mannspersonen,  welche  sich  wie  Weiber  kleideten.  Bei 
den  Illinois,  den  Sioux,  in  Florida,  Louisiana  und  Yucatan 
lebten  junge  Männer  in  Weibertracht,  die  sie  dann  zeitlebens 
beibehielten;  sie  hatten  Gefallen  an  weiblichen  Beschäf- 
tigungen, verheirateten  sich  niemals  mit  Weibern,  zogen 
nicht  in  den  Krieg,  wohnten  aber  mit  Vorliebe  religiösen, 
auf  das  Gemüt  wirkenden  Zeremonien  bei  An  vielen 
Orten  erlangten  sie  dadurch  ein  Ansehen,  welches  sie  als 
einem  über  den  gemeinen  Mann  erhabenen  Stande  ange- 
hörig betrachten  Hess  (Lafitau  I  52 — 54;  Baum- 
garten I  25 — 26;  Marquette  52 — 53).  Martins 
(1832,  27—28)  ist  nicht  geneigt,  die  Männer,  welche  sich 
als  Weiber  kleideten,  sich  ausschliesslich  weiblichen  Be- 
schäftigungen  widmeten,  spannen,  webten,  Geschirre  an- 


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—     120    — 

fertigten  u.  dergl.,  als  eine  besondere  Klasse  anzusehen; 
,dass  diese  Sitte  so  seltsam  travestierter  Männer,  welche 
vorzugsweise  und  zuerst  von  den  Illinois,  den  Sioux  und 
anderen  Indianern  in  Louisiana,  Florida  und  Yucatan  be- 
richtet worden,  so  fem  von  jenen  Ländern,  auch  im  süd- 
lichen Brasilien  wieder  erscheint,  ist  um  so  merkwürdiger 
als  überhaupt  das  Wesen  und  die  Bestimmung  solcher, 
Mannweiber  ein  Bäthsel  in  der  Ethnographie  Amerikas 
ausmacht.  Uebrigens  scheinen  alle  Berichte  darin  über- 
einzustimmen, dass  die  Mannweiber  bei  den  Indianern 
in  geringer  Achtung  stehen.  Von  einem  besonderen 
Kultus  oder  einer  Ordensverbrüderung  findet  man  keine 
Spur.  Es  ist  mir  daher  wahrscheinlicher,  dass  sie  mit 
der  so  tief  eingewurzelten  Sittenverderbnis  der  Indianer 
zusammenhängen,  als  dass  man  von  ihnen  auf  eine  Sekte 
von  Entsagenden  und  sich  in  freiwilliger  Demut  Er- 
niedrigenden schliessen,  oder,  wie  Lafitau  gethan,  in 
ihnen  Priester  der  Dea  syria,  wenn  gleich  in  tiefster  Aus- 
artung, erkennen  dürfte«*  (Martins  1832, 28;  1867,74—75). 
Die  Männer,  welche  sich  gleich  Weibern  kleideten 
und  alle  Geschäfte  der  Weiber  besorgten,  wurden  von 
den  jungen  Männern  förmlich  wie  Weiber  behandelt, 
lebten  auch  in  einem  gewissen  „imnatürlichen  Umgange«* 
mit  ihnen;  der  alte  Charbonneau,  nachdem  er  37  Jahre 
im  Osten  des  Felseugebirges  geweilt  hatte,  behauptete 
sogar,  dass  in  dieser  Hinsicht  die  Mannweiber  der  Canadier 
den  Weibern  vorgezogen  würden;  während  Prinz 
Maximilian  zu  Wied  in  Nordamerika  weilte  (1882 
bis  1834),  sollen  sich  nicht  viele  solcher  Geschöpfe  in 
den  von  ihm  besuchten  Indianerstämmen  befunden  haben, 
unter  den  Mandan's  nur  ein  grosser,  taubstummer  Mann 
und  unter  den  Mönnitari's  zwei  bis  drei  solcher  Individuen 
(W  ied  II  133);  Wied  giebt  (II  133,  Fussnote)  ausdrück- 
lieh  an,  dass  der  Gebrauch  der  Mannweiber  für  die  In- 
dianerstämme der  Sauk's,    Foxes,   Mandan's,   Mönnitari's 


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—    121    — 

Crow's,  Blackfeet's,  Dakota's,  Assiniboin's,  Arrikkara's  uud 
die  meisten  NatioDen  des  innem  Nordamerika  erwiesen 
sei,  mit  Ausnahme  allein  der  Menomonie's  (Folles  avoines) 
und  der  Ottdwa's  (Courtes  oreilles).  Das  Lebensalter,  in 
welchem  diese  männlichen  Indianer  zuerst  ihr  Geschlecht 
verleugnen,  indem  sie  ihren  Körper  in  weibliche  Kleidung 
hüllen,  ist  nicht  stets  das  gleiche.  Bisweilen  geschieht  es 
schon  sehr  früh,  im  kindlichen  Alter,  aus  unbekannten 
Gründen  (Marquette  52);  manche  Väter  haben  dann 
ihre  Kinder  von  ihrem  Vorhaben  abzubringen  gesucht, 
ihnen  zugeredet,  auch  schöne  Waffen  und  männliche 
Kleidungsstücke  ihnen  dargeboten,  ihnen  Gefallen  an 
männlichem  Treiben  einzuäössen  sich  bemüht,  und  wenn 
nichts  fruchtete,  eine  Sinnesänderung  mit  Strenge  und 
Gewalt  herbeizuführen  versucht,  ja  die  Knaben  gezüch- 
tigt und  geprügelt,  ohne  zum  Ziele  zu  kommen  (Wied 
II  133).  In  anderen  Fällen  nehmen  Indianer  erst  im 
vorgerücktem  Mannesalter  diese  Metamorphose  vor;  sie 
erklären  alsdann,  dass  ein  Traum  oder  eine  höhere  Ein- 
gebung ihnen  dieselbe  als  Medizin  oder  als  ihnen  zum 
Heile  anempfohlen  habe  und  sie  beharren  ohne  Be- 
denken bei  ihrem  Entschlüsse,  welcher  ihnen  zwar  eine 
gewisse  Verachtung  zuzieht,  aber  dennoch  dem  ganzen 
Stamme  als  heilig  gilt.  So  ersetzte  ein  gefeierter  Krieger 
des  Otoe-Stammes,  einem  Traume  folgend,  seinen  Krieger- 
schmuck durch  ein  Weiberkleid,  wie  John  T.  Irving 
(207 — 212)  in  einem  besonderen  Kapitel  ^The  Metamor- 
phosis"  ausführlich  geschildert  hat.  Von  dem  starken 
Einflüsse  ihrer  lebhaften  Phantasie  auf  ihr  äusseres  Leben 
legt  auch  die  Erzählung  eines  Sauk-Indianers  Zeugnis  ab, 
nach  der  ein  Mann,  dem  die  böse  Gottheit  in  Gestalt  des 
Mondes  erschiene,  sich  als  Weib  kleiden  und  als  solches 
sich  hingeben  müsse  („become  cinaedi'*  Keating  I  210 
—211).  Auch  erzählen  nach  Wied  (II  133)  die  In- 
dianer eine  Fabel,   an    welche  sie  glauben:     Man  wollte 


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—     122    — 

einst  eiDen  Maun  zwingen^  die  Weiberkleiduüg  nicht  an- 
zulegen; ein  ausgezeichneter  Krieger  bedrohte  ihn;  es 
kam  zu  heftigem  Streite,  in  dessen  Folge  das  Mannweib, 
von  einem  Pfeile  tötlich  getroffen,  zusammenbrach :  statt 
seiner  Leiche  jedoch  fand  man  am  Boden  einen  Haufen  von 
Steinen  und  zwischen  ihnen  den  Pfeil.  Seitdem  mischt 
sich  niemand  mehr  in  diese  Angelegenheit,  die  man  viel- 
mehr als  von  höheren  Mächten  eingesetzt  und  geschützt 
ansieht.  —  Männer  in  Weiberkleidung  unter  den  Indianern 
werden  aber  auch  noch  sonst  vielfach  erwähnt,  so  von 
Bossu,  BernalDiaz,  Duflot  de  Mofras,  Dum  ont, 
Falkner,  Lopez  de  Gomara,  Hennepin,  de 
Herrera,  James,  Peter  Martyr,  Mc  Coy,  Mc 
Kenney,  Oviedo,  Perrin  du  Lac,  Piedrahita, 
Kamusio,  de  la  Salle,  Tanner;  fast  alle  diese  Schrift- 
steller haben  aus  eigener  Anschauung  berichtet,  während 
andere,  wie  Bastian,  Man  tegazza,Peschel,  Ratzel, 
Schneider,  Schnitze,  Schurtz  und  nament- 
lich Theodor  Waitz  das  ihnen  bekannt  gewordene 
Quellenmaterial  zusammenstellten.  Die  Männer  in  Weiber- 
tracht gaben  zweifellos  die  Hauptveranlassung,  dass  die 
Indianer  ganz  allgemein  von  den  Ethnographen  der 
Päderastie  beschuldigt  werden,  obwohl  doch  sicher  derlei 
Akte  bei  ihnen  in  den  wenigsten  Fällen  offen  zur  Wahrneh- 
mung gelangt  sein  dürften.  Bei  der  ungeheuer  grossen 
Verbreitung  aber,  welche  die  ausgesprochene  Neigung,  als 
Weib  zu  erscheinen,  um  die  Gunst  der  Männer  zu  ge- 
winnen, unter  den  Indianern  hatte,  ist  es  kaum  verwun- 
derlich, dass  von  Seite  der  Ethnographen  eine  Menge 
von  Namen  berichtet  wird,  mit  denen  man  bei  den 
verschiedenen  Stämmen  diese  falschen  Weiber  belegte,  wie 
agokwas,  bardaches,  böte,  burdash,  camayoas,  cudinas,  cus- 
mos,  joyas,  maricones,  mihdäckä,  mujerado.  Uebrigens  darf 
nicht  aasser  Acht  gelassen  werden,  dass  Weibertracht  bei 
manchen  Indianerstämmen  auch  zur  Strafe  als  Beschimpfung 


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-     123    — 

angelegt  wurde.  So  erzählt  Waitz  (III  23),  ein  Krieg 
der  Delaware  mit  den  Irokesen  1742  habe  mit  dem  denk- 
würdigen Ereignisse  geendet,  dass  die  gänzlich  gebrochenen 
Delaware's  „zu  Weibern  gemacht",  d.  h.  ihnen  Weiber- 
röcke von  den  Irokesen  angezogen  wurden,  um  sie  für  einen 
Vertragsbruch  zu  strafen,  wie  diese  sagten,  um  sie  als 
allgemeine  Friedenstifter  zu  bezeichnen,  wie  sie  selbst  an- 
gaben ;  nur  die  Deutung  der  Thatsache,  nicht  diese  an  sich 
sei  zweifelhaft.  Auch  wurde  ihnen  erklärt,  sie  könnten 
Land  nicht  verkaufen,  da  sie  besiegt  und  zu  Weibern 
gemacht  seien.  Und  Bastian  (III  313)  teilt  mit,  über 
die  Niederlage  Guanar-Auqui^s  erzürnt,  habe  Guascar 
ihm  Frauenkleider  gesendet,  damit  er,  mit  diesen  angethan, 
nach  Cuzco,  der  Residenz  des  Inca  von  Peru,  zurückkehre. 
Anderseits  wird  von  vielen  Stämmen  angegeben,  dass  ihre 
männlichen  Priester  Weiberkleider  tragen  mussten. 

3.  Von  den  Männern,  die  seitens  der  Mannweiber 
begehrt  werden  und  Erhörung  gewähren,  ist  selten  die 
Rede;  sie  werden  dem  ungeübten  Auge  merkliche  Unter- 
schiede von  den  übrigen  Männern  weder  in  ihrer  Tracht 
noch  in  ihrer  sonstigen  Erscheinung  aufgewiesen  haben, 
und  das  ist  um  so  wahrscheinlicher,  als  vielmals  von 
Männern  erzählt  wird,  welche  einen  Unterschied  zwischen 
Weibern  und  Mannweibern  als  Gegenstand  des  Liebes- 
genusses nicht  zu  machen  pflegten  (Dumont  249; 
Tann  er  I  208);  indessen  gab  es  auch  solche,  welche 
jeden  Umgang  mit  Weibern  mieden,  es  vorziehend, 
sich  ganz  auf  den  geschlechtlichen  Verkehr  mit  Manns- 
personen zu  beschränken  und  mit  solchen  einen  Umgang 
zu  pflegen,  dem  bisweilen  sogar  durch  eine  Heirat  eine 
besondere  Weihe  verliehen  ward.  Quellenbelege  dafür, 
dass  Ehen  unter  Männern  bei  den  Indianern  vorkamen, 
bin  ich  nicht  in  der  Lage  beizubringen,  da  durch  eine 
unglückliche  Verkettung  von  Umständen  gerade  die  auf 
die  Heiraten    unter  Indianern  Bezug  nehmenden  Werke 


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—    124     — 

mir  unzugänglich  blieben.  Von  solchen  maunmännlichen 
Ehen  teilt  aber  Bastian  einige  Beispiele  mit.  Bei  den 
calilbrnischen  Indianern  fanden  ausser  den  gemischten 
Ehen  auch  Heiraten  von  Männern  mit  Männern  statt; 
sie  geschahen  öffentlich,  aber  ohne  die  sonst  gebräuchlichen 
Zeremonien;  die  zur  Weiberrolle  bestimmten  Männer 
wurden  schon  in  der  Jugend  ausgesucht  und  in  den  Ge- 
schäften der  Weiber,  in  ihrer  Art,  sich  zu  kleiden,  zu 
gehen  und  zu  tanzen,  unterrichtet,  so  dass  sie  fast  ganz 
den  Weibern  glichen.  Da  sie  stärker  waren  als  diese, 
und  deshalb  zu  den  mühsamen  Geschäften  tauglicher,  so 
wurden  sie  gewöhnlich  von  den  Häuptlingen  und  Aeltesten 
geheiratet,  denn  während  die  Männer  nichts  tbaten,  als 
fischen,  jagen  und  ihre  Waffen  herrichten,  waren  den 
Weibern  alle  häuslichen  Arbeiten  und  Feldgeschäfte  über- 
tragen (Bastian  111  314  nach  Osswald,  aus  dem  bei 
Schnitze  1900,  103,  ein  Ostwald  geworden  ist,  der 
aber  wahrscheinlich  Oswald  heisst;  das  von  Bastian 
nicht  angegebene  Quellenwerk  habe  ich  bis  jetzt  nicht 
eimittelt).  Im  Westen  des  Felsengebirges  bei  den  gebildeten 
^Tahus**  verheirateten  sich  Männer  mit  Mannweibern  nach 
Castaileda  und  Alarcon  bei  Bastian  (III  313). 

Unter  den  Indianerstämmen  wurde  übrigens  die 
Päderastie  sehr  verschieden  bewertet.  Meistens  nur  ge- 
duldet und  von  gewissen  Ständen,  z.  B.  dem  Webrstande, 
verachtet  war  sie  bei  den  Chacta's,  den  Mandan's,  in 
Califoniien  (Bossu  77;  Catlin  I  112—117;  Duflot  II 
871),  während  ihr  im  alten  Guatemala  staatliche  Pflege  zu 
Teil  wurde  (Brasseur  II  77;  Bastian  III  307—308); 
in  Peru  mit  schweren  Strafen  bedroht  (Montesinos 
102 — 107j  galt  sie  anderwärts,  in  Verapaz  und  bei  den 
Pueblo's  eine  religiöse  Sitte,  als  heilig  (Torquemadall  1. 
12  c.  11;  Hammond  1891,  114). 

Diesen  Thatsachen  gegenüber  konnte  de  las  Casas 
1613   (149 — 150)  mit   der  fast  vollständigen  Ableugnung 


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—    125    — 

des  Vorkommens  der  ^abscheuHgen  Sünde  wider  die 
Natur"  unter  den  Indianern  nur  den  gewiss  edlen  Zweck 
im  Auge  haben,  die  Spanier  die  Besehuldigimg  roher 
Grausamkeit  in  ihrer  Behandlung  der  halbnackten  und 
ihnen  gegenüber  fast  wehrlosen  Völker  Amerika's,  welche 
durch  eben  ^dieses  Laster*  vorwiegend  gerechtfertigt 
sein  sollte  (Oviedol.  3  c.  6),  um  so  tiefer  empfinden  zu 
lassen.  „Man  sagt  wohl,"  so  beschliesst  de  lasCasas  den 
Passus  des  6.  Beweises,  Spanier  beschuldigten  die  India- 
ner fälschlich  der  Sodomiterei,  „dass  solcher  Leute  etwa 
an  einem  Orte  sein  sollen,  aber  derselbigen  halber  sollte 
nicht  diese  ganze  neue  Welt  für  solche  ausgeschrieen 
werden." 

1.  Die  Indianer   der  Nordwestküste    Amerika's 

Nach  Roquefeuil  (II  220)  findet  sich  die  „Art  der 
Ausschweifung  orientalischer  Völker*  auch  bei  allen  India- 
ner-Stämmen der  Nordwestküste  von  Amerika  wieder; 
die  Tabakspfeifen  und  Stöcke  der  Nutka-(Nootka-) 
Indianer  sind  oft  mit  Figuren  geschmückt,  welche  die 
„widerlichste  und  schmutzigste  Verderbtheit"  zur  Dar- 
stellung bringen ;  der  Cynismus  der  Männer  dieser  Stämme 
steht  in  auffallendem  Gegensatze  zu  dem  zurückhaltenden 
Wesen  der  Frauen,  deren  Tracht  auch  die  vieler  Männer 
ist  (Waitz  III  333;  Schneider  I  287;  Mante- 
gazza  105). 

2.  Die  Indianer  Nordamerika^s. 

Perrin  duLac(I  35)  hier  fand  unter  allen  Nationen 
Männer  in  Weiberkleidern,  welche  eben  den  Arbeiten 
unterworfen  waren,  die  die  Weiber  eigentlich  verrichteten; 
sie  zogen  nicht  in  den  Krieg,  gingen  nicht  auf  die  Jagd, 
sondern  dienten,  den  Umständen  gemäss,  zur  Befriedigung 
der  Leidenschaft,  oft  beider  Geschlechter;  diese  Männer, 


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—    12ß    — 

welche  „Liebe  zur  Trägheit  und  eine  verabscheuungswerte 
Sittenlosigkeit  zu  dieser  Lebensart  verleitet*  habe,  würden 
von  den  Kriegern,  die  sie  auch  zu  den  niedrigsten 
Arbeiten  gebrauchten,  verachtet.  Aehnliches  berichtet 
Tanner  (I  205,  Waitz  III  113).  Bromme  (I  164) 
lobt  das  züchtige  und  anständige  Betragen  der  Indianer 
Nordamerikas  im  Umgänge  beider  Geschlechter;  ein  un- 
gesittetes, geiles  Betragen  wäre  öffentlich  nie  unter  ihnen 
wahrzunehmen  und  hierin  überträfen  sie  die  Völker  der 
alten  Welt  bei  weitem ;  dessen  ungeachtet  seien  sie  von 
der  Unzucht  nicht  frei  und  „unnatürliche  Sünden  unter 
ihnen  nicht  ungewöhnlich*.  Ueber  mehrere  Indianer- 
stämme berichteten  Lafitau  (I  52);  Wied  (I  401;  II 
132—134);  Bastian  (III  310;  312),  der  ihre  Mannweiber 
mit  dem  griechischen  Worte  Enareer  bezeichnet,  was 
von  Schultze  (1900,  163)  gänzlich  miss  verstanden  wurde; 
Waitz  (III  113);  Mantegazza  (105). 

Die  Tschippewäer  (Ojibuä).  Mc  Kenney  giebt 
(315—316)  an,  die  Tschippewäer  hätten  auch  gleich  den 
Aleuten  ihre  schopans,  und  diese  Mannweiber  seien 
wahren  Weibern  so  ähnlich,  dass  man  nicht  einmal  ihre 
Stimme  von  der  der  Weiber  zu  unterscheiden  vermöchte 
(Wied  II  132).  Die  frischeste  Schilderung  von  dem 
Treiben  der  Mannweiber,  welche  mir  bekannt  geworden 
ist,  rührt  von  Tanner  her,  und  ich  will  nicht  verab- 
säumen, dieselbe  nach  der  mir  allein  vorliegenden  fran- 
zösischen Uebersetzung  von  de  Blosseville,  in  das 
Deutsche  übertragen,  unverkürzt   hier  wieder  zu  geben: 

^Im  Laufe  dieses  Winters  besuchte  uns  der  Sohn  des 
berühmten  Ojibbeway  Häuptlings  Wesh-ko-bug  (der 
Milde),  welcher  am  Leech-See  wohnt.  Dieser  Mann 
gehört  zur  Zahl  derer,  welche  sich  dem  Weiberberufe 
widmen  und  welche  die  Indianer  auch  Weiber  nennen. 
Solche  hat  die  Mehrzahl  der  Indianerstämme,  vielleicht 
sogar  ein  jeder  Stamm;  sieheissen  gewöhnlich  A-go-kwas 


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—    127    — 

Dieser  Häuptlingssohn,  mit  Namen  Ozaw-wen-dib  (das 
gelbe  Haupt),  war  eine  Person  im  Alter  von  fast  50  Jahren 
und  hatte  mehrere  Männer  gehabt.  Ich  weiss  nicht,  ob 
sie  mich  zuvor  gesehen  hatte  oder  mich  nur  vom  Hören- 
sagen kannte;  allein  sie  zögerte  nicht,  mich  wissen  zu 
lassen,  sie  käme  von  weit  her,  um  mich  zu  sehen,  und 
hofile,  mit  mir  zusammen  zu  leben.  Sie  wiederholte  des 
öfteren  ihre  Anerbietungen,  und  ohne  sich  durch  meine 
Abweisung  entmutigen  zu  lassen,  verfolgte  sie  mich  mit 
ihren  ^viderlichen  Aufdringlichkeiten  so  lange,  bis  sie 
mich  gleichsam  aus  der  Hütte  verjagte. 

„Die  alte  Net-no-kwa,  die  das  vollkommen  durch- 
schaute, lachte  über  meine  Verlegenheit  und  meine  Scham- 
haftigkeit,  als  das  gelbe  Haupt  seine  Verfolgungen  wieder 
aufnahm;  ja  sie  schien  den  Häuptlingssohn  fast  zu  er- 
mutigen, in  unserer  Hiltte  zu  verweilen.  Der  Agokwa 
zeigte  übrigens  viel  Geschicklichkeit  in  verschiedenen 
weiblichen  Obliegenheiten,  die  ihn  ja  sein  ganzes  Leben 
lang  beschäftigt  hatten;  schliesslich,  am  Erfolge  seiner 
Liebeswerbungen  bei  mir  verzweifelnd  oder  auch  vielleicht 
diurch  den  in  unserer  Familie  allermeist  herrschenden 
Hunger  verjagt,  verschwand  Ozawwendib,  und  ich 
fasste  schon  Hoffnung,  von  seinen  Nachstellungen  befreit 
zu  bleiben.  Allein  nach  Verlauf  von  2 — 3  Tagen  schleppte 
er  gedörrtes  Fleisch  herbei  und  sagte  ims,  er  habe  die 
Truppe  des  Wa-ge-to-tha-gun  getroffen  und  sei  vom 
Häuptlinge  beauftragt  worden,  uns  einzuladen,  mit  ihm 
zusammenzustossen;  dieser  hatte  das  geizige  Verhalten 
Waw-zhe-kwaw-maish-koon's  gegen  uns  in  Erfahrung  ge- 
bracht, und  der  Agokwa  sagte  mir  in  seinem  Namen: 
,Mein  Neffe,  ich  verstehe  nicht,  dass  du  ruhig  Wild  töten 
siehst  durch  einen  anderen  Jäger,  der  viel  zu  geizig  ist, 
um  mit  dir  zu  teilen.  Komm  in  meine  Nähe;  weder  dir 
noch  deiner  Schwester  Avird  etwas  von  dem  mangeln,  was 
ich   im  Stande  sein  werde  euch   zu    verschaffen.'     Diese 


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—    128    — 

Einladung  kam  sehr  zur  rechten  Zeit  und  wir  brachen 
ohne  Verzug  auf. 

„Bei  unserer  ersten  Rast  hörte  ich,  als  ich  am  Feuer 
beschäftigt  war,  den  Agokwa  pfeifen,  um  mich  aus  ge- 
ringer Entfernung  in  den  Wald  zu  locken.  Ich  sah,  als 
ich  mich  näherte,  dass  er  die  Augen  auf  ein  Stück  Wild 
gerichtet  hielt,  und  ich  erkannte  ein  Moostier.  Ich  schoss 
zweimal,  und  zweimal  stürzte  es  und  erhob  es  sich  wieder. 
Wahrscheinlich  hatte  ich  zu  hoch  gezielt,  denn  schliess- 
lich entfloh  es.  Die  ^alte  Dame*  aber  machte  mir  lebhafte 
Vor>vürfe  und  sagt«  mir,  dass  sie  befürchte,  in  mir  nie- 
mals einen  trefflichen  Jäger  zu  sehen.  Erst  am  anderen 
Tage  gelangten  wir,  noch  vor  Einbruch  der  Nacht,  zum 
Lager  des  Wa-ge-to-te,  wo  unser  Hunger  gestillt  wurde. 
Dort  sah  ich  mich  auch  endlich  von  den  schier  unerträg- 
lich gewordenen  Nachstellungen  des  Agokwa  befreit. 
Denn  Wagetote,  der  schon  zwei  Frauen  hatte,  nahm  ihn 
als  dritte  „Frau".  Diese  Zuführung  einer  neuen  Persön- 
lichkeit in  seine  Familie  regte  einige  Scherze  an  und  ver- 
anlasste verschiedene  komische  Zwischenfälle;  aber  es 
ergab  sich  daraus  weniger  Uneinigkeit  und  Streit,  als 
wenn  er  eine  dritte  Frau  weiblichen  Geschlechts  ge- 
nommen hätte"  (Tann er  I  205—208). 

Die  Illinois.  Schon  1697  schrieb  Hennepin 
(219 — 220)  über  die  Illinois,  viele  unter  ihnen  seien 
„Hermaphroditen";  sie  seien  „schamlos  bis  zum  Laster  gegen 
die  Natur*  und  steckten  einige  ihrer  Knaben  in  die  Kleidung 
der  Weiber,  weil  sie  selbe  als  solche  benutzten;  diese 
verrichteten  dann  weibliche  Arbeiten  und  zögen  weder 
auf  die  Jagd  noch  in  den  Krieg.  Seine  Angaben  wurden 
1703  von  de  Lahontan  (I  142)  vollkommen  bestätigt: 
die  zahlreichen  „Hermaphroditen**  trügen  zwar  Weiber- 
kleidung, träten  aber  mit  Männern  und  Weibern  in  ge- 
schlechtlichen Verkehr;  die  Illinois  und  alle  anderen 
Indianerstämme  am  Mississipi    besässen   einen   „unglück- 


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—    129    — 

«eligen  Haog*^  zur  Sodomie.  Auch  Charlevoix  (1744 
II  264;  III  391)  fand  sie  der  ^^ungeheuerlichsten  Unkeusch- 
heit«  ergeben.  Nach  de  la  Salle  (237—238)  lieben  die 
Illinois  über  alle  Maassen  das  Weib^  und  Knaben  noch 
mehr  als  die  Weiber  („they  lowe  women  with  excess^  and 
boys  above  women*),  so  sehr,  dass  durch  dieses  „schreck- 
liche Laster*  die  Knaben  sehr  weibisch  werden.  Unge- 
achtet ihrer  ^^lasterhaften  Neigung^  aber  haben  sie  gewisse 
Normen,  welche  dieses  , schändliche  Laster''  bestrafen; 
sobald  ein  Knabe  sich  der  Prostitution  ergiebt,  so  wird 
er  aus  seinem  Geschlechte  ausgestossen  und  es  wird  ihm 
verboten,  Männertracht  zu  tragen,  einen  Mannesnamen  zu 
führen  und  irgend  eine  für  den  Mann  allein  bestimmte 
Arbeit  oder  Dienstleistung  zu  verrichten;  nicht  einmal  die 
Jagd  wird  ihm  gestattet;  solche  Knaben  gelten  eben  über- 
haupt als  Weiber  und  bleiben  zeitlebens  auf  deren  Be- 
schäftigungen beschränkt,  ,  werden  aber  von  den  Weibern 
noch  mehr  verachtet  und  verabscheut  als  vom  Manne* ; 
dergestalt  sind  sie  wegen  ihres  „Lasters*  dem  Gespötte 
und  der  Verachtung  beider  Geschlechter  preisgegeben. 
Ohne  jede  Einwirkung,  aus  natürlicher  Anlage,  wurde  den 
Illinois  ihr  „Laster"  fühlbar,  und  sie  führten  diese  Normen 
als  einen  Zügel  zur  Bändigung  ihrer  wilden  Sinnlichkeit 
ein,  da  ihnen  jede  Art  zwangsweiser  Einschränkung  ver- 
hasst  ist  „Hermaphroditen^  sollen  ausserdem  unter  ihnen 
sehr  häufig  sein ;  ob  diese  aber  eine  Wirkung  des  Klimas 
seien  oder  nicht,  wagt  de  la  Salle  nicht  zu  entscheiden. 
Die  Weiber  und  die  prostituierten  Knaben  verfertigen 
feine  Matten  zum  Bekleiden  ihrer  Häuser,  während  die 
Männer  auf  die  Jagd  gehen  oder  den  Boden  zur  Aus- 
saat des  indischen  Korns  pflügen.  Der  Pater  Marquette 
(52  —  53)  vermag  nicht  zu  ergründen,  welcher  Aberglaube 
einige  Illinois  und  einige  Nadouessi's,  wenn  sie  noch  jung 
sind,  veranlasse,  das  Weiberkleid  (die  Männer  gehen 
fast  nackt)  anzulegen  und   ihr  Leben  lang  zu  tragen;  es 

JftHrbuch  III.  9 

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—     130    — 

ist  ihm  ein  Geheimnis  geblieben;  sie  verheiraten  nach  ihm 
sich  niemals  und  suchen  ihren  Kuhm^  indem  sie  sich  zu 
Arbeiten  „erniedrigen*,  welche  die  Frauen  verrichten;  sie 
ziehen  zwar  mit  in  den  Krieg,  allein  sie  dürfen  sich  nur 
der  Keule  bedienen,  niemals  aber  Bogen  und  Pfeile  ge- 
brauchen, welche  ausschliesslich  Waffen  der  Männer  sind ; 
sie  wohnen  allen  Zauberspielen  und  auch  den  Festtänzen 
bei,  die  zur  Ehrung  des  Calumet  veranstaltet  werden;  sie 
singen  dort,  dürfen  aber  nicht  tanzen;  sie  werden  in  den 
Ratsvcrsammlungen  aufgerufen,  in  denen  man  ohne  ihren 
Einfluss  nichts  entscheiden  kann;  sie  gelten  in  Folge 
ihrer  aussergewöhnlichen  Lebensführung  für  Manitou's 
d.  h.  für  Genies  oder  für  auserlesene  Menschen.  Man 
vergleiche  VVaitz  III  113;  Peschel  410;  Ratzel  I 
562—563. 

Die  Kri  (Cree  oder  Knisteno).  Die  Kri's  be- 
sassen  schon  in  ihrem  wilden  Zustande  ihre  „eigenen 
Laster,  deren  einige  für  kultivierte  und  nachdenkende 
Menschen  abschreckend"  seien,  indem  Blutschande  und 
Sodomiterei  unter  ihnen  geherrscht  hätten  (Mackenzie 
107—108;  Wuttke  I  182;  Schneider  I  287;  Schnitze 
1871,51). 

Die  Black  feet  (Schw  ar  z  f  üsse).  Die  Black- 
feet's  hatten  ihre  Bardaches  nach  Wied  (II  133, 
Fussiiote). 

Die  Sak  (Sauk  oder  Sakewe).  Es  gab  unter 
den  Sak's  richtige  Kinäden,  welche  unter  Preisgabe  ihrer 
männlichen  Kleidung  die  der  Weiber  annahmen  und  mit 
ihr  auch  deren  Sklavenarbeit*;  sie  wurden  überall  mit 
Geringschätzung  behandelt,  von  einigen  jedoch  bemitleidet, 
als  hätten  sie  ihre  Arbeit  einer  unglückseligen  Bestim- 
mung, der  sie  sich  nicht  entziehen  könnten,  zu  verdanken ; 
man  nehme  an,  sie  seien  zu  dieser  Lebensweise  durch 
eine  Erscheinung  seitens  des  weiblichen  Geistes  im  Monde 


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-     131     — 

gedrängt  worden  (Keating  I  221—222;  Wied  II 
133,  Fussnote). 

Die  Irokesen  (Canadier).  Charlevoix  (1744 
VI  4—  5)  stellt  die  Irokesen  als  einen  besonders  keuschen 
Indianerstamm  dar,  für  so  lange  nämlich  als  sie  ausser 
Verbindung  mit  den  Illinois  und  anderen  Nachbarvölkern 
Louisiana's  geblieben  seien;  gewonnen  hätten  sie  durch 
solche  neue  Bekanntschaften  nichts,  als  dass  sie  diesen 
ähnlich  geworden  seien;  Verweichlichung  und  Geilheit 
habe  sich  hernach  bei  ihnen  eingestellt  und  sei  ins  un- 
geheure gewachsen;  man  sähe  bei  ihnen  seitdem  auch 
Männer,  die  sich  nicht  schämten,  Weiberkleider  anzulegen 
und  sich  allen  Beschäftigungen  des  weiblichen  Geschlechts 
zu  unterziehen,  was  zu  einer  „unbeschreiblichen  Verdorben- 
heit" geführt  habe ;  man  schütze  zwar  vor,  es  stehe  dieser 
Brauch  mit  religiösen  Vorstellungen  in  Zusammenhang; 
allein  diese  Eeligion  entspringe,  wie  wohl  auch  andere 
Vorstellungen,  der  Verdorbenheit  des  Herzens;  wenn 
der  fragliche  Brauch  jedoch  wirklich  aus  Religiosität 
hervorgegangen  sei,  so  habe  er  nichtsdestoweniger  mit 
der  lüsternen  Sinnlichkeit  geendet;  „Effeminierte"  ver- 
heirateten sich  niemals  und  gäben  sich  den  „schändlichsten 
Leidenschaften"  hin ;  auch  würden  sie  im  höchsten  Grade 
verachtet.  Vergl.  die  Stelle  bei  Waitz  III  23,  Seite  121 
dieser  Abhandlung. 

Die  Chochtha.  Die  Chochtha's  werden  von  Boss u 
(77)  als  sehr  wild  und  roh  geschildert;  für  das  Christen- 
tum fehle  ihnen  jedes  Verständnis  und  in  ihren  Sitten 
seien  sie  stark  ^pervers";  die  meisten  (^la  plupart**)  seien 
der  Sodomie  ergeben ;  derartig  „verderbte  Männer"  trügen 
langes  Haar  und  einen  kleinen  Rock,  wie  die  Weiber, 
von  denen  sie  aus  Rache  auf's  höchste  verachtet  würden. 

Die  Arikari  (Arrikkaras).  DieArikari's  haben 
ihre  Bardaches  nach  Wied  (II  133,  Fussnote). 

Die    Natchez.      Ueber    die    weiblich   gekleideten 

S)* 


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—    132    — 

Aufseher   der  Frauen   bei    den  Natchez  siehe  Dumont 
(247—249)  Seite  115  dieser  Abhandlung.  n 

Die  Dakota  (Siebenratfeuer,  Sioux,  Nado- 
wessie  oder  Ochente-Schakoan).  Von  den  Dakota- 
oder Sioux-Indianern  gab  schon  La  fit  au  1724  (I  53)  an, 
dass  auch  sie  Männer  hätten,  die  wie  Weiber  lebten. 
1824  berichtete  Keating  (1418),  die  Zahl  ihrer  Kinäden 
sei  sicher  nur  sehr  gering;  er  habe  blos  von  zweien  ge- 
hört, von  einem  in  der  Stadt  Eeoxa  und  von  einem 
bei  den  Miakechakesa ;  es  gäbe  wahrscheinlich  aber  noch 
einige  andere;  sie  ständen  in  äusserster  Verachtung. 
Nach  demselben  Gewährsmanne  (Keating  I  210—211) 
haben  die  Dakota-Indianer  den  Glauben,  die  Sonne  würde 
von  einer  männlichen,  der  Mond  von  einer  weibliehen 
Gottheit  bewohnt  und  das  Hauptvergnügen  der  weiblichen 
Gottheit  bestehe  darin,  alle  Bestrebungen  des  Mannes  zu 
durchkreuzen.  Wem  sie  während  des  Schlafes  in  seinen 
Träumen  sich  offenbare,  der  sähe  das  als  eine  Aufforder- 
ung an,  Einäde  zu  werden  und  nehme  gleich  darauf 
Weibertracht  an;  Keating  bringt  (I  211)  die  Kinäden 
mit  der  Sage  von  den  Hermaphroditen  in  Verbindung. 
Im  Jahre  1889  gab  es  unter  den  Dakota'«  „Herma- 
phroditen", die  Umgang  mit  Männern  hatten  (Graham 
bei  Holder  623).  J.T.Irving  erzählt  ausführlich  die 
Verwandlung  eines  Kriegers  der  Otoe- Nation  in  ein 
,Weib*;  der  Mann  gehörte  zu  den  stolzesten  und  höchsten 
Kriegern.  Nach  der  Rückkunft  von  einem  Kriegszuge 
gegen  die  Osagen  traf  ihn  das  Schicksal  in  Gestalt  eines 
Traumes.  Am  nächsten  Morgen  war  er  wie  umgewandelt, 
versammelte  seine  Familie  um  sich  und  erklärte,  der 
grosse  Geist  habe  ihn  im  Traume  besucht;  seinen  Krieger- 
rang müsse  er  fallen  lassen  und  die  Tracht  des  Weibes 
anlegen.  Man  hörte  ihn  mit  Betrübnis  an ;  man  wies  auf 
seinen  grossen  und  kriegerischen  Namen  hin;  aber  nichts 
konnte   ihn    von    seinem  Entschlüsse  abbringen;   alsdann 


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—    133    — 

that  er  der  Nation  seinen  unwiderruflichen  Entschluss 
kund  und  man  konnte  nicht  umbin,  ihm  beizupflichten. 
Mc  Coy  (360—361)  lernte  bei  den  Osagen  einen 
mageren,  geisterhaften  25jährigen  Mann  kennen,  der  in 
Allem  als  Weib  erschien,  aber  kränklich  war.  Bei  den 
Osagen  und  anderen  rohen  Stämmen  des  Nordens  seien» 
wenn  auch  nicht  zahlreich,  Eanäden  unter  den  Weibern  zu 
sehen,  deren  Wesen  und  Erscheinung  sie  so  vollkommen, 
wie  nur  möglich  kopierten  und  ihr  ganzes  Leben  hindurch 
beibehielten.  Bei  den  Kansas  war  Päderastie  ein  nicht 
seltenes  „Verbrechen";  manche  ihr  ergebene  Personen 
waren  öffentlich  als  solche  bekannt,  schienen  aber  weder 
verachtet  zu  sein,  noch  Ekel  zu  erregen.  Mit  einer  solchen 
Person  machte  Say  (bei  James  129)  Bekanntschaft. 
Dieser  Mann  war  in  Folge  eines  ob  seiner  mystischen 
Heilung  geleisteten  Schwures,  welcher  ihn  verpflichtete, 
seine  Männertracht  mit  Weibertracht  zu  vertauschen,  um 
Weiberarbeit  verrichten  und  seine  Haare  lang  wachsen 
lassen  zu  dürfen,  Päderast  geworden ;  er  habe  sich  selbst 
mit  einem  Spiraldraht,  einem  für  diesen  Zweck  gebräuch- 
lichen Instrumente,  aufs  Sorgfältigste  Kinn,  Achselhöhlen, 
Augenbrauen  und  Scham  enthaart,  und  jedes  Barthaar 
entfernt,  das  bei  ihm  sich  zeigte. 

Die  Fall-Indianer  (Gros-Ventres  oder  Pa- 
wäustic-Eithinyook).  Die  Fall-Indianer  hatten  1889 
se  chs  Bote  (Holder  623);  diese  Mannspersonen  mit  der 
Kleidung  und  den  Sitten  der  Weiber  hatten  Umgang  mit 
anderen  Männern  (Best  bei  Holder  623).  —  Ein  Gleiches 
gilt  von  den  Rees-Indianern  (Best  bei  Holder  623). — 
Unter  den  Mönnitari's  traf  Wied  (H  133)  zwei  bis  drei 
solcher  Individuen  an  (Katzel  I  563). 

Die  M  and  an.  Bei  den  Mandan's  wurden  die 
Mannweiber  Mfh-Däckä  (zusammengesprochen)  genannt 
(Wied  II  132)  und  für  geschlechtliche  Genüsse  den 
Weibern  vorgezogen  (Charbonneau  bei  Wied  II  133) 


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—     134     — 

Auch  der  grosse  Maler  Catlin  (I  96;  111;  112—114), 
der  sie  „beau",  ,,dandies  or  exquisites"  nennt  und  über  ihre 
eigentliche  Natur  sich  nicht  ausspricht,  ist  ihnen  begegnet 
und  erzählt  eine  sie  betreffende  sehr  niedliche  Geschichte: 
Auf  das  Prächtigste  herausgeputzt,  aber  baar  aller  der 
ehrenvollen  Siegeszeichen,  wie  Skalplocken  und  Bären- 
krallen, stolzieren  indianische  Stutzer  an  schönen  Tagen 
um  das  Dorf  herum.  Sie  lieben  es  nicht,  in  ehrenvollem 
Kampfe  ihr  Leben  aufs  Spiel  zu  setzen  oder  dem  Grizzli- 
Bäreu  zu  begegnen,  sondern  bleiben  gewöhnlich  in  der 
Nähe  ihres  Dorfes  und  kleiden  sich  in  die  Felle  solcher 
Tiere,  die  sie  leicht  erlegen  können,  ohne  die  rauhen  Fel- 
sen nach  dem  Kriegs-Adler  durchstreifen  oder  den  Grizzli- 
Bären  in  seinen  Schlupfwinkeln  aufsuchen  zu  müssen. 
Sie  schmücken  sich  mit  Schwan-Dunen  und  Enten-Federn, 
mit  Geflecht  von  wohlriechenden  Gräsern  und  anderen 
harmlosen  und  unbedeutenden  Dingen,  welche,  gleich 
ihnen,  kein  weiteres  Verdienst  aufweisen,  als  dass  sie 
hübsch  und  zierlich  aussehen.  Diese  zierlichen  und  ele- 
ganten Herren,  deren  es  in  jedem  Dorfe  nur  wenige  giebt, 
werden  von  den  Häuptlingen  und  Kriegern  gering  ge- 
achtet, da  alle  sehr  wohl  wissen,  welchen  gewaltigen  Ab- 
scheu sie  vor  Waffen  haben,  weshalb  man  sie  ^Feiglinge* 
oder  „alte  Weiber"  nennt  Sie  scheinen  jedoch  hieraus 
sich  wenig  zu  machen,  vielmehr  mit  der  Berühmtheit,  die 
sie  wegen  der  Schönheit  und  Eleganz  ihrer  persönlichen 
Erscheinung  bei  den  ^Frauen  und  Kindern"  erlangt  haben, 
sich  zu  bescheiden ;  sie  freuen  sich  ihres  Lebens,  obgleich 
sie  als  die  Müssiggänger  im  Dorfe  gelten.  An  schönen 
Tagen  sieht  man  auf  seinem  scheckigen  Pferdchen  den 
Reiter  in  seinem  ganzen  Staate:  einen  Fächer  vom  Schwänze 
eines  Truthahns  in  der  Rechten,  eine  Pfeife  und  einen 
Fliegenwedel  an  derselben  Hand,  auf  weichem,  mit 
Büffelhaaren  gepolsterten  und  mit  Stachelschweinstacheln 
und  Hermelin  besetzten  Sattel  von  Hirschhaut,  durch  das 


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—     135    — 

Dorf  und  um  dasselbe  einige  Male  im  Umkreise  herum 
reiten;  dann  nähert  sich  der  Reiter  behutsam  dem  Orte, 
an  welchem  die  Krieger  und  der  jugendliche  Nachwuchs 
mit  männlichen  athletischen  Spielen  sich  unterhalten. 
Nach  ein-  bis  zweistündiger  Augenweide  reitet  er  wieder 
heim,  sattelt  sein  Pferdchen  ab,  treibt  es  auf  die  Weide, 
nimmt  einige  Erfrischungen  zu  sich,  raucht  eine  Pfeife, 
fächelt  sich  in  den  Schlaf  und  verbringt  den  Rest  des 
Tages  mit  Nichtsthun.  Während  Catlin  malte,  kamen 
täglich  zwei  oder  drei  dieser  Stutzer  in  ihrem  Putze  an 
die  Thür  seiner  Hütte,  ohne  weiter  etwas  zu  erfahren, 
als  was  sie  durch  die  Spalten  seiner  Hütte  sehen  konn- 
ten. Die  Häuptlinge  gingen  an  ihnen  vorüber,  ohne  sie 
sonderlich  zu  beachten,  und  natürlich  auch,  ohne  sie 
zum  Eintritt  in  des  Malers  Hütte  aufzufordern,  wäh'> 
rend  sie  selbst  offenbar  nur  deshalb  täglich  vor  seiner 
Hütte  erschienen,  damit  sie  von  ihm  gemalt  würden. 
Catlin  beschloss  auch,  sie  zu  malen,  denn  ihr  Anzug 
erschien  ihm  schöner,  als  irgend  ein  anderer  im  ganzen 
Dorfe.  Als  er  daher  die  Bildnisse  aller  angesehenen  Män- 
ner, die  von  ihm  sich  hatten  malen  lassen  wollen, 
vollendet  hatte  und  nur  zwei  oder  drei  Häuptlinge  in 
seiner  Hütte  sich  befanden,  ging  er  an  die  Thür  und  be- 
rührte einen  der  jungen  Burschen  an  der  Schulter;  dieser 
verstand  auch  sofort  den  Wink  und  folgte  ihm,  hoch  er- 
freut über  die  ehrenvolle  Auszeichnung,  die  Catlin  ihm 
und  seinem  schönen  Anzüge  zu  Teil  werden  Hess.  Un- 
möglich schien  es  dem  Maler,  den  Ausdruck  der  Dank- 
barkeit in  dem  Gesicht  dieses  armen  Burschen  zu  schildern, 
dessen  Herz  in  freudigem  Stolze  bei  dem  Gedanken 
schlug,  dass  er  auserwählt  sei,  neben  den  Häuptlingen 
und  Angesehenen,  deren  Bildnisse  er  in  der  Hütte  sah, 
unsterblich  gemacht  zu  werden,  und  er  hielt  sich  durch 
diese  Ehre  gewiss  dafür  hinreichend  belohnt,  dass  er  nun 
drei  Wochen  lang    täglich,  auf  das  Schönste  bemalt  und 


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—     136    — 

geputzt  und  bald  auf  dem  eineD,  bald  auf  dem  anderen  Fusse 
stehend,  vor  des  fremden  Malers  Hütte  ausgehalten  hatte. 
Catlin  fing  nun  an,  ihn  in  ganzer  Figur  zu  zeichnen  und 
fand  in  ihm  einen  überaus  hübschen  Burschen;  sein  Anzug 
war  vom  Kopfe  bis  zum  Fusse  aus  dem  Felle.der  Bergziege, 
das  an  Weisse  und  Weiche  fast  dem  chinesischen  Kreppe 
gleichkommt,  gefertigt  und  mit  Hermelin  und  schön  ge- 
Tärbten  Stachelschweinstacheln  besetzt;  sein  langes  Haar, 
über  Schulter  und  Nacken  herabfallend,  reichte  bald  bid 
zur  Erde  und  war,  gleich  dem  der  Frauen,  auf  der  Stirn 
gescheitelt;  er  besass  eine  grosse  und  schöne  Figur  und 
eine  Anmut  und  Lieblichkeit  in  den  Bewegimgen,  die 
einer  besseren  Kaste  würdig  waren;  in  der  linken  Hand 
hielt  er  eine  prächtige  Pfeife,  in  der  rechten  den  Fächer, 
und  an  derselben  Hand  hingen  noch  die  Peitsche  von 
Elenshom  und  der  aus  einem  Büffelschwanze  verfertigte 
Fliegenwedel;  es  war  an  ihm  nichts  Furchterregendes  und 
gar  nichts,  was  den  zartesten  und  keuschesten  Sinn  hätte 
verletzen  können.  So  weit  war  unser  Maler  gekommen, 
als  die  Häuptlinge,  welche  in  seiner  Hütte  sassen,  plötz- 
lich sich  erhoben,  sich  fest  in  ihre  Büffelhäute  wickelten 
und  schnell  auf  ungewohnte  Art  die  Hütte  Catlin^ s 
verliessen.  Wohl  war  dem  Maler  ihre  Unzufriedenheit 
aufgefallen,  aber  er  fuhr  fort  zu  malen,  bis  einige  Augen- 
blicke später  der  Dolmetscher  in  seine  Hütte  stürzte  und 
ausrief:  »Mein  Gott,  Herr,  das  geht  nimmer  gut  —  Ihr 
habt  die  Häuptlinge  beleidigt  —  sie  haben  sich  über 
Euer  Benehmen  beschwert  —  sie  sagen,  der  da  sei  ein 
unbedeutender,  ein  unwürdiger  Mensch,  und  wenn  Ihr 
sein  Bildnis  malen  wolltet,  so  müsstet  Ihr  augenblicklich 
das  der  Häuptlinge  vernichten,  —  es  bleibt  Euch  keine 
Wahl,  lieber  Herr,  —  und  je  schneller  Ihr  dieses  Bürsch-» 
chen  aus  Eurer  Hütte  fortschickt,  um  so  besser  !^^  Dasselbe 
erklärte  sodann  der  Dolmetscher  auch  dem  schönen  jungen 
Indianer,  und  dieser  hängte  seine  Büffelhaut  um,  hielt  dei^ 


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—     137    — 

Fächer  vor  sein  Gesicht  und  entfernte  sich  schweigend, 
aber  mit  einem  erzwungenen  Lächeln,  aus  der  Hütte  des 
Malers;  eine  kurze  Zeit  noch  nahm  er  seine  frühere 
Stellung  an  der  Thür  wieder  ein  und  ging  dann  ruhig  fort. 
,So  hoch  schätzen,"  schlieest  Catlin  seine  Erzählung, 
„die  Tapferen  und  Würdigen  unter  den  Mandan's  die 
Ehre,  gemalt  zu  werden,  und  so  sehr  schätzen  sie  Jeden 
gering,  wie  reich  auch  sonst  die  Natur  ihn  mag  ausge- 
stattet haben,  der  nicht  den  Stolz  und  das  edle  Wesen 
eines  Kriegers  zeigt"  Catlin  gedenkt  zwar  nicht  mit 
einer  Andeutung  der  wahrscheinlichen  Natur  der  von 
ihm  mit  Maleraugen  geschauten  und  mit  vollendeter 
Malerkunst  gezeichneten  mädchenhaflen  Zierpuppe,  aber 
Er  man  hatte  ohne  Zweifel  die  oben  mitgeteilte  Erzählung 
im  Auge,  als  er  (1871,  164  und  Fussnote  **)  Hie  Worte 
niederschrieb,  dass  auch  Catlin  unter  den  kriegerischen 
Stämmen,  mit  denen  er  auf  der  Ostseite  des  Felsenge- 
birges umging,  das  Vorkommen  einzelner  Männer  er- 
wähnt, die  nur  für  ihren  höchst  auffallenden  Putz  zu 
leben  schienen,  sich  der  äussersten  Verachtung  ihrer 
Landsleute  feige  unterwarfen,  seiner  ihnen  anfangs  zu- 
gewendeten Aufmerksamkeit  durchaus  unwert  erklärt 
wurden  und  bei  den  inner  amerikanischen  Stämmen 
das  seien,  was  die  Kamtschadalen  durch  das  Wort 
Kojektschuchtschi  und  die  Korjaken  durch  da« 
Wort  K^elgi  als  eine  eigene  Abart  ihrer  Männer  be- 
zeichneten. Auch  im  Jahre  1889  gab  es  bei  den 
Mandan's  Männer  mit  der  Tracht  und  den  Sitten  der  Wei- 
ber und  männlichem  Geschlechtsverkehr  (B  e  s  t  bei  H  o  1  der 
623).  Siehe  fernerBastian  III  312,  Schneider  I  287, 
Schnitze  1900,  163;  in  Schnitze  ging  der  Druck- 
fehler bei  Bastian:  Cordaches  (statt  Bardaches) 
über. 

Die  Crow  (Krähen-Indianer,  Absaroke,  Up- 
saroka).    Den  Gebrauch  der  Bardaches  bei  den  Crow's 


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—     138     — 

erwähnt  Wied  I  401;  siehe  ferner  Bastian  111  313, 
Schneider  1287  und  Schnitze  1900,  163.  Genauere 
Angaben  über  diese  Bardaches,  in  denen  auch  zum 
ersten  Male  auf  die  Form  päderastischer  Befriedigung  des 
Geschlechtstriebes  bei  Indianern  eingegangen  wird,  lieferte 
erst  1889  Holder.  Den  Wunsch  hegend,  genaue  Unter- 
suchung über  Sein  oder  Nichtsein  der  in  der  Literatur 
als  Hermaphroditismus  bekannten  Anomalie  anzustellen, 
suchte  Holder  den  bei  den  Crow's  von  Montana  ,Bote' 
genannten  Bardaches  näher  zu  treten.  Dieses  Wort  bö-te 
bezeichnet  buchstäblich  „nicht  Mann,  nicht  Weib*;  ein 
entsprechendes  Tulalip-Wort ,  dessen  die  Indianer  des 
Washington -Gebietes  sich  bedienen,  ist  nach  Holder 
burdash,  welches  „halb  Mann,  halb  Weib"  bedeutet, 
ohne  damit  eine  anomale  Bildung  der  Ge- 
schlechtsorgane anzudeuten.  Der  Bote  nimmt  das 
männliche  Glied  seines  Partners  zwischen  seine  I^ippen 
„und  versucht  wahrscheinlich  gleichzeitig  seine  eigene 
Befriedigung";  fünf  Bote  wies  1889  der  Crow-Stamm 
auf  und  eine  ungefähr  gleiche  Zahl  hatte  er  auch  früher; 
sie  bilden  eine  Klasse  in  jedem  Stamme,  kennen  sich 
unter  einander  und  knüpfen  freundschaftliche  Beziehungen 
mit  Ihresgleichen  in  anderen  Stämmen  an,  so  dass  sie 
über  die  umischen  Verhältnisse  auch  der  Nachbarstämme 
genau  unterrichtet  sind.  Sie  tragen  weibliche  Kleidung, 
scheiteln  ihr  Haar  in  der  Mitte  und  flechten  es  wie  ein 
Weib,  besitzen  oder  erkünsteln  weibliche  Stimme  und 
Geberden  und  leben  in  beständiger  Verbindung  mit 
Weibern,  gleich  als  ob  sie  zu  diesen  gehörten;  indessen 
verHeren  ihre  Stimme,  ihre  Gesichtszüge  und  ihre  Gestalt 
nie  so  sehr  die  männlichen  Eigenschaften,  dass  es  einem 
aufmerksamen  Beobachter  schwer  wäre,  einen  Bote  von 
einem  Weibe  zu  unterscheiden.  Ein  solcher  Bote  ver- 
richtete bei  den  Crow  weibliche  Arbeit,  wie  fegen,  scheuern, 
Schüsseln  spülen,  mit  solcher  Anstelligkeit  und  Willigkeit^ 


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—     139    — 

dass  er  auch  bei  der  weissen  Bevölkerung  häufig  Be- 
schäftigung erhielt.  Gewöhnlich  wird  die  weibliche  Tracht 
in  der  Kindheit  angelegt  und  auch  weibliche  Sitten  werden 
schon  früh  angenommen;  doch  den  Beruf,  dem  er  sich  später 
widmet,  übt  ein  Bote  erst  zur  Zeit  seiner  Geschlechtsreife 
aus.  Ein  kleiner  Schüler  einer  Erziehungsanstalt  (Knaben- 
Pensionat  einer  Indianer-Agentur)  wurde  öfters  dabei  er- 
tappt, wie  er  heimlich  weibliche  Kleidung  anlegte;  ob- 
wohl jedesmal  bestraft,  bildete  er  sich  doch,  der  Schule 
entwachsen,  zum  Bote  aus,  welchem  Berufe  er  seitdem  treu 
geblieben  ist.  Ein  bei  dem  Crowstamme  accreditierter 
Bote,  der  zur  Kundschaft  des  Arztes  Dr.  Holder  gehörte, 
war  ein  Dakota-Indianer;  er  wird  als  ein  prächtig  ge- 
stalteter Bursche  von  einnehmenden  Gesichtszügen,  voll- 
kommener Gesundheit,  lebhafter  Beweglichkeit  und  glück- 
lichster Gemütsveranlagung  geschildert;  Holder  zog  ihn 
zu  seiner  Bedienung  heran  und  brachte  ihn,  wenn  auch 
nach  langem  Widerstreben,  durch  Erweisung  von  allerhand 
Aufmerksamkeiten  dahin,  sich  von  ihm  untersuchen  zu 
lassen.  5  Fuss  8  Zoll  hoch,  158  Pfund  schwer,  33  Jahre 
alt,  vollkommen  bartlos,  mit  offenem,  intelligenten  Gesicht, 
hatte  dieser  Bote  die  aus  4  Kleidungsstücken  bestehende 
weibliche  Tracht  bereits  im  sechsten  Lebensjahre  ange- 
legt; er  trug  sein  24  bis  26  Zoll  langes  Haar  in  der 
Mitte  gescheitelt  und  Hess  es  in  zwei  Wellen  locker  hinter 
den  Schultern  herabfallen;  es  ist  das  zwar  die  gewöhn- 
liche Haartracht  der  Männer  bei  den  Dakota,  aber  bei 
den  Crow  teilen  die  Männer  ihr  Haar  seitlich  und  tragen  es 
in  langen  Flechten.  Nach  seiner  Entblössung  zeigte  sich  die 
Haut  des  Bote  weich  und  haarlos,  selbst  Brust,  Arme,  Achsel- 
höhlen und  Beine  waren  vollkommen  unbehaart,  was  aber 
als  bedeutungslos  bezeichnet  wird,  weil  alle  Indianer  der 
Kundschaft  Dr.  Holder' s,  Männer  wie  Weiber,  dieselbe 
Eigentümlichkeit  aufwiesen.  Seine  Brustwarzen  waren 
wie  sonst   beim   Manne   kümmerlich.     Als  der  Bote  das 


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—     140    — 

seine  Geschlechtsteile  verdeckende  Kleidungsstück  ent- 
fernte, gab  er  seinen  Schenkeln  eine  solche  Lage,  dass 
sie  die  Geschlechtsorgane  vollständig  versteckten,  eine 
Bewegung,  welche  Holder  sonst  nur  bei  der  Unter- 
suchung schamhafter  Frauen  sah,  bei  denen  sie  wegen  der 
mehr  zurücktretenden  Genitalien  und  der  starken  Rundung 
der  Schenkel  den  Zweck  leicht  erreichte ;  indess  auch  dem 
Bote  gelang  das  Kunststück  vollkommen,  vielleicht  wegen 
der  Bildung  seiner  Schenkel,  welche  dem  untersuchenden 
Arzte  von  weiblicher  Fülle  zu  sein  schienen,  oder  in  Folge 
einer  durch  Uebung  erlangten  Geschicklichkeit;  freund- 
lichst gebeten,  seine  Schenkel  zu  trennen,  Hess  der  Bote 
männliche  Organe  zum  Vorschein  kommen,  an  Grösse 
vielleicht  nicht  ganz  so,  wie  die  stattliche  Gestalt  des 
Mannes  sie. hätte  vermuten  lassen,  aber  in  Bildung  und 
Lage  vollkommen  normal.  Der  Penis  hatte  im  schlaffen 
Zustande  47«  Zoll  Länge  bei  3»/,  Zoll  Umfang;  Vorhaut 
und  Eichel  waren  normal,  jeder  Hoden  hatte  die  Grösse 
einer  kleinen  Mandel,  die  Scham  bekleidete  ein  dünner 
Wuchs  kurzer  Behaarung,  wie  gewöhnlich  beim  männlichen 
Indianer.  Vor  der  Untersuchung  hatte  der  Bote  dem 
Arzte  das  Versprechen  abgenommen,  nichts  über  seinen 
Befund  zu  verraten  und  nachher  versicherte  er  ihm,  dass 
seit  seiner  Kindheit  noch  Niemand  ausser  dem  Arzte  seine 
Geschlechtsteile  gesehen  habe ;  seine  ständigen  Gefährten 
seien  Frauen;  und  auf  die  Frage,  wie  er,  mit  Frauen  zu- 
sammen badend,  es  anfange,  diesen  den  Anblick  seines 
Gemachtes  zu  entziehen,  erwiderte  er:  „das  mache  ich  so", 
und  schlug  wiederum  seine  Schenkel  so  zusammen,  wie 
er  es  beim  Ablegen  des  letzten  Kleidungsstückes  gethan 
hatte;  Penis  und  Hodensack  waren  wieder  vollständig 
unsichtbar,  und  es  hätte  einer  Besichtigung  aus  aller- 
nächster Nähe  bedurft,  um  über  sein  Geschlecht  ins  Klare 
zu  kommen;  er  bestritt,  jemals  geschlechtlichen  Umgang 
mit  einem  Weibe  gepflogen  zu  haben  und  fügte,  auf  seine 


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—     141     — 

Scham  deutend^  hinzu:  „kein  Geschwür  und  keine  Narbe!* 
*—  nach  Holder  bei  einem  so  venerischen  Stamme  wie 
die  Crow's  auf  keinen  Fall  ein  schlechtes  Argument  Nach 
der  Aussage  anderer  Indianer  sollte  der  Bote  dennoch 
gelegentlich  geschlechtlich  mit  Frauen  verkehrt  haben; 
sein  Hauptvergnügen  bestände  aber  darin,  andere  Männer 
zu  überreden,  sich  seinen  Liebkosungen  zu  fügen.  Zwei 
Jahre  hindurch  habe  der  Bot«  als  weiblicher  Teil  ver- 
trautesten Umgang  mit  einem  und  demselben  bekannten 
Indianer  gepflogen  und  mit  diesem  wie  in  richtiger  ehe- 
licher Gemeinschaft  gelebt;  doch  sei  das  nicht  der  für  einen 
Bote  gewöhnliche  Zustand;  er  sei  vielmehr,  gleich  den 
Weibern  des  Stammes,  bereit,  jedem  Manne  zu  will- 
fahren, der  seine  Dienste  verlange  (Holder  623  —  624; 
Ellis-Symonds  8—9). 

Die  Assiniboin.  Ihre  Bardaches  haben  auch  die 
Assiniboin's  nach  Wied  (H  133,  Fussnote). 

Die  Oregon-Indianer.  Nach  Smith  bei  Holder 
(623)  hatten  die  Oregon  in  ihrem  Stamme  zu  Klamath 
1889  einen  „Hermaphroditen*.  Die  Sahaptin  (Nez 
Perc^s)  besassen  1389  zwei,  die  Seliph  (Fleathead) 
wiesen  1889  vier  Bote  auf  (Holder  623). 

Die  Washington-Indianer.  Auch  die  Indianer 
des  Washington-Territoriums  haben  ihre  Bote,  welche  sie 
hier  in  der  Tulalip-Sprache  Burdash,  d.  h.  halb  Mann, 
halb  Weib,  nennen  (Holder  623). 

Die  Pueblo-Indianer.  Dem  Dr.  William  A. 
Hammond,  der  etwa  um  das  Jahr  1850  in  New-Mexiko 
als  Militärarzt  stationiert  war,  wurde  hinterbracht,  dass 
die  Pueblo-Indianer  in  jedem  ihrer  Dörfer  einen  oder  meh- 
rere Stammesgenossen  aussuchen,  um  ihn  beziehungsw.  sie 
geschlechtlich  impotent  zu  machen  und  zu  päderastischen 
Diensten  zu  verwenden.  Diese  Personen  nannte  man 
Mujerado's,  eine  Bezeichnung,  welche  wie  eine  Um- 
gestaltung   des    spanischen  Wortes    Mujeriego,    d.    h. 


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—     142     - 

weiblich  oder  weibisch,  klingt,  aber  ein  spanisches  Wort 
nicht  ist,  das  indess,  wenn  es  vorkäme,  auch  nur  «zum 
Weibe  gemacht*  oder  „in  ein  Weib  verwandelt*  würde 
bedeuten  können.  Der  Mujerado  ist  für  die  religiösen 
Orgien,  welche  bei  den  Pueblo-Indianern,  ebenso  wie 
unter  den  alten  Griechen,  Egyptem  und  anderen  Nationen, 
gefeiert  werden,  schlechthin  unentbehrlich.  Er  spielt  die 
passive  Rolle  bei  den  päderastischen  Gebräuchen,  die  einen 
wesentlichen  Bestandteil  der  religiösen  Zeremonien  der 
Pueblo-Indianer  bilden.  Diese  Saturnalien  finden  bei  den 
Pueblo's  im  Frühlinge  jeden  Jahres  statt  und  werden  den 
Nichtindianern  gegenüber  mit  der  allergrössten  Heimlich- 
keit betrieben.  Zum  Mujerado  wird  einer  der  kräftig- 
sten Männer  jedes  Dorfes  gewählt  und  an  ihm  täg- 
lich vielmals  Masturbation  vorgenommen.  Zugleich 
wird  er  gezwungen,  fast  ununterbrochen  zu  reiten,  wo- 
durch seine  Geschlechtsorgane  anfangs  in  einen  Zustand 
so  reizbarer  Schwäche  gerathen,  dass  schon  die  Bewegung 
auf  dem  Pferde  hinreicht,  eine  Pollution  hervorzurufen; 
und  da  das  Reiten  ohne  Sattel  geschieht,  so  wird  durch 
den  Druck  des  Körpers  auf  den  Rücken  des  Pferdes 
gleichzeitig  die  weitere  schnelle  Ernährung  der  Genitalien 
beeinträchtigt.  Nun  schreitet  allmählig  die  Schwäche 
so  weit,  dass,  ungeachtet  des  eintretenden  Orgasmus, 
Samenentleerungen  selbst  bei  stärkster  Erregung  nicht 
mehr  eintreten  können,  und  am  Ende  wird  auch  die  Ent- 
stehung des  Orgasmus  ganz  zur  Unmöglichkeit;  Penis 
und  Hoden  beginnen  zu  schrumpfen  und  die  Erections- 
fähigkeit  erlischt.  Auffällige  Veränderungen  in  Hang 
und  Neigungen  gehen  mit  dieser  Entmannung  des  Muje- 
rado schrittweise  einher;  er  verliert  die  Lust  an  seinen 
früheren  Beschäftigungen  und  sein  früher  bewiesener  Muth 
schwindet  dahin;  er  wird  so  scheu,  dass  er,  der  vielleicht 
eine  hervorragende  Stellung  im  Rate  der  Pueblo's  beklei- 
dete,   um     alle  Macht,   alle   Verantwortlichkeit    und   um 


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—     143    — 

jeden  Einfluss  gebracht  wird;  war  er  Gatte  und  Vater, 
80  entziehen  Weib  und  Kinder  sich  seiner  Fürsorge  und 
betrachten  ihn  als  Fremden  —  sei  dieses  aus  eigenem 
Entschlüsse,  sei  es  auf  seine  Veranlassung,  sei  es  auf 
Grund  von  Stammesnormen.  Mujerado  zu  sein  ist  für 
einen  Pueblo  keine  Schande;  im  Gegenteil  geniesst  er 
den  Schutz  seiner  Staromesgenossen  und  es  werden  ihm 
gewisse  Ehren  zu  Theil,  indem  er  z.  B.,  wenn  er  will, 
jeder  Arbeit  sich  enthalten  darf.  Seiner  veränderten  Ge- 
müthsrichtung  entsprechend  sucht  er  mit  Vorliebe  das 
weibliche  Geschlecht  auf  und  entäussert  sich  soviel  wie 
möglich  aller  körperlichen  und  geistigen  Charakter-Eigen- 
schaften der  Männlichkeit.  Männer  sucht  er  nicht  mehr 
auf,  obwohl  diese  ihn  nicht  meiden.  Seine  ganze  Lage 
wird  ihm  durch  die  Macht  der  Ueberlieferuug,  der  Sitte 
und  der  öffentlichen  Meinung  aufgenöthigt;  wird  sie  viel- 
leicht auch  anfangs  von  ihm  mit  Widerstreben  über- 
nommen, so  zeigt  er  doch  schliesslich  bereitwilliges  Ent- 
gegenkommen; es  ist  ihm  eben  unmöglich,  der  Tradition 
seines  Stammes,  deren  Macht  unter  den  Pueblo's  von  New- 
Mexiko  von  grösstem  Einflüsse  ist,  sich  zu  entziehen; 
und  auf  der  Macht  der  Tradition  beruht  auch,  wenigstens 
fiir  die  Gegenwart,  die  Daseinsberechtigung  des  Mujerado. 
Ob  der  Mujerado  als  öffentliches  Eigentum  auch  ausser- 
halb der  jährlichen  Saturnalien  für  päderastische  Zwecke 
benutzt  wird,  wurde  nicht  ermittelt;  es  ist  aber  sicher, 
dass  wenigstens  die  Häuptlinge  berechtigt  sind,  sich  seiner 
zu  bedienen,  und  dass  der  Mujerado  diesem  Privilegium 
sich  nicht  widersetzt.  Jede  derartige  Anspielung  des 
ärztlichen  Forschers  Hess  der  Mujerado  unbeachtet;  er  gab 
einfach  an,  davon  nichts  zu  wissen.  Nur  der  alte  La- 
guna -Häuptling  in  Hammond's  Begleitung  war,  ob- 
wohl nach  Indianerart  sonst  nicht  sehr  mitteilsam,  be- 
züglich dieses  Punktes  nicht  verschwiegen,  gab  sogar 
für  seine   Person  mit  vollster  Seelenruhe  zu,  in    seinen 


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—    144    — 

jüngeren  Jahren  den  Mujerado  seines  Stammes  zu  ge- 
schlechtlichen Genüssen  gebraucht  zu  haben.  Hammond 
findet  eine  grosse  Uebereinstimmung  zwischen  dem  Mu- 
jerado der  Pueblo-Indianer  und  den  Enareem  der  Scythen; 
ein  wesentlicher  Unterschied  liege  aber  in  dem  Umstände^ 
dass  bei  den  Pueblo  der  Verlust  der  männlichen  Potenz 
mit  voller  Absichtlichkeit  zu  einem  bestimmten  Zwecke 
angestrebt  werde  und  der  Mujerado  eine  staatliche  Ein- 
richtung sei,  während  die  Impotenz  bei  den  Scythen  (Scy- 
thenkrankheit)  nur  als  eine  ungewollte  Folge  ihrer  Sitten 
und  Gebräuche  sich  eingestellt  habe.  Den  Pueblo's  scheine 
es  bekannt  zu  sein,  einen  wie  grossen  Einfluss  das  Reiten 
auf  die  Geschlechtsthätigkeit  ausübe,  wenn  es  sich  darum 
handle,  jemanden  zum  Mujerado  zu  machen;  die  nomaden- 
hailen  Indianerstämme,  gewissermassen  die  Repräsentanten 
der  Scythen  in  Amerika,  insonderheit  die  Apachen  und 
Navajo's,  besässen  nach  seiner  persönlichen  Erfahrung 
kleine  Geschlechtsorgane,  schwachen  Geschlechtstrieb  und 
geringe  Potenz;  schon  in  ihrer  frühesten  Kindheit  ge- 
wöhnten sie  sich  daran,  selbst  für  die  geringsten  Ent- 
fernungen zu  Pferde  zu  steigen ;  sie  gingen  zu  Fusse  nur 
an  solchen  Stellen,  die  ihre  Pferde  leicht  zum  Straucheln 
brächten  und  blieben  stets  bei  ihren  Pferden;  er  sah 
selber,  wie  sie,  blos  um  den  Sattel  zu  holen,  eine  Strecke 
von  25  Fuss  ritten.  Eine  Folge  dieser  Lebensgewohnheit 
seien:  schwache  Muskulatur  der  Beine,  dünne  Schenkel, 
handflache  Waden  und  die  Unfähigkeit,  weite  Märsche 
zu  Fusse  zurückzulegen.  Impotenz  sei  bei  ihnen  häufig 
und  er  als  „Medizinmann^^  von  gesunden  Männern  um 
Mittel  zur  Stärkung  ihrer  Potenz  oft  genug  gebeten 
worden;  ein  Weib  dieser  Stämme  mit  mehr  als  2  bis  3 
Kindern  würde  ein  Unikum  bleiben.  Hammond  hatte 
Gelegenheit,  zweiMujerados  zu  untersuchen.  Der  eine, 
ein  etwa  35  Jahre  alter,  grosser  und  schlanker  Mann  vom 
Dorfe    Laguna,   war    schon    sieben   Jahre  Mujerado;    er 


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—    145    — 

trug  WeiberkleiduDg  und  Hess  sich  vom  Arzte  nur  im 
Beisein  des  alten  Laguna-Häuptlings  entblössen  und  unter-^ 
suchen;  seine  GenitaUen  erwiesen  sich  als  klein  und  welk; 
doch  behauptete  der  Mujerado  mit  Stolz^  ein  grosses  Glied, 
und  Hoden  ,^o  dick  wie  Eier''  besessen  zu  haben,  bevor 
er  Mujerado  wurde,  was  auch  der  alte  Häuptling  sofort 
bestätigte.  Ueber  den  Befund  war  der  Arzt  dennoch 
überrascht,  da  er  erwartet  hatte,  irgend  eine  Art  Herma- 
phroditismus oder  wenigstens  Cryptorchismus  vorzufinden. 
Ein  zweiter  Mujerado  vom  Dorfe  Acoma,  etwa  20  Meilen 
vom  Dorfe  Laguna  entfernt,  im  Alter  von  3ö  bis  37 
Jahren  und  seit  10  Jahren  im  Amte,  trug  ebenfalls  Frauen- 
kleidung, war  aber  in  dieser  Tracht  von  den  wirklichen 
Weibern,  mit  denen  er  verkehrte,  nicht  zu  unterscheiden 
und  sah  auch  nackt  mehr  einem  Weibe  als  einem  Mann 
ähnlich;  bei  ihm  bestanden  die  Hoden  nur  noch  aus 
Bindegewebe.  Hammond  hat  eine  sehr  eingehende  Be- 
schreibung dieser  beiden  Mujerado's  gegeben,  da  er  von 
dem  Drange  geleitet  wurde,  möglichst  viel  Licht  auf  eine 
alte  Sitte  zu  werfen,  welche  die  aufmerksamste  Beachtung 
nicht  nur  seitens  der  Neurologen,  sondern  auch  der 
Ethnologen  verdiente  und  zweifellos  schon  bald  vor  der  vor- 
rückenden Macht  der  Kulturvölker  gänzlich  verschwinden 
werde,  wenn  sie  nicht  schon  verschwunden  sei  (Hammond 
1891,  111—117;  Holder  624—625). 

Die  Schoschoni  (Shoshonee,  Schlangen- 
Indianer).  Die  Schoschoni's  hatten  1889  einen  Bote 
nach  Holder  (623). 

Die  Sonora-In dianer.  Eine  in  den  Jahren  1768 
bis  1770  nach  den  Provinzen  Sonora  und  Cinalo  unter- 
nommene Expedition  traf  in  dem  weiter  nördlich  gelegenen 
Neualbion,  etwa  gegen  den  14.  Breitegrad,  viele  als  Weiber 
gekleidete  und  gezierte  Mannspersonen  an;  ganz  besonders 
war  dieses  der  Fall  in  den  Ortschaften  der  an  der 
Küste  gelegenen  Inseln  des  Santa  Barbara  Kanales;   sie 

Jahrbach  DI.  10 


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—    146    — 

standen  anscheinend  hoch  in  Ehren  (nach  Bryant  226  und 
Dalrymple  30  bei  Waitz  IV  243;  Zimmermann  V, 
71).  Der  Wunsch  Zimmermannes  (V  71),  die  weiteren 
Entdeckungen  möchten  auch  diese  Sonderbarkeit  aufklären, 
ist  noch  heute  genau  so  berechtigt  wie  damals  (1806).  Nach 
Duflot  de  Mofras  (II  371)  wies  1840  bis  1842  jeder 
Indianerstamm  im  Thale  de  los  Tulares  Mannspersonen 
auf,  welche  sich  als  Weiber  kleideten,  mit  Weibern  ge- 
meinsamen Haushalt  führten,  an  deren  Arbeiten  teil- 
nahmen und  Vorrechte  vor  ihnen  erlangten,  wenn  sie 
den  „schimpflichsten  Lüsten"  (,d^bauches*j  sich  preisgaben; 
sie  hiessen  Joyas,  sollen  in  allgemeiner  Verachtung 
gestanden  haben  und  durften  Waffen  nicht  tragen  (Mante- 
gazza  105).  Ueber  mannmännliche  Ehen  unter  Califor- 
nischen  Indianern  wurde  bereits  an  einer  anderen  Stelle 
dieser  Abhandlung  (S.  122)  berichtet. 

Die  Nahuatl-Indianer.  In  ganz  Mexiko,  be- 
sonders aber  im  heissen  Küstenlande,  gingen  „schamlose 
Mannspersonen"  wie  Weiber  gekleidet  und  lebten  vom 
Ertrage  der  Freuden,  die  sie  anderen  Männern  gewährten 
Päderastie  war  allgemein  (Diaz  1632,  248;  1852,  309 
Oviedo  IV  1.  42,  c.  12;  Ramusio  57  E,  F;  160  A,B 
Garcia  111;  Waitz  IV  279;  Mantegazza  104—105; 
Ellis-Symonds  8,  Fussnote  3);  effeminierte  (verweibte) 
Männer  erschienen  beim  Tepeilhuitl-(Berg-)Fest  in  Weiber- 
tracht (Torquemada  II  1.  10  c.  35).  In  Izcatlan 
wurden  päderastische  Akte  öffentlich  straflos  ausgeübt 
(Herrera  d.  3  1.  3.  c.  15;  Pöppig  375);  am  Panuco, 
in  Tampico  de  Tamaulipas  (Santa  Ana  de  Tamaulipas), 
gab  es  öffentliche  Freudenhäuser,  in  denen  Männer  Frauen- 
rolle spielten  (Gomara  1564  c.  47;  1749  Hist.  c.  47; 
Cron.  c.  213;  Mantegazza  104).  Gegenüber  diesen 
Berichten  von  Zeitgenossen  kann  Wuttke's  allgemeine 
Behauptung  (I  289):  ,  unnatürliche  Laster*  seien  bei  den 
Uebergangsstufen  von  den  wilden  zu  den  geschichtlichen 


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—     147     — 

Völkern  Mexiko's  sehr  selten  gewesen  und  wären  streng 
bestraft  worden,  wohl  nur  bedingte  Geltung  beanspruchen; 
es  wird  aber  berichtet,  dass  in  einzelnen  Landesteilen 
Pädikation  nicht  nur  als  Laster  verabscheut  (Sahagun 
m  26), sondern  mit  schweren  Strafen  bedroht  wurde  (Tor- 
quemada  II  1.  12  c.  2;  c.  4;  Waitz  IV  131;  Müller 
264);  bei  den  Nicarao's  (Nicaragua's)  soll  diese  Strafe  in 
Steinigung  bestanden  haben  (Gomara  1564  c.  205; 
Martius  1832,  28,  Fussnote  **;  1867,  75,  Fussnote  *), 
^weil  es  im  Lande  eine  Kaste  anerkannter  Freudenmädchen 
gab**  (Popp ig 375);  inTezcuco(Texcuco,  Texcoco)  wurde 
Pädikation  unter  Männern  mit  Todesstrafe  geahndet 
(Gomara  1749  Cron.  c.  208;  Garcia  1.  8  c.  6);  auch 
bei  den  Tlascalanem  (Tlaxcalanern)  wurde  Pädikation 
mit  dem  Tode  bestraft  (Herrera  d.  2  1.  6  c.  16;  Pöppig 
375).  Die  jungen  Leute,  welche  in  Tlascala  den  Tempel- 
dienst versahen,  wurden,  wenn  sie  über  20  Jahre  alt 
waren  und  sich  nicht  verheiraten  wollten,  der  beschim- 
pfenden Strafe  des  Kahlscheerens  unterworfen  und  vom 
Tempeldienste  ausgeschlossen  (Vetancurt  II  tract.  3 
c.  6  §  53),  sei  es,  dass  man  sie  dann  im  Verdacht  von 
Ausschweifungen  hatte,  oder  solchen  durch  diesen  indirekten 
Zwang  vorbeugen  wollte  (Waitz  IV  131). 

3.  Die  Indianer  Mittelamerika's. 

Von  der  sagenhaften  Uebervölkerung  der  Punta  Santa 
Elena  (San  Tomas),  die,  nach  Aussage  der  benachbarten 
Stämme,  aus  lauter  Riesen  bestand,  wird  mitgeteilt,  sie 
sei. ob  ihrer  „ungeheuerlichen  Sünden  wider  die  Natur" 
durch  himmlisches  Feuer  vernichtet  worden  (Cieza  de 
Leon  1554  und  1853  c.  52;  Garcia  1.  1  c.  4  §  1; 
Veytia  I  c.  12  pg.  148—149;  Pöppig  375). 

DieMayavölker(Macagual,  d.  h.  Eingeborene 
vom  Maya-Lande).  Die  alten  Quiname's  waren  allen 
»Lastern"  des  klassischen  Altertums  ergeben  und  trieben 

10* 


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—     148    — 

gleich  den  „heutigen*  OrienlalenPädikation (Brasse ur  I 
c.  3  p.  66 — 67).  Der  Entdecker  von  Yucatan  soll 
1517 — 1519  in  Bildwerken  unzweideutige  Spuren  von 
Pädikation  unter  Männern  gefunden  haben  (»figuras  de 
hombres  heehados  unos  sobre  otros,  representando  el 
abominable  pecado");  als  Fundstelle  derselben  wird  von 
Herrcra  (d.  2  1.  2  c.  17)  und  Charlevoix  (1733  II, 
182—183)  Cap  Catöche,  von  Gomara  (1749  Hist. 
c.  49;  1852,  184)  und  Oviedo  (I  532—533  1.  17  c.  17) 
aber  Laguna  de  Terminos  angegeben  (Waitz  IV  307). 
In  Yucatan  war  Päderastie  Volkssitte  (Gomara  1564 
c.  54;  1749  Hist.  c.  54);  junge  Männer  liebten  es,  in 
Weiberkleidern  zu  gehen,  wenn  sie  der  Männerliebe  er- 
geben waren  (Lafitau  I  52;  Baumgarten  I  25). 
Gott  Chin  hatte  diese  eingeführt^  indem  er  das  erste  Bei* 
spiel  derselben  in  einer  religiösen  Zeremonie  gab;  auch  in 
Verapaz  galt  die  mannmännliche  Liebe  als  durch  Gott 
Chin  anerkannte  und  religiös  geheiligte  Sitte  (Torque- 
madall  1.  10  c.  11;  Bastian  III  312;  315;  Schnitze 
1900, 163).  Bei  der  Hochzeit  des  Gagawitz  mit  Qomakaa 
bei  Panch^-Chiholom  im  12.  Jahrhundert  nahmen  die  Sol- 
daten die  Gelegenheit  wahr,  Orgien  aufzuführen,  welche 
noch  lange  durch  Legenden  in  der  Erinnerung  der  Cak- 
chiquePs  am  Atitlan-  (Atitan-)  See  fortlebten,  Orgien,  in 
denen  auch  Pädikation  eine  Rolle  spielte  (Manuskript 
Cakchiquel;  Brasseur  II  173  und  nota  1).  Als  die 
Olmequen  das  Thal  Panchoy  mit  der  Hauptstadt  Gua- 
temala erobert  hatten,  musste  jede  Stadt  und  jedes  Dorf 
des  Landes  zwei  zu  päderastischen  Diensten  bestimmte 
junge  Männer  jährlich  an  die  neue  Kegierung  abliefern 
(Brasseur  II  77);  Bastian  (III  308)  hatte  wohl  diese 
Stelle  im  Auge  bei  seiner  Angabe,  dass  es  im  alten 
Guatemala  auf  Staatskosten  erhaltene  Knabenbordelle  ge- 
geben habe.  Brasseur  macht  (U  67)  die  Bemerkung? 
in    Mittelamerika   wären  zu   den    Ballets   und    zu    allen 


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—     149    — 

theatralischen  Vorführungen,  auch  wenn  es  zu  deren 
Darstellung  einer  sehr  grossen  Zahl  von  Personen  bedurfte, 
fast  nur  männliche  Personen  verwendet  worden,  welche 
dann  auch  die  Frauenrollen  übernommen  hätten. 

Die  Cuewa-Indiauer.  Männer  mit  baumwollenem 
Mantel,  d.  h.  in  der  Kleidung  der  Weiber,  ergaben  sich 
der  «schändlichen  Sünde  wider  die  Natur*;  solcher  waren 
unter  den  Cuewa  viele,  besonders  bei  den  Machthabern,  und 
die  Vornehmen  hielten  sich  zur  Befriedigung  ihrer  Lust 
junge  Burschen  (mozos),  welche  in  der  Cuewa-Sprache 
Camayoa  heissen  (Oviedo  Sum.  508).  Als  1513  die 
Spanier  unter  ihrem  , Herkules,"  dem  ebenso  grausamen 
wie  goldgierigen  Vasco  Nunez  deBalboa,  nach  Quar^qua 
(Cuareca,  Careca,  Esquaraqua)  kamen,  schlachteten  sie 
600  Indianer  mit  deren  Herrscher  Tarecha  wie  wilde 
Tiere  ab;  sie  trafen  im  Hause  des  Herrschers  dessen 
Bruder  und  viele  andere  Quarequaner  als  weiblich  ge- 
kleidete Cinäden  (putos)an;  der  edle  Baiboa  Hess  auf 
sie  seine  Doggen  los,  welche  40  von  ihnen  «gleich  wilden 
Ebern  oder  flüchtigen  Hirschen"  zerfleischten;  auch  mit 
Negern  (Mosquitos  ?)  sollen  die  Quarequaner  „odia  in- 
testina* getrieben  haben  (Peter  Martyr  d.  2  1.  1  pg. 
43C,D;  Gomara  1564  c.  62;  1749  Hist.  c.  62;  c.  68; 
1852  p.  193—194;  Herrera  d.  1  1.  10c.  1;  OviedoUI 
1.  29  c.  5;  Ramusio  24  B;  Pauw  I  66;  Lafitau  I 
53 —  54;  Baumgarten  I  26;  Pöppig  375;  Bastian 
III  312;  Waitz  IV  350;  Peschel  410;  Schneider  I 
237;  Mantegazza  105;  Schnitze  1900,  162).  Nach 
Ansicht  nur  eines  Gewährsmannes  war  Päderastie  auf 
die  Vornehmen  beschränkt  und  wurde  vom  Volke  ver- 
abscheut (An  dag  oya  bei  Navarret  e  400;  Bastian  III 
312;  Waitz  IV  350;  Schnitze  1900,  162). 

Die  Indianer  der  Antillen.  UnterdenCibunay's 
auf  Cuba  gab  es  Päderasten  (Gomara  1564  c.  51; 
1852,  185;  Ramusio  150  £,  F).    Bei  den  Taini's  auf 


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—     150     — 

San  Domingo  (Haiti,  Hispaniola,  Espagnola)  wurden  päde- 
rastische  Akte  nicht  nur  straf  los  ausgeübt  (Herr  era  d.  1 
1.  3  c.  4;  Pöppig  375),  sondern  waren  sehr  stark  im 
Schwange;  während  indess  auf  den  Antillen  sowohl  als 
auf  dem  festen  Lande  Männer  und  Weiber  „einem  der 
Natur  entgegengesetzten  Laster*  ergeben  waren,  indem 
auch  die  Weiber  ultra  vas  debitum  sich  gebrauchen,  d.  h. 
sich  pädizieren  liessen,  nimmt  Charlevoix  die  Weiber 
der  Insel  Hispaniola  ausdrücklich  davon  aus;  aber  diese 
mieden  es  nicht  etwa  darum,  weil  sie  es  verabscheuten, 
auch  nicht  aus  Scham,  denn  sie  seien  die  allerlieder- 
lichsten  in  der  ganzen  neuen  Welt  gewesen;  sondern  blos 
des  Nachteils  wegen,  den  dieses  „schändliche  Laster"  ihnen 
verursacht  hätte  (Oviedo  II.  5  c.  3;  IV  1.  4  c.  16; 
Ramusionic.e  pg.  80  C;  Charlevoix  1733,1  55  —  57 
Baumgarten  II  617—618). 

4.  Die  Indianer  Südamerika's. 

Die  Chibcha  (Tschibtscha,  Muyska  oder 
Moska).  Die  Muyska  bestraften  Pädikation  (Herrera 
d.  8  1.  4  c.  7;  Pöppig  375);  wer  ihrer  schuldig  befun- 
den war,  erlitt  in  Call  (Neu-Granada)  nach  den  Gesetzen 
Nemequene's  einen  qualvollen  Tod,  „que  se  executasse 
luego  con  asperos  tormentos*  (Piedrahita  11.2  c.  5  pg. 
46);  auch  Auspeitschen  und  Abschneiden  der  Ohren  oder 
der  Nase  wurden  vorgenommen  (Gomara  1564  c.72;  1749 
Hist.  c.  72;  1852,  201;  Pöppig  375;  Waitz  IV  361). 

Die  Coconuco  (Popayan).  Bei  den  Laches 
muss  die  Päderastie  Sitte  gewesen  sein,  wenn  sie  auch  förm- 
lich nur  dem  Herrscher  gestattet  war;  denn  es  entsprach 
dem  Herkommen,  dass  der  sechste  Knabe,  den  eine  Frau 
gebar,  welche  dazwischen  ein  Mädchen  nicht  zur  Welt  ge- 
bracht hatte,  als  Cinäde  erzogen  wiu'de;  die  Cinäden,  welche 
manCusmos  nannte,  unterschieden  sich  in  Folge  der  Er- 
ziehung von  den  Frauen,    deren  Arbeiten   sie    auch  ver- 


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—     151    — 

richten    mussten,    ^in   nichts  als    durch  ihre  männlichen 
Kräfte«  (Piedrahita  I  1.  1  c.  2;  Waitz  IV  376). 

Die  Peruaner.  Päderastie  war  , Volkslaster"  bei 
den  Bewohnern  des  Küstenlandes  von  Peru  (Quito,  Gua- 
yaquil);  die  spanischen  Conquistadoren  Pacheco  und 
Ol  mos  belegten  ihre  Ausübung  mit  den  härtesten  Strafen 
(Cieza  de  Leon  1554  c.  49;  1853  c.  49;  Oviedo  IV 
L  46.  c.  16  pg.  216;Pöppig  375);  doch  soll  sie  ander- 
wärts in  Peru  nicht  geherrscht  haben  (Cieza  1554  c. 
64;  1853  c.  64;  Waitz  IV  417).  Garcilasso  erzählt 
aus  der  Geschichte  der  Eroberungen  der  Incas:  Der 
Feldherr  und  die  Hauptleute  drangen,  nachdem  in  den 
neu  eroberten  Landschafben  die  Gesetzgebung  und  alle 
dringendsten  Anordnungen  vorbereitet  worden  waren,  in 
die  Wüste  bei  Huallaripa  ein;  hier  befand  sich  ein 
wegen  seines  Reichtumes  an  Gold  berühmter  Berg.  Als 
die  Incaleute  diese  Wüste  auf  35  Meilen  durchstreift 
hatten,  gelangten  sie  zur  Meeresküste.  Das  durchstreifte 
Gebiet  hiess  bei  den  Urbewohnem  Yunca  oder  heisses 
Land,  und  dieser  Name  umfasste  verschiedene  an  der 
Küste  gelegene  Thäler.  Bei  Besichtigung  des  Küsten- 
landes entdeckten  die  Hauptleute  das  fruchtbare  Thal 
Hacari,  welches  von  mehr  als  20000  Indianern  bewohnt 
war;  diese  ganze  Bevölkerung  wurde  dem  Reiche  des 
Inca,  zu  dessen  grosser  Freude  ohne  Blutvergiessen,  ein- 
verleibt Von  Hacari  aus  weiterwandemd,  gelangten  die 
Incas  zu  den  Ortschaften  Vuinna,  Camana,  Caravilli, 
Picta,  Quellca  und  noch  in  andere  Küstenthäler  von 
insgesammt  60  Meilen  Länge;  an  dieser  Küste  waren  ver- 
schiedene Flüsse  von  den  ingeniösen  Indianern  diurch 
Ableitung  verhindert  worden,  sich  direkt  in's  Meer  zu  er- 
giessen,  um  statt  dessen  ihre  Felder  und  Wiesen  zu 
bewässern.  Der  Feldherr  Auqui  Titu  und  sein  Feldoberster 
machten  dem  Inca  alle  diese  Thäler  imterwürfig;  als  sie 
dann  auf  Veranlassung  des  Inca  Capac  Yupanqui  nähere 


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—    152    — 

Erkundigungen  über  die  Sitten  der  alten  Einwohner,  ihren 
Gottesdienst  u.  dergl.  einzogen,  fanden  sie  bei  denselben 
auch  das  «schändliche  Laster  der  Sodomiterei.*  Nach 
ihrer  Berichterstattung  befahl  der  Inca,  alle  dieses  Lasters 
fiir  schuldig  befundenen  Männer  zu  verbrennen;  auch 
die  Häuser  der  Schuldigen  sollten  nicht  geschont  und  so- 
gar ihre  Felder  vernichtet  werden,  damit  selbst  für  die 
Erinnerung  an  ein  »so  schändliches  Laster*  nichts  mehr 
übrig  bleibe.  Dieser  Befehl  soll,  zum  Schrecken  aller 
Einwohner  der  genannten  Thäler,  prompt  vollstreckt  worden 
sein.  Den  Unterthanen  des  Lica  sei  ein  solcher  Abscheu 
vor  der  Päderastie  eigen  gewesen,  dass  sie  nicht  ein- 
mal den  Namen  hätten  ertragen  können;  habe  ein  Bür- 
ger von  Cuzco  mit  einem  anderen  Streit  gehabt  und  diesen 
aus  Unbesonnenheit  einen  «Päderasten*  gescholten,  so  sei 
er  als  ehrlos  angesehen  worden,  weil  er  sich  nicht  ent- 
blödet habe,  ein  solches  Wort  in  den  Mund  zu  nehmen 
(Garcilasso  1609  1.  3  c.  13;  1744  I  c.  5;  Baum- 
garten II  267—268;  Wuttke  I  322).  Pauw,  welcher 
/1 67 — 69)  Garcilasso's  Erzählung  nach  der  französischen 
Uebersetzung  wiedergibt,  bezeichnet  den  Verfasser  als 
schönfärberisch;  er  will  gern  an  die  Verbreitung  der 
Päderastie  unter  den  Bewohnern  jener  Thäler,  nicht  aber 
an  die  Ausführung  solch'  harter  Strafen  glauben;  denn 
dabei  würde  das  Reich  des  Inca  nicht  10  Jahre 
haben  bestehen  können;  überdies  hätte  schon  einige 
Jahre  nach  der  Regierung  des  Inca  Capac  Ynpanqui  ein 
anderer  Beherrscher  des  Landes  die  Gesetze  gegen  die 
Päderastie  erneuern  müssen,  ein  Beweis,  dass  sie  trotz 
ihrer  angeblichen  Strenge  den  , Strom  der  Ausschweifung 
nicht  aufhalten  konnten*.  Mit  dem  von  Pauw  erwähnten 
späteren  Inca  dürfte  der  Inca  Roca  gemeint  sein,  über 
den  Montesinos  (c.  18)  in  einem  besonderen  Kapitel 
,Del  casamiento  de  Inga  Roca,  y  penas  que  estableciö 
contra  los  sodomistas*  (p.  102 — 107)   berichtet  hat.    Als 


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—     153    — 

nSmlich  nach  den  Einfällen  der  Barbaren  Päderastie  und 
, andere  Laster*  unter  den  Peruanern  überhand  nahmen, 
sannen  die  klagenden  Frauen,  sieh  vernachlässigt  sehend, 
auf  Abhülfe  und  verfertigten  den  goldenen  Kürass,  in 
welchem  der  von  seiner  Mutter  Mama-Ciuaco  in  der 
Höhle  von  Chingana  verborgene  Inca  Roca,  als  sei  er 
von  der  Sonne,  ,seinem  Vater*,  fortgeführt  worden,  dem  Volke 
erschien  und  die  Befehle  dieses  seines  erzürnten  Vaters, 
sich  zu  bekehren,  mitteilte;  er  heiratete  seine  Schwester 
Mama-Cura,  um  damit  die  Ehe  wieder  einzuführen,  und 
liess  die  Päderasten  verbrennen  (Bastian  III  316). 
Nach  Müller  (269)  sollen  „unnatürliche  Laster*  bei  den 
Peruanern  (Quichuas)  nicht  vorgekommen  sein.  Schnei- 
der (I  288)  und  Mantegazza  (105)  schliessen  sich  im 
Allgemeinen  der  Auffassung  des  Garcilasso  an.  Von 
dem  Treiben  der  Peruaner  der  vorincaischen  Zeit 
scheint  das  der  Bewohner  dieses  Landes  im  Anfange  des 
19.  Jahrhunderts  nicht  sehr  verschieden  gewesen  zu  sein  • 
nach  Zimmermannes  Schilderung  (VI  153)  wirkt  die  zu 
weit  getriebene  Sinnlichkeit  des  Frauenzimmers  verweich- 
lichend auf  das  männliche  Geschlecht ;  die  Stadt  Lima  habe 
eine  Menge  Petit  maitres,  Jünglinge,  weiblich  in  ihrem  Gange 
und  Betragen,  mit  fein  gekräuselten  Haarlocken,  vom  Kopf 
bis  zum  Fuss  nach  Ambra  duftend;  ihr  Tagesgeschäft 
sei  ausschliesslich  Musik,  Tanz,  Intrigue  und  Putz.  Um 
schon  früh  von  ihren  Eltern  verlassene  Kinder  zu  ver- 
hindern, Taugenichtse  zu  werden,  Laster  und  verderbte 
Gewohnheiten  („perversas  costunibres")  in  sich  aufzunehmen, 
waren  in  einem  Hospiz  zu  Santa  Cruz  de  la  Sierra 
unter  geschickte  Meister  gestellte  Fabriken  errichtet,  in 
denen  Gespinnste  und  Gewebe  von  Baumwolle  in  immer 
mehr  vervollkommnetem  Zustande  hergestellt  worden;  hier 
sollten  mechanische  Künste  und  Erziehung  der  Jugend 
zu  öffentlichem  Nutzen  gedeihen  (Viedma  119  §  440). 
—  Siehe  Meier  152;  Hössli  II  235;  Ulrichs  Incl. 44; 
Gl.  für.  21. 


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—     154    — 

Unter  den  Indianern  der  Andengegenden 
Peru's  war  Päderastie  um  1840  gewöhnlich,  wenn 
auch  kaum  mehr  verbreitet,  als  unter  den  Weissen 
jenes  Landes;  es  gab  dort  „Freudenjünglinge*,  welche 
ebenso  wie  Freudenmädchen  aus  dem  geschlechtlichen 
Verkehre  mit  Männern  ein  Gewerbe  machten;  man 
nannte  sie  Maricones  (Pöppig  375). 

Die  Kariben  (Caraiben  oder  Galibi).  Von 
der  Päderastie  auf  Tierra  firme  wird  aus  verschiedenen 
Gegenden  berichtet;  sie  herrschte  im  Gebirge  in  der  Nähe 
von  Coro  oder  Coriana;  die  spanischen  Conquistadoren 
trafen  dort  eine  Kaste  päderastischen  Zwecken  dienender 
Männer,  welche  gezwungen  waren,  weibliche  Arbeiten  im 
Hause  zu  verrichten  und  Weiberkleider  zu  tragen  (Her- 
rera  d.  4  1.  6  c.  1;  Simon  I  n.  2  c.  2;  Pöppig  375; 
Bastian  III  312;  Schnitze  1900,  1G2);  femer  gab  es 
solche  Männer  im  Golfe  von  Cenu  (Oviedo  11  1.  27  c.  8) 
und  in  anderen  Gegenden  (Oviedo  III  1.  29  c.  5).  In 
Esmeralda  wurde  Pädikation  bestraft  (Gomara  15G4  c. 
72;  1852,  201);  auch  in  Cumana  soll  die  Päderastie  sehr 
verabscheut  worden  sein  (Simon  I  n.  2  c.  25;  Waitz 
III  383;  Mantegazza  105).  Dass  der  , unnatürlichen 
Lust*  aber  auch  spanische  Soldaten  erlagen,  wird  von 
Simon  versichert  (Simon  I  n.  3  c.  1;  Waitz  UI  383). 
In  Santa  Marta  fanden  die  Spanier  Bildnisse,  welche  den 
Akt  der  Pädikation  unter  Männern  darstellten  («uno 
sobre  otro  por  deträs*)  und  auf  die  Neigung  der 
Bewohner  zu  derlei  Akten  schliessen  liessen  (Oviedo  II 
L  26  c.  10;  Gomara  1564  c.  71;  1749  Hist  c.  72;  1852, 
201;  Eamusio  94  E,  F;  siehe  ferner  Ramusio  41  £ 
und  Waitz  IH  383). 

Die  Tupi-Stämme.  Lerius  (1586,  295)  hat  be- 
obachtet^ dass  die  jungen  Tuupimambolsier  (Tuupinenkin) 
beiderlei  Geschlechts,  wiewohl  sie  ein  heisses  Land  be- 
wohnen, ganz  wider  die  Gewohnheit  der  Orientaler   (wie 


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—     155    — 

es  gewöhnlich  heisst),  der  Wollust  nicht  sehr  ergeben 
seien.  Um  ihnen  jedoch  nicht  mehr  nachzurühmen,  als  ihnen 
zukommt,  so  erinnerte  er  sich,  dass  sie  im  Streite  zu- 
weilen das  Schimpfwort  „Tyuire",  d.h.  „Knabenschän- 
der**, sich  einander  zuzurufen  pflegten;  woraus  sich  dann 
schliessen  liesse,  dass  „dieses  Laster**  ihnen  bekannt  sei 
—  denn  er  wisse  es  nicht  gewiss  und  wolle  es  nicht  für 
gewiss  behaupten .*)  Der  deutsche  Übersetzer  (1794,  296*) 
meint  dazu:  „Wie  kämen  sie  sonst  an  dies  Wort?  —  Aus 
einer  andern  Sprache  ?  Allein  auch  dann  müssten  sie  doch 
die  Bedeutung  wissen.**  —  Lerius  verbreitet  sich 
(293)  auch  über  eine  eigene  Art  von  Freundschaft  bei  den 
Indianern  Brasiliens,  die  darin  bestand,  dass  zwei  Männer 
alles  Ihrige  gemeinsam  hatten,  nur  die  Tochter  der 
Schwester  des  einen  konnte  der  andere  nicht  zum  Weibe 
nehmen;  ein  solcher  Freund  hiess  Aturassap  (Atouras- 
sap).  Lafitau  (I  607—608;  Baumgarten  I  279)  meint, 
diese  alten  Freundschafbsverbindungen  gäben  zu  dem 
Verdachte  eines  „Lasters**  einen  Anlass  nicht,  obschon 
darunter  dergleichen  vielleicht  wirklich  verborgen  sei  oder 
sein  könne.  Vergl.  das  Omapanga  der  Neger  S.  85.  —  Nach 
Soares  (281—282  c.  156)  ist  Päderastie  für  die  Tupi- 
namba's  erwiesen  (Martins  1832,  28**;  1867,  75-76*; 
Pöppig  375). 

Die  Guaikuru.  Unter  den  Guaikuru's  befanden 
sich  Männer  in  Weiberkleidern,  welche  mit  spinnen  und 
weben  sich  befassten,  Geschirre  verfertigten  und  andere 
weibliche  Arbeiten  verrichteten  (nach  Eschwege  II  283 
bei  Waitz  III  472);  sie  fUhlten  sich  als  Weiber  und  wur- 
den vom  Volke  Cudinas,  d.  h.  Verschnittene,  genannt 
(nachPrado  23  bei  Martins  1832,  28;  1867,74;  Ellis- 
Symonds  8). 


*)  Diese   Stelle   fehlt    in   der  ersten   französischen  Aus- 
gabe von  1578. 


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—     156    — 

Die  Indianer  der  Magellanischen  Meerenge 
(Puelchen,  Tuelchen,  Aucae,  Pechuenche,  Serano)  waren 
um  1740 — 1744  den  „gröbsten  Lastern**  ergeben  und 
hatten  nicht  einmal  den  dem  übrigen  Teile  der  Mensch- 
heit ganz  natürlichen  ersten  Begriff  von  der  Schamhaf- 
tigkeit  (Charlevoix  1756  lU  240;  1768  II  302). 

Marti  US  schildert  ein  acht  Tage  hindurch  währen- 
des Jahresfest  der  Muras  (d.  h.  Feinde),  welches  viel- 
leicht den  Eintritt  der  Jünglinge  in  die  Mannbarkeit  zu 
feiern  bestimmt  war;  bei  diesem  Feste  reihten  sich  die 
Männer  paarweise  nach  gegenseitiger  Wahl  zusammen 
und  peitschten  sich  mit  langen,  aus  der  Haut  des  Tapirs 
oder  des  Lamantin  (Manati)  gefertigten  Riemen  bis  auf 
das  Blut.  Diese  Geisselungen  waren  nach  Martins  ein 
Akt  der  Liebe  und  dürften  als  Ausdruck  eines  irrege- 
leiteten Geschlechts  Verhältnisses  zu  betrachten  sein  (Mar- 
tins 1867,  110—112;  Bastian  III  316). 

Die  Araukaner  oder  Moluchen.  Bei  den  Mo- 
luchen  besteht  der  Gottesdienst  fast  lediglich  aus  auf  den 
bösen  Gott  Camalasque  gerichteten  Religionsübungen 
mit  Ausnahme  einiger  besonderer  Zeremonien,  welche  zu 
Ehren  der  Verstorbenen  angestellt  werden.  Zur  Abhaltung 
des  Gottesdienstes  versammeln  sich  die  Gläubigen  im 
Zelte  des  Zauberers,  welcher,  den  Augen  d«s  Volkes  ent- 
zogen, in  einem  Winkel  des  Zeltes  verborgen  sich  auf- 
hält. In  diesem  versteckten  Aufenthalte  hat  er  eine 
kleine  Trommel,  eine  oder  zwei  runde  Kürbisklapper- 
büchsen voll  kleiner  Öeemuscheln  und  einige  viereckige 
Säcke  von  bemalten  Häuten,  worauf  sein  Zaubercharakter 
beruht  Die  Zeremonie  beginnt  damit,  dass  der  Zauberer 
auf  seiner  Trommel  einen  entsetzlichen  Lärm  schlägt  und 
die  Klapperbüchsen  in  Thätigkeit  setzt;  dann  stellt  er 
sich,  als  wenn  er  mit  dem  bösen  Gotte,  der  in  ihn  ge- 
fahren, kämpfte,  reisst  mit  vieler  Mühe  seine  Augen 
auf,  verzerrt  seine  Gesichtszüge,  lässt  Schaum  auf  die 
Lippen  treten,    verdreht   seine  Gelenke  und   bleibt  nach 


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vielen  gewaltsamen  krümmenden  Bewegungen,  gleich  einem 
mit  der  fallenden  Sucht  behafteten  Menschen,  steif  und 
unbeweglich;  erst  nach  einiger  Zeit  kommt  er  wieder  zu 
sich,  als  habe  er  nun  den  bösen  Gott  überwunden,  und  lässt 
eine  hellklingende,  schmachtende  Stimme  erschallen,  die 
nicht  von  ihm,  sondern  vom  überwundenen  bösen  Gotte 
herzukommen  scheint,  von  dem  man  nun  wegen  des 
entsetzlichen  Röcheins  glaubt,  dass  er  sich  selbst  für  über- 
wunden bekenne.  Damit  hält  sich  der  Zauberer  für  ge- 
nügend vorbereitet,  alle  ihm  vorgelegten  Fragen  auf  einer 
Art  von  Dreifuss  beantworten  zu  können.  Wegen  des 
Inhalts  seiner  Antworten  braucht  er  aber  nicht  ängstlich 
zu  sein;  wird  er  doch  in  beiden  Fällen,  ob  sie  richtig 
oder  falsch  ausfällen,  gut  bezahlt;  sind  sie  falsch,  so  trifft  nicht 
ihn,  sondern  den  bösen  Gott  die  Schuld.  Ungeachtet  der 
Ehrfurcht,  welche  diese  Zauberer  geniessen,  ist  doch  ihr  Beruf 
ein  sehr  gefährlicher.  Denn  wenn  z.  B.  ein  patagonisches  Ober- 
haupt stirbt,  so  werden  oft  einige  Zauberer,  besonders  wenn  sie 
vorher  einen  Wortwechsel  mit  ihm  gehabt  hatten,  getötet,  in* 
dem  alsdann  die  Indianer  den  Verlust  ihres  Oberhauptes  dem 
Zauberer  und  dessen  bösen  Gotte  zuschreiben ;  auch  haben 
sie  beim  Ausbruch  epidemischer  Krankheiten,  welche  viele 
Menschen  hinwegraffen,  Entsetzliches  auszustehen.  „Als 
nach  dem  Tode  des  Mayu-Pilqui-Ya  und  seines  Volkes 
die  Kinderpooken  beinahe  die  ganze  Nation  der  Checha- 
hets  aufgerieben  hatten,  gab  Cangapol  Befehl,  alle  Zau« 
berer  zu  töten,  damit  man  erführe,  ob  durch  dieses  Mittel 
die  Krankheit  nachlassen  würde*.  Diese  Zauberer  aber  sind 
von  beiden  Geschlechtem.  Die  männlichen  Zaube- 
rer werden  genötigt,  ihr  Geschlecht  zu  verlassen 
und  weibliche  Kleidung  anzulegen;  sie  dürfen 
nicht  heiraten,  wohl  aber  dürfen  es  die  weiblichen  Zaube- 
rer. Gewöhnlich  werden  die  männlichen  Zauberer  schon  als 
Kinder  zu  diesem  Stande  ausgesucht^  wobei  man  den- 
jenigen den  Vorzug  gibt,  die  schon  in  ihren  jugend- 


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lichsten  Jahren  ein  weibliches  Betragen 
äussern;  diese  werden  in  weibliche  Zauberkleider  gesteckt 
und  erhalten  eine  Trommel  und  Klapperbüchsen^  welche  zu 
dem  Berufe  gehören,  zu  dem  sie  sich  ausbilden  sollen 
(Falkner  1775,144—146;  1835,  48;  Bastian  III  810; 
Waitz  in  506). 

IV.  Die  Apktikep  oder  Hyperboreer. 

A.  Die  Eskimo    (Eskimantsik  d.  i.    Kohfleiseh- 
esser  oder  Innuit,  d.  i.  Männer,  Menschen) — vorwiegend 
in  Nordamerika. 
1.  Die    Grönländer. 

David  Cranz  hat  1765  das  Leben  der  Grönländer 
aus  eigener  Kenntnis  anschaulich  geschildert.  Sobald  ein 
Knabe  Hände  undFüsse  bewegen  kann,  gibt  ihm  der  Vater 
einen  kleinen  Pfeil  und  einen  Bogen  in  die  Hand  und  lässt 
ihn  damit,  wie  auch  am  See-Ufer  mit  Steinen,  nach  einem 
Ziele  werfen,  oder  er  lässt  ihn  mit  einem  Messer  Holz 
zu  Spiel-Gerätschaften  schnitzen.  Gegen  das  zehnte  Jahr 
schafft  er  ihm  einen  Kajak  an,  damit  er  sich  in  des 
Vaters  oder  in  anderer  Knaben  Gesellschaft  im  Fahren, 
Umkantern  und  Aufstehen,  im  Vogelfang  und  Fisch- 
fang übe.  Im  fünfzehnten  oder  sechzehnten  Lebens- 
jahre muss  er  mit  auf  den  Seehundfang.  Von  dem  ersten 
Seehunde,  den  er  erbeutet,  wird  den  Hausleuten 
und  Nachbarn  eine  Gasterei  gegeben.  Während 
des  Essens  muss  der  Knabe  erzählen,  wie  er 
den  Fang  angestellt  hat.  Die  Gäste  bewundem  seine 
Geschicklichkeit  und  rühmen  das  Seehundfleisch  als 
etwas  Besonderes;  und  von  nun  an  sind  die  Weiber  da- 
rauf bedacht,  ihm  eine  Braut  zu  wählen.  Denn  wer 
nicht  Seehunde  fangen  kann,  wird  aufs  Ausserste  verachtet 
und  muss  mit  Weibemahrung,  oder  mit  Alken,  die  er  auf 
dem  Eise  „fischen*  kann,  mit  Muscheln,  trockenen  Häringen 
und  dergl.  sich  durchbringen.  Und  deren  gibt  es  doch  einige, 
die    es    zu    dieser  Geschicklichkeit   nie   bringen   können. 


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C ranz  hat  selbst  inKangek(215*)  einen  frischen,  starken 
Grönländer  gesehen,  der  gar  nicht  im  Kajak  fahren  ge- 
lernt, ,,weil  seine  Mutter  ihn  daran  gehindert  hatte,  ans 
Furcht,  sie  möchte  ihn  ebenso  wie  ihren  Mann  und  ältesten 
Sohn,  die  zugleich  ertranken,  verlieren".  Und  dieser 
Mann  diente  bei  anderen  Grönländern  als  Magd 
und  verrichtete  alle  weibliche  Arbeit,  in  der 
er  sehr  fertig  war  (C ranz  S.Buch,  2.  Abschn.  §15 
pg.  214—215).  Wuttke  (1 184)  stützt  sich  wohl  auf  diese 
auch  von  Bastian  (III  314)  erwähnte  Schilderung,  wenn 
er  die  Grönländer  als  „übel  berüchtigt"  bezeichnet ;  und 
Schneider  (I  281)  dürfte  eben  dieselbe  Stelle  im 
Auge  gehabt  haben,  als  er  den  Grönländern  „erotische 
Verirrungen*  vorwarf. 

2.  Die  Konjagen  auf  den  Aleuten. 
Auf  seiner  Reise  in  den  nördlichen  Gegenden  Russ- 
land's  1785—1794  beobachtete  Billings  (210),  dass 
einige  Eltern  auf  Kadjak  ihren  Knaben  eine  weibliche 
Erziehung  gaben  und  sich  glücklich  schätzten,  wenn  sie 
ihre  Buben  an  die  Oberhäupter  zur  Befriedigung  „unna- 
türlicher Begierden''  ausliefern  konnten,  dass  solche  Kna- 
ben als  Weiber  gekleidet  wurden  und  alle  häuslichen 
Geschäfte  verrichteten.  Der  Contreadmiral  Sarytsohew 
(n,  31)  erzählt  als  etwas  Sonderbares  seine  Begegnung  mit 
einem  als  Weib  gekleideten  Konjagen.  Im  Juni  1790  seien 
eines  Nachmittags  auf  zwei-  und  dreispitzigen  Baidaren 
(Hautkähnen)  mehrere  Amerikaner  an  sein  SchiflF  ge- 
kommen und  mit  ihnen  ein  russischer  Pelzjäger  (Promy- 
schlennik),  der  seiner  Aussage  nach  von  der  Ansiedelung 
des  Kaufmanns  Schelechow  auf  Kadjak  mit  300  Insulanern 
ausgeschickt  war,  um  Seelöwen  und  Geflügel  auf  den 
umherliegenden  Inseln  zu  jagen.  Einer  von  diesen  mit- 
gekommenen Kadjakern,  ein  ungefähr  40  Jahre  alter 
„hässlicher  Kerl",  war  nicht  wie  die .  andern,  sondern  wie 


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—    J60    — 

ein  Weib  gekleidet;  sein  Gesicht  war  punktiert  und  in  seiner 
Nase  trug  er  Ringe  von  Perlenschmelz;  der  relzjäger 
aber  erzählte^  dieser  Mann  vertrete  bei  einem  jungen 
Insulaner  die  Stelle  eines  Weibes  und  verrichte  alle  dem 
weiblichen  Geschlechte  zukommenden  Arbeiten.  Deut- 
licher spricht  sich  über  die  Sitten  der  Konjagen  Langs- 
dorff  (58)  aus;  es  sei  ihm  versichert  worden,  dass  der 
ehelichen  Gemeinschaft  unter  den  nächsten  Blutsver- 
wandten nichts  im  Wege  stände  und  geschlechtliche  Ver- 
mischungen unter  Geschwistern,  ja  sogar  zwischen  Eltern 
und  ihren  leiblichen  Kindern  vorkämen;  ein  Konjage, 
den  er  darüber  zui*  Kede  stellen  liess,  habe  ihm  ganz 
unbefangen  geantwortet,  dass  seine  Nation  hierin  dem 
Beispiele  der  Seeottern  und  Seehunde  folge.  Die  männ- 
lichen Konkubinen  sehe  man  auf  Kadjak  häufiger  als  in 
Unalaschka  (vergleiche  den  Schlussabschnitt  dieses  Ka- 
pitels: die  Aleuten).  Die  russische  Verwaltung  scheine, 
setzt  er  hinzu,  solche  Sitten  zu  übersehen,  ja  es  Hessen 
sich  die  dort  wohnenden  Russen  zuweilen  selber  Hand- 
lungen dieser  Art  zu  Schulden  kommen;  denn  als  er 
eines  Tages  sich  erkundigt  habe,  weshalb  die  Herren 
Lieutenants  Chwostow  und  Dawydow  einen  angestellten 
Seeoffizier,  der  sehr  wohl  unterrichtet  zu  sein  schien,  bei 
jeder  Gelegenheit  mieden,  so  wurde  ihm  mitgeteilt,  dass 
dieser  Mann  als  ,  Knabenschänder*  nach  Sibirien  geschickt 
werden  sollte,  aber  Mittel  gefunden  habe,  in  die  Dienste 
der  russisch-amerikanischen  Kompagnie  zu  treten;  zwar 
wurde  er  später  von  der  genannten  Gesellschaft  entlassen, 
jedoch  nicht  wegen  seiner  geschlechtlichen  Skrupel- 
losigkeit^  sondern  wegen  zunehmenden  Schuldenmachens. 
Bei  Lisianskj  (199),  der  Kadjak  im  Mai  1805  besuchte, 
erfährt  man,  dass  die  Männer  in  Weibertracht  den  Namen 
Schoopan  oder  Sohüpan  ftihren;  sie  leben  mit  Männern 
zusammen  und  vertreten  bei  diesen  in  allen  Dingen  die 
Stelle   des  Weibes;  in    ihrer   Kindheit   werden   sie   mit 


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Mädchen  aufgezogen  und  lernen  alle  weiblichen  Geschäfte; 
Sitten  und  Tracht  des  anderen  Geschlechtes  eignen  sie 
sich  so  vollkommen  an^  dass  ein  Fremder  sie  naturgemäss 
zu  dem  Geschlechte  zählt,  zu  dem  sie  nicht  gehören. 
Und  als  einen  schlagenden  Beweis  dafUr^  wie  leicht  ein 
Irrtum  vorkomme,  erzählt  er  die  Begebenheit,  dass,  als 
einmal  ein  Häuptling  mit  einem  Schoopan  zur  Kirche 
ging,  um  sich  mit  ihm  trauen  zu  lassen,  erst,  da  die  Feier- 
lichkeit beinahe  beendet  war,  ein  Dolmetscher  zufällig 
hinzugekommen  sei  und  den  christlichen  Priester  ver- 
ständigt habe,  das  Paar,  das  er  ehelich  verbinden  wolle, 
bestehe  aus  zwei  Männern.  Dieselbe  Erzählung  bringen 
Dali  (402-403)  und  EUis-Symonds  (8).  Lisiansky 
fügt  noch  hinzu,  diese  Art  des  geschlechtlichen  Verkehrs 
sei  früher  so  bevorzugt  gewesen,  dass  das  Wohnen 
eines  solchen  „Monstrums  von  Schoopan*  in  einem  Hause 
als  glückbringend  gegolten  habe;  dieses  nähme  aber 
nunmehr  sichtlich  ab.  Als  etwas  sehr  Bemerkenswertes 
wird  das  Vorkommen  der  griechischen  Liebe  bei  den 
Konjagen  1856  von  Holmberg  (400  resp.  120)  ange- 
geben; Holmberg  meint  (401  resp.  121),  es  möge  diese 
Sitte  noch  jetzt  im  Stillen,  obzwar  nicht  mehr  so  allge- 
mein wie  früher,  fortleben,  denn  er  habe  Gelegenheit  ge- 
funden, in  der  Ansiedelung  Tschinjagmjut  auf  der  Insel 
Ljesnoi  «ein  solches  Mannweib*  selbst  zu  sehen,  über  das 
sein  Dolmetscher  mit  sehr  geheimnisvoller  Miene  ge- 
sagt habe:  «Dieser  Kerl  ist  ein  Weib!"  Als  Beweis  für 
die  früher  grössere  Häufigkeit  der  Schoopan's  bringt 
er  ausser  der  oben  bereits  mitgeteilten  Erzählung  von 
Sarytschew  noch  die  Uebersetzung  einer  weiteren 
russischen  Schilderung  von  Dawydow,  die  mir  nur  aus 
dieser  Quelle  bekannt  wurde;  sie  lautet  (400—401  resp. 
120—121)  wörüich: 

»Es  giebt  hier  (auf  Kadjak)  Männer  mit  tatuiertem 
Kinne,   die   nur   weibliche  Arbeiten  verrichten,  stets  mit 

Jahrbach  lU.  11 

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den  Weibem  zusammen  wohnen  und  gleich  diesen  Männer, 
manchmal  sogar  zu  zweien,  haben.  Solche  nennt  man 
Achnutschi k.  Sie  werden  nichts  weniger  als  verachtet, 
sondern  geniessen  Ansehen  in  den  Ansiedelungen,  und 
sind  meistenteils  Zauberer.  Der  Konjage,  der  statt  eines 
Weibes  einen  Achnutschik  hat,  wird  sogar  als  glücklich 
betrachtet  Der  Vater  oder  die  Mutter  bestimmen  den 
Sohn  schon  in  seiner  frühesten  Kindheit  zum  Achnutschik, 
wenn  er  ihnen  mädchenhaft  erscheint.  Es  kommt  bis- 
weilen vor,  dass  die  Eltern  sich  im  Voraus  einbilden, 
eine  Tochter  zu  erhalten,  und  wenn  sie  sich  in  ihren 
Hoffnungen  getäuscht  sehen,  so  machen  sie  den  neuge- 
borenen Sohn  zum  Achnutschik/' 

Ellis-Symonds  (8),  welche  dieses  Citat  offenbar 
ebenfalls  nur  aus  Holmberg's  Übersetzung  kannten  und 
verwerten  wollten,  haben  den  Irrtum  begangen,  die  wich- 
tigste Stelle  desselben,  dass  die  für  die  Rolle 
eines  Achnutschik  oder  Schupan  ausersehenen 
Knaben  infolge  ihres  mädchenhaften  Wesens 
von  den  Eltern  dazu  bestimmt  würden,  als  zwei- 
felhaft und  aus  den  ursprünglichen  Berichten 
durchaus  nicht  hervorgehend  hinzustellen;  „wenn 
es  bewiesen  werden  könnte,  wäre  es  recht  interessant*; 
aber  die  Effemination  des  Schupan  scheine  thatsächlich 
nur  auf  Suggestion  und  auf  die  Umgebung  zurück- 
zudeuten,  in  der  er  von  frühester  Kindheit  an  aufwachse. 
Ellis-Symonds  schreiben  den  von  Holmberg  nur 
übersetzten  ursprünglich  Dawydow'schen  Be- 
richt fälschlich  Holmberg  selbst  zu.  Dawydow 
lässt  aber  für  verschiedene  Fälle  beide  Möglich- 
keiten zu. 

Auch  von  Schelechow  wird  nach  Er  man  (1871, 
164)  die  allgemeine  Verbreitung  der  Päderastie  auf  Kad- 
jak  (sowie  für  die  Kamtschadalen  und  Aleuten)  bestätigt 
Einen   Teil    der  hier  wiedergegebenen  Mitteilungen  ver- 


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werteten  bereits  Waitz  III  314;  Schultze  1871,  51 
Peschel  220;  222;  223;  399,5);  Schneider  I  281; 
Ellis-Symonds  7—8.  Wied  hat  wohl  die  Kon- 
jagen im  Sinne,  wenn  er  meint,  dass  man  bei  den  Aleuten 
überhaupt  einige  Uebereinstimmung  mit  den  Missouri- 
Indianern  fände  (Wied  n  132***). 


B.  Die  mongolenartigen  isolierten  Völker  des 
nordöstlichen  Asiens  (Beringsvölker). 

l.Die  Tuski (Küsten-  oderFischer-Tschuktschen 
auch    Namollo). 

Die  Tuski,  von  Müller  (196),  Katzel  (1586) 
und  Schneider  (1281)  zu  den  Amerikanern  gestellt^ 
werden  von  Schurtz  (268;  300)  zu  den  Mongoloiden 
verwiesen.  Ueber  einen  Päderasten  unter  ihnen  berich- 
tet der  Kapitän  zur  See  Lutkd  (197—198);  Lutkö 
war  verblüfft,  in  einer  ihm  bekannten  Familie  eine  Person 
zu  erblicken  mit  männlichem  Gesichte,  aber  ganz  be- 
sonders sorgfältig  und  auf  weibliche  Art  gekleidet;  sie 
gehörte,  meint  er,  zu  d  er  Klasse  von  Männern,  die  man 
bei  allen  asiatischen  Völkern  antreffe,  zu  denen  das  Licht 
des  Christentums  noch  nicht  gedrungen  sei.  Ihre  Leiden- 
schaft für  das  , Verbrechen  wider  die  Natur*  führten 
zwar  die  Namollo's  selbst  auf  den  Teufel  als  den  Schul- 
digen zurück,  „aber  das  könnten  sie  Niemandem  einreden*. 
Vergl.  Peschel  (399,5)  und  Schneider  (I  281). 

2.  Die  Tschuktschen  (Renntier-Tschuktschen, 
oder  Korjaken). 
Nach  "Wrangel  (11  227)  war  Pädera^^tie  unter  den 
Tschuktschen  1823  etwas  ganz  Gewöhnliches  und 
wurde  durchaus  nicht  im  Mindesten  geheim  gehalten.  Es 
gab  unter  diesen  rohen  Naturmenschen  junge,  wohlgebil- 

11* 


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dete  Burschen,  die  sich  zur  Befriedigung  dieser  „wider- 
natürlichen Lüste*  hergaben.  Solche  Burschen  kleideten 
sich  mit  einer  gewissen  Sorgfalt,  putzten  sich  mit  allerlei 
weiblichen  Zierraten,  Glasperlen  u.  dergl.  heraus  imd 
scherzten  und  kokettierten  mit  ihren  Verehrern  eben  so 
,frei**,  wie  etwa  ein  junges  Mädchen  mit  ihrem  Verlobten. 
W ran  gel  und  seine  Begleiter  konnten  nicht  lunhin, 
ihrem  Abscheu  darüber  Ausdruck  zu  geben;  doch  das  hätten 
die  Leutchen  durchaus  nicht  begriffen,  vielmehr  hätten  sie 
gemeint,  es  sei  ja  nichts  Arges  und  ein  Jeder  folge  darin 
seinem  Geschmacke.  Höchst  auffallend  erschien  dem 
Beobachter  die  Verbreitung  der  Päderastie  bei  einem 
rohen  Volke  und  unbegreiflich  blieb  ihm,  wie  dieses 
nach  seiner  Auffassung  durchaus  unnatürliche  Laster 
unter  Naturmenschen  entstehen  und  bestehen  konnte,  da 
es  ihnen  doch  an  Weibern  nicht  fehlte  und  bei 
den  Tschuktschen  die  Ehe  nicht,  wie  es  bei  den  Jakuten 
und  Jukahiren  der  Fall  sei,  durch  Erlangung  des  Kalym 
erschwert  werde,  sondern  ohne  alle  Schwierigkeiten  ge- 
schlossen und  auch  ebenso  leicht  wieder  aufgehoben 
werden  könne;  siehe  auch  Er  man  (1871,  164).  K.  E. 
von  Baer  bei  Wenjaminow  (1839,  220,i)  bemerkt, 
bei  den  Tschuktschen  herrsche  die  Sitte,  dass  einige 
Männer  die  Stelle  der  Weiber  verträten.  Vergleiche 
ferner  Müller  (192),  Peschel  (399,5)  und  Schnei- 
der (I  279). 

Von  den  Korjaken  oder  Koräken  (von  Kora,  Renntier), 
wie  sie  bei  den  Russen  nach  Krascheninikow  heisseu 
hat  Er  man  (1848,  2.  Abt.  III,  250)  mitgeteilt,  dass 
sie  von  jeher  neben  ihren  eifersüchtig  geliebten  Frauen 
auch  noch  männliche  Personen  oder  K^elgi  hielten; 
und  nicht  nur  solche,  sondern  auch  noch  weit  rätsel- 
haftere —  steinerne,  mit  Fellen  bekleidete  Bettgenossen. 
Ihre  Liebesbezeugungen  gegen  unbelebte  Wesen  er- 
innerten dann  wieder  an  die  der  Ostjakinnen  am  Obi, 


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—    165    — 

welche  bekleideten  Holzklötzen  drei  Jahre  lang  die  Stelle 
ihrer  verstorbenen  Ehemänner  einräumten;  auch  die 
Korjaken  vermuteten  von  solch  einem  Steine,  zu  dem 
sie  sich  hingezogen  fühlten,  er  sei  ehemals  beseelt  ge-t 
wesen,  und  sie  bemerkten  sogar,  sobald  sie  ihm  sich 
näherten,  einen  eigentümlichen  Hauch,  dem  sie  auch 
Heilkräfte  zuschrieben  und  welcher  am  Ende  selbst  noch 
in  Europa  von  den  Kennern  des  tierischen  Magnetismus 
für  eine  ganz  glaubliche  und  beachtenswerte  Erscheinung 
erklärt  werden  dürfte.  Nach  Er  man  (1871,  164)  waren 
die  K^elgi  als  eine  eigene  Art  benannte  Männer,  die, 
durch  ihre  Kleidung  ausgezeichnet,  von  dem  übrigen 
Volke  aufs  Aeusserste  verachtet,  von  Einigen  aber  anstatt 
Beischläferinnen  gebraucht  wurden.  Ueber  Erman's 
Angaben  berichteten  später  Müller  (192),  Peschel 
(220),  Schneider  (I  279—280)  und  Mantegazza  (105). 

3.  Die  Itelmen  (spr.  Itenemen,  d.  h.  Bewohner,  Ur- 
bewohner)  oder  Kamtschadaleu. 
Nach  Steller  (289  a)  hatten  die  Männer  auf  Kamt- 
schatka Schupannen,  deren  sie  sich  neben  ihren 
Frauen  ohne  alle  Eifersucht  per  posterior a  bedienten. 
Steller's  originelle  Schilderung  von  Erzeugung  und  Auf- 
erziehuug  der  Kinder  ^bey  denen  Itälmenen*  (350— 351  a) 
sei,  soweit  sie  hierher  gehört,  wörtlich  in  ihrer  ganzen 
Eigenart  mitgeteilt :  „Weilen  die  Itälmenen  promiscue  in 
den  Wohnungen  und  vor  den  Augen  ihrer  leiblichen 
Kinder  den  Beyschlaf  vollbringen  und  gebähren,  so  lernen 
die  Kinder  von  Jugend  auf  das  Venushandwerk,  und 
probiren  solches  ihren  Eltern  nachzumachen.  Wenn 
solches  auf  ordentliche  Art  geschähe,  so  prahlten  die 
Eltern,  dasa  ihre  Kinder  so  balde  zum  Verstände  ge- 
kommen.    Wo   aber  Knaben  per  unam*)  einander  schän- 


*)  so  buchstäblich,  ob  mit  oder  ohne  Absicht  den  anus  verweiblichend ! 


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deten,  so  verwiesen  sie  ihnen  solches,  ak  eine  ungewöhn- 
liche Sache,  dennoch  aber  hielten  sie  selbe  nicht  davon 
ab,  sondern  sie  mussten  sich  in  Frauenkleider  einkleiden, 
unter  den  Weibern  leben,  ihre  Verrichtung  auf  sich 
nehmen,  und  sich  in  allem  als  Weiber  stellen,  und  war 
dieses  in  alten  Zeiten  so  allgemein,  dass  fast  ein  jeder 
Mann  neben  seiner  Frau  eine  Mannsperson  hielte,  womit 
die  Weiber  sehr  wohl  zufrieden  waren,  und  auf  das  freund- 
lichste mit  ihnen  lebten,  und  umgingen.  Die  Russen 
nennen  solches  tschupannen,  die  Itälmenen  aber  um 
Bolschaia Reka  Köiäch,umNischna  Koiachtschitsch. 
Diese  Knabenschänderey  hat  bis  auf  die  Taufung  dieser 
Nation  gedauret,  die  Schupannen  occupirten  sich  be- 
sonders bey  der  Kosaken  Ankunft,  derselben  Kleider  aus- 
zubessern, sie  zu  entkleiden,  und  ihnen  allerhand  Dienste 
zu  thun,  und  man  hatte  viel  zu  thun,  ehe  man  sie  von 
den  ächten  Weibern  unterscheiden  konnte.  Zeit  meines 
Aufenthalts  auf  Kamtschatka  fand  ich  noch  hin  und 
wieder  viele  von  diesen  unkeuschen  und  widernatürlichen 
Personen.*  Stell  er  (358)  teilt  mit,  bei  den  Itelmeu 
heisse  Köcüsikümäch  ein  „stachiicher  Arsch  wie  Rosen 
Strauch*,  dagegen  Haüelläkiimäch  ein  „glatter  Arsch, 
der  allezeit  zur  Sodomiterey  fertig  ist*.  Und  ,von  der 
Religion  derer  Itälmenen*  heisst  es  bei  Steller  (263): 
„Besonders  beschreiben  sie  Kutka  als  den  grössten  Un- 
fläther  und  Sodomitten,  der  alles  zu  stupriren  versuchet. 
Sie  erzehlen,  dass  er  einsmals  Seemuscheln  stupriret,  und 
weil  sich  diese  zugeschlossen,  dadurch  um  das  genitale 
gekommen  seye,  welches  nach  diesem  Chachy  von  ohn- 
gefehr  in  einer  gekochten  Muschel-Schale  gefunden 
und  ihrem  Manne  wieder  angeheilet.  Chachy 
wurde  einsmals  dergestalt  auf  Kutka  erbittert,  weil 
er  sie  verschmähte  und  mit  andern  Unzucht  triebe, 
dass  sie  ihre  muliebria  in  eine  Ente  verwandelte,  auf 
den     ßalayan     setzte     und    Kutka      einen    panegy- 


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—    167    — 

rium  halten  liesse^  worüber  sich  Kutka  dergestalt  erfreuet, 
dass  er  die  Ente  küsste.  Unter  dem  Küssen  verwandelte 
sich  dieselbe  wieder  in  ihre  natürliche  Gestalt,  und 
Kutka  erkannte,  was  er  geküsst  hatte,  machte  dabey  den 
Schluss,  dass  die  Annehmlichkeit  vom  veränderten  Bey- 
schlaf  nur  allein  in  einer  bezauberten  Phantasie  bestünde, 
und  dass  man  eigenthümliche  Sachen  niemals  so  heftig, 
als  fremde  und  verbothene  liebe**  (aach  von  Klemm  II 
324  und  Schnitze  1900,  163—164,  zitiert).  Kutka 
oder  Kutga  nannten  aber  die  Kamtschadalen  den  grössten 
unter  allen  Göttern,  den  Schöpfer  Himmelsund  der  Erde,  und 
wenn  von  ihren  Göttern  auf  die  Menschen  ein  Kückschluss 
gestattet  ist,  so  müssen  die  Kamtschadalen  geschlecht- 
lich ausserordentlich  begehrlich  angelegt  gewesen  sein.  Fer- 
ner berichtet  Steller  (274):  „Eine  Sünde  überhaupt  bey 
denen  Itälmenen  ist  eine  jede  Sache,  so  wider  das  Verboth 
ihrer  Vorältem,  dadurch  man  in  Unglück  geräth,  über- 
haupt sind  sie  voller  Aberglauben  .  .  .**  und  (275)  in  einem 
kleinen  Register  Kamschatzkischer  Sünden,  ihrer  Gebote 
und  Verbote:  „15)  Wer  den  Concubitum  verrichtet,  der- 
gestalt, dass  er  oben  auf  lieget,  begehet  eine  grosse  Sünde 
Ein  rechtgläubiger  Itälmen  muss  es  von  der  Seite  ver- 
richten. Aus  Ursache,  weil  es  die  Fische  auch  also  machen 
davon  sie  ihre  meiste  Nahrung  haben*  —  siehe  auch 
Klemm  II  329.  Stell  er 's  Beobachtungen  datieren 
aus  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts.  Wuttke  (184)  hält 
nach  Steileres  Schilderungen  zu  der  Erklärung  sich  be- 
rechtigt: „viehisch  aber  war  ehedem  das  Leben  der  Kamt- 
schadalen; alle  ihre  Gedanken  und  ihre  Phantasie  waren  auf 
Unzucht  gerichtet,  der  sich  schon  die  kleinen  Kinder  zur 
Freude  der  Eltern  ergaben*  .  .  und  Schnitze  (1871,  51) 
schreibt  ihm  das  wörtlich  nach;  Schneider  (I  279)  findet 
Steileres  Schilderung  mit  einem  Worte  , haarsträubend*. 
Während  des  19.  Jahrhunderts  aber  scheint  unter  der 
Herrschaft  der  Russen  in  diesen  Verhältnissen  die  Lan- 


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—     168    — 

dessitte  auf  Kamtschatka  sich  beträchtlich  geändert  zu 
haben,  denn  Er  man  (1848,  249*  —  250)  bekennt,  dass  auf 
seiner  Heise  in  den  Jahren  1828—1830  ihm  von  dem  , ab- 
normen" Hange  zu  den  Kojektschutschi  (Er man  selbst 
schreibt  an  eineranderen  Stelle  1871, 164:  Kojektschuchtschi) 
d.  h.  den  männlichen  Beischläfern  der  Männer,  welche  sich 
ehedem  viele  Jurtenbesitzer  neben  ihren  Ehefrauen 
ohne  jede  Störung  des  Hausfriedens  hielten,  nicht  ein 
Beispiel  vorgekommen  sei;  man  habe  ihm  aber  inTigilsk 
von  der  ehemaligen  Allgemeinheit  dieser  Sitte  durchaus 
unumwunden  und  wie  von  einer  ausgemachten  Sache 
erzählt;  er  halte  es  für  nötig,  die  Bestätigung  derselben 
um  so  entschiedener  hervorzuheben,  als  Kraschenini- 
kow  in  Beziehung  auf  dieses  merkwürdige  Verhältnis 
an  einer  Stelle  seines  Buches  dasjenige  wieder  zurück- 
nehme oder  vielmehr  in's  Unverständliche  hinein- 
ziehe, was  er  selbst  an  mehreren  anderen  Stellen  unzwei- 
deutig ausgesprochen  habe.  So  heisse  es  bei  Krasche- 
ninikow  (HI  125)  ^ auch  ihre  (der  Kamtschadalen)  Wei- 
ber sind  nicht  eifersüchtig,  wie  man  daraus  ersieht,  dass 
nicht  bloB  zwei  oder  drei  Frauen  eines  und  desselben 
Mannes  gut  mit  einander  leben,  sondern  dass  sie  auch 
die  Kojektschutschi  ertragen,  welche  mehrere  Männer 
sich  anstatt  Beischläferinnen  (wrajesto  nalojniz)  halten**; 
und  an  einer  anderen  Stelle  (K rasch eninikow  HI  24): 
,,Die  Kamtschadalen  haben  eine,  zwei  oder  auch  drei 
Frauen  (teils  in  einer  und  derselben  Jurte,  teils  an  ver- 
schiedeneu Orten,  um  abwechselnd  mit  ihnen  zu  ver- 
kehren: HI  124),  und  ausserdem  unterhalten  viele 
noch  die  in  ihrer  Sprache  sogenannten  Kojekt- 
schutschi, welche  (im  Russischen  kotoruie,  d.  i.  die 
männliche  Form  des  Relativum)  in  Weiberkleidem  um- 
hergehen, lauter  Weiberarbeiten  verrichten  und  mit  (anderen) 
Männern  gar  keinen  Umgang  pflegen,  gleich  als  ob  sie 
vor  deren  Beschäftigungen  Ekel  hätten  oder  fürchteten, 
sich  in  Dinge,  die  sich  für  sie  nicht  schicken,  einzulassen.» 


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—    169    — 

Dann  wieder  (Krascheninikow  III  27):  „Die  unbe- 
queme Leiter,  die  über  dem  Feuerplatze  hinweg  und 
durch  dessen  Hauch  aus  der  Dachöfinung  der  Erdjurte 
hinausführt,  wird  auch  von  den  Frauen,  und  oft  mit 
Kindern  auf  dem  Rücken,  furchtlos  gebraucht  —  und 
dennoch  haben  sowohl  sie  (die  Frauen)  als  auch  die 
Kojektschutschi  die  Erlaubnis,  aus-  und  einzugehen 
durch  den  sogenannten  j  upan,  d.  h.  durch  das  nahe  über 
dem  Boden  in  einer  Seiten  wand  der  Erdhütte  befindliche 
zweite  Zugloch  für  das  Feuer.  Geht  aber  ein  Mann 
durch  den  jupan,  so  wird  er  unausbleiblich  verlacht, 
und  es  scheint  ihnen  dieses  so  auffallend,  dass  sie  alle 
Eosaken,  welche  in  der  ersten  Zeit  jenen  Weg  wählten, 
weil  sie  noch  nicht  wagten,  durch  den  Rauch  zu  gehen, 
für  Kojektschutschi  hielten";  und  endlich  (Kra- 
scheninikow III 40):  »Die  Kosaken,  welche  man  die 
Nähnadel  oder  den  Schusterpfriem  führen  gesehen  hatte, 
wurden  für  Kojektschutschi  gehalten,  denn  bei  ihnen 
(den  Kamtschadalen)  werden  Röcke  und  Fussbekleidungen 
von  den  Frauen  genäht  und  von  den  Kojektschut- 
schi, welche  auch  in  Frauenkleidern  geben  und  Frauen- 
arbeiten verrichten,  sich  dagegen  mit  einer  männlichen 
Arbeit  niemals  befassen."  Diesen  ganz  unzweideutigen 
Angaben  gegenüber  findet  sich  nach  Er  man  (1848,  250) 
im  Index  des  Buches  von  Krascheninikow  (III  306) 
eine  in  wörtlicher  Uebersetzung  also  lautende  Erklärung: 
„Kojektschutschi  sind  Frauen,  welche  keinen  Um- 
gang mit  den  Männern  haben,  vergleiche  III,  24,  40, 
124,*  d.  h.  also  die  oben  zitierten  Angaben  K rasch e- 
ninikow's.  Erman  lehnt  sich  gegen  eine  derartige 
offensichtliche  Fälschung  der  Thatsachen  mit  Nachdruck 
auf;  wenn  die  Kojektschutschi  Frauen  waren,  was 
habe  dann  so  Auffallendes  darin  gelegen,  dass  sie  Frauen- 
kleider  trugen  und  dass  sie  nur  Frauenarbeiten  ver- 
richteten?   Und   weshalb  sage  man  dann:    «die  Männer 


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—    170    — 

halten  Kojektschutschi  anstatt  (wmjesto)  Beischläfer- 
innen'', und  gebrauche  fortwährend  den  Ausdruck:  „die 
Weiber  und  die  Kojektschutschi"?  Es  leuchte  ein, 
dass  Krascheninikow  oder  sein  Herausgeber  ganz 
zuletzt  noch  sowohl  von  übertriebener  Verschämtheit  be- 
fallen worden  seien  als  auch  der  seltsamen  Ueberzeugung 
gelebt  hätten,  nur  das  Register  ihres  Buches  würde  der- 
einst Leser  finden!  Was  aber  die  Sache  betreffe  und  den 
Vorwurf,  den  man  daraus  gegen  die  Kamtschadalen  ent- 
nehmen dürfe  —  trotz  der  anerkanntesten  Zärtlichkeit, 
die  sie  ihren  Frauen  und  ihren  Kindern  erwiesen  —  so 
sei  davon  eben  nichts  abzulassen!  Auch  könnten 
die  Bewohner  dieses  Teiles  der  Halbinsel  leider  nicht 
auf  die  ihnen  unbekannt  gebliebenen  Vorgänge  im 
klassischen  Altertum  sich  berufen,  sondern  nur  auf 
ihre  korjakischen  Nachbarn! 

Ich  habe  es  für  richtig  gehalten,  in  obiger  Schilderung 
getreu  Er  man  zu  folgen,  dem  das  Verdienst  gebührt,  mit 
seiner  Darstellung  ein  überaus  bezeichnendes  Beispiel  auf- 
gedeckt und  gegeiselt  zu  haben,  in  welcher  Weise  Ver- 
suche angestellt  werden,  aus  „moralischen"  Grundsätzen 
heraus  die  offenkundigsten  Thatsachen  zu  fälschen.  Ich 
selbst  kann  der  Aufdeckung  Er  man 's  nur  noch  hinzu- 
fügen, dass  die  versuchte  Verbesserung  der  Geschichte 
dem  Uebersetzer  des  Werkes  von  Krascheninikow 
in  das  Französische  vorzüglicher  und  unverfäng- 
licher als  dem  Verfasser  selber  gelungen  ist.  In  dieser 
Uebersetzung  sind  nämlich  zugleich  mit  dem  ganzen 
Register  alle  urnischen  Stellen  einfach  fort- 
gelassen. Lediglich  um  dieses  Werk  als  das  zu  kenn- 
zeichnen, was  es  ist,  eine  erbärmliche  Mache,  sei  hier 
der  volle  Titel  angemerkt,  da  es  in  die  Literatur  nicht 
hineingehört:  Histoire  de  Kamtschatka,  des  isles  Kurilski, 
et  des  contr^es  voisines,  publice  k  Petersbourg,  en  Langue 
Russienne,    par  ordre  de  Sa  Majest^  Imperiale.     On  y  a 


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—    171    — 

Joint  deux  Cartes,  l'une  de  Kamtschatka,  et  l'autre  des  isles 
Kurilski.  Traduite  par  M.  E***.  A  Lyon,  chez  Benoit 
Duplain.  1767.  2  Bändchen  (6,  XV  und  327,  resp.  6  und 
359  Seiten).  Nach  I  Seite  6  heisst  der  Uebersetzer,  um 
auch  ihn  gebührend  an  den  Pranger  zu  stellen:  Marc. 
Ant.  Eidous. 

4.  Die  Aleuten. 
Nach  Sauer  bei  Billin gs  (193)  war  ehemals  der 
Geschlechtstrieb  der  Bewohner  von  Unalaschka  «bis  zur 
Knabenliebe  ausgeartet*.  Die  geliebten  Knaben  aber 
trugen  Weiberkleidung.  L  a  n  g  s  d  o  r  f  f  (II  43)  schildert, 
wie  im  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  „einzelne 
schöne  junge  Knaben"  auf  Unalaschka  öfters  ganz  weib- 
lich erzogen  und  in  allen  Verrichtungen  der  Mädchen 
unterwiesen  wurden;  der  keimende  Bart  wurde  ihnen 
sorgfältig  ausgerupft  und  um  den  Mund  wurden  sie  wie 
die  Weiber  tatuiert  (tätowiert);  sie  trugen  Verzierungen 
von  Glasperlen  an  Händen  und  Füssen,  banden  und 
schnitten  ihr  Haar  nach  weiblicher  Art  und  ersetzten  in 
jedem  Sinne  die  Stelle  der  Konkubinen.  Man  habe  zu 
seiner  Zeit,  fährt  Langsdorff  fort,  Massregeln  noch 
nicht  ergriffen,  dieser  ^Sittenlosigkeit  und  unnatürlichen 
Lust*,  die  schon  seit  den  ältesten  Zeiten  dort  stattge- 
funden, Einhalt  zu  thun,  geschweige  dieselbe  gänzlich  zu 
vernichten;  man  kenne  dergleichen  Menschen  unter  dem 
(russischen)  Namen  Schopan.  Die  Schopan  mussten 
aber  schon  zu  LangsdorfTs  Zeit  in  Unalaska  verhält- 
nismässig selten  geworden  sein,  denn  Langsdorff  (11  58) 
weist  darauf  hin,  dass  man  die  männlichen  Konkubinen 
auf  Kadjak  häufiger  sehe  als  in  Unalaska.  Langsdorff's 
Mitteilungen  sind  durch  Druckfehler  entstellt  in  Ellis- 
Symonds  (7,l)  übergegangen,  Billings  und  Langs- 
dorff von  Schneider  (I  280)  zum  Teile  übernommen 
worden. 


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—     172    — 

Weniaminow  (1839,  220)  führt  als  Charakterzug 
der  Aleuten  von  den  Fuchsinseln  an,  dass  viele  von 
ihnen  mit  wahrhaft  christlicher  Anstrengung  gegen  die 
Sinnlichkeit  ankämpften ;  er  würde  bemerkenswerte  Beweise 
dafür  bringen  können,  wenn  er  nicht  fürchten  müsste,  sein^ 
Pflicht  als  Geistlicher  und  die  Gesetze  der  Wohlanständig- 
keit zu  verletzen;  der  Hang  zu  Ausschweifungen  sei,  wenn 
auch  nicht  ganz  ausgerottet,  doch  in  engere  Grenzen  zu- 
rückgetreten. Karl  Ernst  von  Baer  bezieht  bei  Wen- 
iaminow (1839,  220,  Fussnote)  diese  ängstliche  und 
nach  dem  „naturam  expellas  furca  ..  .*  betreffs  Dauerhaf- 
tigkeit des  Erfolges  aussichtslose  Äusserung  auf  die  in  jenem 
Archipel  ehemals  herrschende  Päderastie;  und  wohl  mit 
Recht;  denn  Erman  (1871,  163—164)  bemerkt,  wenn 
Pater  Wenjaminow  (Sapiski  II  63)  in  seinem 
Kapitel  von  den  geschlechtlichen  Gebräuchen  der  heid- 
nischen Aleuten  schliesslich  den  Ausspruch  eines 
Apostels  anführe,  „dass  es  sich  nicht  zieme,  gewisse  heim- 
liche Vorgänge  offen  zu  besprechen",  so  habe  er  ohne 
Zweifel  an  die  »ebenso  widerlichen  als  rätselhaften  Ent- 
artungen des  Geschlechtstriebes"  gedacht,  welche  auch  die 
ältesten  Reisenden  an  manchen  Insulanern  des  Be- 
rings-Meeres  bemerkt  hätten;  ihre  Ausübung  bei  Ur- 
völkem  dürfe  in  der  Anthropologie  nicht  übersehen 
werden;  das  Vorkommen  der  Päderastie  bei  der  ur- 
sprünglichen Bevölkerung  der  Inseln  des  Unalaschkaer 
Bezirkes  werde  auch  von  Schelechow  bestätigt.  Ver- 
gleiche ferner  Wuttke  (184),  Peschel  (220;  222;  223; 
399,5;  401—402),  Mantegazza  (105). 

Für  die  päderastischen  Verbindungen,  wie  sie  unter  den 
Aleuten  und  den  Kam  tschadalen  (Itelmen)  üblich  gewesen, 
hat  Bastian  (III  310)   den  neuen  Terminus  „Pantoioga- 

mie"  eingeführt. 

*  * 

Noch    dürften  bezüglich    der  Arktiker   zwei    in  der 


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—     173    — 

einschlägigen  Literatur  berührte  allgemeine  Gesichtspunkte 
hierorts  besonders  hervorzuheben  sein.  Virey  (I  289)  und 
Schneider  (I  281 — 282)  weisen  auf  die  Thatsache  hin, 
dass  dem  Wollustkitzel  erotischer  »Verirrungen*  nicht 
blos  , verweichlichte"  Südländer,  sondern  auch  die  ver- 
härteten Bewohner  des  rauhen  und  kalten  Nordens  nach- 
gehen. Es  wäre  dem  noch  hinzuzufügen,  dass  merkwürdi- 
gerweise im  Norden  der  bezeichnete  Kitzel  in  noch  viel 
stärkerem  Grade  als  im  Süden  wirksam  zu  sein  scheint 
und  die  Befriedigung  desselben  bei  den  Arktikem  stets 
straflos  geschah,  bei  vielen  Südländern  dagegen  schwer 
bestraft  oder  wenigstens  mit  harten  Strafen  bedroht  wurde. 
Femer  glaubt  Stelle  r  (302),  die  Anlage  zu  den  geschlecht- 
lichen ,  Ausschweifungen*'  der  Kamtschadalen  der  bei  diesen 
vorherrschenden  Fischnahrung  zuschreiben  zu  sollen; 
er  meint,  was  die  Nation  so  geil  und  venerisch  mache, 
könne  wohl  nichts  Anderes  sein,  als  der  Genuss  des 
vielen  Fischrogens  und  der  im  Winter  schimmlichten 
Fische,  wodurch  nicht  allein  eine  starke  Produktion  von 
Zeugungsstofl^  hervorgerufen,  sondern  auch  eine  Stimu- 
lierung der  Gef ässe  bewirkt  werde;  einen  Beweis  für  die 
Richtigkeit  seiner  Annahme  fand  Steller  in  der  That- 
sache, dass  eine  Itelmenin,  welche  ein  halbes  Jahr  lang 
zur  Probe  von  seinem  Tische  speiste  und  so  von  ihrer 
gewöhnlichen  Kost  abgehalten  wurde,  „viel  moderader 
und  keuscher  geworden  seye *.  Peschel  (401 — 402)  hat 
dem  beigefügt,  dass,  unter  Voraussetzung  der  Berech- 
tigung dieser  Annahme  Steileres,  die  Uebereinstimmung 
zwischen  den  Beringsvölkem  in  diesem  Punkte  ebenfalls 
nur  dem  Wohnorte  entsprungen  sein  würde.  —  Woher 
aber,  fragt  man  billig,  leitet  alsdann  die  Geilheit  der- 
jenigen Naturvölker  sich  ab,  welche  nicht  vorzugsweise 
auf  Fischnahrung  sich  angewiesen  sehen?  Virey  (I  289) 
glaubt,  die  mögliche  Ursache  der  Päderastie  bei  den 
Naturvölkern    in    der    weiten    Entfernung    der    daheim 


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—    174    — 

bleibenden  Weiber  von  ihren  auf  der  Jagd  befindlichen 
Männern  erblicken  za  dürfen. 

Ich  möchte  indessen  hier  auf  einen  anderen 
Umstand  die  Aufmerksamkeit  lenken^  der,  wenn  man  ein- 
mal rein  äusserliche  Erscheinungen  für  bestimmt  geartete 
Liebestriebe  verantwortlich  zu  machen  durchaus  not- 
wendig findet,  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden  sollte ; 
ich  meine  das  von  St  eil  er  an  mehreren  Orten  seines 
freimütigen  und  offenbarungsreichen  Buches  hervorge- 
hobene Nichtzusammenpassen  der  Geschlechts- 
organeder  beiden  Geschlechter  bei  den  Itelmen. 
^  .  .  .  kleine  membra  genitalia  und  grosse  und  weite 
müliebria^\  sind  es,  ,so  beyde  Völker  (Itelmen  und 
Mongolen)  noch  bis  diese  Stunde  gemein  haben" 
(Steller  251);  ,  .  .  .dabey  sind  die  Geburtsglieder  (der 
Männer)  sehr  klein,  ohnerachtet  sie  grosse  Yenerei  sind. 
Die  Weibespersonen  haben  kleine  runde  Brüste,  die  bey 
vierzigjährigen  Frauenzimmern  noch  so  ziemlich  hart  sind, 
und  nicht  bald  hangend  werden,  die  Schaam  ist  sehr 
weit  und  gross,  dahero  sie  auch  nach  denen  Cosaken  und 
Ausländem  allezeit  begieriger  sind,  und  ihre  eigene  Nation 
verachten  und  verspotten.  Ueber  der  Schaam  haben  sie 
alleine  ein  Schöpflein  schwarzer  dünner  Haare,  wie  ein 
Krochal  auf  dem  Kopf,  das  übrige  ist  alles  kahl.  Ausser 
diesem  haben  einige  und  zwar  die  mehresten  sehr  grosse 
Nymphen,  welche  ausserhalb  der  Schaam  auf  1.  Zoll  her- 
vorragen, und  wie  Marienglas  oder  Pergament  durch- 
sichtig sind.  Es  werden  dieselbe  nunmehro  vor  eine 
grosse  Schande  gehalten,  und  ihnen  in  der  Jugend,  wie 
denen  Hunden  die  Ohren,  abgeschnitten.  Die  Itälmenen 
nennen  diese  ausserordentliche  Nymphen  Syraetm:  und 
lachen  sie  selbst  einander  damit  aus"  (St  eil  er  299 — 300). 
Danach  scheint  es  dem  Unbefangenen,  als  seien  die 
Itelmen  zur  Befriedigung  ihrer  Wollust  durch  ihren  Körper- 
bau   von   der  Natur   selber   auf  Pädikation  hingewiesen 


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—    175    — 

worden;  es  bliebe  nur  noch  ein  Restbestand  für  die  Er- 
klärung zurück,  weshalb  die  Itelmen  mit  ihren  kleinen 
Genitalien  die  Fädikation  beim  Manne  und  nicht 
beim  Weibe  ausüben.  Man  wird  wohl  annehmen  dürfen, 
dass  Pädikation  die  besondere  Form  der  päde- 
rastischen  Liebesbefriedigung  nicht  nur  bei  den  Itelmen, 
sondern  auch  die  allgemein  gebräuchliche  der  Berings- 
völker  überhaupt  ist ;  ihre  Allgemeinheit  und  ihre  weite 
Verbreitung  würde  dann  auf  Grund  gewohnheitsmässiger 
Nachahmung,  welche  bei  den  Itelmen  nach  Stell  er  ja 
eine  überaus  grosse  Rolle  spielt,  leicht  verständlich  sein, 
während  eine  ganz  abweichende  Form  der  päderastischen 
Liebesbefriedigung,  die  Fellation,  beziehungsweise  I r - 
r  u  m  a  t  i  o  n ,  bei  den  Indianerstämmen  in  Nordamerika,  durch 
Holder  (625)  dargelegt,  uns  früher  schon  beschäftigte. 


Schlusswort. 

„Ce   qne  j'en  dirai  lui  laissera  toutes 
ses  fl6tri88areB,  et  ne  portera  qae  contre  U 
tynumie  qui  peut  abuser  de  Phorreur  m^ina 
que  l'on  en  doit  aroir." 
Montesquieu,   Esprit  des  lois,  l.d2c.  6. 

Die  in  den  beiden  vorausgehenden  Kapiteln  überTriba- 
die  und  Päderastie  bei  den  Naturvölkern  mitgeteilten  That- 
sachen  gestatten  einige  zwanglos  sich  ergebende  Schlüsse : 

1)  weder  alle  als  Weiber,  d.  h.  mit  weiblichen 
G«burtsorganen  geborenen  Personen,  noch  alle  als 
Männer,  d.  h.  mit  männlichen  Begattungswerkzeugen 
ausgestatteten  Menschen,  fühlen  den  Beruf,  die 
Rolle  zu  spielen,  welche  durch  die  Natur  ihrer  Ge- 
schlechtsorgane ihnen  auferlegt  zu  sein  scheint:  für  die 
Erhaltung  und  Vermehrung  des  Menschengeschlechtes 
ihr  Scherflein  beizutragen  und  in  Verbindung  damit  die- 
jenigen Arbeiten  zu  verrichten,  welche  die  menschliche 
Gesellschaft  den  lediglich  nach  ihren  verschiedenen  Ge- 
schlechtsorganen klassifizierten  beiden  Geschlechtem   an- 


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—    176    — 

zuweisen  pflegt;  eine  mehr  oder  minder  grosse  Anzahl 
Individuen  neigt  dahin^  die  Rolle  des  anderen,  ihm 
äusserlich  entgegengesetzten  Geschlechtes,  sei  es 
in  einigen,   sei  es  in  allen  Beziehungen,   zu  übernehmen; 

2)  solche  Personen  haben  oder  hatten  ohne  Aus- 
nahme alle  Naturvölker  aufzuweisen,  als  welche  be- 
kannt sind:  I.  die  negerartigen  Völker,  IL  die 
Malayen,  IIL  die  Indianer  und  IV.  die  Arktiker 
oder  Hyperboreer; 

3)  die  bei  den  Naturvölkern  zur  Beobachtung  ge- 
kommenen umischen  Erscheinungen  machen  auf  jeden 
Unbefangenen  durchaus  den  Eindruck  elementarster 
Natürlichkeit;  sie  beruhen  ofl^ensichtlich  auf  dem  allen 
gesunden  Menschen  natürlichen  Trieb  zur  Wollust  der 
Liebe  und  zeigen  sich  gänzlich  frei  von  rohem  Eigen- 
nutze, Grausamkeit  und  Mordgier;  roher  Eigennutz, 
Grausamkeit  und  Mordgier  haften  dagegen  denen  unver- 
kennbar an,  welche  als  anders  veranlagte  Naturen  die 
urnischen  Arten  der  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes 
nicht  nur  nicht  dulden  wollten,  sondern  durch  schwere 
Bestrafung  und  Tod  ausrotten  zu  können  für  möglich 
hielten  (vergl.  das  Treiben  Balboa's,  Seite  149  dieser 
Abhandlung);  die  umischen  Praktiken  regelten  sich  bei 
den  Naturvölkern,  wie  jeder  Handel  und  Wandel,  durch 
Angebot  und  Nachfrage;  wo,  wie  in  Peru,  Gesetze 
gegen  umischen  Umgang  bestanden,  sahen  die  Behörden 
sich  genötigt,  sie  milde  oder  gar  nicht  zu  handhaben, 
vielleicht  von  der  Erkenntnis  durchdrungen,  dass  die 
Gesetze  der  Völker  wegen  und  nicht  umgekehrt  die  Völker 
der  Gesetze  wegen  vorhanden  sind;  die  Handhabung  dieser 
Gesetze  würde  auch  nicht  eine  Ausrottung,  sondern  eine 
Überhandnähme  der  Praktiken  im  Geheimen  herbeige- 
führt haben,  so  dass  auf  die  entsprechenden  Paragraphen 
der  Gesetzgebung  der  Schrei  Martin  Luther's  An- 
wendung finden  könnte:  »Ach Herr e Gott,  ich  achte,  dass 
Unkeuschheit  durch  keine  andere  Weise  hätte  mögen  mehr 


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—    177    — 

und  greulicher  einreissen,  denn  durch  solche  Gebote  und 
Gelübde  der  Keuschheit*  (Luther 's  sämtliche  Werke, 
10.  Band,  Seite  441,  Erlangen,  1827); 

4)  die  Annahme  oder  die  Behauptung,  Tribadie  und 
Päderastie  seien  Laster,  welche  ausschliesslich  bei  in 
Grund  und  Boden  verderbten  Kulturvölkern  zur  Aus- 
bildung gelangten,  beruht  entweder  auf  vollkommenster 
Unkenntnis  oder  gar  auf  zielbewusster  Ableugnung  längst 
bekannter  Thatsachen;  Duflot  de  Mo  fräs  (II  371)  ge- 
stand, als  er  die  Indianer  kennen  lernte,  schmerzlich 
ü  ber  rasch  t  („douloureusementsurpris*),  diese  Thatsachen 
unumwunden  ein,  undFriedrich  von  Hellwald's  Be- 
merkung (456),  die  Päderastie  herrsche  «noch  jetzt"  bei  den 
orientalischen  Völkern,  macht  eben  diesen  Thatsachen 
gewichtige  Zugeständnisse. 

Wer  den  behandelten  umischen  Erscheinungen  gegen- 
über auf  der  vorgefassten  Meinung  beharrt  und  dieselben 
als  „scheussliche  Entartungen*  (Bastian  III 305)  brand- 
marken zu  müssen,  sie  von  psychischer  Ansteckung 
oder  von  einem  epidemischen  Hange  zur  Nachahmung 
herleiten  zu  können,  oder,  wie  Waitz  (I  357),  Viel- 
weiberei für  ihr  Auftreten  verantwortlich  machen  zu 
dürfen  glaubt,  der  mag  in  diesem  oder  jenem  Einzelfalle 
eine  mitbestimmende  Veranlassung  zu  einer  besonders 
eigenartigen  Ausbildung  umischer  Bethätigung 
aufgedeckt  haben;  allein  eine  Erklärung  des  lumischen 
Liebestriebs  hat  er  damit  nicht  geliefert.  Auch  geht  es 
nicht  an,  den  umischen  Liebestrieb  ganz  allgemein  als 
blosse  Begleiterscheinung  tieferer  körperlicher 
oder  seelischer  Störungen  aufzufassen,  denn  bei  den  in 
dieser  Arbeit  vorkommenden  Personen  handelt  es  sich 
um  ursprünglich  durchaus  kerngesunde  Naturen,  wie  des 
öfteren  ausdrücklich  hervorgehoben  wird,  nur  in  einem 
einzigen  Falle  um  einen  kranken  Mann  (vergl.  Seite  133). 

Für  das  praktische  Leben  ist  übrigens  eine  Er- 

Jahrbiich  III.  12 


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—     178     — 

klärang  des  Uranismus  gänzlich  belanglos;  es  genügt 
die  Anerkennung  seiner  Natürlichkeit.  So  lange 
ein  junges  Volk  seine  schnelle  und  ausgiebige  Vermehr- 
ung als  ein  drückendes  Bedürfnis  empfindet,  wird  mit 
diesem  auch  die  Gesetzgebung  zu  rechnen  haben  und 
alle  umischen  Praktiken  mit  unfreundlichem  Auge  betrach- 
ten; aber  anders  gestaltet  sich  die  Lage  und  sogar  eine 
Begünstigung  umischer  Praktiken  könnte  am  Platze  sein, 
sobald  einer  drohenden  Uebervölkerung  gesteuert  werden 
soll,  „da  die  Beschränkung  der  in  der  Ehe  zu  zeugenden  Kin- 
der auf  eine  bestimmte  Zahl  sich  selten  durchführen  lässt, 
so  sehr  man  sie  auch  durch  die  Aufforderung,  sich  nach 
der  Zeugung  eines  Sohnes  dem  beschaulichen  Leben  zu 
widmen,  unterstützen  mag*  (Bastian  lU  307). 

Montesquieu,  obwohl  er  die  Befriedigung  umi- 
scher Neigungen  als  „Verbrechen  gegen  die  Natur* 
behandelt  und  ihnen  grundsätzlich  feindlich  gegenüber 
steht,  hat  (Esprit  des lois,  Livre  XII  ChapitreVI:  ^Du  crime 
contre  nature")  in  seiner  geistreichen  Weise  und  bewunderns- 
werten Kürze  zu  Gunsten  der  Duldung  urnischer  Akte 
wohl  das  Beste  vorgebracht,  was  von  einem  entschiedenen 
Gegner  derselben  darüber  zu  erwarten  ist  —  ich  kann 
mir  nicht  versagen,  seine  dem  Gegenstande  gewidmeten 
vier  Abschnitte  ungekürzt  hierher  zu  setzen: 

,Es  wäre  nicht  Gott  wohlgefällig,  wenn  ich  den 
Abscheu  abzuschwächen  versuchen  wollte,  den  man  gegen- 
über einem  Verbrechen  empfindet,  welches  Religion,  Sitt- 
lichkeit und  Politik  der  Reihe  nach  verurteilen.  Man 
würde  es  verfolgen  müssen,  wenn  es  auch  allein  die 
Wirkung  hätte,  auf  ein  späteres  Geschlecht  die  Schwäche 
eines  früheren  zu  übertragen  und  durch  eine  lasterhaft 
verlebte  Jugend  auf  ein  ehrloses  Greisenalter  vorzuberei- 
ten. Was  ich  über  dasselbe  zu  sagen  habe,  lässt  ihm 
alle  seine  Brandmale    und  richtet    sich  allein    gegen  die 


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—     179    — 

Tyrannei,  welche  Missbrauch  stlbst  mit  dem  Abscheu 
treibt,  den  man  über  dasselbe  empfinden  muss. 

^Da  die  Natur  dieses  Verbrechens  es  mit  sich  bringt^ 
im  Verborgenen  ausgeübt  zu  werden,  so  ist  es  vorge- 
kommen, dass  Gesetzgeber  auf  die  Aussage  eines  Kindes 
hin  bestraft  haben:  damit  war  also  der  Verleumdung 
Thtir  und  Thor  geöffnet.  ,Justinian*,  sagt  Procop,  ,erliess 
ein  Gesetz  gegen  dieses  Verbrechen;  er  liess  diejenigen 
ziur  Verantwortung  ziehen,  welche  desselben  beschuldigt 
waren,  und  zwar  nicht  nur  seit  der  Einführung  des  Ge- 
setzes, sondern  mit  rückwirkender  Kraft.  Die  Verleum- 
dung eines  Zeugen,  sei  es  eines  Kindes,  sei  es  eines 
Sklaven,  genügte,  besonders  gegen  die  Reichen  und  die 
Parteigänger    einer  missliebigen  Richtung    (der  Grünen/. 

„Es  ist  eine  eigentümliche  Thatsache,  dass  drei  Ver- 
brechen: die  Zauberei,  die  Ketzerei  und  das  Verbrechen 
gegen  die  Natur,  bei  uns  mit  dem  Feuertode  bestraft 
wurden;  und  dabei  ist  man  im  Stande  zu  beweisen:  von 
der  Zauberei,  dass  sie  nicht  existiert,  von  der  Ketzerei, 
da^ss  sie  auf  unendlich  feinen  Auslegungen,  Erwägungen 
und  Abgrenzungen  beruht,  und  von  dem  Verbrechen  gegen 
die  Natur,  dass  es  allermeist  völlig  verborgen  bleibt. 

„Ich  stehe  nicht  an,  zu  behaupten,  das  Verbrechen 
gegen  die  Natur  erlange  in  keiner  Gesellschaft  eine  gross- 
artige Ausbildung,  es  müsste  denn  das  Volk  durch  irgend 
eine  dasselbe  begünstigende  Gewohnheit  darauf  gebracht 
werden,  wie  bei  den  Griechen,  deren  junge  Männer  alle 
ihre  athletischen  Uebungen  entblösst  vornahmen,  oder 
wie  bei  uns,  wo  die  häusliche  Erziehung  ausser  Gebrauch 
gekommen,  oder  wie  bei  den  Asiaten,  wo  einzelne  Männer 
eine  Menge  Frauen  haben,  die  ihnen  verächtlich  sind, 
während  die  anderen  keine  haben  können. 

„Man  möge  sich  hüten,  dieses  Verbrechen  künstlich 
hervorzurufen,  man  möge  es  vielmehr,  wie  alle  anderen 
Verletzungen  der  öffentlichen  Sittlichkeit,  durch  eine  um- 

12* 

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—     180    — 

sichtige  Polizei  verfoigeD  —  und  gar  bald  wird  mau 
wahrnehmen,  dass  die  Natur  ihre  Rechte  selbst  verteidigt 
oder  sie  wieder  an  sich  reisst.  Köstlich,  liebenswert  und 
entzückend  hat  sie  die  Wollust  mit  offenen  Händen  aus- 
gestreut und,  uns  mit  Wonnen  überschüttend,  bereitet  sie 
uns  durch  unsere  Kinder,  in  denen  wir  uns  selbst  sozu- 
sagen wiedergeboren  erblicken,  auf  noch  grössere  Be- 
friedigung vor,  als  ihre  Wonnen  selbst  im  Stande  sind 
uns  zu  verschaffen**  (Montesquieu  1.  12  c.  6,  ^d.  1844, 
159—160). 


Wenn  es  nun  auch  vollkommen  verständlich  erscheint, 
dass  der  weibliebende  Mann  und  das  manuliebende  Weib 
durch  ihre  gegebene  Natur  in  einen  feindlichen  Gegen- 
satz zum  mannliebenden  Manne  und  zum  weibliebenden 
Weibe  sich  gedrängt  sehen,  dass  sie  die  „Umkehrung"  ihrer 
Natur  nicht  so  ohne  Weiteres  nachzuempfinden  vermögen, 
und  dass  ein  Normalsexueller,  dem  ein  derartiger  Fall  noch 
nie  begegnete,  sogar  geneigt  sein  kann,  die  Möglichkeit 
des  Vorkommens  zu  bestreiten;  —  so  ist  es  andererseits 
verwunderlich,  wenn  nicht  betrübend,  zu  beobachten,  wie 
selbst  im  eigenen  Lager  Einigkeit  über  die  Beurteilung 
der  in  die  umische  Sphäre  fallenden  Erscheinungen  nicht 
zu  erzielen  ist.  Während  der  ehemalige  hannoverische 
Amtsassessor  Karl  Heinrich  Ulrichs  in  seinen  zwölf 
geistvollen  Schriften  über  mannmännliche  Liebe,  von 
.Vindex"  1864  bis  „Critische  Pfeile"  1879  (neue  Ausgabe 
1898  bei  Spohr),  den  mannliebenden  Mann  (Urning  oder 
Uranier)  und  das  weibliebende  Weib  (Umingin  oder  Ur- 
ninde)  in  allen  Gestaltungen  als  eine  Spezies  von 
Hermaphroditen  auffasst,  indem  er  die  Annahme  zu 
Grunde  legt,  im  ersteren  Falle  wohne  eine  weibliche  Seele 
in  einem  männlichen  Körper,  im  letzteren  Falle  eine 
männliche  Seele   in    einem  weiblichen  Körper  (Ulrichs 


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—     181     - 

„Critische  Pfeile%  Stuttgart  1879  S.  3),  und  während 
Ulrichs,  wie  schon  früher  (Seite  80  dieser  Abhandlung) 
erörtert  wurde,  das  Urningtum  als  aus  Mannlingen  und 
Weiblingen  mit  allen  möglichen  Zwischenstufen  bestehend 
sich  vorstellte,  —  erklärt  ein  neuerer  Schriftsteller, 
Elisarion  von  Kupffer,  die  Ulrichs'sche  Theorie 
vom  Urninge  und  von  der  Effemination  für  „krankhaft*' 
und  für  „alles  verwirrend  und  verzerrend*,  v.  Kupffer 
will  Ja  nicht  läugnen,  dass  es  solche  extreme  Erschei- 
nungen giebt,  denn  die  Natur  ist  unerschöpflich  reich, 
aber  die  Lieblingsminne  deckt  sich  mit  ihnen 
keineswegs"  (v.  Kupffer,  Lieblingsminne  und 
Freundesliebe  in  der  Weltlitteratur.  Eine  Sammlung  mit 
einer  ethisch-politischen  Einleitung.  Eberswalde  bei  Dyk, 
1900,  Seite  16).  Um  der  Wirklichkeit  nicht  Gewalt  an- 
zuthun,  verlangt  er  nichts  Geringeres,  als  eine  besondere 
Theorie  für  den  Mannling  und  eine  besondere  für  den 
Weibling.  In  Wirklichkeit  ist  aber  die  „Effemination* 
genau  ebenso  typisch  wie  die  ^Lieblingsminne*',  wenn 
auch  V.  Kupffer  dieses  weit  von  sich  weist.  Die  hier 
vorliegende  Studie  über  die  Naturvölker  liefert  dafür  den 
unwiderleglichen  Beweis;  sie  dürfte  auch  ihm  zeigen,  wie 
sehr  er  Unrecht  hat,  wie  sehr  er  der  Wirklichkeit  Gewalt 
anthut  durch  das  Verallgemeinern,  diesen  Hauptfehler 
aller  Menschen  (eigene  Worte  v.  Kupffer's,  Lieblings- 
minne Seite  16).  Ulrichs  selbst,  der  erste,  welcher  in 
Deutschland  seine  Stimme  zur  Befreiung  der  Urninge 
vom  heutigen  §  175  des  Strafgesetzbuches  erhob,  hat 
überall,  und  noch  in  seiner  letzten  Streitschrift  „Critische 
Pfeile**  1879,  Seite  3,  die  Urningsliebe  nur  als  eine 
besondere  Form  des  allgemeinen  Naturtriebes 
der  geschlechtlichen  Liebe  aufgefasst,  und,  unge- 
achtet seiner  eigenen  Theorie  von  den  Urningen  als  Herma- 
phroditen, die  Urningsliebe  als  ein  ^Naturrätsel" 
hingestellt.     Sie  ist  eben  kein  geringeres  Naturrätsel  als 


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—     182    — 

alle  geschlechtliche  Liebe  überhaupt;  als  das  grössere 
Rätsel  erscheint  sie  deshalb,  weil  sie  nicht,  wie  die 
normale  Liebe,  zu  den  alleralltäglichsten  Alltäglichkeiten 
des  menschlichen  Lebens  gehört.  Und  damit  knüpfen 
wir  nun  wieder  an  den  Anfang  unserer  Studie  an,  an  den 
dieser  Studie  als  Motto  vorgesetzten  Wahrspruch,  den 
der  römische  Dichter  Publius  Vergilius  Maro  seinem 
in  den  schönen  Alexis  verliebten  Helden  Korydon  in 
den  Mund  legt,  ein  Wahrspruch,  in  dem  die  ganze 
menschliche  Weisheit  von  der  Liebe  überhaupt  enthalten 
ist  —  eine  Philosophie  in  einer  Nussschale  — :  „die  Liebe, 
ja,  sie  liegt  im  Blute"  —  oder  wörtlicher: 

„die  eigene  Lust  bändigt  Jeden!" 
„trahit  sua  qucrnque  voluptas^ 


Literatur, 

(Erklärung:  Die  Werke,  welche  ich  nicht  selbst  gesehen 
habe,  sind  mit  einem  *  bezeichnet.) 

Barret,  Paul,  L'Afrique  occidentale.  La  nature  et  Phomme 
noir.  Avec  2  cartes.  2  Bände.  Paris,  Bailli^re  &  fils.  1888, 

Barth,  Heinrich,  Reisen  und  Entdeckungen  in  Nord-  und 
Central- Afrika  in  den  Jahren  1849  bis  1855.  2  Bände. 
Mit  Karten,  Holzschnitten  U.Bildern.  Gotha,  Perthes.  1857. 

Bastian,  Adolf,  Der  Mensch  in  der  Geschichte.  Zur  Be- 
gründung einer  psychologischen  Weltanschauung. 
3  Bände.     Leipzig,  Wigand.     1860. 

Baumann,  Oskar,  Conträre  Sexual-Erscheinungen  bei  der 
Neger-Bevölkerung  Zanzibars.  Zeitschrift  für  Ethno- 
logie. Organ  der  Berliner  Gesellschaft  für  Anthropo- 
logie, Ethnologie  und  Urgeschichte.  31.  Jahrgang,  1899, 
Heft  6,  Seite  608—670,  mit  2  Textfiguren  Seite  669. 
Berlin,  Asher  &  Co.     1809. 


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—    183    — 

Baurogarten,  Siegmund  Jacob,  Allgemeine  Geschichte 
der  Länder  und  Völker  von  Amerika.  Nebst  einer 
Vorrede  (des  Herausgebers).  Mit  vielen  Kapfern. 
2  Bände.  Halle,  Gebauer.  1.  Theil  1752;  2.  Theil  1753. 

BillingS,  Joseph,  Geographisch-astronomische  Reise  nach 
den  nördlichen  Gegenden  Kusslands  und  zur  Unter- 
suchung der  Mündung  des  Kowima-Flusses,  der  ganzen 
Küste  der  Tschutschken  und  der  zwischen  dem  Fest- 
lande von  Asien  und  Amerika  befindlichen  Inseln.  Auf 
Befehl  der  Kaiserin  von  Russland,  Katharina  der  Zwei- 
ten, in  den  Jahren  1785  bis  1794  unternommen  vom 
Kapitän  Joseph  Billings  und  nach  den  Original-Papieren 
herausgegeben  von  Martin  Sauer,  Sekretär  der  Ex- 
pedition. Aus  dem  Englischen  übersetzt.  Mit  Kupfern 
und  einer  Karte.  Berlin  bei  Oehmigke  dem  Jünge- 
ren.    1802. 

Bossu,  Nouveaux  Voyages  aux  Indes  Occidentales. 
2  Teile.    Amsterdam,  Changuion.  1769. 

Brasseur  d-)  Bourbourg*,  Histoire  des  nations  civilisäes 
du  Mexique  et  de  FAm^rique-Centrale,  durant  les 
sifecles  ant^rieurs  h.  Christophore  Colomb,  ^crite  sur  des 
documents  originaux  et  entiferement  in^dits,  puis^s  aux 
anciennes  archives  des  indig^nes.  4  Bände.  Paris, 
Arthus  Bertrand.     1857—1859. 

Bromme,  Traugott,  Gemälde  von  Nord-Amerika  in  allen 
Beziehungen  von  der  Entdeckung  an  bis  auf  die  neueste 
Zeit.  Eine  pittoreske  Geographie  für  alle,  welche  unter- 
haltende Belehrung  suchen,  und  ein  umfassendes  Reise- 
Handbuch  für  Jene,  welche  in  diesem  Lande  wandern 
wollen.     2  Bände.     Stuttgart,  Scheible.     1842. 

de  Brosse,  Histoire  des  Navigations  aux  Terres  Australes. 
2  Bände.     Paris,  Durand.     1756. 

*Bpyant,  Ed.,  Voyage  en  Californie.  Traduit  par  Mar- 
mier.     Paris,  Bertrand.    1849  [nach  Waitz  IV  243]. 

Cabepa  de  Vaca,  Aluar  Nunez,  La  relacion  y  comentarios 


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—    181    — 

del  gouernador  Aluar  Nunez  Cabe^a  de  Vaca,  de  lo 
acaescfdo  en  las  dos  jomadas  que  hfzo  a  las  Indias. 
Con  priuilegio,  Valladolid,  de  Cordoua.     1555. 

Cabeza  de  Vaca,  Alvar  Nuüez,  Naufragios  de  A.  N. 
Cabeza  de  Vaca,  y  relacion  de  la  jornada  que  hizo  ä 
la  Florida  con  el  Adelantado  Pänfilo  de  Narvaez.  Bib- 
lioteca  de  autores  espanoles,  desde  la  formacion  del 
IcDguale  hasta  nuestros  dias.  Tomo  XXIL  Historia- 
dores  primitivos  de  Indias.  Coleccion  dirigida  6  ilustrada 
por  Don  Enrique  de  Vedia.  Tomo  L  Seite  517 — 599. 
Madrid,  Rivadeneyra.  1852. 

de  las  Casas,  Barth^lemi,  Warhafitiger  vnd  gründlicher 
Bericht  der  Hispanier  grewlich  vnd  abschewlichen 
Tyranney  von  ihnen  in  dem  West  Indien,  die  newe 
Welt  genant,  begangen.  Oppenheim,  de  Bry.  1613. 
Siehe  Llorente. 

"^Castaneda,  Relation  du  voyage  de  Cibola.  1540.  Edition: 
Temaux-Comp.,   Paris.  1838  [nach  Bastian  HI  313]. 

Catlin,  Geo.,  Letters  and  notes  on  the  manners,  customs, 
and  condition  of  the  North  American  Indians.  Written 
during  eight  years  'travel  amongst  the  wildest  tribes 
of  Indians  in  North  America.  In  1832,  33,  34,  35,  36, 
37,  38,  and  39.  With  four  hundred  illustrations,  care- 
fully  engraved  from  his  original  paintings.  2  Bände. 
London;  Tosswill  and  Myers.  Iö41.  —  Eine  deutsche 
Uebersetzung  von  Heinrich  Berghaus:  Die  Indianer 
Nord- Amerikas  etc.  erschien  in  l.Bande,BrüsseI  u.  Leipzig, 
Carl  Muquardt,  1848. 

de  Charlevoix»  Pierre  Fran9ois  Xavier,  Histoire  de  Pisle 
Espagnole  ou  de  S.  Domingue.  4  Bändchen.  Amster- 
dam, Fran^ois  L'Honor^.  1733. 

de  Charlevoix»  Pierre  Fran^ois  Xavier,  Histoire  et  de- 
scription  generale  de  la  Nouvelle  France  avec  le  Jonmal 
historique  d^un  voyage  fait  par  ordre  du  Roi  dans 
l'Amerique  septentrionale.  2  Bände.  Paris,  Ganeau.  1744. 


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—    185    — 

de  Charlevoix»  Pierre  Fran^ois  Xavier,  Histoire  et  de- 
scription  generale  de  la  Nouvelle  France.  6  Bändchen 
(Bändchen  5  und  6  führen  den  Sondertitel :  Journal  d'un 
voyage  fait  par  ordre  du  roi  dans  l'Amerique  septen- 
trionnale,  adress^  ä  Madame  la  Duchesse  de  Lesdiguieres). 
Paris,  Nyon  fils.  1744. 

de  Charlevoix,  Pierre  Fran9ois  Xavier,  Histoire  du  Para- 
guay. 3  Bände.  Paris  1756.  —  Eine  deutsche  Ueber- 
setzung,  Geschichte  von  Paraguay  und  dem  Missions- 
werke der  Jesuiten  in  diesem  Lande,  aus  dem  Franzö- 
sischen des  P.  Franz  Xaver  de  Charlevoix  von  der 
Gesellschaft  Jesu,2Bände,  Nürnberg,  Raspe,  erschienl7G8. 

de  Cie^a  de  Leon,  Pedro,  La  Chronica  del  Peru,  nue- 
vamente  escrita.     Anvers,  Nucio.     1554. 

de  Cieza  de  Leon,  Pedro,  La  Crönica  del  Peru,  nueva- 
mente  escrita.  Biblioteca  de  autores  espanoles,  Tomo 
XXVI,  Historiadores  primitives  de  Indias  (de  Vedia). 
Tomo  IL  Seite  349-458.   Madrid,  Rivadeneyra.  1853. 

Coreal,  Fran^ois,  Voyage  de  Francjois  Coreal  aux  Indes 
occidentales,  contenant  ce  qu'il  y  a  vü  de  plus  remar- 
quable  pendant  son  s^jour  depuis  I666jusqu'en  1697. 
Traduit  de  l'Espagnol  avec  une  relation  de  la  Guiane 
de  Walter  Raleigh  et  le  Voyage  de  Narborough  ä  la 
Mer  du  Sud  par  le  Detroit  de  Magellan.  Traduit  de 
PAnglais.     3  Bändchen.     Amsterdam,  Bernard.  1722. 

Ross  Cox,  Adventures  on  the  Columbia  River,  including 
the  narrative  of  a  residence  of  six  years  on  the  western 
side  of  the  Rocky  Mountains,  among  various  tribes  of 
Indiana  hitherto  unknown:  together  with  a  joumey  across 
the  American  continent.     New- York,  Harper.  1832. 

Cranz»  David,  Historie  von  Grönland,  enthaltend  die  Be- 
schreibung des  Landes  und  der  Einwohner  &.,  insbe- 
sondere die  Geschichte  der  dortigen  Mission  der  Evan- 
gelischenBrüder  zu  Neu-Hermhut  und  Lichtenfels.  Mit  8 
Kupfertafeln  und  einem  Register.     Barby,  Ebers.  1765. 


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—     186    — 

Dali,  William  H.,  Alaska  and  its  resources.  2  Teile. 
Boston,  Lee  and  Shepard.  1870. 

""Dalryiiipley  Alexander,  An  historical  Journal  of  tbe  ex- 
peditions  by  sea  and  land  to  the  north  of  California 
in  1768—70  from  Spanish  Manuscript,  published  by 
A.  Dalrymple.  London.  1790  [nach  Waitz  IV  243]. 

*Dawydow, Dvukratnoje puteschestwiew  Ameriku  morskich 
ofizerow  Chwostowa  i  Davydowa,  pisannoje  sim  posled- 
nim  (russisch)  [zweimalige  Reise  der  Seeoffiziere  Chwostow 
und  Dawydow  nach  Amerika,  dargestellt  von  Letzterem. 
2  Bände]     [nach   Holm berg  400  (120)  Fussnote  **)]. 

Dapperus  Exoticus  Curiosus,  Das  ist  des  vielbelesenen 
Hn.  Odoardi  Dapperi  Afrika  —  America  —  und  Asi- 
atische Curiositäten,  so  in  den  drey  Haupt-Theilen  der 
Welt  verwundernd  vorkommen;  den  Begierigen  zur 
Lust,  den  Armen  zum  Heyl,  den  Gelehrten  zum  Ge- 
brauch, den  Studirenden  zum  Nutz,  Allen  aber  zur 
Vergnügung.  Auffs  kürtzeste  zusammengetragen  von 
Männling.    Frankfurt    und  Leipzig,   Kohrlach.   1717. 

Diaz  del  Castillo,  Bernal,  Historia  Yerdadera  de  la  con- 
quista  de  la  Nueva-Espafia.  Madrid  1632.  —  Auch 
in:  Biblioteca  de  autores  espanoles.  Tomo  XX  VL  Histo- 
riadores  primitivos  de  Lidias  (col.  de  Vedia).  Tomo  II. 
Seite  1—317.  Madrid,  Rivadeneyra,  1853.  —  Eine 
vollständige  deutsche  Uebersetzung  von  Rehfuss 
erschien:  Bonn,  1838,  und  eine  für  die  Jugend  bestimmte 
vcn  Adelina  Seebeck:  Hamburg  und  Gotha,  1848. 

Dühren,  Eugen,  Studien  zur  Geschichte  des  menschlichen 
Geschlechtslebens.  I.  Der  Marquis  de  Sade  und  seine 
Zeit  Ein  Beitrag  zur  Cultur-  und  Sittengeschichte 
des  18.  Jahrhunderts.  Mit  besonderer  Beziehung  auf 
die  Lehre  von  der  Psychopathia  sexualis.  2.  Auflage. 
Berlin  und  Leipzig,  Barsdorf,  1900.  —  [Seite  252—253.] 

Duflot  de  Mofras,  Exploration  du  territoire  de  POrögon, 
des    Califomiens    et    de    la   Mer    Vermeille,    ex^cut^»e 


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—     187     - 

pendant  les  aDD^es  1840^  1841  et  1842.  2  Bände  mit 
Atlas.    Paris,  Bertrand.  1844. 

Dumont,  M^Dioires  historiques  sur  la  Louisiane,  contenaDt 
ce  qui  y  est  arriv^  de  plus  m^morable  depuis  Pann^e 
1687,  puisqu'  k  present;  etc.  2  Bändchen.  Paris, 
Bauche.  1753. 

Ellis,  William,  Polynesian  researches,  during  a  residence 
üf  nearly  six  years  in  the  South  Sea  Islands;  including 
descriptions  of  the  natural  bistory  and  scenery  of  the 
Islands  —  with  remarks  on  the  history,  mythology, 
traditions,  govemment,  arts,  manners,  and  customs  of 
the  inhabitants.  2  Bände.  London,  Fisher,  Son  & 
Jackson.  1830. 

Ellis,  Havelock,  und  J.  A.  SymondS,  Das  konträre  Ge- 
schlechtsgefühl. Deutsche  Original- Ausgabe  von  Hans 
Kurella.  Bibliothek  der  Sozial  Wissenschaft.  7.  Band. 
Leipzig,  Wigand.  1896. 

*d'Ens,  Caspar,  Historia  Indiae  Occidentalis.  Colon. 
1612  [nach  von  Martins  1832,75,  Fussnote  *);  1867, 
28,  Fussnote**);  de  Pauw  II  98,  Fussnote*)]. 

Erman»  Adolph,  Heise  um  die  Erde  durch  Nord-Asien 
und  die  beiden  Oceane,  m  den  Jahren  1828,  1829  und 
1830  ausgeführt.  In  einer  historischen  und  einer  physi- 
kalischen Abtheilung  dargestellt  und  mit  einem  Atlas 
begleitet.     5  Bände.    Berlin,  Reimer.  1833—1848. 

Erman,  Adolph,  Ethnographische  Wahrnehmungen  und 
Erfahrungen  an  den  Küsten  des  Berings-Meeres.  Zeit- 
schrift für  Ethnologie.  Organ  der  Berliner  Gesell- 
schaft für  Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 
3.  Jahrgang,  Seite  149— 175  (Fortsetzung).  Berlin,  1871. 

*von  Eschwege,  Journal  von  Brasilien.  2  Hefte.  Weimar. 
1818  [nach  Waitz  IH  472]. 

Falkner,  Thomas,  Beschreibung  von  Patagonien  und  den 
angrenzenden  Theilen  von  Südamerika.  Aus  dem  Eng- 
lischen.   Gotha,  Ettinger.  1775. 


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—     188    — 

Falkner,  Thomas,  Descripcion  de  Patagonia  y  de  las  partes 
adyacentes  de  la  America  meridioDal.  Primera  edicion 
Castellana.  Buenos-Aires  1835.  —  Coleccion  de  obras 
y  documentos  relatives  a  la  historia  antigua  y  mo- 
dema  de  las  provincias  del  Rio  de  la  Plata  (por 
Pedro  de  Angelis).     Tomo  I.  Buenos  Aires.  1836. 

de  Flacourt,  EstieDDe,  Histoire  de  la  grand  isle  Mada- 
gascar.     Paris,  L'Amy.     1658. 

Foley,  Sur  les  habitations  et  les  moeurs  des  N^o-Cal^- 
doniens.  Bulletin  de  la  soci^t^  d^anthropologie  de  Paris. 
3.  s^rie,  tome  II,  Seite  604—606.  Paris,  Masson.     1879. 

Foley,  Quelque  d^tails  et  r^flexions  sur  lacoutume  et  les 
moeurs  de  la  coquette  n^o-caledonienne.  Bulletin  de 
la  soci^t^  d'anthropologie  de  Paris.  3.  serie,  tome  II, 
Seite  675—682.   Paris,  Masson.  1879. 

FritSCh,  Gustav,  Die  Eingeborenen  Süd-Afrika's  ethno- 
graphisch und  anatomisch  beschrieben.  Nebst  Atlas. 
Breslau,  Hirt.     1872. 

de  Hag'albanes  de  Gandavo,  Pedro,  Histoire  de  la  province 
de  Sancta-Cruz,  que  nous  nommons  ordinairement  Br^jsil. 
Lisbonne,  Gonsalvez.    1576.    —    Paris,  Bertrand.  1837. 

Garcia,  Fr.  Gregorio,  Origen  de  los  Indios  de  el  Nuevo 
Mundo,  e  Indias  Occidentales.     Madrid,  Abad.  1729. 

Gareilasso  de  la  Vega,  Primera  parte  de  los  commen- 
tarios  reales  que  tratan  del  origen  de  los  Yncas,  reyes 
que  fueron  del  Peru  etc.  Lisboa,  Crasbeeck.  1609.  — 
Französische  Uebersetzung :  Histoire  des  Incas,  rois 
du  Perou.  Nouvellement  traduite  de  PE^pagnol  de 
Garcilasso  de  la  Vega.  Et  mise  dans  un  meilleur 
ordre;  avec  des  notes  et  des  additions  sur  l'histoire  na- 
turelle de  ce  pays.    2  Bändchen.   Paris,  Praults  fils.    1744. 

Gerland,  Georg,  siehe  Waitz. 

de  Gomara,  Francisco  Lopez,  Historia  delle  nuove  Indie 
occidentali,  con  tutti  i  discoprimenti  &  cose  notabili, 
auuenute  dopo  Tacquisto  di  esse.    Parte  seconda.    Tra- 


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—    189    — 

dotta  neir  Italiana  per  Agostino  di  Craualiz.  Venetla, 
BoDadio.     15G4. 

de  Gomara,  Francisco  Lopez,  Historia  de  las  Indias. 
Historiadores  primitivos  de  las  Indias  oecideDtales. 
Tomo  n.  Madrid.  1749  (füllt  die  erste  Hälfte  des 
Bandes). 

de  Gomara,  Francisco  Lopez,  Cronica  de  la  Nueva-Es- 
paua.  Historiadores  primitivos  de  las  Indias  occiden- 
tales.  Tomo  IL  Madrid.  1749  (die  zweite  Hälfte  des 
Bandes  füllend). 

de  Gomara,  Francisco  Lopez,  Hispania  Victrix.  Primera 
y  segunda  parte  de  la  Historia  general  de  las  Lidias. 
Biblioteca  de  autores  espanoles.  Tomo  XXH.  Histo- 
riadores primitivos  de  Indias  (col.  de  Vedia).  Tomo  L 
Seite  155—455.    Madrid,  Rivadeneyra.     1852. 

*HammODd,  William  A.,  The  disease  of  the  Scythians 
(Morbus  Foeminarum)  and  other  analogous  conditions. 
American  Journal  of  Neurology  and  Psychiatry,  August 
1882  S.  339  [nach  Hammond  1891,  107]. 

Hammond,  William  A.,  Impotence  in  the  Male.  New- York. 
1883;  second  edition  1887.  —  Deutsch:  Sexuelle  Im- 
potenz beim  männlichen  und  weiblichen  Geschlechte. 
Autorisierte  deutsche  Ausgabe  von  Dr.  Leo  Salinger. 
Berlin,  Steinitz.     1889;    zweite  Auflage  1891. 

von  Hellwaid,  Friedrich,  Culturgeschichte  in  ihrer  na- 
türlichen Entwickelung  bis  zur  Gegenwart.  Augsburg, 
Lampart  &  Comp.     1875. 

Hennepin,  R.  P.  Louis,  Nouvelle  d^couverte  d'un  trfes 
grand  pays  situ^  dans  FAm^rique  entre  le  Nouveau 
Mexique  et  la  Mer  Glaciale.     Utrecht,  Broedelet.     1697. 

de  Herrepa,  Antonio,  Historia  general  de  los  hechos  de 
los  Castellanos  en  las  islas  y  tierra  firme  del  Mar 
Oceano.     5  Bände.    Madrid,  Franco.  1726—1730. 

HÖSSli,  Heinrich,  Eros  —  Die  Männerliebe  der  Griechen; 
ihre  Beziehungen  zur  Geschichte,  Erziehung,  Literatur 


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—     190    — 

und  Gesetzgebung  aller  Zeiten.  Mit  dem  Nebentitel: 
Die  UnZuverlässigkeit  der  äussern  Kennzeichen  im  Ge- 
schlechtsleben des  Leibes  und  der  Seele.  Oder  Forsch- 
ungen  über  platonische   Liebe,   ihre   Würdigung   und 

-  Entwürdigung  für  Sitten-,  Natur-  und  Völkerkunde. 
2  Bände.  Band  I  (XIII  und  304  Seiten)  Glarus.  183G. 
Band  II  (XXXH  und  352  Seiten)  St.  Gallen,  Scheitlin.  1838. 

Holder,  A.  B.,  The  Bote.  Description  of  a  peculiar  sexual 
perversion  found  among  North  American  Indians.  The 
New  York  Medical  Journal.  A  weekly  review  of  Me- 
dicine,  No.  575,  Vol.  L,  No.  23,  December  7,  1889, 
Seite  623—625. 

Holmberg,  Heinr.  Joh.,  Ethnographische  Skizzen  über 
die  Völker  des  russischen  Amerika.  Erste  Abtheilung. 
Die  Thlinkithen.  —  Die  Konjagen.  Acta  Societatis 
Scientiarum  Fennicae.  Tom.  IV,  Fascic.  2,  Seite 
281  -  422.     Helsingforsiae.       1 856. 

Howltt,  A.  W.,  On  some  Australian  Ceremonies  of  Initi- 
ation. The  Journal  of  the  Anthropological  Institute  of 
Great  Britain  and  Ireland.  Vol.  XIII,  Seite  432-459. 
London.  1884. 

Irving,  John  T.,  Indian  sketches,  taken  during  an  ex- 
pedition  to  the  Pawnee  tribes.  2  Bände.  Philadelphia, 
Carey,  Lca  and  Blanchard.  1885. 

Jäger,  Gustav,  Ein  bisher  ungedrucktes  Kapitel  über 
Homosexualität  aus  der  „Entdeckung  der  Seele*.  Jahr- 
buch für  sexuelle  Zwischenstufen  mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung: der  Homosexualität.  2.  Jahrgang,  Seite 
53—125,  Leipzig,  Spohr.  1900.    [Seite  84—85;  86.] 

James,  Edwin,  Account  of  an  expedition  from  Pittsbourgh 
to  the  Rocky  Mountains,  performed  in  the  years  1819 
and  '20.  With  an  Atlas.  2  Bände.  Philadelphia,  Carey 
and  Lea.     1823. 

Jobnston»  Harry  H.,  British  Central  Africa.  An  attempt 
to   give   some   account   of  a  portion  of  the  territories 


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—    191    — 

under  british  iofluence  Dorth  of  the  Zambezi.  With 
six  maps  and  220  illustrations  reproduced  from  the 
author  's  drawings  from  photographs.  London,  Methuen 
&  Co.    1897. 

Junghuhn,  Franz,  Die  Battaländer  auf  Sumatra.  Aus 
dem  holländischen  Original  übersetzt  vom  Verfasser. 
2  Theile.    Berlin,  Reimer.     1847. 

Keating,  William  H.,  Narrative  of  an  expedition  to  the 
source  of  St.  Peter's  River,  Lake  Winnepeek,  Lake  of 
the  Woods,  &c.  &c.  performed  in  the  year  1823. 
2  Bände.    Philadelphia,  Carey  &  Lea.     1824. 

Klemm,  Gustav,  Allgemeine  Culturgeschichte  der  Mensch- 
heit. 10  Bände.  Leipzig,  Teubner.  18421— 853.  Zweiter 
Band:  Die  Jäger-  und  Fischer  Völker  der  passiven 
Menschheit.    Mit  31  Tafeln  Abbildungen.  1843. 

^KrascheninikoWy  Etienne,  Opisanie  semli  Kamtschatki 
(russisch)  [Beschreibung  des  Landes  Kamtschatka]. 
4  Teile.  —  [Ueber  eine  französische  Uebersetzung 
von  Marc.  Ant.  £idous:  Histoire  de  Kamt- 
schatka etc.  Lyon,  Duplain.  1767,  2  Bändchen,  vergl. 
S.  170—171  dieser  Abhandlung]. 

Lafitau,  P.,  Moeurs  des  sauvages  ameriquains  compar^es 
aux  moeurs  des  premiers  temps.  Ouvrage  enrichi  de 
figures  en  taille  douce.  2  Bände.  Paris,  Saugrain  et 
Hochereau.  1724.  —  Eine  deutsche  Uebersetzung  ist 
die  allgemeine  Geschichte  der  Länder  und  Völker  von 
Amerika,    Band  1.    Siehe  Baumgarten. 

de  Lahontan,  Nouveaux  voyages  de  Mr.  Le  Baron  de 
Lahontan  dans  PAmerique  septeutrionale,  qui  contien- 
nent  une  r^latiou  des  difiRärens  peuples  qui  y  habitent. 
Tome  premier.    A  la  Haye,  frferes  PHonor^.  1708. 

'''Lambert,  Histoire  de  tous  les  peuples  [nach  de  Pauw 
II  98,  Fussnote  *)]. 

de  Langle,  Fleuriot,  Croisi^res  k  lacöte  d'Afrique.  1868. 
Texte  et  dessins  in^dits.    Le  Tour  du  Monde,  nouveau 


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—     192    — 

Journal  des  voyages.  Vol.  XXXI,  Seite  241—304. 
Paris,  Hachette  et  Cie.  1876. 

von  Langsdorff,  G.  H.,  Bemerkungen  auf  einer  Reise  um 
die  Welt  in  den  Jahren  1803  bis  1807.  2  Bände. 
Frankfurt  a.  M.,  Wilmans.  1812. 

Lasnet,  Notes  d'ethnologie  et  de  m^decine  sur  les  Saka- 
laves  du  Nord-Ouest.  Annales  d'liygi^ne  et  de  m^de- 
cine  coloniales,  recueil  public  par  ordre  du  ministre 
des  colonies.  Tome  deuxifeme.  Oetobre,  —  Nov.  —  Dec, 
Nr.  4,  Seite  471—497,  Paris,  Doin.  1899. 

Laudonniöre,  L'histoire  notable  de  la  Floride  situ^e  es 
Indes  Occidentales.  Mise  en  lumi^re  par  Basanier 
Paris,  Auvray.  1586.  —  Paris,  Jannet.  1853. 

Legiiövel  de  Lacombe,  B.-F.,  Voyage  k  Madagascar  et 
aux  lies  Comores  (1823  h.  1830).  Avec  un  Atlas. 
2  Bände.     Paris,  Desessart  1811. 

Lerius,  Joannes  (Jean  de  Lery),  Historia  navigationis  in 
Brasiliam,  quae  et  America  dicitur.  Vignon.  1586.  — 
Deutsch:  Des  Herrn  Johann  von  Lery  ßeise  in 
Brasilien.  Nach  der  von  dem  Herrn  Verfasser  selbst 
veranstalteten  verbesserten  und  vermehrten  lateinischen 
Ausgabe  tibersetzt.  Mit  Anmerkungen  und  Erläuter- 
ungen.   Münster,  Platvoet.  1794. 

Llsiansky,  Urey,  A  voyage  round  the  world  in  the  years 
1803,  4,  5,  &  6;  performed  by  order  of  his  imperial 
majesty  Alexander  the  first,  emperor  of  Russia,  in 
the  Ship  Neva.     London.  1814. 

Uopente,  J.-A.,  Oeuvres  de  Don  Barth^lemi  delasCasas, 
avec    Portrait.     Tome    premier.     Paris,  Eymery.  1822. 

Lutkö,  Fr^d^ric,  Voyage  autour  du  monde,  ex^cutö  par 
ordre  de  sa  majeste  Pempereur  Nicolas  1^*^ ,  sur  la  cor- 
vette  S^niavine,  dans  les  ann^es  lb26,  1827,  1828  et 
1829.  Partie  historique,  avec  un  Atlas  in  fol.  Traduit 
du  Russe  sur  le  manuscrit  original  sous  les  yeux  de 
Pauteur  par  F.  Boy^.  2  Bände.  Paris,  Didot  fr^res.  1835. 


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—    193    — 

Hackenzie,  Alexander,  Reisen  von  Montreal  durch  Nord- 
westamerika nach  dem  Eismeere  und  der  Süd-See  in 
den  Jahren  1789  und  1793.  Nebst  einer  Geschichte 
des  Pelzhandels  in  Canada.  Aus  dem  Englischen,  mit 
einer  allgemeinen  Karte  und  dem  Bildnisse  des  Ver- 
fassers.   Hamburg,  Hoffmann.  1802. 

Hantegazza »  Paul ,  Anthropologisch  -  kulturhistorische 
Studien  über  die  Geschlechtsverhältnisse  des  Menschen. 
Aus  dem  Italienischen.    Jena,  Costenoble.  1886. 

^Hanuscript:  R.  P.  Boscana  de  la  Mission  de  San 
Juan  Capistrano  [Seite  23];  im  Besitze  des  Herrn 
Duflot  de  Mo  fräs,  Attaches  der  französischen  Ge- 
sandtschaft in  Mexiko  [nach  DuflotdeMofrasn871]. 

'^'Hanuscript :  Cakchiquel  ou  Memorial  de  Tecpan  Atitlan 
[nach  Brasseur  de  Bourbourg  11  173  nota  1], 

Harquette,  Jacques,  Recit  des  voyages  et  des  d^couvertes 
du  K  Pfere  Jacques  Marquette  de  la  compagnie  de 
Jesus,  en  Pannee  1673  et  aux  suivantes;  la  continuation 
de  ses  vojages  par  le  R.  P.  Claude  AUoüez,  et  le 
Journal  antographe  du  P.  Marquette  en  1674  &  1675. 
Avec  la  carte  de  son  voyage  trac^e  de  sa  main.  Im- 
prim^  d'apr^  le  Manuscrit  original  restant  au  College 
Ste  Marie  ä  Montreal  Albanie,  N.  Y.,  Weed,  Parsons 
&  Cie.    1855. 

Bruzen  La  Hartiniere,  Le  Grand  Dictionnaire  g^graphi- 
que  et  critique  par  le  M.  Bruzen  La  Martiniere.  Tome 
m.  D.  E.  F.  Article  Floride.  Seite  90—96.  La  Haye, 
Amsterdam,  Rotterdam.  1726. 

von  Hartius,  C.  F.  Ph.,  Von  dem  Rechtszustande  unter 
den  Ureinwohnern  Brasiliens.    München.  1832. 

von  Hartius»  Cail  Friedrich  Phil,  Beiträge  zur  Ethno- 
graphie und  Sprachenkunde  Amerika's,  zumal  Brasiliens» 
L  Zur  Ethnographie.  Mit  einem  Kärtchen  über  die 
Verbreitung  der  Tupis  und  die  Sprachgruppen.  Leipzig, 
Fleischer.     1867. 

Jahrbuch  IH.  18 


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—    194    — 

Martyr,  Petrus,  De  rebus  oceanicis  et  orbe  nouo  decades 

.    tres.    Basileae,  Betalius.     1533. 

Mc  Coy,  Isaac,  History  of  Baptist  Indian  MissioDs:  em- 
braciDg  remarks  on  the  former  and  presenl  conditioQ 
of  the  aboriginal  tribes;  their  settlement  within  the 
Indian  Territory,  and  their  future  prospects.  Washing- 
ton —  N.  York.     1840. 

Hc  Kenney,  Thomas  L.,  Sketches  of  a  tour  to  the  Lakes 
of  the  character  and  customs  of  the  Chippeway  Indians, 
and  of  incidents  connected  with  the  treaty  ofFond  du 
Lac.    Baltimore,  Lucas  Jun'r.     1827. 

Meier,  M.  H.  E.,  Päderastie.  Ersch  und  Gruber's  Allge- 
meine Encyclopädie  der  Wissenschaften  und  Künste. 
Dritte  Section:  O— Z.  Neunter  Theil.  Seite  149—189. 
Leipzig.  1837. 

Hoerenhout,  J.-A.,  Voyages  aux  lies  du  grand  Oc^n, 
contenant  des  documents  nouveaux  sur  la  g^ographie 
physique  et  politique,  la  langue,  la  litt^rature,  la  r^ligion, 
les  moeurs,  les  usages  et  les  coutumes  de  leurs  habi- 
tans  etc.     2  Bände.     Paris,  Bertrand.  1837. 

Hontesinos,  Fernando,  Memorias  antiguas  historiales  y 
polfticas  del  Pirü.  St.  Thomas  de  Villanueva.  1642. 
—  Coleccion  de  libros  espaüoles  raros  ö  curiosos. 
Tomo  XVL  Madrid,  Ginesta.  1882.  ~  Französische 
Uebersetzung:  M^moires  histoiiques  sur  l'ancien  P^rou, 
etc.  Paris,  Ternaux-Comp.  1840. 

Montesquieu,  Esprit  des  lois.  Avec  les  notes  de  Pauteur 
et  im  choix  des  observations  de  Dupin,  Crenier,  Vol- 
taire, Mably,  La  Harpe,  Servan,  etc.  Paris,  Didot 
freres.  1844. 

I6  Heyne,  Jacobus,  Indorum  Floridam  provinciam  inha- 
bitantium  eicones,  primüro  ibidem  ad  vivum  expressae^ 
addita  ad  singulas  brcvi  earum  declaratione.  Nunc 
verö  recens  a  Theodore  de  Bry  Leodiense  in  aes  inci- 
sae  &  evulgatae.     Mit   besonderer  Paginierung   des    2. 


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—     195    — 

Teiles :  Brevis  narratio  eorum  quae  in  Florida  Americae 
provincia  Gallis  aceiderunt,  secunda  in  illam  navigatione 
duce  Renato  de  Laudonniere  classis  praefecto^  anno 
1564.  Quae  est  secunda  pars  Americae.  Francoforti  ad 
Moenum,  Wechel.     1E91. 

Hüller,  Friedrich,  Allgemeine  Ethnographie.  Wien, 
Holder.     1873. 

de  Navarrete,  Martin  Femandez,  Coleccion  de  los 
viages  y  descubrimientos,  que  hicieron  por  mar  los  Es- 
paöoles  desde  fines  del  siglo  XV,  con  varios  documen- 
tos  in^ditos  concernientes  ä  la  historia  de  la  marina 
castellana  y  de  los  establecimientos  espaüoles  en  Indias 
coordinada  6  ilustrada.  Tomo  III.  Viages  menores, 
y  los  de  Vespucio,  poblaciones  en  el  Darien,  suplemento 
al  tomo  II.  Madrid.     1829. 

Norris,  Robert,  Memoirs  of  the  reign  of  Bossa  Ahadee 
king  of  Dahomey,  an  Inland  country  of  Guiney.  Lon- 
don. 1789.  —  Deutsch:  Reise  nach  dem  Hoflager  des 
Königs  von  Dahomey  Bossa  Ahadi,  im  Jahre  1772. 
Magazin  der  merkwürdigen  neuen  Reisebeschreibungen, 
5.  Band.  Seite  383—448.    Berlin,  Voss.     1791. 

de  Oviedo  y  Valdös,  Gonzalo  Hemandez,  Sumario  de 
la  natural  historia  de  las  Indias.  Biblioteca  de  autores 
espaüoles.  Tomo  XXII.  Historiadores  primitives  de 
Indias  (col.  de  Vedia).  Tomo  I.  Seite  471—515. 
Madrid,  Rivadeneyra.     1852. 

de  Oviedo  y  ValdöS,  Gonzalo  Fernandez,  Historia 
general  y  natural  de  las  Indias,  islas  y  tierra-firme 
de  Mar  Ocdano.  4  Bände.  Madrid.  1851—1855. 
—  Popp  ig  zitiert  eine  seltene,  mit  gotischen 
Buchstaben  gedruckte  Ausgabe,  Salamanca,  Juan  de 
Junta.  1547. 

*PalOU,  Francisco,  Relacion  historica  de  la  vida  del  R. 
P.  Junipero  Serra  y  de   las  Misiones  que  fundö  en    la 

13* 

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—    190    — 

Califoraia  Septentrional.    Mexico.    1787  [nach  Duflot 
deMofras  II  371,  Fussnote  IJ. 

de  Pauw,  Kecherches  philosophiques  sur  les  Am^ricaiDS 
ou  M^moires  int^ressaDts  pour  servir  ä  Phistoire  de 
Tespfece  humaine.    2  Bändchen.    Berlin,  Decker.  1768/9. 

Perrin  du  Lac,  Voyage  dans  les  deux  Louisianes  et  chez 
les  Nations  sau  vages  du  Missouri,  par  les  Etats-Unis, 
rOhio  et  les  provinces  qui  le  bordent  en  1801.,  1802. 
et  1803.  —  Deutsch  von  K.  L.  M.  Müller,  Reise  in 
die  beyden  Louisianen  unter  die  wilden  Völkerschaften 
am  Misöouri,  durch  die  Vereinigten  Staaten  und  die 
Provinzen  am  Ohio  etc.  2  Theile.  Leipzig,  Hinrichs.  1807. 

Peschel,  Oscar,  Völkerkunde.  Fünfte  Auflage,  bearbeitet 
von  Alfred  Kirchhoff.  Leipzig,  Duncker  &  Hum- 
blot.  1881  (1.  Ausgabe  1874;  letzte,  siebente  Auflage, 
unveränderter  Abdruck  des  Urtextes,  mit  einem  Vor- 
wort von  von  Richthofen,  1897). 

Piedrahita,  Lucas  Fernandez,  Historia  general  de  las 
conquistas  del  nuevo  reyno  de  Granada.  Amberes, 
Verdussen.  1688. 

Pöppig,  Eduard,  Indier,  Indianer.  Ersch  und  Gruber's 
Allgemeine  Encyclopädie  der  Wissenschaften  und  Künste. 
Zweite  Section:  H— N.  17.  Theil.  Seite  357—386. 
Leipzig.     1840. 

*de  Prado,  Francisco  Aloez,  Historia  dos  Indios  Cavalleiros. 
Jomal  o  Patriota  No.  3.  Rio  de  Janeiro.  1814  [nach 
von  Martins  1832,  28,  Fussnote  *)  und  1867,  74, 
Fussnote  **)]. 

Prettie»  Fran9ois,  Beschryvinge  van  de  overtreflRelijcke 
ende  wydtvermaemde  zeevaerdt  van  den  Edelen  Heer 
ende  Meester  Thomas  Candisch,  met  drie  Schepen 
uytghevaren    den   21.  July  1586.      Amsterdam.     1617. 

Ramusio,  Gio.  Battista,  Delle  navigationi  et  viaggi.  Vo- 
lume III.     Venetia.     1606. 


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—    197    — 

Ratzel/Friedrich,  Völkerkunde.  Zweite,  gänzlich  neu- 
bearbeitete Auflage.  Leipzig  und  Wien,  Bibliographisches 
Institut.     2  Bände.     1894/5. 

JRemy,  Jules,  Ka  Mooolelo  Hawaii  —  Histoire  de  PArchipel 
Hawaiien  (lies  Sandwich).  Texte  et  traduction  pr^o^d^ 
d'une  introduction  sur  l'^tat  physique,  moral  et  politique 
du  pays.     Paris  &  Leipzig,  Franck.     1862. 

de  Roquefeuil,  Camille,  Journal  d'un  voyage  autour  du 
monde,  pendant  les  ann^es  1816,  1817,  1818  et  1819. 
2  Bände.    Paris.     1823. 

de  Sahagfun,  Fr.  Bemardino,  Historia  general  de  las  cosas 
de  Nueva  Espaüa,  que  en  doce  libros  y  dos  volumenes 
escribiö  etc.  Dala  a  luz  con  notas  y  suplementos  Car- 
los Maria  de  Bustamente.  3  Bände.  Mexico,  Val- 
d^s.    Tomo  I,  II  1829,  III  1830. 

de  la  Salle^  An  account  of  Monsieur  de  la  Salle's  last 
expedition  and  discoveriesof  North  America.  CoUections 
of  the  New  York  historical  society  for  the  year  1814. 
Volume  II  Seite  217-341.    New- York.     1814. 

Sarytschew,  Gawrila  Andrejewitsch,  Puteschestwie  Flota 
Kapitana  Sarytchewa  (russisch).  —  Deutsch:  Saryt- 
schew's  Russisch  Kaiserlichen  Generalmajors  von  der 
Flotte  achtjährige  Reise  im  nordöstlichen  Sibirien,  auf 
dem  Eismeere  und  dem  nordöstlichen  Ozean.  Aus  dem 
Russischen  übersetzt  von  Johann  Heinrich  Busse. 
Mit  schwarzen  und  illuminirten  Kupfern.  2  Theile. 
Leipzig,  Rein  &  Comp.     1805/6. 

'*'Schelechow,  Etnografitcheskija  ^tc.  (russisch),  Ethnogra- 
phische Aufzeichnungen  [nach  Erman  1871,  164]. 

Schneider,  Wilhelm,  Die  Naturvölker.  Missverständnisse 
Missdeutungen  und  Misshandlungen.  2  Theile.  Pader- 
born u.  Münster,  Schöningh.     1885/6. 

Schultze,  Fritz,  Der  Fetischismus.  Ein  Beitrag  zur  Anthro- 
pologie und  Religionsgeschichte.  Leipzig,  Wilfferodt.  1871 

Schultze,  Fritz,  Psychologie  der  Naturvölker.     Entwick- 


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—     108     — 

luDgspsychologische  Charakteristik  des  Naturmenschen 
in  intellektueller,  aesthetischer,  ethischer  und  religiöser 
Beziehung.  Eine  natürliche  Schöpfungsgeschichte 
menschlichen  Vorstellens,  WoUens  uod  Glaubens. 
Leipzig,  Veit  &  Comp.     1900. 

Schurtz,  Heinrich,  Katechismus  der  Völkerkunde.  Mit 
67  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen.  Leipzig 
Weber.    1893. 

Simon,  Pedro,  Noticias  historiales  de  las  conquistas  de 
tierra  firme  en  las  Indias  occidentales.  2  Bände.  —  Nur 
der  1.  Band  (Primera  Parte),  Cueuca,  1626;7,  ist  mir 
zugänglich  gewesen. 

Soares,  Gaspar,  Noticia  do  Brazil,  descrip9'io  verdadeira 
da  Costa  da  quelle  estado.  Collec9io  de  noticias  para 
a  historia  e  geografia  das  na9oes  ultramarinas.  Tomo  HL 
Parte  1.  No.  I,  Seite  1—342.  Lisboa.  1825  [nach  von 
Martius  1867,48,  Fussnote  *;  ist  Gaspar  Soares 
aus  Lissabon  als  Verfasser  des  anonymen  Artikels 
nachgewiesen]. 

Steller,  Georg  Wilhelm,  Beschreibung  von  dem  Lande 
Kamtschatka,  dessen  Einwohnern,  deren  Sitten,  Namen, 
Lebensart  und  verschiedenen  Gewohnheiten,  herausge- 
geben von  J.  B.  S.,  mit  vielen  Kupfern.  Frankfurt 
und  Leipzig,  Fleischer.  1774. 

Tanner,  John,  M^moires  du  John  Tanner  ou  trente 
ann^es  dans  les  d^serts  de  l'Am^rique  du  Nord,  traduite 
sur  P^dition  originaire  publice  k  New- York;  par  M. 
ErnestdeBlosseville.  2  Bände.  Paris, Bertrand.  1835 

de  Torquemada,  F.  Juan,  Veinte  y  ua  libros  rituales  y 
Monarchia  Indiana.    3  Teile.    Madrid.  1723. 

Turnbull,  John,  A  vojage  round  the  world,  in  the  years 
1800,  1801,  1802,  1803,  and  1804.  Second  edition 
London,  Maxwell.  1813. 

Ulrichs,  Karl  Heinrich  (Numa  Numantius),  ^Inclusa*. 
Anthropologische    Studien    über    mannmännliche    Ge- 


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—    199     — 

schlechtsliebe.  Zweite  Schrift.  Leipzig,  Malthes.  1864 
(Neue  Ausgabe  1898  bei  Spohr). 

Ulriehs,  £arl  Heinrich  (Numa  Numantius),  «Gladius 
füren 8*^.  Das  Naturräthsel  der  ümingsliebe  und  der 
Irrthum  als  Gesetzgeber.  Eine  Provocation  an  den 
deutschen  Juristentag.  Sechste  Schrift.  Kassel, 
Württenberger.  1868  (Neue  Ausgabe  1898  bei  Spohr). 

Ulrichs,  Karl  Heinrich  (Numa  Numantius),  «Memnon*^. 
Die  Geschlechtsnatur  des  mannliebenden  Urnings.  Eine 
naturwissenschaftliche  Darstellung.  Körperlich-seelischer 
Hermaphroditismus.  Anima  muliebris  virili  corpore 
inclusa.  Siebente  Schrift.  Abtheilung  H.  Schleiz, 
Hübscher  (Heyn).  1868  (Neue  Ausgabe  1898  bei  Spohr). 

de  Vetanevrt,  Avgvstin,  Teatro  Mexicano.  Description 
breve  de  los  svccessos  exemplares,  historicos,  politicos, 
militares  y  religiöses  del  nuevo  mundo  occidental  de 
las  Indias.    Mexico.  1698. 

Veytia,  Mariano,  Historia  antigua  de  Mdjico.  La  publica 
con  varias  notas  y  un  apendice  el  C.  F.  Ortega.  3  Bände. 
Mejico,  Ojeda.  1836. 

de  Viedma,  Francisco,  Descripcion  geografica  y  estadi- 
stica  de  la  provincia  de  Santa  Cruz  de  la  Sierra. 
Primera  edicion.  Coleccion  de  obras  y  documentos 
relativos  a  la  historia  antigua  y  moderna  de  las  pro- 
vincias  del  Rio  de  la  Plata  (por  de  Angelis).  Tomo  lU. 
Seite  1--1G6.    Buenos-Aires.  1836. 

Vlrey,  Jul.  Jos.,  Histoire  naturelle  du  genre  humain, 
ou  recherches  sur  ses  principaux  fondemens  physiques  et 
moraux;pr^c^d^esd'un  discours  sur  la  nature  des  ^tres 
organiques,  et  sur  Pensemble  de  leur  physiologie. 
On    y    a    Joint   une    dissertation   sur   le   sauvage    de 

•   l'Aveyron.  Avec  figures.    2  Bände.    Paris.     An  IX. 

Waltz«  Theodor,  Anthropologie  der  Naturvölker,  fortgesetzt 

.  von  Georg  Gerland.  6  Bände.  Leipzig,  Fleischer. 
1859—1872.  —  l.Theil:  Ueber  die  Einheit  des  Menschen- 


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-     200    — 

geschlechtes  iind  den  Naturzustand  des  Menschen,  1859 
(zweite  Auflage  von  G.  Gerland,  1877).  —  2.  Theil: 
DieNegervölker  und  ihre  Verwandten.  1860.  —  3.  Theil: 
Die  Amerikaner,  1.  Hälfte,  1862.  —  4.  Theil:  Die 
Amerikaner,  2.  Hälfte,  1864.  —  5.  Theil:  Die  Völker 
der  Südsee,  1.  Heft,  1865;  2.  Abtheilung  v.  G.  Gerlan  d, 
1870.  —  6.  Theil:  Die  Völker  der  Südsee,  3.  Ab- 
theilung von  G.  Gerland,  1872. 

Weniantilnow,  Joan,  Charakter-Züge  der  Aleuten  von  den 
Fuchs-Inseln.  Mit  Zusätzen  von  Karl  Ernst  von 
B  aer  in:  Beiträge  zur  Kenntniss  des  russischen  Reiches 
und  der  angränzenden  Länder  Asiens.  Erstes  Bänd- 
chen: WrangelPs  Nachrichten  über  die  russischen 
Besitzungen  an  der  Nordküste  von  Amerika.  Seite 
177—225.    St.  Petersburg.     1839. 

♦Wenjaminow,  J.,  Sapiski  ob  ostrowach  Unalaschkins- 
kago  otdjela  (russisch)  [Notizen  über  die  Inseln  des 
Unalaschkaischen  Bezirks].  3  Bände  (364,409  und  154 
Seiten).  St.  Petersburg.    1840  [nach  Er  man  1871,  163]. 

Werne,  Ferdinand,  Expedition  zur  Entdeckung  der  Quellen 
des  Weissen  Nil  (1840—1841).  Mit  einer  Karte  und 
einer  Tafel  Abbildungen.     Berlin,  Reimer.     1848. 

Prinz  zu  Wied,  Maximilian,  Eeise  in  das  innere  Nord- 
Amerika  in  den  Jahren  1832  bis  1834.  Mit  33  Vig- 
netten, vielen  Holzschnitten  und  einer  Charte.  2  Bände 
und  1  Atlas  mit  48  Kupfertafeln.  Coblenz,  Hoelscher. 
1839  u.  1841. 

Wilson,  James,  Voyage  to  the  Southern  Pacific  Ocean 
performed  in  the  years  1796,  97,  98  in  the  ship  Duff 
etc.  London,  Chapmann.  1799.  —  Deutsch:  Missions- 
Keise  in  das  südliche  stille  Meer,  unternommen  in  den 
Jahren  1796,  1797,  1798  mit  dem  SchiflFe  DuflF.  Über- 
setzt von  Ca n zier.  Berlin,  Voss.  Magazin  von 
merkwürdigen  neuen  Reisebeschreibungen.  21.  Band.  1800. 

von  Wrangel,  Ferdinand,  Reise  längs  der  Nordküste  von 


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—    201     — 

Sibirien  und  auf  dem  Eismeere,  in  den  Jahren  1820 
bis  1824.  Nach  den  handschriftlichen  Journalen  und 
Notizen  bearbeitet  von  G.  Engelhardt.  Herausge- 
geben nebst  einem  Vorwort  von  C.Ritter.  2  Theile 
Berlin,  Voss.  1839  [der  Autor  muss  nach  K.  E.  von 
Baer  bei  Weniaminow  1839,  328  im  Deutschen 
Wrangen  geschrieben  werden]. 

Wuttke,  Adolf,  Geschichte  des  Heidenthums  in  Beziehung 
auf  Religion,  Wissen,  Kunst,  Sittlichkeit  und  Staats- 
leben. 2  Bände.  Breslau,  Max  &  Co.  1.  Theil  1852 
2.  Theil  1853. 

von  Zimmermann,  E.  A.  W,,  Taschenbuch  der  Reisen 
oder  unterhaltende  Darstellung  der  Entdeckungen  des 
18ten  Jahrhunderts,  in  Rücksicht  auf  Länder- Mensch en- 
und  Productenkunde.  Für  jede  Klasse  von  Lesern. 
Leipzig,  Fleischer.  18  Jahrgänge  oder  Bändchen  — 
5.  Bändchen,  mit  12  Kupfern,  1806.  —  6.  Bändchen,  mit 
11  Kupfern,  1807. 


-^^^^^ 


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.?'(Zx^ 


Bild  und  Handschrift  H.  C.  Andersen's. 


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H.  C.  Andersen. 

Beweis  seiner  Homosexualität 

von 

Albert  Hansen,  Kopenhagen. 


Literatur : 

H.  C.  Andersen:  Das  Märchen  meines  Lebens. 
Leipz.  1847. 

H.  C.  Andersen:  Mit  Livs  Eventyr.  Kopen- 
hagen 1855.    Supplement.    Koph.  1877. 

E.  Co  11  in:  H.  C.  A.  og  det  CollinskeHus.  Koph.  1882. 

C.  ßille  und  Nie.  Bögh:  Breve  fra  H.  C.  A. 
Koph.  1877.    Breve  til  H.  C.  A.    Koph.  1878. 

Georg  Brandes:  Kritiker  og  Portraiter.  Koph.  1870. 

C.  F.  Holten:  Emidringer.    Koph.  1899. 

Nie.  Bögh:  Elisabeth  Gerichau  Baumann.  En 
Karakteristik.    Koph.  1886. 

Peter  Hansen:  Dansk  Literatur-hist.   Koph.  1898. 

Zeitschriften  und  Tageblätter. 

Die  kleine  dänische  Literatur  hat  nur  wenige  be- 
rühmte Grössen  aufzuweisen.  Das  Ausland  kennt  ausser 
dem  AJtvater  Holberg  und  dem  Märchendichter  H.  C. 
Andersen  etwa  nur  noch  Sören  Kierkegaard  und  J.  P. 
Jacobsen.  Wie  merkwürdig,  dass  gerade  diese  vier 
oft  als  Homosexuelle  bezeichnet  werden!  Freilich 
bedarf  dies,  was  Jacobsen  betrifft,  immer  noch  des 
authentischen  Beweises,  und  von  dem  uns  so  ferne  liegenden 
Ludwig  Holberg  weiss  man  ja  fast  nur,   dass  er  ein  un- 


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—     204     ~ 

verbesserlicher  Hagestolz  und  „Weiberfeind**  gewesen  ist 
und  mehrere  uranistische  Charakterzüge  aufweist. 

Rücksichtlich  Sören  Kierkegaards  und  H.C.  Andersens 
sind  wir  dagegen  völlig  im  Klaren.  Dieselben  bieten 
eine  solche  Fülle  von  Beurteilungsraaterial  dar,  dass  ihre 
wahre  Naturanlage  auch  den  Nichteingeweihten  in  die 
Augen  fallen  muss.  Vielleicht  wird  es  mir  vergönnt  sein, 
in  einer  späteren  Ausgabe  dieses  Jahrbuches  das  so  über- 
aus interessante  und  packende  Lebensbild  des  genialen 
und  edlen  Schriftstellers  Sören  Kierkegaard  zu  entrollen. 
Wenn  ich  zunächst  H.  C.  Andersen  behandeln  will,  ist 
die  Ursache  davon  nicht  blos,  dass  er  der  weitaus  be- 
rühmteste Vertreter  unserer  Literatur  ist,  sondern  auch, 
weil  er  stets  als  ein  Beispiel  seelischer  Reinheit  und  kind- 
licher Unschuld  aufgestellt  wird.  Und  dies  mit  vollem 
Rechte  Dass  er  aber  zugleich  ein  Homosexueller  war,, 
werden  die  folgenden  Blätter  beweisen. 

Allerdings  hat  H.  C.  Andersen  so  wenig  wie  Sören 
Kierkegaard  unmittelbare  Bekenntnisse  gemacht. 

Aufgabe  des  Forschers  wird  es  sein,  aus  der  Fülle 
unfreiwilliger  und  unbewusster,  aber  imverkennbarer 
Aeusserungen  den  Beweis  der  Homosexualität  zu  erbringen. 

H.  C.  Andersen  wurde  zu  Odense  auf  Fünen  al& 
einziges  Kind  eines  blutarmen  Schuhmachers  geboren. 
Obgleich  nur  wenig  von  der  Ascendenz  des  Dichters  be- 
kannt ist,  lassen  sich  hier  mehrere  schwere  erblich  be- 
lastende Momente  nachweisen.  Sein  Vater  und  sein 
Vatersvater  waren  beide  irrsinnig,  die  Mutter,  ein  riesen- 
grosses,  mannhaftes  Frauenzimmer,  war  dem  Trünke 
sehr  ergeben  und  starb  im  Armenhause  an  Delirium 
tremens. 

Hans  Christian  selbst  war  als  Knabe  eine  höchst 
absonderliche  Erscheinung,  überspannt  und  menschenscheu,, 
ein   Gegenstand   fortgesetzter  Verfolgungen   seitens   der 


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—    205     — 

anderen  Jungen,  welche  frischweg  behaupteten :  „Der  Kerl 
ist  ebenso  verrückt  wie  sein  Grossvater!*  Die  Gesell- 
schaft dieser  suchte  Hans  Christian  jedoch  nie,  als  er 
aber  schliesslich  in  die  Ärmenschule  geschickt  wurde, 
schloss  er  sich  sogleich  freundschaftlich  an  ein  gleich- 
altriges Mädchen,  das  einzige  weibliche  Wesen  in  der 
ganzen  Schule,  an. 

Uebrigens  hockte  der  Knabe  stets  einsam  in  der 
elterlichen  Hütte,  wo  er  mit  Puppen  spielte  und  sich  mit 
Näharbeiten  die  Zeit  vertrieb.  ,Es  war  meine  grösste 
Freude,  Puppenkleider  zu  nähen  und  mit  Puppen  zu 
spielen*^  sagt  er  m  seiner  berühmten  Autobiographie 
,Das  Märchen  meines  Lebens".  Einer  Nachbarin,  die 
ihn  in  weiblichen  Handarbeiten  notdürftig  unterrichtet 
hatte,  nähte  er  nachher  als  Anerkennung  ein  weissseidenes 
Nadelkissen,  welches,  da  Andersen  später  ein  namhafter 
Dichter  wurde,  bei  Fremdenbesuchen  m  Odense  als  eine 
Art  Sehenswürdigkeit  vorgewiesen  wurde. 

Sechzehn  Jahre  alt^  siedelte  H.  C.  Andersen,  «um 
weltberühmt  zu  werden",  nach  Kopenhagen  über,  wo  er 
Manches  durchmachen  mnsste,  seine  alte  Vorliebe  für 
Puppen  und  weibliche  Handarbeiten  erlosch  jedoch  nicht. 
Hierüber  sagt  die  erwähnte  Autobiographie:  «Tagtäglich 
sass  ich  daheim,  Puppenkleider  zu  nähen,  und  um  mir 
die  dazu  erforderlichen  bunten  Lappen  zu  verschaflFen, 
bat  ich  mir  in  Putzläden  Muster  von  StoflFen  und  seidenen 
Bändern  aus.  Meine  Phantasie  beschäftigte  sich  so  ganz 
mit  diesem  Puppenkram,  dass  ich  oft  auf  der  Strasse 
stehen  blieb,  die  eleganten  Damen  in  Seide  und  Sammet 
zu  betrachten.  In  der  Phantasie  sah  ich  dann  diesen 
Putz  unter  meiner  Scheere;  es  waren  dies  Gedanken- 
übungen ganzer  Stunden."  Noch  als  weitberühmter 
Dichter  und  vielfach  ausgezeichnete  Persönlichkeit  näht 
H.  C.  Andersen   selbst  seine  Hosenknöpfe  an  und  stopft 


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—     206    — 

eigenhändig  die  Strümpfe,  auf  seinen  zahlreichen  Reisen 
war  er  daher  stets  mit  Nadeln  und  Zwirn  versehen. 

H.  C.  Andersen  war  bis  zur  Pubertät  mit  einer  merk- 
würdig klaren  Sopranstimme  begabt,  er  sang  wie  ein 
Mädchen,  sagten  die  Leute. 

Eines  Tages  trug  er  in  der  Fabrik,  wo  ihn  die 
Mutter  versuchsweise  angebracht  hatte,  ein  liied  vor, 
und  da  die  Arbeiter  erstaunt  ausriefen,  er  wäre  ganz  be- 
stimmt kein  Junge,  sondern  eine  verkleidete  Jungfrau, 
fasste  einer  derselben  H.  C.  Andersen  an,  um  sich  über 
diesen  Punkt  etwas  genauer  aufzuklären.  ,Die  anderen 
Gesellen  fanden  diesen  rohen  Scherz  amüsant  und  hielten 
mich  an  Armen  und  Beinen  fest,  ich  heulte  aus  vollem 
Halse  und,  schamhaft  wie  ein  Mädchen,  stürzte  ich  aus 
dem  Hause  zu  meiner  Mutter,  die  mir  versprechen  musste, 
mich  nimmer  dahinsenden  zu  wollen."  Um  nichts  besser 
ging  es,  als  er  einige  Jahre  später  versuchen  wollte,  als 
Tisch lerlehrling  sein  Brot  zu  erwerben.  Nur  zwei  Stunden 
blieb  er  bei  der  Hantierung,  die  Arbeiter  waren  ihm 
wieder  gar  zu  unanständig,  „ihr  Gerede  schien  mir  sehr 
leichtfertig,  denn  ich  war  jungfräulich  schamhaft."  Schliess- 
lich trieben  auch  diese  den  Spass  so  weit,  dass  H.  C. 
Andersen  in  Weinen  ausbrach  und  entsetzt  von  dannen  floh. 

Man  wird  schon  bemerkt  haben,  wie  sich  H.  C. 
Andersen,  um  die  Eigenart  seines  Charakters  zu  kenn- 
zeichnen, immer  wieder  dem  Weibe  vergleicht.  Auch  in 
seinen  späteren  Jahren  spricht  er  öfters  von  seiner  „mäd- 
chenhaften*^ oder  ,halb  weiblichen"  Natur,  und  die  Zeit- 
genossen hatten  häufig  diesen  ,  Mangel  an  Mannhaftig- 
keit" hervorgehoben. 

Bekannt  ist  die  sprichwörtliche  Eitelkeit  Andersens, 
welche  ja  nicht  blos  seinen  geistigen  Fähigkeiten  galt 
Obgleich  der  Dichter  ,von  bizarrer  Hässlichkeit"  war, 
konnte  er  nie  an  einem  Spiegel  vorbeigehen,  ohne  sich 
selbstgerällig  darin   zu  betrachten.    Auf  seinen  schönen 


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—    207    — 

Haarwuchs  war  er  nicht  wenig  stolz,  die  Locken  ent* 
standen  aber  beim  Haarkünstler,  wo  er  sich  alle  Tage 
sorgfältig  kräuseln  liess.  ^Jammerschade,  dass  ich  heute 
nicht  gekräuselt  werden  kann''  —  ruft  er  einmal  gelegent- 
lich eines  Festes  zu  seinen  Ehren  aus  —  ^es  steht  mir 
doch  zu  gut!**  —  Mit  dem  Barte  wollte  es  dagegen  nichts 
werden,  und  da  Andersen  ausserdem  einen  ausgesprochenen 
Widerwillen  gegen  diesen  männlichen  Schmuck  hegte, 
liess  er  sich  jtUtäglich  sorgfältig  rasieren. 

Grossen  Wert  legte  Andersen  darauf,  elegant  und 
sorgsam  gekleidet  zu  sein.  Selbst  da  er  als  unbekannter 
Legatpoet  mit  der  Armut  zu  kämpfen  hatte,  wusste  er 
die  Mittel  zu  finden,  um  im  feinsten  Putz  zu  erscheinen. 
In  zahlreichen  Briefen,  insbesondere  an  seine  vertraute 
Freundin  Henriette  Wulff,  beschreibt  er  mit  kindlicher 
Freude  seine  neu  angeschafften,  meistens  ziemlich  auf- 
fallenden Kleidungsstücke  und  vergisst  selten  hinzu- 
zufügen: „Ich  sehe  jetzt  sehr  niedlich  aus*  oder  »Ich 
werde  mit  jedem  Tag  hübscher*  etc.  Ja,  als  er,  35  Jahre 
alt,  einmal  auf  einem  Hof  ball  gewesen,  schreibt  er  ganz 
wie  ein  Backfisch:  „Ich  war  reizend,  sagte  man.*  — 

Ein  Stehkragen  von  auffallender  Grösse  verbarg 
seinen  langen  Hals,  weite  Hosen  seine  dünnen  Beine. 
Die  Freunde  machten  sich  über  seine  Putzsucht  lustig 
und  schalten  ihn  den  grössten  Modegecken  der  Stadt,  und 
man  stimmt  diesen  unwillkürlich  bei,  wenn  man  aus  dem 
eigenen  Munde  des  Dichters  erfährt,  dass  er  gelegentlich 
eines  Festes  mehrere  Tage  vorher  „Generalprobe  auf 
sämtliche  Mysterien  seiner  Toilette*  gemacht  habe  und 
dass  er  «ausgestopft  und  ausstaffiert  wie  ein  Dandy" 
stundenweise  umherflanierte.  Wie  ein  solches  Flanieren 
vor  sich  ging,  geht  aus  einem  Pariser  Brief  hervor,  worin 
Andersen  scherzend  berichet,  er  habe  auf  der  Promenade 
mit  der  Hand   die  Beinkleider  etwas  hoch  gehoben,   urn^ 


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—    208    — 

seine  «schönen  seidenen  Strümpfe  doch  ein  bischen  sehen 
zu  lassen."  — 

Sogar  die  so  überaus  charakteristischen  weiblichen 
Verkleidungen  können  bei  Andersen  beobachtet  werden, 
wiederholt  tritt  er  in  Frauenrollen  auf,  doch  erlaubt 
ihm  sein  Aeusseres  nur  komische  Typen  darzustellen. 
Bald  spielt  er  als  Student  eine  groteske  Columbine  „mit 
nackten  Armen  und  wallenden  Flachslocken*,  bald  paro- 
diert er  die  olympische  Iris  „in  Reifrock  und  Pfaufedern". 
—  ,  Glauben  Sie  mir,  ich  werde  entzückend,**  schreibt  er 
an  die  besagte  Freundin,  »Gott  weiss,  welchen  Eindruck 
ich  auf  die  jungen  Studentenherzen  machen  werde!"    — 

Von  sonstigen  weiblichen  Charakterzügen  soll  hier 
das  Verständnis  Andersens  für  geschmackvolle  Blumen- 
arrangements angeführt  werden,  seine  übertriebene  Scham- 
haftigkeit,  seine  geradezu  komische  Weinerlichkeit,  die 
ihm  erlaubte,  bei  jeder  geringfügigen  Gelegenheit  Thränen 
zu  vergiessen,  und  seine  grenzenlose  Furchtsamkeit. 

Sehr  abergläubisch  war  er  ebenfalls ;  schon  50  Jahre 
vor  seinem  Ableben  beginnen  grauenhafte  Todesahnungen 
ihn  zu  beunruhigen,  und  fortgesetzte  Grübeleien  über  die 
Vorbedeutung  seiner  bösen  Träume  machen  ihm  viel  zu 
schaffen.  Für  die  Häuslichkeit  besass  er  ausgesprochenen 
Sinn,  seine  Wohnung  war  zwar  klein,  aber  sauber  und 
niedlich,  geschmückt  mit  Blumen  und  gestickten  Decken 
wie  die  eines  Fräuleins.  Hier  machte  er  nicht  selten 
Kaffeekränzchen  für  Freunde  und  Freundinnen.  Tabak 
war  ihm  ein  Greuel,  alkoholhaltige  Getränke  konnte  er 
nur  schlecht  vertragen,  dagegen  war  er  ein  Freund  von 
allerhand  Süssigkeiten  und  häufiger  Gast  in  Konditoreien, 
wo  er  im  Kreise  seiner  Jungen  Freunde"  Schokolade  und 
Gebäck  einnahm. 

Ein  unverbesserlicher  Schwätzer  war  und  blieb 
Andersen  sein  Leben  lang.  Fortwährend  verrät  er  Sachen, 
die  ihm  unter  Voraussetzung   von  Diskretion   anvertraut 


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—     209    — 

wurden,  und  kolportiert  die  chronique  scandaleuse.  Seine 
Briefe  erinnern,  in  Form  wie  Inhalt,  an  die  vertraute 
Korrespondenz  einer  gebildeten  Dame. 

Als  spezifisch  uranistisches  Zeichen  mag  auch  Andersens 
krankhaft  entwickelte  Reizbarkeit  hingestellt  werden.  ,  Seine 
Sensitivität  war  wie  eine  blutige  Wunde*,hat  ein  Historiker 
treflFend  bemerkt. 

Andersen  wurde  70  Jahre  alt  und  war  bis  an  den 
Tod  ein  unverbesserlicher  Hagestolz.  Er  selbst  und  nach 
ihm  seine  Biographen  haben  sich  den  Anschein  gegeben, 
dass  er  wegen  seines  nichts  weniger  als  einnehmenden 
Aeusseren  beim  schönen  Geschlechte  keinen  Erfolg  hatte 
und  wiederholt  von  einer  tiefen,  aber  unerwiderten  Leiden- 
schaft beseelt  war.  Gerade  das  Gegenteil  ist  indess  zu- 
toeffend;  die  erotische  Neigung  Andersens  zum  andern 
Geschlechte  war  gleich  Null,  während  er  andererseits  selbst 
häufig  der  —  leider  unentzündbare  —  Gegenstand 
einer  weiblichen  Liebesflamme  gewesen.  Wenigstens  em- 
pfing er  nicht  selten  billets  doux,  worin  temperament- 
volle Damen  die  zärtlichsten  Gefühle  an  den  Tag  legten 
und  Andersen  im  Namen  ihrer  Liebe  vergebens  zu  viel- 
verheissenden  Stelldicheins  einluden. 

Auch  ganz  direkte  Attentate  seitens  der  Frauenwelt 
blieben  bei  Andersen  ohne  jeden  Erfolg.  Als  sechzehn- 
jähriger Bursche  wurde  er,  als  er  bei  seiner  Ankunft  in 
Kopenhagen  obdachlos  in  der  Stadt  umherwandelte,  zu- 
nächst von  einer  umherstreichenden  Puella  aufgenommen, 
die  an  seiner  grossen  Gestalt  Gefallen  fand.  Nach  Ver- 
lauf von  drei  Tagen  liess  sie  ihn  jedoch  enttäuscht  laufen, 
und  aus  einer  Episode  im  autobiographischen  Roman 
,Der  Improvisator*  errät  man,  dass  Andersen,  aller  Ver- 
führungskünste ungeachtet,  keusch  wie  ein  Joseph  davon 
gekommen  ist. 

In  diesem  Falle   könnte  Andersens  Abneigung  zwar 

Jahrbuch  III.  14 


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~     210     — 

durch  seine  grosse  Jugend  erklärt  werden  oder  für  den 
erhabenen  Abscheu  einer  unberührten  Seele  gegen  die 
sinnlichen  Annäherungen  eine«  unreinen  Weibes  gelten. 
Allein  dieselbe  Abneigung  lässt  sich  bei  Andersen  im 
reifen  Mannesalter  beobachten  und  unter  Umständen,  wo 
die  moralische  Beschaffenheit  der  weiblichen  Hälfte  keines- 
wegs zu  Widerwillen  Anlass  geben  konnte.  So  war  zum 
Beispiel  der  von  der  viel  umworbenen  Primadonna  einer 
Provinzbühne  gemachte  Versuch,  den  Dichter  erotisch 
anzufeuern,  von  ebenso  geringem  Erfolg  gekrönt.  Beide 
bewohnten  im  gleichen  Hotel  zwei  nebeneinander  liegende 
Zimmer.  Eines  Abends  trug  die  Schöne  im  anstossenden 
Zimmer  eine  vielsagende  Liebesarie  vor,  um  den  Dichter 
die  Gelüste  ihres  liebesbedürftigen  Herzens  erraten  zu 
lassen.  Andersen  wurde  aber,  wie  er  selbst  in  einem 
Briefe  naiv  gesteht,  »vor  Schrecken  dumm"  und  ver^ 
riegelte,  eventuelle  weitergehende  Anschläge  zu  vereiteln, 
schnell  die  Thüre. 

Von  einem  anderen  fruchtlosen  Annäherungsversuch 
berichtet  William  Bloch  in  seinem  nach  Andersens  Tod 
erschienenen  Essay.  Andersen  erhielt  eines  Tages  den 
Besuch  einer  jungen,  bildschönen  Dame,  welche  ihm  in 
offenherzigster  Weise  ihre  Liebe  gestand  und  dabei  allerlei 
sehr  gewagte  Anerbietungen  machte.  Man  sollte  nun 
denken,  Andersen,  der  sich  fortwährend  über  Kälte  und 
Nichtbeachtung  seitens  der  Damenwelt  so  bitter  beklagte, 
würde  eine  derartige  schöne  Gelegenheit  freudig  begrüssen. 
Aber  Andersen  ruft,  weit  davon  entfernt,  sich  beglückt  zu 
fühlen,  schnell  seine  Wirtsfrau  herbei,  um  die  Dame  zum 
Fortgehen  zu  bewegen,  und  es  wird  ihm  sehr  übel  zu 
Mute,  da  dies  erst  mittelst  eines  sehr  energischen  Ein- 
schreitens seinerseits  gelingen  will.  «Solche  exaltierte, 
alberne  Geschöpfe  waren  ihm  ein  Greuel,**  fügt  Bloch 
als  eine  Art  Erklärung  hinzu. 

Es    ist   begreiflich    und    verzeihlich,   dass  Andersen 


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—    211    ~ 

dennoch  für  einen  erfahrenen  Kenner  und  Bewunderer 
der  weiblichen  Schönheit  gelten  wollte,  und  wie  zahl- 
reiche andere  Homosexuelle  seine  wahre  Naturanlage 
durch  Simulation  zu  vertuschen  suchte.  Dem  klar- 
blickenden Beobachter  wird  indes  die  Eigenart  des  An- 
dersenschen  Frauenkultes  nicht  entgehen.  In  herkömmlicher 
Kunstsprache  voll  wohlfeiler  Superlative  werden  die  un- 
vermeidlichen Artigkeiten  pflichtschuldigst  abgeliefert. 
Von  Inspiration  keine  Spur.  Mitunter  kommen  auch  gar 
wunderliche  Betrachtungen  zum  Vorschein.  So,  wenn  der 
Dichter  in  einer  Reisebeschreibung  folgende  tiefsinnige 
Bemerkung  macht:  „Die  Frauen  in  Arles  sollen  schön 
sein.  Man  hat  recht.  Zu  meiner  Ueberraschimg  waren 
selbst  die  armen  Mädchen  hübsch.*  Noch  deutlicher 
geht  aus  folgendem  Zwischenfall  hervor,  dass  Andersen's 
Interesse  an  der  weiblichen  Schönheit  gar  sehr  ober- 
flächlich war.  Andersen  hatte  oft  einer  älteren  Freundin 
von  den  ^ himmlisch  schönen  braunen  Augen"  Fräulein 
N.  N.'s  mit  anscheinender  Begeisterung  erzählt.  Gross 
war  daher  die  Ueberraschung  der  besagten  Freundin,  als 
sie  beim  ersten  Zusammentrefien  mit  der  Besitzerin  dieser 
vielgepriesenen  braunen  Augen  sofort  bemerkte,  dass  die- 
selben blau  waren.  Da  Andersen  nicht  farbenblind  war, 
kann  die  in  Rede  stehende  ostentative  Schönheitsbegeister- 
ung also  unmöglich  die  Frucht  persönlicher  Anschauung 
gewesen  sein. 

Trotz  aller  derartigen  Kniffe  war  die  nächste  Um- 
gebung Andersens  über  seine  Frigidität  dem  schönen 
Geschlecht  gegenüber  bald  im  Klaren  und  erlaubte  sich 
bisweilen  einen  unschuldigen  Spass,  um  ihn  in  gewisse 
heikle  Situationen  zu  versetzen.  „Was  meinen  Sie  von 
der  Poesieeines  solchen  Gesichtes?",  rief  einmal  ein  junger 
Mann  lachend,  indem  er  auf  der  Pariser  Bai  Mabille 
dem  Dichter  eine  sehr  gefeierte  Mabilleschönheit  in  die 
Arme  warf.   Aber  Andersen  zeigte  feierlich  auf  den  Voll- 

14* 


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—     212    — 

mond  und  erwiderte:  »Dies  alte,  ewigjunge  Antlitz  ist  mir 
lieber!* 

Auoh  darf  man  es  den  verschmähten  Schönen  nicht 
übel  nehmen,  dass  sie,  diese  Kälte  zu  rächen,  bei  Ge- 
legenheit mit  der  erhabenen  Person  des  grossen  Dichters 
ihren  Scherz  hatten.  Andersen  war,  wie  erwähnt,  nicht 
wenig  abergläubisch,  und  die  besagten  Damen  amüsierten 
sich  daher  während  seiner  häufigen  Besuche  auf  den 
Landgütern  Seelands  zuweilen  damit,  grauenerregende 
Gespenstererscheinungen  zu  arrangieren,  so  dass  die  sorg- 
fältig frisierten  Haare  dem  nicht  gerade  heldenhaften 
Poeten  zu  Berge  standen. 

Die  Art  und  Weise,  auf  welche  Andersen  in  solchen 
Fällen  seinerseits  Genugthuung  suchte,  ist  für  seinen  völligen 
Mangel  an  männlich  galanten  Gefühlen  der  Damenwelt 
gegenüber  sehr  bezeichnend.  Er  ging  beispielsweise  mit 
dem  Gedanken  um,  sich  als  Gespenst  vermummt  in  das 
Bett  einer  der  beteiligten  Damen  zu  verbergen,  um  diese 
in  Schrecken  zu  setzen,  wenn  sie  sich  schlafen  legen 
wollte,  und  erst  da  eine  ältere  Freundin  ihn  errötend  auf 
Verschiedenes  aufmerksam  machte,  besann  er  sich  eines 
Besseren. 

Das  weitaus  berühmteste  Gedicht  Andersens  an  die 
Frauen  ist  ein  Pasquill,  worin  diese  als  ewig  redende 
Klatschbasen  dargestellt  sind.  Und  doch  war  Andersen 
kein  Weiberfeind.  Nur  Damen,  welche  auf  sein  Herz 
Anschlag  machten,  waren  ihm  zuwider.  Dagegen  schloss 
er  sich  im  Laufe  der  Zeit  freundschaftlich  an  eine  Reihe 
intelligenter,  gereifter  Frauen  an,  welche  ihrerseits  eine  ge- 
radezu mütterliche  Zärtlichkeit  für  Andersen  an  den  Tag 
legten.  Mit  diesen  stand  Andersen  fortwährend  in  brief- 
lichem Verkehr,  die  intimsten  Gedanken  wurden  aus- 
getauscht, die  Frauen  betrachteten  ihn  offenbar  als  eine 
Freundin,  welcher  man  Alles  anvertrauen  und  die  man  auch 
gelegentlich  mit  kleinen  Aufträgen  belästigen  darf     Bald 


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—    213    — 

wird  er  von  der  einen  gebeten^  bei  der  Modehändlerin 
einige  Ellen  Nesseltuch  zu  besorgen,  bald  verlangt  er  in 
einem  Brief  an  eine  andere  für  die  liebe  Frau  N.  N.  das 
Rezept  einer  delikaten  Selleriesuppe.  Daher  konnte  der 
Dichter  J.  L.  Heiberg  zum  grössten  Verdrusse  Andersens 
behaupten,  Andersens  Publikum  bestehe  lediglich  aus 
Frauenzimmern. 


Aber  —  wird  der  skeptische  Leser  einwenden  — 
Andersen  hat  ja,  Biographien,  Briefen  und  Ueberliefer- 
ungen  zufolge,  drei  oder  vier  Mal  leidenschaftliche  Liebe 
für  ein  weibliches  Wesen  gehegt.  Freilich  scheint  dies 
beim  ersten  Blick  der  Fall  zu  sein.  Es  steht  nicht  zu 
bezweifeln,  dass  des  Dichters  Herz  wiederholt  von  einer 
tiefen  Liebesleiden schaft  entflammt  war,  dass  aber  die 
geliebte  Person  weiblichen  Geschlechtes  war,  kann  da- 
gegen nicht  behauptet  werden,  denn  niemand  kennt  den 
wahren  Gegenstand  der  Liebesglut.  Dieser  Punkt  be- 
reitet sonst  den  Forschern  keine  Schwierigkeiten;  wenn 
auch  der  Dichter  die  Heldin  seines  Liedes  in  poetische 
Pseudonyme  hüllte,  erschien  er  in  Briefen  und  unter 
Freunden  so  offenherzig,  dass  die  Nachwelt  selten  exakte 
Aufschlüsse  vermisste.  Selbst  rücksichtlich  so  fern 
liegender  Berühmtheiten  wie  Dante  und  Petrarca  hat 
man  ja  die  Identität  der  besungenen  Schönen  leicht  fest- 
stellen können. 

Anders  mit  den  Geliebten  Andersens.  Er,  der  sonst 
ewig  von  sich  selbst  redete  und  über  sich  selbst  schrieb, 
behauptete  in  diesem  Kapitel  eine  undurchdringliche 
Diskretion.  Zwar  wurde  alle  Welt  durch  Verse  und 
Prosa  von  der  Existenz  seiner  Liebe  hinlänglich  in  Kennt- 
nis gesetzt  Aber  selbst  die  leisesten  Andeutungen  der 
äusseren  Umstände  fehlen   gänzlich.     Ja,  die  angebetete 


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—     214     — 

Person  wird  überhaupt  nur  ausnahmsweise  als  ein  weib- 
liches Wesen  bezeichnet.  Gewöhnlich  liebt  der  Dichter 
«einen  Menschen*  —  „ein  Wesen"  —  „einen  Betreffenden* 
—  „zwei  braune  Augen*  und  dergleichen.  Durch  unbe- 
stiounte  Anspielungen  und  unpersönliche  Aeusserungen 
lässt  er  den  Leser  erraten,  wie  er  eine  kurze  Weile  ge- 
liebt und  vielleicht  Gegenliebe  gefunden.  Und  wie  sonder- 
bar, die  Beziehungen  entstehen  stets,  wenn  der  Dichter 
auf  Reisen  ausserhalb  des  Gesichtskreises  der  besorgten 
Freunde  weilt.  In  der  That  ahnten  selbst  die  intimsten 
Freunde  gar  nichts,  bevor  dieselben  durch  die  Veröffent- 
lichung seiner  letzten  Gedichte  plötzlich  erfuhren,  wie  er 
wieder  einmal  Jemand"  gewaltig,  aber  unglücklich  liebe. 
Vergebens  zerbrachen  sie  sich  den  Kopf,  um  zu  erraten, 
wer  das  Mädchen  denn  eigentlich  sei.  In  einem  Brief 
schildert  Andersen  scherzend  ein  solches  Stadtgespräch 
und  spottet  über  die  vergeblichen  Bemühungen  gewisser 
Leute,  das  Geheimnis  seiner  Liebe  zu  enthüllen.  Nur 
verdriesst  es  ihn,  dass  sein  Name  dabei  mit  ^  einer  der 
sogenannten  Schönheiten  Kopenhagens*  in  Verbindung 
gesetzt  wird. 

Schliesslich  machte  man  sich  über  die  geheimnisvollen 
Liebschaften  Andersens  lustig,  nannte  dieselben  ,, Einbil- 
dungen* und  wandte  auf  sie  das  Dichterwort  an:  ;,Weil 
er  kein  Elend  hat,  muss  er  sich  elend  machen.* 

Auch  in  den  erotischen  Gedichten  Andersens  be- 
gegnet uns  diese  schwebende,  zweideutige  Ausdrucksweise. 
Georg  Brandes  macht  in  einem  geistvollen  Essay  die 
treffende  Bemerkung,  er  kenne  keinen  andern  Schrift- 
steller, dessen  Talent  die  Merkmale  eines  bestimmten  Ge- 
schlechtes so  wenig  aufweise,  wie  dasjenige  Andersens. 
Wie  merkwürdig,  dass  dies  gerade  bei  Andersens  erotischer 
Lyrik  am  meisten  zutreffend  sein  soll!  Während  man 
z.  B.  bei  Heinrich  Heine,  dem  von  Andersen  so  sehr  be- 
wunderten und  so  wenig  geschickt  nachgeahmten  Dichter, 


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—    215    — 

keinen  Augenblick  rücksichtlich  des  Geschlechtes  der  be- 
sungenen Person  im  Zweifel  ist^  können  Andersens  Liebes<- 
gedichte  ebensowohl  an  einen  Mann  wie  an  ein  Weib 
gerichtet  erscheinen.  Häufig  personifiziert  er  die  Liebe^ 
gleich  jenen  antiken  Poeten,  hinter  deren  begeisterten 
Schilderungen  von  der  Schönheit  des  Gottes  Amor  man 
unschwer  die  Liebe  zu  einem  schönen  Jünglinge  errät. 
Bei  Andersen  erscheint  .die  Liebe  ebenfalls  als  Jüngling, 
und  zwar  als  modemer  Bauemjunge  in  Hose  und  Hemd 
und  ohne  alle  mythologischen  Attribute,  und  wenn  ^der 
alte  Dichter"  im  gleichnamigen  Märchen  den  als  Bettler- 
jungen vermummten  Eros  in  seine  Stube  hereinlässt  und 
ihn  am  Ofen  erwärmt,  um  nachher  vom  Pfeile  des  Un- 
dankbaren ins  Herz  getroffen  zu  werden,  so  ist  dies, 
glaube  ich,  eine  poetisch  umgestaltete  Erinnerung  aus  des 
Verfassers  vie  privöe. 

Doch  —  mundus  vult  decipi,  ergo  decipiatur.  An- 
dersen hat  wie  so  viele  andere  Homosexuelle,  um  dem 
gehässigen  Gerede  der  Welt  vorzubeugen,  einige  kleine 
Liebesangelegenheiten  erfinden  müssen.  Niemand  wird 
ihm  dies  übel  nehmen.  Als  Paradigma  mag  die  bekann- 
teste derselben,  die  angebliche  „grande  passion*  Andersens 
gelten.  Der  Dichter  giebt  vor,  er  habe  irgendwo  auf  dem 
Lande  —  wo,  hat  er  nie  gesagt  —  ein  Mädchen,  dessen 
Namen  er  nie  verraten  wollte,  getroffen.  Gleich  schlug 
die  Flamme  einer  tiefen  Leidenschafl  mächtig  in  seinem 
Herzen  auf  „Es  war  eine  Selbsttäuschung"  —  klagt 
er  später  in  der  Autobiographie  —  »sie  liebte  einen  an- 
deren und  heiratete  diesen."  In  einem  gleichzeitigen 
Briefe  giebt  er  aber  eine  andere  Version.  Hiemach  liebte 
das  besagte  Mädchen  zwar  ihn,  war  aber  mit  einem  An- 
deren verlobt  und  durch  Verhältnisse  gezwungen,  den- 
selben zu  heiraten.  Noch  eine  dritte  Fassung  erfährt 
dieselbe  Liebesgeschichte  einem  vertrauten  Freunde  gegen- 
über.   Er  habe  allerdings  Gegenliebe  gefunden,  das  ano* 


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—    216    — 

nyme  Mädchen  sei  auch  keineswegs  durch  Verhältnisse 
gezwungen,  jemand  anderen  zu  heiraten,  die  wahre  Ur- 
sache sei  aber,  dass  seine  Armut  ihm  nicht  erlaubte, 
eine  Familie  zu  gründen.  „Zwar  hatte  sie  für  uns  beide 
Keichtum  genug,  dann  würde  aber  die  Welt  gesagt 
haben,  es  sei  eine  Vernunftheirat,  und  das  würde  mich 
sehr  gekränkt  haben.*  — 

Demnach  soll  ÄJidersen  also,  um  den  lügenhaften 
Verleumdungen  gleichgiltiger  Leute  zu  entgehen,  auf  das 
grösste  Liebesglück  seines  Lebens  verzichtet  haben! 

Armut  ist  überhaupt  die  beliebteste  Ausrede  Andersens, 
wenn  er  gelegentlich  der  wiederholten  Liebesaffairen  be- 
fragt wird,  weshalb  er  das  Mädchen  nicht  heiratete. 
Diese  Armut  dürfte  indes  etwas  problematisch  gewesen 
sein,  wenigstens  hinterliess  Andersen,  der  sein  Leben  lang 
eine  ziemlich  grosse  Jahresunterstütziing  beim  Könige  er- 
hob, 60000  Thaler. 

Von  Andersens  viel  besprochenen  Beziehungen  zu 
Jenny  Lind,  der  berühmten  , schwedischen  Nachtigall", 
muss  auch  ein  Wort  gesagt  werden.  Andersen  hätte  sich 
gern  den  Anschein  geben  wollen,  dass  er  Jenny  Lind  un- 
glücklich liebte.  Durch  seinen  Eoman  „Der  Improvisator" 
erhält  man  den  Eindruck,  dass  ein  geheimes  Verhältnis 
zwischen  den  beiden  gewaltet  habe.  Aus  der  einschlägigen 
Korrespondenz  und  aus  vielen  unfreiwilligen  Beweisen 
geht  aber  unverkennbar  hervor,  dass  dies  Verhältnis 
lediglich  ein  Freundschaftsbündnis  zwischen  zwei  ver- 
wandten Künstlernaturen  gewesen,  das  gar  nichts  mit  der 
Liebe  gemein  hatte. 


Betrachten  wir  nunmehr  den  Freundschaftskultus 
Andersens,  so  finden  wir  diesen  ebenso  un verhüllt,  wie 
seine  angeblichen  erotischen  Beziehungen  zur  Frauenwelt 


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—    217    — 

zugeknöpft  waren.  Vor  allem  fällt  es  auf,  dass  Andersen 
—  von  rein  litterarischen  Verbindungen  abgesehen  — 
sich  stets  freundschaftlich  an  Jünglinge  anschliesst. 

Doch  die  Freundschaftsgefühle  Andersens  haben 
einen  ganz  eigentümlichen  Charakter.  „Ich  habe"  ^- 
sagt  er  irgendwo  —  , meinen  Freunden  gegenüber  eine 
Art  Empfindsamkeit,  welche  mir  oft  viele  Schmerzen  ver- 
ursacht.* —  Er  ist  überschwänglich,  grenzenlos  sensitiv 
und  «im  Ganzen  genommen  von  weiblich  zartem  Gefühl." 
Er  karessiert  die  Freunde,  küsst  sie  und  streicht  ihnen 
die  Wangen,  er  eifert  und  ist  voll  Verzweiflung,  weil 
die  Freunde  seine  Gefühle  nicht  in  gleichem  Masse  er- 
widern. In  einem  schwungvollen  Gedichte  besingt  er  als 
junger  Poet  ein  solches  Verhältnis.  In  der  mondhellen 
Nacht  wandelt  er  mit  ,  seinem  lieben,  lieben  Ludwig"  im 
stillen  Haine.  Den  Arm  hält  er  „um  den  Freund  ge- 
schlungen, Herz  schmiegt  sich  an  Herz",  und  der  Dichter 
dankt  Gott,  dass  er  einen  Freund  gefunden,  dessen  Name 
,in  seiner  Brust  lebt  und  atmet"  etc.  etc. 

Der  besungene  Ludwig  erklärt  aber  später,  A.  habe 
ihn  „zum  Freimd  eruiert",  obgleich  er  durch  sein  „ge- 
radezu unnatürlich  gefühlvolles  Wesen"  von  ihm  sehr 
verschieden  war.  „Möchte  doch  diese  allzu  überschwäng- 
liche  Freundschaft  etwas  erkalten  und  derjenigen  Neigung 
gleich  werden,  welche  Jünglinge,  die  Freunde  sind,  ge- 
wöhnlich für  einander  hegen.    Damit  würde  ich  zufrieden 


!» 


sem 

Von  einem  anderen  Freunde  schreibt  Andersen: 
„Alltäglich  bin  ich  mit  meinem  lieben  Chr.  V.  zusammen. 
An  ihn  fühle  ich  mich  vor  Allem  gefesselt.  In  seiner 
Gesellschaft  weiss  ich  gar  nicht,  wo  die  Stunden  bleiben, 
obgleich  ich  stets  sehr  schwermütig  und  tief  gestimmt 
bin.  Es  ist,  als  ob  er  mich  behext  hätte.  Weiss  ich 
doch  gar  nicht,  warum  ich  ihn  so  lieb  haben  kann!"  — 
Aus    einem   späteren    Brief  g^t   aber  hervor,   dass  der 


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—     218     - 

Freund  von  schönem  Aeussern  war,  ein  Umstand,  den 
Andersen  sehr  zu  schätzen  wusste.  Wenigstens  scheint 
die  äussere  Erscheinung  der  Freunde  von  Wichtigkeit 
gewesen  zu  sein^  denn  sämtliche  jungen  Freunde  Andersens 
waren  männliche  Schönheiten. 

Die  schöne  Männlichkeit  wird  überhaupt  vom  Dichter 
im  Gegensatze  zu  seiner  obengeschilderten  konventionellen 
Beurteilung  der  femininen  Schönheit  mit  gar  tiefem  Ver- 
ständnis gefeiert.  Das  Ursprüngliche  und  Unmittelbare 
der  diesbezüglichen  Auslassungen  deuten  auf  tiefere 
Motive.  Sogar  die  Schönheit  ganz  gleichgiltiger  junger 
Mannspersonen,  von  Droschkenkutschern,  Fährleuten, 
Dienstmännem  u.  a.,  mit  denen  das  Reiseleben  ihn  zu- 
fällig in  Berührung  bringt,  bespricht  er  mit  Wohlgefallen. 
Die  Autobiographie  hat  zahlreiche  derartige  Aufzeich- 
nungen. Ja,  an  einer  Stelle  gesteht  er,  zwar  halb  scher- 
zend, aber  mit  sichtlicher  Aufrichtigkeit^  dass  die  Schön- 
heit eines  Jünglings  bei  ihm  Liebe  hervorgerufen  habe: 
^Ich  habe  das  Unglück  gehabt,  von  einem  grausamen 
Pfeile  mitten  ins  Herz  getroffen  zu  werden,  und  der 
jüngste  der  Portugiesen  ist  schuld  daran.  Ich  bin  sterb- 
lich verliebt  in  seine  Augen  und  seine  ganze  Person!** 

Viele  Jahre  später  triflft  er  den  „Portugiesen"  als 
Familienvater  imd  Konsul  in  L.  wieder.  Aber  während 
er  jetzt  nur  beiläufig  des  Konsuls  Namen  erwähnt,  ist  er 
vou  der  Schönheit  seines  siebzehnjährigen  Sohnes  ganz 
erfüllt.  Nur  dieser  darf  des  Dichters  Begleiter  sein  auf 
allen  Ausflügen  in  die  Berge.  »Der  junge  Karlos  war 
ein  bildschöner  Jüngling  mit  meerblauen  Augen  und 
rabenschwarzem  Haar.  Wir  lebten  ein  stilles,  aber  für 
mich  so  abwechselndes  und  reiches  Leben.  Der  junge 
Karlos  und  ich  ritten  durch  das  Wäldchen,  wo  Orangen 
und  Magnolien  blühten.  Schwer  war  es  mir,  das  herr- 
liche Bonegos  zu  verlassen.* 

Das  eben  Geschilderte   weist   wieder  einen  Zug  auf. 


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—    219    — 

der  dem  leidenscbafUicben  Freundschaftsgefühle  Andersens 
eigen  ist  Nur  während  kurzer  Zeit  besteht  dasselbe 
als  solches.  Mit  dem  Aelterwcrden  des  Freundes  er- 
kaltet die  Neigung  allmählich^  um  schliesslich  ganz  zu 
verschwinden  oder  dem  lauen  Dutzendgefühle  der  Nor- 
malfreundschafl  Platz  zu  machen.  Jüngere  Freunde 
tauchen  nach  und  nach  auf,  der  Sohn  des  Jugeudfireundes 
tritt  an  die  Stelle  seines  Vaters,  und  der  Altersunterschied 
zwischen  Andersen  und  den  Freunden  wird  stets  grösser. 
Unter  diesen  Beziehungen  scheint  das  Freundschafts- 
verhältnis zu  Eduard  Collin,  dem  Sohne  des  väterlichen 
Wohlthäters  Andersens,  und  nach  Andersens  Tod  dem 
Verfasser  einer  überaus  interessanten  Arbeit  über  An- 
dersen, von  grösster  Bedeutung  gewesen  zu  sein.  Als 
die  beiden  sich  kennen  lernten,  war  Andersen  etwa 
20  Jahre,  Eduard  um  3  Jahre  jünger.  ,Jch  hatte  noch 
nie  einen  Jugendfreund  gehabt,  und  mit  meiner  ganzen 
Seele  war  ich  ihm  zugethan.  —  Das  geradezu  Mädchen- 
hafte meiner  Natur  war  ihm  aber  zuwider.  Er  war  der 
Besonnene  und  Praktische,  der  Leitende  und  Bestimmende.^ 
—  Mit  diesen  Worten  sucht  Andersen  als  alter  Mann  das 
Verhältnis  zu  schildern.  Eduard  aber,  der  im  erwähnten 
Buch  das  Verhältnis  zur  Sprache  bringt,  gesteht,  dass  er 
seiner  Natur  nach  nicht  im  Stande  war,  dem  Andersen 
ein  solcher  Freund  zu  sein,  wie  dieser  einen  begehrte. 
Darin  ist  gerade  die  ganze  verborgene  Tragik  dieser  un- 
gleichen Freundschaft  enthalten.  Das  Verhältnis  wurde, 
was  es  logischerweise  werden  muss,  wenn  ein  Urning 
und  ein  Normalmensch  sich  in  Freundschaft  aneinander 
schliessen.  Ersterer  in  seinen  Gefühlen  viel  zu  über- 
schwänglich,  in  seinen  Forderungen  viel  zu  anspruchsvoll, 
letzterer  wohlwollend,  aber  überlegen,  und  weit  weniger 
leidenschaftlich.  Wenn  man  die  jetzt  veröffentlichte  grosse 
Reihe  von  Andersens  Jugendbriefen  an  Eduard  liest^  ist 
der  Sachkundige  keinen  Augenblick  im  Zweifel,  dass  das 


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—    220    — 

Gefühl,  welches  Andersen  für  Eduard  hegte,  etwas  ganz 
Anderes  als  Freundschaft  war.  Unwillkürlich  muss  man 
sich  an  den  erotischen  Freundschaflsbund  zwischen  Mon- 
taigne und  Etienne  de  la  Boetie  und  die  Liebesbriefe 
Michel  Angelos  an  Cavalieri  erinnern.  Das  Gefühl  An- 
dersens für  Eduard  ist  eine  regelrechte  erotische  Neigung, 
eine  überwältigende  erste  Ijiebe  mit  allen  unverkennbaren 
Merkmalen  der  grande  passion.  Die  Briefe  sind  in 
den  schwärmerischsten  und  zärtlichsten  Ausdrücken  ge- 
halten. «Inniggeliebter  Freund  —  teuerster  Freund*  etc. 
lauten  die  Ueberschriften.  Der  Dichter  küsst  die  Schrift- 
züge seines  Freundes,  erwartet  die  Briefe  mit  brennender 
Sehnsucht,  bricht  beim  Lesen  derselben  in  Weinen  aus 
und  liest  sie  immer  wieder. 

Nachstehender  Brief  vom  28.8.  1835  ,um  11  Uhr 
Nachts",  beleuchtet  recht  deutlich  die  Stärke  und  Eigen- 
art der  Leidenschaft:  ^Ich  fühle  Sehnsucht  nach  Ihnen. 
Ja,  in  diesem  Augenblicke  verlangt  es  mich  nach  Ihnen, 
als    ob    Sie    eine    entzückende    Calabreserin    wären    mit 

dunkeln    Augen    und  flammendem   Blick.     — Nie 

hatte  ich  einen  Bruder,  hätte  ich  aber  einen,  ich  könnte 
ihn  unmöglich  lieben,  wie  ich  Sie  liebe  —  aber  ach,  Sie 
erwidern  meine    Liebe    nicht,    das   quält  mich.  —  Ihnen 

war  ich  wie  ein  Kind  anhänglich,  Ihnen  habe  ich 

Basta!  —  Ein  gut  italienisches  Wort,  das  so  viel  heisst 
wie:  den  Mund  halten!  —  Niemanden  habe  ich  wie  Sie 
geliebt.  Ich  würde  verzweifeln,  wenn  ich  Sie  verlöre. 
Eine  Freundschaft  wie  die  unserige  scheint  geradezu  ent- 
standen, um  geschildert  zu  werden,  und  doch  fürchte  ich 
wieder,  dass  dies  geschehen  könnte.  Dieser  Widerspruch 
und  zu  gleicher  Zeit  diese  so  grosse  Harmonie  würde 
vielleicht  unnatürlich  erscheinen.  Meine  ganze  Seele,  das 
tiefe  Geheimnis  meines  Herzens  könnte  ich  erschliessen, 
doch  unsere  Freundschaft  ist  wie  die  Mysterien,  man  soll 
aie  nicht  analysieren.*  — 


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—    221     — 

Welch'  merkwürdiger  Kontrast  zwischen  diesem  ura- 
nislischen  Feuer  und  dem  reservierten  Wohlwollen  und 
der  kühlen  Sympathie  Eduards.  Andersen  hat  es  tief 
gefühlt:  «Wie  ich  mich  doch  nach  Ihnen  gesehnt  habe! 
So  können  Sie  nicht  mein  gedenken;  das  liegt  in  der 
Verschiedenheit  unserer  Naturen." 

Und  dennoch  kann  er  es  nicht  unterlassen,  den 
Freund  um  ein  Bischen  Gegenliebe,  um  ein  paar  liebe- 
volle Worte  zu  flehen:  „Ich  sehe  ein,  dass  dies  ewige 
Quälen  um  Mitgefühl  etwas  Hässliches  imd  Herab- 
würdigendes an  sich  hat.  Doch  mein  Stolz  unterliegt 
meiner  Liebe  zu  Ihnen.  Ich  liebe  Sie  unsäglich  und 
könnte  verzweifeln,  weil  Sie  mir  nicht  der  Freund  sein 
können  noch  wollen,  wie  ich,  wäre  unsere  Lage  umge- 
kehrt, Ihnen  einer  sein  würde.  Was  habe  ich  verbrochen? 
Wodurch  ist  mein  Charakter  Ihnen  zuwider?  Sagen  Sie 
es  doch,  damit  ich  es  umändern  kann.*  u.  s.  w.    u.  s.  w. 

—  „Ihr  Herz  kann  vielleicht  das  meinige  entbehren,  mein 
Herz  aber  das  Ihrige  nicht*  —  versichert  er  an  einer 
anderen  Stelle  —  „und  doch  verliere  ich  Sie  womöglich 

—  mir  wird  so  sonderbar  bang,  und  meine  Angst  sagt 
mir  wieder  einmal,  wie  ich  Sie  innig  liebe." 

j,  Verzeihen  Sie,  dass  ich  in  der  letzten  Zeit  ein  wenig 
zu  gefühlvoll,  ein  wenig  zu  verliebt  war"  —  schreibt  er 
später  —  „Es  gefällt  Ihnen  nicht,  ich  war  aber  etwas 
schwach,  werde  jedoch  künftig  kälter  sein."  — 

Zuweilen  vergleicht  er  sein  Freundschaftsgefühl  ge- 
radeaus mit  der  Liebesleidenschaft  einer  Frau  und  in 
der  That  weist  dasselbe  verschiedene  Elemente  der 
spezifisch  weiblichen  Erotik  auf.  So  z.  B.  das  Gefühl 
der  ünterwtirfigkeit:  „Ich  muss  vor  demjenigen  Respekt 
haben",  —  schreibt  er,  —  „den  ich  recht  lieben,  dem  ich 
recht  anhänglich  sein  soll.  Lieber  muss  er  mich  in 
Vielem  überflügeln,  als  mir  in  irgend  etwas  nachstehen." 

Stets  weilt  er  in  Gedanken  beim  Freunde  und  öfters 


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—     222     — 

schreibt  er  —  wie  er  selbst  gesteht  —  an  Eduard  ge- 
richtete Verse,  die  dieser  jedoch  nie  zu  Gesichte  bekommt. 
Auch  die  Eifersucht  lässt  sich  beobachten.  Eduard  hat 
ihm  erzählt,  dass  er  heute  Abend  Emil,  einen  anderen 
Freund,  erwarte:    »Wie  so!     Den  erwartet  er!     Ihm  ist 

er  zugethan!     Mit    ihm    geht   er  spazieren! Emil 

habe  ich  ja  auch  sehr  gern,  aber  ziehen  Sie  ihn  mir  vor, 
dann  werde  ich  ihm  böse!** 

Natürlich  hatte  Andersen  gleich  im  Anfange  dem 
heissgeliebten  Freunde  vorgeschlagen,  dass  sie  sich  Du  sagen 
wollten.  Man  begreift,  welchen  Eindruck  es  auf  die 
liebende  und  so  sensible  Seele  Andersens  machte,  als  der 
Freund  sich  weigerte,  mit  einer  Motivierung,  die  nur  all- 
zu deutlich  erraten  Hess,  dass  Mangel  an  Sympathie  die 
wahre  Ursache  war.  Andersen  war  zerschmettert.  Diese 
bittere  Kränkung  vergass  er  bis  an  seinen  Todestag  nicht. 
„Ich  weinte,  aber  schwieg.  Stets  war  mir  dies  wie  eine 
offene  Wunde  —  aber  gerade  meine  Weichheit,  meine 
halbe  Weiblichkeit    Hess   mich   an  Ihnen  festhalten!"  — 

Eines  Tages  kam  indes  der  unvermeidliche  Konflikt, 
Eduard  verlobte  sich  mit  einem  schönen  jungen  Mädchen. 
Andersen  floh  schleunigst  nach  Deutschland. 

»Wäre  ich  nicht  geflüchtet^  ich  würde  zu  Grunde 
gegangen  sein,"  schreibt  er  dem  Freimd  aus  Deutsch- 
land, selbstverständHch  ohne  die  wahre  Ursache  seines 
Schmerzes  zu  verraten.  Und  zur  Hochzeitsfeier  Eduards 
sendet  er  einen  wahrhaft  ergreifenden  Brief,  anstatt  aller 
üblichen  Glückwünsche  lauter  bittere  Worte  der  Ent- 
sagung: »Wie  Moses  stehe  ich  am  Berge  und  blicke  ins 
gelobte  Land,  wohin  ich  nie  gelangen  werde.  Gott  hat 
mir  zwar  Vieles  gegeben,  vielleicht  ist  aber  gerade  das, 
was  ich  entbehren  muss,  das  Schönste  und  Glücklichste. 
Mein  Leben  lang  soll  ich  einsam  bleiben,  Freundschaft 
muss  mir  Alles  sein,  daher  sind  meine  Ansprüche 
allzu  gross. Ich  soll  und  muss  ja  allein  bleiben!* — 


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—    223    — 

Er  spricht  von  den  heissen  Thränen  der  schlaflosen 
Nächte,  er  sehnt  sich  nach  dem  Grabe  und  erklärt,  er 
werde  zu  Grunde  gehen,  falls  eine  grosse  geistige  Um- 
wandelung  zum  Besseren  nicht  bald  bevorstehe.  Zu  Zeiten 
übermannt  ihn  sein  Unglück  vollends,  er  weiss  keinen 
Ausweg,  erblickt  keinen  Hafen:  —  —  ^Ich  bin  ein 
Kranker,    ein    Seelenkranker,    habe   keine  Lebensfreude 

—  —  ich  fühle,  wie  ich  in  Einsamkeit  und  Erankhaflig- 
keit  verwelke  und  vernichtet  werde!*  — 

„Eine  nervöse  Liebe*  nennt  Eduard  in  seinem  Buch 
das  Freundschaftsgefühl  Andersens.  Er  berichtet  auch, 
wie  er  von  einem  Freunde,  der  auf  einem  Landgute  tag- 
täglich mit  Andersen  in  Gesellschaft  war,  folgende  Zu- 
schrift erhielt:  .Schreiben  Sie  doch  um  Gottes  Willen 
dem  absonderlichen  Menschen,  Andersen,  einen  Brief. 
Es  verdirbt  mir  meine  Freude,  seine  Seelenangst  zu 
sehen,  Sie  und  die  Ihrigen  könnten  vergessen,  dass  er 
noch  lebt  und  zum  Teil  nur  in  Ihnen  existiert,  und  dass 
sein  erster  Gedanke  am  Morgen  und  sein  letzter  des 
Abends  Eduard  Collin  ist"  — 

Aber  auch  dieses  Verhältnis  nahm  nach  Verlauf 
einiger  Jahre  ganz  den  Charakter  der  gewöhnlichen 
Freundschaft  an,  Andersens  spätere  Briefe  an  Eduard 
beschäftigen  sich  lediglich  mit  alltäglichen  Angelegen- 
heiten und  von  Liebe  ist  nicht  mehr  die  Rede. 

Viele  Jahre  später  sieht  man  indes  Andersen  im 
regen  freundschaftlichen  Verkehr  mit  Jonas  Collin,  dem 
jüngsten  Sohne  Eduards.  Etliche  Briefe  aus  dieser  Periode 
zeugen  wieder  von  der  Tragik  der  ungleichen  Freund- 
schaft zwischen  Urningen  und  normal  Veranlagten.  Frei- 
lich erscheint  der  Liebeshang  Andersens  jetzt  resignierter 
und  verblümter  als  ehedem,  der  Widerspruch  fällt  aber 
dennoch  mehr  auf,  weil  ein  sehr  grosser  Altersunterschied 

—  36  Jahre  —  hinzugekommen  ist.     .Ich  habe,  seitdem 


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—    224     — 

Du  das  Kindesalter  überschritteD,  eine  mächtige  Sympathie 
für  Dich  gehegt*  —  versichert  er  den  Jonas  in  einem 
Brief  —  „das  war  mir  ein  Bedürfnis,  dass  Du  sie  verstehen 
solltest,  und  mein  ganzes  Streben  ging  darauf,  Dir  die- 
selbe zu  zeigen.* 

In  der  Einsamkeit  gedenkt  der  greise  Dichter  der 
seligen  Stunden  des  Zusammenseins  mit  dem  kaum  zwan- 
zigjährigen Freunde:  „ Ja,  ich  habe  mit  Dir  gelebt, 

bald  verstimmt^  bald  jauchzend  —  stets  habe  ich  aber 
gefühlt,  wie  Du  mir  unendlich  lieb  bist.  Oft  schien  es  mir, 
als  wärest  Du  hier  in  der  Stube,  oder  als  ob  Du  gleich 
hineintreten  würdest,  mit  dem  gesegneten  Gesichte,  das 
Dir  der  liebe  Gott  geschenkt  hat.  Ich  sehne  mich  nach 
Dir,  lieber  Freund  —  ich  bedarf  Deiner,  um  leichten  und 
frohen  Sinnes  zu  werden  —  Bist  Du  doch  so  entzückend 
jung!*  — 

Er  nennt  sich  und  Jonas  «die  beiden  Unzertrenn- 
lichen", und  in  der  That,  als  Andersen  sich  in  der  Folge 
wieder  auf  Reisen  begiebt,  wird  es  ihm  bald  klar,  dass 
er  unmöglich  den  Freund  so  lange  entbehren  kann: 
, Vielleicht  bin  ich  ab  und  zu  in  deinen  Gedanken*  — 
schreibt  er  ihm  aus  der  Fremde.  —  „Du  wirst  aber  schwer- 
lich erraten  können,  wie  ich  mich  stets  nach  Dir  sehne 
und  wünsche.  Du  wärest  bei  mir!" 

Schliesslich  bittet  er  in  einem  Brief  an  den  Jugend- 
freund Eduard  um  Erlaubnis,  Jonas  als  Reisegefährten  zu 
erhalten:  «Ich  würde  glücklich  sein,  falls  dies  ge- 
schehen könnte.  Eine  Bitte  habe  ich  aber  noch  zu  machen, 
es  muss  für  die  Welt  ein  Geheimnis  bleiben,  dass  Jonas 
von  mir  eingeladen  ist,  und  dass  ich  die  Kosten  bestreite. 
Ach  wenn  nur  die  Antwort  lauten  würde:  „Indem  der 
Brief  abgeht,  reist  Jonas  ab."  Sagen  Sie  doch  Jonas, 
dass,  falls  er  kommt,  er  stets,  wenn  möglich,  sein  eigenes 
Zimmer  erhalten  wird   nur  in  der  -Pension  Luise*  ist  er 


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—    225    — 

genötigt,  mit  mir  die  Stube  zu  teilen,  weil  alles  hier  be- 
setzt ist."  ♦) 

Auf  dieser  Eeise  kam  es  aber  zu  Misshelligkeiten. 
Der  befreundete  Jonas  scheint  ein  ziemlich  blasierter 
Student  gewesen  zu  sein,  und  Andersen  war  seinerseits 
viel  zu  verliebt  und  dabei  empfindlich  wie  eine  Kompass- 
nadel. Die  Demut  des  weltberühmten  Dichters  dem  un- 
reifen Jünglinge  gegenüber  macht  einen  peinlichen  Ein- 
druck. Wegen  eines  höchst  geringfügigen  Umstandes 
wäre  es  bald  zur  Trennung  gekommen,  Andersen  brach 
aber  in  Thränen  aus  und  bat  um  Verzeihung. 

9 Kein  anderer  Mensch  hatte  je  wie  Du  in  meinem 
Herzen  Wurzel  gefasst/  schrieb  er  ihm  später  nach  Kopen- 
hagen zurück  —  yCS  hat  mich  gelähmt  und  innig  tief 
betrübt,  dass  ich  erkennen  musste,  Du  könntest  da  nicht 
gedeihen.  Die  letzten  Wochen  sind  mir  wahre  Leidens- 
tage gewesen.  Früher  wurde  ich,  wenn  ich  Deine  Schrift- 
züge sah,  glücklich  und  mir  warm  um's  Herz  —  gestern 

fühlte  ich's  aber  wie  einen  Stich  in  die  Brust Du 

scheinst  mir  oft  unklug,  sonderbar  eigensinnig  und 
neckisch  —  ich  habe  deinetwegen  viele  Thränen  geweint 
—  lass  uns  aber  fest  zusammenhalten  —  mir  würde  es 
ein  Glück,  ein  Segen  sein.* 


Vor  einigen  Jahren  wurde  ein  dänischer  Schriftsteller 

M K  .  .   wegen    „Sittlichkeitsverbrechens '^  (d.  h. 

mutueller   Masturbation    mit    einem   jtmgen   Manne)   in 
Kopenhagen  verhaftet    Die  Sache  erregte  grosses  Auf- 

*)  Andersen  liebte  es  überhaupt,  auf  seine  häufigen  Reisen 
„gesellschaftshalber''  irgend  einen  jungen  Gefährten  mitzunehmen, 
£r  berichtet  hierüber  selbst,  wie  er  mitunter  Wertsachen,  welche 
ihm  als  Zeichen  der  Gunst  von  Fürsten  geschenkt  waren,  zur  Deck- 
ung der  hierdurch  entstehenden  Mehrausgaben  verwertet  habe. 

Jahrbuch  Hl.  15 

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—    226    — 

sehen  'und  wurde,  weil  der  Beteiligte  einer  bestimmten 
politischen  Fraktion  angehörte^  von  den  Zeitungen  der 
Gegenpartei  mit  peinlicher  Weitschweifigkeit  erörtert.  Eine 
derselben  veröffentlichte  eine  Art  Biographie  von  M.  K. 
und  erzählte  in  dieser  u.  a.  wie  folgt:  „Als  Kind  wurde 
der  hübsche  und  aufgeweckte  Knabe  auf  ein  Gut  in 
der  Nähe  Kopenhagens  gebracht,  hinter  dessen  alten 
Mauern  unter  andern  Gästen  auch  H.  C.  Andersen  zu 
finden  war.  Was  M.  K.  über  sein  Verhältnis  zu  dieser 
Berühmtheit  berichtet,  lässt  sich  hier  nicht  wiedergeben, 
aber  die  Zukunft  wird  in  den  Memoiren  des  Unglück- 
lichen (M.  K's.)  manchen  Zug  finden  lassen,  welcher  sehr 
geeignet  erscheint  für  eine  neue  psychologische  Beurteilung 
unseres  grossen  Märchendichters,  der  sein  Leben  hindurch 
ein  Hagestolz  blieb." 

Da  bis  dahin  nichts  über  die  Homosexualität  Andersens 
in  die  Oeffentlichkeit  gedrungen  war,  rief  diese  Enthüll- 
ung, wie  begreiflich,  viel  falsch  angebrachte  Indignation 
hervor.  Andersens  noch  lebender,  letzterwähnter  Freund, 
Jonas  CoUin,  wandte  sich  spornstreichs  an  das  Justiz- 
ministerium, den  Polizeidirektor,  Untersuchungsrichter  und 
Krethi  und  Plethi,  und  das  Ergebnis  war,  dass  M.  K.> 
der  sich  damals  noch  in  Haft  befand,  die  Geschichte 
dementieren  Hess.  Obgleich  man  selbstverständlich  einer 
unter  dergleichen  Umständen  abgelegten  Erklärung  keinen 
grossen  Wert  beimessen  kann,  darf  es  wohl  für  ausge- 
schlossen gehalten  werden,  dass  Andersen  zu  unreifen 
Knaben  in  geschlechtlicher  Beziehung  ^gestanden  habe. 
Man  darf  aber  auch  nicht  vergessen,  dass  M.  K.  vor 
Andersens  Tod  sein  25.  Lebensjahr  erreicht  hatte.  Jede 
sinnliche  Liebe  drängt  ja  in  letzter  Instanz  nach  sinnlicher 
Befriedigung,  und  Andersen  wird  schwerlich  auf  jede  Be- 
thätigung  seiner  sexuellen  Neigung  verzichtet  haben.  Von 
noch  lebenden  älteren  Homosexuellen  sind  mir  Mitteil- 
ungen gemacht  worden,  welche  das  Gegenteil  glaubwürdig 


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—    227    — 

erscheinen  lassen,  üebrigens  stand  Andersen  mit  mehreren 
hervorragenden  Persönh'chkeiten  im  Verkehr,  deren  Homo- 
sexualität ausser  allem  Zweifel  ist. 

Allem  Anschein  nach  ist  der  Geschlechtstrieb  Andersens 
allerdings  erst  spät  gereift  und  nur  wenig  entwickelt  ge- 
wesen. Unter  Andersens  handschriftlichem  Nachlass  fand 
sich  eine  Art  phrenologische  Beschreibung  seiner  Anlagen 
und  darin  bezeichnet  er  ausdrücklich  seinen  Geschlechts- 
trieb als  klein.  Bis  weit  in  das  Jünglingsalter  hinein  war 
A.,  wie  er  selbst  sagt,  ^ganz  ein  unschuldiges  Kind,  und 
es  fiel  kein  Schatten  von  Unreinheit  in  seine  Seele."  Die 
Erscheinungen  des  Geschlechtslebens  waren  ihm  eine 
terra  incogn  ita.  Sechzehn  Jahre  alt,  logiert  er  monate- 
lang in  einer  der  berüchtigtsten  Gassen  Kopenhagens  und 
hat  als  unmittelbare  Nachbarin  eine  Puella,  welche  täglich 
Herrenbesuche  empfing:  ,,Däs  klingt  sonderbar,  ist  aber 
dennoch  so,  ich  hatte  keine  Ahnung  von  der  Welt,  welche 
sich  um  mich  bewegte.* 

Bereits  damals  lassen  sich  aber  die  unverstandenen 
Regungen  eines  unbefriedigten  Sexuallebens  nachweisen. 
Eines  Frühlingstages,  als  er  im  Frederiksborg-Garten  bei 
Kopenhagen  umherwandelte,  schlingt  er  plötzlich,  von  den 
undifferenzierten  Empfindungen  seiner  Seele  überwältigt,  die 
Arme  um  einen  Baumstarom  und  küsst  leidenschaftlich 
die  Rinde.  „Ich  war  in  diesem  Augenblick  ganz  ein 
Naturkind,"  ftigt  er  als  Erklärung  an.*)  —  Und  später, 
als  A.  über  die  Anormalität  seiner  Seelenverfassung  im 
Klaren  sein  musste,  zeugen  zerstreute  halbverbltimte 
Aeusserungen  von  den  Qualen  einer  notgedrungenen  Ab- 
stinenz auf  dem  Gebiete  des  Geschlechtslebens.    So  ver- 


♦)  Vergl.  Aug.  Platen :  „Oft  ergreift  mich  eine  kindische  Käserei, 
ich  umarme  dann  meine  an  der  Wand  hängenden  Kleider,  um  nur 
etwas  an  mein  Herz  zu  drücken."  Cit.  nach  Ludw.  Frey  im  Jahr- 
buch für  sex.  Zwischenst  I.  pag.  203. 

15* 


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—     228     — 

traut  er  als  achtzehnjähriger  Lateinschüler  dem  Tage- 
buche an:  ,, Wollüstige  Schwärmereien  martern  mir  die 
Seele!*  tmd  was  meint  man  von  nachstehender  Herzens- 
ergiesstmg  aus  derselben  Zeit:  „Wahnsinn^  friss  Dich  in 
mein  Gehirn  hinein^  dass  ich  mein  Dasein  vergessen  kann! 
Wesen,  dessen  wahren  Namen  ich  nicht  kenne,  Hösse  mei- 
ner Seele  Mut  ein,  sich  los  zu  reissen!  Schwelle  Herz, 
dass  Du  brichst!  Ha,  schwülstiger  Thor,  befriedige  deine 
Begierde  die  kurzen  Augenblicke,  da  es  dir  vergönnt  ist!" 
Und  noch  in  seinem  52.  Lebensjahre  klagt  er  einer  älteren 
Freundin :  „Oh  Himmel,  mein  Blut  ist  so  heiss,  mein  Ge- 
fühl so  unbändig,  Sie  fassen  es  nicht,  wie  ich  leide.  Und 
doch  wollte  ich  nicht  entbehren,  dies  zu  sein,  so  schmerz- 
lich es  auch  sein  mag!** 

Solche  Bemerkungen  lassen  erraten,  wie  sehr  A, 
gegen  seine  anormale  Veranlagung  gekämpft  hat. 
Andere  Aufzeichnungen  bektmden  seine  Verzweiflung, 
keine  gleichgestimmte  Seele  gefunden  zu  haben,  keinen 
Naturgenossen,  dem  er  sich  recht  anvertrauen  konnte* 
Als  Dichter  muss  er  das  Gefühl  in  die  Kostüme  der 
legalisierten  Liebe  maskieren,  als  Mensch  soll  er  schweigen. 
9  Ach,  könnte  ich  Ihnen  nur  meine  ganze  Seele  erschliessen'', 
—  rief  er  seinem  Freund  zu  —  „das  würde  mir  eine 
Linderung  sein,  lässt  sich  aber  gar  nicht  thun.  Glauben 
Sie  mir  nur,  es  giebt  Leiden,  die  man  nicht  dem  besten 
seiner  Freunde  anvertrauen  kann.*  Und  fünf  Jahre 
später:  „Könnten  Sie  mir  nur  bis  in  den  Grund  meiner 
Seele  blicken,  dann  würden  Sie  die  Quelle  meiner  Sehn- 
sucht erst  begreifen.  Selbst  die  offene,  durchsichtige  See 
hat  grosse,  unergründliche  Tiefen,  die  kein  Taucher 
kennt." 

Noch  deutlicher  drückt  er  sich  in  seiner  Epistel  an 
die  bereits  erwähnte  Henriette  Wulff  aus:  „Es  sind  im 
Tagebuch  des  Herzens  Blätter,  die  so  ganz  zusammen- 
geklebt sind,  dass  nur  Gott  dieselben    erschliessen   kann. 


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—    229    — 

Wie  offenhereig  ich  auch  sein  möchte^  es  giebt  Schmerzen, 
auf  deren  Ursprung  zu  deuten  ich  nicht  wage.  Es  rührt 
dies  von  einem  mir  innewohnenden  Gefühleher^ 
dessen  Namen  ich  nicht  einmal  kenne/ 

Man  fragt  sich  unwillkürlich,  ob  denn  A.  —  von  der 
notdürftigen  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  abge- 
sehen —  sein  Leben  hindurch  vergebens  nach  dem  wahren 
Liebesglück  geschmachtet  und  nie  bei  einem  heissersehnten 
Freund  die  Gegenliebe  gefunden  habe,  die  sein  Herz 
so  leidenschaftlich  verlangte.  Ich  glaube,  dass  A.  etliche 
Male  eine  kurze  Weile  einen  Freund  glücklich  geliebt 
hat,  und  dass  der  wahre  Zusammenhang  seiner  so  überaus 
mysteriösen  Liebesgeschichten  hier  zu  finden  sein 
dürfte. 

Lassen  Sie  uns  zum  Schluss  noch  eine  derselben  ins 
Auge  fassen:  ,A.  schreibt  während  seines  Sommeraufent- 
haltes in  G.  auf  Fünen  die  beiden  ergreifenden  Gedicht- 
chen ,Buhe  sanft"  und  „Der  Hagestolz*  und  erwähnt  in 
Briefen  einer  Neigung,  welche  der  Gedanke  zahlloser 
Tage  und  Nächte  gewesen  sei,  und  der  Geheimnisse  seines 
Herzens,  in  welche  „auch  die  besten  unserer  Freunde  nicht 
hineinblicken  dürfen/  Zweifelsohne  liegt  hier  etwas  that- 
sächlich  Erlebtes  zu  Grunde,  aber  was,  darüber  hüllt 
sich  der  Dichter  ganz  in  elastische  Worte.  Ich  habe 
mein  Augenmerk  auf  diese  Episode  gerichtet,  aber  nichts 
zur  Aufklärung  ermitteln  können,  als  dass  zur  besagten 
Zeit  in  G.  —  Einquartierung  von  schwedischen  Frei- 
willigen war,  unter  denen  A.  einen  hübschen  Tambour- 
jungen getroffen,  dessen  er  später  mit  unendlicher  Sym- 
pathie in  der  Biographie  gedenkt.  Das  folgende  Jahr 
trifft  er  denselben  in  Schweden  wieder  und  erklärt  offen, 
diese  Begegnung  habe  auf  ihn  tieferen  Eindruck  gemacht 
als  der  Anblick  Trollhättens,  des  mächtigen  schwedischen 
Wasserfalles. 


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—    230     — 

Fassen  wir  Alles  zusammen:  Andersens  Herz  kannte 
die  Liebe  nichts  welche  er  im  dramatischen  Gedichte 
„B^ut  von  Lammermor"  als  den  „schönsten  Baum  im 
Wäldchen"  besingt. 

Er  war  ein  Urning  und  ein  lautredendes  Zeugnis^ 
dass  man  als  solcher  ein  Mensch  von  grossem  Geist  und 
hohem  Seelenadel  sein  kann. 


l5vS. 


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Elagabal. 

Charakterstudie  aus  der  römischen  Kaiserzeit. 

Von 

Ludwlgr  von  Scheffler- Weimar. 


Von  Michelapgelo  über  Platen  zu  —  Elagabal!*) 
Der  Weg  scheint  weit  und  rückt  doch  eng  zusammen  für 
den^  welcher  seine  bestimmte  Aufgabe  vor  sich  sieht. 
Es  ist  überdies  eine  Antwort,  welche  ich  mit  dieser  Studie 
über  den  übelst  beleumundeten  Kaiser  erteile.  Seit  dem 
Erscheinen    meines    , Michelangelo"    werde  ich  mit  einer 


*)  Drei  antike  Schriftsteller  haben  in  besonderen  Biographien 
über  Elagabal  berichtet.  Herodian  in  der  „Geschichte  seiner  Zeit'', 
üb.  V;  Cassius  Dio  im  5.  Buche  seiner  „Römischen  Geschichte", 
Aelius  Lampridius  in  seiner  „Vita  Heliogabali"  („Scriptores  Historiae 
Angnstae",  XVII).  Dio,  welcher  unter  Commodos  und  seinen  Nach- 
folgern die  höchsten  Staatsämter  bekleidet  hatte,  berichtet  zwar 
nicht  mehr  als  eigentlicher  Geschichtsschreiber,  sondern  nur  als 
rhetorischer  Annalist.  Doch  trägt  seine  Darstellung  durchaus  den 
„Stempel  der  Wahrheit",  ebenso  wie  Herodian  vielfach  Selbsterlebtes 
bringt.  Beide,  Griechen,  überleben  kurze  Zeit  den  Kaiser.  Als  eine 
kritiklose  Kompilation  stellt  sich  des  Lampridius  Vita  H*i  (Kaiser 
Konstantin  gewidmet!)  daneben.  Doch  ist  der  Verfasser  viel  zu 
beschränkt,  um  Neues  zu  erfinden.  Er  ist  daher  mit  seinem  Buche, 
da  er  meist  nur  vom  friiheren  Marius  Maximus  schöpft,  auch  gute 
Quelle.  Auch  die  noch  späteren  Epitomatoren  aus  dem  Julianischen 
Zeitalter,  Aurelius  Viktor  („De  caesaribus"  cap.  28  und  „Epitome" 
cap.  28.)  und  Eutropius,  („Breviarium"  VIII,  20)  waren  mir  in  diesem 
Sinne  von  Nutzen.  Von  neueren  Arbeiten  über  Elagabal  ist  mir 
nur  Gibbon's  Darstellung  in  seiner  „History  of  the  decline  and  the 
fall  of  the  Boman  empire'S  chap.  II  bekannt 


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232     — 


Hellogabalus. 


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—    233    - 

Menge  von  Znschriften  bestürmt.  Lebhaft  meinen  Resul- 
taten beistimmend,  lassen  diese  oft  sehr  subjektiv  ge- 
hakten Schreiben  doch  überall  %rchblicken,  dass  ich 
in  meinen  Definitionen  „nicht  klar  genug''  gewesen  sei. 
Ich  hätte  ,das  Ding  beim  rechten  Namen  nennen"  müssen; 
ich  ^kenne  vielleicht  überhaupt  nicht  genügend"  das  an- 
geregte Problem.  Broschüren,  Bücher,  mich  eines  Besseren 
zu  belehren,  folgen.  Eine  mit  der  Fülle  ihrer  realen 
Beobachtungen  geradezu  verblüffende  LitteraturI  .... 
Ich  habe  mit  dem  Danke  für  die  gewiss  gut  gemeinte 
Aufklärung  doch  vor  allem  zu  erwidern,  dass  ich  auf 
eigener  Fährte  zu  der  sogenannten  „homosexuellen '^  Frage 
gekommen  bin.  Ich  kann  auch  fernerhin  nur  sehen  und 
finden  auf  meinem  besonderen  Anschauungsgebiet.  Ja 
mehr  noch,  die  speziellen  termini  technici  erscheinen 
mir  nicht  nötig.  Das  Problem  ist  der  Wissenschaft  an 
sich  kein  neues.  Die  alten  Schriftsteller  schon  drücken 
sich  darüber  in  einer  Sprache  aus,  die  an  Deutlichkeit 
nichts  vermissen  lässt.  Aristoteles  beleuchtet  nicht  nur 
an  einer  Stelle  den  „amor  masculorum*  als  physiologisches 
und  psychologisches  Problem.  Sein  Vorgang  hat  mir 
denn  auch  vor  allem  den  Mut  gegeben,  die  oberste  Sprosse 
auf  der  Stufenleiter  psychopathologischer  Charakter- 
schilderungen zu  verlassen  und  auf  der  untersten  der- 
selben mich  umzuschauen.  Bei  der  Nähe  der  porno- 
graphischen Quellen,  welche  ihren  Schlamm  hier  wälzen^ 
gewiss  keine  stets  behagliche  Situation!  Aber  ich  habe 
doch  bei  dem  Versuche  stand  gehalten,  nicht  nur  in  dem 
Bewusstsein,  der  psychiatrischen  Forschung  ein  wertvolles, 
weil  authentisches  Material  entdeckt  zu  haben:  Auch 
die  Geschichtsauffassung  kann  meinem  Empfinden  nach 
nur  gewinnen,  wenn  sie  ihr  übliches  Pathos  lässt  und 
Personen  und  Dingen  vorurteilsloser  ins  Auge  sieht.  Der 
Blick  der  modernen  Forschung  wird  ohnedies  täglich  mehr 
der  der  Naturwissenschaft:  Ein  Fleisch  und  Bein  durch- 


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—     234     — 

-schauender  Lynkeus!  Nicht  von  den  „unsäglichen 
Schmählichkeilen'*,  mit  denen  selbst  noch  ein  Gibbon 
( —  so  wenig  aufrichtig  für  ihn!  — )  sein  „Gemälde  Helio- 
gabals*  ausstaffiert,  wollen  wir  mehr  hören,  sondern  von 
den  von  aller  Moral  unabhängigen  Motiven,  welche  die 
-Psyche  jenes  abnormen  Kaisers  bewegten. 

Drei  Eigenschaften  erscheinen  mir,  weil  konstant  mit 
dem  Bewusstsein  verbunden,  für  die  richtige  Beurteilung 
Elagabals  von  Bedeutung.  Bassian,  —  so  lautet  der  eigent- 
liche Name  des  Kaisers  — ,  war  Priester  des  Bai,  war 
Syrer  und  war  —  schön!  Seine  Familie  besass  zu  Emesa 
erblich  das  Priestertum  des  syrischen  Sonnengottes.  Es 
war  auf  Bassian  schon  als  Knaben  als  den  jeweilig  ältesten 
Sohn  übergegangen.  Der  Abandon,  mit  dem  derselbe 
sich  den  lasciven  Riten  des  Baidienstes  hingab,  erklärt 
sich  jedoch  nicht  allein  aus  traditioneller  Gewohnheit. 
Hier  zeigt  sich  Individualität.  Der  Sinnenkultus  des 
Naturgottes  war  für  Bassian  ein  seinem  Wesen  Zuge- 
höriges, ein  Wahl  verwandtes.  „Denn,"  wie  Dio  Cassius, 
der  Zeitgenosse,  nach  eigenem  Eindrucke  bemerkt,  „er 
war  Mann  und  er  war  Weib* !  Naturzwang  mithin  ist 
es,  unter  dem  Elagabal  seine  berüchtigten  Ausschreitungen 
begangen  I 

Das  Heiligtum,  in  dem  Bassian  zum  „El  Gabal*', 
zum  „Liebling*  des  auch  seinen  Namen  führenden  Gottes 
geworden  ist  auf  einer  Bronzemünze  seiner  Regierung 
wiedergegeben :  Ein  jonisches  Peristyl  mit  dem  Einblick 
in  die  Cella,  in  der  sich  statt  der  üblichen  Götterstatue 
„ein  sehr  grosser,  runder,  oben  spitz  zulaufender  Stein", 
ein  gigantischer  —  Phallus  erhebt!  Das  drastische  Symbol 
des  Leben  zeugenden  und  formenden  Gottes  findet  sich 
ebenso  auf  Münzbildem  von  Heliopolis,  von  Byblos  und 
von  Paphos.  Es  ist  ja  auch  dem  Occident  nicht  fremd. 
Das  hellenische  Kind  trägt  es  als  Amulet  am  Halse,  der 
W^anderer   begegnet    ihm    als  Wahrzeichen    der  Hermen 


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—     235    — 

auf  der  Strasse,  von  griechischen  Frauen  wird  es  bei  ge- 
wissen Dionysosfeiern  in  öffentlicher  Prozession  herum- 
geführt Aber  eben  weil  das  obscöne  Motiv  ganz  zum 
religiösen  Abstraktum  geworden,  verlor  es  für  den  Be- 
schauer seinen  Sinnenreiz.  Nicht  so  für  , unseren  Sar- 
danapal'' !  Seine  von  abnormer  Sinnenglut  erhitzte  Vor- 
stellung gab  dem  Symbole  vielmehr  erst  wieder  Dasein. 
Er  übertrug  den  Kultus  des  Phallus  ins  Leben.  Mit 
weibischer  Inbrunst  fiel  er  auch  vor  seiner  zufälligen 
Erscheinung  überall  ins  Knie.  Er  sah  und  empfand  in 
seiner  überreizten  Phantasie  nichts  mehr  Anderes.  Ein 
Vorgang  seiner  Regierung  kann  hier  umgekehrt  als  Sinn- 
bild dienen :  Sein  Benehmen  bei  dem  feierlich  prächtigen 
Umzüge,  mit  dem  der  „Stein  von  Emesa"  jährlich  von 
seinem  palatinischen  Tempel  in  ein  anderes  Heiligtum 
der  Vorstadt  Roms  überführt  wurde.  Ein  Sechsgespann 
von  weissen  Pferden  zog  den  Wagen  des  Gottes,  der 
scheinbar  selbst  die  Zügel  lenkte.  „Antoninus  aber**  (der 
andere  Name  des  Kaisers)  „ging  vor  dem  Wagen  einher, 
lief  manchmal  zurück,  sah  die  Gottheit  an  und  zog  die 
Zügel  rückwärts.  So  machte  er  es  den  ganzen  Weg  über^ 
dass  er  hin  und  herlief  und  die  Gottheit  beständig  ansah. 
Damit  er  aber  nicht  anstossen  und  fallen  möchte,  ohnfe 
dass  man  bemerkte,  wohin,  so  Hess  er  den  Boden  mit 
Goldstaub  bedecken,  und  die  Soldaten  hielten  ihn  an 
beiden  Seiten*  .  .  Ach,  aber  leider!  Er  kam  trotzdem 
in  den  starken  Armen  seiner  Begleiter  zum  Fall.  Er 
Hess  auch  keine  goldenen  Spuren  dabei  zurück.  Er  fiel 
in  den  Schmutz!  Und  es  ist  nicht  eben  leicht,  ihn  wieder 
daraus  zu  erheben,  offenbare  Unsauberkeit  mit  der  Per- 
version  seines  Geschlechtstriebes  zu  erklären.  ' 

Aber  Elagabal  war  anderseits  Syrer!  Das  erkläct 
nicht  nur  seinen  ausgesprochenen  Kacenstolz,  der  ihm  als 
Kaiser  in  anderer  Weise  wieder  hinderlich,  ja  verderblich 
werden   sollte.     Es   bedingte  vor  allem  auch  den  Besitz 


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—     236    - 

der  griechischen  Sprache  und  BilduDg.  Denn  im  Gegen- 
satz zu  ihren  Stammesgenossen  in  Palästina  hatten  die 
Syrer  den  HeUenismus  seit  der  Seleucidenherrschafl  früh 
und  völlig  in  sich  aufgenommen.  Diese  Kultur  lag  frei- 
lich vielfach  nur  wie  ein  glänzender  Firnis  über  dem 
nationalen  Fiihlen  und  Wollen.  Das  Franzosentum  bei 
uns  im  18.  Jahrhundert!  Aber  sie  vermittelte  auf  der 
andern  Seite  eine  Vorstellungswelt,  in  welcher  der  Syrer 
jederzeit  sich  mit  dem  Hellenen  oder  hellenisierten  Römer 
auf  gleichem  Boden  fühlte.  Herodian,  ein  anderer  Zeit- 
genosse Elagabals,  hatte  es  daher  gar  nicht  so  schwer,  uns 
das  Leben  dieses  letzten  Antoninus  in  griechischem  Lichte 
zu  zeigen.  Wie  er  »die  schönsten  Statuen  des  Dionysos* 
zur  Vergleichung  ruft,  um  den  bestrickenden  Eindruck 
, körperlicher  Schönheit  in  Verbindung  mit  jugendlichem 
Alter  und  üppig  weichlichem  Aufzuge*  bei  dem  Kaiser 
zu  erläutern,  so  deutet  er  auch  sonst  dessen  ausschwei- 
fendes Betragen  als  eine  fortgesetzte  bacchische  Orgie- 
Mildernd  breitet  sich  das  hieratische  Wort  selbst  über 
wüsteste  Tollheit.  Ja,  hätte  der  Zufall  nur  diese  hero- 
dianische  Biographie  erhalten,  das  Bild  des  Elagabal  wäre 
nicht  in  abschreckender  Verzerrung  auf  uns  gekommen. 
Seine  Obscönität  zum  Beispiel,  die  Seite  seines  Wesens, 
auf  welcher  die  Phantasie  der  späteren  halbchristliehen 
Epitomatoren  mit  solchem  Behagen  weilt,  berührt  Hero- 
dian  mit  nur  drei  Worten.  Immoralität  konnte  ihm  als 
einem  noch  ganz  antik  empfindenden  Menschen  ja  auch 
nur  insofern  als  ein  Verbrechen  erscheinen,  als  sie  Staats- 
und Standesinteresse  verletzte.  In  dieser  Hinsicht  jedoch 
waren  Elagabals  Gesetzesübertretungen,  wie  auch  Dio 
Cassius  zugiebt,  «noch  ganz  einfach  und  nicht  eben  be- 
trächtlich." Strikt  unterschied  das  antike  Raisonnement 
in  dem  Kaiser  den  „privatus"  und  den  »Caesar**.  Was 
daher  Elagabal  als  Privatperson  begangen,  entzog  sich 
der  öffentlichen  Censur.     Seine  Scherzreden    bezweckten 


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-    237     — 

nichts  anderes,  als  eben  dieses  Prärogativ  einer  individu- 
ellen Ausgelassenheit  zu  bestätigen.  Er  beschönigte 
sein  herausforderndes  Benehmen  nicht  sowohl,  er  stellte 
der  überschäumenden  Sinnlichkeit  nur  eine  Art  Gesetzes- 
freiheit aus.  9 Ich  feiere  meine  Floralien!''  rief  Elagabal 
seiner  betroffenen  Umgebung  zu,  als  diese  ihn  bei  einem 
seiner  weitgehendsten  PhalUcismen,  nämlich,  wie  er  seinem 
Geliebten  Hierokles  inguina  osculabatur,  überraschte. 
„Das  heisst  doch  die  Freude  der  Weinlese  geniessen!", 
ein  andermal,  wo  die  Indeceuz  seiner  Ausdrücke  und 
Gesten  den  zu  einem  Gartenfeste  geladenen  Konsularen 
die  Schamröte  in  die  greisen  Wangen  getrieben  hatte. 
Aber  es  empfanden  unter  den  Gästen,  vornehmlich  den 
jüngeren,  nicht  alle  so.  Man  fand  zum  Teil  Geschmack 
an  Elagabals  pikanten  Bonmots.  Man  sammelte  sie,  über- 
trug sie  vom  Griechischen  ins  Lateinische,  gab  sie  als 
Blüten  syrischen  Witzes  aus.  Was  Wunder,  wenn  da 
Herodian,  der  eben  auch  nicht  „wie  ein  Küchenjunge*, 
sondern  als  einer,  ^der  mit  dem  Cäsar  bei  Tafel  gesessen*, 
schreibt,  in  den  obscönen  und  sonstigen  Extravaganzen 
des  Kaisers  nur  die  Hybris  des  Festgelages  erblickt. 
Scharf  rücken  hier  in  seiner  Charakteristik  die  so  gleich- 
lautenden Begriffe  auseinander.  Nicht  als  „Paranoia* 
(Verrücktheit)  bezeichnet  Herodian  Elagabals  Betragen, 
sondern  als  eine  ^Paroinia*  (Weinrauschstimmung)! 

Und  jene  dritte  Eigenschaft  kam  hinzu,  den  Cäsar 
im  Bewusstsein  seiner  dionysischen  Selbstherrlichkeit  zu 
erhalten:  er  war  schön!  Das  , Gefühl  des  schönen 
Körpers*,  um  den  so  bezeichnenden  Goethe'schen  Aus- 
druck zu  gebrauchen,  gab  den  Ausschlag  bei  so  manchem 
seiner  „Wagnisse".  Es  bedingt  die  Art  seines  Auftretens, 
an  der  auch  wir  ein  ästhetisches  Interesse  zu  nehmen 
vermögen.  Freilich  darf  uns  dabei  nicht  die  Vorstellung 
jener  Antiken  in  den  Museen  Europas  begleiten,  welche 
eine    landläufige    Annahme    als    Bildnisse   des   Elagabal 


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-     238    — 

kennt.  J.  J.  BernouUi  hat  neuerdings  in  seiner  „Ikono- 
graphie" das  Unzulängliche  dieser  Bezeichnungen  nach'* 
gewiesen.*)  Aber  auch,  was  er  selbst  als  Portraitbüste 
des  Kaisers  dafür  empfiehlt,  hat  für  mich  keine  Ueber- 
zeugungskraft.  Der  „Jünglingskopf  im  Taubenzimmer  des 
Capitols"  ist  ganz  gewiss  nicht  ohne  Bedeutung.  In  ihm 
einen  Elagabal  zu  erblicken,  verbietet  aber  gerade  der 
Grund,  den  Bernoulli  dafür  anführt:  die  Aehnlichkeit 
mit  des  Kaisers  Münzbildern!  Hat  nicht  der  Gelehrte 
kurz  vorher  treffend  bemerkt,  dass  diese  Aehnlichkeit 
keine  authentische,  dass  Elagabal  vielmehr  auf  seinen 
Medaillen  sich  das  Aussehen  des  Caracalla  lieh,  um  auch 
auf  solche  Weise  als  der  letzte  Antoninus,  der  angebliche 
Sohn  jenes  Kaisers,  zu  erscheinen?  Will  man  daher 
Familienzüge  des  Elagabal  konstruieren,  so  wird  man 
besser  thun,  sich  an  die  beglaubigten  Portraits  seiner 
Verwandten,  der  Grossmutter,  Mutter,  und  vor  allem 
auch  an  die  seines  Vetters,  des  Alexander  Severus,  zu 
halten.  Welch  brillanter  Racentypus,  jene  Büste  des 
jugendlichen  Kaisers  in  den  Uffizien!  .  .  Mehr  als  die 
Vergegenwärtigung  des  letzteren  braucht  es  auch  nicht 
für  unseren  Zweck.  Wie  Elagabal  im  Leben  sich  be- 
wegt, kann  auch  wieder  nur  die  Wirklichkeit  zeigen.  In 
den  Jünglingsgestalten  des  Südens,  in  den  Modellen  der 
römischen  Künstlerateliers  vor  allem  lebt  noch  täglich 
das    Urbild    eines    „Heliogabalus"   wieder  auf.     Nur  wer 


*)  Vgl.  ,;Römi8che  Ikonographie"  II,  8.  S.  85  ff.  Die  Volks- 
wut hat  wahrbcheinlich  jedes  Bildnis  des  Kaisers  zerstört.  Sicher 
(V)  geben  daher  nur  die  Münzen  sein  Portrait  wieder.  Doch  weisen 
Bernoulli,  und  die  ihm  folgen,  ausser  dem  ,  kapitolinischen  Jüng- 
lingskopfe" auf  eine  Büste  im  Louvre  als  mutmassliches  Elagabal- 
porträt  hin  (ebendaselbst  S.  85,  Fig.  5).  Auch  diese  zeigt  den 
Kaiser  bärtig!  Elagabal  litt  kein  Haar  an  seinem  K6rper.  Man 
konnte  den  Bart  hier  also  nur  aus  dem  angeführten  Grunde,  wie 
bei  den  Münzen,  erklU.en.    Ob  aber  trefifend? 


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—    239    — 

es  hier  mit  erfahren,  mit  welcher  Sicherheit,  ja  Selbst- 
verständlichkeit diese  römischen  und  neapolitanischen 
Epheben  posieren,  wird  entsprechende  Schaustellungen 
der  nackten  Schönheit  bei  Elagabal  begreiflich  finden. 
Eine  natürliche  Charis  bestimmt  ihre  Haltung  und  Be- 
wegung, welche  Zweideutigkeit  ebenso  wenig  kennt,  als 
sie  von  der  blöden  Scham  des  beständig  in  seinen  Kleidern 
steckenden  Nordländers  entfernt  ist.  Elagabal  mochte 
sich  mit  diesem  ästhetischen  Instinkte  desgleichen  als 
lebendiges  Kunstwerk  fühlen.  So  besteigt  er  als  Dionysos 
den  von  Tigern  gezogenen  Wagen ;  so  lenkt  er  als  Cybele 
die  Löwen;  so  zeigt  er  sich  endlich  —  ohne  alle  Götter- 
tracht, nur  im  Wettbewerb  der  körperlichen  Schönheit, 
—  „selbst  ganz  nackt  auf  einem  Geführte,  dessen  Gespann 
schöne  nackte  Frauen  bilden*M  .  .  .  Gutmütig,  wie  die 
meisten  schönen  Menschen  es  sind,  glaubte  er  damit  der 
Menge  besonders  zu  genügen:  »^Das",  wie  Lampridius, 
sein  Biograph,  von  ihm  bemerkt,  „für  den  grössten 
Lebensgenuss  erachtend,  dass  er  würdig  und  geschickt 
erscheinen  möchte,  die  (Augen)-Lust  recht  vieler  zu  be- 
friedigen." 

Doch  ich  fälsche  hier  nicht  sowohl  einen  Ausdruck, 
als  ich  seinem  brutalen  Wortlaute  nur  eine  mildere  Be- 
deutung gebe.  Nicht  von  der  Lust,  welche  die  Augen 
allein  ergötzt,  spricht  Lampridius  als  von  Elagabals  letztem 
Ziele,  sondern  von  dem  groben  Sinnenreize,  der  die 
tierischen  Triebe  in  uns  weckt  Von  ^libido"  ist  bei  ihm 
die  Rede.  Das  Kunstideal  verflüchtigt  sich  gegenüber 
einer  solchen  Thatsache.  Die  Möglichkeit  einer  opti- 
mistischeren Auffassung  von  Elagabals  Gebahren  schwin- 
det. Ein  krasses  Krankheitsbild  bleibt  nur  übrig.  Aber 
eben  dieses  sollte  und  wollte  ich  ja  entwickeln,  eine 
Motivierung  für  Elagabals  Charakter  damit  zu  geben, 
die  ihn,  wo  nicht  entschuldbar,  doch  zum  mindesten  be- 
greiflicher macht. 


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—    240    — 

Schon  die  Art^  mit  der  Elagabals  nächste  Ange- 
hörige seiner  pathologischen  Veranlagung  ahnungslos 
gegenüberstanden^  bleibt  für  diesen  wie  so  viele  andere 
Fälle  bezeichnend.  Das  fürstliche  Priestergeschlecht  war 
mit  Julia  Domna  zuerst  in  die  Geschichte  getreten.  Eine 
ebenso  schöne  als  ehrgeizige  Frau,  wird  sie  durch  das 
Horoskop  des  Septimius  Severus  Gemahlin  und  besteigt 
mit  ihm  den  kaiserlichen  Thron.  In  der  Sala  Rotonda 
des  vatikanischen  Museuros  steht  ihre  kolossale  Büste. 
Ein  wunderbares  Gemisch  von  Energie  und  Sinnlichkeit 
in  den  stolz- weichen  Zügen;  eine  Art  antiker  Lady  Mac- 
beth, wie  man  sie  mit  Recht  genannt  hat.  Mit  echter 
Racenpietät  lässt  sie  ihre  Verwandten  nach  Rom  zu  sich 
kommen.  Mäsa,  die  Schwester,  Soämis  und  Mammäa, 
deren  Töchter,  welche  im  Palatium  die  Mütter  des  Bassian 
und  Alexander  werden:  Alle  drei  Frauen,  die  der  Kaiserin 
nicht  nur  äusserlich,  sondern  auch  dem  Charakter  nach 
bis  ins  einzelnste  ähneln.  Wie  furchtbar  daher  für  die 
Fürstinnen  der  Schlag,  als  des  Macrinus  Mörderhand  sie 
ihres  Schutzherrn  Caracalla  beraubt,  und  sie,  Rom  ver- 
lassend, „in  den  Privatstand*  zurückkehren  müssen!  Julia 
Domna  begiebt  sich  nach  Antiochien,  um  als  letztes 
Hautgout  übersättigten  Lebensgenusses  dort  die  Predigten 
des  Kirchenvaters  Origines  zu  hören;  Mäsa  sucht  mit 
Töchtern  und  Enkeln  das  heimatliche  Emesa  auf,  schein- 
bar nur  der  Erziehung  der  letzteren  sich  widmend,  in  der 
That  jedoch  nur  auf  die  günstige  Gelegenheit  wartend, 
um  noch  einmal  auf  der  Oberfläche  des  Lebens  zu  er- 
scheinen. Bassian,  der  Soämis  Sohn,  bietet  sie  ihr!  Sie 
liebte  ihn  nicht,  diesen  weichen  Knaben.  Sie  fand  ihn 
wohl  an  seinem  rechten  Platze,  als  er,  das  Priesterkleid 
anziehend,  in  den  Baisdienst  trat.  Aber  wie  es  in  neueren 
Zeiten  geschehen,  dass  ein  prinzlicher  Kardinal  das  Mess- 
gewand ablegte,  um  einer  Thronfolge  in  der  Familie  wegen 
es   mit    der  Uniform  des  weltlichen  Herrschers  zu  ver- 


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—     241     — 

tauscheD,  so  glaubte  Mäsa  im  gegebenen  Zeitpunkte  auch 
an  die  Möglichkeit  einer  Metamorphose  des  Oberpriesters 
^Elagabal^  zum  Cäsar.  Sie  täuschte  sich  gründlich  darin; 
so  sehr  auch  der  Beginn  ihrer  Intrigue  diesen  Erfolg  zu 
versprechen  schien. 

Das  Elagabalon^  in  dem  der  Enkel  der  Mäsa  als 
Pontifex  waltete^  war  „ein  kostbar  ausgeschmücktes^ 
ringsum  verehrtes  Heiligtum".  Eine  römische  Legion  lag 
zum  Schutze  der  Provinz  in  der  Nähe.  «Die  Soldaten 
gingen  täglich  in  die  Stadt,  dem  Grottesdienste  beizu- 
wohnen, weil  sie  den  jungen  Priester  gerne  sehen  moch- 
ten.* «Elr  war  einer  der  schönsten  Jünglinge  seiner  Zeit." 
,Wenn  er  in  reichem,  langwallenden  Priesterkleide,  eine 
Juwelenkrone  auf  dem  Kopfe,  nach  dem  Tone  musika- 
lischer Instrumente  die  Altäre  umtanzte,  zog  seine  Schön- 
heit die  Augen  aller  auf  sich."  „Mit  grosser  Begierde 
verschlangen  ihn  aber  besonders  die  Soldaten  mit  ihren 
Blicken,  weil  Elagabal  in  der  Blüte  seiner  Jugend  stimd 
und"  —  hier  setzten  die  Mnke  der  Mäsa  ein  —  „er  aus 
kaiserlichem  Geblüte  war."  Ohne  Rücksicht  auf  die  Ehre 
ihrer  Töchter  hatte  letztere  Elagabal  wie  dessen  Vetter 
als  Früchte  ehebrecherischen  Umgangs  mit  Caracalla  aus- 
gegeben. Was  das  Gerücht  bei  den  Soldaten  nicht  zu 
erreichen  vermochte,  thaten  ,, Haufen  Geldes*.  Geld,  das 
die  Schriftsteller  jener  Tage,  die  nicht  mehr  von  oben 
herab,  sondern  von  unten  auf  die  Volksseele  analysieren, 
als  den  wahren  Beweggrund  aller  Söldueraufstände  be- 
stätigen! Was  folgte,  sagt  die  Geschichte:  Die  Ueber- 
ftthrung  der  fürstlichen  Frauen  mit  dem  jugendlichen 
Thronprötendenten  ins  befestigte  Lager;  die  Rebellion; 
die  Ueberwindung  und  Flucht  Macrins,  des  Usurpators. 

Elagabal,  passiv  wie  er  seiner  Natur  nach  war,  hatte 
seine  Entführung  ans  dem  Tempel  mit  irreführendem 
Gleichmut  hingenommen.  Ja,  der  Aufenthalt  im  Lager 
schien   ihm   nicht    unsympatisch.    Er    liebte  die  derben, 

Jahrbnoh  III.  16 


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—     242     — 

frischen  Typen  der  Söhne  des  Volkes.  Soldaten  blieben 
sein  erstes  und  letztes  Publikum.  Willig  Hess  er  sich 
von  ihnen  entkleiden  und  in  den  kaiserlichen  Waffenrock 
stecken.  Aber  nachdem  ,die  Komödie  vorüber*^  er 
Cäsar,  Sieger  und  ,,Kaiser  Antoninus"  geworden  war,  sank 
er  sofort  in  seine  frühere  Lebensart  zurück.  Wieder  er- 
scheint er  als  Elagabal  in  kostbarem  Oewande,  Schmuck 
an  Hals  und  Armen,  die  Tiara  auf  dem  Haupte.  Der 
Kaiser  war  erst  vierzehn  Jahre  alt.  Die  Grossmutter,  — 
,er  hörte  allein  auf  sie,''  —  hofile  noch  auf  ihn  zu  wirken. 
Sie  hielt  ihm  „das  Unanständige  seines  Au&ugs"  vor.* 
Dergleichen  sei  „ein  Schmuck  der  Weiber,  passe  nicht 
für  Männer.'*  Zu  ihrem  Schrecken  bemerkte  sie  erst  jetzt, 
dass  dasjenige,  was  sie  ihrem  Enkel  zum  Vorwiu^  machte, 
nicht  Sache  freier  Wahl  war,  sondern  Folge  eines  natür- 
lichen Instinktes.  Elagabal  hing  an  diesen  weiten  Aermeln 
und  wallenden  Röcken  nichts  weil  sie  zu  seinem  Priester- 
anzuge  gehörten  —  (nach  Herodian  trug  er  überhaupt 
nicht  mehr  diesen,  sondern  ein  Phantasiekostüm,  das 
,  einem  Mitteldinge  von  phönicischem  Priesterkleide  und 
medischer  Tracht  glich*  — ):  das  Frauenhafte  seiner 
Kleidung  vielmehr  war  es,  was  ihn  gerade  entzückte! 
Er  fühlte  sich  darin  als  Weib  II  ....  Entsetzt  be- 
schwor Mäsa  ihren  Enkel,  wenigstens  nicht  bei  seinem 
Einzüge  in  Rom  „sofort  den  Blick  der  Zuschauer  durch 
das  fremde,  ausländische  Kleid  zu  beleidigen."  Aber 
Elagabal  hasste  ja  die  römische  Gewandung  nicht  als 
solche,  sondern  wegen  der  Wolle,  der  gewöhnlichen, 
schlechten  Materie. *'  Für  ihn  (den  Sjrerl)  passe  nur  die 
, einheimische  weiche  Seide*.  Er  werde  jedoch  die  Ab- 
neigung des  römischen  Volkes  und  Senates  vor  seinem 
Aufzuge  auf  andre  Art  überwinden.  Er  lässt  sich  nun  in 
Lebensgrösse  malen  und  das  Bild  in  der  Curie  zu  Rom 
über  der  Statue  der  Viktoria  anbringen.  Und  siehe  da! 
Ein  Weiblein  überlistet  hier  das  andere  I     Wie  der  Senat 


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-     243    ^ 

genötigt  war,  diesem  Porträt  des  Kaisers  an  geweihter 
Stätte  zn  opfern,  so  gewöhnte  man  sich  auch  sonst  an 
seine  Vorstellung.  «Sein  Auftreten  in  Born  fiel  nachher 
gar  nicht  mehr  auf".  Mit  einem  wahren  Frauenschliche 
hatte  hier  Elagabal  ein  aUgemeines  Vorurteil  überwunden. 
Mäsa  indess,  die  ganze  Energie  ihrer  Race  zu- 
sammennehmend, war  inzwischen  „an  den  ihr  wohlbe- 
kannten Hof*  geeilt,  dort,  (ein  Unikum  in  der  Geschichte 
Roms),  die  Zügel  der  Regierung  für  „den  jungen,  ge- 
schäftsunkundigen Cäsar"  zu  ergreifen.  Elagabal,  den 
Winter  in  Italien  weichlich  fürchtend,  war  nicht  höher 
hinauf  als  bis  Nikomedien  gerückt.  „Hier  fing  er  denn 
bald  an,  ausgelassen  zu  werden,  seinen  Gott  mit  über- 
triebenem Pompe  zu  ehren"  und  dabei  „der  Liebe  als 
passiver  Teil  aufe  unzüchtigste  zu  fröhnen".  Die  Soldaten 
lachten  darüber  und  betrachteten  die  sexuellen  Aus- 
schreitungendes jungen  Kaisers  ungefähr  mit  dem  verständ- 
nisvollen Wohlwollen,  mit  welchem  ein  heutiger  Offiziers- 
bursche  die  erwachenden  Triebe  des  ihm  attachierten 
Sohnes  seines  Vorgesetzten  bemerkt.  „Selber  konnte  er", 
so  gibt  Aurelius  Viktor  dieses  Raisonnement  wieder, 
„seine  Begierde  nach  Unzucht  aus  Mangel  an  natürlichem 
Vermögen  noch  nicht  befriedigen.  So  machte  er  sich 
selbst  zum  Gegenstande  derselben."  (Dasselbe  blöde 
Urteil,  das  heute  der  gesunde  Mensch  meist  jener  Er- 
scheinung entgegenbringt!)  Finsterer  schaute  die  höhere 
Umgebung  darein  bei  diesem  Gebahren  des  Cäsars.  Nicht 
als  ob  sittliche  Entrüstung  ihr  Empfinden  bestimmte. 
Aber  ihr  Argwohn  sagte  ihnen  sehr  wohl,  dass,  wenn  der 
Herrscher  jetzt  schon  Leute  vorzog,  deren  „einziges  Ver- 
dienst darin  bestand,  dass  sie  zur  Wollust  recht  gebaut 
und  vorzüglich  stark  beschlagen  waren",  er  wohl  auch 
später  ihre  Stellen  mit  den  Gefährten  seiner  Ausschweif- 
ungen besetzen  werde.  Und  die  Folge  bestätigte  ihre 
Befürchtungen.     Elagabal,   in   Rom    endlich    angelangt, 

16 

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—    244    — 

setzte  die  Orgien  von  Nikomedien  nur  in  grösserem  Mass- 
stabe fort.  Seine  Gesellschaft  bildeten  Matrosen^  Kutscher, 
Läufer,  während  er  selbst,  sonst  zu  jedem  freundlich,  nur 
die  Philister  verachtete  und  „auf  einen  rechtschaffenen 
Mann  wie  auf  einen  Verworfenen  (quasi  perditum)  herab- 
blickte^.  Wenn  daher  der  eine  Biograph  von  Elagabal 
behauptet,  „sein  Leben  war  nichts  anderes"  —  ja  ich 
kann  das  Wort  ^^tatgCaf^  wirklich  nicht  treffender  über- 
setzen als  mit:  „Cochonnerie",  so  hat  er  von  seinem  Ge- 
sichtspunkte aus  ebenso  recht  wie  der  andere,  welcher 
in  der  „Hierurgie",  der  Vornahme  gottesdienstlicher 
Handlungen,  die  „einzige  Beschäftigung^  des  Kaisers  er- 
blickt. Beide  sehen  dieselbe  Sache  nur  von  verschiedenen 
Seiten,  beide  sind  jedoch  auch  von  der  wunderbaren  Ein- 
heit des  zu  schildernden  Charakters  erfüllt  E^ine  Eigen- 
schaft^ die,  ganz  abgesehen  von  dem  schmutzigen  Detail, 
auch  den  modernen  Psychologen  fesseln  muss,  welcher 
anstatt  „der  gemischten  und  zweifelhaften'^  Naturen  der 
neueren  Geschichte  hier  einen  solch  einfachen,  durch- 
sichtigen Typus  vor  sich  sieht.  Freilich,  dass  der  letzte 
Grund  von  Elagabals  einheitlichem  Charakter  in  seiner  natür- 
lichen Perversion  lag,  spricht  keiner  der  antiken  Schrift- 
steller deutlich  aus.  Und  hier  gilt  es  eben,  unter  dem 
pornographischen  Wust  zu  sichten,  den  springenden 
Punkt  des  Besonderen  daraus  blos  zu  legen. 

Niemals  jedoch  hätte  die  Geschichte  den  Herma- 
phroditen auf  dem  Throne  erlebt,  nie  hätte  sich  das 
pathologische  Individuum  in  Elagabal  so  grenzenlos  ent- 
falten können,  wenn  nicht  eben  die  Unumschränktheit 
der  Stellung  ihn  gleicherweise  gereizt  wie  geschützt  hätte. 
Was  Cäsar-sein  in  diesem  Falle  bedeutet,  drückt  mit  ent- 
setzlicher Deutlichkeit,  aber  am  besten,  ein  Vorfall  aus 
der  noch  dazu  eigenen  Familientradition  des  Elagabal 
aus.  Die  Geschichte  „von  der  neuen  Jokaste^,  welche 
der  freche  alexandrinische  Witz  dem  im  Theater  weilenden 


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—    245     — 

Caracalla  entgegenrief!  Aelius  Spartianus  erzählt  die 
Begebenheit  als  Thatsache.  „Als  Julia  Domna^  diese 
überaus  schöne  Frau,  sich  Caracalla  einstens  wie  von 
ungefähr  grösstenteils  entblösst  zeigte,  und  jener, 
(Spatian  macht   wenigstens    einen    Stiefsohn    aus    ihm), 

sagte:  „Wäre  es  erlaubt,  wie  sehr  wünschte  ich* , 

so  soll  sie  erwidert  haben:  „Erlaubt  ist  es,  wenn  Du  nur 
willst  Bist  Du  denn  nicht  Kaiser,  der  Gesetze  gibt, 
ohne  selbst  welche  anzunehmen?*  .  .  .  Si  Übet,  licet!! 
«Erlaubt  ist,  was  gefällt* !!  ....  Oder  liegt  sonst  noch 
etwas  in  der  Luft  Roms,  was  Gedanken  und  Empfin- 
dungen steigert  und  den  Menschen  zu  einer  Art  titani- 
schen Uebermutes  treibt?  Wenn  ich  wenigstens  lese,  wie 
Elagabal  als  Erstes  in  Rom  ein  Heliogabalum  neben  dem 
Kaiserpalaste  auf  dem  Palatin  errichtete,  sich  vom  Se- 
nate in  der  Würde  eines  Oberpontifex  seines  Gottes  be- 
stätigen liess  und  in  der  Ausübung  dieses  priesterlichen 
Amtes  ein  ungleich  Höheres  als  in  allen  seinen  sonstigen 
Regierungsbefugnissen  sah,  —  wenn  er  weiterhin  im  Be- 
wusstsein  dieses  Priesterkönigturos  verachtend  auf  die 
weltlichen  Stände  herabblickte,  „den  Senat  als  eine  Ge- 
sellschaft von  Sklaven  in  Toga,  das  römische  Volk  als 
blosse  Bauern,  die  Ritter  aber  als  gar  nichts  betrachtete*, 
wenn  er  bei  dieser  Geringschätzung  der  Feldherm  und 
hohen  Staatsbeamten  dieselben  einfach  zu  seinen  Opfer- 
handlungen konmiandierte  und  sie,  «wie  auf  dem  Theater*, 
sagt  Herodian,  in  „phönicischem^  Kostüm  um  den  Altar 
seines  Gottes  postierte,  ja  ihnen  seiner  Ansicht  nach  noch 
eine  „grosse  Ehre  damit  erwies!"  — ,  so  liegt  für  mich 
eben  die  Vergleichung  nicht  fem  mit  dem  Schauspiel, 
welches  in  eben  demselben  Rom  später  einige  «geistliche 
Oberhirten*  boten.  Auch  verstehen  wir  jetzt  besser 
einen  Zug  von  Elagabal  als  die  damaligen  Römer:  seinen 
Monotheismus!  Sonst  so  tolerant  gegen  jeden  eingeführ- 
ten fremden  Religionsgebrauch,   verletzte  es  sie  in  ihrer 


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—    246    — 

nationalen  Pietät,  dass  der  Kaiser  seinen  Phallusgott  über 
alle  anderen  Götter  setzte,  ja  letztere,  den  kapitolinischen 
Jupiter  an  der  Spitze,  nur  für  „Bediente*  des  ersteren 
erklärte.  Und  nicht  genug,  dass  er  die  Numina  degra- 
dierte, er  strebte  auch  danach,  alle  ihre  Heiligtümer  in 
den  Tempel  des  Bai  zu  überlühren:  das  Feuer  der  Vesta, 
das  Palladium,  die  Ancilien!  Ja  selbst  die  Religionsge- 
bräuche der  Juden  und  Samaritaner  und  die  Andachts- 
übungen der  Christen  sollten  dorthin  verlegt  werden, 
„damit  das  Priestertum  des  Elagabal  alle  Kulte  in  sich 
vereinige!'*  Das  musste  dem  antiken  Menschen  naturge- 
mäss  barock  vorkommen;  , religiöse  Blutschande"  nennt  es 
ein  entrüsteter  Ausdruck.  Milder  im  Urteil  stand  das 
römische  Publikum  zunächst  Elagabals  praktischem  Phallus- 
kulte  gegenüber.  Aber  es  war  doch  etwas  mehr  als 
nur  ein  syrischer  Witz,  wenn  sich  Elagabal  im  Kreise 
seiner  Vertrauten  als  »Augusta*  anreden  und  behandeln 
liess.  Er  war  nicht  „bald  Er,  bald  Sie",  wie  Dio 
Cassius  in  obscönem  Sinne  von  Nero  und  Caligula  be- 
merkt, sondern  stets  feminin.  „Er  tänzelte*,  nach  des- 
selben Schriftstellers  Erfahrung,  „wo  er  ging  und  stand." 
„Er  affektierte  in  Haltung,  Stimme,  Kleidung  weibisches 
Wesen."  Und  es  erscheint  mir  bezeichnender  noch  als  seine 
Ausschweifungen,  was  die  „Ausspäher  seiner  Handlungen* 
in  der  Hinsicht  uns  überliefert  haben,  gezierte  Wen- 
dungen namentlich,  wie  sie  im  Munde  einer  modernen 
Dame  nicht  geläufiger  sein  könnten.  So  „trug  er,  um 
seine  Schönheit  zu  erhöhen  und  ein  mehr  firauenzimmer- 
liches  Aussehen  zu  erhalten,  ein  mit  Edelsteinen  besetz- 
tes Diadem"  und,  abgesehen  von  anderer  Pracht,  auch 
„einen  mit  Juwelen  gesäumten  Mantel.*  Er  klagte 
dann  aber  beim  Umlegen  desselben  affektiert  „über 
die  Schwere  seiner  üppigen  Kleidung,'*  ebenso  wie 
man  eine  Prinzessin  zu  hören  vermeint,  wenn  Ela- 
gabal   „beim  Ueberschreiten  des  Marktes  sich  über  die 


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—    247    — 

allgemeine  Dürftigkeit  wundert."  Die  eingeladenen  Sena- 
toren^ denen  er  die  kostbarsten  Safranpolster  auf  ihre 
Plätze  hat  legen  lassen,  begrüsst  er  mit  den  preciösen 
Worten:  „Dies  sei  nur  das  ihnen  angemessene  Heu!^^ 
Ueber  seinen  Tafelluxus  freilich,  über  welchen  Lampri- 
dius  so  viel  Worte  macht^  werden  wir  heute  weniger 
entrüstet  denken.  Auch  hierbei  jedoch  fällt  wieder  der 
weibliche  Zug  seiner  Geschmacksrichtung  auf.  Granz  ab- 
gesehen davon,  dass  „seine  Eüche^  auch  nach  dem  Ge- 
ständnis seiner  Tadler  besser  war,  als  die  der  berühmten 
ihm  vorangegangenen  Gourmets,  so  lag  ihm  weniger  die 
kopiöse  als  die  ästhetisch  zugerichtete  Tafel  am  Herzen. 
,  Je  nach  der  Jahreszeit  (Lampridius  spricht  hier  überall 
als  von  „neuen  Erfindungen"!)  »wechselte  die  Farbe  der 
Gedecke.  Die  , Servietten  gaben  das  Menü  in  Stickereien 
wieder".  Das  »Silber  des  Services  erstreckte  sich  bis 
auf  die  Kohlenpfannen  und  -topfe.  Niemals  fehlte  reich- 
licher Blumenschmuck  auf  dem  Tische."  »Wohlgerüche 
dufteten  aus  den  Lampen".  Ueberhaupt  war  alles 
»parfümiert*^  um  Elagabal  herum:  die  Zimmerwände, 
Möbel,  Bäder!  Dazu  brachte  der  Kaiser,  »nach  Frauen- 
art*, der  Kochkunst  ein  technisches  Interesse  entgegen. 
Er  erfand  neue  Ragouts,  neue  Saucen  und  Pasteten. 
Stolz  darauf,  Hess  er  sich  »als  Garkoch  malen"!  Das 
Seltene,  die  „Delikatesse*,  war  ihm  hierbei  Devise.  Nie 
erlaubte  er  zum  Beispiel,  Seefisch  zu  servieren,  als  wenn 
er  fem  vom  Meere  speiste.  Auch  liess  er  willkürlich 
»die  Gerichte  höher  taxieren",  um  sie  für  seine  Gäste 
wertvoller  zu  machen,  stets  nur  auf  das  Exquisite  be- 
dacht! .  .  .  Dass  dann  sein  Frauenfriss  „ungern  den  Boden 
der  Erde  berührte"  und  er  den  Grund  der  Portiken 
des  Palastes  „mit  Gold-  und  Silberstaub  bedecken"  und 
auch  die  Zugänge  zu  letzteren  mit  einem  kostbaren, 
„eigens  erfundenen  Pavimente  pflastern  liess",  wird  uns 
nach  dem  Bisherigen  eben  so  wenig  wundem,  als  dass  er 


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—    248    — 

im  Tode  selbst  sich  noch  in  einer  ästhetischen  Situation 
wünschte.  Prophezeiung  und  eigene  trübe  Ahnung  hatten 
ihm  ein  gewaltsames  Ejide  gekündet.  Er  führte  stets 
Gift  mit  sich^  ,,erriohtete  aber  ausserdem  einen  sehr  hohen 
Turm^  der  unten  herum  mit  Goldplatten  und  kostbaren 
Steintafeln  belegt  war,  um,  wenn  er  sich  herunterstürzte, 
doch  mit  einem  Scheine  von  Luxus  zu  sterben'M 

Und  dieses  Prinzlein,  das  zu  delikat^  um  auch  nur 
die  Berührung  der  männlichen  römischen  Toga  zu  ertragen, 
sehen  wir  anderseits  mit  Brunst  die  Luft  der  niedrigsten 
Weinschenken  und  Bordelle  atmen  I !  Auch  hierin  freilich 
eine  „Augusta*^,  wenn  wir  das  Bdspiel  einer  Poppäa,  einer 
Messalina  oder  das  zeitlich  viel  näherliegende  der 
Mutter  des  Commodus,  der  Faustina,  uns  dabei  vor  Augen 
führen.  Die  erotischen  Instinkte  der  vornehmen  Frauen 
Roms  überhaupt  waren  mit  der  Zeit  sehr  massiv  ge- 
worden. Schon  Petronius  lässt  die  Dienerin  der  schönen 
„Circe^  S9Lgen,  dass  sie  selbst  zwar  sich  nie  mit  einem 
Sklaven  abgeben  würde,  ihre  „Herrin  jedoch,  wie  manche 
andere  Dame,  erst  in  Hitze  komme,  wenn  sie  eben  nur 
Bediente,  hochgeschürzte  Portiers  oder  Leute  von  der 
Strasse,  der  Arena^  der  Bühne  hergenommen,  vor  sich 
sähe'^  Messalina  gab  zu  diesem  Zwecke  Gastrollen  in 
den  römischen  Bordellen,  Faustina  entfernte  sich  von  der 
Hauptstadt  und  „suchte  sich  in  Cajeta  ihre  Liebhaber 
unter  den  Marinesoldaten  und  Gladiatoren  aus^.  Aber 
wenn  Elagabal  nun  auch  Perrücke  und  Kapuze  aufsetzt 
und  auf  seinen  nächtlichen  Escapaden  in  öffentlichen 
Häusern  sich  der  Lust  preisgiebt^  so  kopiert  er  zwar 
scheinbar  „als  Weib^^  jene  liederlichen  Kaiserinnen,  wie 
er  auch  sonst  wohl  nur  den  Kodex  der  Unzucht,  den  ein 
Nero  und  Commodus  aufgestellt  hat^  befolgte,  im  Grunde 
genommen  trennt  ihn  jedoch  eine  Welt  von  jenen  laster- 
haften Männern  und  Frauen.  Die  genannten  beiden 
Kaiser  waren  sexuell  normale  Naturen.    Es  war  nur  die 


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-     249    — 

„envie  de  la  boue^^  wie  der  Franzose  so  treffend  sagt» 
was  sie^  ebenso  wie  eine  Faustina,  zu  den  gröbsten  Aus- 
schweifungen führte.  Schmutz^  „nur  weil  es  Schmutz  war^^ 
ward  in  einer-  Art  Ekel  der  Uebersättigung  von  ihnen 
gesucht.  Bei  Commodus  streift  dieser  Zug  allerdings  an's 
Perverse.  Wie  ward  er  aber  auch  schon  von  seiner 
Mutter  „empfangen^M  Man  lese  diese  scheusslichste  Ge- 
schichte römischen  Hofskandals  beim  Capitolinus^nach ! 
Commodus  war  schon  als  Knabe  „unzüchtig  und  ein 
Fressling".  Die  Entfernung  der  liederlichen  Personen  um 
ihn  herum  half  nichts.  „Er  wurde  dann  aus  Sehnsucht 
nach  ihnen  krankt  Ihm  galt  das  Obscöne  als  solches. 
„Leute,  die  einen  unanständigen,  schändlichen,  von  den 
Geburtsteilen  beider  Geschlechter  hergenommenen  Namen 
führten,  liebte  er  leidenschaftlich  und  küsste  er  mit 
Inbrunst^  Kein  Wunder,  dass  sein  Harem  nachher 
alles  in  sich  schloss,  was  die  Wollust  aktiv  und  passiv 
ermöglichte.  Aber  wenn  darunter  auch  sein  „subactor^ 
Saoterus  sich  befand,  „der  hinter  ihm  auf  seinem  Triumph- 
wagen stand,  und  den  er  bei  eben  dieser  seiner  grossen 
Pompa  oder  auch  im  Theater  ganz  öffentlich  küsste", 
wenn  er  weiterhin  .einen  Menschen  bei  sich  hielt,  der 
stärker  als  ein  Hengst  begabt  war,  den  er  daher  seinen 
„onos*  (E^l)  nannte"  und  später  mit  einem  gewissen 
Humor  „zum  Oberpriester  des  Sylvan^  machte,  so  hat 
man  doch  bei  diesen  und  ähnlichen  Extravaganzen  den 
Eindruck,  als  ob  der  Kaiser  mit  faunischem  Grinsen  über 
ihnen  gestanden.  Wirklich  beherrscht  ward  sein  psy- 
chischer und  physischer  Wille  von  einer  Frau,  und  noch 
dazu  einer  anscheinend  guten  und  edlen  Frau :  der  Christin 
Marcial  Die  Vorliebe  für  die  Kommissluft  jedoch  (mein 
Beispiel  oben  vom  OfHziersburschen!)  zog  ihn  immer 
wieder  zur  Zote  — ,  denn  ein  Anderes  ist  das  alles  bei 
Commodus  nicht  —  zurück.  Die  Gladiatoren  bildeten 
seine  liebste  Gesellschaft,    In  ihrer  Kaserne  verweilte  er 


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—    250    — 

auf  eigensten  Wunsch  die  Nacht  vor  dem  Neujahrsfeste, 
die  letzte  Nacht  seines  Lebens!  Aber  sein  Verkehr  mit 
ihnen  hatte  nichts  Weibisches.  Er  kämpfte  mit  ihnen, 
Mann  gegen  Mann.  Auch  geben  seine  Biographen  alle 
zu,  dass  er  ein  vortrefflicher  Schütze  gewesen.  Und  so 
kann  ich  ebenso  in  Nero's  sexuellen  Parodien  keine  natür- 
liche Perversion  erblicken.  Freilich  nahm  er  den  Pytha- 
goras  zum  Mann  und  hat  nachher  umgekehrt  den  Sporns 
„geheiratet^.  Das  Pikante  indess  bei  diesen  Vor^mgen 
scheint  mir  für  Nero  weniger  in  der  Umkehrung  der 
Natur  als  in  der  herausfordernden  Verhöhnung  ge- 
heiligter Gebräuche  zu  liegen.  Er  liess  sich  beidemale 
förmlich  trauen!  Das  Verhältnis  zu  Sporns  aber  ent- 
behrt sogar  nicht  eines  gewissen  gemütlichen  Interesses. 
Und  das  durchaus  nicht  im  „homosexuellen"  Sinne.  Nero 
hatte  seine  Gemahlin  Sabina  wirklich  geliebt.  Er  bereute 
tief  und  nachhaltig  ihren  durch  ihn  selbst  verschuldeten 
Tod.  Da  ward  ihm  ein  Trost  die  grosse  Aehnlichkeit, 
die  er  mit  der  Verstorbenen  in  dem  schönen  Sporns  ent- 
deckte. Er  liebte  ihn  also  suggestiv,  nicht  als  solchen, 
sondern  als  sein  ehemaliges  Weib.  Eine  gewisse  Zart- 
heit der  Empfindung  waltet  auch  über  dieser  Liaison. 
Sporns  weilt  als  der  Letzte  bei  dem  sterbenden  Cäsar  und 
gab  sich  selbst  später  den  Tod.  Er  sollte  unter  Vitellius 
„als  entführtes  Mädchen  auf  dem  Theater  erscheinen". 
„Er  fühlte  die  Satire"  und  zog  —  ein  seltenes  Beispiel 
von  Ehrgefühl  in  seiner  Lage!  —  ein  freiwilliges  Ende 
der  Schande  vor. 

Was  dagegen  Elagabal  in  die  rauhen  Arme  seiner 
Buhler  trieb,  —  ihn,  den  feinen,  duftenden  Jüngling,  der 
die  persische  Hofetikette  im  Palatium  eingeführt  hatte 
und  sonst  so  peinlich  sich  an  die  ästhetische  Seite  der 
Lebensführung  hielt,  —  was  hier  als  Ungeheuerlichstes 
von  Kontrasten  auftritt,  ist  nicht  durch  Uebermut  oder 
zufällige  Kreuzung  der  Instinkte,  sondern  nur  durch  die 


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—    251    — 

dämonische  Uebergewalt  einer  abnormen  Physis  zu 
verstehen.  Denn  nicht  in  Elagabals  perversen  Un- 
zuchtsakten selbst  liegt  das  Besondere.  Er  hatte,  wie 
leicht  zu  erweisen,  Vorgänger  darin,  und  es  giebt  viel- 
leicht nicht  eine  Obscönität  bei  ihm,  die  nicht  ebenso  bei 
dem  normalen  Commodus  zu  finden.  Ganz  er  selbst  ist 
vielmehr  Elagabal  dort,  wo  seine  Psyche  erwacht  ist,  er 
„seinen  Mann^  gefunden,  als  Weib  hingebend  liebt  und 
den  ersten  und  einzigen  Roman  seines  Lebens  tragisch 
zu  Ende  führt.  Hier  fühle  ich  mich  auch  erst  im  Recht, 
von  dem  wahren  Hermaphroditen  in  ihm  zu  sprechen, 
während  sein  sonstiges  perverses  Wesen,  —  wie  auch 
schon  bei  den  Römern  selbst,  —  eine  andere  Deutung 
übrig  lässt.  Mit  dem  Eintreten  des  „vir^'  in  sein  Dasein 
verlassen  Elagabal,  wie  es  scheint,  auch  seine  übelsten 
Gewohnheiten.  Er  wird  nicht  züchtiger,  aber  doch  sich 
beschränkender,  ruhiger.  Für  die  Familie  sowie  für  die 
Welt  dagegen  hatte  mit  der  Vermählung  der  „Bassiana^ 
(sein  Name!)  mit  dem  schönen  Kutscher  Hierokles  erst 
recht  der  Skandal  seiner  Regierung  begonnen,  obschon, 
was  sie  bisher  gesehen,  ihnen  auch  schon  die  Augen  hätte 
öfihen  können. 

Das  Volk  hatte  seinen  Cäsar  in  einem  lächerlich 
feierlichen  Aufzuge  erblickt,  wie  er  seinem  Gotte 
einen  wirklichen  menschlichen  Phallus  zum  Opfer 
brachte.  Symbolisch,  wie  die  Handlung  war,  mochte  man 
das  Anstössige  daran  schliesslich  übersehen,  wie  auch 
sonstige  grobe  Unzüchtigkeiten  im  Privatleben  des  Kaisers 
in  den  Gewohnheiten  des  Baipriesters  eine  Art  Rückhalt 
fanden.  Freilich  war  es  ein  starkes  Stück,  wenn  Elagabal 
seine  Regierung  in  Rom  damit  begann,  „dass  er  sich 
Ausspäher  hielt,  die  ihm  wohlbeschlagene  Mannspersonen 
aufsuchen  und  in  den  Palast  bringen  mussten,  um  sich 
„visendiB  tractandisve  partibus  libidinum  nefandarum^  zu 
weiden!  Wie  er  selbst  sodann  Umschau  hielt,  indem 
„er  im  PiJatiuin  ein  öffentliches  Bad  anlegte,  dessen  sich 

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—     252     — 

auch  das  Volk  bedienen  durfte,  um  bei  dieser  Gelegen- 
heit sich  Bekanntschaften  mit  seinen  Lieblingstypen,  den 
„onobeli",  (,,Matrosen,  welche  von  der  Natur  vorzüg- 
lich begabt  waren,  und  die  man  überall  aus  der  ganzen 
Stadt  ausfindig  machen  musste")  zu  verschaffen^^!  Um 
endlich  eine  Auswahl  unter  den  Bestbeschlagenen  zu 
treffen  und  Leute  niedrigster  Herkunft,  darunter  einen 
Mauleseltreiber,  einen  Barbier,  einen  Schlosser,  in  Ehren- 
ämtern bei  sich  zu  behalten!!  .  .  Mätressen  und  Günstlings- 
wirtschaft indess,  wozu  dergleichen  von  den  Elömer  n  tole- 
rant gerechnet  wurde,  hatte  man  an  den  Vorgängern  Ela- 
gabals  so  reichlich  erlebt,  dass  auch  diese  „Passion^  am 
Kaiser  nicht  mehr  Wunder  nahm.  Elagabal  war  frei- 
gebig, zeigte  Leutseligkeit  und  Humor  bei  seinen  prunk- 
vollen Festen.  Seine  scherzhaften  Geschenke  bei  solcher 
Gelegenheit,  die  teils  aus  wertvollsten  Dingen  („nur  nicht 
unreinen  Tieren" !)  und  belustigenden  Attrappen  bestanden, 
waren  äusserst  beliebt.  Erst  als  die  „obscoeni  et  infames^^ 
in  seiner  Umgebung  keine  Scheu  in  ihrer  Geldgier  mehr 
kannten  und  als  Beamte  zu  Blutsaugern  des  Volkes 
wurden,  schwand  das  Wohlwollen  der  Menge.  Zumal 
der  Cäsar  selbst  es  in  seinen  Rechten  zu  kürzen  begann, 
die  jährliche  Getreideverteilung  zum  Beispiel  nur  den 
Freudenmädchen  zu  Gute  kommen  Hess  und  überhaupt 
die  Prostituierten  einseitig  bevorzugte.  Einer  der  selt- 
samsten Züge  übrigens  im  Charakterbilde  des  kaiserlichen 
Hermaphroditen!  Ja,  ich  gestehe  offen,  dass  mir  die 
Sympathie  Elagabals  für  die  Frauen  unverständlich  ge- 
blieben wäre,  wenn  ein  erhabenes  Beispiel  mir  nicht  auch 
hier  die  Fährte  gewiesen  hätte:  Platens  Geständnisse! 
Der  Dichter  sagt  von  sich  in  seinem  Tagebuche :  «Ich 
bin  schüchtern  von  Natur,  aber  am  wenigsten  bin  ich  es 
in  ganz  ungemischter  Gesellschaft  von  Weibern.*  „Am 
meisten  gefiel  mir  die  Zartheit  der  Weiber,  aber  ich  sah 
sie  nicht  als  etwas  Auswärtiges,  sondern   als  etwas  auch 


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—    253    — 

meinein  Wesen  Inne wohnendes  an."  In  die  trivial-sinn- 
liche Sphäre  des  nur  pathologisch  verwandten  Elagabal 
übersetzt,  bedeutet  das:  Der  Hermaphrodit  fühlte  sich 
als  Weib  wohl  unter  Weibern!  „Er  badete  vertraulich 
mit  ihnen,  leistete  ihnen  mit  einer  Enthaarungssalbe  Dienste 
und  wendete  sie  dann  am  eigenen  Körper  an!*  ,Er  hielt 
sich/  wie  Cassius  Dio  erzählt,  „einen  ganzen  Harem  von 
unechten  Weibern  im  Palaste,  nicht  als  ob  sie  ein  Be- 
dürfnis für  ihn  gewesen  wären,  sondern  um  von  ihnen 
die  Modifikation  des  Liebesgenusses  für  seine  Liebhaber 
zu  lernen  und  bei  seinen  Schändlichkeiten  eine  ganze 
Schar  von  Gesellschafterinnen  um  sich  her  zu  haben"! 
Dass  daneben  Elagabal  auch  eines  edleren  Mitgefühls  für 
jenen  Schlag  von  Frauen  Tähig  war,  zeigt  sein  Benehmen 
gegenüber  den  Dienerinnen  der  städtischen  Bordelle. 
„E3r  kauft  sie  frei  von  ihren  Herren*  oder  überrascht 
sie,  ohne  sie  zu  benutzen,  mit  Geschenken,  indem  er  sich 
als  den  Cäsar  zu  erkennen  gibt  Ja,  das  Urbild  der 
Cameliendame  taucht  sogar  auf  in  diesem  Kreise.  Ein 
Motiv  von  einer  gewissen  psychologischen  Feinheit:  „Ein 
sehr  bekanntes  und  sehr  schönes  Freudenmädchen*,  be- 
richtet Lampridius,  „soll  Elagabal  freigekauft  und  ihr^ 
ohne  sie  zu  berühren,  als  der  reinsten  Jungfrau  mit  der 
grössten  Achtung  begegnet  sdn^ü  Das  Christentum 
wählte  sich  ja  auch  mit  Vorliebe  seine  Heiligen  unter 
den  Sündigen  und  Beladenen.  Dergleichen  Anschauungs- 
weise lag  vielleicht  damals  in  der  Luft.  Elagabal 
wirkt  mit  dieser  Vorurteilslosigkeit  kaum  mehr  als 
antiker  Charakter.  —  Es  erscheint  nach  dem  Gesagten 
dann  auch  nicht  mehr  überraschend,  dass  dieser  Cäsar 
drei  Gemahlinnen  gehabt  hat  Die  Ehe  der  Römer  wurde 
selten  aus  Liebe  geschlossen.  Die  Hochzeiten  der  Kaiser 
vollends  hatten  etwas  rein  Konventionelles.  Bezeichnend 
hierfür  ist  die  Antwort,  welche  Aelius  Verus  seiner 
Gemahlin  erteilte^  als  diese  sich  über  seine  Untreue  be- 


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—    254    — 

Schwerte.  ,  Verzeihe  es  mir,  wenn  ich  mein  Vergnügen 
anderswo  suche.  Der  Name  einer  Gemahlin  macht  dich 
zum  Gegenstande  der  Verehrung,  nicht  aber  der  wollüstigen 
Zärtlichkeit."  So  mussten  es  sich  denn  auch  eine  Julia 
Paula,  eine  Aquilia  Severa  und  Annia  Faustina  gefallen 
lassen,  kurzer  Hand  von  Elagabal  zur  Augusta  erhoben 
und  wieder  in  den  Privatstand  Verstössen  zu  werden.  Die 
Motive  zu  diesen  Ehen  werden  verschieden  gedeutet.  „Dass 
er  auch  etwas  Männliches  thun  könne'',  wollte  Elagabal 
nach  Herodian  dabei  zeigen.  Verwandtschaftliche  Be- 
ziehungen mit  der  Familie  Mark  Aureis  gaben  als  Ur- 
sache der  Kaiserinnenwahl  Andere  an.  Die  für  die  Römer 
skandalöseste  Erklärung  für  seine  Vermählung  war  indess 
diejenige,  die  der  Kaiser  selbst  in  Angelegenheiten  der 
Aquilia  erteilte.  Diese  hatte  er,  in  Missachtung  heiligsten 
Gesetzes,  als  Priesterin  der  Vesta  ihrem  Tempel  entführt! 
Seine  synkretistischen  Ideen  halfen  ihm  hinweg  über  jedes 
Bedenken.  Kurz  vorher  hatte  er  in  Kom  seinen  Gott 
El  Gabal  mit  der  herbeigeholten  Astarte  von  Karthago 
vermählt.  Nun  folgte  er  dem  göttlichen  Beispiele.  ,Jch 
entschloss  mich  zu  dieser  Ehe'',  schreibt  er  an  den  Senat, 
„um  aus  ihr  Kinder  zu  sehen,  die  eine  Art  von  Gottheit 
mit  zur  Welt  brächten,  wenn  sie  einen  Erzpriester  zum 
Vater  und  eine  Vestalin  zur  Mutter  hätten."  Uebrigens 
„kehrte  er  zu  seiner  Severa,"  nachdem  er  auch  sie  von 
sich  entfernt  hatte,  „wieder  zurück".  Das  nonnenhaft 
Strenge  der  priesterlichen  Dame  mochte  ihm  bei  diesem 
geschwisterlichen  Verhältnisse  noch  am  sympathischesten 
sein.  „Augusta"  aber  war  und  blieb  im  Grunde  nur 
Elagabal  selbst,  „erwählte  sich  einen  Gatten,  liess  sich  Weib, 
Geliebte  nennen,  setzte  sich  an  den  Spinnrocken,  trug 
eine  netzförmige  Haube  und  schminkte  die  Augen  (ein 
Anderer  sagt:  „verunstaltete  sein  von  Natur  aus  schönes 
Gesicht")  mit  Bleiweis  und  Karmin.  Ein  einzigesmal  liess 
er  sich  den  Bart  auf  die  |j  gewöhnliche  Art  abnehmen  und 


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—    255    — 

gab  deshalb  ein  grosses  Fest.  Dann  aber  Hess  er  sich 
die  Haare  ausrupfen^  um  auch  hierin  das  Weib  zu  machen, 
wie  er  denn  auch  oft  Senatoren  in  weiblichem  Neglige 
im  Bett  empfing.^  (Dio  Cassius.) 

Der  Koman,  den  hierauf  eben  derselbe  Schriftsteller 
erzählt,  der  seltsamste,  der  uns  aus  dem  Altertum  über- 
kommen, findet  sich  an  einer  Stelle,  die  dem  Leser 
den  Eindruck  giebt,  als  habe  Dio  damit  den  Höhepunkt 
von  Elagabals  perversem  Liebesleben  bezeichnen  wollen. 
Was  vorhergeht,  ist  anderen  Genres.  So  die  widerwärtige 
Scene,  wo  Elagabal,  „nachdem  er  im  Palatium  selbst  ein 
eigenes  Zimmer  zu  seiner  Geilheit  Befiiedigung  einge- 
richtet hatte^'  (Messalina,  Lucius  Verus  waren  Vorbilder 
darin!),  „wie  eine  Hetäre,  nackt,  in  die  Thüre  trat,  den  in 
goldenen  Bingen  hängenden  Vorhang  vor  derselben  auf- 
und  zuzog  und  mit  schmachtender,  gebrochener  Stimme 
die  Vorübergehenden  lockte,  bei  ihm  einzukehren.  Dass 
immer  Einige  vorbeigehen  mussten,  war  schon  vorher  auf 
seinen  Befehl  veranstaltet^.  .  .  .  „Dafür  mussten  sie  ihm 
aber  auch  zahlen,  und  über  keinen  Gewinn  brüstete  er 
sich  mehr  als  über  diesen,  zankte  sich  sogar  mit  anderen 
Wollüstlingen:  „Seht^  ich  habe  der  Liebhaber  weit  mehr 
als  ihrl"  Der  letztere  Zug  ist  in  tieferem  Sinne  charak- 
teristisch. Er  zeigt  nicht  nur,  dass  Elagabal  seine  Rolle 
consequent  durchspielte,  er  giebt  auch  zu  verstehen,  dass 
der  Hermaphrodit  sich  —  nach  Gegenliebe  sehnte  und, 
wenn  auch  nur  erkauft^  dieses  Glück  sich  zu  verschaffen 
suchte.  Ich  glaube  daher  überhaupt  nicht,  dass  die  Venus 
aversa  Sache  von  Elagabals  Geschmack  gewesen  sei. 
Aber  er  war  mit  weiblicher  Psyche  doch  körperlich  eben 
Mann.  Er  konnte  seinen  Erwählten  keinen  anderen  Ge- 
nuss  als  die  unnatürliche  Unzucht  bieten.  Eine  ästhetische 
Natur  aber,  wie  er  im  Grunde  war,  hätte  er  am  liebsten 
als  wirkliches  Weib  seine  Liebhaber  umfangen.  Mit  aller 
nur   wünschenswerten  £llarheit   sagt  das  Dio:   „Er  trieb 


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—     256     - 

endlich  seine  Geilheit  so  weit^  dass  er  den  Aerzten  grosse 
Summen  bot^  wenn  ihr  anatomisches  Messer  ihn  auch  zum 
weiblichen  Genuss  der  Liebe  empfänglich  machtet'^ 

Der  Wunsch  war  unerfüllbar.  Einmal  in  seinem 
Leben  jedoch  glaubte  Elagabal  nicht  nur  einseitig  in 
Liebe  zu  brennen,  sondern  wie  ein  Weib  dem  Manne  zu 
genügen.  Jenes  milesische  Märchen,  welches  uns  Dio  er- 
zählt: „Und  dieser  Dame  Gemahl  war  Hierokles,  ein 
Sklave,  aus  Karien  gebürtig,  ehemals  Liebling  des  (be- 
rühmten Wettfahrers)  Gordius,  von  dem  er  auch  die 
Kunst  des  Wettfahrens  gelernt,  durch  welche  er  sich 
auf  eine  ganz  sonderbare  Art  bei  Elagabal  in  Gunst 
gesetzt  hatte.  Bei  einem  Wettrennen  stürzte  er  gerade 
vor  des  Kaisers  Sessel  vom  Wagen  und  verlor  im  Fallen 
den  helmf  örmigen  Hut  Unverhüllt  stand  der  Jüngling 
mit  glattem  Kinn  und  blondem  Haare  da,  und  sogleich 
wurde  er  zu  dem  Palast  mehr  hingerissen  als  hingeführt 
Hier  legte  er  bei  Nacht  noch  mehr  Ehre  ein  als  bei 
Tage,  und  Elagabal  erhob  ihn  zu  so  hohen  Ehren,  dass 
er  weit  mehr  als  er  selbst  vermochte  und  dass  man  bei 
dieser  Macht  des  Sohnes  es  für  eine  Kleinigkeit  hielt,  dass 
die  Mutter  desselben,  damals  noch  immer  Sklavin,  von 
den  Soldaten  nach  Koro  gebracht  und  den  Gemahlinnen 
der  Konsularen  an  Bang  gleich  gesetzt  werde."  Ein 
Zeichen  gemütvoller  Pietät,  wodurch  Elagabal  sich  der 
Liebe  seines  „vir^  noch  mehr  versichern  wollte;  der 
Zug  des  guten  Weibes,  das  im  geliebten  Gegenstande 
auch  dessen  Verwandte  ehrt!  „Dame  Elagabal^  wandte 
aber  auch  weniger  edle  Mittel  an,  ihren  „Gatten^^  an  sich 
zu  fesseln.  Sie  reizte  ihn  zu  zorniger  Eifersucht  „Sie 
wollte  gern  auch  als  Ehebrecherin  gelten  und  liess  sich 
gutwillig  auf  frischer  That  ertappen,  wenn  sie  auch  den 
gröbsten  Schimpfworten  des  beleidigten  Mannes  sich  aus- 
setzte oder  wohl  gar  blaue  Striemen  als  Beweise  seiner 
schweren   Hand  auf  ihre  Wangen  erhielt     Aber  wenn 


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—    257    — 

ältere  Liebe  doch  immer  nur  oberflächlich  gewesen  war^ 
80  war  hingegen  die  Liebe  zu  dem  jetzigen  Eheherm  mit 
80  haltenden  Farben  im  Herzen  aufgetragen^  da88  das 
zärtliche  Weibchen  über  eine  thätliche  Behandlung  sich 
nichts  weniger  als  beleidigt^  vielmehr  zu  desto  innigerer 
Liebe  gestärkt  fand.^  Die  Proben^  auf  welche  Elagabal 
dön  Hierökles  zuweilen  stellte,  waren  allerdings  hart.  Am 
gefährlichsten  war  die  Bivalität  des  ^urelius  Zoticus  aus 
Smjma,  von  seines  Vaters  Kunst  auch  deriKoch  genannt* 
„Dieser  Mann  war  am  ganzen  Körper  vortrefflich  zum 
Athleten  gebaut  und  vorzüglich  von  der  Natur  an  einem 
gewissen  Teile  dotiert  (noXv  di  rftj  ndvrag  %ff  t&v  aidoCoav 
lisyi^ei  vnBQaCQwv)y  weshalb  er  auch,  vOn  den  Aufspürem 
solcher  Talente  dem  Kaiser  gepriesen,  sogleich  vom 
Kampfplatz  hinweggerissen  und  in  einem  so  zahlreichen 
Aufzuge  nach  Bom  gebracht  ward,  als  weder  Augarus 
unter  Sever's,  noch  Tiridat  unter  Nero's  Begierung  bei 
sich  gehabt  hatten.  Noch  ehe  ihn  der  Kaiser  sah,  machte 
er  ihn  zu  seinem  Kammerherm,  beehrte  ihn  mit  seines 
Grossvaters  Avitus  Namen,  liess  ihn  festlich  mit  Kränzen 
schmücken,  und  so  hielt  der  Mann  seinen  Einzug  in  den 
mit  unzähligen  Lampen  erleuchteten  Palast.  Sobald  ihn 
der  Kaiser  sah,  sprang  er  in  tanzendem  Takte  auf. 
Zoticus  begrüsste  ihn,  wie  sich's  gebührte,  als  Monarchen 
und  Kaiser,  aber  jener  verdrehte  mit  weiblicher  Ziererei 
Nacken  und  schmachtende  Augen  und  konnte  nicht  genug 
eilen,  ihm  zu  befehlen:  «Nenne  mich  doch  nicht  Gebieter. 
Gebieterin  bin  ich!*  Dann  gingen  beide  sogleich  ins 
Bad,  und  weil  der  Kaiser  bei  der  Entkleidung  den  Mann^ 
seiner  Erwartung  völlig  entsprechend  fand,  ward  die 
Brunst  noch  heftiger.  Wie  eine  Geliebte  lehnte  er  sich 
an  des  Lieblings  Brust  und  nahm  in  seinen  Armen  liegend 
die  Abendtafel  ein.  Weil  aber  Hierökles  befürchtete, 
Zoticus  möchte  den  Kaiser  noch  näher  ah  sich  fesseln 
als  er  selbst,  und  ihn,  wie  dies  gewöhnlich  der  Fall  bei 

Jalutraeh  m.  17 

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—     258    — 

Nebenbuhlern^  unglücklich  zw  machen  bedacht  sein 
so  liess  er  ihm  durch  die  Mundschenken^  seine  Freunde, 
einen  entnervenden  Trank  beibringen.  Dieser  Ihat  seine 
Wirkung.  «Zoticus  blieb  die  ganze  Nacht  hindurch  zum 
Geschäft  der  Liebe  unvermögend,  verlor  alle  bisher  ge- 
nossenen Vorteilei  ward  aus  dem  Palast,  dann  aus  Kom, 
und  endlich  aus  ganz  Italien  fortgejagt  und  —  rettete 
dadurch  sein  Leben  für  die  Zukunft^^  Elagabal  aber 
kehrte  reuig  zu  seinem  Eheherm  zurück,  „war  ent- 
schlossen, ihn  in  der  That  zum  Cäsar  zu  ernennen,  drohte 
der  Grossmutter,  die  dies  hindern  wollte,  mit  völliger 
Ungnade,  verscherzte  seinetwegen  die  Gunst  der  Soldaten 
und  bahnte  sich  selbst  den  Weg  zu  dem  künftigen  trau- 
rigen Ende." 

Der  Konflikt  mit  der  Mäsa  war  in  der  That  das 
Entscheidende  im  Leben  des  Kaisers.  Die  ehrgeizige 
Frau  hatte  bis  dahin  keinen  Grund  zur  Unzufriedenheit 
mit  ihrem  Enkel  gehabt.  Elagabal  führte  sie  sowie  seine 
Mutter  gleich  zur  ersten  Senatsversammlung  in  Bom  ein. 
Die  Fürstinnen  nahmen  Platz  neben  den  Konsuln,  sie 
unterschrieben  (ein  unerhörter  Greuel  für  den  Altrömer !) 
die  Senatsedikte!  Nichts  fanden  die  „Väter"  so  gesetz- 
widrig als  eben  diesen  Weibersenat!  Er  gab  dann  später 
ebenso  willig  nach,  als  Mäsa  ihm  unter  dem  Verwände, 
dass  „menschliche  Angelegenheiten  für  ihn,  den  Priester, 
nicht  passten",  alle  Regierungssorgen  abnahm,  ihn  den 
Vetter  zum  Cäsar  adoptieren  und  diesen  fern  vom  Palaste 
Elagabals  in  „männlich  römischer  Art^  erziehen  liess.  Sie 
hatte  dann  freilich  auch  mit  ihrer  Autorität  die  Unschick- 
lichkeiten des  Enkels  stets  wieder  gut  zu  machen  gesucht. 
Nun  aber  stand  sie  dem  gefährlichen  festen  Willen  des, 
wie  sie  meinte.  Wahnsinnigen  gegenüber.  Er  musste 
fort  Nicht  der  Hass  der  Soldaten  (sie  waren  wieder 
nur  bezahlt  und  bestochen)  sondern  die  Litriguen  der 
Grossmutter  haben  Elagabal  vom  Throne  gefegt    Denn 


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—    259    — 

während  der  Kaiser  mit  seiaem  EGierokles  im  Stadium 
des  Palatin-^Circus*'  oder  in  dem  kleinen,  jetzt  wieder 
gefundenen  Theater  seines,  des  severianischen,  Palastes^ 
,,Pantomime  spielte",  —  was  für  Gesichter  mochten  da 
die  eingeladenen  Generäle,  Konsularen  und  Damen  machen^ 
wenn  „er  das  Urteil  des  Paris  aufführte,  wo  er  als  Venus 
deren  Bolle  er  gab,  auf  einmal  seine  ganze  Kleidung 
fallen  Hess,  ganz  nackend  dastand,  mit  einer  Hand  die 
freie  Brust,  mit  der  anderen  die  Scham  bedeckte,  darauf 
sich  niederkniete  und  die  posteriora  seinem  subactor  zu- 
wendete"!! —  (Man  denke  übrigens  an  den  „lUoneus**, 
der  sich  dem  Auge  in  gerade  der  Stellung  in  der  Glyp- 
tothek zu  München  und  im  Goethehaus  zu  Weimar 
bietet,  und  man  wird  auch  hier  noch  den  Elagabal  in 
semer  Eitelkeit  begreiflich  finden.)  —  Während  Ela- 
gabal solche  „verliebte  Possen"  trieb,  schärfte  Mäsa  das 
Schwert  der  Prätorianer,  das  diesem  Treiben  em  Ende 
machen  sollte.  Sie  Hess  ein  Gerücht  ausstreuen,  als 
ob  der  Kaiser  seinem  Vetter  nach  dem  Leben  trach- 
tete. WirkHch  kam  auch  Elagabal  auf  den  Gedanken, 
sobald  er  sich  dem  fertigen  Komplott  gegenübersah. 
Oder  er  that  vielmehr  so;  »er  wollte  hören,  was  die 
Soldaten  dazu  sagten.''  Als  diese  ihm  jedoch  den  Wacht- 
dienst  verweigerten  und  sich  in  die  Kaserne  einschlössen, 
merkte  er  den  Ernst.  Noch  immer  auf  den  Eindruck 
seiner  bezwingenden  Persönlichkeit  rechnend,  fährt  er 
mit  dem  „Cäsar*  selbst  ins  Lager.  Die  Soldaten  be- 
ruhigen sich  bei  diesem  Anblicke,  machen  ihm  jedoch 
bezüglich  seiner  Umgebung  herbste  Vorwürfe.  Sie  ver- 
langen die  Entfernung  des  ,Hierokles  und  anderer  un- 
züchtiger Menschen,  die  mit  ihm  schändlichen  Htmdel 
trieben.*  (Allerdings  hatte  sich  der  maritus  domini  durch 
Klatsch,  durch  insolente  Stellenerteilung  und  -Verweigerung 
viel  zu  schulden  kommen  lassen).  Aber  gerade  diese 
Forderung  triflft  Elagabal   am  empfindlichsten.    Er   ver- 

17* 


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—    260    — 

spricht  Besserung,  um  stets  nur  auf  die  Bitte,  ihm  den 
Hierokles  wiederzugeben,  zurückzukommen.  „Er  flehte 
im  kläglichsten  Tone,  weinte  die  lautersten  Thränen.* 
„Nur  den  lasset  mir,  was  ihr  auch  Arges  von  ihm 
denken  möget,  oder  tötet  mich  lieber!*  Endlich  erzwang 
er,  was  man  ihm  verweigerte,  zog  sich  von  der  Oeflent- 
lichkeit  zurück  und  beschloss  des  Alexander,  seines 
Gegners,  Mord.  „Da  er  jedoch  von  Natur  unbedachtsam 
war  und  alles,  was  er  vorhatte,  offen  sagte  und  that% 
kam  man  ihm  mit  dem  Aufstande  zuvor.  Zum  letzten- 
male  zeigt  er  sich  unter  den  Soldaten  und  verlangt  die 
Bestrafung  der  Meuterer.  ,J)iese,  in  Erwägung  ihrer  be- 
reits gethanen  Schritte,  töteten  zuerst  des  Elagabal  Ge- 
folge, welches  man  für  die  Beförderer  seiner  Uebelthaten 
hielt  Und  zwar  auf  mancherlei  Art^  indem  sie  einigen 
die  Eingeweide  aus  dem  Leibe  rissen,  andere  ima  parte 
an  Pfähle  spiessten,  damit  ihr  Tod  ihrem  Leben  ähnlich 
sein  möchte !"  (Als  ob  Elagabal  der  aktive  Teil  bei  seiner 
Unzucht  gewesen  wäre!)  JSierauf  fielen  sie  über  ihn 
selbst  her,  zerrten  ihn  aus  dem  Kasten,  in  den  man  ihn 
zu  seiner  Sicherheit  geworfen  hatte,  und  stachen  ihn  zu- 
gleich mit  seiner  Mutter  nieder,  die  ihn  fest  umschlungen 
hielt.^  Die  Natur,  die  über  den  Tod  hinaus  die  Allmacht 
bewährte!  „Beiden  hieb  man  die  Köpfe  ab,  entkleidete 
ihre  Leichname  und  schleifte  sie  anfangs  in  der  Stadt 
umher.  Dann  warf  man  den  des  Sohnes  in  die  Kloake 
und,  da  von  ungefähr  die  zu  enge  Oeffnung  ihn  nicht 
durchliess,  in  den  Tiber,  nachdem  man  vorher  die  Leiche 
mit  einem  Steine  beschwert  hatte,  damit  sie  nie  wieder 
heraufkommen  und  begraben  werden  könnte/^  Der  Senat 
aber  brandmarkte  in  seinem  Hasse  den  Kaiser  nach  dem 
Tode  noch  mit  den  Beinamen  „Tiberinus^^,  der  „am  Hacken 
Geschleifte^,  der  „Unreinste^M  Die  Prätorianer  sandten 
ihm  einen  weniger   pathetischen,   aber   um   so    derberen 


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Soldaten witz   nach:    Sie    verglichen  ihn   mit  einer   „von 
unbändigex  und  rasender  Geilheit  befallenen  Hündin^'I 

Das  letzte  Urteil^  so  roh  es  erscheint^  ist  gerechter 
als  der  moralische  Entrüstungsschrei  der  gebildeten  Ge- 
sellschaft. Der  gemeine  Mann  beherrscht  sachlicher  sei- 
nen Horizont  Er  steht  näher  der  Mutter  Erde  und 
ihrem  übermächtigen  Walten.  Ja,  selbst  Elagabals  Nach- 
folger auf  dem  Throne,  Kaiser  Alexander  Severus,  welcher 
bei  gleichem  Blute  zum  strikten  Gegensatze  seines  Vet- 
ters erzogen  war,  scheint  die  Naturmacht  in  dem  Cha- 
rakter seines  Gegners  nicht  verkannt  zu  haben.  Er  spricht 
(und  auch  wohl  zuerst?)  von  Elagabals  Kreise  als  dem 
„tertium  genus  hominum^,  das  er  zwar  nicht  vertilgen 
konnte,  aber  doch  so  weit  wie  möglich  von  sich  entfernte. 
„Das  dritte  Geschlecht^M  Hätte  ich  nicht  aus  meinen  Studien, 
den  früheren  wie  den  heute  vorliegenden,  die  Ueber- 
zeugung  gewonnen,  dass  es  in  der  That  ein  solches,  d.  h. 
Männer  mit  weiblicher  Psyche  und  Weiber  mit  männ- 
lichem Instinkte,  giebt,  mir  wäre  kaum  der  Atem  bei 
der  Wanderung  durch  die  wüste  Orgie  des  Lebens  Ela- 
gabals verblieben.  Damit  fällt  aber  ein  grösster  Teil 
von  des  Letzteren  „Schuld^'  auf  seine  abnorme  physische 
und  psychische  Organisation  zurück.  Der  tiefste  Kenner 
menschlichen  Wesens,  dessen  klares,  vorurteilsloses  Auge 
gerade  auch  in  diese  Abgründe  perverser  Naturanlage 
geblickt,  Aristoteles,  bestätigt  mir  es  mit  seinen  Worten. 
Er  spricht  im  7.  Buche  der  Nikomachischen  Ethik  (dem 
grossen  Kapitel  von  der  menschlichen  Verantwortlichkeit) 
von  den  sogenannten  „Bestialitäten *'.  Er  versteht  darunter 
unnatürliche  Begierden,  „die  es  teils  durch  Krankhaftig- 
keit des  Organismus,  teils  durch  Gewohnheiten,  teils 
durch  perverse  Naturanlagen^^  sind.  „Auch  die  Lust 
an  männlicher  Unzucht  gehört  hierher,  denn  sie  ist  teils 
Folge  angeborener  Natumeigung,  teils  entspringt  sie 
aus   Gewöhnung,  wie  z.  B.  bei  solchen  Individuen,  die 


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—    262    — 

von  ihrem  Knabenalter  an  zu  unnatürlicher  Wollust 
missbraucht  wurden."  ,J)iejenigen  nun,  bei  welchen 
solche  Neigungen  natürliche  Anlage  sind,  die  kann  Nie- 
mand ausschweifend  nennen,  so  wenig  wie  man  die 
Weiber  darum  schelten  kann,  dass  sie  nicht  aktiv,  sondern 
passiv  sich  dem  Mann  gegenüber  verhalten;  und  ebenso 
ist  es  mit  denen,  welche  durch  Gewöhnung  mit  krank- 
haften Gelüsten  behaftet  sind.  Solche  Neigungen  an  sich 
zu  haben,  fällt  ausserhalb  der  Bestimmungen  der  sitt- 
lichen Schlechtigkeit!^  .  . 

Dass  Elagabal  auch  in  diese  Kategorie  abnormer 
Wesen  zu  rechnen  sei,  ist  evident.  Er  war  kein  eigent- 
licher Zwitter  („durch  Krankhafligkeit  des  Organismus^. 
Bei  vollkommen  männlicher  Körperbildung  waren  es 
„Gewohnheit  und  angebome  Natumeigung^,  die  ihn  zum 
pathicus  machten  —  wobei  es  dem  Erläuterer  seiner 
Seelenzustände  überlassen  bleibt^  ob  er  mehr  aus  ersterem 
oder  letzterem  Grunde  seine  Perversität  herleiten  will. 
Denn  wenn  ich  z.  B.,  an  Herodians  Worte  von  Elagabals 
Hierurgie  anknüpfend,  auch  seine  Unzucht  nur  die  „Kehr- 
seite der  Medaille"  genannt^  so  vergegenwärtigte  ich  mir 
das  eigentümliche  Gewissen  der  Diener  und  Dienerinnen 
des  Bai,  welche,  indem  sie  sich,  nicht  nur  im  Tempel- 
bezirk, der  Sinnenlust  für  Geldlohn  preisgaben,  eben  damit 
eine  religiöse  Pflicht  zu  erfüllen  glaubten.  (Elagabals 
Privatbordell  im  Palatium!)  Ja,  die  Erscheinung  des 
Priesterkönigs  Heliogabalus  selbst^  den  Dio  Cassius  auch 
consequent  „unseren  Sardanapalos"  nennt,  könnte  als 
„die  praktisch  gewordene  Mythe  von  dem  Löwen  bändi- 
genden und  bei  Omphale  Wolle  spinnenden  Herkules", 
(als  welcher  Sardanapal  in  der  hellenischen  Sage  wieder 
auftaucht),  aufgefasst  werden.  Aber  der  tiefsinnige  Mythus, 
der  die  schroffen  Gegensätze  im  Naturleben  mit  den 
ebenso  „unversöhnten  Kontrasten  von  schlaffer  Hingebung 
und    übermenschlicher    Anstrengung^^  in  jenen  Helden- 


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—    263    — 

gestalten  bezeichnet,  findet  bei  Elagabal  doch  nur  nach 
der  einen  Kichtung  hin  seine  Anwendung.  Im  übrigen 
war  es^  abgesehen  von  seiner  Katuranlage^  die  „vis  fatalis^ 
wie  Kaiser  Konstantin  so  treffend  „das  Schicksal^  das  die 
Regenten  auf  den  Thron  ruft^,  nennt^  welche  Elagabals 
«insania*  zur  höchsten  Spitze  trieb.  Und  hier  möchte 
ich  noch  einer  eigentümlichen  Bomphantasie  über  diesen 
Kaiser  gedenken,  die  sich  mir  ergab,  als  ich  einige  der 
ungeheuerlichsten  Stellen  bei  Lampridius  in  nähere  Ver- 
bindung zu  bringen  suchte. 

Elagabal,  weibisch  wie  er  war,  hat  keine  monumen- 
talen Bauten,  wie  die  männlicheren  Kaiser^  hinterlassen. 
Dafür  plante  er  jedoch  ein  Kolossaldenkmal  seines 
Grottes,  dessen  AusftÜirung  unterblieb,  weil  man  vor 
seinem  Tode  den  Biesenblock  dafür  in  den  ägyptischen 
Steinbrüchen  nicht  fand.  Ein  gigantischer  Phallus  als 
Wahrzeichen  Roms  auf  dem  Palatine!  Und  die  Stadt 
selbst  dann  in  ihrer  Einteilung,  mit  ihren  Bewohnern, 
ganz  dem  Dienste  dieses  AUeingottes  unterstellt!  „Bordell- 
wirte übernehmen  die  Stadtpritfektur  und  stehen  an  der 
Spitze  der  vierzehn  Quartiere.^  Die  Freudenmädchen  und 
Lustknaben  werden  zu  Gemeinden  organisiert^  und  indem 
Elagabal  in  der  That  „sie  von  allen  Orten  in  ein  Staats- 
gebäude einmal  hatte  bringen  lassen,  hielt  er  daselbst 
eine  Rede  an  sie,  so  wie  ein  Feldherr  an  seine  Sol- 
daten, und  nannte  sie  Kameraden  und  Mitstreiterinnen^. 
„Bei  ihrer  Entlassung  gab  der  Kaiser  ihnen,  nicht  anders 
als  Soldaten,  drei  Goldstücke  mit  der  Aufforderung 
zu  einem  Gebete^^  „Sie  möchten  die  Götter  bitten,  dass 
sie  ihn  noch  mehrere  ihresgleichen  finden  liessen!^ 
Rom  als  das  Priesterkönigreich  der  unkeuschen  Liebe! 
Und  daneben  die  andere  Vision,  nicht  minder  ein 
Greuel  für  den  staatstreuen  Römer.  Ein  Galgen, 
ein  Kreuz  über  der  ewigen  Stadt  thronend!  Die  Quar- 
tiere Roms  in  Kirchsprengel  umgewandelt !   Die  Priester 


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—    264    — 

auch  die  Vorsteher  der  Parochien!  Das  Heer  des 
Staates  in  die  ^treiter  Christi**  verkehrt!  .  Kar 
meraden  alle  ontereinander!  Eio  einziger  Feldherr  I  Ein 
einziges  Koinmando]i¥ort^  das  sie  leitet!  Das  Priester- 
königtom  der  reinen  Liebe!  Ungeduldig  klopfte  diese 
Bomanschauung  unter  Elagabal  an  die  Katakomben- 
ifände .  und  —  hat  jaioh  verwirklicht.  Aber  was  ist  es 
doch  für  eine  seltsame  Empfindung,  wenn  ich  die  Kuppel 
des  Petersdoms  von  ferne  aufsteigen  sehe  und  dabei  an 
das  palatinische  Balsymbol  denke? 


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Oscar  Wilde. 

^  Ein  Beriebt  von  Dp.  jur.  Numa  Prätorius. 


■||Am  1.  Dezember  1900  starb  in  Paris  im  Alter  von 
44  Jahren  der  bekannte  englische  homosexuelle  Schrift- 
steller Oscar  Wilde,  dessen  Prozess  im  Jahre  1895  grosses 
Aufsehen  in  ganz  Europa  erregt  hatte. 

Oskar  Flakertie  Wills  Wilde  war  1856  geboren  in 
Dublin  als  Sohn  eines  Arztes  und  Schriftstellers.  Schon 
in  Oxford  zeigte  er  bedeutendes  Talent  und  erhielt  sämt- 
liche Preise  für  Dichtung  und  Litteratur.  Bald  darauf, 
erst  21  Jahre  alt,  machte  er  sich  durch  die  Veröffent- 
lichung eines  Bandes  von  Gedichten  bekannt  Sein  Dichter- 
talent und  sein  persönlicher  Einfluss  innerhalb  der  aristo- 
kratischen Gesellschaft  stellten  ihn  früh  an  die  Spitze 
der  ästhetischen  Bewegung,  welche  als  Hauptprinzip  den 
Grundsatz  „Part  pour  Part*  auf  ihre  Fahne  schrieb. 
WQde  gab  nach  und  nach  heraus:  «Der  Römer,"  „Das 
Portrait  von  Dorian  Gray,*  einen  Band  Gedichte  in  Prosa, 
ein  Poem:  „die  Sphinx,*  einen  Band  Novellen;  dann  folgten 
seine  Theaterstücke:  »Der  Fächer  von  Lady  Windermere,* 
«Eine  Frau  ohne  Bedeutung,*  „Der  ideale  Gatte*  und 
ein  auch  deutsch  und  französisch  veröffentlichter  Ein- 
akter „Salome*  und  andere,  welche  alle  den  grössten 
Erfolg  errangen  und  seinen  Ruf  als  Schriftsteller  über 
England  und  Amerika^  sowie  über  ganz  Europa  ver^ 
breiteten. 


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Nach  einer  Orginalphotographic  v.  Alfred  EIUb  <fc  Walery,  London,  W. 

Oscar  Wilde. 


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—    267    — 

Eine  Zeitlang  war  er  einer  der  am  meisten  geschätzten 
und  verhätschelten  Dichter  Englands,  gleich  beliebt  beim 
grossen  Publikum  und  bei  der  geistigen  Elite.  Die  Aristo- 
kratie und  die  reichen  Citymänner  Londons  empfanden 
es  als  hohe  Gunst,  wenn  der  berühmte  Dichter  und  ele- 
gante Weltmann  ihre  Feste  mit  seinem  Erscheinen  beehrte. 
Vom  Zenith  seines  Ruhmes  wurde  er  im  Jahre  1895  jäh- 
lings herabgestürzt.  Wilde  machte  im  Jahre  1891  die 
Bekanntschaft  des  damals  ungefähr  20jährigen  Lord  Doug- 
las; beide  wurden  bald  intim  befreundet  Der  Vater  von 
Douglas,  der  Sprössling  eines  der  ältesten  mit  der  eng- 
lischen Geschichte  aufs  Engste  verwachsenen  Adels- 
geschlechter von  Schottland,  Marquis  of  Queensberry, 
beschuldigte  Wilde,  seinen  Sohn  zu  gleichgeschlechtlichem 
Verkehr  verführt  zu  haben,  und  schrieb  ihm  eine  offene 
Visitenkarte  mit  Schmähungen,  die  er  ihm  durch  den 
Portier  des  Albemarle-Klubs  übergeben  liess.  Wilde  er- 
hob Beleidigungsklage  gegen  Lord  Queensberry.  Letzterer 
trat  jedoch  den  Wahrheitsbeweis  über  die  Sitten  Wildes 
an.  Die  Folge  war  Wilde's  Verhaftung  und  Verfolgung 
wegen  Sittlichkeitsverbrechen.  Douglas  entfloh  auf  den 
Kontinent. 

Wilde  war  in  Gemeinschaft  mit  einem  Mitschuldigen 
der  gewohnheitsmässigen  Verführung  von  Minderjährigen 
zur  Unzucht  sowie  unzüchtiger  Akte  mit  Jünglingen  an- 
geklagt. Im  Laufe  des  Prozesses  wurde  der  erste  Punkt 
fallen  gelassen  und  nur  der  zweite  aufrecht  erhalten. 

Da  ein  erstes  Geschwomengericht  sich  über  die  Schuld- 
frage nicht  einigen  konnte,  musste  Wilde  vor  ein  zweites 
gestellt  werden.  Dieses  erklärte  ihn  der  Vornahme  un- 
züchtiger Akte  mit  Männern  für  schuldig,  worauf  er  vom 
Richter  zum  Maximum  der  zulässigen  Strafe,  2  Jahren 
Zwangsarbeit^  verurteilt  wurde.  Wäre  statt  blosser  un- 
züchtiger Berührungen  vollendete  oder  nur  versuchte 
wirkliche  Paederastie  angenommen  worden,  so  hätte  das 


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—    268    — 

barbarische  mittelalterliche  Gesetz  lebenslängliche  und 
auch  beim  blossen  Versuch  Zwangsarbeit  bis  zu  10  Jahren 
gestattet 

^Die  Frage  der  Homosexualität  wurde  seltsamer- 
webe in  dem  Prozess  gar  nicht  berührt^  es  schien,  als  ob 
eine  solche  Frage  gar  nicht  existiere.  Besonders  auffällig 
und  fttr  deutsche  Begriffe  geradezu  unbegreiflich  war  die 
Rolle  der  Behörde  gegenüber  den  als  Zeugen  geladenen 
männlichen  Prostituierten  und  Erpressern.  Dies  waren 
die  Hauptzeugen  gegen  Wilde;  obgleich  sie  zugestehen 
mussten,  von  der  Prostitution  zu  leben,  und  der  Erpressung 
überführt  wurden,  dachte  Niemand  daran,  sie  zu  ver- 
folgen, sie  verliessen  unbehelligt  den  Gerichtssaal  und 
der  bisher  unbescholtene  berühmte  Dichter,  der  über- 
legene Geist,  auf  den  England  stolz  sein  durfte,  musste 
der  beleidigten  Moral  zum  Opfer  fallen. 

Ein  allgemeiner  und  gewaltiger  Sturm  der  Ent- 
rüstung erhob  sich  über  den  „Fall  Wilde*;  die  öffent- 
liche Meinung  geisselte  ihn  als  den  verworfensten 
Menschen  und  grössten  Verbrecher.  Es  schien,  als  sei 
etwas  Unerhörtes,  nie  Dagewesenes  geschehen.  Man  be- 
gnügte sich  aber  nicht^  nur  den  Menschen  Wilde  zu  be- 
kämpfen, man  wollte  auch  den  Schriftsteller  ausrotten. 
Die  Theaterdirektoren  beseitigten  seinen  Namen  aus  den 
Theatern,  die  Bibliotheken  entfernten  seine  Bücher,  Schau- 
spielerinnen strichen  die  Rollen  seiner  Stücke  aus  ihrem 
Spielplan. 

Im  Grunde  galt  der  Prozess  nicht  bloss  den  Hand- 
lungen, die  Wilde  begangen  haben  sollte,  sondern  seiner 
ganzen  Geistesrichtung,  wie  sie  in  seinen  Werken  hervor- 
trat. Seine  witzsprudelnden,  von  Sarcasmen  und  Paradoxien 
erfüllten  Schriften,  sein  überlegenes,  der  Schönheit  huldigen- 
des Künstlertum,  sein  freier,  die  Rechte  der  Individualität 
verfechtender,  die  Vorurteile  verachtender  Geist  hatten 
ihm  schon  längst  —  bisher  machtlose  —  Feinde  bei  den 


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—    269    — 

Moralphilistem  und  Pharisäern  zugezogen.  Jetzt  konnte 
Haas,  Neid  und  Rachsucht  den  eigenartigen  Dichter 
unter  dem  Vorwand  entrüsteter  Tugend  in  den  Kot 
ziehen. 

Immer  und  immer  wieder  wurden  daher  in  dem 
Prozess  Bruchstücke  und  einzelne  aus  seinen  Werken  heraus- 
gerissene Sätze  zur  Charakterisierung  seiner  Dichtkunst 
und  Sinnesart  hervorgezogen  und  dem  Angeklagten  zur 
Schuld  angerechnet.  Nicht  er  allein^  auch  seine  Werke 
wurden  gebrandmarkt. 

In  England  liessen  ihn  fast  alle  seine  zahlreichen 
Freunde  im  Stich.  Alle^  die  sich  noch  vor  kurzem  durch 
die  Bekanntschaft  mit  dem  gefeierten  Dichter  geschmeichelt 
fühlten^  Alle^  die  er  unterstützt^  Alle,  die  ihm  Stellung 
und  Existenz  verdankten. 

f.J  Nur  Wenige  verleugneten  ihn  nicht,  so  namentlich 
auch  der  ältere  Sohn  von  Lord  Queensberry  und  ein  edler 
Priester,  der  die  Freilassung  Wilde's  zwischen  dem  ersten 
und  zweiten  Prozesse  durch  seine  Mitbürgsohaft  sicherte, 
dafür  aber  die  unerhörtesten  Schmähungen  über  sich  er- 
gehen lassen  musste. 

Es  soll  nicht  geleugnet  werden,  dass  Wilde  das  Leben 
eines  Genusssexualen  geführt  und  dass  er  seiner  Sinnlich- 
keit allzufreien  Lauf  liess,  sein  Leben  soll  sicherlich  nicht 
als  Muster  eines  idealen  Homosexuellen  hingestellt  werden; 
aber  das,  was  er  gethan,  ging  nur  ihn  und  sein  Ge- 
wissen an. 

Wilde  hat  keine  unerwaohsenen  Knaben  verf  ührt^  — 
er  hat  nicht  gegen  die  geschlechtliche  Freiheit  eines 
Andern  Verstössen.  Wenn  er  mit  erwachsenen  Jüng- 
lingen, die  sich  um  Geld  hingaben,  hinter  geschlossenen 
Thüren  geschlechtliche  Handlungen  vorgenommen  hat^ 
so  verdient  er,  der  Homosexuelle,  keine  schärfere  Be- 
urteilung als  die  Normalen,  die  den  ausserehelichen  Bei- 
schlaf mit  prostituierten  Frauen  ausüben. 


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—    270    — 

In  PariS;  wo  Wilde  eine  Anzahl  Freunde  besass  und 
zwei  Jahre  früher  glänzend  gefeiert  worden  war,  fand 
sich,  wie  immer  in  Frankreich,  wenn  es  gilt,  für  Freiheit 
und  Humanität  eine  Lanze  zu  brechen,  eine  Reihe  von 
Männern,  meist  Schriftstellern,  die  eine  Petition  um  Be- 
gnadigung Wildes  an  die  Königin  von  England  richteten; 
sie  blieb  jedoch  erfolglos.*) 

Trotzdem  auch  in  Frankreich  die  meisten  Zeitungen, 
wenn  auch  nicht  unter  Schmähungen,  so  doch  in  iron- 
ischem und  entrüstetem  Tone  über  den  Prozess  berichteten, 
so  erhob  eine  Anzahl  Schriftsteller  in  verschiedenen 
Zeitungen  und  2ieitschriften  ihre  Stimme  zu  Gunsten  von 
Wilde.  So  unter  Andern  der  Kritiker  Bauer  im  Echo 
de  Paris  und  der  Dichter  Hugues  Rebell,  der  in  einem 
prachtvollen  Aufsatz  im  Mercure  de  France  (August  1895) 
mit  flammenden  Worten  die  Ungerechtigkeit  der  Ver- 
folgung und  die  englische  Heuchelei  geisselte. 

Auch  in  Deutschland  sind  mir  —  wenigstens  zwei  — 
Artikel  bekannt,  die  in  rechtlicher  Weise  den  Fall  Wilde 
beleuchteten,  von  Dr.  Handl  in  der  ,Zeit''  vom  15.  Juni 
1895  und  von  Bernstein  in  der  sozialistischen  Zeitschrift 
„Die  neue  Zeit*  Nr.  32  u.  34.    (1894-95.) 

Wilde  musste  die  ganze  furchtbare  Strafe  von  zwei 
Jahren  Zwangsarbeit  verbüssen.  Keine  Demütigung  der 
gewöhnlichen  Gefangenen  wurde  ihm  erspart^  keine  Er- 
leichterung ward  ihm  zu  Teil. 

Er  litt  namentlich  körperlich  entsetzlich  unter  der 
Strafe,  zeitweise  war  er  dem  Wahnsinn  nahe,  doch  ge- 
lang es  ihm,  die  Strafzeit  auszuhalten,  ohne  völlig  körper- 
lich und  geistig  zu  verkommen.  Nach  Yerbüssung  seiner 
Strafe  verliess  er  England  und  nahm  Domizil  in  Paris; 
zeitweise  reiste  er  nach  Italien.    Douglas,  der  vergeblich 

*)  Einen  genauen  Bericht  über  den  Prozess  nebst  eigenen  inte- 
ressanten Bemerkungen  ttber  das  Problem  der  Homosexualität  in  Dialog- 
form brachte  Sero  Qm  Verlag  von  Spohr  1895  erschieuen).  Preis  M.  1.50. 


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alles  Mögliche  für  seine  Befreiung  gethan  hatte^  blieb 
sein  Freund  und  war  noch  an  seinem  Sterbebette  an- 
wesend. In  Paris  lebte  Wilde  zurückgezogen  und  ziem- 
lich einsam  unter  dem  Namen  Mahnoth,  dem  Namen 
eines  einst  berühmten  englischen  Romanhelden,  einer  Art 
englischen  Manfreds,  der  sich,  von  Liebe  zur  Schönheit 
beseelt,  wissentlich  in  die  Verdammnis  stürzt.  Seine 
Yermögensverhältnisse  waren  seit  seinem  Prozess  sehr 
dürftige,  zuletzt  war  er  sogar  auf  die  Unterstützung  von 
Freunden,  die  ihm  treu  geblieben,  angewiesen. 

Auch  in  Paris  hatten  die  meisten  früheren  Bewunderer 
und  Bekannten  Wilde  den  Rücken  gewandt,  doch  be- 
wahrten ihm  mehrere  bekannte  französische  Schriftsteller 
ihre  Freundschaft.  Noch  den  letzten  Sommer  konnte  man 
ihn  in  ihrer  Gesellschaft  täglich  zu  einer  bestimmten  Stunde 
in  einem  bekannten  CafS  auf  dem  Boulevard  sehen. 

Im  Oktober  hatte  er  sich  einer  lebensgerährlichen 
Operation  unterziehen  müssen,  an  deren  Folgen  er  im 
Hospital  de  la  Salpetrifere  starb.  Kurz  vor  seinem  Tode 
bekehrte  sich  Wilde,  der  protestantisch  geboren  war,  zur 
katholischen  Religion. 

Seit  seinem  Prozess  hat  Wilde  nur  wenig  produziert. 
Ich  kenne  aus  dieser  letzten  Periode  seines  Lebens  nur 
die  im  «Mercure  de  France*  im  Jahre  1896  in  französ- 
ischer und  in  der  „Wiener  Rundschau '^  vom  15.  Oktober 
1900  in  deutscher  Sprache  veröffentlichte  , Ballade  des 
Blockhauses  zu  Reading*  zum  Andenken  eines  im  Ge- 
fängnis hingerichteten  Verbrechers,  eines  Reiters  der 
Leibgarde. 

In  dieser  ergreifenden  Ballade  besingt  Wilde  die 
Marter  des  Gefangnenlebens  und  die  selbsterlebten  Qualen. 

Sodann  findet  sich  von  ihm  in  der  « Gesellschaft '^  (in 
einer  der  Mai-  oder  Juninmnmem  1900)  seine  kurze, 
religiös  angehauchte  symbolistische  Erzählung  «Der  gute 
Riese.* 


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Schon  äosserlich  fiel  Wilde  auf:  gross,  stark,  von 
ansehnlicher  Körperfülle;  das  glattrasierte  Gesicht  halb 
englischer  Typus,  halb  römischer  Cäsar,  ein  Gemisch  von 
Feinheit  und  Sinnlichkeit 

Zum  ersten  imd  letzten  Mal  sah  ich  ihn  vergangene 
Ostern  in  Rom.  Das  Selbstbewusstsein  des  überlegenen 
Geistes,  der  seine  Stütze  in  sich  selbst  findet  und  dessen 
Innenleben  keine  Stürme  zerstören  können,  lag  in  seinem 
Wesen,  aber  die  überstandenen  Leiden  schienen  nicht 
spurlos  an  ihm  vorübergegangen  zu  sein:  denn  zugleich 
erweckte  er  den  Eindruck  des  Vereinsamten,  Resignierten, 
des  Mannes,  der  auf  immer  in  dem  Grund  seiner  Liebe 
erschüttert  worden  ist. 

Es  war  im  Colosseum,  wo  man  mir  ihn  zeigte.  Im 
Schein  blendender  bengalischer  Feuer  erglänzten  die  ge- 
waltigen Trümmer,  die  Zeugen  gewaltiger  Zeiten  ver- 
gangener Kulturen.  Ruhig  und  in  sich  selbst  gefestigt 
stand  er  da,  die  hundertköpfige  Menge  mit  seiner  Ge- 
stalt überragend,  er  selbst  das  Symbol  einer  verschwundenen 
Grrösse. 

Von  Charakter  wird  Wilde  als  gut  und  edel  ge- 
schildert. Rebell  nennt  ihn  den  zuverlässigsten  Freund, 
den  diensteifrigsten,  treuesten  Menschen. 

Wilde  war,  wie  ich  bestimmt  weiss,  homosexuell, 
trotzdem  er  verheiratet  war  —  nach  einem  Skandal  liess 
sich  seine  Frau  von  ihm  scheiden.  Diese  Heirath,  das 
war  ein  Verbrechen,  weit  eher  als  die  Thaten,  wegen  deren 
er  verurteilt  wurde,  die  Verbindung  mit  einer  Frau  zu 
dauerndem  Bund,  obgleich  er  wusste,  dass  er  ihr  keine 
Liebe  entgegen  bringen  konnte. 

Seine  Werke  sind  mehr  geistreich  als  tief,  mehr  ge- 
schmeidig und  geschickt  als  kernig,  keine  Kost  für  das 
grosse  Publikum,  Leckerbissen  für  verfeinerte  Leser. 
Glänzende  Äper9us,  blendende  Paradoxien,  frappante 
Aphorismen  flackern  und  glitzern  an  hundert  Stellen. 


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Seiii  berühmter  Koman  ,,Das  Portrait  des  Dorian  Gray  ^ 
enthält  gleich  zu  Beginn  der  Schilderung  homosexuelle 
Gefühle,  der  Maler  Hallward  liebt  den  jungen  Dorian 
Gray,  der  für  ihn  das  Ideal  körperlicher  und  geistiger 
Schönheit  bedeutet,  dessen  Gesellschaft  und  Anblick  ihm 
Lebensbedürfnis  und  Ansporn  zu  künstlerischem  Schaffen 
geworden. 

Die  Zuneigung  des  Malers  ist  ganz  ideal  und  geistig, 
rein  künstlerisch,  ästhetisch  verklärt  gehalten,  aber  nichts 
destoweniger  homosexuell.  Aus  dem  ganzen  Ton  und 
Geist  des  Romans  spricht  die  eigene  umische  Natur  des 
Verfassers  selber,  die  weder  männliche  noch  direkt  weib- 
liche Eigenart,  die  sich  nur  als  homosexuelle  bezeichnen 
lässt  Worin  dieser  Charakter  des  urnischen  Geistes  be- 
steht, lässt  sich  schwer  ausdrücken  und  in  bestimmte 
Worte  fassen,  aber  der  Kenner  der  Homosexuellen  wird 
die  Nuancen  des  homosexuellen  Wesens  herausfühlen. 

Wilde  selber  hat  auch  die  'ideale  Liebe  des  Malers 
Hallward  gekannt,  nicht  bloss  die  sinnlichere,  die  ihm 
seine  Verurteilung  zuzog.  Dies  beweist  seine  anhängliche 
Freundschaft  mit  Douglas  und  der  Brief  an  diesen,  den 
man  im  Prozess  gegen  den  Dichter  ausnutzte. 
Dieser  Brief  lautet: 

«Mein  einziger  Junge!  Dein  Sonett  ist  ganz  reizend, 
und  es  ist  wunderbar,  dass  Deine  roten  Rosenlippen 
nicht  minder  zur  Musik  des  Liedes  sollten  geschaffen 
sein  wie  zur  Leidenschaft  des  Kusses.  Deine  goldige 
Seele  schwebt  zwischen  der  Trunkenheit  der  Leiden- 
schaft und  der  der  Dichtung.  Ich  denke,  Hyacinthus, 
welchen  Apoll  so  wahnsinnig  liebte  in  den  Tagen 
Griechenlands,  wärest  Du.  Warum  bist  Du  allein  in 
London  und  warum  gehst  Du  nicht  nach  Salisbury  ?  Gehe 
hin  und  kühle  Deine  Hände  in  dem  grauen  Zwielicht 
gothischer  Altertümer  und  komme  hierher,  wann  immer 
Du  magst.    Es  ist  ein  liebflcher  Platz  —  nur  Du  fehlst 

Jahrbuch  lU.  13 

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—    274    — 

Aber  geh'  nur  erst  nach  Salisbury.  Immer,  mit  nie 
ersterbender  Liebe,  der  Deinige!  Oskar.**) 
Wie  man  auch  über  die  Schwächen  des  Verstorbenen 
denken  mag,  jedenfalls  hat  er  büssen  müssen  in  einer 
Weise,  die  in  keinem  Verhältnis  stand  zu  dem,  was  er 
gethan.  Selten  ist  die  Wertschätzung  eines  Schriftstellers 
so  mit  der  Beurteilung  eines  Privatlebens  verquickt  worden 
wie  bei  Wilde,  selten  hat  sich  die  Gunst  des  Publikum» 
so  plötzlich  von  einem  Dichter  abgewandt  und  durch 
Momente  beeinflussen  lassen,  die  mit  dem  Kunstwert  seiner 
Werke  nichts  zu  schaffen  hatten. 

Der  Fall  Wilde  hat  wieder  deutlich  gezeigt,  welche 
tief  eingewurzelten  Vorurteile  über  die  Homosexualität 
bestehen,  wie  mit  doppeltem  Masse  hetero-  und  homo- 
sexuelle Neigungen  gemessen  werden,  wie  namentlich  in 
England  eher  wirklich  verbrecherische  Handlungen  ver- 
ziehen werden  als  gleichgeschlechtliche  Leidenschaft. 


*)  Die  Uebereetzung  ist  der  Schrift  von  Sero  (siehe  oben  Anm.) 
entnommen. 


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Oskar  Wilde's  „Dorian  Gray''. 

Von 
Johannes  Gaulke, 

Herausgeber  des  „Magazins  fllr  IJtteratur**. 

,Die  Liebe,  die  in  unserem  Jahrhundert  ihren  Namen 
nicht  nennen  darf,  die  Zuneigung  eines  älteren  Mannes 
z\x  einem  jüngeren,  wie  sie  zwischen  David  und  Jonathan 
bestand,  wie  sie  Plato  zur  Grundlage  seiner  Philosophie 
machte  und  wie  wir  sie  in  den  Sonetten  Michelangelos 
und  Shakespeare's  finden  —  jene  tiefe  geistige  Neigung, 
die  ebenso  rein  wie  vollkommen  ist  und  die  grössten 
Künstler  zu  ihren  bedeutendsten  Werken  begeistert  hat 
—  jene  Liebe  wird  in  imserem  Jahrhundert  so  missver- 
standen, dass  sie  mich  vor  die  Schranken  des  Gerichts 
geführt  hat.  Aber  dennoch  ist  sie  schön  und  hoheits- 
voll, die  edelste  Form  jedweder  Zuneigung.  Sie  ist  nur 
geistig,  und  sie  besteht  allein  zwischen  einem  älteren 
Mann  und  einem  jüngeren,  wenn  der  ältere  geistvoll  ist 
und  der  jüngere  noch  seine  unberührte,  frische  Hoflnungs- 
und  Lebeusfireudigkeit  besitzt  Dass  es  so  sein  muss,  will 
die  Welt  nicht  verstehen.  Sie  höhnt  und  stellt  bisweilen 
den  an  den  Pranger,  der  sie  ausübt.*' 

In  diesen  Worten  hat  der  geistvolle  englische  Schrift- 
steller und  Dichter  Oskar  Wilde,  der,  einst  von  seiner 
Gesellschaft  vergöttert,  dann  in's  Elend  gestürzt  und 
schliesslich  heimat-  und  freudlos,  sein  Leben  am  SO.November 

18* 
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—     276    — 

1900  in  Paris  beschlossen  hat,  sein  ästhetisches  und  sitt- 
liches Glaubensbekenntnis  vor  dem  Central-Kriminal-Court 
am  30.  April  1895  niedergelegt  Nach  seiner  Verurteil- 
ung zu  einer  zweijährigen  schweren  Kerkerstrafe  wegen 
einer  aus  seiner  homosexuellen  Naturanlage  hervorge- 
gangenen That  wurden  über  den  unglücklichen  Dichter 
in  der  englischen  Presse  sowohl  wie  in  der  deutschen  die 
albernsten  Märchen  verbreitet,  die  auf  den  ersten  Blick 
das  Gepräge  einer  böswilligen  Erfindung  trugen.  Ich  will 
an  dieser  Stelle  nicht  untersuchen,  wer  an  dem  sogenannten 
Verbrechen  Wilde's  schuldiger  ist,  er  oder  die  Gesell- 
schaft, die  in  Unkenntnis  imd  ohne  Berücksichtigung  der 
äusserst  fein  differenzierten,  höchst  verschiedenartig 
nuancierten  Geschlecht^empfindungen  der  Einzelindividuen 
einen  starren  Moralkodex  aufgestellt  hat  —  ich  will  nur 
dem  Dichter  gerecht  werden,  der  uns  in  seinem  „Dorian 
Gray*  *)  ein  Werk  von  litterarhistorischer  und  kultureller 
Bedeutung  hinterlassen  hat,  in  dem  das  homosexuelle 
Moment  die  tiefste  und  sachlichste  Darstellung  gefunden. 
Dem  oberflächlichen  Leser  wird  allerdings  die  künst- 
lerische Feinheit  des  leider  noch  nicht  ins  Deutsche  über- 
tragenen Romans  entgehen ;  er  dürfte  wohl  nur  den  Schmutz, 
in  welchem  die  Hauptfiguren  herum  waten,  bemerken,  und 
nicht  die,  im  Grunde  genommen,  sittliche  Tendenz,  die  den 
Dichter  bei  der  Abfassung  seines  Werkes  geleitet  hat. 
Andere  wiederum,  welche  der  ästhetischen  Anschauungs- 
welt Wilde's  fremd  gegenüberstehen,  werden  ihm  in  der 
Entwickelung  der  Charaktere  nicht  zu  folgen  vermögen 
und  das  Buch  unbefriedigt  aus  der  Hand  legen.  So  ging 
•es  mir,  als  ich  ,J)orian  Gray^'  zum  ersten  Male  las,  ich 
hatte  wohl  die  Empfindung,  dass  ein  starker  Geist  aus 
dem  Buche  sprach,  aber  ich  begriff  ihn  nicht.  Später, 
nachdem  ich  mich  mit  dem  Wesen  und  der  Grundursache 


*)  The  picture  of  Dorian  Gray.  Ward,  Look  &  Co.  Lira.,  London. 

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des  HomosexuaUsmus  beschäftigt  hatte  und  darauf  das 
Buch  wieder  zur  Hand  nahm,  da  ging  mir  erst  das  Ver- 
ständnis für  dies  eigenartige  Werk  auf,  da  erst  lernte  ich 
die  wunderbare  Seelenanalyse,  die  der  Dichter  gegeben 
hat,  würdigen.  Es  giebt  wenige  Werke  der  modernen 
Litteratur,  die  mich  so  anhaltend  beschäftigt  haben  wie 
„Dorian  Gray'^  Es  lässt  uns  in  einen  tiefen  Abgrund 
schauen,  enthüllt  uns  aber  auch  die  intimsten  Regungen 
der  Seele.  Es  ist  geradezu  erstaunlich,  mit  welcher 
Meisterschaft  Wilde  die  geheimen  Fäden,  welche  sich  von 
Mensch  zu  Mensch  spinnen,  ohne  dass  sich  der  Einzelne 
über  die  Grundursachen  der  Sympathien  und  Antipathien, 
der  leidenschafllichen  Zuneigung  und  des  Hasses  klar 
wird,  geschildert  hat.  „Dorian  Gray"  ist  andererseits 
auch  ein  höchst  gefährliches  Buch,  aber  nur  für  den,  der 
einen  philiströsen  Massstab  an  dasselbe  legt  und  das  Stoff- 
gebiet der  Litteratur  und  Kunst  durch  engherzige  Moral- 
vorstellungen eingeengt  wissen  will. 

Der  grosse  Künstler  —  sei  er  Roman-  oder  Bühnen- 
dichter —  kennzeichnet  sich  in  erster  Linie  in  der  Cha- 
rakteristik seiner  Gestalten.  Diese  müssen  stets  so  be- 
schaffen sein,  dass  sich  die  Handlung  notwendig  aus  ihrer 
Anlage  ergiebt,  und  nicht  umgekehrt,  wo  der  Charakter 
der  Handlung  untergeordnet  wird.  Li  diesem  Sinne  hat 
auch  Wilde  die  drei  Hauptcharaktere  seines  Romans,  den 
Lord  Henry  Wotton,  Dorian  Gray  und  den  Maler  Basil 
Hallward  aufgefasst.  Jeder  von  ihnen  repräsentiert  einen 
in  sich  abgerundeten  Charakter.  Bevor  ich  daher  auf 
die  eigentliche  Handlung  des  Romans  eingehe,  will  ich 
eine  kurze  Charakteristik  der  Hauptfiguren  und  des 
Milieus,  in  dem  sie  leben,  vorausschicken. 

Der  Lord  Henry  Wotton,  dem,  wie  mir  scheint,  Oskar 
Wilde  sein  eigenes  ästhetisches  Glaubensbekenntnis  in  den 
Mund  legt,  der  sonst  aber  in  keiner  weiteren  Beziehung 
zu  dem  Dichter  steht,  ist  einer  jener  schönheitstrunkenen 


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Möesiggänger  der  „besten"  englischen  Gesellschaft,  der 
,  Upper  ten",  die,  zu  keinem  bestimmten  Beruf  erzogen,  ihre 
Lebensaufgabe  in  der  Befriedigung  ihrer  sinnlichen  In- 
stinkte erblicken.  Lord  Henry  ist,  wie  man  leicht  zwischen 
den  Zeilen  lesen  kann,  kein  homosexuell  Beanlagter,  sondern 
ein  Mensch,  der  —  um  mich  eines  vulgären,  aber  sehr 
zutreffenden  Ausdrucks  zu  bedienen  —  alle  Schulen  durch- 
gemacht, der  das  Liebesleben  in  allen  Stadien  so  weit 
durchkostet  hat,  bis  er,  angeekelt  von  dem  eigenen  Treiben 
und  dem  Treiben  der  Welt,  sich  in  sich  selbst  zurückzieht, 
um  nur  noch  seinem  hochmütigen  Personenkultus  zu 
huldigen.  Lord  Henry  ist  aber  bei  aller  Blasirtheit  kein 
Dummkopf;  zwar  hasst  er  die  produktive  Arbeit,  aber  es 
steckt  dennoch  etwas  von  einem  Vollmenschen  in  ihm  — 
eine  seltsame  Mischung  von  Blasirtheit  und  ästhetischer 
Kultur.  Dorian  Gray,  der  ihm  wegen  seines  thatenlosen 
Lebens  das  Ideal  der  Vollkommenheit  ist,  charakterisiert 
er  mit  den  Worten:  ,Du  bist  der  Typus,  nach  dem  man 
heute  sucht,  welchen  man  aber  zu  finden  fürchtet.  Ich 
bin  glücklich,  dass  Du  nie  etwas  gethan  hast,  weder  eine 
Statue  gemeisselt,  noch  ein  Bild  gemalt,  überhaupt 
nichts  Aeusserliches  produziert  hast.  Das  Leben  ist  Deine 
Kunst  gewesen.  Du  hast  Dich  in  Musik  Ximgesetzt.  Deine 
Tage  sind  Deine  Sonette  gewesen."  Ein  Verfechter  der 
ästhetischen  Ueberkultur  wie  Lord  Henry  findet  natürlich 
Alles  scheusslich,  was  unser  praktisches  Zeitalter  hervor- 
gebracht hat.  Die  Sünde  allein  ist  für  ihn  das  freudige 
Element,  das  dem  modernen  Leben  geblieben  ist.  Sehr 
bemerkenswert  ist  eine  Aeusserung  über  die  Künstler,  die 
auf  eine  tiefe  Erkenntnis  der  Dinge  schliessen  lässt:  «Die- 
jenigen Künstler,  welche  durch  die  Art  ihres  Auftretens 
Andere  entzücken,  sind  schlechte  Künstler.  Gute  Künstler 
geben  Alles  ihrer  Kunst  und  sind  daher  an  sich  unin- 
teressant. Ein  wirklich  grosser  Künstler  ist  das  un- 
poetischste aller   Lebewesen,   dagegen   sind   die   minder- 


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—     279    — 

wertigen  Dichter  durchgäügig  eDtzückend  in  ihren  Um- 
gangsformen. Je  schlechter  ihre  Reime  sind,  umsomehr 
machen  sie  von  sich  her.  Die  blosse  Thatsache,  eine 
Sammlung  schlechter  Gedichte  veröffentlicht  zu  haben, 
macht  einen  Mann  geradezu  unwiderstehlich.  Er  lebt  in 
«iner  poetischen  Stimmung,  der  er  keinen  Ausdruck  zu 
geben  vermag;  die  anderen  dagegen  halten  die  Poesie 
fest,  der  sie  in  ihrem  Privatleben  nie  Ausdruck  verleihen 
dürfen." 

Wilde  liebt  es,  sich  in  Paradoxen  zu  bewegen,  doch 
steckt  in  allen  Aeusserungen,  die  er  den  Lord  Henry 
vortragen  lässt,  ein  gesunder  Kern  und  nicht  selten  auch 
eine  tiefe  Lebensphilosophie.  »Ich  wähle  zu  meinen 
Freunden  Leute  von  angenehmem  Aeusseren,  zu  meinen 
Vertrauten  solche  von  Charakter  und  zu  meinen  Feinden 
Menschen  von  Verstand  und  Wissen.  Ein  Manu  kann 
nicht  vorsichtig  genug  in  der  Wahl  seiner  Feinde  sein. 
Ich  habe  keinen  Feind,  der  ein  Dummkopf  ist!"  Und 
weiter:  „Leute,  die  nur  einmal  im  Leben  lieben,  sind 
Flachköpfe.  Was  sie  als  Zuneigung  und  Treue  bezeichnen, 
nenne  ich  geistige  Unbeweglichkeit  oder  Mangel  an  Ein- 
bildungskraft.* Es  lässt  sich  über  die  in  diesem  Satze 
enthaltene  Anschauung  debattieren,  indessen  lässt  sich 
nicht  in  Abrede  stellen,  dass  derjenige,  der  einen  solchen 
Satz  formulieren  kann,  tief  hinter  die  Koulissen  des  Lebens 
geblickt  haben  muss. 

Die  seltsame  Mischung  eines  hyperästhetischen  Em- 
pfindens, einer  Welt-  und  Menschenverachtung,  einer  sinn- 
lichen Ueberreiztheit  und  einer  moralischen  Haltlosigkeit, 
aus  welchen  Elementen  Wilde  seinen  Lord  Henry  zu- 
i^ammensetzt,  gelangt  am  unmittelbarsten  in  seinen  Aeusser- 
ungen über  das  Weib  und  die  heterosexuelle  Liebe  zum 
Ausdruck.  Die  Weiber  sind  nach  ihm  jeder  Romantik 
bar,  da  sie  stets  versuchen  werden,  eine  Liebesleidenschaft 
zu  verewigen.    Die  Ehe  ist  darum   zu  verwerfen.     ,Die 


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Männer  heiraten,  weil  sie  erschlafft  sind,  die  Weiber  aus 
Neugierde,  aber  beide  sind  nachher  enttäuscht*  Der 
einzige  Reiz,  den  man  der  £be  vielleicht  abgewinnen 
könnte,  ist  der,  dass  sie  beiden  Teilen  ein  Leben  voller 
Enttäuschungen  bereitet.  Die  eheliche  Treue  verschafft 
uns  allenfalls  die  stillen  Freuden  der  Liebe,  aber  die 
grosse,  tolle  Liebesleidenschafl  kann  nur  der  Treulose 
empfinden.  »Was  die  Leute  doch  für  ein  Geschrei  von 
der  Treue  machen!  Und  nach  Allem  hat  sie  doch  nur 
ein  psychologisches  Interesse.  Mit  unserem  Willen  hat 
sie  jedenfalls  nichts  zu  thun;  entweder  beruht  sie  auf 
reinen  Zufälligkeiten  oder  sie  ist  eine  Aeusserung  des 
Temperaments.  Junge  Leute  möchten  gern  treu  sein,  aber 
sie  sind  es  nicht.  Alte  Leute  wollen  treulos  sein  und 
können  es  nicht.*  Mit  einem  ähnlichen  Cynismus  lässt 
Wilde  seinen  Lord  Henry  auch  über  die  Herzensbildung 
und  Güte  der  Menschen  aburteilen.  Es  ist  eben  kein  be- 
sonderes Verdienst,  gut  zu  sein.  «Auf  dem  Lande  kann 
Jeder  gut  sein,  weil  es  dort  keine  Versuchung  giebt.  Das 
ist  auch  der  Grund,  dass  Leute,  die  ausserhalb  der  Stadt 
wohnen,  so  unzivilisiert  sind.  Zur  Zivilisation  gelangt 
man  nämlich  nur  auf  zweierlei  Art,  entweder  befleissigt 
man  sich  der  Kulturarbeit  oder  aber  der  Korruption."  — 
Den  Höhepunkt  erreicht  der  Cynismus  jedoch  in  dem  Satz: 
«Nur  heilige  Dinge  sind  wert^  berührt  zu  werden." 

Lord  Henry  treibt  seinem  Schüler  Dorian  Gray  mit 
einer  bewunderungswürdigen  Gründlichkeit  alle  feineren 
Regungen  und  namentlich  die  Achtung  vor  dem  Weibe 
aus.  Die  Weiber  sind  nach  ihm  nur  ein  dekoratives  Ge- 
schlecht. «Sie  repräsentieren  den  Triumph  der  Materie 
über  den  Verstand,  während  die  Männer  den  Triumph 
des  Verstandes  über  die  Moral  repräsentieren.  Es  giebt 
nur  zwei  Arten  von  Weibern,  die  einfachen  und  die 
temperamentvollen.  Die  einfachen  sind  durchaus  nützlich. 
Wenn  Du  in  einen  respektablen  Ruf  kommen  willst,  gehe 


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—    281     — 

mit  einer  von  ihnen  zum  Souper.  Die  anderen  Weiber 
sind  in  ihrer  Art  bezaubernd.  Sie  begehen  aber  einen- 
Fehler^  indem  sie  sich  schminken^  um  gut  auszusehen. 
Unsere  Grossmütter  gaben  sich  einen  anderen  Anstrich^ 
sie  wollten  nämlich  in  der  Unterhaltung  glänzen. 
Schminke  und  Esprit  sollten  immer  zusammengehen. 
Damit  ist  es  aber  heute  aus.  Solange  eine  Frau  zehn^ 
Jahre  jünger  aussieht  als  ihre  Tochter,  ist  sie  vollkommen 
zufrieden  gestellt  Was  die  Unterhaltung  anbelangt,  so 
giebt  es  in  London  eigentlich  nur  fünf  Weiber,  mit  denen 
zu  sprechen  es  sich  lohnt,  und  mit  zweien  von  ihnen  kann 
man  sich  nicht  einmal  in  anständiger  Gesellschaft  sehen 
lassen." 

So  sieht  Lord  Henry,  der  Lehrmeister  Dorian  Grays^ 
aus.  Im  Ueberfluss  und  Luxus  lebend,  ist  er  zu  einem 
frivolen  Spötter  geworden,  der  jedes  Verbrechen  be- 
schönigt, von  Natur  vielleicht  nicht  bösartig  und  pervers 
angelegt,  ist  er  durch  die  übermässige  Befriedigung  seiner 
sinnlichen  Instinkte  und  durch  seinen  Hang  zum  Müssig- 
gang  auf  abschüssige  Bahnen  gebracht  worden.  Seine 
glänzenden  Geistesgaben  vergeudet  er  in  müssigen  Speku- 
lationen über  ethische  und  ästhetische  Begriffe,  seine- 
edleren  Regungen  sind  abgestumpft,  sein  Geschlechts- 
empfinden ist  korrumpiert.  Er  hatte  einst  das  Weib  in. 
brutaler  Sinnlichkeit  geliebt,  nach  seinem  seelischen 
Bankrott  hatte  sich  aber  sein  Verlangen  auf  die  Jugend 
konzentriert.  Lord  Henry  ist  demnach  nichts  weniger 
als  ein  Homosexueller. 

Ihm  hat  Wilde  eine  andere  Gestalt  gegenübergestellt*- 
die  als  der  nobelste  Typus  eines  homosexuell  Beanlagten 
gelten  mag.  Es  ist  der  feinfühlige  Maler  Basil  Hallward^ 
dessen  Liebe  rein  geistiger  Natur  ist,  der  nichts  weiter 
erstrebt,  als  die  Gegenwart  der  angebeteten  Person. 

^Es  ist  wahr,"  sagt  er  zu  Dorian,  „dass  ich  Dich* 
verehrt   habe   mit  einer  Stärke  des  Gefühls,   wie  es  ge- 


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—     282     — 

Avöhnlich  unter  Freunden  nicht  der  Fall  ist.  Ich  habe 
allerdings  nie  ein  Weib  geliebt  Ich  nehme  an,  dass  ich 
nie  Zeit  dazu  gehabt  habe.  Mag  sein,  dass  eine  wirkliche 
grosse  Leidenschaft  auch  nur  das  Vorrecht  derjenigen  ist, 
die  nichts  zu  thun  haben.  Von  dem  ersten  Augenblick 
an,  da  ich  Dich  zum  ersten  Mal  sah,  gewannest  Du  einen 
ausserordentlichen  Einfluss  über  mich.  Ich  muss  ge- 
stehen, dass  ich  Dich  wahnsinnig  anbetete.  Ich  war 
eifersüchtig  auf  Jeden,  der  mit  Dir  sprach.  Ich  fühlte 
mich  nur  in  Deiner  Nähe  glücklich.  Wenn  Du  von  mir 
fort  warst,  warst  Du  doch  in  meiner  Kunst  gegenwärtig.  .  . 
Ich  habe  Dich  nie  etwas  hierüber  wissen  lassen.  Du 
würdest  es  auch  nie  verstanden  haben,  habe  ich  es  doch 
selbst  nicht  verstanden.  Eines  Tages  entschloss  ich  mich, 
ein  herrliches  Bild  von  Dir  zu  malen.  Es  sollte  mein 
Meisterstück  werden.  Und  es  ist  mein  Meisterstück  ge- 
worden. Aber  als  ich  daran  malte,  da  schien  jedes  Atom 
Farbe  mir  mein  Geheimnis  zu  enthüllen." 

Basil  Hallward  ist  eine  weniger  faszinierende  Per- 
sönlichkeit als  Lord  Henry,  aber  in  seinem  Gefühlsleben 
trotz  seiner  homosexuellen  Anlage  unendlich  wahrer  und 
reiner  als  Jener.  Während  bei  Henry  die  ästhetische 
Kultur  eine  müssige  Spielerei  ist,  ist  es  Basil  bitterer 
Ernst  mit  seiner  Sache.  Er  gehört  zu  jenen  proble- 
matischen Naturen,  von  denen  Goethe  sehr  zutreflTend 
sagt,  dass  sie  keiner  Lebenslage  gewachsen  seien.  „Die 
Harmonie  von  Körper  und  Seele  —  wie  gross  ist  sie?" 
fragt  er  voller  Bitterkeit.  »Wir  haben  in  unserer  Be- 
schränktheit beide  von  einander  getrennt  und  haben  einen 
Realismus  erfunden,  der  bestialisch  ist,  und  einen  Idealis- 
mus, der  leer  ist."  — 

Lord  Henry  Wotton  und  Basil  Hallward  sind  die 
beiden  Personen,  die  im  Leben  Dorian  Grays  eine  ver- 
hängnisvolle Rolle  spielen;  der  eine  aus  bewusster  Frivo- 
lität, der  andere  aus  grenzenloser  Liebe.     Die  Handlung 


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—    283    — 

«etzt  in  dem  Atelier  Hallward's  ein.  Dieser  hat  das 
Bildnis  Dorian  Grays,  der  zur  Zeit  noch  ein  unverdorbener 
Mensch  war^  gerade  vollendet.  Beide  sind  in  inniger 
Freundschaft  mit  einander  verbunden,  bis  Lord  Henry, 
•der  zu  Dorian  eine  gewisse  ästhetische  Zuneigung  empfand, 
darüber  hinzukam.  Von  nun  ab  vollzieht  sich  ein  be- 
merkenswerter Wandel  im  Charakter  Dorian  Gray^s.  Zu- 
nächst wird  er  nur  von  der  hyperästhetischen  Kultur  an- 
gekränkelt. Henry  hat  ihm  über  die  Vergänglichkeit 
<ler  Jugend  und  die  Schrecken  des  Alters  des  öfteren  ein 
Privatissimum  gehalten.  Nur  das  Leben  in  Jugend  und 
Schönheit  ist  wert,  gelebt  zu  werden!  Dieser  Gedanke 
erfüllt  ihn  schliesslich  mit  Entsetzen.  „Wie  hässlich  es 
ist!  Ich  soll  alt  und  runzelig  werden,  und  mein  Bild  soll 
ewig  jung  bleiben.  .  .  Wenn  ich  es  doch  sein  könnte, 
der  immer  jung  bliebe  und  das  Bild,  das  älter  würde! 
Ich  würde  Alles  —  Alles  dafür  hingeben!*  —  Hier  setzt 
ein  symbolistisches  Moment  ein,  eine  mysteriöse  Hand- 
lung, die  neben  der  Haupthandlung  einherläuft  und  diese 
zu  einem  endgiltigen  Abschluss  bringt  Der  Wunsch 
geht  in  Erfüllung:  Dorian  bleibt  jung,  während  sich  an 
dem  Bildnis  in  dem  Masse,  wie  er  von  Stufe  zu  Stufe 
sinkt,  eigenartige  Wandlungen  vollziehen.  Diese  That- 
sache,  die  schliesslich  nur  in  seiner  Vorstellung  lebt,  er- 
zeugt in  ihm  ein  neues  Gefühl  des  Entsetzens,  aber  auch 
der  Wollust. 

Um  diese  Zeit  macht  er  die  Bekanntschaft  einer  ent- 
zückenden, jugendfrischen  Schauspielerin  an  einer  Vor- 
stadtbühne, die  über  eine  grosse  künstlerische  Darstellungs- 
kraft verfügt  Ihre  Persönlichkeit  wie  ihre  Künstler- 
schaft zieht  ihn  im  gleichen  Grade  an,  und  nicht  lange 
währte  es,  da  hatte  ihn  eine  heftige  Leidenschaft  zu  ihr 
ergriffen.  Die  Liebe  macht  ihn  für  den  Augenblick 
zu  einem  besseren  Menschen.  ,Ihr  Vertrauen  macht  mich 
-treu,  ihr  Glaube  macht  mich  gut     Wenn  ich  bei  ihr  bin. 


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—    284    — 

vergesse  ich  Alles,  was  Du  (Lord  Henry)  mich  gelehrt 
hast.  Ich  werde  ein  anderer,  als  wofür  Du  mich  bisher 
gekannt  hast.  Ich  bin  total  verändert,  und  der  blosse 
Druck  von  Sibyl  Vane's  Hand  lässt  mich  Dich  und  alt 
Deine  unrechten,  fascinierenden,  aber  giftigen  Theorien- 
vergessen."  Es  sind  die  Symptome  einer  echten,  wahren 
Liebe,  die  sich  hierin  kennzeichnen.  Aber  Dorian  Gray 
hatte  schon  zu  viel  von  dem  Gift,  das  ihm  Lord  Henry 
durch  seine  verruchten  Theorien  eingeflösst  hatte,  in  sieb 
aufgenommen,  als  dass  die  uneigennützige  Liebe  hätte 
Bestand  haben  können.  Als  er  eines  Abends  in  Gesell- 
schaft seiner  Freunde  das  kleine  Vorstadttheater  besuchte,, 
um  ihnen  seine  angebetete  Sibyl  Vane  zu  zeigen,  da  er- 
eignete es  sich,  dass  sie  aus  ihrer  Rolle  fiel.  Die  Liebe 
hatte  eine  seltsame  Wirkung  auf  ihre  Künstlerschaft  aus- 
geübt; während  sie  vorher  nur  in  ihrer  Holle  gelebt  hatte^ 
lebte  sie  jetzt  in  der  Wirklichkeit.  Das  Theater  erschien 
ihr  schal,  die  Vorgänge  auf  der  Bühne  erlogen,  sie  hatte 
plötzlich  die  Fähigkeit  eingebüsst,  sich  in  das  Gefühls- 
leben Anderer  hinein  zu  versetzen,  weil  sie  jetzt  ein  eigenes^ 
Gefühlsleben  führte.  Es  schien  ihr  eine  Profanierung^ 
Gefühle  zu  erheucheln,  die  sie  nicht  mehr  kannte. 

Dorian,  der  schon  zu  stark  von  der  hyperästhetischen 
Kultur  angekränkelt  war,  konnte  diesen  Umschwung  der 
Gefühle  nicht  verstehen.  Ihr  schlechtes  Spiel  hatte 
seine  Liebe  zu  ihr  getötet.  »Ich  liebte  Dich,  weil  Du 
bewundenmgswürdig  warst,  weil  Du  Genie  und  Intellekt 
hattest,  weil  Du  die  Träume  der  grössten  Dichter  ver-- 
wirklicht  und  den  Schatten  der  Kunst  lebendige  Gestalt 
gegeben  hattest.  Du  hast  nun  alles  das  von  Dir  geworfen. 
Du  bist  jetzt  flach  und  stupid.  Mein  Gott,  wie  habe  ich 
Dich  einst  geliebt!  Welch  ein  Narr  bin  ich  doch  ge- 
wesen !  .  .  Wenn  ich  Dich  doch  nie  gesehen  hätte !  Du 
hast  die  Romantik  meines  Lebens  vernichtet.  .  .  .  Geh'^ 
berühre  mich  nicht  mehr." 


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—    285    — 

Mit  diesen  Worten  stösst  er  sie  von  sich.  Sie  bricht 
<larüber  zusammen,  wie  ein  verwundetes  Tier,  während 
Dorian  sie  mit  dem  Ausdruck  der  höchsten  Verachtung 
betraclitet.  «Die  Leidenscha^n  Anderer  haben  immer 
etwas  Verächtliches  für  denjenigen,  der  aufgehört  hat  zu 
lieben."  Das  ist  die  Philosophie,  mit  der  er  sich  aus  der 
Affäre  zieht.  Er  hat  sich  seines  Meisters  würdig  er- 
wiesen. Der  aufmerksame  Leser  wird  in  diesem  selt- 
samen Umschwung  der  Gefühle  einen  feinen  psycho- 
logischen Zug  entdecken.  Als  Dorian  Gray  das  Ver- 
hältnis mit  Sibyl  Vane  anknüpfte,  da  regte  sich  schon 
in  seinem  Unterbewusstsein  eine,  wenn  auch  noch  nicht 
ausgesprochen  perverse,  so  doch  stark  von  der  Norm 
abweichende  Neigung.  Seine  Liebe  war  keine  impulsive, 
keine  sittlich-sinnliche,  sondern  sie  baute  sich  auf  einer 
ästhetischen  Voraussetzung  auf;  er  liebte  nicht  das  Weib 
an  sich,  sondern  das,  was  schön  und  künstlerisch  an  ihr 
war.  Dass  diese  ästhetische  Neigung,  die  mit  seinem 
Liebesbedürfnis  unmittelbar  verquickt  ist,  nicht  auf  das 
entgegengesetzte  Geschlecht  beschränkt  blieb,  lehren 
die  weiteren  Vorgänge  in  der  Entwickelung  Dorian  Grays. 

Sibyl  Vane  hatte  die  brutale  Zurückweisung,  die  ihr 
von  dem  Geliebten  zu  teil  geworden  war,  nicht  zu  über- 
leben vermocht.  Am  nächsten  Morgen  meldeten  die 
Zeitungen  ihren  plötzlichen  Tod.  Dorian,  der  sich  doch 
noch  einen  Kest  von  Menschgefühl  erhalten  hatte,  gerät 
über  diese  Nachricht  in  den  Zustand  heftigster  Erregung. 
Er  möchte  Alles  wieder  gut  machen,  denkt  auch  schon 
daran,  fortan  ein  anderes  Leben  zu  führen,  da  naht  wieder 
sein  Verhängnis  in  der  Gestalt  Lord  Henry's.  Im  Aus- 
druck des  grenzenlosesten  Cynismus  äussert  er  sich  über 
die  Weiber  und  fährt  dann  fort:  ,Du  bist  glücklicher 
gewesen  als  ich,  Dorian.  Ich  versichere  Dich,  dass  keines 
der  Weiber,  die  ich  gekannt  habe,  das  für  mich  gethan 
hätte,    was    Sibyl    für   Dich    gethan    hat      Gewöhnliche 


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—     286    — 

Weiber  setzen  sich  bald  darüber  hinweg.  Einige  von 
ihnen  legen  allenfalls  noch  sentimentale  Farben  an.  Traue 
nie  einem  Weibe,  das  sich.mauve  kleidet,  wie  alt  sie  auch 
sein  mag,  am  wenigsten  aber  einer  ftinfunddreissigiährigeQ, 
die  sich  mit  blassroten  Bändern  schmückt.  Das  läset 
immer  auf  eine  Vergangenheit  schliessen  .  .  .  Das  Leben 
wird  Dir  noch  vieles  bieten.  Es  ist  jetzt  an  Dir,  Deine 
Siege  zu  behaupten.  Bis  jetzt  ist  Dir  Alles  in  den  Schooss 
gefallen.  Bewahre  Dir  nur  Deine  Seh  önheit !  Wir  leben 
in  einer  Zeit,  die  nicht  weise  sein  kann,  weil  zu  viel  ge- 
lesen wird,  und  die  nicht  schön  sein  kann,  weil  zu  viel 
gedacht  wird.* 

Das  Leben  in  Schönheit  ist  die  Ford  erung,  um  die 
sich  bei  Lord  Henry  Alles  dreht,  und  er  weiss  sie  in 
so  fascinierende  Worte  zu  kleiden,  dass  er  Dorian  voll- 
kommen für  seine  ruchlosen  Theorien  gewinnt.  Alle 
Selbstvorwürfe  sind  überwunden;  noch  an  demselben 
Abend  finden  wir  beide  Freunde  in  der  Oper. 

Bald  darauf  tritt  Basil  Hall  ward,  der  Maler,  an  ihn 
heran  mit  der  Absicht,  ihn  von  dem  moralischen  Unter- 
gang zu  erretten,  aber  Dorian  hatte  schon  zu  viel  von 
den  Theorien  Lord  Henry's  in  sich  aufgenommen,  als  dass 
er  noch  einer  menschlichen  Begung  fähig  gewesen  wäre. 
Die  Vorstellungen  d  es  Freundes  weist  er  mit  den  Worten 
zurück:  , Sprich  nicht  über  widerwärtige  Affären.  Eine 
Angelegenheit,  über  die  man  nie  spricht,  hat  sich  nie  er- 
eignet Es  ist  eigentlich  nur  der  Ausdruck,  der  den 
Dingen  Realität  verleiht  ...  Ich  will  nicht  der  Gnade 
oder  Ungnade  meiner  Gefühle  unterworfen  sein,  sondern 
über  sie  triumphieren.*  Entsetzt  über  diese  Wandlung 
wendet  sich  der  Freund  von  ihm,  zugleich  dämmert  aber 
in  ihm  ein  gewisses  Schuldbewusstsein  auf.  Er  hatte 
für  Dorian  eine  Liebe  empfunden,  die  weit  das  Mass  des 
Gewöhnlichen  überschritt  Auch  für  ihn  war  das  Bild 
zum  Verhängnis  geworden,  indem  es  ihm  seine  mächtige 


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—     287     — 

Leidenschaft  vergegenwärtigte.  Das  Bild  war  ihm  so 
ans  Herz  gewachsen,  dass  er  es  nicht  einmal  den  profanen 
Blicken  auf  der  Ausstellung  zeigen  wollte;  nur  Dorian 
selbst  durfle  es  besitzen. 

Inzwischen  hatten  sich  die  merkwürdigsten  Aender-^ 
ungen  an  dem  Bilde  vollzogen.  Dorian  machte  nach 
seiner  tragischen  Liebesaffaire  die  ihn  mit  Grauen  und 
Entsetzen  erfüllende  Beobachtung,  dass  der  Ausdruck 
stetig  an  Jugendfrische  und  Unschuld  einbüsste  und  da- 
für an  Hässlichkeit  und  Frivolität  zunahm.  Um  sich  vor 
diesem  Mahner  zu  schützen,  entschloss  er  sich  endlich,, 
das  Bild  in  der  entlegensten  Bodenkammer  zu  verbergen. 

Nun  konnte  er  sich  ungestört  im  Geiste  seines  Meist ers^ 
weiter  ent\vickeln.  Und  dieser  bot  ihm  die  umfassendste 
Gelegenheit  dazu.  Eines  Tages  schickte  er  ihm  ein 
französisches  Buch,  von  dessen  Lektüre  die  letzte  und 
grösste  Wandlung  im  Gefühlsleben  Dorians  zu  erhoffen 
war.  Es  war  von  einem  jungen  Pariser  geschrieben,  desse» 
Spezialität  es  war,  sich  in  die  Gedankengänge  und  Leiden- 
schaften der  verflossenen  Jahrhunderte  hineinzuleben,  um 
die  Nichtigkeit  alles  dessen,  was  ist,  zu  beweisen,  nament- 
lich aber  jene  Verzichtleistung  auf  den  Lebensgenüsse 
für  welche  man  das  Wort  Tugend  erfunden  hat,  als  einen 
grossen  Unsinn  hinzustellen.  Es  war  ein  gefährliches 
Buch.  Die  Aeusserungen  des  Intellekts  und  der  Sinne 
der  verschiedensten  Zeiten  waren  in  einen  so  engen 
Connex  gebracht,  dass  der  Leser  kaum  noch  die  spiritua- 
listischen  Ekstasen  eines  mittelalterlichen  Heiligen  von 
den  krankhaften  Konfessionen  eines  modernen  Sünder» 
zu  unterscheiden  vermochte.  Das  sinnliche  Leben  war 
mit  einer  mystischen  Philosophie  umkleidet,  die  den  Leser 
gefangen  nehmen  musste.  Als  Lord  Henry  seinen  Schüler 
später  fragte,  ob  es  ihm  gefallen  habe,  da  antwortete  err 
„Ich  kann  nicht  sagen,  dass  es  mir  gefallen  hat,  es  hat 
mich  aber  fasciniert.     Das  ist  ein  gewaltiger  Unterschied.**^ 


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—    288    — 

, Nachdem  Du  dies  entdeckt  hast^  hast  Du  eigentlich 
Alles  entdeckt,"  entgegnete  Lord  Henry.  Er  durfte  mit 
-seinem  Schüler  zureden  sein.  — 

Während  vieler  Jahre  konnte  Dorian  den  Eindruck 
•dieses  Buches  nicht  verwischen,  und  er  wollte  es  auch 
nicht.  Denn  die  darin  vertretene  Philosophie  beschönigte 
alle  Laster  und  Verirrungen.  Dorian  Gray  sank  immer 
tiefer;  es  kursierten  die  merkwürdigsten  Gerüchte  über 
Ihn.  Er  war  in  der  Gesellschaft  fremder  Seeleute  in  den 
entlegensten  Quartieren  von  Whitschapel  gesehen  worden, 
'das  Weib  hatte  nach  der  Affäre  mit  Sibyl  Vane  aufge- 
hört eine  Rolle  in  seinem  Leben  zu  spielen.  Die  Frauen, 
-die  ihn  einst  leidenschaftlich  verehrt  hatten  und  die  imi 
seinetwillen  allen  gesellschaftlichen  Vorurteilen  getrotzt 
hatten,  vergingen  vor  Scham  und  Entsetzen,  wenn  sie 
seiner  ansichtig  wurden.  Er  hatte  die  chrouique  scanda- 
leuse  Londons  imi  mehrere  Kapitel  bereichert.  Alle  seine 
Freunde  hatten  sich  von  ihm  zurückgezogen,  nur  Lord 
Henry  blieb  ihm  treu.  Und  bei  aller  Lasterhaftigkeit 
erhielt  er  sich  jugendfrisch  und  schön,  für  Jeden  ein  ver- 
bindliches Lächeln  auf  den  Lippen. 

Wiederum  vergingen  mehrere  Jahre,  Dorian  hatte 
sein  Bild  und  dessen  Schöpfer  vergessen  und  lebte  nur 
seinen  sinnlichen  Neigungen,  da  wollte  es  der  Zufall,  dass 
er  mit  Basil  Hallward  wieder  zusammentraf.  Dieser  war 
gerade  im  Begriff,  eine  längere  Reise  zu  unternehmen. 
Hallward  dringt  wiederum  in  ihn,  sein  Leben  nach  an- 
deren Grundsätzen  einzurichten.  Es  kam  zu  einer  leb- 
fhaftien  Aussprache  zwischen  den  einstigen  Freunden; 
Hallward  äusserte  den  Wunsch,  auf  den  Grund  von 
Dorians  Seele  zu  sehen. 

„Auf  den  Grund  meiner  Seele!  —  Ja,  Du  sollst  es,* 

.antwortete  Dorian,   abwechselnd   blass   und  rot  werdend. 

Sie   stiegen  die   Treppe   zur  Bodenkammer    hinauf, 


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—    289     — 

Dorian  enthüllto  sein  Bildnis,  gleich  darauf  entschlüpfte 
Hallwards  Munde  ein  Ausruf  des  Entsetzens.  Das  Bild, 
■das  er  do^t  sah,  war  Dorian,  und  wiederum  nicht,  die 
äussere  Form  war  geblieben,  aber  der  Ausdruck  hatte 
gewechselt.  Alles,  was  Dorian  in  seinem  Leben  ver- 
brochen hatte,  alle  Schuld,  mit  der  er  seine  Seele  beladen 
hatte,  dort  in  dem  Bildnis  war  es  niedergeschrieben.  Der 
Wunsch,  den  er  einst  leichtfertig  geäussert  hatte,  war  in 
Erfüllung  gegangen. 

„Lass  uns  zusammen  beten,  Dorian,''  forderte  ihn 
Hallward  auf.  „Das  Gebet  Deiner  Eitelkeit  ist  in  Er- 
füllung gegangen;  das  Gebet  Deiner  Reue  soll  es  erst 
recht.  Oh,  ich  habe  Dich  zu  tief  verehrt.  Ich  bin  dafür 
bestraft  worden.  Du  hast  Dich  selbst  angebetet.  Nun 
iiind  wir  beide  gestraft." 

Dorian  betrachtet  abwechselnd  das  Bild,  dann  den 
Freund,  darauf  bemächtigt  sich  seiner  plötzlich  eine 
-wahnsinnige  Wut  auf  Hallward,  in  dem  er  den  Urheber 
«einer  Qual  vermutet^  und  seiner  Sinne  nicht  mächtig, 
^eift  er  zu  einem  Messer  und  ersticht  den  Freund.  Kein 
Angstgefühl,  keine  Reue  über  seine  That  empfindet  er 
mehr.  Er  lässt  den  Leichnam  durch  einen  jungen  Che- 
miker, mit  dem  er  einst  in  Beziehungen  gestanden  hat 
und  der  aus  Furcht^  von  Dorian  verraten  zu  werden,  auf 
•die  That  eingeht,  in  seine  Bestandteile  auflösen.  Dorian 
ist  gerettet,  sein  seelisches  Gleichgewicht  ist  wieder  soweit 
hergestellt,  dass  er  noch  einmal  den  Plan  fasst,  ein 
besserer  Mensch  zu  werden.  Die  mannmännliche  Liebe 
•erfüllt  ihn  für  den  Augenblick  mit  Entsetzen  und  er 
wendet  sich  einem  unschuldigen  Landmädchen  zu.  Ohne 
ihrer  zu  begehren  —  was  ihm  nicht  besonders  schwer 
gefallen  sein  dürfte  — ,  kann  er  mit  ihr  verkehren.  Das 
war  der  Anfang  zu  einem  neuen  Leben.  Nie  wieder 
wollte  er  die  Unschuld  versuchen. 

Jahrbuch  IIT.  19 


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—    290    — 

Neugierig,  ob  diese  Wandlung  sich  auch  in  dem  Aus- 
druck seines  Bildes  kennzeichnen  würde,  stieg  er  wieder 
die  Treppen  zur  Dachkammer  empor,  wie  damals,  als  er 
Basil  Hallward  zum  letzten  Mal  dorthin  begleitete.  Aber 
was  er  erhofil  hatte,  war  nicht  eingetreten.  Das  Bild 
war  schauerlicher  anzusehen  denn  je  —  es  war  mit  Blut 
besudelt.  Einst  hatte  es  ihm  ein  gewisses  Vergnügen 
gemacht^  den  Wechsel  zu  beobachten,  jetzt  erfüllte  ihn 
diese  Erscheinung  mit  Furcht  und  Schrecken.  Und 
während  er  verzweifelt  um  sich  blickte,  da  entdeckte  er 
das  Messer,  mit  dem  er  Basil  Hallward  erstochen  hatte. 
Ein  neuer  Gedanke  durchzuckte  ihn.  Wenn  das  Bild 
vernichtet  sein  würde,  sollte  er  da  nicht  befreit  sein  ?  Er 
griff  nach  dem  Messer  und  durchschnitt  die  Leinwand 
von  oben  bis  imten.  —  —  In  demselben  Augenblick 
wurde  ein  furchtbarer  Schrei  im  Hause  vernommen,  der 
die  Diener  aus  ihrer  Nachtruhe  erweckte. 

„Als  sie  den  Baum  betraten,  fanden  sie  an  der  Wand 
das  herrliche  Bildnis  ihres  Herrn  hängen,  so  wie  sie  ihn 
zuletzt  gesehen  hatten  in  der  ganzen  Pracht  seiner  Jugend 
und  Schönheit  Auf  dem  Boden  aber  lag  ein  Mann  in 
Nachtkleidung,  in  dessen  Brust  ein  Messer  stak.  Seine 
Haut  war  verblüht  und  runzelig,  und  sein  Gesicht  trug 
einen  ruchlosen  Ausdruck.  Seine  Identität  mit  Dorian 
Gray  konnte  nur  durch  die  Ringe,  die  dieser  zu  tragen 
pflegte,  nachgewiesen  werden.* 

Dorian  Gray  hatte  die  Schuld  seines  Lebens  mit  dem 
Tode  gebüsst  Das  ist  der  versöhnende  Schluss  des  Ro- 
mans eines  Mannes,  der  zu  seinem  Unglück  unter  Ver- 
hältnissen lebte,  die  ihm  jede  Ausschweifung  gestatteten^ 
und  einer  Gesellschaftsschichte  angehörte,  die  überhaupt 
den  Sinn  für  die  harmlosen  Freuden  des  Lebens  verloren 
hatte.  Aus  diesem  Milieu  strebt  nur  eine  Gestalt,  die 
des   Malers    Basil   Hall  ward,    empor   zu    lichten   Höhen. 


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—    291     — 

Aber  auch  ihm  war  das  Kainszeichen  seiner  Geburt  nur 
zu  stark  aufgeprägt  Ein  düsteres  Geschick  bereitet  ihm 
ein  frühzeitiges  Ende.  Es  steckt  etwas  von  tragischer 
Grösse  in  dieser  Gestalt.  Hier  hat  Wilde  das  Beste 
gegeben,  das  in  ihm  war.  Man  hat  bei  der  Lektüre  die 
Empfindung,  dass  der  unglückliche  Dichter  sich  in  Basil 
Hallward,  sein  Schicksal  vorahneud,  selbst  gezeichnet  hat. 
Auch  er  hat  seine  Schuld  gesühnt. 


19* 


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Die  Wahrheit  über  mich. 

Selbstbiographie  einer  Konträrsexuellen. 

Selbstbiographie  —  Selbstberäucherung!  Man  sollte 
die  Hände  davon  lassen.  Und  doch  thue  ich  es  nicht. 
Warum  nicht?  Weil  ich  wiederholt  aufgefordert  wurde, 
mit  der  Wahrheit  der  guten  Sache  zu  dienen.  Allein  — 
—  ich  fürchte,  fürchte! 

Ich  bin  durchaus  keine  von  denen,  welche,  unglück- 
lich über  ihren  Zustand,  das  Köpfchen  hängen  lassen 
und  jedem  zurufen  möchten:  «Ach,  wir  armen  Ausnahmen! 
Verzeiht^  dass  wir  auf  der  Welt  sind!"  Nein,  ich  bin 
stolz  auf  meine  Ausnahmsstellung.  Ich  werfe  das  Haupt 
in  den  Nacken,  stampfe  mit  dem  Fusse  auf  und  spreche 
keck:  „Siehe,  das  bin  ich!'' 

Ich  wurde  in  einer  kleinen  Kesidenz,  als  Tochter 
eines  Privatgelehrten,  geboren  und  bin  das  älteste  von 
acht  Geschwistern.  Ob  erblich  belastet  oder  nicht,  das 
bleibe  hier  unerörtert;  denn  wenn  ich  auch  etwas  in  der 
edlen  Wissenschaft  der  Medizin  Bescheid  weiss,  so 
fühle  ich  mich  augenblicklich  doch  nicht  berufen,  eine 
gelehrte  Abhandlung  zu  schreiben.  Vielleicht  später 
einmal. 

Meine  Jugend  ging  hin  wie  diejenige  aller  —  Knaben, 
welche  den  herrlichen  Vorzug  geniessen,  zugleich  die 
Freiheiten  des  Landlebens  mit  den  Annehmlichkeiten  der 
Grossstadt  verbinden  zu  können,  was  wohl  nur  eine  kleine 
Residenz    gewährt.     Wenn   ich   sage,    ich   lebte    wie  die 


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—    293    — 

EnabeD^  so  bediene  ich  mich  absichtlich  dieses  Aus- 
druckes ;  denn  erstens  fühlte  ich  mich  schon  damals  voll' 
kommen  als  ,Bube*,  und  zweitens  wurde  mir  das  un- 
schätzbare Glück  zuteil,  eine  vollständige  Jungenerziehung 
zu  empfangen. 

O  wie  bedauerte  ich  die  armen  Mädchen,  welche 
„ehrbar  und  sittsam",  die  Büchertasche  unter  dem  Arme, 
die  Notenmappe  an  der  Hand,  dahin  schreiten  mussten, 
während  ich  mich  mit  meinen  tollen  Kameraden  herum- 
balgte und  -jagte,  dass  die  Wangen  glühten  und  die 
Haare  wild  im  Winde  flatterten.  Man  versuchte  mich 
auf  diese  Haare  eitel  zu  machen  und  bewunderte  den 
natürlichen  Kopfschmuck  so  lange,  bis  ich,  kurz  ent- 
schlossen, zum  Friseur  ging  und  —  mich  scheeren  liess. 
Wozu  auch  dieses  unnütze  Anhängsel,  welches  mir  beim 
Laufen  und  Springen  nur  hinderlich  war?  Die  Buben 
hatten  das  viel  bequemer.  Weshalb  sollte  ich  es  ihnen 
nicht  gleich  thun?  Der  Haarkünstler  war  zuerst  so  ent- 
setzt über  meine  Aufforderung,  dass  er  mich  ganz  starr 
ansah  und  in  den  Ausruf  ausbrach:  »Nein,  das  ist  zu 
schade!    Ich  thue  es  nicht!* 

„So  gehe  ich  einfach  zu  einem  anderen." 

Dieses  half.  Er  machte  noch  einen  schwachen  Ver- 
such, mich  durch  Ueberredung  zurückzuhalten,  mit  dem 
Hinweis,  dass  das  , prächtige  Haar*  erst  in  drei  Jahren 
seine  »jetzige  Fülle  und  Länge"  wiedererhalten  haben 
würde. 

»Die  soll  es  ja  überhaupt  nicht  wieder  bekommen. 
Wozu  lasse  ich  denn  den  Rummel  herunternehmen?* 

Als  er  sah,  dass  alles  nichts  nützte,  machte  er  sich 
mit  einem  schweren  Seufzer  ans  Schneiden. 

Hei,  wie  forsch  kam  ich  mir  nach  vollendeter  That 
vor!  Nun  sollte  es  nur  jemand  wagen,  mich  „Mädchen" 
zu  schimpfen,  wie  es  kürzlich  Winterfelds  Fritz  gethan! 
Ich    war   gerade  so  gut   ein  Junge    wie  er  auch.     Jetzt 


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—    294    — 

blickte   ich   sogar,   und    zwar  mit  Stolz,   in  den  Spiegel, 
was  ich  sonst  für  eine  höchst  überflüssige  Sache  hielt. 
„Soll  ich  das  Haar  vielleicht  brennen?* 
Ich  brach  in  schallendes  Gelächter  aus. 
,0  nein,  nein!     Ich  will  mich  doch  nicht  zum  Dandy 
heranbilden  !** 

Der  Künstler  wickelte  meinen  Zopf  säuberlich  m 
Seidenpapier  und  wollte  mir  denselben  feierlich  über- 
reichen. 

»Was  soll  ich  damit  anfangen?  Behalten  Sie  ihn  nur!" 
»Würden  Sie  ihn  für  zehn  Mark  verkaufen?" 
Gern  willigte  ich  ein.  Dafür  konnte  ich  mir  ein 
hübsches  Buch  ansohaflen.  Und  Bücher,  Bücher,  die  sind 
stets  meine  Passion  gewesen  und  auch  geblieben.  So 
trollte  ich  denn  wohlgemut  nach  Hause,  wo  es  natürlich 
gehörige  »Dresche*  gab.  Wasthat  das?  So  etwas  schüttelte 
man  bald  wieder  ab,  und  an  der  Hauptsache  war  nichts 
zu  ändern.  Auch  kam  das  redlich  erworbene  Geld,  mit 
dem  ich  noch  an  demselben  Tage  zum  Buchhändler  eilte, 
mit  inbetracht 

Wie  schon  gesagt:  Bücher  liebte  ich  leidenschaftlich. 
Es  waren  aber  keine  »Herzblättchens  Zeitvertreib*,  Töchter- 
albums etc.,  zu  denen  es  mich  zog,  sondern  Robinsonaden, 
Indianergeschichten  u.  dgl.  Darüber  konnte  ich  mit  den 
Kameraden  sprechen.  Ja,  wir  sprachen  nicht  nur  darüber, 
wir  spielten  auch  Indianer.  Aus  unserem  „Räuber  und 
Gensdarme"  war  mit  der  Zeit  eine  ganze  Räuber-  und 
schliesslich  Zigeunerbande  entstanden.  Ich  wurde  zum 
Hauptmanne  erwählt  und  ein  zarter,  blonder  Spielgenosse 
war  die  »Köchin"  des  ganzen  Trupps,  »weil  er  so  herr- 
lich Spatzen  braten  konnte".  Das  Schiessen  der  Sperlinge 
besorgten  wir  Uebrigen  mit  sogenannten  Flitzbogen.  Wir 
besussen  eine  gehörige  Uebung  darin  und  lachten  uns  bei 
einem  Fehlschüsse  gegenseitig  aus. 

Mitten   auf  dem  Felde   hatten  wir  einige  Zelte  auf- 


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—    295    — 

geschlagen  und  in  dem  einen  derselben  einen  steinernen  Herd 
errichtet.  Das  Holz  stahlen  wir  —  Zigeuner  müssen  stehlen 
—  von  einem  benachbarten  Bauplatze.  Wartenbergs 
Karl  hatte  eine  Bratpfanne^  eine  Schachtel  „Schweden*  und 
nach  und  nach  ein  ganzes  Schock  Eier  aus  der  heimat- 
lichen Küche  nebst  einem  grossen  Stück  Speck,  Butter 
und  einer  Tüte  Salz  herbeigeschleppt.  Aus  den  um- 
liegenden Feldern  wurden  Kartoffeln,  Rüben  u.  dgl.  auf- 
gehoben. Und  so  litten  wir,  wenn  wir  von  der  Jagd  oder 
anderen  wilden  Streifzügen  zurückkehrten,  keine  Not; 
denn  unsere  , famose  Köchin*  hatte  in  der  Zwischenzeit 
alles  wohl  zubereitet  und  sogar  die  Sperlinge  ausgenommen 
und  gerupft. 

Aber  die  Sache  sollte  ein  Ende  mit  Schrecken  nehmen, 
als  wir  uns  daran  machten,  in  einem  ziemlich  entfernten 
Dorfe  einem  Bauern  ein  Huhn  zu  stehlen.  Der  Alte 
wollte  unsere  Erläuterung,  dass  wir  Zigeuner  wären,  nicht 
verstehen  und  erklärte  sich  erst  dazu  bereit,  von  einer 
Ajizcige  abzustehen,  nachdem  wir  unsere  ganze  Barschaft 
zusammengeschossen  und  ihm  dieselbe  als  Ersatz  für  den 
fast  gehabten  Verlust  zurückgelassen  hatten. 

Ich  aber  fühlte  mich  gedrängt,  als  Hauptmann  der 
Bande  ein  strenges  Gericht  über  die  unwürdigen  Mit- 
glieder zu  halten,  welche  so  dumm  sein  konnten,  sich  ab- 
fassen zu  lassen.  Auf  einen  Wink  von  mir  wurden  die 
Bösewichter  von  den  Kameraden  mit  Taschentüchern  und 
Bindfäden,  die  wir  zum  Zwecke  des  »Drachensteigen- 
lassens*  gewöhnlich  bei  uns  trugen,  gefesselt  und  in  den 
nahen  Wald  geschleppt.  Ich  stieg  auf  einen  Baum  — 
klettern  konnte  ich  aus  dem  ,ff*.  —  War  damals  auch 
leider  noch  nicht  die  bequeme  Mode  eingeführt,  ein  „Rad- 
fahrcrkostüm",  d.  h.  eine  festgeschlossene  , Pumphose" 
unter  dem  Frauenrock  zu  tragen,  so  konnte  ich  es  doch 
wegen  einer  sehr  praktischen  Methode  den  Kjiaben  in 
allen  Leibesübungen,  im  Welleschlagen,  Kopfstehen,  auf 


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—    296    — 

den  Händen  gehen  u.  s.  w.  gleicbthun.  Ich  trug  beständige 
eine  grosse  ^^Sicherheitsnadel"  bei  mir.  Mit  derselben 
befestigte  ich  das  hintere  Ende  meines  Rockes,  indem  ich 
es  durchzog,  an  den  vorderen  Teil  des  Kleides.  So  hatte 
ich  die  mir  leider  versagte  Hose.  Ich  muss  gestehen,  das» 
ich  fast  bis  zu  meiner  Universitätszeit  den  Glauben  hegten 
der  ganze  Unterschied  zwischen  den  «Jungens"  und  mir 
bestände  einzig  und  allein  in  der  Kleidung,  und  ich  war 
zuweilen  recht  unzufrieden  darüber,  dass  man  mich  von 
Anfang  an  durch  den  Anzug  ziun  Mädchen  gestempelt 
hatte.  — 

Nachdem  ich  zur  Bestrafung  der  Uebelthäter  meinen 
erhöhten  Sitz  eingenommen  hatte,  fielen  auf  meinen  Wink 
die  Fesseln,  imd  ich  hielt  strenges  Gericht.  Die  Haupt- 
missethäter,  d.  h.  die  Dümmsten,  empfingen  den  nieder- 
schmetternden  Urteilsspruch,  dass  sie  heute  „Hannchen*  — 
so  nannten  wir  unsere  Köchin,  während  man  mir  den 
Namen  „Hans'*  beigelegt  hatte  —  im  Haushalte  assistieren 
sollten,  indessen  wir  auf  einen  frischen,  fröhlichen  Kriegs- 
zug ausgehen  würden. 

Schweigend,  mit  finsteren  Gesichtern,  fügten  sie  sich 
dieser  Grausamkeit,  da  sie  wohl  wussten,  dass  ein  Wider- 
spruch ihr  Schicksal  nur  verschlimmem  konnte.  Wie  in 
einer  Leichenprozession  gingen  sie  hinter  uns  her  und 
folgten  uns  nach  Hause,  das  will  sagen,  in  unsere  Zelte. 

Als  wir  aber  ausgezogen  waren  und  Hannchen  den 
einen  bat,  die  Rüben  „zu  schaben'*,  den  anderen,  die 
Kartoffeln  ,zu  schälen*,  brachen  Unwille  und  Revolte  aus» 

„Wir  sind  keine  Mädchen,  wir  können  und  werden 
nicht  kochen  !** 

Häuschen  versuchte  beide  zu  beruhigen.  Umsonst» 
Kurt  ergriff  einen  brennenden  Holzspahn  und  zündete  das 
Zelt  an.  Da  auch  die  übrigen  luftigen  Wohnungen  nicht 
weit  lagen  und  ein  kräftiger  Wind  blies,  so  sprang  die 
Flamme  lustig  weiter  und  das  Feuer  flackerte  hell  empor. 


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—    297    — 

Es  hätte  ein  Unglück  geben  können;  denn^  wie  schon^ 
erwähnt^  lag  ein  grosser  Bauplatz  mit  vielem  Holze  ganz 
in  der  Nabe.  Aber  die  dort  beschäftigten  Arbeiter  hatten 
den  Brand  sofort  bemerkt.  Sie  eilten  herbei,  und  es 
glückte  ihnen  in  kurzer  Zeit,  zu  löschen. 

Natürlich  wurde  die  Geschichte  in  der  Stadt  bekannt. 
Und  es  war  wohl  keiner  von  unserer  ganzen  Zigeuner- 
bande^  der  ohne  Schläge  davonkam.  Was  indessen  noch 
schlimmer  war,  man  deckte  die  meisten  unserer  Streiche- 
auf. So  erzählte  man  sich  z.  B.  —  nicht  ohne  allen 
Grund  —  dass  wir  im  Nachbardorfe  ein  Schweinchen- 
»gemopst*  hätten;  dann  aber  sollten  wir  dasselbe,  wahr- 
scheinlich, weil  wir  nicht  genau  wussten,  wie  es  schlachten, 
braten  oder  zu  Wurst  machen,  in  einen  Teich  gesetzt  haben. 
Das  Tierchen  schwamm  seelenvergnügt  zum  anderen  Ufer. 
Hier  wurde  es  sofort  von  einem  vorübergehenden  Handeis- 
manne in  Empfang  genommen  und  auf  die  Schulter  ge- 
laden, wohl  in  der  Absicht,  dasselbe  dem  Eigentümer 
zurückzubringen.  Uns  jedoch  kam  die  Sache  etwas  un- 
wahrscheinlich vor,  und  wir  schickten  zwei  Abgesandte 
unserer  Gesellschaft  auf  das  nächste  Bürgermeisteramt,  um 
den  ehrlichen  Wanderer  des  Schweinediebstahles  zu  zeihen^ 
Die  weitere  Folge  war,  dass  der  ursi>rüngliche  Besitzer 
sein  Vieblein  wiedererhielt 

Wie  viel  an  der  Sache  wahr  ist,  will  ich,  meiner  Kame- 
raden wegen,  nicht  verraten,  auch  nicht,  ob  wir  wirkh'ch 
die  Fenster  der  Schlosskirehe  eingeworfen  haben,  wie 
man  behauptete.  Genug,  dass  man  uns  dessen  für  fähig 
hielt.  Gegen  jeden  von  uns  wurden,  da  so  etwas  «denn, 
doch  über  die  Hutschnur  ging**,  gebieterische  Massregeln, 
ergriffen,  und  mir  untersagte  man  ein  für  alle  Mal,,  mit 
den  Jungen  zu  spielen. 

Nun,  das  war  nicht  so  schlimm.  Ich  hatte  genug 
gespielt  —  dass  ich  mich  mit  Mädchenumgang  entschädigeiv 
könnte,  der  Gedanke  ist  mir  nie  gekommen  —  jetzt  nahm. 


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—     298     — 

ich  meine  Zuflucht  zu  den  lieben  Büchern.  Ich  ging  in 
des  Vaters  BiWiothek  und  las  alles,  was  mir  in  die  Hände 
üel,  besonders  Kriegsgeschichten  und  Seeabenteuer. 

O^  weshalb  konnte  ich  nicht  Soldat,  weshalb  nicht 
Matrose  werden? 

Ich  will  nicht  behaupten,  dass  ich  besonders  gern 
lernte.  Ich  bewältigte  mein  Pensum  hauptsächlich  aus 
Ehrgeiz.  Das  Arbeiten  wurde  mir  leicht.  Etwas  einmal 
hören  oder  einmal  durchlesen,  und  die  Sache  sass,  blieb 
auch  haften.  Die  schriftlichen  Aufgaben  schüttelte  ich, 
sozusagen,  aus  dem  Aermel.  Aber  es  wäre  auch  oft  das 
einmalige  Durchlesen,  das  Ausdemärmelschütteln  unter- 
Jblieben,  wenn  es  mir  möglich  gewesen  wäre,  in  der  Klasse 
einen  anderen  Platz  als  den  ersten  innezuhaben. 

Wir  hatten  in  unserem  Städtchen  eine  kleine  Privat- 
schule für  Knaben.  Da  dieselbe  hauptsächlich  für  meine 
Vettern  —  meine  Brüder  waren  damals  noch  zu  jung  — 
und  auf  besondere  Verwendung  meines  Vaters  einge- 
richtet worden  war,  so  wurde  mir  die  Erlaubnis  erteilt, 
an  sämtlichen  Unterrichtsfächern  teilzunehmen.  Das  war 
-etwas  für  mich!  Natürlich  bestärkte  es  mich  noch  mehr 
in  dem  Glauben,  dass  ich  , eigentlich*  ein  Knabe  und 
kein  Mädchen  sei. 

Nebenbei  hatte  ich  Handarbeitsstunden,  Konversation 
4n  den  neueren  Sprachen,  usw.  Es  war  indessen  merk- 
würdig: Eine  so  gute  Schülerin  ich  in  den  Augen  meiner 
Lehrer  war,  eine  ebenso  unausstehliche,  trotzige,  eigen- 
^sinnige  war  ich  den  Lehrerinnen  gegenüber,  sobald  ich 
für  dieselben  nicht  , schwärmen"  konnte.  Und  zu  diesem 
Gefühle  riss  mich  nur  die  zwanzigjährige  Französin  fort, 
^-eil  —  sie  so  wunderbar  grosse  blaue  Augen,  so  herr- 
liches schwarzes  Haar  hatte,  überhaupt  so  schön  war. 
Ich  erfuhr  bald,  dass  die  Offiziere  der  Residenz  meinen 
<Te8chmack  teilten,  worauf  ich  nicht  wenig  stolz  war. 
Als  indessen  einer  derselben  meine  Angebetete  als  Gattin 


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—     299     — 

heimführte,  hätte  ich  diesen  am  liebsten  gefordert.  Nichts 
konnte  mich  bewegen,  zu  der  Hochzeitsfeierlichkeit,  zu 
welcher  ich  geladen  war,  zu  gehen.  Ich  schloss  mich  den 
halben  Tag  über  in  mein  Arbeitszimmer  ein  und  stampfte 
von  Zeit  zu  Zeit  heftig  auf  den  Boden.  Damals  war  ich 
14  Jahre  alt. 

Im  nächsten  Monat  sollte  unser  Klassenunterricht 
ein  Ende  haben.  Die  Knaben,  meist  älter  als  ich,  hatten 
ihr  Einjährigen-Zeugnis  „in  der  Tasche*  und  bezogen 
das  Gymnasium  einer  grösseren  Stadt.  Und  ich,  die  ich 
das  beste  Examen  gemacht  hatte?  Ich  wurde  nicht 
aufgenommen,  weil  —  ich  ein  Mädchen  war.  Das  war 
die  erste  wirkliche  Enttäuschung  meines  Lebens.  Weinen 
lag  nicht  in  meiner  Natur.  Ich  musste  handeln,  trotzen. 
Ich  wollte  dennoch  meine  Abiturientenprüfung  bestehen, 
und  noch  früher  als  meine  Freunde. 

So  verschaflFte  ich  mir  den  Lehrplan  der  betreflPen- 
den  Schule  und  arbeitete  mit  Hülfe  meines  Vaters  nach 
demselben.  Nebenbei  trieb  ich  Musik,  in  welcher  ich  es 
jedoch  nie  zur  Vollkommenheit  gebracht  habe.  Eines 
Tages  hörte  ich,  wie  die  ganze  Stadt  in  Aufregung  war, 
da  eine  Dame  aus  der  Gesellschaft,  welche  mir  sehr  wohl 
bekannt,  in  dem  jugendlichen  Alter  von  achtzehn  Jahren 
ihr  Lehrerinnenexamen  gemacht  habe. 

^Wenn  es  weiter  nichts  ist!"  dachte  ich,  ging  zu  der 
Vorsteherin  der  betreflTenden  Bildungsanstalt  und  liess 
mich  von  dieser  zunächst  privatim  prüfen.  Mir  wurde 
der  Bescheid,  dass  ich  wohl  die  nötigen  Kenntnisse  habe, 
aber  nicht  das  vorgeschriebene  Alter.  Selbst  für  die 
Aufnahme  in  die  Selekta  sei  ich  noch  zu  jung.  Was  thnn? 
Warten  hiess  die  Losung!  Ich  hatte  mir  einmal  vor- 
genommen, auch  dieses  Examen  zu  bestehen,  und  darum 
liess  sich  nichts  an  der  Sache  ändern. 

Dass  man  mir,  gleichfalls  wieder  privatim,  die 
Abiturientenprüfung  abnahm  —  noch  bevor  meine  frühereu 


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-     300     — 

Spielkamerad eu  fertig  waren  —  wurde  mit    vieler  Mühe 
durchgesetzt. 

Nun  ging  es  nach  der  Schweiz,  um  mich  für  das^ 
Universitätsstudium  zu  immatrikulieren.  Zunächst  hiesa 
es  »Philologie*.  Ich  musste  ja  noch  das  Lehrerinnen- 
examen machen.  Dieses  wurde,  nachdem  ich  „das  vor- 
geschriebene Alter*  glücklich  erreicht  hatte,  glänzend 
absolviert.  Bei  der  Prüfung  hörte  ich  die  Bemerkung, 
dass  jedes  einigermassen  begabte  Mädchen  nicht  auf 
halbem  Wege  stehen  bleiben  dürfe,  d.  h.  dass  dasselbe 
selbstverständlich  auch  die  Schulvorsteherinnenprüfung 
machen  müsse. 

Ich  erkundigte  mich  sofort  nach  den  Bedingungen 
und,  o  Schreck!  erfuhr,  dass  fünf  Jahre  Unterrichts- 
praxis, worunter  zwei  an  einer  öffentlichen  Schule,  ver- 
langt würden.  Jetzt  war  guter  Rat  teuer.  Doch  nicht 
lange.  Aufgeschoben  ist  ja  nicht  aufgehoben.  Adieu  vor- 
läufig schöne  Studentenzeit,  Freiheit  und  Jugendtollheit! 
Nun  zunächst  die  Brille  auf  die  Nase  gesetzt  —  ich  be- 
sann mich  rechtzeitig  eines  Besseren  und  unterliess  e^^ 
denn  ich  bin  durchaus  nicht  kurzsichtig  — ,  das  Antlitz 
in  ehrbare  Falten  gelegt  und  unsere  Heranwachsenden 
auf  den  Weg  der  Tugend  und  Wissenschaft  geführt,  den- 
selben als  glänzendes  Muster  vorangeleuchtet! 

Vor  dem  engeingegrenzten  Schulleben  hatte  ich 
rechte  Angfet;  aber  es  musste  ja  nicht  sogleich  sein.  Ich 
konnte  während  der  drei  ersten  Jahre  eine  Erzieherinnen- 
stelle annehmen,  trotzdem  man  mir  sehr  davon  abriete 
Indessen  hörte  ich  auf  keine  Vorstellungen,  bin  ich  doch 
stets  meinen  ersten  Eingebungen  gefolgt  und  habe  somit 
die  Wahrheit  des  Sprichwortes  erfahren:  »Dem  Mutigen 
gehört  die  Welt*. 

Auch  dieses  Mal  gelang  es  mir  wieder.  Ich  fand 
eine  beneidenswerte  Stelle,  hatte  eine  vorzüglich  begabte 
Schülerin,  wenig  Arbeit,    ein   ideales  Familienleben    und 


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—     301     — 

herrliche,  köstliche  freie  Zeit  Dieselbe  benutzte  ich 
liauptsächlichy  um  mich  der  Schriftstellerei  hinzugeben 
in  welche  ich  schon  seit  meinem  —  zwölften  Jahre  hinein- 
gepfuscht hatte. 

Freilich  musste  ich  mich  zuweilen  losreissen,  um  die 
Lieben,  mit  denen  ich  zusammenlebte,  nicht  damit  zu 
kränken,  dass  ich  mich  ganz  von  der  Geselligkeit  zurück- 
zog. Ich  fuhr  zu  Diners  auf  die  Nachbargüter,  tu  Abend- 
Unterhaltungen,  sogar  zu  Bällen.  Und  da  ich  ein  fideles^ 
ausgelassenes  Ding  war,  welches  ich  übrigens  noch  jetzt 
bin,  amüsierte  ich  mich  stets  königlich,  wurde  überall 
gern  gesehen  und  hatte  genügend  Anbeter. 

—  „Ah,  ha!*  wird  man  sagen,  „endlich!  Es  ist  zu 
langweilig,  immer  und  immer  niu*:  Das  that  ich  —  das 
machte  ich  —  und  dergl.  —  und  dergl.  Gar  nichts  von 
Liebe?  ** 

Nur  Geduld!  Das  sogenannte  Gefühlsleben  habe  ich 
mir  bis  zuletzt  aufgespart.  Erst  den  Hafer  fertig  ge- 
droschen, die  Schablone  zu  Ende  gezirkelt!  Es  währt 
nicht  mehr  lange. 

Rechte  Trauer  empfand  ich,  als  die  herrlichen  drei 
Jahre  vorübergeflogen  waren.  Gern  wäre  ich  länger  bei 
den  mir  sehr  teuer  gewordenen  Personen  geblieben.  Aber 
durfte  ich  es  denn?  War  denn  nicht  mein  Aufenthalt 
hier  nur  Mittel  zum  Zwecke?  Nein,  nein,  es  ging  nicht! 
Ich  widerstand  energisch  allen  Bitten;  denn  ich  wollte 
mein  Ziel  nicht  aus  dem  Auge  verlieren. 

Also  nur  zu!  Hinein  in  das  wahre  Philistertum! 
Eine  Stelle  als  Lehrerin  war  schnell  gefunden,  und  ich 
gewöhnte  mich  rascher  an  meinen  neuen  Beruf,  als  ich 
gedacht  hatte.  Stand  ich  vor  der  Klasse,  so  war  ich 
Schulmeister,  nichts  als  das  —  ich  muss  dieses  Talent 
wohl  geerbt  haben  — ;  hatte  ich  die  Zöglinge,  welche 
mit  einer  wahren  Begeisterung  an  mir  hingen,  verlassen, 
so  war  ich  wieder  eine  ganz,  ganz  andere. 


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—     302     — 

Da  ich  in  meiner  Freizeit  fleissig  schrieb,  so  waren 
die  £wei  Jahre  unmerklich  dahingeschwunden.  Das  Vor- 
steherinuenexamen  wurde  gemacht,  und  —  hurra,   hurra! 

—  zurück  ging  es  zum  fröhlichen  Studentenleben! 

Wie  ich  dasselbe  zugebracht?  Nun:  Wie  alle.  In 
der  ersten  Zeit  gebummelt,  gekneipt,  gespielt,  die  Freiheit 
in  vollen  Zügen  ausgekostet,  auf  die  Eerge  geklettert  etc.! 
Ich  bin  eine  enthusiastische  Naturschwärmerin,  und  eine 
schöne  Landschaft  kann  mich  bis  zur  Tnmkenheit,  bis 
zum  Wahnsinn  begeistern.  Ueberhaupt  erfasse  ich  mir 
sympathische  neue  Eindrücke  mit  einer  inneren  Glut, 
einer  Leidenschaft,  die  sonderbar  mit  meiner  äusseren 
Kälte  und  Ruhe  kontrastieren.  Man  sollte  meinen,  dass 
etwas  in  dieser  Weise  Aufgenommenes  schnell  ver- 
schwinden, rasch  verwischt  werden  müsste.  Nein,  es 
bleibt;  es  haftet  mit  demselben  Feuer,  welches  keiner 
Steigerung  mehr  fähig  ist 

Der  zweite  Teil  des  Universitätsprogramms  ist  jedoch: 
Arbeiten.  Ich  hatte,  neben  Astronomie  und  alten  Sprachen, 
jetzt  die  Medizin  als  Hauptstudienfach  ergriffen  und 
wollte  auch  hier  meinen  männlichen  Herren  Kollegen 
nicht  im  Wissen  und  Können  nachstehen.  So  machte 
ich  denn  ein  recht  gutes  Examen  und  Hess  mich  als 
,  Privatgelehrte  **  in  einer  der  idyllischsten  Gegenden 
unseres  Vaterlandes  nieder,  wo  ich  vereint  mit  »Ihr"  noch 
heute  ein  Leben  führe,  wie  es  im  Eden  nicht  himmlischer, 
nicht  seliger  sein  kann. 

Aber  es  gehört  Mut,  viel  Mut  dazu.  Habt  denselben, 
meine  Mitschwestem,  zeigt,  dass  Ihr  ebenso  gut  existenz- 
und  liebeberechtigt  seid,  wie  die  ^ normalfühlende*'  Weltt 

—  Trotzt  derselben,  und  man  wird  Euch  dulden,  man 
wird  Euch  anerkennen,  und  man  wird  Euch  sogar  be- 
neiden! Die  Waffen  hoch!  Es  muss  und  es  wird  ge- 
lingen. Ich  habe  es  erreicht.  Weshalb  sollte  es  Euch 
nicht  allen,  allen  gelingen? 


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—     303    — 

„Aber",  höre  ich  erwidern,  ,du  bist  in  Deutschland.. 
Denke  an  die  in  Oesterreich!  Ach,  hättest  du  eine- 
Ahnung  von  den  Qualen,  den  Kämpfen,  der  Angst  derer,, 
die  beständig  das  Damoklesschwert  des  Gesetzes  über 
sich  schweben  sehen!* 

Ihr  Armen,  Armen!  Wann  wird  Euch  die  Stunde 
der  Erlösung  schlagen  ?  Wann  wird  sie  unsem  Brüdern 
schlagen,  die  mit  uns  das  Geschick  haben,  Ausnahmen* 
von  der  alltäglichen  Schablone,  von  dem  uralten,  ewigen- 
Naturgesetz  zu  sein?  £ann  Mutter  Natur  sich  denn 
irren?  Dürfen  wir  überhaupt  von  Ausnahmen,  krank- 
hafter Veranlagung  und  Aehnlichem  sprechen?  £önnten^ 
wir  nicht  eher  eine  , Absicht*  als  eine  „Zufälligkeit"  sein? 
Ueber  alle  diese  Fragen  ist  schon  so  unzählige  Male  ge- 
stritten worden  und  wird  noch  so  unzählige  Male  ge- 
stritten werden,  dass  ich  heute  nicht  näher  darauf  ein- 
gehen mag.  Werft  mir  nur  den  Handschuh  hin!  Ich 
hebe  ihn  auf  und  werde  Euch«  die  Antwort  nicht  schuldig 
bleiben. 

Hoch  die  Waffen!  Bis  er  fällt,  dieser  Unglücks- 
paragraph! Wie  viel  Elend  hat  er  schon  angerichtet^, 
wie  viel  Kummer  verursacht!  Warum  sollen,  warum 
müssen  die  Unschuldigen  leiden,  ^die  der  Himmel  auch 
fühlend  schuf",  jedoch  in  einer  Weise,  welche  die  All- 
täglichkeit nicht  begreifen  will?  Wohlverstanden!  Ich 
verlange  keine  Ausnahmsmoral.  Was  ich  fordere,  ist 
Menschlichkeit,  Unparteilichkeit,  gleiches  Recht  für  alle. 

Doch :  Ich  versprach,  einige  Züge  aus  meinem  Liebes- 
leben zu  geben.  Kurz  gesagt:  Ich  hatte  nie  geliebt  und 
glaubte  mich  frei  von  aller  , Gefühlsduselei*,  aller  Sinn- 
lichkeit, bis  ich  vor  einigen  Jahren  derjenigen  begegnete^, 
welche  von  der  Zeit  ab  alle  meine  Sinne  gefangen  nimmt, 
der  mein  Leben  geweiht  sein  wird  bis  zum  letzten  Atem- 
zuge. 

»Nicht  Männerliebe    darf  dein    Herz    berühren    mit 


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—    304    — 

-sünd'gen  Flammen  eitler  Erdenlust",  so  dachte  ich  oft, 
wenn  die  grosse  Frage  an  mich  herantrat:  ^Willst  du 
-die  Meine  werden?  Willst  du  mir  folgen  durch  die  Stürme 
des  Lebens?* 

«Nein  und  abermals  nein!"  sagte  ich  mir  stets. 
Warum?  Ich  wusste  es  selbst  nicht.  Ich  fühlte  ein 
-etwas,  welches  mich  mit  magischer  Gewalt  zurückhielt, 
und  ich  bin  diesem  ^ etwas*  sehr,  sehr  dankbar.  Ich 
lachte  über  Liebe  und  hielt  das  Ganze  für  albernes  Zeug, 
für  eine  Erfindung  des  müssigen  Dichtergeistes,  obwohl 
ich  selbst  dichtete  und  mich  zuweilen  ins  schwärmerische 
Fach  verstiegen  hatte. 

War  es  doch  auch  zunächst  die  hässliche  Form,  in 
welcher  die  Liebe  an  mich  herantrat!  Er  war  vermählt. 
Ich,  kaum  vierzehn  Jahr  alt^  war  seine  Schülerin  gewesen. 
Mein  Geist,  meine  schnelle  Auffassungsgabe,  meine  Talente 
hatten  ihn  geblendet.  In  einer  Stunde,  welche  er  mir 
-allein  gab,  liess  er  sich  von  seiner  Leidenschaft  hinreissen. 
Ich  lief  in  der  Bestürzung  davon,  war  indessen  so  harm- 
los, dass  ich  mich  bald  fragte,  warum  ich  denn  geflohen^ 
ob  es  nicht  Pflicht  und  Schuldigkeit  gewesen  wäre,  meinem 
fast  vergötterten  Erzieher  den  Kuss  der  Dankbarkeit  zu 
geben.  Glücklicherweise  besass  er  Ehrgefühl  genug, 
sich  sofort  versetzen  zu  lassen.  Was  hätte  daraus  ent- 
stehen können?  Mich  schauderte  später  bei  dem  Gedanken. 

Dann  boten  sich  mehr  oder  weniger  annehmbare 
Partien.  Wir  Konträrsexuelle  sind  oft  von  Bewerbern 
und  Anbetern  umgeben.  Was  man  nicht  erreichen  kann, 
das  reizt.  Eine  Festung,  welche  sich  erst  nach  dem 
hundertsten  Sturme  ergiebt^  hat  auch  den  hundertfachen 
Wert. 

Und  leider,  leider  ergeben  sich  die  meisten  von  uns 
schliesslich  doch.  Fast  alle  Konträrsexuellen  heiraten. 
Ihr  seht  mich  verdutzt  an  und  wollt  mir  wohl  gar  heftig 
antworten?    Ihr  wenigen  Unvermählten,   welche  Ihr  die 


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—    305     — 

Schrift  lest?  Seht  Euch  vor !  Hütet  Euch !  Ich  warne  recht- 
zeitig. Vielleicht  wird  auch  einmal  die  Reihe  an  Euch  kom- 
men. Doch  Ihr  seid  es  weniger,  für  die  ich  fürchte,  Ihr 
Wissenden,  Eingeweihten  und  Sehenden.  Ich  halte  Euch  für 
mutig  genug,  selbst  das  bischen  Lebensunterhalt  zu  er- 
werben, für  welches  sich  tausende  imd  abertausende  ver- 
kaufen. Auch  werdet  Ihr  nicht  so  kleinlich  sein,  Euch 
des  armseligen  Spottes  wegen,  der  einer  „alten  Jungfer" 
anhaftet,  in  das  Joch  der  Ehe  mit  einem  Geschöpfe  zu 
stürzen,  welches  Ihr  nicht  verstehen  und  lieben  könnt, 
welches  sein  gebieterisches  „Er  soll  dein  Herr  sein"  schon 
vom  ersten  Augenblicke  Eurer  Verbindung  an  zur  Geltung 
bringen  möchte. 

Warum  übrigens  immer  noch  in  unserer  aufgeklärten 
Zeit  das  Vorurteil  gegen  „die  alte  Jungfer",  welches  viel, 
sehr  viel  Unheil  anrichtet?  Einer  der  Hauptgründe 
dürfte  der  sein,  dass  man  leider  noch  zu  wenig  mit  dem 
Wesen  des  Konträrsexualismus  vertraut  ist,  dass  man  nichts 
von  der  Ehe  derjenigen  versteht,  welche  scheinbar  gleichen 
Geschlechtes  sind.  Man  sollte  bedeutend  mehr  einschlä- 
gige Schriften  lesen.  Ich  hatte  das  Glück,  dass  mir  wäh- 
rend meines  medizinischen  Studiums  verschiedene  Sachen 
von  Krafft-Ebing  in  die  Hand  fielen. 

O,  wie  schaute  ich  auf!  Wie  wurden  mir  die  Augen 
geöfinet!  Wie  leicht,  wie  zielbewusst  fühlte  ich  mich 
nach  der  Lektüre!  Jetzt  war  es  mir  klar,  dass  ich  nie, 
nie  einen  Mann  heirathen  dürfe.  Ich  legte  mir  Rechen- 
schaft über  mein  bisheriges  Leben  ab,  erkannte  meine 
vollständige  Kälte  dem  anderen  Geschlechte  gegenüber 
und  gestand  mir  ein,  dass  mich  manches  Weib  durch 
Schönheit,  Anmut,  Grazie,  auch  durch  natürlichen  Ver- 
stand, bezaubert,  wenn  auch  noch  nicht  zur  Liebe  hinge- 
rissen hatte. 

Ich  wollte  wachsam  bleiben  und  die  Augen  offen  be- 

Jabrbuch  III.  20 


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—     306    — 

halten.     Der   aufmerksam   um    sich  Blickende  wird    de» 
Weg  nicht  verfehlen. 

Aber,  ach!  Wie  viele  liegen  noch  im  Unbewusstsein^ 
ohne  Ahnung  von  ihrem  wahren  Zustande?  Und  diese  sind 
es,  für  die  ich  zittere.  Sie  suchen  sich  unter  ihren  ver- 
schiedenen  Bewerbern,  aus  einem  der  oben  angegebenen 
Gründe  oder  aus  einem  anderen,  denjenigen  aus,  welcher 
ihnen  als  die  vorteilhafteste  Partie  erscheint,  nehmen 
auch  wohl  den  ersten  besten  und  geben  sich  der  sanften 
Hoffnung  hin;  „Die  Liebe  kommt  in  der  Ehe.*  Aber 
ach!  ach! 

Ich  schweige  von  dem  Leide,  welches  folgt^  und  das 
ich  so  oft  Gelegenheit  hatte  mit  anzusehen.  Wohl  giebt 
es  einige  unter  uns,  die  Phantasie  genug  besitzen,  sich 
in  die  Arme  der  angebeteten  Freundin  hinein  zu  träu- 
men, während  sie  in  denen  des  Mannes  liegen.  Ja  eine 
Bekannte  beichtete  mir  sogar,  dass  sie  auf  diese  Weise 
zweimal  Mutter  geworden  sei.  O  über  solchen  Schein,, 
solche  Heuchelei,  solchen  Betrug!  — 

Von  meiner  Ehe  zu  sprechen  —  so  bezeichne  ich 
absichtlich  mein  Verhältnis  zu  meiner  teuren  Freundin 
— ,  zögere  ich  immer  wieder,  weil  mir  dieselbe  zu  heilig 
erscheint;  aber  es  würde  unrecht  sein,  etwas  zu  verheim- 
lichen. Ich  lernte  ^sie*  auf  einem  Waldfeste  kennen. 
Die  Natur  hatte  mich  berauscht.  Am  Ufer  des  See's 
wollte  ich  mich  ausstrecken,  um  ungestört  mein  erhitzte» 
Innere  zu  beruhigen.  Da  lag  ^sie**  unter  einer  Eiche,, 
ganz  in  Rosa  gekleidet 

Nicht  weiter!  Das  Ganze  ist  so  märchendufüg^ 
so  thaufrisch,  dass  man  die  Erzählung  schliesslich  ftir 
einen  Roman  halten  könnte. 

Sie  war  vermählt.  Ich  machte  alle  Stürme  der 
Eifersucht,  der  Verzweiflung  durch,  wollte  mit  ihr 
fliehen,  sie  entftihren,   und  musste  mir  doch   sagen,   dass 


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-    307     — 

ich  kein  Recht  dazu  habe.  Ich  erfuhr  auch  erst 
nach  dem  Tode  ihres  Gatten,  welcher  plötzlich  auf 
der  Jagd  erfolgte,  dass  sie  mir  gleichfalls  in  Liebe 
zugethan.  Von  diesem  Augenblicke  an  leben  wir 
zusammen  als  Ehepaar.  Mein  holdes,  trautes  Weib- 
chen schaltet  und  waltet  in  unserem  gemütlichen  Heim 
als  echte  deutsche  Hausfrau,  und  ich  arbeite  und  er- 
werbe für  uns  beide  als  thatkräftiger,  lebensfroher  Mann. 

E.    Krause. 


20* 


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Wie  ich  es  sehe. 

Von  Frau  M.  F. 

Sei  stark  —  wirf's  in  die  Welt!  — 

In  der  Schule  schwärmten  alle  Mädchen  für  den 
Literaturlehrer  —  ich  nicht.  Mir  verursachte  die  fran- 
zösische Lehrerin  Herzklopfen.  Sie  war  nur  für  ein  Jahr 
engagiert,  während  dieser  Zeit  stürzte  ich  mich  mit  Feuer- 
eifer auf's  Französische.  Als  sie  die  Stadt  verliess,  ward 
mir  so  jämmerlich  und  elend  zu  Mute,  dass  ich  selbst 
nichts  mit  mir  anzufangen  wusste.  Dann  kam  lange  Zeit 
nichts.  Ich  wuchs,  das  war  Alles.  —  Zunächst  belebte 
mich  wieder  eine  Lehrerin.  Diesmal  war's  eine  Eng- 
länderin, die  zu  uns  ins  Haus  genommen  war.  Ich  zählte 
etwa  14  Jahre.  Miss  Mary  weckte  alle  weichen,  zärt- 
lichen Regungen  in  meinem  Herzen.  Es  gab  keine 
willigere  Schülerin,  keine,  die  eifriger  war,  keine,  die 
schnellere  Fortschritte  machte.  Allmählich  lebte  ich  nur 
durch  die  selbst  noch  junge,  blonde  Fremde,  die  sich 
ebenfalls  in  heisser  Sympathie  mir  zuneigte.  Wir  lasen 
Elise  Polko's  „Musikalische  Märchen"  und  der  Himmel  hing 
uns  voller  Geigen.    Nach  zwei  Jahren  hiess  es :  Scheiden. 

Ich  glaube,  gemeinhin  unterschätzt  man  die  Leidens- 
fähigkeit eines  Kindes.  Wenn  ich  jetzt  zurückschaue, 
wie  ich  damals  durch  die  Wälder  stürmte,  so  empfinde 
ich  förmliches  Mitleid  ob  der  zuckenden  Herzschläge, 
die  die  arme  Kleine  in  Not  und  Verzweiflung  jagten. 

Wieder  folgte  eine  Weile  nichts.  Die  sogenannten 
»Verehrer*    kamen    mir  immer  nur  komisch  vor.     Dann 


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—    309    — 

heiratete  ich  mit  17  Jahren.  Ich  glaube,  ich  galt  für  ein 
herziges  Ding,  dem  raan  leicht  gut  sein  konnte.  Wir 
waren  viele  Kinder  daheim,  vom  „Beruft  war  zu  jener 
Zeit  bei  Mädchen  noch  kaum  die  Rede,  also  fort  mit  ihnen. 
Trotz  aller  elterlichen  Liebe  war  jedes  doch  ein  Esser 
mehr  im  Hause.  —  Wenn  mein  Bräutigam  nicht  zärtlich, 
war  ich  ganz  zufrieden,  sollte  doch  meine  Ehe  die  Brücke 
zu  einem  Wiedersehen  mit  Miss  Mary  bilden.  Das  Hess 
mir  Alles  in  rosigem  Schimmer  erscheinen.  —  Meine 
geistige  Entwicklung  nahm,  so  weit  ich  mich  zurück  er- 
innere, zu  jener  Zeit  keine  grossen  Wandlungen  an.  Ich 
war  immer  noch  nicht  ich  selbst  geworden,  aber  ich  litt 
nicht  etwa  tief  unter  der  dicken  Decke  fremder  Farbe, 
die  an  mir  klebte.  Ich  war  Gattin  und  Mutter  und  — 
nichts,  —  trotz  alledem. 

Jahrelang  hatte  ich  die  Engländerin  nicht  gesehen, 
als  mir  eine  Oesterreicherin  begegnete,  ein  Geschöpf,  das 
in  Allem  scheinbar  das  strikteste  Gegenteil  von  mir. 
Alles  trennte  uns:  Sie  die  Kraft,  ich  die  Weichheit;  sie 
rücksichtslos  bis  zur  Brutalität,  wenn  es  galt,  sich  durch- 
zusetzen, ich  schwach  bis  zur  Feigheit  in  dem  gleichen 
Falle.  Nichts  schien  uns  zu  vereinen:  Sie  blauestem  Ge- 
blüt entstammend,  ich  Jüdin.  Dennoch  war  etwas  von 
Anbeginn  stärker  als  alle  Schranken.  Wir  begegneten 
uns  auf  rein  geistigem  Felde  und  wurden  zur  Notwendig- 
keit Eine  für  die  Andere.  Ich  wusste  nicht,  dass  leiden- 
schaftliche Freundschaft  so  einschneidend  in  ein  Leben 
eingreifen  konnte. 

Nur  wenige  Wochen  blieben  wir  vereint,  dann  begann 
ein  Briefwechsel,  der  an  Eigenart  durch  Jahre  hinaus 
nichts  zu  wünschen  übrig  liess.  Meiner  Freundin  Feder 
trug  Alles  zu  mir,  was  auf  literarischem  Gebiete,  in  Poli- 
tik, in  Kunst  imd  Wissenschaft  sich  ereignete.  Zärtlich- 
keitsausbrüche ihrerseits  existierten  kaum.  „Du  bist  da 
und  mein  Geschöpf',  das  schien  ihr  so  selbstverständlich. 


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—     310    — 

dass  nie  daran  gerüttelt  wurde.  —  Was  ich  ihr  zu  sagen 
hatte,  war  stets  in  eine  Hülle  zarter  Hingebung  gekleidet. 
Anfangs  wusste  ich  manchmal  gar  nicht,  was  schreiben. 
Aber  nach  und  nach  gewann  mein  Geist  Ej'aft,  meine 
Seele  Flügel,  meine  Brust  weitete  sich,  meinem  Auge  er- 
glänzte allmählich  eine  neue  Welt.  —  Jahre  kamen  und 
gingen.  Die  Kunst  umschlang  uns  mit  stärkstem  Bande, 
ich  stets  bereit,  den  Regungen  ihrer  Künstlerseele  nach- 
zuspüren, ihre  Leiden  zu  tragen,  ihre  Erfolge  zu  bejubeln. 
So  gewann,  was  zuerst  Anempfindung  gewesen,  eigenes 
Leben.  Keime,  die  brach  gelegen,  begannen  kraftvoll  in 
mir  zu  spriessen.  Freuden  und  Leiden  lehrte  sie  mich 
kennen. 

Sonderbar  blieb  es,  dass  meiner  Freundin  Anwesen- 
heit für  mich  durchaus  nie  eitel  Sonnenschein  brachte. 
Im  Gegenteil.  Trotz  der  Freude,  sie  einige  Tage  oder 
Wochen  um  mich  zu  wissen,  zuckten  meine  Nerven  gerade 
dann  in  unbegreiflicher  Rebellion  —  entweder  ich  weinte 
oder  ausgelassene  Heiterkeit  umfing  mich.  Ich  wusste 
mich  nicht  Herr  dieser  rätselhaften  Stimmungen.  Erst 
getrennt  von  ihr  erstarkte  wieder  meine  Kraft. 

Einst,  als  wir  wieder  nach  kurzem  Beisammensein 
schieden,  schlenderte  ich,  da  mein  Zug  erst  etliche  Stun- 
den später  fällig,  durch  die  Strassen  Leipzigs.  Der  Ab- 
schied lag  mir  dumpf  und  bleiern  in  den  Gliedern,  gleich- 
zeitig fühlte  ich  mich  unbefriedigt  —  leer  —  einsam. 
Vor  einem  Buchladen  blieb  ich  stehen.  Mein  Auge 
streifte  die  Titel  der  Bücher.  ,Die  Enterbten  des  Liebes- 
glückes*, was  hiess  das?  Magnetisch  zogen  mich  die 
Worte  an,  deren  Bedeutung  mir  vollständig  rätselhaft. 
Dunkel  dämmerte  etwas  in  mir  auf,  dass  mich,  gerade 
mich  eben  dieses  Buch  interessieren  müsse.  Sollte  ich 
es  kaufen?  Ich  schwankte.  Eigentlich  graute  mir  vor 
dem  unbekannten  Inhalt,  und  doch  —  und  dennoch  — 
zitternd  hielt   ich  es  in  Händen  —  zitternd,  als  ob  mein 


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—    311     — 

Todesurteil  fallen  sollte,  durchflog  ich  die  Seiten  —  eilte 
zur  Bahn^  riss  die  Blätter  mitten  durch  und  warf  sie  aus 
•dem  Zuge.  Am  liebsten  wäre  ich  ihnen  nachgesprungen. 
Ein  wirres,  verworrenes  Bild  war  mir  in  die  Seele  ge- 
;glitten,  etwas  von  „in  Wahnsinn  enden  oder  von  Selbst- 
mord^ hatte  ich  behalten.  Ich  war  damals  32  Jahre  alt. 
Der  Abschied,  die  sommerliche  Glut  hatten  meine 
Nerven  ohnehin  gepeinigt  —  dies,  vereint  mit  den  Ein- 
drücken des  Buches^  warf  mich  auPs  Krankenlager. 
Sterben  —  schien  mir  nach  der  Enthüllung  das  letzte 
Olück,  die  einzige  Lösung.  Ja,  ich  wollte  sterben  — 
«ber  —  ich  starb  nicht.  Fortgesetzt  schüttelte  mich 
wirres  Entsetzen,  dem  mein  Verstand  thatsächlich  leicht 
jBum  Opfer  hätte  fallen  können.  Dennoch  genas  ich. 
Wie  ein  dunkler  Traum  entschwand  das  Buch,  an  das 
mich  äusserlich  nichts  erinnerte,  meinem  Gedächtnis.  An- 
fangs hatte  ich  wohl  versucht,  die  Freundin  aufzugeben, 
Als  ich  aber  der  den  Zusammenhang  nicht  Ahnenden  etwas 
^om  „Aufhören  und  Ende  machen"  schrieb,  lachte  sie 
mich  einfach  aus.  So  blieb  Alles  beim  Alten.  Bald 
nachher  erglühte  sie  für  einen  Mann.  Ich  litt  alle  Mar- 
tern der  Eifersucht,  obgleich  ich  überzeugt  war,  der 
-Grösse  meines  Empfindens  würde  kein  Mensch  stand 
halten.  Niemand  könne  je  den  Spuren  ihres  Geistes 
folgen  gleich  mir.  —  Leise  und  allmählich  vollzog  sich 
in  mir  dann  die  Wandlung,  voll  uod  ganz  erfuhr 
ich  das:  «Ich  suchte  Dich  und  hatte  mich  gefunden."  — 
Mich  —  mich  —  voll  zagen  Staunens,  starr  fühlte  ich 
mein  Königtum.  Alles  war  aufgegangen,  jedes  Samen- 
korn, ihrem  Einfluss  entsprossen,  trug  Frucht.  Und  wonne- 
voll dehnte  ich  die  Glieder.  Nichts  mehr  von  qualvollen 
Schauern  —  von  Angst  und  Pein.  Meine  tief  innerste 
Veranlagung,  die  Alles,  was  das  Dasein  mir  an  Werden 
und  Wachsen  beschieden,  vom  Weibe,  von  Wesen  des 
■eigenen  Geschlechtes  empfangen,  schreckte  mich  nimmer 


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—    312    — 

Eine  fast  selige  Gewissheit  überkam  mich:  Ich  unter- 
schied so  viel  seelische  Hoheit  und  Lauterkeit  in  meinen 
Empfindungen^  dass  ich  lächelnd  auf  all'  den  Schlamm 
und    Schmutz  sah^    den    das  Leben    fast    überall    bereit 

hält 

Ich  bin  keiner  Lebenswerte  verlustig  gegangen.  Im 
Gegenteil.  Eine  vielseitige,  schattierungsreiche  geistige 
Sympathie  bringt  der  hochstehende  Mann  mir  entgegen. 
Ich  lehrte  unbewusst  Viele,  dass  eine  Seele  lieben  tiefen 
Zauber  einschliesst.  Meine  Freunde  haben  mich  nötig. 
Ich  teile  ihre  Interessen,  eine  schöne  freiere  Form  waltet 
im  Verhältnis  von  mir  zu  ihnen,  ja  die  wundersame  Nu- 
ance sympathischer  Gefühle,  die  der  Franzose  so  aus- 
gezeichnet „Pamitie  amoureuse*  bezeichnet,  löst  meine 
Wesensart  sichtlich  oft  im  Manne  aus,  eine  besondere 
Melodie  schwingt  zwischen  ihm  und  mir.  Und  eine  be- 
sondere Melodie  erklingt  in  der  Stille  meiner  Seele:  Alle 
feinen,  zarten  Sensationen,  die  die  Freundin  mir  gegeben^ 
verdichten  sich  mir  zur  Schaffenskraft  —  die  Ekstasen 
meiner  Brust  nehmen  Form  und  Gestalt  an;  aus  der 
Vergeistigung  der  Triebe  strömt  mir  ein  silbern  klarer 
Quell,  sprudeln  mir  Leidenschaft  und  Glut,  meine  Aus- 
nahmsseele hebt  mich  aufwärts,  über  I^eiden  und  Qualen 
hinweg;  so  ist  ein  Talent  gezeugt  und  in  Wonneschauern 
geboren. 


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Vom  Weibmann  auf  der  Bühne. 

Eine  Studie  von  Dr.  med.  W.  S. 

Eine  neuerdings  sehr  beliebte  „Attraktion"  unserer 
Speziali  tat  entheater  ist  der  als  Dame  verkleidete  Mann, 
der  sich  bald  Damenimitator,  bald  Damcndarsteller,  bald 
Soubrettenparodist,  bald  Soprausänger  nennt,  in  jedem 
Falle  aber.seine  Haupttriumphe  nicht  sowohl  durch  seine 
gesangskünstlerischen  Leistungen  (obwohl  diese  zum  Teil 
sehr  respektable  sind),  als  durch  die  graziöse  Art  feiert, 
womit  er  Damenkleider  zu  tragen  und  im  Auftreten, 
Gestus  und  sonstigen  Gehaben  die  Weiblichkeit  mehr 
oder  weniger  geschickt  nachzuahmen,  über  sein  wahres 
Geschlecht  zu  täuschen  versteht.  Die  Sache  ist  eine  an- 
genehme und  für  Leute,  die  guten  Humor  besitzen  und 
nicht  a  priori  in  jedem  Mann  im  Weiberrock  etwas  ihr 
ästhetisches  und  moralisches  Empfinden  Verletzendes  er- 
blicken, sehr  unterhaltende  Spielerei,  die,  mit  Geschick 
und  Temperament  durchgeführt,  in  die  Programme  der 
Spezialitätentheater,  Quartettsängergesellschaften  etc.  eine 
aparte  und  frische  Abwechselung  hineinträgt.  Dass  diese 
Spezialität  (sie  wird  in  Frankreich  und  England  übrigens 
weit  mehr  kultiviert,  als  z.  Zt.  noch  bei  uns  in  Deutsch- 
land) auch  in  psychopathischer  Hinsicht  vieles  Interessante 
darbietet,  das  eine  Behandlung  dieses  Gegenstandes  in 
unserem  „Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen^'  gerecht- 
fertigt erscheinen  lässt,  soll  im  Folgenden  zu  beweisen 
versucht  werden. 


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—     314    — 

Der  Wunsch,  sich  als  Mädchen  zu  verkleiden,  ist  in 
gewissen  Jahren  auch  bei  denjenigen  Jungen,  die  nicht 
im  Entferntesten  zur  Homosexualität  neigen,  die  vielmehr 
später  als  wirkliche  Repräsentanten  robuster  Männlichkeit 
auftreten,  weit  verbreitet.  Eine  gewöhnliche  Frage  an 
die  katholischen  Knaben  bei  der  Ohrenbeichte  lautet: 
„Hast  du  etwa  Mädchenkleider  angezogen?  Wann?  Wie 
oft?"  die  der  so  Interpellierte  meist,  wennschon  unter 
Erröten  (die  Vorliebe  für  Mädchen kleider  ist  zwar  keine 
Todsünde,  aber  doch,  in  Beibehaltung  des  alttestament- 
lichen  Standpunktes,  ein  „Greuel",  ein  Unrecht!)  mit  einem 
„Peccavi !"  beantworten  wird.  (?  D.  H.)  Charakteristisch  ist, 
wie  bei  den  in  vielen  Schulen  veranstalteten  theatralischen 
Aufführungen  die  männlichen  Darsteller  der  weiblichen 
Rollen  meist  den  Vogel  abschiessen  und  sofort  nach  ihrer 
Verkleidung,  gleichsam  als  werde  durch  die  Weiberkleider 
der  weibliche  Teil  ihrer  Seele  geweckt  und  frei  gemacht, 
das  weibliche  Wesen  instinktiv  mit  verblüffender  Korrekt- 
heit treffen,  sodass  sie  meist  in  den  ungewohnten  Kleidern 
sich  nicht  nur  nicht  unbeholfen,  sondern  anmutig  und  mit 
ungezwungener  Selbstverständlichkeit  zu  bewegen  wissen. 

Man  begreift,  wenn  man  diese  jungen  Herreu  und  die 
liebenswürdigen  Leistungen  ihres  Talents  (oder  ihres  Na- 
turells) beobachtet,  dass  das  althellenische  Theater  und 
die  Bühne  Shakespeares  wahrlich  nicht  schlecht  versorgt 
waren,  indem  sie  sämtliche  Frauenrollen  männlichen  Dar- 
stellern zuwiesen.  Bekannt  ist,  dass  man  in  China  und 
Japan  noch  heutigen  Tages  soweit  geht,  die  Darsteller 
weiblicher  Rollen  zu  verpflichten,  auch  ausserhalb  des 
Theaters  Weiberkleider  zu  tragen,  auch  im  Privatleben 
sich  als  Weiber  zu  fühlen  und  zu  beschäftigen.  Die 
Wahrscheinlichkeit  spricht  dafür,  dass  auch  im  alten 
Griechenland,  wie  jetzt  noch  in  Japan  und  China,  die  für 
Frauenrollen  geeigneten  Männer  nach  Erreichung  eines 
gewissen  Alters  als  Mädchen  gekleidet  worden  sind. 


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—    815    — 

Auf  unserer  modernen  Bühne  begegnet  man  dem 
Manne  in  Frauenkleidern  höchstens  hin  und  wieder  in 
einigen  Possen  und  Schwänken,  bei  denen  es  keineswegs 
auf  eine  virtuose  Täuschung  über  das  wahre  Geschlecht, 
sondern  ausschliesslich  auf  burleske  Spässe  abgesehen  ist. 
Der  Mann  muss  sich  stellen,  als  seien  ihm  die  Weiber- 
kleider unbequem,  als  verstehe  er  nicht,  sich  darin  zu 
bewegen.  Mau  wünscht  hier  über  täppisches  Zugreifen, 
über  ungeschicktes  Operieren  lachen,  nicht  über  eine 
wirkliche  Täuschung  lächeln  zu  machen.  Statt  dessen  hat, 
wie  gesagt,  der  in  Weiberkleider  gehüllte  und  weibisch 
geschmückte  Mann  auf  unseren  Spezialitätentheatern  einen 
bevorzugten  Platz  gefunden.  Es  giebt  „Kenner*',  nament- 
lich in  den  Grossstädten,  die  mit  Vorliebe  dann  Speziali- 
tätentheater besuchen,  wenn  ein  Damenimitator  auf  dem 
Programm  angekündigt  wird.  Ein  zweiter  Teil  des 
Männerpublikums  geht  derartigen  Produktionen  geflissent- 
lich aus  dem  Wege  und  wendet  sich  entrüstet  ab,  im  Be- 
wusstsein  seiner  absoluten  Männlichkeit,  sobald  ein  sol- 
ches Herrchen  im  kurzen  Röckchen  auf  die  Bühne  tän- 
zelt, Kusshändchen  wirft,  mit  dem  Fächer  kokettiert  und 
alles  sonstige  Raffinement  einer  temperamentvollen  Brettl- 
sängerin entwickelt  Der  dritte  Teil  des  Männerpublikums 
ist  unbefangen,  geniesst  diese  Scherze  harmlos,  hält  sich 
ausscliliesslich  an  das  Komische,  bez.  Groteske  darin, 
während  ein  letzter  Teil  den  Glücklichen,  der  sich  da 
oben  so  vor  aller  Welt,  so  ganz  sans  g^ne,  mit  dem  guten 
Rechte,  das  ihm  sein  Beruf  giebt,  in  den  pikantesten 
Toiletten  zeigen  kann,  beneidet,  an  seiner  Stelle  zu  stehen 
oder  wenigstens  im  stillen  Kämmerchen  sich  ähnlich  ge- 
kleidet und  geschmückt  zu  sehen  wünscht.  Auffällig  ist 
die  direkte  Antipathie  eines  grossen  Teiles  der  sog.  streng 
bürgerlichen  Frauen  und  Mädchen  gegenüber  den  Be- 
mühungen eines  Imitators  ihres  Geschlechts.  Sie  finden 
ihn  fast  stets  „langweilig**,  «lächerlich*,  ^affektiert**,  sind 


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—    316    — 

nie  mit  ihm  und  seiner  Toilette  zufrieden  und  resümieren 
fast  stets:  „Der  könnte  eigentlich  auch  etwas  Gescheidtereg 
machen!"  Ebenso  auffällig  ist,  dass  der  Damenimitator 
von  einer  anderen  Kategorie  von  Zuschauerinnen,  die 
etwas  erlebt  und  den  realen  Wert  des  „stärkeren**  Ge- 
schlechts abzuschätzen  gelernt  haben,  förmlich  verhätschelt 
und  oft  den  wirklichen  Soubretten  und  Liedersängerinnen 
sowie  allen  Turnern  und  Komikern  entschieden  vorge- 
zogen wird. 

Die  interessante  Frage,  ob  die  Damendarsteller  in 
Wirklichkeit  Effeminierte  sind,  ob  sie  infolge  konträrer 
Sexualcmpfindung  sich  gerade  zu  diesem  Berufe  ent- 
schlossen haben,  glaubte  Verfasser  am  besten  dadurch 
beantwortet  zu  sehen,  dass  er  den  persönlichen  Verkehr 
einiger  dieser  Künstler  aufsuchte  und  von  anderen  wenigstens 
auf  schriftlichem  Wege  etwas  zu  erfahren  anstrebte. 
Das  Ergebnis  dieser  Untersuchungen  (es  kann  natürlich 
auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch  erheben)  ist  folgendes: 

Von  14  Damenimitatoren  lernte  Verf.  im  Laufe  der 
letzten  10  Jahre  acht  persönlich  kennen.  Er  fand  in 
ihnen  zum  Teil  ziemlich  umfassend  gebildete,  zum  Teil 
wenigstens  gesellschaftlich  äusserst  routinierte  Männer. 
Der  jüngste  (O.  O.)*)  zählte  20,  der  älteste  (D.  D.)  4a 
Jahre.  Vier  von  ihnen  hatten  wohlklingende  Bariton- 
stimmen (B.  B.,  C.  C,  D.  D.,  G.  G.),  drei  ausgeprägte 
Bassstimmen  (E.  E.,  H.  H.,  M.  M.),  nur  einer  einen  direkt 
weiblich  gefärbten  Tenor  (N.  N.).  Zwei  waren  von  auf- 
fallend kleiner,  zierlicher  Figur  (G.  G.,  M.  M.),  fünf  von 
Normalgrösse,  einer  grösser  und  stärker,  als  das  Normale 
(L.  L.),  zwei  (N.  N.  und  C.  C.)  hatten  ein  durchaus  frauen- 
haftes Embonpoint  aufzuweisen  und  gestanden,  dass  sie  sich 
bis  zum  Platzen  schnüren  müssten,  um  eine  einigermassen 

*)  Die  Buchstaben  beziehen  sich  auf  die  weiter  unten  ange- 
führten eigenen  Mitteilungen  der  betr.  Herren. 


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—    317     — 

präsentable  Taille  anziehen  zu  können.  Fünf  hatten 
starken  Bartwuchs,  der  sie  nötigte,  sich  vor  jeder  Vor- 
stellung zu  rasieren,  zwei  nur  schwachen  Bartwuchs,  aber 
um  so  stärkere  Kopf  behaarung,  einer  (N.  N.)  war  so  gut 
wie  bartlos.  Von  den  gesamten  14  Herren  des  vor- 
liegenden Untersuchungsmaterials  waren  8  verheiratet, 
(5  davon  in  kinderloser,  aber  anscheinend  glücklicher  Ehe), 
2  (G.  G.  und  M.  M.)  bekannten  sich  als  begeisterte  Ver- 
ehrer des  wirklichen  weiblichen  Geschlechts.  Sie  sind, 
wie  mir  bestätigt  wurde,  nachdem  sie  ihre  Weiberröcke 
abgelegt  haben,  höchst  impulsive  Don  Juans.  Von  den 
übrigen  waren  drei  passive  Pygisten  (C.  C,  E.  E.  und  L 
L.),  der  vierte  (N.  N.)  Mutueller.  Indessen  steht  zu 
vermuten,  dass  auch  von  den  acht  Verheirateten  zum 
Mindesten  drei  Homosexuale  sind.  Die  Vorliebe  für 
weibliche  Kleidung  und  weibisches  Wesen  ist  fast  allen 
(G.  G.  und  M.  M.  etwa  ausgenommen)  gleichermassen 
eigen.  Acht  von  den  Herren  (darunter  fünf  von  den  Ver- 
heirateten) machen  kein  Hehl  daraus,  dass  sie  auch  inner- 
halb ihrer  Wohnung  fast  ausschliesslich  weibliche  Kleidung 
und  schon  seit  Jahren  während  der  Nacht  Damennacht- 
hemden, Nachtjäckchen,  Häubchen  etc.  tragen,  auch  wohl, 
um  ihre  Taille  zu  trainieren,  im  Bette  das  Korsett  anbe- 
halten. Drei  von  den  Verheirateten  pflegen  (und  zwar 
nicht  nur  der  (Jebung  wegen!)  mit  ihren  Frauen  in 
Damenkleidem  jeder  Zeit  auf  offener  Strasse  spazieren  zu 
gehen,  auch  längere  Reisen  im  Damencoup^  zu  machen, 
wobei  sie  stolz  versichern,  dass  ihnen  aus  diesem  aben- 
teuerlichen Sport  noch  niemals  eine  Unannehmlichkeit  er- 
wachsen sei.  In  körperlicher  Hinsicht  bekennen  sich  alle 
Objekte  im  Wesentlichen  als  vollkommen  gesund,  zwei 
neigen  ein  wenig  zu  Asthma,  fünf  laborieren  an  nervösem 
Kopfschmerz,  der  sich  namentlich  bei  starkem  Zigarren- 
rauch in  schlechtgelüfteten  Theatern  einstellt,  drei  an 
vorübergehenden   Harnbeschwerden    und    in  Verbindung 


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—    318    — 

damit  an  nervöser  Reizbarkeit,  zwei  an  gelegentlichen 
Verdauungsstörungen.  Acht  haben  beim  Militär  mit  der 
Waffe  gedient,  darunter  drei  als  Einjährig-Freiwillige. 

Im  Anschluss  hieran  mögen  einige,  zum  Teil  sehr 
interessante  eigene  Mitteilungen  der  Herren  Damenimita- 
toren folgen: 

A.  A.*)  antwortete  wie  folgt: 

»Eigentlich  furchtbar  simpel,  verehrter  Herr!  Wurde 
schon  als  Junge  von  meiner  Mutter  gern  in  Mädehen- 
kleider  gesteckt,  entdeckte  meine  Stimme  und  mein  Talent, 
als  ich  19  Jahre  alt  war,  Hess  mich  ausbilden,  reiste  nach 
Ableistung  meiner  Militärpflicht  mit  meiner  Mutter  und 
meiner  Schwester,  die  darin  wetteifern,  mich  stets  so 
hübsch  als  möglich  herauszuputzen.  Wenn  ich  mich  in 
Damenkleidern  nicht  behaglich  fühlte,  würde  ich  mich 
nicht  darin  auf  der  Bühne  producieren.  Ich  habe  eine 
Vorliebe  für  echten  Schmuck,  namentlich  Brillanten,  und 
für  feine  Wäsche,  die  ich  nicht  elegant  genug  bekommen 
kann.  Bei  meinen  Toiletten  verlasse  ich  mich  meist  auf 
den  Geschmack  meiner  Mutler  und  Schwester.  In  Damen- 
geiellschaft  befinde  ich  mich  am  wohlsten,  besuche  auch 
zuweilen  als  Dame  kostümiert  mit  den  Meinigen  Kaffee- 
gesellschaften, bin  dort  sehr  beliebt  und  wird  meine 
Fertigkeit  in  weiblichen  Handarbeiten  (meine  Spezialität 
darin  ist  point-lace)  sehr  bewundert.  Im  Hauswesen 
mache  ich  mich,  wenn  ich  Zeit  habe,  gern  nützlich.  Betten- 
machen, Abstäuben,  Wäschelegen,  Plätten  gehört  zu  meinen 
liebsten  Beschäftigungen.  Das  hält  mich  nicht  ab,  mit 
Vorliebe  starke  Zigarren  zu  rauchen  und  auch  am  Kneip- 
tisch meinen  Mann  za  stellen.  ^Aus  Süssigkeiten  mache 
ich  mir  nichts.    In  meine  Photographien,  soweit  sie  mich 


*)  Die  Namen  der  betr.  Herren,  ja  selbst  die  eigentlichen  An- 
fangsbuchstaben ihrer  Namen  müssen  aus  begreiflichen  Gründen 
hier  anterdrückt  werden. 


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—    319    — 

als  Dame  darstellen,  bin  ich  verliebt,  Neigung  zu  Damen 
habe  ich  nur  vorübergehend  gespürt.  Etwaige  Huldig- 
ungen der  Herren  machen  auf  mich  keinen  Eindruck. 
Nach  dem  Alter  soll  man  »Damen"  eigentlich  nicht  fragen. 
Indess,  wenn  Sie  es  denn  durchaus  wissen  wollen:  Ich 
bin  anf  dem  besten  Wege,  30  zu  werden.  Aber,  bitte, 
sorgen  Sie  dafür,  dass  es  keiner  meiner  Agenten  erfährt. 
Genehmigen  Sie  etc.  etc.* 

B.  B.  schreibt: 

„Ich  bin  kein  Freund  von  vielem  Schreiben,  will 
Ihnen  also  nur  kurz  mitteilen,  dass  ich  sehr  stolz  und 
glücklich  bin,  wenn  ich  mich  in  eleganter  Damentoilette 
auf  der  Bühne  zeigen  kann.  Ich  schmeichle  mir,  bei 
meinen  Kolleginnen  und  Kollegen  sehr  beliebt  zu  sein 
-—  wissen  Sie,  was  ein  «guates  Miezerl"  ist?  Rauche 
Zigaretten  wie  ein  Schornstein.  Mein  Lieblingsgetränk  ? 
Na,  allemal  der  Sekt!  Meine  Lieblingsbeschäftigung? 
Mich  anputzen  und  tarokeln!  Weibliche  Handarbeiten? 
Nicht  in  die  Hand!  Ob  ich  Damenkleider  auch  zu  Hause 
und  auf  der  Strasse  trage?  Je  nachdem  ich  Lust  habe. 
Wenn  ich  auf  Abenteuer  mit  lieben  Mädels  ausgehe,  lasse 
ich  jedoch  meine  Unterröcke  meist  zu  Hause." 

C.  C.  erzählt,  dass  er  dadurch  auf  die  Damenkleider 
gekommen,  dass  er  als  junger  Mensch  eines  Abends 
dabei  gewesen  sei,  wie  sich  seine  Schwester  zu  einem 
Balle  ankleidete.  »Nach  ihrem  Fortgang  hüllte  ich  mich 
mit  Behagen  in  die  von  ihr  abgelegten  Sachen.  Ich  er- 
wartete als  Mädchen  gekleidet  die  Rückkehr  meiner 
Schwester,  die  mich  entzückt  umarmte,  meine  echt-weib- 
liche Tourntire  lobte  und  so  den  Wunsch  in  mir  weckte, 
mein  Glück  als  Damendarsteller  zu  versuchen."  C.  C. 
zeigt  sich  auf  der  Bühne  mit  Vorliebe  als  Baby  in  weissem 
Stickereikleidchen,  kurzen  Strümpfchen,  Hängeschürzchen, 
eine  Puppe  im  Arme.  Im  Schleppkleide  fühle  er  sich 
etwas   geniert.     Bei  jedesmaligem    Auftreten    sei   er   in 


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—     320    — 

grosser  Erregung,  Wangen  und  Nacken  glühten  ihm 
unter  der  Schminke  (offenbar  eine  Art  Schamempfindung). 
Dieser  Damenimitator  bekannte,  nicht  zu  rauchen,  auch 
Spirituosen  entbehren  zu  können.  Er  war,  als  ich  ihn  kennen 
lernte,  24  Jahre  alt,  stark  umschwärmt,  entwickelte  in  An- 
wesenheit von  Herren  eine  durchaus  weibliche  Koketterie, 
sprach  leise  und  schmachtend.  Alles  in  Allem:  Typisch- 
effeminiert. 

D.  D.,  43  Jahre  alt,  Franzose,  verheiratet,  Vater 
zweier  sehr  hübscher  Mädchen,  von  denen  die  eine  (17 
Jahre  alt)  mit  dem  Papa,  der  sie  ausgebildet  hatte,  als 
jugendliche  Soubrette  engagirt  war.  Viel  Effekt  machten 
beide  mit  einer  Pierrotscene,  die  Tochter  als  Pierrot,  der 
Vater  als  überaus  graziöse  Pierrette!  Sehr  solide,  stille 
Natur,  sanftmütig,  als  praktischer  Hausvater  von  den 
Seinigen  verehrt  und  geliebt.  Von  conträrer  Sexual- 
empfindung offenbar  keine  Spur,  die  Damenimitation  für 
D.  D.  nur  eben  Broterwerb.  Infolge  seiner  Gewissen- 
haftigkeit hätte  er  unter  anderen  Umständen  einen  vor- 
züglichen Beamten,  infolge  seiner  umfassenden  Bildung 
und  Belesenheit  einen  ausgezeichneten  Gelehrten  abgeben 
können. 

E.  E.  lernte  ich  bei  einem  Artistenfeste  kennen,  bei 
dem  er  als  gewandter  Festordner  fungierte.  Ein  classisch- 
schön  geformtes  Gesicht,  sprechende  dunkle  Augen,  leb- 
hafte und  geistreiche  Konversation.  Hatte  die  Hoch- 
schule besucht,  war  ursprünglich  zum  Geistlichen  be- 
stinmit  gewesen.  Mit  seinem  sonoren  Organ  und  bei  der 
Geschmeidigkeit  seines  Gestus  hätte  er  gewiss  auch  auf 
der  Kanzel  Glück  gehabt.  Da  er  mir  u.  A.  erzählte,  dass 
er  sich  mit  der  Textkritik  eines  auch  von  mir  tractierten 
antiken  Autors  beschäftige,  nahm  ich  seine  Einladung, 
ihn  in  seiner  Wohnung  zu  besuchen,  an.  Ich  wurde  in 
em  hübsch  möbliertes  Zimmer  geführt,  das  allerdings  mit 
seiner    ganzen    Atmosphäre    mehr    den    Eindruck    eines 


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—    821    — 

DameDboudoirs  machte.  Bald  erschien  E.  E.  in  der  Thür 
des  Kabinets^  zu  meiner  Ueberraschung  in  einem  hoch- 
eleganten Damenmorgenrock  von  blauer  Seide,  er  trug 
ebensolche  Pantöfielchen  und  hatte  die  blossen  Arme  mit 
goldenen  Eeifen  geschmückt.  In  diesem  Kostüm  erledigte 
er  unser  wissenschaftliches  Gespräch,  entwickelte  männ- 
lich-scharfes und  bestimmtes  Urteil,  wurde  aber  nach  Be- 
endigung dieser  Materie  wieder  völlig  zum  Weibe,  lehnte 
sich  kokett  in  ein  Sopha  und  verschaflte  mir,  offenbar 
nicht  ohne  Absicht,  den  Anblick  seiner  seidenen,  spitzen- 
besetzten Unterröcke.  Mit  besonderem  Stolze  zeigte  er 
mir  seine  Photographien,  die  ihn  zum  Teil  in  den  ver- 
führerischsten Damentoiletten  und  Negliges  darstellten, 
dann  die  betr.  Toiletten  selbst  und  schliesslich  seine  Vor- 
räte afi  Damenwäsche,  Unterröcken  etc.  Er  war  ordent- 
lich glücklich,  als  er  mich  auf  die  Schönheiten  in  Schnitt 
und  Besatz  seiner  Hemdchen,  Höschen  und  Röckchen 
aufmerksam  machen  konnte.  Ohne  Kenner  zu  sein, 
glaube  ich  behaupten  zu  können,  dass  kaum  eine  Mode- 
dame Eleganteres  an  Wäsche  etc.  besitzen  dürfte,  als 
dieser  Effeminierte  —  einer  der  geistreichsten  und  zu- 
gleich weibischsten  Männer,  die  ich  kennen  gelernt  habe. 
F.  F.  schreibt:  »Meine  Neigung  zur  Damendarstellung 
erwachte  verhältnismässig  spät.  In  meinem  26.  Jahre 
(ich  war  Buchhalter  in  einem  Bankhause)  verheiratete  ich 
mich.  Bei  einem  Privatmaskenball,  den  ich  mit  meiner 
Frau  besuchte,  trug  ich  zum  erst-en  Male,  auf  Wunsch 
meiner  Frau,  Damenkleider.  Ich  fühlte  mich  so  wohl 
darin,  dass  ich  mich  schliesslich,  so  oft  ich  konnte,  als 
Dame  anzog.  Meine  Frau  übernahm  meine  Ausbildung, 
und  im  Alter  von  29  Jahren  konnte  ich  bereits  bei  einer 
kleinen  Gesellschaft  debütieren.  Ich  habe  mich  besonders 
im  Koloraturgesang  geübt  und  meine  Stimme  so  in  der 
Gewalt,  dass  kaum  Jemand  in  meiner  Sopninimitation  den 
tiefen   Bass,    meine   natürliche    Stimme,   erkennen    wird. 

Jahrboeh  m.  21 


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—    322    — 

Ich  raache  wenige  trinke  lieber  Kaffee  und  Thee  als  Bier 
und  Wein.  Habe  mehr  Vergnügen  am  Umgang  mit 
Damen  als  an  dem  mit  Herren.  Meine  Frau  ist  auch 
heute  noch  meine  beste  Freundin.  Können  Sie  von  dem 
Vorstehenden  etwas  gebrauchen  etc.  etc.'' 

6.  G.y  Engländer^  überaus  zierlich  und  graziös  in  der 
Erscheinung,  macht  nicht  sowohl  in  Damenkleidem  als 
vielmehr  im  männlichen  Kostüm  den  Eindruck  des  Ver- 
kleideten. Trotzdem  nicht  effeminiert^  enragierter  Damen- 
freund. Raucht  viel  Zigarren,  bevorzugt  Spirituosen. 
In  Bezug  auf  seine  DamentoUette  sehr  anspruchsvoll, 
lässt  seine  EHeider  nur  in  den  ersten  Pariser  Ateliers  an- 
fertigen, erzählt,  dass  er  fast  zwei  Drittel  seiner  Gage  für 
Kostüme  und  elegante  Dessins  verwende.  Hat  eine 
Passion  für  Spitzen,  Stickereien,  —  Ansichtspostkarten 
und  das  Fahrrad. 

H«  H«  schildert  sein  Leben  sehr  abenteuerlich.  Ent- 
lief nach  dem  frühzeitigen  Tode  seiner  Eltern  der  Schule, 
ging  als  Schiffsjunge  nach  Amerika.  In  New- York  wurde 
er  Musiker,  entschloss  sich,  da  er  in  einem  Männer- 
orchester keine  Stellung  fand,  sich  als  Mädchen  zu  ver- 
kleiden, um  in  einer  Damenkapelle  placiert  zu  werden. 
Reiste  mehrere  Jahre  mit  dieser  Kapelle  als  Flöten- 
spielerin, ohne  dass  Jemand  sein  wahres  Geschlecht  ahnte. 
VeriUiderungssüchtig,  wie  er  war,  verliess  er  diesen 
Posten,  hatte  jedoch  in  der  Zwischenzeit  bereits  soviel 
Geschmack  an  der  weiblichen  Kleidung  gefunden,  dass 
er  sich  nicht  entschliessen  konnte,  sie  abzulegen.  Ver- 
dingte sich  hinter  einander  als  Stubenmädchen,  Soda- 
wasserverkäuferin, Kellnerin  und  Buffetmamsell,  schloss 
sich  dann  einem  Cirkus  an  und  brachte  es  von  einer 
Statistin  rasch  bis  zur  zierlichen  Panneausreiterin.  Ein 
Sturz  vom  Pferde,  der  eine  Sehnendehnung  zur  Folge 
hatte,  machte  diesem  Abschnitte  seines  Lebens  ein  Ende. 
Er   producierte  sich  zunächst  im  Cirkus  als  weiblicher 


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—    323    — 

Mtisik-ClowDy  vereinigte  sich  dann  mit  zwei  wirklichen 
Damen  zu  einem  Gesangsterzett,  bei  dem  er  die  zweite  Stimme 
sang  and  sattelte  schliesslich  zur  , Damenimitation''  um. 
Die  Sache  musste  gelingen,  da  er  fast  die  Hälfte  seines 
bisherigen  Lebens  ausschliesslich  in  Unterröcken  gesteckt 
hatte.  Ein  sehr  widerstandsfähiges  Naturell,  in  Männer- 
kleidem  kräftig  bis  zur  Derbheit.  Keineswegs  süsslich 
oder  affektiert  In  Frauenkleidem,  die  er  jetzt  noch  mit 
Vorliebe  auf  der  Strasse  trägt,  anmutig,  liebenswürdig 
und  so  sicher  auftaretend,  dass  man  ihm  seinen  Roman 
wohl  glauben  darf. 

L  I.  schreibt  kurz  und  bündige  »Ihre  Fragen  einzeln 
zu  beantworten,  fehlt  es  mir  an  Zeit  und  Lust.  Ich  kann 
mir  wirklich  nicht  denken,  welches  Interesse  weitere 
Ejreise  daran  haben  könnten,  zu  wissen,  wie  ich  dazu 
gekommen  bin,  mir  durch  die  Verkleidung  als  Dame 
mein  Brot  zu  verdienen." 

K.  K.  antwortet  sogar  in  Versen: 

Wer  nie  das  Glück  an  sich  erfuhr. 

Den  Unterrock  zu  tragen. 

Hat  von  der  Sache  keine  Spur 

Und  soll  nicht  darnach  fragen. 

Ein  Jeder  schafil  sich  seine  Welt^ 

Fragt  nicht,  ob's  Anderen  gefällt! 
L  L,  fast  zu  gross  und  stark  für  die  Damendar- 
stellung, scheint  gleichwohl  durchaus  effeminiert,  wird 
trotz  seines  Alters  von  37  Jahren  von  4—5  Herren  sehr 
umschwärmt,  giebt  sich  auf  der  Bühne  und  im  Leben 
äusserst  kokett,  befindet  sich  mit  seinen  Kolleginnen,  auf 
die  er  eifersüchtig  zu  sein  scheint,  öfters  im  Streit,  der 
nicht  selten  auf  seiner  Seite  mit  regelrechten  Wein- 
krämpfen endet.  Ist  von  sehr  oberflächlichem  Urteil 
und  scheint  auf  die  Enge  seines  Gesichtskreises  stolz 
zu  sein. 

H.  H.    Ein  dem  unter  G.  G.  geschilderten  ziemlich 

21* 


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—    324    — 

gleichartiger  Typus.  Durchaus  gesund^  kräftig ,  viel 
echter  Humor^  Damen  gegenüber  Schwerenöther^  besondere 
Geschicklichkeit  in  technischen  Dingen^  aber  nicht  in 
weiblichen  Handarbeiten,  die  er  perhorresciert.  Pflegt 
gern  Bälle  in  Damenkleidem  zu  besuchen,  erklärt,  nur 
als  Weib   am  Tanze    wirkliches  Vergnügen    zu    finden 

N.  N.  Eine  fast  problematische  Natur,  neigt  zu 
Melancholie,  ist  überaus  empfindlich.  Hat  eine  besondere 
Vorliebe  für  Kinder,  namentlich  für  kleine  Mädchen. 
Hat  sich  zierliche  Visitenkarten  machen  lassen,  die  einen 
weiblichen  Vornamen  tragen.  Es  ist  der  Name  seiner 
von  ihm  überschwänglich  verehrten  Mutter,  bei  der  er 
regelmässig  die  engagementsfreie  Zeit  des  Jahres  ver- 
lebt. Aus  seinen  Andeutungen  ist  zu  entnehmen,  dass 
er  während  dieser  Zeit  ausschliesslich  Frauenkleider  trägt 
Einem  mir  zur  Einsicht  übergebenen  Briefe  der  Mutter, 
einer  schlicht-bürgerlichen  Frau,  an  den  Sohn  entnehme 
ich  mit  seiner  Erlaubnis  die  folgende  nicht  uninteressante 
Stelle: 

«Komme  nur  recht  bald,  liebstes  Kind,  ich  kann  es 
schon  kaum  mehr  erwarten,  bis  mein  Herzensmäuschen 
da  ist  und  seiner  Mama  Gesellschaft  leistet.  Du  wirst 
gleich  im  Anfang  Arbeit  finden.  Ich  habe  nämlich  FrL 
B.  (die  Schneiderin)  bestellt,  da  ich  zum  Frühjahr  Manches 
brauche  oder  ändern  lassen  will.  Du  wirst  mir  dabei 
mit  Deinem  Geschmack  helfen.  Liebes  Kind,  vielleicht 
hast  Du  von  Deinen  ToUetten  auch  etwas  zum  Ausputzen 
für  mich  übrig.  Dass  Gretchen  (eine  Nichte  der  Mutter) 
einei  von  Deinen  Seidenkleidern  haben  soll,  hat  sie  sehr 
gefreut.  Vielleicht,  liebes  Kind,  hast  Du  auch  einige 
Hemden  und  Hosen  für  Gretchen,  die  Du  nicht  mehr 
brauchst  und  die  ihr  jetzt  sehr  zu  statten  kämen.  Mit 
den  beiden  schönen  Unterröcken,  die  Du  ihr  voriges  Jahr 
geschenkt  hast^  macht  sie  heute  noch  Staat  Dass  Du 
mit  Deinem  Spiele  so  gefällst  und  so  schönes  Qeld  ver- 


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—    825    — 

dienst,  macht  mich  ordentlich  stolz.  Freilich  möchte  ich 
mein  Kind  lieber  inmier  um  mich  haben.  Ich  denke,  es 
kommt  auch  noch  dahin.  Gretchen  lässt  Dich  fragen 
ob  Du  für  gehäckelte  Spitzen  auf  Nachtjacken  Ver- 
wendung hast  und  ob  sie  Dir  mit  einem  selbstgestrickten 
Anstandsröckchen  aus  ZephyrwoUe  eine  Freude  machen 
würde?  Zum  letzteren  kann  ich  Dir  nur  raten,  liebes 
Kind,  ein  solcher  Rock  ist  mollig  und  schmiegt  sich 
warm  an."  —  Soweit  der  Brief  der  Mutter,  der  über 
den  Charakter  dieses  Damenkomikers  und  seine  Art  zu 
leben  hinlänglich  Aufschluss  gegeben  haben  dürfte. 

0.  0.  Der  jüngste  in  der  Reihe,  20  Jahre  alt,  sozu- 
sagen noch  ein  unbeschriebenes  Blatt,  macht  ganz  den 
Eindruck  eines  Backfisches,  liebt  es,  auf  der  Bühne  meist 
in  Schlepproben  aufzutreten.  Sehr  musikalisch.  Virtuos 
auf  dem  Pianoforte,  auch  ansehnliche  Fertigkeit  im 
Porzellanmalen.  Bemerkenswert  an  ihm  sind  seine  fast 
unproportional  kleinen  Hände  und  Füsse,  seine  überaus 
schlanke  Taille  und  die  sammetartige  Weiche  und  tadel- 
lose Reinheit  seiner  Oberhaut 


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Die 

Bibliographie  der  Homosexualität 

für  das  Jahr  1900, 


sowie 


lachtrag  zn  der  Bibliographiedes  ersten  n.  zweiten  Jahrbuches. 

Von 
Dr.  jor.  Numa  Praetorius. 


Inhaltsangabe. 

I.  Abschnitt 

Die  Schriften  des  Jahres  1900  und  die  im  vor-' 
jährigen  fahrbuch  übergangenen  des  Jahres  1899. 

KAPITEL  1: 

Die  Schriften  über  Homosexualität 

mit  Ausschluss  der  reinen  Belletristik, 

(Wissenschaftliches,  Litterarisches,  Varia.) 


§  1:  Schriften  der  Mediziner. 

Celesia:  Sulla  inversione  sessoale  in  Lombroso's  Archivio 
di  psichiatria.    VoL  XXL    1900. 

Colin:  Sur  l'^tat  mental  et  phjsique  des  individus  con- 
damn^  pour  attentat  k  la  pudeur  in  der  Revue  de 
Psychiatrie.    Juni-Juliheft  1899. 

Dühren:  Der  Marquis  de  Sade  und  seine  Zeit  Ein  Bei- 
trag zur  Cultur-  und  Sittengeschichte  des  18.  Jahr- 
hunderts mit  besonderer  Beziehung  auf  die  Lehre  der 
Psychopathta  sexualis.    1900. 

FÖFÖ:   L/instinct  sexuel:   Evolution  et  dissolution.    1899. 


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—    327    — 

Fuchs :  Erfahnmgen  in  der  Behandlung  contrftrer  Sexual- 
empfindung. (Vortrag  im  Verein  für  PB7chiatrie 
und  Neurologie  in  Wien  am  13.  Februar  1900).  Ab- 
gedruckt in  der  „Wiener  klinischen  Rundschau^ 
Nr.  14.     1900, 

Haberlandt:  Conträre  Sexualerscheinungen  bei  der  Neger- 
bevölkerung Sansibars  in  den  ,  Verhandlungen  der 
Berliner  anthropologischen  Gesellschaft".  Bd.  31. 1899. 

Heilbronner:  Beitrag  zur  klinischen  und  forensischen  Be- 
urtheilung  gewisser  sexueller  Perversitäten  in  der 
«Vierteljahrsschrift  für  gerichtliche  Medizin  und  öffent- 
liches Sanitätswesen.*  19.  Bd.  2.  Heft  1900  2.  Heft 
Nr.  9. 

Kaan :  Gerichtsärztliches  Gutachten  in  ,  Friedreichs  Blättern 
für  gerichtliche  Medizin*.     50.  Jahrgang.    Heft  1. 

Kraflt-Ebing:  Drei  Conträrsexuale  vor  Gericht  in  den 
„Jahrbüchern  für  Psychiatrie  und  Neurologie*.  19. 
Bd.    2.  Heft.    1900. 

KraflFt-Ebing — Garnier:  R4sum^  sur  les  perversions  sexu- 
elles obs^antes  et  impulsives  au  point  de  vue  medico- 
l^gal  in  den  ,  Archives  de  Neurologie".  VoL  X.  Nr. 
59  et  60.    1900. 

Näcke:  Die  forensische  Bedeutung  der  Träume  in  der 
«Zeitschrift  für  Criminalanthropologie  und  Criminal- 
statistik"  von  Gross.  1.  Heft  Bd.  5.  September- 
nummer 1900. 

Näcke:  Die  sexuellen  Perversitäten  in  der  Irrenanstalt  in 
der  „Wiener  klinischen  Rundschau".  1899.  Nr.  27—30. 

Venturl:  Corräations  psycho-sexuelles.  Biblioth^ue  de 
criminalogie  Bd.  18.     1899. 


§  2:  Schriften  der  Nicht-Mediziner. 
Anonym:  Die  Tugendheuchler.    Artikel  in  der  , Neuen 
Zeit*  vom  10.  November  1900. 


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-     328    — 

Driesmans:  Das  Geschlechtsempfinden   der  Griechen    in 

dem  „Magazin  für  Litteratur*,     Nummern  vom  22. 

und  29.  December  1900. 
Eekhoud:    Chronique    de    Bruxelles    im    „Mercure    de 

France".    Nummern  vom  Juni  und  Dezember  1900, 

Januar  und  März  1901. 
FÖPSter-Nietzsche :  Friedrich  Nietzsche  über  Weib,  Liebe 

und    Ehe    in    der    „Neuen   Deutschen  Rundschau". 

Oktoberheft  1899. 
Hart:   Platens    Tagebücher    im     „Litterarischen    Echo". 

2.  Septemberheft  1900. 
Hermann:  Genesis   oder  das   Gesetz  der  Zeugung. 

Bd.  1-4.  1899  und  1900. 

Kauftnann:  Besprechung  von  Kupffer's  Lieblingsminne 
und  Freundesliebe  in  der  , Gesellschaft*,  1.  Dezember- 
heft 1900. 

Kauftnann:  Heine  und  Platen,  eine  Revision  ihrer  litte- 
rarischen Prozessakten  in  den  «Zürcher  Discussionen". 
Nr.  16  und  17.     1900. 

Kupffer:  Lieblingsminne  und  Freundesliebe  in  der  Welt- 

litteratur.     1900. 
Meyer:  Nietzsche,  der  Frauenfeind    in  der   , Gegenwart" 

vom  24.  Februar  1900. 
Nemanitsch:   Homosexuelle  Eifersucht  in  der  «Zeitschrift 

für  Criminalanthropologie  und  Criminalistik."    7.  Bd. 

Heft  3.     1900. 

Panizza:  Arthur  Rimbaud  in  der  „Wiener  Rundschau*. 
1.  Oktoberheft  1900. 

Renou:  Die  Blumenschiffe  in  China  im  «Mercure  de 
France",  Septembemummer  1900. 

Semidoff:  Kodificirte  Lrthümer  in  der  ^ritik"  Nr.  91. 
Heft  11.     1900. 


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—    829    — 

Tannenberg:    Die    Psychopathia   sexualis    im    Konitzer 

Mord  in  der  „Welt  am  Montag"  30.  April  1900. 
Windelband:  Piaton.  1900. 


Kapitel  2:  Belletristik. 
Dauthendey:  Vom   neuen  Weib  und  seiner  Sittlichkeit 

Roman  1900. 
DUsner:  Jasminblüthe.    Drama  nebst  Vorwort  1899. 
Evers:  „Einladung*  und  „An  einen  Jüngling".  Gedichte 

1900. 
Gramont:  Astart^.    Oper  1901. 
Hagenauer:  Muspilll    Roman  1900. 
Herdyt  D'  Luis:  La  Destin^e.    Roman  1900. 
Ives:  Eros'  Throne.     1900. 
KupflTer:  „Irrlichter*.    Drama  1900. 
Louys,  Pierre:  Les  aventures  du  roi  Pausol  1900. 
Heebold:   Dr.  Erna  Redens  Thorheit  und  Erkenntnis  in 

der  Novellensammlung  «Allerhand  Volk*   1900. 
Mirbeau:  Le  joumald'une  femme  de  chambre.  Roman  1900. 
Nieman:  Zwei  Frauen.    Roman  1901. 
Pöladan:  La  vertu  suprdme.    Roman  1900. 
Femauhm:  Ercole  TomeL    Roman  1900. 
Sehlaf :  Drittes  Reich.    Roman  1899. 
Schlaf:  Der  Tod  des  Antichrist     1900. 
Seydlitz:  Pierre's  Ehe.    Novelle  1900. 
Tolstoi:  Auferstehung.    Roman  1899. 


Kapitel  8:  Besprechungen  des  Jahrbuchs.*) 
Anonym:    Beilage   zur  „Allgemeinen  Zeitung^   vom   27. 
Dezember. 


*)  Sämtliche  BeBpreohimgeD  beziehen  sich  auf  das  IL  Jahr- 
buch mit  Ausnahme  derjenig^en  von  Herzberg,  die  sich  mit  dem 
L  Jahrbuch  beschäftigt» 


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—    380    — 

Anonym:  Deutsche  Medicinische  Presse  vom  24.  Juli. 
Anonym:  Zeitschrift  ^Die  Zeit^^  vom  30.  Juni. 
Anonym:  Strassburger  Post  vom  9.  Juli 
Anonym:  Yossische  Zeitung  vom  27.  September. 
Benzmann :     Allgemeiue    Deutsche    Uuiversitätszeitung 

vom  1.  Dezember. 
Conrad:  Zeitschrift^^Die  Gesellschaft^, L  Jauuarheft  1901. 
Puld:  Zeitschrift  „Das  Recht**  vom  10.  August 
Gaulke:  Das  homosexuelle  Problem  in  dem  ,  Magazin  ftlr 

Litteratur*  vom  2.  März  1901. 
Gross:  Archiv  für  Criminalanthropologie  und  Criminal- 

statistik.  Bd.  lY.  Heft  3  und  4  vom  21.  August 
Guttzeit :  Der  neue  Mensch.  November-  u.  Dezemberhefl;. 
Herzberg:  Besprechung  des  I.  Jahrbuchs  in  der  «Neuen 

Zeit»  vom  28.  April  1900. 
Hirschfeld:  Litterarisches  Echo.     2.  Dezember  1900. 
Hehler:  Zeitschrift  ^ie  Umschaut 
Hacke:  Zeitschrift  für  Psychiatrie.    Bd.  57. 
Placzek:  Jahrbuch  für  gerichtliche  Medizin.  Nr.  1  1901. 
Vleuten:  Zeitschrift   ^as  litterarische  Echo^ 

2.    Novemberheft. 


IL  Abschnitt 

Vor  dem  Jahre  1899  erschienene  im  ersten  und 
zweiten  Jahrbuch  nicht  erwähnte  Schriften. 

Kapitel  1:   Die   Schriften   mit  Ausschluss   der  reinen 

Belletristik. 

§  1:  Schriften  der  Mediziner. 

§  2:  Schriften  der  Nicht-Mediziner. 


Kapitel  2:  Belletristik. 


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I.  Abschnitt. 

Die  Schriften  des  Jahres  1900*)  und  die  im  vor-' 
jährigen  Jahrbuch  übergangenen  des  Jahres  1899. 

KAPITEL  1: 

Die  Sehpiften  über  Homosexualität 

mit  Ausschluss  der  reinen  Belletristik: 

Wissenschaftlidies,  Litterarisches,  Varia. 


§  1:  Schriften  der  Mediziner. 

1)  Celesia'*"*):  Sulla  inversione  sessuale  in  Lom- 
broso's  Archivio  di  psichiatria:  VoL  XXL  1900. 
S.  209. 

Verfasser  bespricht,  ohne  auf  die  juristische  und 
moralische  Seite  der  Frage  einzugehen,  in  längeren  Aus- 
führungen die  physiologischen  und  psychischen  Momente 
sowie  die  medizinische  Forschung  auf  gleichgeschlecht- 
lichem Gebiet;  er  bringt  jedoch  keine  neuen,  von  Krafit- 
Ebing,  Moll  etc.  abweichenden  Gesichtspunkte. 

Nach  ihm  ist  die  Hauptquelle  des  Umingtumes  der 
Atavismus  in  den  Familien,  in  denen,  wenn  auch  in  ent- 
fernten Mitgliedern,  der  Hang  zur  Homosexualität  vor- 
handen gewesen  sei.  Üelesia  betont  insbesondere  das 
häufige  Vorkommen  der  gleichgeschlechtlichen  Neigung 
bei  Genies,  namentlich  bei  Künstlern.  Die  Homosexuali- 
tät träte  teils  in  ihren  Werken  klar  hervor  (z.  B.  bei 
Michel  Angelo),  teils  sei  die  Wirkung  gewisser  Werke 
auf  Urninge  eine  ausserordentliche  (z.  B.  Richard  Wagner 


*)  Soweit  dies  möglich  war,  Bind  auch  die  seit  Begimi  des 
{Jahres  1901  erschienenen  Schriften  besprochen. 
**)  Mi<«eteUt  von  Herrn  X, 


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—    332    — 

in  Verbindung  mit  Ludwig  II.  von  Bayern).  Unter  den 
Musikern  fänden  sich  nach  seiner  Meinung  bis  zu  60% 
Homosexuelle. 

2)  Colin,  H.,  Arzt  im  Asyl  für  geisteskranke  Verbrecher  zu 

Gaillon  (Frankreich):  „Sur  l'^tat  mental  et 
physique  des  individus  condamn^s  pour 
attentat  ä  la  pudeur''  in  der  «Revue  de 
Psychiatrie"  Juni- Juliheft  1899.  8.  122. 

Colin  teilt  die  von  ihm  untersuchten  Sittlichkeits- 
delinquenten in  zwei  Klassen: 

1)  die  körperlich  Schwachen,  die  Krüppel  und  Greise, 

2)  die  geistig  Schwachen, 

In  beiden  Klassen  sei  das  Vorkommen  sexueller 
Anomalien  häufig.  Diese  Thatsache  erkläre  sich  ins- 
besondere aus  der  Aengstlichkeit  der  betreffenden  Leute, 
denen  ein  körperlicher  Fehler  anhaftie.  In  vielen  Fällen 
hätten  die  Verurteilten  keinen  normalen  Verkehr  mit  der 
Frau  und  oftmals  gar  keinen  heterosexuellen  überhaupt 
gehabt. 

Folgen  sodann  klinische  Beispiele. 
fiemerkongeii  t.  Die  Erklärung  Colins  ist,  soweit  es  sich  um  solche 

NamaPritoriaB.  jjj^j^j^]^^  jj^  homoscxuell  verkehrt  haben,  zweifellos  nur 
für  die  seltensten  Fälle  richtig. 

3)  Dühren,  Eugen:    Der    Marquis    de    Sade    und 

seine  Zeit.    Ein  Beitrag  zur  Cultur-   und  Sitten- 
geschichte des  18.  Jahrhunderts,  mit  besonderer  Be- 
ziehung auf  die  Lehre  von  der  psychopathia  sexualis. 
Berlin  und  Leipzig,  Verlag  von  Barsdorf  1900. 
Das  Buch  beginnt  mit  Erörterungen  über  das  Ge- 
schlechtsleben  überhaupt.    Die  Liebe   käme  in  Betracht 
als  physisches,  historisches  und  metaphysisches  Problem. 
Das  historische  Problem  beanspruche  besondere  Bedeutung. 
Auch  in  der  Geschichte  kehrten  regelmässig  dieselben 
Formen    und    Typen    des    Geschehens    wieder.      Diese 
Bythmen   seien   aufzusuchen   zur    Erklärung   der  Liebe 


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—    333    — 

als  geschichtliche  und  soziale  ErscheiDung.  Die  Liebe 
stehe  in  Wechselbeziehung  zur  Gesellschaft,  zu  dem  Recht» 
der  Moral,  der  Religion,  der  Sprache  und  Dichtung. 

Bei  verschiedenen  Völkern  nähme  sie  gleichsam 
nationale  Färbung  an.  Die  Weltlitteratur  liefere  das  Bau- 
material für  eine  historische  Psychologie  der  Liebe.  End- 
lich werde  das  Geschlechtsleben  durch  die  materielle 
Kultur  einer  Epoche  (Krieg,  Frieden,  städtisches  Leben, 
Kleidung,  Nahrung  etc.)  beeinflusst. 

Von  diesem  sozialpsjchologischen  Standpunkt  aus 
will  dann  Dühren  die  Persönlichkeit  und  die  Werke  des 
Marquis  de  Sade  untersuchen,  jenes  berühmten,  merk- 
würdigen Erotomanen  des  18.  Jahrhunderts,  der  dem 
Sadismus  seinen  Namen  gab,  der  eine  Anzahl  von  Miss- 
handlungen und  Greuel  aus  Geschlechtslust  beging,  die 
grösste  Zeit  seines  Lebens  im  Gefängnis  zubrachte  und 
die  ungeheuerlichsten  erotischen  Romane  schrieb,  die  die 
Weltlitteratur  kennt. 

Dühren  will  Sade  nicht,  wie  bisher  die  Aerzte  es 
gethan,  aus  seinem  individuellen  psychopathologischen 
Zustand,  sondern  aus  seiner  Zeit  heraus  erklären.  Er  will 
feststellen,  was  Sade  von  seiner  Zeit  empfangen  und  was 
er  ihr  gegeben  habe. 

Dühren  bringt  deshalb  im  L  Teil  des  Buches  eine 
Darstellung  des  Charakters  des  18.  Jahrhunderts  in 
Frankreich,  der  äusseren  sozialen  Verhältnisse  und  nament- 
lich der  Zustände  auf  sexuellem  Gebiet,  wo  er  die  ver- 
schiedensten geschlechtlichen  Ausschweifungen  bis  ins 
Einzelne  verfolgt  und  auf  die  Wechselwirkung  zwischen 
der  Wirklichkeit  und  ähnlichen  Situationen  und  Schil- 
derungen in  der  Litteratur,  besonders  aber  in  den  Romanen 
von  Sade  hinweist. 

Hierbei  finden  sich  in  den  einzelneu  Kapiteln  zer- 
streut eine  Anzahl  Bemerkungen  über  gleichgeschlecht- 
lichen Verkehr,  sowie  zusammenhängende  Ausführungen 


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—    884    — 

in  den  Abschnitten:  Tribadie^  Päderastie  und  Italienische 
Zostönde  im  18.  Jahrhundert 

1.  Weibweiblicher  Geschlechtsverkehr:  Die  Tribadie 
sei  sehr  verbreitet  gewesen.  Diderot's  «Religieuse*  und 
andere  erotische  Erzählungen  über  Nonnenklöster  bewiesen 
dies.  Die  Darstellungen  Sade's  über  die  Tribadie  in  den 
Klöstern,  über  „die  Kirchen,  die  zu  Bordellen  geworden **, 
seien  sicherlich  der  Wirklichkeit  entnommen. 

Die  Tribaden  mit  männlichen  Neigungen  hätten  sich 
sehr  vermehrt^  sie  seien  durch  männliche  Kleidung  auf- 
gefaUen  (8.  199). 

lieber  künstliche  Apparate  bei  Ausübung  lesbischer 
Akte  (S.  219). 

Erzählung  nach  Casanova  einer  öffentlich  vorgenom- 
menen unzüchtigen  Handlung  zwischen  zwei  Frauen, 
während  sie  einer  Hinrichtung  beiwohnten  (S.  241). 

Ueber  die  lesbische  Leidenschaft  der  Königin  Karoline 
von  Neapel,  ihr  Verhältnis  zu  Lady  Hamilton  und  die  ähn- 
lichen Schilderungen  dieser  Personen  bei  Sade  (S.  273 — 276). 

Ln  Abschnitt  über  Onanie:  Citate  von  Versen,  aus 
denen  das  häufige  Vorkommen  gegenseitiger  Onanie  her- 
vorgehe (8.  169). 

Das  Kapitel  über  die  Tribadie  (S.  170—191):  Selbst 
im  antiken  Lesbos  seien  kaum  ähnliche  Zustände  vor- 
handen gewesen,  wie  im  18.  Jahrhundert  in  Frankreich. 
Die  Werke  Sade's  spiegelten  hinsichtlich  der  Tribadie  ge- 
treu das  Bild  jener  Zeit 

Der  Roman  „  Juliette^  werde  gleich  eröffiiet  mit  einer 
wollüstigen  Scene  zwischen  Nonnen.  Die  von  glühendem 
Männerhass  erfüllte  Clairwill  bilde  einen  ausgezeichneten 
Typus  einer  Tribade.  Sade  führe  die  Anlage  zur  les- 
bischen Liebe  zum  Teil  auf  die  Gestaltung  der  Clitoris 
bei  gewissen  Frauen  zurück.  AuchfMirabeau  in  ,Ma 
con Version  **  beschreibe  eine  von  80  Hofdamen  aufgeführte 
Tribadenscene. 


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—    386    — 

Derartige  Schilderungen  hätten  die  Wirklichkeit  nicht 
überboten. 

Dühren  giebt  nun  an  der  Hand  des  Buches  «L/espion 
Anglais*  eine  eingehende  Darstellung  einer  tribadischen 
Vereinigung^  er  schildert  die  Aufiiahme  eines  von  einer 
Weltdame  verführten  Mädchens  in  den  Khxh^  die  Prüfung 
seiner  körperlichen  Reize^  die  es  zu  bestehen  hat^  die 
Ceremonien  der  Einf  ührung^  die  eigentümliche  Ausstattung 
der  Lokalitäten^  die  Rede  der  Vorsitzenden,  welche  in 
begeisterten  Worten  die  Tribadie  preist 

2.  Mannmännlicher  Geschlechtsverkehr:  Erwähnung 
eines  der  Päderastie  ergebenen  Priesters  (S.  61).  Die  ob- 
scönsten  Bilder,  auch  mit  Soenen  der  Päderastie,  seien 
öffentlich  in  Schaufenstern  ausgehängt  gewesen  (S.  110). 

Sade  er^i^ttme  Bordelle  und  Klubs^  wo  Mädchen  und 
Knaben  den  Besuchern  zur  Verfügung  gestanden  (S.  137) 
Ein  verbreiteter  Mädchen^  und  Knabenhandel  habe  zwei- 
fellos stattgefunden  (S.  153). 

Das  Kapitel  über  die  Päderastie  (S.  191—196): 

Der  Marquis  de  Sade  singe  das  Lob  der  Päderastie 
in  allen  Tonarten:  in  dem  Roman  , Philosophie  dans  le 
boudoir^  besokreibe  Dolmanc4  die  Genüsse  des  mann- 
männlichen Verkehrs.  Dieser  Dolmancä  verschmähe 
auch  nicht  gelegentlich  paedicatio  mulieris,  ein  anderer 
Held  von  Sade,  Bressac,  sei  dagegen  völlig  unempfindlich 
gegenüber  den  Reizen  der  Frau.  Es  sei  dieser  Bressac 
der  einzige  Typus  mit  hereditärer  sexueller  Inversion, 
den  Sade  gezeichnet  habe.  Alle  übrigen  hätten  die  Per- 
version allmählig  während  des  Lebens  erworben.  So, 
meint  dann  Dühren,  sei  es  auch  in  der  Wirklichkeit: 
Die  angeborene  Liversion  sei  die  Ausnahme,  die  Er- 
werbung durch  Verführung,  lasterhafte  Gewohnheit  oder 
Geisteskrankheit  die  Regel. 

Dühren  giebt  dann  einen  geschichtlichen  Ueberbliek 
über  das  Vorkommen  der  I^erastie  vom  16.  bis  zum  18. 


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—    836    — 

Jahrhundert.  Unter  Heinrich  UL  hätten  sich  die  Männer 
unter  den  Pforten  des  Louvre  öffentlich  provociert  und 
unter  Ludwig  XIY.  habe  die  Päderastie  ihre  bestimmten 
Gesetze  und  Organisationen  gehabt.  Während  Heinrich  lU. 
selbst  homosexuell  gewesen,  habe  Heinrich  IV.  die  Ver- 
breitung des  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  zu  ver- 
hindern gesucht;  unter  Ludwig  XIIL  sei  er  aber  wieder 
am  Hofe  ausgeübt  worden. 

Sodann  Erwähnung  des  bekannten  Homosexuellen 
Philipp  d'Orleans,  des  Bruders  von  Ludwig  XIV.  Femer 
berichtet  Dühren  über  den  auch  schon  von  Moll  ange- 
führten angeblichen  Verführungs- Versuch  des  Königs 
durch  den  Kardinal  Mazarin,  sowie  über  einen  vornehmen 
Päderastenklub  aus  dem  17.  Jahrhundert 

Auch  im  18.  Jahrhundert  sei  der  Kultus  der  Päde- 
rastie am  Hofe  anzutreffen,  zur  Revolutionszeit  habe  sie 
die  grösste  Blüte  erlangt^  sie  sei  ganz  offen  aufgetreten. 
Der  Schriftsteller  R^tif  de  la  Bretonne  habe  die  grosse 
Verbreitung  des  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  im  Alter- 
tume  durch  die  allzu  grosse  Aehnlichkeit  der  männlichen 
und  weiblichen  EQeidung  erklären  wollen.  Auffällig  sei 
es  allerdings,  dass  die  Zeit  der  grössten  Ausbreitung 
homosexueller  Neigungen  mit  den  Moden  ä  la  grecque 
im  18.  Jahrhundert  zusammenfalle. 

Im  Kapitel:  «Italienische  Zustände  im  18.  Jahr- 
hundert* Ausführungen  über  die  Homosexualität  in 
Italien.    (S.  266—268). 

Italien  sei  das  gelobte  Land  der  Päderastie.  Dies 
habe  auch  de  Sade  hervorgehoben.  Italien  sei  in  dieser 
Beziehung  gefährlich  für  jeden,  der  begeistert  von  der 
antiken  Kultur  seinen  Boden  betreten  habe,  dies  beweise 
Winekelmann.  (I) 

Dühren  führt  dann  eine  Anzahl  berühmter  Männer 
und  Päpste  an,  die  der  Homosexualität  überführt  oder 
verdächtig    seien:     Sixtus    IV.,    Michelangelo,    Sodoma 


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—    337    — 

Julius  III.,  erwähnt  einen  gewerbsmässigen  Prostituierten 
rn  Padua  und  giebt  die  Berichte  von  Moll  und  Casper  über 
die  heutige  Verbreitung  des  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs 
in  Italien  wieder.  An  dem  Ueberhandnehmen  der  homo- 
sexuellen Praktiken  im  18.  Jahrhundert  sei,  so  meint 
Dühren,  der  Clerus  zum  grossen  Teil  Schuld  gewesen, 
<la  die  Klöster  die  Stätten  aller  Ausschweifungen  gebildet. 

Nachdem  Dühren  im  I.  Teil  seines  Buches  das  Zeit- 
alter des  Marquis  de  Sade  beschrieben,  erzählt  er  im 
II.  Teil  das  Leben  des  erotischen  Schriftstellers.  Hier 
ist  zu  vermerken,  dass  eine  der  Verurteilungen  des 
Marquis  ausdrücklich  wegen  „Sodomie**  erfolgte. 

In  Teil  III  wird  der  Inhalt  der  Werke  von  Sade 
im  Einzelnen  angegeben,  nebst  seinen  Theorien  (S.  325  bis 
405)  und  in  Teil  IV.  und  V.  die  Theorie  und  Geschichte 
des  Sadismus  dargestellt  (S.  405—433  und  433-479). 
Diese  Inhaltsangabe  der  Romane  von  Sade  lässt  erkennen^ 
dass  fast  auf  jeder  Seite  Episoden  und  Szenen  geschlecht- 
liclier  Art  zwischen  Personen  des  gleichen  und  ver- 
schiedenen Geschlechts  mit  einer  in  Wollust  schwelgenden 
Phantasie^  beschrieben  und  alle  möglichen  Situationen 
und  Ungeheuerlichkeiten  des  normalen  und  anormalen 
Geschlechtsverkehrs:  Incest,  Paedophilie  u.  s.  w.  mit 
einander  combiniert  werden ;  namentlich  aber  geht  hervor, 
dass  der  in  den  Martern  und  Qualen  seine  Befriedigung 
suchende,  bis  zur  Mordlust  gesteigerte  Trieb  —  der  nach 
Sade  den  Namen  erhalten  hat  (Sadismus)  —  wahre 
Orgien  in  seinen  Erzählungen  feiert 

In  der  Auffassung  der  Natur  der  Homosexualität  ist 
Sade  seiner  Zeit  vorausgeeilt.  S.  402  berichtet  Dühren: 
Nach  Sade  sei  es  eine  Barbarei,  die  Päderastie  und  Tri- 
badie  zu  bestrafen,  da  eine  ,  Abnormität  des  Geschmackes** 
kein  Verbrechen  darstelle;  die  Päderastie  insbesondere 
sei  stets  bei  kriegerischen  Völkern  im  Schwünge  gewesen, 

Jahrbuch  UI.  22 


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—     338    — 

da  sie  Mut  uud  Tapferkeit  einflösse;  und  S.  420:  An  zwei 
Stellen  Beiner  Werke  bezeichne  Sade  den  Trieb  zum 
gleichen  Geschlecht  als  eine  Funktion  der  Organe;  der 
sexuell  Perverse  sei  ein  Kranker,  zu  beklagen,  aber  nicht 
zu  tadeln.  Gegen  diese  Anschauung  wendet  sich  Dühren 
S.  425:  Die  Mehrzahl  der  sexuell  perversen  Personen 
sei  geistig  gesund,  ihre  Perversion  habe  den  Grund  in 
Verführung  und  geschlechtlicher  Ueberreizung. 

S.  472  und  473  schreibt  sodann  Dühren  dem  Ein- 
fluss  gewisser  litterarischer  und  künstlerischer  Erzeug- 
nisse die  Verbreitung  anormaler  sexueller  Empfindungen 
zu.  Es  sei  wahrscheinlich,  dass  Winckelmann  durch  das 
Studium  des  griechischen  Altertums  und  der  griechischen 
Kunst  zur  Knabenliebe  ( —  müsste  doch  mindestens 
heissen:  Jünglingsliebe.  N.  Pr.  — )  sich  gewendet  habe. 
Am  häufigsten,  fährt  Dühren  weiter  fort,  entstehe  aber 
die  sexuelle  Perversion  durch  direkte  Verführung.  So 
würden  in  Paris  Knaben  von  12 — 14  Jahren  zur  Mastur- 
bation und  Päderastie  herangezüchtet  und  zu  denun- 
zierenden Kinaeden  ausgebildet.  In  diesem  Zusammen- 
hang bemerkt  dann  noch  Dühren:  «Und  angesichts  dieser 
Thatsachen  denkt  man  an  Aufhebung  des  §  175  des 
Str.-G.-B.  Das  hiesse  den  Teufel  durch  Beizebub  aus- 
treiben. Mögen  lieber  die  paar  unglücklichen  hereditäreu 
Urninge  leiden,  als  dass  die  Päderastie,  das  entsittlichendste 
aller  sexuellen  Laster,  für  erlaubt  und  straflos  erklärt  wird.* 

Das  Buch  von  Dühren  ist  ein  verdienstvolles  Werk. 
Es  enthält  auch  zum  Teil  sehr  interessante  Mitteilungen 
und  Litteraturangaben  über  die  Sittengeschichte  des  18. 
Jahrhunderts  in  Frankreich. 

Die  Bedeutung  der  sozialen  und  kulturellen  Ver- 
hältnisse für  die  Gestaltung  der  Liebe  —  der  Haupt- 
gesichtspnnkt  der  Schrift  —  wird  aber  überschätzt  Viele 
Thatsachen  und  Vorkommnisse,  die  Dühren  zur  Unter- 
stützung seines  Ghrundgedankens  anführt,  trifift  man  auch 


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—    339    — 

lieute  und  hat  man  in  jedem  Zeitalter  angetroffen,  wes- 
halb sie  für  die  behauptete  Sittenverderbnis  im  18.  Jahr- 
hundert und  speziell  für  Frankreich  nicht  besonders  be- 
weiskräftig sind.  Zwischen  Liebe  und  äusseren  Verhält- 
nissen besteht  allerdings  eine  gewisse  Wechselwirkung. 
Die  Kenntnis  der  Kultur  wird  auch  einen  genaueren  Ein- 
blick in  das  Geschlechtsleben  gestatten;  namentlich  hat 
Dühren  darin  Recht,  dass  aus  der  Litteratur  einer  Periode 
sich  wertvolle  Aufschlüsse  über  die  Liebe  in  dem  be- 
treffenden Zeitalter  gewinnen  lassen;  dies  Anerkenntnis 
muss  mit  besonderer  Genugthuung  hervorgehoben  werden, 
heute,  wo  eine  Anzahl  von  Stimmen  das  Studium  der 
Homosexualität  in  der  Geschichte,  dem  Leben  grosser 
Männer  und  der  Litteratur  für  unnütz  und  zwecklos 
hält. 

Umgekehrt  soll  auch  die  Wichtigkeit  des  Milieus  und 
der  äusseren  Faktoren  für  die  Entwicklung  des  Geschlechts- 
lebens nicht  geleugnet  werden,  aber  die  Bedeutung,  die 
Dühren  diesen  Faktoren  beilegt,  haben  sie  nicht.  Be- 
sonders muss  ihm  darin  widersprochen  werden,  dass 
die  Entstehung  und  Verbreitung  der  Homosexualität  in 
der  Regel  auf  äussere  Umstände  zurückzuführen  sei. 
Gewisse  Modalitäten  innerhalb  einer  Geschlechtsrichtung 
mögen  je  nach  Zeit  und  Land  wechseln,  aber  die  Kultur- 
zustände allein  bringen  nicht  die  konträre  Sexual- 
empfindung hervor.  Die  Homosexualität  bedeutet  nicht, 
wie  Dühren  zu  meinen  scheint,  eine  Umwandlung  eines 
ursprünglich  normalen  Triebes  in  einen  solchen  zum 
gleichen  Geschlecht  durch  Angewöhnung,  sondern 
meist  eine  angeborene  natürliche  Anlage. 

Gerade  hinsichtlich  des  mannmännlichen  Geschlechts- 
verkehres ist  es  Dühren  nicht  gelungen,  den  Beweis  für 
seine  Behauptungen  zu  erbringen,  er  hat  vielmehr  selbst 
beinahe  das  Gegenteil  durch  seine  Darstellung  des  ge- 
schilderten Zeitalters  bewiesen. 

22* 


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—    340    —  ^ 

Trotz  des  zahlreichen  angeführten  Qiiellenmaterials 
über  das  18.  Jahrhundert  vermag  Dühren  über  die  Päde- 
rastie nur  Dürftiges  zu  citieren.  Abgesehen  von  einigen 
oben  erwähnten  zerstreuten,  wenig  bedeutungsvollen  That- 
sachen  muss  sich  Dühren  in  dem  Kapitel  über  die  Päde- 
rastie für  das  18.  Jahrhundert  zunächst  mit  dem  ganz 
allgemeinen  Satz  behelfen:  ,Jeden falls  rettete  sich  der 
Kultus  der  Päderastie  am  französischen  Hofe  auch  ins 
18.  Jahrhundert  hinüber."  Ausser  einer  unzüchtigen  — 
nicht  notwendigerweise  —  mit  gleichgeschlechtlichem  Ver- 
kehr zusammenhängenden  Geste  Ludwig  XV^.  und  Aeus- 
serungen  eines  Regierungskommissars  aus  der  Revolutions- 
zeit sowie  Bemerkungen  des  Romanschriftstellers  Restif 
de  la  Bretonne  wird  nichts  Genaueres  über  diesen  Kultus 
mitgeteilt. 

Bei  seiner  Auffassung  von  der  Entstehung  der  Homo- 
sexualität beruft  sich  Dühren  mit  Unrecht  auf  Schrenk- 
Notzing.  Dühren  will  die  konträre  Sexualempfindung 
meist  auf  directe  Verführung  oder  Uebersättigung  am 
normalen  Geschlechtsgenuss  zurückführen.  In  diesem 
Sinne  spricht  eigentlich  Schrenk-Notzing  nicht  von 
Erwerbung;  er  ist  viel  zu  guter  Kenner  der  Homosexu- 
alität, um  diese  alten,  von  der  Wissenschaft  nicht 
mehr  anerkannten  Erklärungsversuche  zu  verteidigen. 
Schrenk-Notzing  schreibt  lediglich  dem  occasionellen 
Moment  die  Kraft  zu,  bei  disponierten  Naturen 
durch  zwingende  Associationen  in  früher  Jugend 
oderim  Pubertätsalter  eine  dauernde  konträre  Sexual- 
empfindung hervorzurufen.  Wie  schon  Näcke  treffend  be- 
tont hat,  ist  der  Unterschied  zwischen  dieser  Erwerbung 
und  dem  Angeborensein  kein  grosser. 

Dass  die  Anschauung,  welche  die  Theorie  des  Ange- 
borenseins der  Homosexualität  ablehnt  nicht  an  und  für 
flieh  zur  Aufrechterhaltung  des  §  175  R.-St.-G.-B.  führt, 
wie  Dühren  zu  glauben  sclicint,  hat  ebenfalls   Schrenk- 


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—    341     — 

Notzing  bewiesen,  der  die  Abänderung  des  Strafgesetzes 
für  angezeigt  erachtet. 

Besonders  seltsam  ist  die  Art  und  Weise,  wie  Dühren 
die  Weitergeltung  des  §  175  R..St.-G.-B.  rechtfertigt  Es 
ist  ja  nicht  zu  leugnen,  dass  gewisse  Urninge  sich  an 
Knaben  vergreifen,  —  aber  jedenfalls  seltener  als  Nor- 
male an  unerwachsenen  Mädchen,  —  deshalb  jedoch  die 
homosexuellen  Handlungen  unter  Erwachsenen  mit  Strafe 
zu  belegen,  hat  ebensowenig  einen  Sinn,  als  wegen  der 
häufigen  Verbrechen  Normaler  gegenüber  Mädchen  unter 
14  Jahren  den  ausserehelichen  Geschlechtsverkehr  zwischeu 
Mann  und  Frau  zu  verbieten. 
4)  F6r6,  Charles:  ^L'instinct  sexuell,   Evolution 

et  dissolution".     (Paris,  Alcan  1899.) 

Ein  Buch  von  333  Seiten  über  den  Sexualtrieb 
und  die  sexuellen  Anomalien,  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  Homosexualität.  Kapitel  1:  Sexualtrieb 
—  Allgemeines  —  Entwicklung.  Kapitel  II:  Ver- 
fall des  Geschlechtstriebes,  enthalten  allgemeine 
Erörterungen  über  den  Sexualtrieb  vom  medizinisch-philo- 
sophischen, anthropologisch-soziologischen  weit  mehr  als 
vom  physiologischen,  psychologischen  Standpunkt.  Eine 
genaue  physiologisch-psychologische  Untersuchung  wie  die 
von  Moll  in  seiner  ^Libido  8exualis'*,die  dem  Verfasser  lei- 
der unbekannt  ist,  findet  nicht  statt.  Aus  den  allgemeinen 
Anschauungen  von  F^r^  über  den  Sexualtrieb  sowie 
dessen  Bedeutung  uad  kulturelle  Entwicklung  ergiebt  sich 
seine  Beurteilung  der  Homosexualität,  weshalb  ich  die 
Ausführungen  der  Kapitel  I  und  II,  die  nur  gelegentlich 
die  Homosexualität  berühren,  in  grossen  Zügen  wieder- 
geben muss. 

Kapitel  I: 

Der  Trieb  bedeute  einen  bestimmten  angeborenen, 
nicht  durch  persönliche  Erfahrung  erworbenen  Drang, 
im  Gegensatz  zur  Gewohnheit.    Letztere  sowie  die  Nach- 


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—     342     — 

ahmung  spielteü  allerdings  eine  grosse  Rolle.  Der  Trieb 
sei  eigentlich  nur  ein  komplizierterer  Reflex,  der  aber 
blos  durch  äusserliche  Reize  in  Bewegung  trete,  welche 
die  angeborene  Erregungsfähigkeit  hervorriefen.  Der 
Sexualtrieb  bezwecke  ursprünglich  nur  die  Erhaltung  des 
Individuums,  dann  die  der  Gattung  und  endlich  die  der 
sozialen  Gruppen.  Er  erstrebe  zuerst  nur  den  Kon- 
jugationsakt, nach  und  nach  träte  der  Drang  der  Ver- 
folgung und  sexuellen  Anziehung  hinzu,  endlich  das 
Streben  nach  dauernder  Verbindung  und  nach  dem  Schutz 
der  Jungen. 

Alle  äusseren,  den  Gesamtorganismus  beeinflussenden 
Reize  seien  auch  fähig,  auf  den  Sexualtrieb  einzuwirken. 
Bedeutsam  seien  nicht  nur  physische  Reize,  sondern  auch 
Gefühle  und  die  Vorstellung  moralischer  und  intellektu- 
eller Eig«?nschaften,  die  bei  gewissen  Individuen  entschei- 
denden Einfluss  auf  den  Geschlechtstrieb  gewinnen  könnten. 
An  sich  sei  der  Trieb  bezüglich  der  sexuellen  Anziehung 
gerade  so  automatisch  und  unbewusst  wie  der  Konjugations- 
trieb. Nicht  immer  sei  aber  die  gegenseitige  Ueberein- 
stimmung  in  der  sexuellen  Auslese  für  die  Gattung  för- 
derlich. Viele  aus  ganz  instinktiven,  impulsiven  Trieben 
geschlossene  Ehen  gäben  oft  eine  fehlerhafte  Nachkommen- 
schaft. Auch  die  Degenerierten  suchten  und  fänden  sich 
unbewusst,  und  nur  indirekt  würde  ihre  systematische 
Anziehung  der  Gattung  nützen,  nämlich  dadurch,  dass 
sie  ihren  Untergang  beschleunige.  In  der  zivilisierten 
Gesellschaft  nähme  das  intellektuelle  Element  eine  her- 
vorragende Stellung  im  sexuellen  Leben  ein,  doch  dürfe 
die  sexuelle  Auswahl  sich  nicht  allein  auf  intellektuelle 
und  moralische  Faktoren  stützen,  sonst  verfehle  sie 
ihren  Zweck. 

Die  Entwicklung  des  Sexualtriebes  beim  Menschen 
gehe  nicht  allein  auf  die  Erzeugung  von  Individuen,  die 
den  Interessen  der  Gattung  am  meisten  angepasst  seien, 


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—    343    — 

BonderD    auch    dahin,    diesen    die   für  den  sozialen  Fort* 
schritt  geeignetste  Erziehung  zuzusichern. 

Die  Liebe  zum  Kinde  zeige  sich  beim  intelligenteren 
Typus.  Mit  grösserer  Elternliebe  und  sorgfältigerer  Er- 
ziehung der  Kinder  gehe  Hand  in  Hand  eine  Tendenz 
die  Familie  zu  vermindern.  Die  Zunahme  intellektueller 
Kultur  vermindere  die  Produktion.  Aber  die  kultivier- 
testen Typen  zögen  sich  an,  dies  sei  ein  Fortschritt  für 
die  Erziehung.  Mit  der  Kultur  änderten  sich  die  Aeusser- 
ungen  des  Sexualtriebes.  Die  Keuschheit  der  Frau  sei 
ein  Produkt  des  Fortschrittes,  sie  habe  sich  zuerst  ge- 
zeigt. Beim  Manne  habe  sie  sich  später  entwickelt.  Die 
gegenseitige  Liebe  begründe  die  Moral  und  Hygiene  des 
Lebens. 

Die  Zivilisation  habe  als  Ergebnis  die  Unterwerfung 
des  Sexualtriebes  unter  den  Willen.  Nur  bei  Wenigen 
könne  das  Bedürfnis  völlig  unterdrückt  werden,  eine  Auf- 
schiebung sei  aber  meist  möglich,  Schädlichkeiten  ent- 
ständen nicht  daraus. 

Der  sexuelle  Fortschritt  gipfele  in  der  Keuschheit  > 
die,  welche  sie  beobachteten,  seien  die  besten  Eheleute  und 
Eltern.  Sie  hätten  die  Geschlechtskrankheiten  vermieden 
und  hinterliessen  Kinder  ohne  den  Keim  des  Lasters  und 
<ler  Degenerescenz.  Die  Erziehung  bezwecke,  die  Triebe 
des  Menschen  zu  zügeln,  dies  unterscheide  ihn  vom  Tier. 
Dass  die  Keuschheit  bei  der  Frau  erstrebenswert  sei, 
leugne  niemand,  aber  für  den  Mann  wolle  man  eine  Aus- 
nahme machen.  Prostitution  und  venerische  Krankheiten 
seien  jedoch  nur  wirksam  einzuschränken,  wenn  auch  die 
Männer  keusch  blieben.  Die  Achtung  vor  der  individu- 
^'llen  Freiheit  hindere  ein  gesetzliches  Einschreiten  gegen 
die  aussereheliche  Befriedigung  des  Sexualtriebes,  aber 
die  Erziehung  solle  auch  beim  Manne  auf  seine  Ein- 
schränkung hinwirken.  Die  sexuelle  Moral  hänge  mit 
der   allgemeinen  Moral    zusammen.    Die  Keuschheit  der 


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—    344    — 

Frau  sei  die  Gnindlage  der  Zivilisation,  das  Gleiche  gelte 
aber   auch    bezüglich   des   Mannes,    wenn   man  bedenke 
dass  seine  Fehler  Ehebruch,  Erzeugung  unehelicher  Kin- 
der,  Entehrung    der   Mütter,   Verbreitung   ansteckender 
Krankheiten  u.  s.  w.  nach  sich  zögen. 

Kapitel  II: 

Der  Erfolg  gehöre  demjenigen,  der  sich  am  besten 
den  ungünstigen  Bedingungen  anzupassen  wisse.  Der 
Verlust  der  sozialen  Instinkte  sei  eng  verknüpft  mit  dem 
Verlust  der  höheren  sexuellen  Triebe.  Nach  den  sozialen 
Instinkten  seien  zuerst  die  auf  die  dauernde  Vereinigung 
bezüglichen  Triebe  bei  der  Auflösung  des  Geschlechts- 
triebes angegriffen.  Beide  seien  eng  mit  einander  ver- 
bunden. 

Die  Jungen  würden  die  verschiedenen  Stadien  der 
Artentwicklung  durchmachen.  Sie  zeigten  wie  die  Ur- 
ahnen eine  Tendenz  zur  sexuellen  Verwischung  und  regel- 
losen Polygamie.  Deren  Fortdauer  bei  Erwachsenen  unter 
normalen  sozialen  Bedingungen  weise  auf  eine  Störung 
in  der  Entwickelung  des  Geschlechtstriebes  hin.  Die  Auf- 
lösung offenbare  sich  meist  durch  den  Verlust  der  zu- 
letzt erworbenen  Eigenschaften,  der  auf  das  Interesse  der 
sozialen  Grappe  und  der  Gattung  bezüglichen  Triebe, 
d.  h.  der  den  Schutz  der  Jungen  und  die  dauernde  Ver- 
einigung betreffenden  Instinkte.  Ein  schwereres  Zeichen 
der  Auflösung  sei  der  Verlust  der  auf  die  Verfolgung 
und  sexuelle  Anziehung  bezüglichen  Triebe.  Die  Mittej 
der  Anziehung  und  Verfolgimg  seien  bei  Degenerierten 
meist  verkümmert  und  erschwerten  somit  auch  die  Aus- 
wahl. Die  Auflösung  des  Geschlechtstriebes  zeige  sich 
auch  in  der  Verminderung  der  sexuellen  Neigungen. 
Diese  offenbare  sich  in  der  Häufigkeit  der  Effemination 
beim  Manne,  der  Viraginität  bei  der  Frau,  wodurch  die 
sexuellen  Unterschiede  verwischt  würden.  Die  sexuellen 
Perversitäten  bildeten  einen  organischen  Fehler.  Die  Päde- 


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—    345    — 

rastie^  und  zwar  auch  die  erworbiene,  beweise  stets  eine 
anormale  Konstitution,  wenn  sie  sich  in  einer  Umgebung^ 
zeige^  wo  sie  verpönt  sei  und  ausnahmsweise  vorkomme. 
Unter  gewissen  Bedingungen,  so  z.  B.  bei  den  Griechen, 
habe  sie  sich  beim  Mangel  eines  gemeinsamen  Lebens  zwi- 
schen Mann  und  Frau  und  dem  ständigen  Zusammenleben 
der  Männer  unter  einander  ohne  angeborene  Perversion 
entwickeln  können.  Die  beiden  Arten  von  Perversionen 
dürften  nicht  zusammengeworfen  werden,  wie  dies  manche 
Aerzte  thäten,  die  glaubten,  die  sexuelle  Inversion  habe 
stets  existiert,  obgleich  sie  erst  seit  Westphal  bekannt 
und  ihr  früheres  Vorkommen  nicht  feststellbar  sei. 

Die  Vererbungsmöglichkeit  der  Inversion  sei  wahr- 
scheinlich, jedenfalls  sei  eine  Descendenz  der  Invertierten 
nicht  wünschenswert  wegen  der  Gefahr  einer  Vererbung 
ihrer  Entartung.  Deshalb  sei  nicht  ein  normaler  Ge- 
schlechtsverkehr der  Invertierten,  sondern  lediglich  die 
Unterlassung  aller  geschlechtlichen  Beziehungen  zu  er- 
streben. 

Die  Degenerierten  bedeuteten  fehlerhafte  Produkte 
und  eine  soziale  Last,  allerdings  seien  sie  manchmal  auch 
übernormal  und  spielten  eine  wichtige  Holle  in  der  Ent- 
wicklung der  Gattung.  Möge  indess  die  krankhafte  Natur 
des  Talentes  und  Genies  zweifelhaft  sein,  so  könne  man 
doch  ihre  Verwandtschaft  mit  den  Neurosen  nicht  leugnen. 

Die  Bedingungen  der  Degenerescenz  seien  oft  an  die 
Bedingungen  der  Kultur  geknüpft,  allgemeine  Massregeln 
zur  Beseitigung  der  Entartung  könne  man  nicht  ergreifen. 
Je  grösser  die  Kultur,  um  so  häufiger  die  Degenerescenz. 

Die  Degenerierten  bildeten  den  Ausschutt  der  Zivili- 
sation; die  Entartung  sei  das  von  der  Entwicklung  er- 
forderte Mittel  zur  Auslösung  untauglicher  Elemente. 
Der  Verfall  des  Geschlechtstriebes  stelle  das  Phänomen 
der  Degenerescenz  dar,  aus  welchem  die  Tendenz  der  Natur 
zur  Beseitigung  der  Degenerierten  am  klarsten  hervortrete. 


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—    346    — 

Im  Kapitel  III  belmodelt  F^r^  die  sexuellen  Per- 
versitäten bei  den  Tieren.  Er  unterscheidet  solche  be- 
züglich 1)  des  Verhaltens  gegenüber  der  Nachkommen- 
schaft, 2)  der  Schwangerschaft  oder  Incubation,  3)  der 
geschlechtlichen  Begierden  und  Beziehungen. 

Unter  letzteren  bespricht  er  besonders  die  geschlecht- 
lichen Akte  zwischen  Tieren  des  gleichen  Geschlechts.  Er 
führt  an  und  erörtert  einen  Teil  der  von  Kar  seh  im  vor- 
jährigen Jahrbuch  ausführlich  behandelten  Litteratur  und 
entwickelt  seine  eigenen  Anschauungen,  über  welche  gleich- 
falls Karsch  eingehend  berichtet  hat.  Nach  F^r^  giebt  es 
keine  eigentliche  Inversion  bei  den  Tieren,  sondern  es  kämen 
nur  gleichgeschlechtliche  Akte  in  Folge  Mangels  an  Weib- 
chen oder  in  Folge  Täuschung  vor.  Letztere  Behauptung 
stützt  F^r^  namentlich  auf  Experimente  mit  Maikäfern.  Die 
Männchen  hätten  nur  solche  Männchen  geschlechtlich  ge- 
braucht, die  unmittelbar  zuvor  den  normalen  Coitus  ausge- 
übt und  den  Geruch  des  Weibchens  an  sich  getragen  hätten. 

Kapitel  lY:  Anomalien  der  Elternliebe 
beim  Menschen. 

Kapitel  V:  Die  Anomalien  des  Geschlechts- 
sinnes beim  Menschen  im  Allgemeinen. 

Kapitel  VI:  Die  Parästhesien,  wo  der  Ge- 
schlechtstrieb durch  physische  anormale  Reize 
erregt  wird  (z.  B.  Mund,  Finger,  Ohr). 

Kapitel  VII:  Die  psychischen  Parästhes  ien 
(z.  B.Sadismus,  Masochismus).  Diese  Kapitel  enthalten  nichts 
Spezielles  über  Homosexualität,  mit  Ausnahme  des  Kap.  V. 
In  letzterem  einige  Bemerkungen  über  das  frühzeitige 
Auftreten  der  Inversion  wegen  der  Bedeutung  der  Ent- 
wickelungsanomalie  im  Hinblick  auf  die  Degenerescenz 
der  Gattung.  Der  Fehler  sei  grösser,  wenn  ein  mangelndes 
Gleichgewicht  bestehe  zwischen  der  Entwicklung  des 
Triebes  und  der  Geschlechtsorgane.  Die  sexuelle  Inversion 
ze\ge  sich  allerdings  öfters   bei  Kindern,  die  keine  früh- 


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—    347     — 

zeitige  Entwicklung  der  Geschlechtsorgane  aufwiesen 
Die  ersten  Kegungen  des  Geschlechtstriebes  in  der  Puber- 
tät zeichneten  sich  dadurch  aus,  dass  gar  keine  Auswahl 
getroffen  werde,  dass  Alter  und  besondere  Eigenschaften 
gleichgültig  erschienen.  Die  sexuelle  Indifferenz  des 
Pubertätsalters  habe  den  Gedanken  erweckt,  dass  die 
Inversion  eine  Entwicklungshemmung  sei;  die  Nach- 
ahmung, welche  frühzeitig  zu  gleichgeschlechtlichen  Akten 
führe,  beweise  jedoch  im  Gegenteil  eine  Auflösung 
früherer  Erwerbungen  der  Ahnen,  die  mit  der  Degene- 
rescenz  verbunden  sei. 

Kapitel  VIII:  Die  sexuelle  Inversion. 

Zuerst  die  verschiedenen  angeblich  möglichen  Ur- 
sachen der  nicht  angeborenen  Inversion:  Lasterleben, 
Uebersättigung  am  normalen  Verkehr,  Furcht  vor  Ge- 
schlechtskrankheiten oder  Geburten,  mangelhafte  Aus- 
bildung der  Geschlechtsorgane,  die  den  normalen  Coitus 
schwierig  oder  unmöglich  machten,  geistige  Störungen, 
welche  den  Trieb  impulsiv  auslösten. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  Fällen  bestehe  die  instinktive 
Inversion  in  dem  automatischen  Streben  nach  Befrie- 
digung in  anderer  als  der  normalen  Weise,  ohne  dass  die 
Neigung  durch  Gewohnheit  erworben  sei  und  ohne  dass 
besondere  Bedingungen  der  Umgebung  oder  organisch 
erworbene    oder    pathologische    Bedingungen    beständen. 

Die  Inversion  bei  Psychosen,  wo  der  Geisteskranke 
am  Wahn  der  Geschleohtsura  Wandlung  leide,  habe  ijiit 
der  eigentlichen  Inversion  nichts  zu  thun.  Ganz  ab- 
gesehen von  den  Fällen  der  Inversion  aus  pathologischen 
Bedingungen  oder  lasterhaften  Neigungen,  könne  die  eigent- 
liche eingeborene  Inversion  niemals  als  eine  mit  einem 
normalen  Geisteszustand  vereinbare  Erscheinung  betrachtet 
werden,  die  ein  direkter  Ausfluss  des  sozialen  Milieus  wäre. 
Nur  wenn  der  gleichgeschlechtliche  Verkehr,  wie  in  Grie- 
chenland, allgemein  verbreitet,  geduldet  und  von  der  öffent- 


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—    348    — 

liehen  Meinung  sogar  gebilligt  sei,  müsse  man  an- 
nehmen, dass  die  Gewohnheit  von  einer  grossen  Anzahl 
Normaler  geteilt  sei.  Heute,  wo  die  Päderastie  allgemein 
als  lasterhaft  gelte,  sei  das  nicht  der  Fall.  Zweifellos 
seien  heute  die  Leute  mit  Neigung  zum  gleichen  Ge- 
schlecht auch  in  anderer  Beziehung  Anormale.  Hierauf 
folgen  Ausführungen  über  die  Zeit  des  ersten  Auftretens 
der  Homosexualität  beim  Kind,  über  die  psychischen 
Eigentümlichkeiten  und  Eigenschaften  der  Urninge,  ihren 
äusseren  Habitus  etc.,  die  Westphal  und  namentlich  Moll 
entnommen  sind. 

Sodann  eine  Beobachtung  von  Y6r4:  Die  eines 
34jährigen  Gelehrten,  der  seit  dem  10.  Jahr  sexuelle 
Neigung  zu  jungen  Burschen  verspürt,  manche  Unannehm- 
lichkeiten in  Folge  seiner  Leidenschaft  durchgemacht, 
aber  stets  seine  Begierde  zur  Vornahme  gleichgeschlecht- 
licher Akte  unterdrückt  hat,  sich  durch  Masturbation  und 
erzwungenen,  ihn  anekelnden  normalen  Coitiis  behilft  und 
an  verschiedenen  nervösen  Störungen,  insbesondere  an 
eigentümlichen  Zwangsvorstellungen,  betreffend  syphili- 
tische Ansteckung,  leidet  Hieran  reihen  sich  Auslassungen 
über  die  von  den  Homosexuellen  bevorzugten  Objekte 
und  über  die  Art  ihrer  Befriedigung,  welche  ebenfalls 
nur  die  Erfahrungen  verschiedener  Autoren,  insbesondere 
MoUs,  wiedergeben.  Nach  Bemerkungen  über  die  mit 
sonstigen  sexuellen  Anomalien  komplizierte  Inversion 
bringt  F^r^  die  bekannte  Einteilung  der  Inversion  von 
Krafll-Ebing  in  4  Klassen,  welche  er  im  Allgemeinen 
billigt.  Das  Kapitel  endigt  mit  Angaben  über  die  Homo- 
sexualität bei  der  Frau,  ebenfalls  lediglich  auf  Grund  der 
Werke  von  Krafft-Ebing,  Moll  und  Ellis. 

F^re  schliesst  das  Kapitel  mit  den  Sätzen:  Die  In- 
version sei  eine  der  charakteristischsten  Formen  der  Auf- 
lösung des  Geschlechtstriebes  und  der  Degenerescenz, 
obgleich    sie  mit   einer  bedeutenden    intellektuellen  Ent- 


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—    349    — 

Wicklung  zusammeutreffen  könne.  Ohne  die  vielen  be- 
rühmten Männer,  die  man  ohne  genügenden  Grund  zu 
den  Invertierten  zähle,  mit  zu  rechnen,  könne  man  doch 
manche  hervorragende  Männer  nennen,  deren  Inversion 
sicher  bewiesen  zu  sein  scheine. 

Kapitel  IX:  Die  sexuellen  Inversionen  von 
symptomatischer  Bedeutung: 

Zunächst  nochmals  Unterscheidung  zwischen  ange- 
borener und  erworbener  Inversion.  Die  Ursachen  der 
Erwerbung  wirkten  sehr  verschieden;  die  Möglichkeit 
ihrer  Wirkung  deute  schon  auf  krankhafte  Anlage;  so 
führe  nur  bei  gewissen  Individuen  der  Weibermangel 
zu  gleichgeschlechtlichen  Akten;  das  obligatorische  Cöli- 
bat  werde  oft  gerade  von  Leuten  mit  schwachem  Ge- 
schlechtstrieb gewählt.  Furcht  vor  ansteckenden  Krank- 
heiten oder  Geburten  könne  nur  Personen  mit  eigen- 
tümlicher Emotivität  beeinflussen. 

Die  Masturbation  könne  allerdings  indirekt  auf  spätere 
Perversionen  als  Ursache  der  Impotenz  wirken.  Alle 
Ursachen  der  Impotenz  (Lasterleben  und  Uebersättigung) 
könnten  sexuelle  Anomalien  hervorbringen. 

Während  die  konstitutionelle  Inversion  gewöhnlich 
mit  sexueller  Hyperästhesie  einhergehe,  träfen  die  er- 
worbenen Anomalien  meist  mit  einem  gewissen  Grad  der 
Impotenz  zusammen. 

Das  spätere  Auftreten  sexueller  Perversionen  sei  oft 
an  geistige  Störungen  gebunden,  namentlich  begegne  man 
ilmen   in  den  ersten  Perioden  der  progressiven  Paralyse. 

Besonders  die  Epilepsie  biete  häufig  sexuelle  Ano- 
malien. Fer^  erörtert  in  dieser  Beziehung  die  Forschungen 
von  Tamowsky,  der  darauf  hinweise,  dass  die  Inversion 
oft  ein  Symptom  der  Epilepsie,  eine  Art  des  Paroxys- 
mus  sei 

Sodann  bringt  F^r^  fünf  eigene  Beobachtungen  von 
Fällen,  wo  die  konträre  Sexualempfindung  entweder  nur 


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—    350    — 

Symptom,  bezw.  Vorläufer  einer  ganz  bestimmten  Krank- 
heit gewesen  und  mit  deren  Auftreten  verschwunden  oder 
wo  wenigstens  der  Nachweis  ganz  bestimmter  physischer 
Zusammenhänge  erbracht  sei. 

1)  Prähemiplegische  sexuelle  Inversion.  Ein  63 jäh- 
riger Mann,  der  sein  Leben  lang  an  verschiedenen  ner- 
vösen Störungen  gelitten,  stets  aber  normal  gefühlt  und 
verkehrt,  verspürt  Anfangs  der  60.  Jahre  während 
wechselnder  Zustände  heftiger  Kopfschmerzen  plötzlich 
einen  starken  Impuls  zu  einem  18jährigen  Burschen  und 
versucht  sogar  einen  sexuellen  Angriff  auf  ihn.  Dieser 
Impuls  geht  unmittelbar  einem  Anfall  von  Hemiplegie 
voraus.  Mit  dem  Ausbruch  der  Lähmung  verschwinden 
die  homosexuellen  Neigungen. 

2)  Inversion,  gebunden  an  die  „Ataxie  locomo- 
trice".  48 jähriger  Mann,  hat  in  der  Jugend  stark  im 
normalen  Verkehr  excediert,  später  geheiratet,  nur  noch 
wenig  coitiert;  im  35.  Jahre  zum  ersten  Male  stechende 
Schmerzen  in  den  unteren  Gliedmassen,  einige  Jahre 
später  erneuter  Anfall,  drei  Jahre  später  Störungen  im 
Gange,  fortschreitende  krankhafte  Symptome,  schliesslich 
völlige  Unfähigkeit  zu  sexuellem  Verkehr.  In  diesem  Sta- 
dium plötzliche  Neigung  zu  jungen  Leuten  und  Abscheu 
vor  Frauen.  Nächtliche  Pollutionen  mit  homosexuellen 
Träumen.  Strebte  nunmehr  danach,  sich  im  Gedränge 
an  Burschen  zu  drücken  und  ihre  Geschlechtsteile  zu  be- 
rühren. Nach  fünfmonatlichem  Bestand  dieses  Zustandes 
Paralyse  der  unteren  Gliedmassen,  zweifellose  fortschrei- 
tende Tabes  dorsalis,  Verschwinden  jeglichen  geschlecht- 
lichen Dranges,  Beseitigung  der  homosexuellen  Gefühle 
und  des  Abscheues  gegen  die  Frauen. 

3)  Periodische  Anfälle  instinktiver  Perversion  bei 
einem  Gichtleidenden.  Ein  46-jähriger  früherer  Fabrik- 
besitzer, stets  normal  fühlend,  empfindet  gegen  Ende  der 
30er  plötzlich  sexuelle  Dränge  für  Knaben.    Die  Anfälle 


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—    351    — 

dauern  5 — 7  Tage,  ungefähr  zweimal  jährlieh.  Er  sucht 
Orte  auf,  wo  er  die  Jungen  beobachten  kann,  trifift  seine 
Wahl  und  geht  schliesslich  auf  einen  zu;  in  diesem  Moment 
hat  er  eine  Pollution,  die  ihn  sofort  zurückhält.  Nach 
sieben  Jahren  wird  er  von  Gicht  befallen,  die  homosexu- 
ellen Dränge  verschwinden,  wiederholen  sich  nicht  mehr^ 
werden  dagegen  ersetzt  durch  5 — 7  Tage  dauernde  Gicht- 
anfälle, etwa  zweimal  im  Jahre. 

4)  Neurasthenie,  Morphinomanie,  impulsive  sexuelle 
Perversion  während  des  Amorph inismus,  Unterbrechung 
der  Morphinomanie.  Ein  Morphinomane  empfindet,  wenn 
er  seiner  Morphiumsucht  nicht  nachkommt,  homosexuelle 
Dränge  von  impulsiver  Gewalt,  obgleich  er  früher  stets 
normal  fühlend  gewesen.  Mit  der  Einspritzung  tritt  so- 
fort Beruhigung  und  Beseitigung  des  homosexuellen  Lii- 
pulses  ein.  Patient  wird  allmählig  von  der  Morphiuni- 
sucht  geheilt,  homosexuelle  Anwandlungen  zeigen  sich 
nicht  mehr. 

5)  Sexuelle  Hyperästhesie  im  Zusammenhang  mit  der 
Kürze  der  Vorhaut.  SOjähriger  Mann,  im  17.  Jahr  Be- 
gierde nach  Frauen,  aber  Schwierigkeit  des  Coitus,  stets 
Ejaculatio  ante  portas,  allmälig  Abscheu  vor  den  Frauen, 
weitere  Coitusversuche  unterlassen.  Nach  und  nach  Träume 
homosexuellen  Inhalts,  plötzlich  heftiger  sexueller  Impuls 
zu  einem  seiner  Arbeiter,  einem  kräftigen,  an  sich  wenig 
anziehenden,  dem  Trünke  ergebenen  Manne.  Erneute 
Coitusversuche  immer  nicht  befriedigend.  Durch  Be- 
scbneidung  der  Vorhaut  Coitus  erleichtert,  Ejaculation 
normal  verzögert,  häufiger  geschlechtlicher  Verkehr  mit 
vollem  Genuss,  völlige  Beseitigung  der  homosexuellen 
Neigungen. 

Kapitel  X:  »Somatische  und  psychische 
Störungen,  welche  die  sexuellen  Beziehungen 
begleiten  oder  ihnen  nachfolgen,*'  enthält  keine 
auf  die  Homosexualität  bezüglichen  Ausführungen. 


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—    352     — 

Kapitel   XI:      Die   Anlage    und    die   veran- 
assendeu  Faktoren  in  der  Aetiologie  dersexu- 
-eilen  Perversionen. 

F^r^  bespricht  zunächst  eine  Anzahl  von  Theorien 
über  die  Entstehung  der  Inversion,  von  denen  keine  ihn 
befriedigt.  Die  Erklärung  als  Erscheinung  des  Atavismus 
unter  Hinweis  auf  die  bisexuelle  Organisation  gewisser 
Tiere  sei  unbefriedigend,  denn  gerade  bei  Tieren  sei  eine 
-eigentliche  Inversion  bis  jetzt  nicht  erwiesen,  ebenso 
wenig  sei  die  Annahme  einer  Vererbung  von  Anlagen  in 
vielen  Fällen  gerechtfertigt^  auch  das  aus  der  Bisexualität 
des  Embryo  gezogene  Argument  könne  nicht  genügen. 
Der  Umstand,  dass  eine  Periode  von  Hermaphroditismus 
bestehe,  beweise  nicht,  dass  in  irgend  einem  Moment  der 
Entwicklung  ein  wirkliches  sexuelles  Indifferenzstadium 
vorhanden  sei.  Die  Tendenz  zur  Spezialisierung  könne 
schon  zur  Zeit  des  Zeugungsaktes  existieren,  die  sexuellen 
Charaktere  seien  nicht  notwendigerweise  in  einer  Gruppe 
von  Organen  konzentriert^  sondern  in  allen  Elementen 
des  Organismus  zerstreut. 

Die  Annahme  der  Erwerbung  lediglich  intra  vitam  habe 
viel  für  sich.  F^r^  entwickelt  nun  im  Allgemeinen  die 
schon  oben  bei  Dühren  erwähnte  bekannte  Argumentation 
von  Schrenk-Notzing,  wonach  die  Inversion  und  überhaupt 
alle  sexuelle  Perversion  auf  ein  zufälliges  vererbendes 
Moment  zurückzuführen  sei.  Fdr^  schliesst  sich  dieser  Auf- 
fassung nicht  an.  Mit  Recht  betont  er,  dass,  weil  äussere 
Umstände  die  Entwicklung  der  Perversion  beeinflussen 
könnten,  noch  nicht  daraus  folge,  dass  diese  allein  sie 
hervorzubringen  vermöchten.  Viele  Individuen,  die  den 
gleichen  Bedingungen  wie  die  Perversen  ausgesetzt  seien, 
würden  doch  nicht  beeinflusst.  Der  Einfluss  der  äusseren 
Umstände  beweise  nicht,  dass  keine  organischen  Beding- 
ungen im  Spiel  seien,  sondern  nur,  dass  die  organischen 
Bedingungen  eines  erregenden  Faktors  bedürften.     Wenn 


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—    363    — 

der  Invertierte  unter  dem  Einfloss  einer  physischen  Be- 
dingung die  Inversion  erwerbe^  so  habe  er  eben  von 
Geburt  her  eine  Fähigkeit,  sie  zu  erwerben,  mitgebracht, 
die  Andern,  welche  die  gleichen  Gelegenheiten  durch- 
gemacht, fehle.  Gerade  das  frühzeitige  Auftreten  der  Per- 
version beim  Kinde  werde  nicht  durch  die  Associations- 
theorie  erklärt,  namentlich  wenn,  was  gewöhnlich  der 
Fall  sei,  die  Entwicklung  der  Geschlechtsorgane  einen 
anomalen  Verlauf  aufweise. 

Die  congenitale  Anomalie  oder  die  erworbene  patho- 
logische Bedingung,  welche  beide  die  entscheidende  An- 
lage bilden  könnten,  dürfe  man  nicht  den  bloss  äusseren 
Bedingungen  und  der  Association  unterordnen. 

Es  folgen  mehrere  eigene  Beobachtungen  von  Fö*^, 
welche  die  jeweilige  Bedeutung  der  Anlage  und  des  occa- 
sionellen  Momentes  beleuchten  sollen. 

1)  Eine  Frau  fühlte  sich  als  Kind  in  eigentümlicher 
Weise  durch  die  Brüste  der  Mutter  angezogen  und  empfand 
zugleich  seltsame  Eifersucht  und  Abscheu  gegen  den  Vater, 
seitdem  sie  ihn  der  Mutter  beim  Ausziehen  der  Kleider 
behülflich  sah.  Zur  Pubertätszeit  Neigungen  zu  Frauen 
und  zugleich  Abscheu  vor  den  Männern.  Trotzdem  Heirat 
mit  einem  äusserlich  etwas  schmächtigen,  weibischen  Mann. 
Den  geschlechtlichen  Verkehr  mit  ihm  stets  nur  mit  Wider- 
willen ausgeführt. 

Fere  bemerkt  hierzu:  Der  sexuellen  Anomalie  sei 
ein  Widerwille  gegen  den  Vater  vorangegangen.  Dieser 
Widerwille  sei  an  ein  Gefühl  der  Eifersucht  gebunden 
gewesen,  dessen  krankhafter  Charakter  keinem  Zweifel 
unterliege.  Der  Hang  für  die  mütterlichen  Brüste  sei 
schon  ein  Stigma.  Der  Eindruck,  welcher  durch  den 
Anblick  des  eines  Kontaktes  mit  diesen  Organen  ver- 
dächtigen Vaters  hervorgerufen  worden  sei,  habe  die 
Gelegenheit  für  einen  Widerwillen  gegen  das  gesamte 
männliche  Geschlecht  abgegeben  und  hierauf  hätten  sich 

Jahrbuch  m.  28 


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—    354    — 

auch  die  homosexuellen  Neigungen  entwickelt.  Der  An- 
blick, der  das  occasionelle  Moment  gebildet,  sei  ein  äusserst 
gewöhnlicher,  wie  kein  Kind  ihn  noch  vermieden. 

Die  Erwerbung  der  Perversion  habe  nur  stattfinden 
können,  weil  das  Kind  eine  eigenartige  Fähigkeit,  sie  zu 
erwerben,  besessen. 

2)  Mann  von  41  Jahren,  hat  im  dritten  Lebensjahr 
zufällig  im  Bett  der  Mutter  deren  mit  Haaren  bedeckten 
Geschlechtsteil  berührt.  Dadurch  sind  in  ihm  Gedanken 
eines  an  dem  Leibe  der  Mutter  befindlichen  Tieres  und 
Angstgefühle  erweckt  worden.  Seither  haben  ihm  alle 
Frauen,  weil  verdächtig,  , einen  gleichen  Gegenstand  zu 
besitzen",  Ekel  erregt,  der  durch  Lektüre  anatomischer 
Bücher  und  Beschreibungen  von  Geschlechtskrankheiten 
noch  bestärkt  wurde.  Im  15.  Jahr  Anziehung  durch 
einen  kräftigen,  männlich  entwickelten  Knaben,  diese  Nei- 
gung bald  auch  in  den  Träumen  bemerkbar. 

Im  27.  Jahr  zwang  er  sich  zum  Coitus,  der  zuerst 
misslang  und  nur  durch  Gedanken  an  einen  geliebten 
Freund,  aber  ohne  Genuss,  möglich  wurde.  Seither  kein 
Versuch  mehr,  niemals  Gelegenheit  zu  gleichgeschlecht- 
lichem Verkehr.  Nervöse  Beschwerden  gebessert  durch 
Kuren,  aber  homosexuelle  Neigungen  unverändert,  und 
homosexuellen  Träumen  unterworfen.  Im  Anschluss  an 
diesen  Fall  weist  F^r^  auf  die  charakteristische  Bedeutung 
der  Träume  für  das  Vorhandensein  der  Inversion  hin; 
es  könne  indess  Fälle  geben,  wo  die  Inversion  sich  lediglich 
im  Traume  geltend  mache  bei  sonst  normaler  vita  sexualis. 

Nach  drei  weiteren  Beobachtungen  über  Sadismus, 
Autofetischismus  und  Masochismus  allgemeine  Schlussfol- 
gerungen, in  denen  F^r^  nochmals  betont,  dass  die  gewöhn- 
liche Banalität  des  occasionellen  Moments  gerade  die 
Wichtigkeit  der  Anlage  beweise  und  dass  die  Anlage, 
die  sich  lediglich  durch  eine  offenliegende  oder  latente 
Missbildung  erkläre,  eine  Fähigkeit,  die  Anomalie  zu  er- 


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—    355    — 

werben,  bilde.  Nur  diese  Anlage  sei  erblich,  angeboren  oder 
entwickelbar;  die  Anomalie,  die  nur  wegen  dieser  Erwer- 
bungstähigkeit  erworben  werden  könne,  sei  nichts  desto 
weniger  an  die  erbliche,  eingeboren^  oder  entwickelbare 
Ausbildung  gebunden.  Die  unter  diesen  Bedingungen  er- 
worbene Anomalie  unterscheide  sich  praktisch  nicht  von 
einer  erblichen,  eingeborenen  oder  entwickelbaren  Ano- 
malie. Trotz  alledem  sei  die  Bedeutung  der  äusseren  Um- 
stände und  der  Association  nicht  zu  leugnen,  viele  Prä- 
disponirte  entgingen  sicherlich  der  Inversion  mangels 
Eintritts  eines  wirksamen  Erregers.  Die  äusseren  Umstände 
seien  besonders  wichtig  in  der  Kindheit. 

Die  frühzeitigen  und  anomalen  Reactionen  Hessen  sich 
nur  erklären  durch  eine  anomale  Reizbarkeit,  die  mit  einer 
Entwicklungsanomalie  verbunden  sei.  Dieser  an  eine  ver- 
spätete oder  gehemmte  Entwicklung  gebundenen  anomalen 
Reizbarkeit  könne  man  in  allen  Verhältnissen  anomaler 
oder  gestörter  Evolution  begegnen,  in  den  Stadien  physi- 
ologischer Krisen  oder  infolge  krankhafter  Störungen  der 
Ernährung.  Die  sexuelle  Indifferenz,  so  häufig  zur  Puber- 
tätszeit, dass  Dessoir  sie  als  normal  betrachtet  habe,  könne 
sich  bei  Zuständen  physischer  Depression,  in  der  Konva- 
lescenzzeit  gewisser  Krankheiten,  in  den  neurasthenischen 
Krisen  u.  s.  w.  wiederholen.  Die  Wichtigkeit  der  konsti- 
tutionellen Anlage  erkläre  die  zahlreichen  therapeutischen 
Misserfolge.  Aber  die  Thatsache,  dass  des  öfteren  die 
anomalen  sexuellen  Störungen  mit  den  sie  veranlassenden 
physischen  Bedingungen  beseitigt  würden,  liefere  den  Be- 
weis, dass  eine  solche  Störung  nicht  notwendigerweise  für 
immer  sich  eingenistet  habe.  Deshalb  müsse  man  die  mo- 
ralischen und  physischen  Bedingungen  aufsuchen,  die  ge- 
eignet wären,  die  Inversion  zu  beeinflussen. 

Kapitel  XII:  Die  Descendenz  der  sexuellen 
Anomalie. 

Abermals   zunächst  Unterscheidung  zwischen  erwor- 

23* 


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bener  und  angeborener  Inversion ;  Bemerkungen  über  die 
Heilbarkeit  durch  Hypnose^  die  F^r^  im  allgemeinen  auch 
bei  der  erworbenen  Inversion  nur  dann  lür  möglich  hält^ 
wenn  die  Inversion«  sich  aus  beeinflussbaren  organischen 
Bedingungen  entwickelt  habe  oder  als  Folgezustand  ge- 
wisser £j*ankheiten    mit  deren  Beseitigung   verschwinde. 

Die  angeborene  Inversion  könne  sich  vererben,  sei 
es  in  gleicher  oder  zunehmender  Stärke. 

Folgen  Erörterungen  der  Theorien  der  Inversion  als 
Degenerationszeichen  (Krafll-Ebing  —  Erklärung  aus  der 
.  bisexuellen  Fötalanlage  —  Dessoir  —  sexuelle  Indiflerenz 
im  Pubertätsalter  —  EUis  —  angeborene  Veranlagung.) 
Sodann  die  Anschauungen  Raflalovich's.  Die  Existenz  von 
Invertierten,  die  vom  morphologischen  Gesichtspunkt  nor- 
mal seien,  rechtfertige  auf  den  ersten  Blick  allerdings  die 
Meinung,  die  Invertierten  brauchten  weder  Degenerierte 
noch  Verbrecher  noch  Kranke  zu  sein.  Mit  Recht  unter- 
scheide auch  Baffalovich  zwischen  keuschen  und  massigen 
einer-  und  sinnlichen  und  lasterhaften  andererseits. 

F^r^  giebt  dann  (S.  271 — 274)  die  Anschauungen  von 
Baffalovich  im  einzelnen  wieder;  er  wendet  sich  aber  ge- 
gen dessen  Behauptung,  dass  der  höher  geartete  Inver- 
tierte (der  inverti  sup^rieur)  kein  Degenerierter  sei. 

Die  Abwesenheit  von  Stigmata  schliesse  nicht  die 
Degenerescenz  aus.  Dis  Störung  der  sexuellen  Funktion 
könne  das  einzige  krankhafte  Symptom  bilden  oder  we- 
nigstens in  keinerlei  äusserlich  wahrnehmbaren  Missbil- 
dungen sich  offenbaren. 

Wenn  man  auch  annehmen  wollte,  dass  die  Inversion 
so  häufig  bei  bedeutenden  Männern  zu  finden  sei,  als  man 
es  behaupte,  so  könne  man  doch  nicht  daraus  schliessen, 
dass  die  Inversion  eine  normale  Erscheinung  darstelle. 

Es  träfen  dann  eben  zwei  Anomalien  zusammen. 

Was  man  conträre  Sexualempfindung  nenne,  sei  im 
Grunde  die  Verneinung  des  Geschlechtstriebes. 


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—     857    — 

Hierauf  teilt  F^r^  2  eigene  Beobachtungen  mit,  aus 
denen  hervorgehe,  dass  die  Degenerescenz  zeugungs- 
fähiger Invertierter  sich  in  der  Entartung  der  Descendenz 
zeigen  könne : 

1)  Ein  homosexueller  Vater,  der  niemals  Neigung  zum 
Weibe  empfunden,  hat  auf  Anraten  des  Arztes  geheiratet, 
trotz  instinctivem  Horror  vor  seiner  Frau.  Den  Coitus 
mit  ihr  nur  unter  heftigem  Widerwillen  ausgeftihrt  Drei 
Söhne  erzeugt:  2  ganz  idiot,  einer  epileptisch.  Letzterer 
hat  im  18.  Lebensjahr  auf  den  jüngeren  Bruder  einen 
päderastischen  Angriff  gemacht. 

An  diesen  Fall  anschliessend,  bemerkt  F^r^:  Die 
falsche  Auffassung,  die  Inversion  sei  eine  Perversion  der 
Einbildungskraft  ohne  organische  Basis  und  man  müsse 
sie  durch  Ueberredung  und  durch  alle  den  normalen 
Verkehr  ermöglichenden  Mittel  überwinden,  sei  für  seinen. 
Patienten  eine  Ursache  unsäglicher  Qualen  und  kranker 
Nachkommenschaft  gewesen. 

2)  Eine  seit  frühester  Kindheit  homosexuelle  Frau 
hat  auf  den  Rat  der  Eltern  imd  ihres  Beichtvaters  trotz 
Abneigung  gegen  die  Männer  im  24.  Lebensjahr  ge- 
heiratet Den  ehelichen  Verkehr  hat  sie  nur  mit  Ekel 
geduldet;  seit  dem  38.  Lebensjahr  hat  derselbe  aufgehört. 
Ihre  homosexuellen  Neigungen  unverändert  Sie  hat  zwei 
Töchter  geboren.  Die  eine  ist  epileptisch,  die  andere 
hat  Selbstmord  begangen,  wie  die  Mutter  glaubt,  weil 
sie  bei  sich  homosexuelle  Gefühle  entdeckt  habe. 

Wie  der  Mann  der  ersteren  Beobachtung,  fügt  F^r^ 
hinzu,  habe  auch  diese  Frau  unter  dem  Bewusstsein  ihrer 
Anomalie  schwer  gelitten.  Die  meisten  Invertierten  hätten 
das  Bewusstsein  ihrer  Krankhaftigkeit;  die,  welche  sich 
für  normal  hielten,  angesichts  aller  ihrer  anders  gearteten 
Mitmenschen,  seien  nicht  nur  Invertierte,  sondern  Geistes- 
kranke. Was  die  Vererbung  der  Inversion  bei  der  Beo- 
bachtung 2  angehe,  so  sei  sie   nicht  genügend  erwiesen, 


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•    —    358    — 

aber  jedenfalls  lasse  auch  diese  ersehen,  dass  die  Ehe 
und  die  Zeugung  von  Nachkommen  bei  Invertierten  nicht 
wünschenswert  seien. 

Am  Schluss  des  Kapitels  betoftt  F^rö  nochmals,  dass  er 
jedenfalls  die  angeborene  Inversion  für  völlig  unheilbar 
halte.  Man  solle  sich  auch  nicht  bemühen,  geborene  In- 
vertierte normal  fühlend  zu  machen,  dies  könne  nur  eine 
weitere  Perversion  bewirken.  Derartige  Versuche  seien 
entschuldbar,  wenn  es  sich  um  impulsiv  Veranlagte  handele, 
die  durch  ihre  Handlungen  Verbreiter  der  Perversion  wer- 
den könnten.  Invertierten,  welche  aber  im  Stande  seien, 
keusch  zu  bleiben,  sei  eine  ihrer  Natur  entgegengesetzte 
sexuelle  Angewöhnung  ohne  irgend  welchen  Nutzen.  Ge- 
rade weil  die  Invertierten  Degenerierte  seien,  die  ihre 
Entartung  in  der  Nachkommenschafl  fortpflanzen  könn- 
ten, sollten  sie  von  der  Ehe  ausgeschlossen  werden. 

Kapitel  XIII:  Sexuelle  Erziehung  und 
Hygiene. 

Allgemeine  Erörterungen  über  die  Kindererziehung, 
Notwendigkeit,  alles  Sexuelle  von  ihnen  fern  zu  halten, 
Bedeutung  geschlechtlicher  Angrifle  auf  Kinder  für  ihr 
späteres  Leben.  Gefährlichkeit  und  Schädlichkeit  der 
Masturbation  auch  für  Erwachsene,  sie  sei  aber  nicht 
durch  Anraten  ausserehelichen  Geschlechtsverkehrs  zu 
bekämpfen,  sondern  durch  Erziehung  zur  Enthaltsamkeit. 
Diese  völlig  ungefährlich  und  unschädlich,  die  gegen- 
teiligen Behauptungen  beruhten  auf  Irrtum. 

Der  aussereheliche  Geschlechtsverkehr  die  Quelle 
aller  möglichen  Uebel:  Prostitution,  Ehebruch,  unehe- 
liche Kinder,  Geschlechtskrankheiten. 

Heute  könnten  allerdings  die  sexuelle  Hygiene  und 
Moral  nicht  diu-ch  Gesetze  geregelt  werden.  Man  sei 
nur  im  Stande,  gegen  Oeffentlichkeit  und  Gewaltthätig- 
keit  des  Lasters  einzuschreiten.  Familie  und  Individuum 
müssten  von  der  absoluten  Gefährlichkeit   der  sexuellen 


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—    359    — 

Vermischung  sowohl  vom  sozialen  als  individuellen,  vom 
moralischen  als  physischen  Standpunkt  aus  durchdrungen 
werden. 

Die  Notwendigkeit,  die  ersten  Regungen  des  Ge- 
schlechtstriebes zu  überwachen,  dränge  sich  besonders 
bezüglich  Individuen  aus  nervösen  Familien  auf,  nament- 
lich wenn  sich  schon  psychosexuelle  Anomalien  geoffenbart 
hätten.  Alle  mit  einer  Geschlechtsanomalie  irgendwie 
zusammenhängenden  oder  auf  eine  solche  deutenden  Neig- 
ungen müsse  man  so  frühzeitig  wie  möglich  bekämpfen. 
Der  Wert  der  Enthaltsamkeit  müsse  dem  Geist  ein- 
gepflanzt werden.  Viele  Invertierte  oder  Anomale  über- 
haupt hätten  keine  wirklichen  Impulse,  oft  seien  sie  im 
Stande,  ihren  Begierden  zu  widerstehen,  sogar  ohne  straf- 
rechtliche Drohung. 

Körperliche  Anstrengungen  und  geistige  Arbeiten 
seien  zur  Ablenkung  sehr  nützlich.  Normaler  Geschlechts- 
verkehr sei  kein  geeignetes  Heilmittel.  Für  die  von 
Geburt  Invertierten  bilde  er  eine  widernatürliche  Handlung, 
die  ihnen  Ekel  verursache  uud  körperlich  ungünstig  wirke. 
Nur  bei  Grenzfällen  seien  Aenderungen  des  Gefühls 
durch  den  normalen  Coitus  zu  erhoffen.  Auch  durch 
Hjrpnotismus  seien  wenig  Erfolge  zu  erzielen;  den  an- 
geblichen Heilungen,  auch  den  von  Schrenk-Notzing  be- 
richteten, gegenüber  verhält  sich  F^r^  skeptisch:  Oft 
glaubtensichdieKrankengeheilt,weilsieeswünschten. 

Aber  auch  der  scheinbar  Geheilte,  der  nunmehr 
normalen  Geschlechtsverkehrs  fähig  sei,  könne  nicht  als 
ein  gesundes,  zur  Zeugung  geeignetes  Individuum  be- 
trachtet werden.  Die  Behandlung  habe  darin  zu  bestehen, 
der  Onanie  vorzubeugen  und  die  anormalen  Neigungen 
zurückzudrängen.  Das  zu  erreichende  Ideal  sei  nicht 
normaler  Geschlechtsverkehr,  sondern  die  Enthaltsamkeit 

Wenn  schon  bei  den  Normalen  aussereheliche  Be- 
ziehungen   nicht    angeraten    werden    dürften,    solle  man 


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—    360    — 

umso  weniger  die  Anormalen  zu  irgend  einem  Geschlechts- 
verkehr oder  zur  Ehe  drängen. 

Die  Fortpflanzung  der  Entarteten  könne  indess  nicht 
ganz  allgemein  verboten  werden,  weil  zweifellos  unter  der 
Descendenz  der  Entarteten  sich  auch  für  die  Evolution 
nützliche  Individuen  vorfänden.  Diese  Möglichkeit  recht- 
fertige die  Duldung  und  Unterstützung  der  Degenerierten. 

Die  aber,  welche  Zeichen  sexueller  Auflösung  an 
sich  trügen,  zeichneten  sich  durch  eine  ausgesprochene 
Tendenz  schadhafter  Fortpflanzung  aus.  Die  Rolle  des 
Arztes  sei  es  nicht,  durch  nicht  zu  rechtfertigende  Mittel 
gegen  ihre  natürliche  Tendenz  des  Aussterbens  zu  kämpfen. 

KapitelXIV:  Die  Verantwortung  und  die 
Anomalien  des  Geschlechtstriebes. 

Der  Geschlechtstrieb  sei  die  Grundlage  der  moral- 
ischen Entwicklung  und  eine  Notwendigkeit  für  die  Race; 
die  das  Geschlecht  verneinenden  Perversionen  daher 
schädlich  und  folglich  unmoralisch,  und  zwar  um  so  ge- 
fährlicher, je  impulsiveren  Charakter  diese  Neigungen 
aufMdesen;  denn  die  Nachahmung  sei  um  so  mehr  zu  be- 
fürchten bei  unwiderstehlichen  Tendenzen. 

Von  diesen  Erwägungen  ausgehend,  wundert  sich 
F^r^,  dass  man  in  Deutschland  die  Beseitigung  der  Be- 
strafung homosexueller  Akte  erstrebe,  und  wendet  sich 
dagegen.  Wenn  auch  die  Invertierten  mehr  als  die  Nor- 
malen gerade  wegen  der  Heftigkeit  ihrer  Triebe  da- 
runter litten  und  die  Befriedigung  als  wohlthuend  empfänden, 
so  sei  dies  kein  Grund  für  die  Gesellschaft^  sie  zu  dulden, 
ebenso. wenig  wie  man  Handlungen  anderer  Impulsiver, 
z.  B.  der  Pyromanen,  gestatten  könne.  Alle  seien  gleich 
schädlich«  Wenn  man  annähme,  dass  Gewohnheit  und 
Beispiel  allein  die  Inversion  zur  Entwicklung  zu  bringen 
vermögen,  so  wäre  der  Verkehr  mit  den  Invertierten  schon 
eine  soziale  Gefahr. 

Die  Krankhaftigkeit  der  Invertierten  käme  nicht  in 


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—    861    — 

Betracht:  Vom  Gesichtepunkt  der  sozialen  Verteidigung 
habe  die  Unterscheidung  zwischen  Kranken  und  Ver- 
brechern keine  wissenschaftliche  Berechtigung.  Diese 
Unterscheidung  könne  nur  auf  der  im  Allgemeinen  an- 
genommenen Anschauung  beruhen^  dass  alle  anormale 
Aeusserung  des  Geistes  ein  anormales  Funktionieren  der 
nervösen  Elemente  zur  Bedingung  habe^  die  ihrerseits  an 
eine  Entwicklungsanomalie  oder  eine  Ernährungsstörung 
gebunden  sei.  Wenn  der  Zusammenhang  bei  den  Geistes- 
kranken zweifellos  bestehe,  so  sei  er  gerade  so  notwendig 
bei  den  Geistesgesunden.  Wollte  man  eine  Kategorie  von 
entschuldbaren  Delinquenten  wegen  Störungen  in  der  Ent- 
wicklung oder  in  der  Ernährung  des  Gehirns  aufrecht 
erhalten,  so  müsste  man  zuerst  beweisen,  dass  es  Ver- 
brecher gebe,  die  unabhängig  von  solchen  Störungen 
handelten. 

Wenn  die  Befriedigung  der  Triebe  kein  Verbrechen 
sein  könne,  so  gäbe  es  überhaupt  kein  Verbrechen.  Wenn 
die  Notwendigkeit  einer  sexuellen  Hygiene  geboten  sei, 
so  müsse  das  Gesetz  diese  Hygiene  durchführen  und 
alle  für  die  Gesellschaft  schädlichen  Aeusserungen  zurück- 
drängen, ohne  Unterschied  der  Individualitäten.  Es  be* 
stehe  kein  physiologischer  Grund,  um  nicht  den  Ge- 
schlechtstrieb wie  die  andern  Triebe  zu  zügeln,  die 
utilitaristische  Moral  ebenso  wie  die  Hygiene  erforderten 
die  Einschränkung  seiner  Auswüchse. 

Die  Schrift  von  F^r^  ist  ein  Werk  durchaus  wissen- 
schaftlichen Charakters,  obgleich  es  keine  besondere  Tiefe 
aufweist  imd  sich  mit  den  eine  weit  grössere  eigene  Er- 
fahrung und  selbständigere  Verarbeitung  des  gesammelten 
Materials  aufweisenden  Büchern  von  Krafll-Ebing,  Moll, 
Ellis,  Schrenk-Notzing  nicht  messen  kann.  F^r^  giebt  im 
Wesentlichen  nur  die  Ergebnisse  anderer  Forscher  .wieder 
und  zieht  hieraus  einige  Schlussfolgerungen  moral-philo- 
sophischer    und    sozial-hygienischer    Art.      Eigenartiges 


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—    362    — 

bringt  er  eigentlich  lediglich  in  dem  Kapitel  IX,  so  über 
die  als  Symptom  gewisser  Krankheiten  und  körperiichen 
Zustände  vorübergehend  auftretenden  homosexuellen  Neig- 
ungen. 

An  dem  Werke  sind  die  häufigen  Wiederholungen 
sowie  ein  Maugel  strafferer  Komposition  zu  tadeln.  Man 
gewinnt  oft  den  Eindruck,  als  habe  F^r^  seine  Kapitel 
zu  verschiedenen  Zeiten  einzeln  verarbeitet  und  den 
Ueberblick  über  das  Ganze  verloren.  An  zahlreichen 
Stellen  kehren  die  gleichen  oder  wenig  geänderten  Aus- 
führungen, namentlich  über  die  Homosexualität,  wieder, 
wobei  auch  gewisse  Widersprüche  dann  nicht  vermieden 
werden.  Die  Anschauungen  von  P^r^  über  die  Homo- 
sexuellen und  ihre  Behandlung  vermag  ich  in  vielen 
Punkten  nicht  zu  billigen. 

Mit  Recht  betont  allerdings  F^rd  das  Angeborensein 
der  Inversion  in  vielen  Pällen  und  lässt  das  occasionelle 
Moment  im  Sinne  von  Schrenk-Notzing  zurücktreten,  in- 
dem er  auch  bei  sog.  erworbener  Homosexualität  doch 
das  entscheidende  Gewicht  auf  die  Anlage  legt  und  da- 
durch überhaupt  der  scharfen  Unterscheidung  Mancher 
von  angeborener  und  erworbener  Inversion  die  Bedeutung 
nimmt. 

Dagegen  folgt  aus  der  Feststellung  der  angeborenen 
Anlage  nicht  ohne  Weiteres  der  Charakter  der  Homo- 
sexualität als  einer  Entartung. 

Zur  Annahme  der  Krankhaftigkeit  und  Degenerescenz 
neigt  F^r^  um  so  eher,  als  er  gerade  eine  Anzahl  von 
Fällen  krankhafter,  durch  körperliche  Zustände  und  Stör- 
ungen hervorgerufener  Inversion  beobachtet  hat.  Das 
Vorkommen  homosexueller  Neigungen  in  solchen  Fällen 
beweist  aber  ebenso  wenig  die  Krankhaftigkeit  der  Homo- 
sexualität an  und  für  sich,  als  z.  B.  die  krankhafte  Hyper- 
ästhesie des  heterosexuellen  Triebes  bei  manchen  Krank- 
heiten, z.  B.  in  der  Schwindsucht,  auf  den  Charakter  der 


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—    363    — 

normalen  Sexualität  an  und  für  sich  Schlüsse  zulässt. 
Weil  in  gewissen  Fällen  krankhafte  Zustände  die  Trieb- 
richtung ändern  können^  ist  nicht  die  Krankhaftigkeit 
der  Triebrichtung  im  Allgemeinen  festgestellt. 

F^r^  gelangt  zu  der  strengen  Verurteilung  des  homo- 
sexuellen Verkehres  nicht  nur  in  Folge  seiner  Auffassung 
der  Inversion  als  einer  Degenerescenzerscheinung  —  denn 
Andere,  die  die  gleiche  Meinung  teilen,  wollen  die  Duldung 
homosexueller  Handlungen  —  sondern  weil  er  die  Be- 
deutung des  Geschlechtstriebes  für  die  Fortpflanzung  ein- 
seitig in's  Auge  fasst  und  diesem  Gesichtspunkt  alles 
Andere  unterordnet. 

Stellt  man  sich*  aber  auch  auf  den  Standpunkt  von 
F^r^,  so  ergeben  sich  doch  nicht  die  gleichen  von  F^r^ 
gezogenen  Folgerungen :  Die  Notwendigkeit  einer  —  sogar 
gewaltsamen  —  Repression  der  Homosexualität. 

Zunächst  ist  es  nach  den  dem  deutschen  Strafgesetz- 
buch zu  Grunde  liegenden  Prinzipien  nicht  gestattet,  wenn 
man  wie  F^re  die  Homosexualität  für  krankhaft  hält, 
den  Kranken  mit  dem  Verbrecher  zu  identifizieren  und 
lediglich  die  Strafe  aus  Sicherheitsrücksichten  der  Gesell- 
schaft zu  rechtfertigen.  Auch  diese  Sicherungszwecke  füh- 
ren nicht  zu  einer  Bestrafung  der  Homosexualität.  Die 
verschiedenartigsten  Handlungen  können,  von  irgend  einem 
Gesichtspunkt  betrachtet,  für  die  Gesellschaft  in  irgend 
einer  Beziehung  schädlich  sein.  Aber  auch  in  dem  von 
dem  Zweckgedanken  geleiteten  Strafrecht  muss  unter  die- 
sen möglicherweise  schädlichen  Handlungen  eine  Auswahl 
getroffen  werden  der  strafwürdigen,  der  Handlungen,  welche 
einen  besonderen,  die  Sicherung  der  Gesellschaft  durch 
das  Mittel  der  Strafe  erheischenden  Grad  von  Schädlich- 
keit aufweisen.  Gleichgeschlechtliche  Akte  können,  was 
Schädlichkeit  anbelangt,  doch  nicht  Brandstiftung  und 
Diebstahl  gleichgestellt  werden,  wie  F^r^  andeutet. 

Sodann    dürfen  Handlungen   nicht  gestraft  werden. 


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—    364    — 

die  überhaupt    einen    geringeren    Schaden    anrichten    als 
andere,  schädlichere,  die  straflos  bleiben. 

Eine  grosse  Anzahl  von  Schädlichkeiten  hat  die  regel- 
lose Befriedigung  des  normalen  Geschlechtstriebes  zur 
Folge  und  F^r^  schildert  treflTend  diese  Schädlichkeiten 
des  allgemeinen  Volkswohls:  Ehebruch,  Prostitution,  Ge- 
schlechtskrankheiten etc. 

In  erster  Linie  müsste  gegen  diese  verbreiteten  und 
schon  im  Hinblick  auf  die  grössere  Zahl  der  Hetero- 
sexuellen weit  gefährlicheren  Schädlichkeiten  eingeschritten 
werden.  F^rd  giebt  aber  selbst  zu,  dass  es  nicht  angängig 
sei,  soziale  Moral  und  Hygiene  dufch  Eingrifle  in  die 
individuelle  Freiheit  zu  erzwingen.  Deshalb  ist  es  un- 
logisch, eine  Strafe  gegen  die  Homosexuellen,  die  im 
eigenen  Lande  F^r^'s  nicht  existiert  und  auch  nicht  ge- 
wünscht wird,  gutzuheissen,  obgleich  die  aus  dem  homo- 
sexuellen Verkehr  zu  befürchtenden  Schädlichkeiten  im 
Verhältnis  zu  den  aus  dem  heterosexuellen  entstehenden 
verschwindend  gering  zu  nennen  sind. 

Die  angeblichen  seitens  der  Homosexuellen  drohenden 
Gefahren  für  die  Gesellschaft  sieht  F^r^  selber  nicht  un- 
mittelbar in  den  homosexuellen  Handlungen  und  eigent- 
lich nur  darin,  dass  durch  sie  die  gleichgeschlechtlichen 
Neigungen  verbreitet  und  dann  durch  die,  welche  sie  er- 
werben, weiter  vererbt  oder  zur  Ursache  degenerierter 
Nachkommen  würden. 

Sein  Ziel  geht  dahin,  die  Homosexuellen  namentlich 
von  der  Zeugung  und  vom  heterosexuellen  Verkehr  auszu- 
schliessen,  um  eine  Vererbung  der  Degenerescenz  zu  ver- 
hüten. Diesem  Verlangen  kann  nur  beigestimmt  werden 
und  diese  Art  der  Enthaltsamkeit  wird  keinem  Homosexu- 
ellen schwer  fallen,  da  er  sich  doch  nur  auf  Anraten  un- 
verständiger Angehöriger  oder  Aerzte  zur  Ehe  drängen 
läflst.    Man   wird   F6t^  auch  darin  Recht  geben  müssen, 


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—    365    — 

dass  sich  für  die  dazu  fähigen  Homosexuellen  Enthaltsam- 
keit von  jeglichem  Geschlechtsverkehr  am  besten  empfiehlt. 
Daraus  ergiebt  sich  aber  nicht,  dass  man  die  grössere  Zahl, 
welche  diesen  Rat  zu  befolgen  nicht  imstande  ist,  wegen 
gleichgeschlechtlicher  Handlungen  ächten,  strafrechtlich 
verfolgen  und  überhaupt  anders  beurteilen  soll,  als  die 
ihren  Trieb  befriedigenden  Normalen.  Hält  man  die 
Invertierten  von  der  Ehe  und  überhaupt  dem  heterosexu- 
ellen Verkehr  ab,  und  dies  geschieht  gerade  am  besten 
durch  Duldung  der  homosexuellen  Handlungen  imd  durch 
Beseitigung  des  allgemeinen  Vorurteiles,  welches  die  Ho- 
mosexualität als  schimpfliches  Laster  betrachtet,  dann  wird 
auch  die  befürchtete  Zeugung  seitens  Homosexueller  ver- 
mieden. Eine  Ansteckung  völlig  Normaler  durch  die  In- 
vertierten dürfte  aber  nach  den  eigenen  Anschauungen 
von  F^r^  ausgeschlossen  sein,  da  doch  nur  Veranlagte  in- 
vertiert werden  können.  Werden  die  Disponierten  aber 
von  dem  heterosexuellen  Verkehr  abgelenkt,  so  wird  auch 
ihre  schädliche  Zeugung  verhütet,  ganz  abgesehen  davon, 
dfiss  solche  Individuen,  wenn  sie  krankhaft  veranlagt  sind, 
eben  infolge  ihrer  Krankhaftigkeit  eine  Degenerescenz 
weiter  vererben  können,  ohne  Bücksicht  darauf,  ob  sich 
bei  ihnen  eine  Inversion  auf  Grund  ihrer  Anlage  ent- 
wickelt oder  nicht.  Gerade  wenn  der  von  F^r^  behauptete 
Zweck  der  Natur  daraufgerichtet  ist,  durch  instinktive  ge- 
genseitige Anziehung  der  Degenerierten  ihre  allmählige 
Beseitigung  herbeizuführen  und  so  indirekt  die  Gattung 
"zu  fördern,  sollte  F^r^  die  Duldung  der  homosexuellen  Akte 
nicht  für  schädlich  halten. 

Der  eigene  Standpunkt  von  F^r^,  die  einseitige  Be- 
tonung von  der  Bedeutung  des  normalen  Geschlechts- 
triebes für  die  Gesellschaft,  führt  demnach  nicht  zu  den 
von  F^r^  bezüglich  der  Homosexualität  gezogenen  Schluss- 
folgerungen. Dieselben  stellen  sich  aber  noch  ungerecht^ 
fertigter   dar,   wenn  man   dem   Geschlechtstrieb   in    der 


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—    366    — 

Zeugung   nicht   die   allein  ausschlaggebende  Wichtigkeit 
ftir  Kultur  und  Gesellschaft  zuschreibt 

Für  das  allgemeine  Wohl  und  den  Fortschritt  sind 
noch  andere  Faktoren  massgebend:  Gewisse,  von  den 
Aerzten  als  Degenerierte  betrachtete  Individuen  können 
das  aus  ihrer  sogenannten  Entartung  der  Gesellschaft  er- 
wachsende etwaige  Defizit  durch  intellektuelle  und 
geistige  Eigenschaften  ersetzen,  derart,  dass  doch  schliess- 
lich eher  ein  Gewinn  als  ein  Verlust  durch  diese  Indi- 
viduen der  Kultur  und  der  Entwickeln ng  erwächst. 
F^r^  muss  ja  selbst  zugeben,  dass  aus  diesem  Grund 
eine  rücksichtslose  Beseitigung  der  Degenerierten  nicht 
angebracht  sei,  ferner  kann  er  nicht  leugnen,  dass  gerade 
unter  den  Invertierten  sich  manche  bedeutende  Männer 
vorfinden,  obgleich  er  die  Anzahl  der  gewöhnlich  zu  den 
Homosexuellen  gezählten  für  überschätzt  erachtet.  Jeden- 
falls aber  bei  einer  Reihe  hervorragender  Talente,  ja 
Genies  treffen  ihre  aussergewöhnlichen  Geistesgaben  mit 
Homosexualität  zusammen  und  ein  Zusammenhang  beider 
drängt  sich  auf.  Mag  man  dann  auch,  wie  F^r^  es  thut, 
eben  von  zwei  Anomalien  sprechen  d.  h.  in  seinem  Sinne 
von  krankhaft^en  Symptomen,  so  wird  man  doch  bei  Vielen 
(einem  Michelangelo,  Platen,  Friedrich  dem  Grossen)  die 
eine  Anomalie  —  d.h.  ihre  Begabung,  die  für  die  Kultur 
wertvoller  ist,  als  die  Normalität  von  Hunderten  —  nicht 
missen  wollen  und  lieber  die  geschlechtliche  mit  in  den 
Kauf  nehmen,  als  die  ganze  Persönlichkeit  ächten  und 
zu  dem  Ausschutt  der  Kultur  zählen.  Allerdings,  nur 
die  wenigsten  unter  den  Urningen  sind  Genies  oder 
Talente,  aber  die  Verachtung  und  Bedrohung  mit  schimpf- 
lichen Strafen  bringt  für  alle  Schädlichkeiten  hervor,  welche 
die  durch  die  Freigabe  homosexueller  Akte  etwa  entsteh- 
enden weit  übertreffen.  Diese  Schädlichkeiten  —  Zerstörung 
von  Familienglück,  qualvolle  Seelentortur,  Verkümmerung 
begabter    Individualitäten,    Erpressung,    Hindrängen    zu 


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—    367    — 

UDglücklicheD  Ehen  u.  s.  w.  sind  schon  so  oft  geschildert 
worden,  dass  eine  weitere  Ausführung  sich  erübrigt. 
Schliesslich  ist  aber  noch  Eines  zu  erwägen,  ob  nicht 
die  Homosexualität,  ähnlich  wie  in  Griechenland,  für  die 
Kultur  zu  verwerten  wäre,  ob  nicht  in  Folge  ihrer  Aechtung 
wertvolle  Kräfte  verloren  gehen. 

F^r^  will  das  Beispiel  Griechenlands  nicht  als  be- 
weiskräftig ansehen,  weil  nicht  feststehe,  ob  es  sich  nicht 
überhaupt  lediglich  um  eine  durch  die  besonderen  damaligen 
Umstände  erworbene  Gewohnheit  gehandelt  habe  imd 
die  wirkliche  Inversion  erst  seit  Westphal  vorkomme. 

Letzterer  Behauptung,  welche  aus  der  Thatsache  eines 
späten  wissenschaftlichen  Studiums  der  Homosexualität 
auf  eine  erst  seit  dieser  Forschung  existierende  Erschei- 
nung schliesst,  dürfte  man  eigentlich  bei  einem  Gelehrten 
wie  F^r^  nicht  begegnen. 

Aber  auch  wenn  es  sich  bei  den  Griechen  nicht  um 
angeborene  Inversion  gehandelt  haben  würde,  so  ist  erst 
recht  die  in  der  Natur  des  Invertierten  wurzelnde  Homo- 
sexualität einer  edleren  Entwicklung   fähig.     Allerdings, 
eine  ähnliche  Ausgestaltung  wie  in  der  Antike   ist  nicht 
mehr  möglich,  dazu  liegen  die   äusseren  Verhältnisse  in 
der  heutigen  Kultur  zu   verschieden.     Aber   durch  Auf- 
klärung,   Beseitigung    der    Strafe    und   der    öffentlichen 
Missachtung  wird  auch   die  Grundlage  für  eine  grössere 
Vergeistigung  der  Homosexualität,  für  edlere,  denjenigen 
der  Antike  ähnliche  Bündnisse  geschaffen  werden,  welche 
der  Allgemeinheit  nicht  schädlich  sein  können. 
5)  Fuchs»  Alfred:  »Erfahrungen   in   der  Behand- 
lung  konträrer   Sexualempfindung.*     (Vor- 
trag  im  Vereine   für  Psychiatrie  und  Neurologie  in 
Wien    am    13.    Februar  1900),    abgedruckt    in    der 
,Wiener  klinischen  Rundschau'  Nr.  14,  1900. 
Verfasser  beklagt  zunächst,  dass  die  Ergebnisse  der 
Forschung    auf    dem    Gebiete    der     konträren    Sexual- 


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—    868    — 

empfindnng  noch  immer  nicht  soweit  vollwertig  im  An- 
sehen seien,  dass  Soziologen  und  Gesetzgeber  entsprechende 
Nutzanwendung  aus  den  Lehren  der  Aerzte  gezogen 
hätten.  Noch  immer  ahnde  das  Gesetz  unverschuldete 
Anomalien  des  Geschlechtslebens.  Die  Vorurteile,  gegen 
welche  sich  schon  vor  Jahren  Kraffl-Ebing  gewendet, 
bestünden  noch.  Das  Bestreben  müsse  darauf  gerichtet 
sein,  die  konträre  Geschlechtsempfindung  ausschliesslich 
zum  Gebiete  ärztlichen  Einspruches  und  naturwissenschaft- 
licher Beurteilung  zu  machen.  Die  Anomalien  der  vita 
sexualis  seien  als  funktionelle»  Störungen  zu  betrachten. 
Die  Homosexualität  sei  therapeutisch  zu  behandeln.  Die 
Schwierigkeiten  seien  besonders  gross,  namentlich  wegen 
der  meistens  sehr  verwickelten  seelischen  Eigenart  der 
Konträren.  Bei  der  Behandlung  gehe  Verfasser  von  der 
Theorie  aus,  wonach  eine  mit  der  bisexuellen  Anlage  des 
Foetus  zusammenhängende,  psychische,  doppelseitige  An- 
lage bestehe.  Diese  Anlage  werde  durch  die  hereditäre 
Belastung  beeinflusst.  In  diesem  Sinne  sei  die  konträre 
Sexualempfindung  als  funktionelles  Degenerationszeichen 
aufzufassen,  was  nicht  hindere,  dass  gerade  intellektuell 
und  ethisch  besonders  empfängliche  Individuen  dieses 
Stigma  erhielten  und  den  Typus  der  „D^g^ner^s  sup^rieurs" 
abgeben  könnten,  deren  grosser  Schar  die  Welt  manchen 
hervorragenden  Genius  zu  verdanken  habe.  —  Die  Thera- 
pie der  konträren  Sexualempfindung  müsse  eine  psychische 
sein,  ihr  Ziel  Unterdrückung  des  floriden  psychisch- 
konträren sexualen  Zentrums  und  die  Erweckung  des 
latenten  heterosexualen.  —  Dabei  seien  meist  besondere 
Nebenumstände  in  Betracht  zu  ziehen:  Die  meisten  Homo- 
sexuellen litten  mehr  oder  weniger  an  schwerer  Neu- 
rasthenie, die  allerdings  nicht  immer  konstitutionell  sei 
und  oft  ihre  Ursache  in  dem  Konflikt  des  Konträren  mit 
der  Aussenwelt  und  seinem  eigenen  „Ich'*  habe.  Sehr  oft 
fände  sich  psychische  und  somatische  Masturbation  vor. 


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—    3(59    — 

ferner  sei  oft  der  unglückliche  Einfluss  des  Alkohols  zu 
bekämpfen.  —  Die  eigentliche  Psychotherapie  der  kon- 
trären Sexualempfindung  setze  sich  zusammen  aus  einem 
gewissen  pädagogischen  Vorgehen  und  der  wirklichen 
Psychotherapie,  welche  am  zweckentsprechendsten  in  die 
äussere  Form  der  hypnotischen  Suggestion  gekleidet 
werde.  —  Wichtig  sei  zunächst  die  Frage,  ob  angeborene 
oder  erworbene  konträre  Sexualempfindung  vorläge;  aber 
im  ersten  Stadium  der  Behandlung  gewänne  dieser  Unter- 
schied keine  besondere  Bedeutung,  da  auch  die  erworbene 
konträre  Sexual  empfind  ung  meist  mit  der  gesamten  Per- 
sönlichkeit auf's  innigste  verwachsen  sei.  Wichtiger  sei  zu 
Beginn  das  Suchen  nach  dem  Fetisch  d.  h.  demjenigen 
Umstand,  welcher  die  ursprünglich  normale  Empfindung 
in  konträre  Bahnen  gelenkt,  worunter  nicht  nur  Gegen- 
stände, sondern  auch  jene  Autosuggestionen  zu  verstehen 
seien,  welche  im  Geschlechtsleben  des  Einzelnen  eine 
Richtung  gebende  Rolle  angenommen  hätten.  Die  Auf- 
nahme der  Anamnese  (Vorgeschichte)  müsse  eigentlich 
schon  als  therapeutisches  Vorgehen  aufgefasst  werden. 
Besonderer  Wert  sei  auf  richtige  Fragestellung  zu  legen 
und  auf  die  intimen  psychischen  Beziehungen,  die  sich 
zwischen  dem  Therapeuten  und  dem  Konträren  entspinnen 
müssten.  —  Die  persönliche  Eigenart  des  Konträren  sei 
zu  berücksichtigen:  die  Autosuggestionen  und  Rechtfer- 
tigungsversuche ihrer  Empfindung  müssten  vorsichtig  und 
mit  Geschick  bekämpft  werden.  Die  Konträren  stellten 
sich,  indem  sie  den  („brutalen")  Akt  der  Kohabitation  per- 
horrescierten,  in  ihren  eigenen  Augen  auf  einen  höheren 
ästhetischen  Standpunkt,  femer  gereiche  ihnen  die  in  ihren 
Reihen  befindliche  nicht  geringe  Anzahl  bedeutender 
Männer  zur  Genugthuung.  —  Viele  Konträre  gäben  ihrem 
Triebe  nicht  nach  und  vielen  sei  eine  gewisse  Reinheit 
der  Empfindungen  nicht  abzusprechen,  mitunter  führten 
sie  ein  weit    keuscheres  Dasein   als  die   normal  Empfin- 

Jahrbuch  Ul.  24 


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—    370    — 

denden.  —  In  den  Fällen,  wo  die  Masturbation  der  Neu- 
rasthenie Vorschub  leiste,  gäbe  diese  eine  wirksame  Hand- 
habe ab  zum  Angriff  des  Eeehtfertigungssystems  des  Pa- 
tienten. Da,  wo  üble  physische  Folgen  nicht  vorhanden, 
bilde  die  Zufriedenheit  des  Konträren  mit  seinem  Zustand^ 
ein  mächtiges  Hindernis  für  die  Therapie.  Oft  werde 
nur  wegen  äusserer  Umstände,  wegen  der  sozialen 
und  strafrechtlichen  Konsequenzen,  eine  Aenderung 
des  Geschlechtslebens  erwünscht.  Das  nächste  Ziel  sei 
Gleichgiltigkeit  gegen  das  eigene  Geschlecht  durch 
Suggestion  einzuflössen,  dann  Widerwillen  gegen  Ge- 
schlechtsbeziehungen zu  einer  Person  des  eigenen  Ge- 
schlechtes. In  manchen  Fällen  sei  geschlechtliche  Indiffe- 
renz das  Summum  des  Erreichbaren.  Heterosexuelle 
Suggestionen  bildeten  den  letzten  Abschnitt  der  Behand- 
lung. Ein  Gradmesser  für  den  Fortschritt  in  der  thera- 
peutischen Bestrebung  sei  im  Traumleben  gegeben.  — 
Während  der  Dauer  der  Behandlung  müsse  die  sexuelle 
Bedürftigkeit  des  Patienten  auf  ein  Minimum  herabge- 
drückt werden.  Ein  wirklicher  Erfolg  sei  der  erste  phy- 
siologisch ausgeübte  heterosexuelle  Coitus.  Die  erste 
Cohabitation  beweise  aber  nicht  wirkliche  Genesung,  mass- 
gebend sei  das  Quantum  des  Wollustgefühles,  welches 
beim  ersten  Coitus  zu  fehlen  pflege.  Vom  ersten  hetero- 
sexuellen Geschlechtsverkehr  an  käme  es  auf  den  Um- 
stand an,  ob  angeborene  oder  erworbene  konträre  Sexual- 
empfindung vorliege.  Der  konträr  Geborene  erlange  weit 
schwerer  normales  Wollustgefühl  und  volle  Befriedigung^ 
dies  Ziel  könne  aber  auch  bei  ihm  erreicht  werden.  Bei 
der  angeborenen  Form  würden  indess  nach  geregeltem 
heterosexuellen  Verkehr  die  Beziehungen  zum  entgegen- 
gesetzten Geschlechte  oft  mehr  aus  Pflichtgefühl  als 
impulsiv  gepflegt.  Konträre,  bei  denen  sekundäre  Ge- 
schlechtscharaktere körperlicher  oder  psychischer  Natur 
auf  eine  Verkehrtheit  der  gesamten  Persönlichkeit  hin- 


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—    371     — 

deuteten,  würden  seltener  über  den  Zustand  der  Indifferenz 
lünausgebracbt  werden.  —  Erworbene  konträre  Sexual- 
empfindung könne  vom  Moment  regelrechter  heterosexueller 
Kohabitation  an  in  gewisser  Beziehung  als  geheilt  be- 
zeichnet werden,  jedoch  dürfe  Patient  sich  nicht  vorzeitig 
weiterer  psychischer  Beeinflussung  entziehen  und  müsse 
Masturbation  und  Alkoholgenuss  vermeiden,  sonst  sei 
sofort  Recidive  zu  befürchten.  —  Zur  erfolgreichen 
psychischen  Behandlung  sei  volles  Vertrauen  des  Patienten 
zum  Arzte  notwendig.  Dieser  müsse  dem  Patienten  klar 
machen,  dass  das  Wesen  der  Hypnose  nichts  Mystisches 
an  sich  habe  und  dass  der  endgültige  Erfolg  vom  Willen 
des  Konträren  abhänge.  Die  Dauer  der  Therapie  schwanke 
zwischen  G  Wochen  und  ebenso  vielen  Monaten,  je  nach 
der  Individualität  des  Konträren.  Die  Patienten  hätten 
mit  der  Erzielung  des  ersten  Beischlafes  die  Möglichkeit 
erlangt,  durch  weitere  Behandlung  oder  im  Notfall  durch 
Selbstdisziplinierung  eine  normale  vita  sexualis  zu  er- 
reichen. Denn  selbst  mit  gewissen  Resten  von  konträrer 
Sexualempfindung  könnten  solche  Menschen  ein  immerhin 
erträgliches  Dasein  führen  und  hätten  die  Hoffnung,  im 
Wege  der  Gewöhnung  auch  diesen  Rest  zu  verlieren.  — 
Abgesehen  von  Enthaltung  von  Masturbation  und  Alkohol 
sei  ein  geregelter  Geschlechtsverkehr  anzustreben.  Die 
einzig  richtige  Lösung  dieses  Problems  sei  die  Ehe  mit 
einer  sympathischen  Person.  Die  Ehe  böte  gerade  für 
Menschen,  deren  seelisches  Dasein  in  jeder  Hinsicht  der 
Stütze  bedürfe,  einen  sicheren  Port.  Auf  die  Wahl  einer 
absolut  sympathischen  Individualität  sei  aber  unbedingt 
Gewicht  zu  legen.  Wegen  der  Befürchtung  einer  kon- 
trären Descendenz  sei  von  der  Ehe  nicht  abzuraten.  Die 
Vererblichkeit  der  Homosexualität  sei  nicht  erwiesen, 
sie  spiele  nur  die  Rolle  eines  allgemein  belastenden  Mo- 
mentes; jedem  aber,  der  ein  funktionelles  oder  somatisches 
Degenerationszeichen  an  sich  trage,  könne  man  die  Ehe 

24« 


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—    372    — 

nicht  verbieten.  --  Fuchs  teilt  dann  mit,  dass  unter  42 
behandelten  Fällen  14  Geheilte  sich  befänden.  Zu  sexu- 
eller Neutralität  seien  8  gelangt.  Die  Fälle  von  psycho- 
sexueller  Hermaphrodisie  seien  nicht  mitgerechnet.  Bei 
diesen  sei  das  Heilungsergebnis  ein  weit  besseres,  die 
Mühe  der  Behandlung  sei  keine  so  grosse,  ihre  Bedeutung 
aber  eine  ausserordentliche,  insbesondere  in  Fällen,  wo 
sich  die  konträre  Sexualempfindung  bei  Verheirateten 
episodisch  einstelle.  —  Zum  Schluss  betont  Fuchs  noch- 
mals, dass  die  Konträren  vom  medizinischen  und  nicht 
juridischen  Standi)unkt  zu  beurteilen  seien.  Menschen, 
die  Kranke  seien,  müssten  behandelt  und  geheilt  werden. 
Das  Ziel  sei,  die  Konträren  den  Armen  der 
blinden  Justiz  zu  entreissen. 

Der  gediegene  Vortrag  bringt  in  klarer,  anschaulicher 
Weise  den  Hauptinhalt  des  im  vorjährigen  Jahrbuch  be- 
sprochenen Buches  von  Fuchs  „Therapie  der  vita  sexualis 
bei  Männern  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  kon- 
trären Sexualempfindung."  Vom  Standpunkt  des  Arztes, 
der  die  Homosexualität  als  Krankheit  betrachtet,  ist  selbst- 
verständlich eine  therapeutische  Behandlung  notwendig, 
aber  auch  derjenige,  der  wie  ich,  die  Anomalie  nicht  für 
notwendig  krankhaft  hält,  wird  wegen  der  sozialen,  mög- 
licherweise sogar  strafrechtlichen  Folgen  der  konträren 
Sexualempfindung  in  allen  Fällen,  wo  der  Konträre  Aen- 
derung  des  Triebes  wünscht,  die  Hypnose  für  angezeigt 
erachten.  —  Hinsichtlich  der  Erfolge  der  Hypnose  darf 
man  sich  jedoch  keinen  allzu  grossen  Hoffnungen  hin- 
geben. Bei  allen  denjenigen,  die  nicht  geändert  sein 
wollen,  deren  ganzes  inneres  Wesen  sich  gegen  Beseitig- 
ung ihres  Triebes  sträubt,  wird  die  Suggestion,  auch  wenn 
sie  sieh  derselben  aus  irgend  welchen  Gründen  unter- 
ziehen, kaum  etwas  leisten.  Viele  Konträre  sind  nun 
aber  nicht  im  Stande,  eine  Aenderung  zu  wollen ;  darunter 
gerade  besonders  ausgeprägte  Individualitäten  von  festem 


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—    373    — 

Charakter  und  starker  Eigenart,  denen  ein  fremder  Ein- 
griff in  ihre  Persönlichkeit  und  in  ihre  mit  ihrer  Indivi- 
dualität verwachsene  Geschlechtsart  instinktiv  wider- 
strebt. Was  Fuchs  über  die  leichtere  Heilung  der  psy- 
chischen Hermaphroditen  sagt,  erscheint  mir  auch  zweifel- 
haft. Es  giebt  darunter  Individuen,  die  vollen  Genuss 
bei  Weibern  finden,  trotzdem  aber  eine  stärkere  Zuneigung 
zum  Manne  haben  und  letzteren  Trieb  nicht  zu  unter- 
drücken vermögen.  Dass  solche  Menschen,  die  beide 
Triebe  in  sich  vereinen  und  gleichsam  den  Grad  der  Be- 
friedigung und  die  Summe  des  Wollustgefühles  im  Ver- 
kehr mit  beiden  Geschlechtern  bewusst  und  unbewusst 
zu  vergleichen  im  Stande  sind,  ohne  grosse 
Schwierigkeit  dazu  gebracht  werden  können,  den  stärkeren 
Trieb  ganz  zu  verlieren,  möchte  ich  nicht  unbedingt  be- 
jahen. Hier  besteht  gerade  von  vornherein,  was  man  bei 
rein  Homosexuellen  anstrebt  und  als  Zeichen  der  Heilung 
betrachtet,  „  Wollust empfiudung  beim  Weibe,*  und  trotzdem 
hat  diese  Empfindung  nicht  die  Kraft,  die  gleichgeschlecht- 
liche zu  beseitigen.  —  Endlich  dürfte  auch  bei  den  so- 
genannten „ Geheilten  •*  die  Ehe  nur  mit  Vorsicht  anzuraten 
sein;  denn  abgesehen  von  der  Möglichkeit  einer  Vererbung 
der  Anlage,  kann  der  konträre  Trieb  doch  jeder  Zeit 
wieder  hervorbrechen  und  nicht  nur  den  Verheirateten 
in  besonders  traurige  und  raissliche  Konflikte  verwickeln^ 
sondern  auch  das  Unglück  des  völlig  unschuldigen  ande- 
ren Eheteiles  herbeiführen. 

6)  Haberlandt  M.:  „Konträre  Sexualerscheinungen  bei 
der  Negerbevölkerung  Sansibars*  in  den  Verhand- 
lungen der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft. 
Bd.  31,  1899,  S.  6G8.  *) 

Konträre  sexuelle  Erscheinungen,  sowohl  erworbene 

*)  Nach  dem  Referat  von  Buschan  in  dem  Zentralblatt  flir  Ner- 
venheükunde  nnd  Psychiatrie  Nr.  127  vom  6.  August  1900  wieder- 
gegeben. 


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—     374    — 

als  angeborene,  kämen  ziemlich  häufig  bei  der  Bevölkerung 
Sanzibars  vor,  wo  erstere  zumeist  dem  Einflüsse  der  Ara- 
ber zuzuschreiben  seien,  die  zusammen  mit  Komorensem 
und  wohlhabenden  Suaheli-Mischlingen  auch  das  Haupt- 
kontingent der  Erworben  -  Konträren  ausmachten.  Der 
frühzeitige  Geschlechtsgenuss  rufe  bei  diesen  Leuten  bald 
eine  Uebersättigung  hervor,  die  sie  auf  neue  Mittel  ge- 
schlechtlicher Befriedigung  verfallen  liesse;  so  würden  sie 
zunächst  zu  aktiven,  später,  wenn  impotent  geworden,  zu 
passiven  Päder asten.  Ihre  Opfer  gehörten  fast  ausschliess- 
lich der  schwarzen  Sklavenbevölkerung  an,  aus  der  aus- 
erlesene halbwüchsige  Burschen  bereits  frühzeitig  zu  die- 
sem Zwecke  trainiert  würden.  Die  Sansibarneger  würden 
durch  das  Beispiel  der  Araber  ebenfalls  zur  per\'^ersen 
Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  verleitet.  Da  ihnen 
Sklaven  nicht  zur  Verfügung  stünden,  so  entwickle  sich 
bei  ihnen  eine  Art  männlicher  Prostitution.  Die  Betref- 
fenden betrieben  ihr  Gewerbe  sehr  öflFentlich,  trügen  häufig 
auch  Weiberkleidung.  —  Der  angeborene  konträre  Sexual- 
trieb komme  sowohl  beim  männlichen  wie  beim  weib- 
lichen Geschlecht  vor.  Die  Knaben,  die  bereits  an  weib- 
lichen Arbeiten  Gefallen  fänden,  würden  von  den  Eltern 
nach  dieser  Richtung  hin  unterstützt,  legten  Weiberklei- 
dung an,  trügen  das  Haar  ebenso  und  verkehrten  haupt- 
sächlich mit  Weibern  oder  männlichen  Prostituierten,  von 
denen  das  Volk  sie  jedoch  scharf  als  „amri  ya  merungu* 
=„  Wille  Gottes*  unterscheide,  während  es  jene  berufsmäss- 
igen Lustknaben  verachte.  Die  geborenen  Konträr-Sexu- 
ellen seien  hauptsächlich  passive  Päderasten. —  Die  kon- 
trär-sexuellen Weiber  zeigten  ihrerseits  Vorliebe  für  männ- 
liche Verrichtungen,  verrieten  männliches  Verhalten,  klei- 
deten .sich  zu  Hause  nach  Männerart  und  verkehrten 
sexuell  entweder  mit  Ihresgleichen  oder  normalen  Weibern. 
—  Uebcr  die  hier  in  Betracht  kommenden  Methoden  und 
Apparate    lässt    sich    der   Verfasser    des    Näheren    aus. 


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—    375    — 

Homosexuelle  beider  Geschlechter  hiessen  in  der  Suaheli- 
Sprache»  „mkessimune*  ^  »Weib,  kein  Mann.* 
6)  Heilbrunner,    Oberarzt    der    Klinik   zu    Halle  a.  S. 
Privatdocent:    „Beitrag     zur    klinischen    und 
forensischen  Beurteilung  gewisser  sexueller 
Perversitäten*    in    der   Yierteljahrsschrift 
für  gerichtliche  Medizin  und  öffentliches 
Sanitätswesen  von  Schmidtmann  und  Strass- 
mann.    III.  Folge,  19.  Bd.  2.  Heft,  Jahrgang  1900. 
2.  Heft  Nr.  9. 
Im  Anschluss    an    einen    ausführlich   mitgeteilten, 
eigentümlichen,    mit  Masochismus   vermischten   Fall  von 
heterosexuellem  Fetischismus    äussert  sieh  Verfasser  des 
Längeren    über   Entstehung    und    Beurteilung    sexueller 
Perversionen  im  Allgemeinen.     Die  Ausführungen  sollen, 
wie    aus    einer   Bemerkung    über  den  Kampf  gegen  den 
§  175  des  Str.-G.-B.    hervorgeht,    auch    für   die   Homo- 
sexualität gelten.      Heilbronner   hält   die   sexuellen  Ano- 
malien stets  für  erworben.     Die  Erklärung  von  Schrenk- 
Notzing  genüge  durchaus  und   sei   befriedigender  als  die 
Annahme    angeborener    Triebe,    welche   eine  bedenkliche 
Annäherung   an   die    frühere   Monomanienlehre    bedeute. 
In  seiner  Auffassung  wird  Verfasssr  hauptsächlich  durch 
den  mitgeteilten  Fall  bestärkt,  da  sich  bei  demselben  die 
Erwerbung  intra  vitam  deutlich  nachweisen  lasse  und  es 
sich    gerade    auch    um    Masochismus    handle,    der    nach 
Krafft-Ebing  stets  angeboren  sei. 

Die  Verschiedenheit  der  Auffassung  über  die  Ent- 
stehungsart der  Perversion  habe  grosse  praktische  Be- 
deutung. Wenn  die  Triebe  angeboren  seien,  so  sei  nur 
ein  Schritt  zu  der  Annahme,  dass  sie  unwiderstehlich 
und  unausrottbar  seien  und  die  Bewegung  zu  Gunsten 
der  Homosexuellen  beweise,  dass  dieser  Schritt  thatsäch-  . 
lieh  von  nicht  Wenigen  gethan  werde. 

Aus    der  Feststellung  eines  perversen  Triebes  dürfe 


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—    376     ~ 

man  nicht  ohne  Weiteres  auf  Unzurechnungsfähigkeit 
schliessen;  der  Nachweis  müsse  vielmehr  geführt  werden^ 
dass  die  Gesamtpersönlichkeit  eine  abnorme  und  die  Per- 
versität nur  ein  Folgezustand  sei;  die  einzelnen  Umstände^ 
unter  denen  die  That  geschehen,  müssten  genau  ermittelt 
werden,  um  ein  richtiges  Urteil  zu  gewinnen. 

Für  seine  Behauptung,  die  sexuellen  Anomalien  seien 
stets  erworben,  hat  Verfasser  keinen  Beweis  erbracht. 
Abgesehen  davon,  dass  auch  in  dem  mitgeteilten  Fall 
die  Erw^erbung  nicht  ohne  Weiteres  feststeht,  lassen  sich 
aus  diesem  Einzelfalle  keine  allgemeinen  Schlüsse  ziehen. 
Ich  halte  die  Homosexualität  meist  für  angeboren. 

Uebrigens  bin  ich  mit  Näcke*)  der  Ansicht,  dass,  im 
Grunde  genommen,  der  Streit  über  Erwerbung  oder  An- 
geborensein der  Homosexualität  nur  ein  Wort  streit  ist^ 
da  auch  die  Erwerbung  einen  vorbereiteten  Boden,  eine 
disponierte  Anlage  voraussetzt,  welche  mit  der  einge- 
borenen Reaktionsfähigkeit  Molls  auf  bestimmte  Heize 
nahe  verwandt  sein  dürfte.  Mit  Heilbronner  stimme  ich 
dagegen  darin  überein,  dass  die  Homosexualität  an  und 
für  sich  nicht  ohne  Weiteres  Unzurechnungsfähigkeit 
bedinge,  wobei  aber  meiner  Ansicht  nach  die  Frage,  ob 
die  Homosexualität  erworben  oder  angeboren  sei,  keine 
Rolle  spielt.  Der  homosexuelle  Trieb  ist  zwar  unausrott- 
bar und  verlangt  oft  gebieterisch  nach  Befriedigung;  da- 
raus folgt  aber  nicht  die  Unzurechnungsfähigkeit  des 
Homosexuellen,  sondern  ergiebt  sich  nur  ein  Argument 
für  die  Bestrebungen,  welche  die  Aufhebung  des  §  175 
St.-G.-B.  verlangen. 


*)  Vgl.  Näekft:  Kritisches  zum  Kapitel  der  normalen 
und  pathologischen  Sexualität  in  dem  Archiv  für  Psychi- 
atrie und  Neurologie.  Bd.  32.  Heft  2,  besprochen  im  II.  Jahrbuch 
S.  356  ff. 


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-     377     — 

8)  Kaan:  „Gerichtsärztliches  Gutachten**  in  Fried- 

reichs Blättern  für  gerichtliche  Medizin.     50.  Jahrg. 

Heft  1. 

Der  Fall  eines  wegen  homosexueller  Handlungen 
verschiedentlich  gerichtlich  verfolgten  Gasthauspächters 
wird  mitgeteilt.  Derselbe,  seit  24  Jahren  verheiratet  und 
Vater  von  drei  Kindern,  hat  im  Jahre  1 893  einen  16  jährigen 
Burschen  an  sich  gelockt,  trunken  gemacht  und  dann 
Penis  in  os  genommen.  Ueberrascht,  zuerst  Versuch,  sich 
als  den  Verführten  hinzustellen,  später  Zugeständnis  seiner 
^unseligen  Verirrung".  Strafe:  4  Monat  Kerker.  Im 
September  1895  gleiches  Attentat  an  einem  21jährigen 
Burschen  und  im  Oktober  an  einem  18jährigen.  In 
beiden  Fällen  planmässiges  Handeln.  Aerztliche  Unter- 
suchung, physisch  und  psychisch,  negativ.  Für  das  Vor- 
handensein epileptoider  Dämmerungszustände,  die  der 
Thäter  angab,  keinerlei  Anhaltspunkte,  üeber  seine  vita 
sexualis  hat  er  jede  Auskunft  verweigert.  Nach  2  Jahren 
wiederum  gleiches  Attentat  an  23jährigem  Jüngling. 

Kaan  hält  den  Patienten  für  geistig  normal  und 
normal  fühlend,  hebt  aber  hervor,  dass  die  perverse  Art 
der  Befriedigung  auffällig  sei. 

Mir  scheint  es,  soweit  sich  dies  aus  den  mitgeteilten 
Thatsachen  beurteilen  lässt,  dass  zweifellos  konträre 
Sexualempfindung,  mindestens  psychische  Hermaphrodisie 
bestand. 

9)  Krafft-Eblng::    «Drei    Konträrsexuale    vor    Ge- 

richt*   in    den  Jahrbüchern    für  Psychiatrie 

und  Neurologie  in  Wien.     19.  Bd.    2.  Heft  1900. 

(Verlag  Leipzig,  Wien,  Deutike). 
I.  Fall. 

Ein  36 jähriger  Religionslehrer,  verhaftet,  weil  er 
seine  Schüler  an  den  Genitalien  betastete,  bis  Ejakulation 
erfolgte,  wird  in  der  Landesirrenanstalt  beobachtet  und 
später  auch  von  Krafft-Ebing  untersucht. 


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—    378    — 

Die  Ergebnisse  der  Untersuchung  auf  Grund  der 
Beobachtung  und  der  Angaben  des  Patienten  werden 
mitgeteilt: 

Explorat  sei  nervös  von  Jugend  an,  eine  Zeit  lang 
leichtsinniges  Leben  (Spiel,  Geldverschwendung);  er  habe 
niemals  ein  Weib  berührt,  horror  feminae,  dagegen  seit 
dem  14.  Jahre  ästhetisch  und  sinnlich  zu  heranreifenden 
Knaben  hingezogen,  verabscheue  den  Mann,  nur  erregbar 
durch  Knaben  in  beginnender  Pubertät  zwischen  13  und 
15  Jahren.  Vergeblicher  Kampf  gegen  seine  Neigungen 
trotz  zeitweiser  Abstinenz  von  Alkohol  und  Fleischgenuss; 
stets  mehrmals  jährlich  seinem  Drang  erlegen.  Explorat 
halte  seine  Handlungen  nicht  für  unrecht  und  unerlaubt, 
er  habe  unter  ^Unzucht*  nur  actus  in  vas  verstanden; 
er  entschuldige  sich  damit,  dass  er  keine  Gewalt  ge- 
braucht und  ohnehin  als  Beichtvater  die  Erfahrung  ge- 
macht, dass  80  %  aller  Knaben  onanierten  und  dass  er 
nur  einem  unabweisbaren  Bedürfnis  nachgegeben. 

Die  Gutachten  der  Irrenanstalt  und  Krafft-Ebing's 
nehmen  beide  Ausschluss  der  Willensfreiheit  an.  Die 
konträre  Sexualempfindung  des  Patienten  sei  nur  Teil- 
erscheinung einer  abnormen  geistigen  Artung  auf  Grund 
hereditärer  Belastung.  Seine  Delikte  seien  krankhafte 
Folgezustände  fehlerhafter  natürlicher  Anlagen,  seine 
sexuellen  Triebe  impulsiv.  Krafft-Ebing  hebt  noch  be- 
sonders hervor: 

Die  ethischen  Defekte  des  Exploraten  hinderten  ihn, 
sich  der  Folgen  seiner  sexuellen  Handlungen  bewusst  zu 
werden,  er  empfände  dieselben  vielmehr  als  natürliche, 
dem  Gesetze  in  seinen  Gliedern  entsprechende  Handlungen. 
Dazu  käme  die  krankhafte  Steigerung  seines  Triebes,  der 
zeitweise  geradezu  die  Bedeutung  eines  unwiderstehlichen 
Zwanges  annehme. 

Hierauf  Freisprechung  des  Angeklagten. 

Nunmehr    habe  Explorat,    ärztlichem  Rate   folgend, 


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—    379    — 

vom  Alkohol  abstiniert,  frugal  gelebt  und  eine  Suggestiv- 
behandlung in  einer  Wasserheilanstalt  durchgemacht,  dank 
welcher  es  gelungen  sei,  seine  konträre  Sexualeropfindung 
zu  beseitigen.  Er  sei  ein  anderer  Mensch  geworden,  habe 
sich  seit  Jahresfrist  korrekt  benommen  und  sei  an  einer 
—  Mädchenschule  angestellt. 

II.  Fall:  Erworbene  konträre  Sexualempfindung. 

Der  37jährige  Handelsagent  Z.,  wegen  Masturbation 
mit  L.  verhaftet,  wird  auf  seinen  Geisteszustand  hin  unter- 
sucht. Vom  16.  Jahre  ab  will  Z.  mit  dem  Weibe  ver- 
kehrt haben  und  erst  vor  3  Jahren  durch  L.  zur  Mastur- 
bation verführt  worden  sein.  Seither  heftige  Liebe  zu  L. 
und  angeblich  keine  Lust  mehr  am  normalen  Geschlechts- 
verkehr. Er  selbst  begreife  seine  Umwandlung  nicht. 
Das  Gutachten  stellt  schwere  Neurasthenie  mit  grosser 
physischer  Erregbarkeit,  neuropathische,  hereditäre  Konsti- 
tution, sexuelle  Hyperästhesie  und  daraus  resultierend  ab- 
norm sexuelle  Bedürftigkeit  fest. 

Die  erworbene  Perversion  sei  auf  Belastung  und  Neu- 
rasthenie zurückzuführen,  der  ganze  Zustand  pathologisch 
und  der  Drang  zum  geschlechtlichen  Verkehr  mit  L.  un- 
widerstehlich. 

Darauf  Einstellung  des  Verfahrens  gegen  beide:  Auch 
bei  L.  habe  die  Untersuchung  konträre  Sexualempfindung, 
und  zwar  angeborene,  ergeben.  Zwei  Tage  nach  der  Frei- 
lassung Anzeige  des  L.  gegen  den  Z.,  dieser  verfolge  ihn 
mit  seinen  unsittlichen  Anträgen  und  bedrohe  ihn  mit  Tot- 
schiesscn,    da  er,    L.,    nichts  mehr   von  Z.    wissen  wolle. 

Umgekehrte  Behauptung  des  Z.:  L.  habe  ihn  ver- 
führen wollen  und  er,  Z.,  habe  sich  vor  L.  flüchten  müssen. 
Durch  Zeugen  bestätigt,  dass  L.  den  Z.  aufgesucht  und 
um  seine  Liebe  gefleht  habe,  da  er  nicht  von  ihm  lassen 
könne. 

Ein  neues  Gutachten  stallt  zeitweisen  Alkoholismus 
und  schwere  Neurasthenie  fest:  Der  belastete,  überspannte. 


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—    380    — 

dem  Impuls  seiner  Triebe  völlig  hingegebene  gemeingefähr- 
liche Z.  sei  unverantwortlich.  Darauf  Aufnahme  in  die  Kli- 
nik Krafft-Ebing's.  Enthaltung  von  Alkohol  und  anti- 
neurasthenische  Behandlung  hätten  günstig  gewirkt.  Durch 
die  Suggestivbehandlung  —  Suggestion  gegen  Alkohol  und 
geschlechtlichen  Verkehr  —  sei  nach  2  Monaten  völlige 
Heilung  eingetreten.  Patient  sei  ein  sittlich  rehabilitierter 
und  körperlich  wieder  hergestellter  Mann  geworden. 

Weitere  Beobachtung  habe  tadellose  Lebensführung^ 
normale  vita  sexualis  und  Abstinenz  von  Alkohol  ergeben. 

III.  Fall:  Erworbene  konträre  Sexualempfindung. 

Betrifft  einen  wegen  unsittlicher  Attentate  ver- 
hafteten Gendarmeriewachtmeister  K.  Derselbe  soll  ver- 
sucht haben,  dem  Zivilisten  R.  die  Hosen  herunterzuziehen, 
ihn  um  Gestattung  der  Paedicatio  gebeten  und  einen 
andern  Zivilisten  J.  sowie  einem  Gendarmen  an  den  Geni- 
talien angegriffen  haben. 

Delinquent  leugnet  die  Absicht  eines  unsittlichen 
Angriffs,  er  habe  nur  aus  momentaner  Geilheit  gehandelt 
und  seine  That  für  nichts  Unerlaubtes  gehalten.  Vor 
einem  Jahre  habe  er  Syphilis  gehabt  und  sei  dadurch 
vom  Verkehr  mit  dem  Weibe  abgeschreckt  worden. 

Das  Militärgericht  spricht  ihn  frei,  es  seien  nur  Vor- 
bereitungshandlungen erwiesen,  die  straflos  seien,  dagegen 
nicht  der  Versuch  widernatürlicher  Unzucht. 

Es  erfolgt  darauf  Revision  des  Urteils  seitens  des 
obersten  Militärgerichtshofes.  Während  dieser  Unter- 
suchung verschiedene  Zwischenfälle:  K.  erkrankt  an 
Typhus  abdominalis,  in  der  Rekonvalescenz  erleidet  er 
einen  Anfall  von  Influenza.  Dann  Wiedereintritt  in  den 
Dienst.  Bald  neue  Attentate;  mehreren  Gendarmen  soll 
K.  an  den  Genitalien  herumgegriffen  und  überdies  eines 
schlafenden  Civilisten  J.  Penis  in  os  genommen  haben. 
Dem  gleichen  Civilisten  soll  er  später  auf  der  Strasse 
versucht  haben  die  Hosen  zu  öffnen. 


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—    381    — 

Unterdessen  wird  das  erste  Urteil  abgeändert  und 
K.  wegen  der  früheren  Angriffe  auf  die  Civilisten  zu 
4  Monaten  Kerker  verurteilt.  Hierauf  wegen  Zweifels  an 
K/s  geistiger  'Gesundheit  Aufnahme  in  das  Gamisons- 
spital:  Eine  Anzahl  Zeugen  wollen  ein  völlig  geändertes 
Benehmen  K's  in  den  letzten  Monaten  wahrgenommen 
haben.  Nach  dreimonatlicher  Beobachtung  geht  das  Gut- 
achten dahin,  dass  bösartige  Hirnsyphilis  vorhanden,  auf 
diese  seien  wahrscheinlich  seine  Charakteränderung  und 
seine  unsittlichen  Handlungen  zurückzuführen.  Auch  die 
schwächliche,  läppische  Ausführung  der  Handlungen 
unter  ungünstigen  äusseren  Umständen  deute  auf  krank- 
haft herabgesetzte  geistige  Thätigkeit  und  mangelnde  Ein- 
sicht bei  geradezu  schwachsinniger  Gleichgültigkeit  für 
den    folgenschweren    Ausgang   der  Sache. 

K.  verbleibt  weiter  in  Spitalbeobachtung.  Eine  An» 
zahl  krankhafter  Erscheinungen,  die  sich  zeigen,  wird 
beschrieben:  Der  körperliche  und  geistige  Verfall  K.'s 
schreite  fort.  Fortgesetzte  Beobachtung.  Hierauf  Gut- 
achten des  Militärkomitees:  Hirnsyphilis  sei  ausgeschlossen 
und  Simulation  von  Geistesstörung  anzunehmen.  Die 
Delikte  seien  faute  de  mieux  am  Manne  erfolgt  in  Folge 
starker  Libido  und  Abstinenz  vom  natürlichen  Verkehr. 
K.  habe  im  Sinne  einer  erworbenen  konträren  Sexual- 
empfindung eine  krankhafte  Aenderung  seines  geschlecht- 
lichen Fühlens  erfahren;  obgleich  eine  Unwiderstehlich- 
keit seines  Triebes  nicht  anzunehmen  sei,  müssten  weit- 
gehendste Milderungsgründe  anerkannt  werden.  Hierauf 
wird  ein  Fakultätsgutachten  begehrt.  K.  kommt  zu  Krafft- 
Ebing  in  die  Klinik  zur  Beobachtung:  Das  Verhalten 
in  der  Klinik  und  die  einzelnen  Feststellungen  werden 
genau  mitgeteilt.  Das  Gutachten  selbst  verneint  das 
Vorhandensein  einer  organischen  Gehirnkrankheit,  einer 
Geisteskrankheit  oder  Geistesschwäche.  Dagegen  bestehe 
schwere  Neurasthenie,  geeignet,  die  Widerstandsfähigkeit 


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—    382    — 

herabzusetzen.  Unter  allen  Umständen  sei  K.  ein  moralisch 
und  physisch  gebrochener,  körperlich  schwerkranker 
Mann.  Die  Hauptursachen  dieses  Zustandes:  Die  Syphilis 
und  die  durchgemachten  teilweise  verfehlten  Kuren,  sowie 
der  Typhus. 

Auf  den  ersten  Blick  erscheine  es,  als  ob  K.'s  unsitt- 
liche Handlungen  nur  aus  einem  übermässigen  Drange  und 
Mangel  an  Verkehr  mit  dem  Weibe  erfolgt  seien.  Eine 
solche  Annahme  sei  jedoch  unrichtig,  namentlich  spräche 
die  mit  J.  vorgenommene  immissio  penis  in  os  für  eine 
Perversion  des  Gefühls.  Diese  Perversion  sei  erworben 
und  auf  die  schwere  Neurasthenie  zurückzuführen.  Die 
ganze  Art  der  Ausführung,  die  beständige  Wiederkehr 
der  gleichen  perversen  Handlungen,  die  geradezu  scham- 
los, rücksichtslos  zu  Tage  getreten  seien,  und  das  Vor- 
handensein der  schweren  zentralen  Neurose,  welche  die 
sittliche  und  Willensenergie  in  der  Bekämpfung  solcher 
perverser  Impulse  herabgesetzt  habe,  mache  die  Annahme 
höchst  wahrscheinlich,  dass  K.  unter  einem  unwidersteh- 
lichen Zwang  gehandelt  habe. 

Die  3  Fälle  betreffen  zweifellos  kranke  Homosexuelle. 
Deshalb  darf  aber  nicht  auf  die  Krankhaftigkeit  aller  oder 
auch  nur  der  Mehrzahl  der  Homosexuellen  geschlossen 
werden ;  ebensowenig  als  ein  solcher  Schluss  gestattet 
wäre,  weil  zahlreiche  Heterosexuelle  an  sexueller  Hyper- 
ästhesie und  Neurose  leiden.  Auch  der  Erfolg  der  Hyp- 
nose in  den  zwei  ersten  Fällen  berechtigt  nicht  etwa  zur 
Ansicht,  dass  eine  Umwandlung  der  Homosexualität  leicht 
oder  meist  möglich  sei.  Die  mir  bekannten  Homosexuellen, 
die  sich  der  Hypnose  unterzogen,  sind  unverändert  homo- 
sexuell geblieben.  Zwei  davon  wurden  von  Moll,  einer 
von  Krafft-Ebing,   einer   von  Schrenk-Notzing  behandelt. 


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—     383    — 

10)  Krafft-Ebing  und  Garnier:  „R^sum^  du  rapport  sur 
les  perversions  sexuelles  obs^dantes  et  impulsives 
au  point  de  vue  m^dieo-legal.*  Bericht  für  den  13. 
internationalen  medizinischen  Kongress  zu  Paris  1900. 
Abgedruckt  in  den^Archives  de  Neurologie*  (fondees 
par  Charchot)  Vol.  X.  2°»«  s^rie  1900.  Novembre  et 
D^cembre  1900  Nr.  59  et  60. 
1)  Der  Bericht  von  Krafft-Ebing.  —  Die  Zwangs- 
ideen und  Impulse  (obsessions  et  impulsioqs)  ebenso  wie 
die  sexuellen  Perversionen  gehörten  fast  ausschliesslich 
dem  Gebiet  der  psychischen,  meist  hereditär  bedingten 
Degeneration  an.  Man  könne  sie  als  Stigmata  dieser 
Degeneration  betrachten.  Die  Häufigkeit  sexueller  Hyper- 
ästhesie und  der  besondere  davon  abhängige  Zustand 
der  Erregbarkeit  erklärten  den  bei  den  Degenerierten 
oft  vorhandenen  Zusammenhang  zwischen  Zwangsideen 
und  der  Sexualität  Die  Zwangsvorstellung  sei  »die 
Art  von  Gehimthätigkeit,  wo  ein  Wort,  ein  Gedanke, 
ein  Bild  sich  dem  Geist  aufzwinge  ausserhalb  des  Willens, 
mit  einem  als  quälend  empfundenen  Gefühl,  das  sie 
unwiderstehlich  mache**.  (Magnan).  Unter  Impuls  ver- 
stehe man  einen  mit  Bewusstsein  ausgeführten  Akt,  der 
aber  durch  den  Willen  nicht  habe  verhindert  werden 
können  (Legrain).  Die  Bedingungen  der  Zwangsvor- 
stellungen seien  daher:  Volles  Bewusstsein  des  Obsedierten 
im  Kampf  gegen  .den  Impuls,  der  Erregungszustand  mit 
der  Einsicht,  dass  die  psychischen  Kräfte  in  dem  Kampfe 
machtlos  seien  und  dass  nur  die  Verwirklichung  der 
Zwangsidee  die  Befreiung  von  dem  qualvollen  Zustand 
herbeiführen  könne.  Demnach  seien  mit  diesem  Zustand 
von  Zwangsvorstellung  nicht  folgende  Fälle  zu  ver- 
wechseln :  1.  Handlungen  bei  völligem  Mangel  an  Intelli- 
genz und  moralischen  Qualitäten.  —  2.  Rein  impulsiv, 
gleichsam  automatisch  ausgeführte  Handlungen.  —  3. 
Handlungen    im    Zustand    aufgehobenen    Bewusstseins 


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-     384    — 

z.  B.  Deliriums.  —  4.  Handlung  en,  herrührend  von 
sexueller  Inversion,  welche  (wie  sich  Krafft-Ebing 
wörtlich  ausdrückt)  „nach  mir  nur  das  Aequivalent 
des  normalen  Geschlechtssinnes  bildet."  Folgen 
hierauf  nähere,  hier  nicht  weiter  interessierende  Ausfüh- 
rungen über  die  Zwangsideen  und  Impulse. 

2)  Der  Bericht  von  Garnier.  —  Die  krankhafte  Ob- 
session sei  nur  ein  Zeichen  der  Degenerescenz.  Die  Er- 
regbarkeit, das.  wahre  moralische  Stigma  des  Degenerierten, 
sei  Princip  und  Ursache  des  Phänomens.  Die  Obsession 
bilde  daher  nur  eine  Art  der  automatischen,  aber  bewussten 
Gehirnthätigkeit,  sie  präge  zwangsmässig,  hervorgerufen 
durch  den  Erregbarkeitszustand,  dem  Geist  ein  Wort, 
einen  Gedanken  trotz  qualvollen  Zustandes  ein,  werde 
von  bestimmten  psychischen  Störungen  begleitet  und  höre 
nur  auf  mit  der  Befriedigung  des  Bedürfnisses,  das  den 
Anfall  hervorgebracht.  Man  könne  sagen,  dass  der  Im- 
puls eine  Krisis  des  Bedürfnisses,  während  die  Obsession 
nur  den  Zustand  des  Bedürfnisses  bedeute.  Ebenso  wie 
Obsessionen  und  Impulse  seien  die  sexuellen  Perversionen 
Degenerationszeichen.  Deshalb  sei  es  nicht  zu  verwun- 
dem, dass  ihre  beiderseitigen  Aeusserungen  sich  begeg- 
neten und  kombinierten  unter  irgend  einem  Gefühlschoc, 
in  der  Kindheit  oder  der  Pubertät,  der  den  Ausgang 
zu  zwangsmässigen  und  impulsiven  Vorstellungen  bilde, 
welche  fortan  die  vita  sexualis  beherrschten  und  diese 
oder  jene  Art  sexueller  Perversion  erzeugten.  Der  Ge- 
schlechtstrieb stelle  gerade  das  biologische  Element  dar, 
welches  am  meisten  geeignet  sei,  die  krankhafte  Erregbar- 
keit des  Degenerierten  hervortreten  zu  lassen.  Garnier 
bespricht  hierauf  die  Beziehungen  zwischen  den  Obsessionen 
und  Impulsen  mit  den  einzelnen  sexuellen  Perversionen. 
Er  behandelt  den  Exhibitionismus,  den  Fetischismus,  den 
Sadismus,  die  Erotomanie  und  die  Inversion.  Im  Gegen- 
satz   zu  Krafift-Ebing   bringt   er   auch    die  Inversion   in 


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—    385    — 

Zusammenhang  mit  den  Zwangsideen.  Er  äussert  sich 
hierüber  wie  folgt:  Natürlich  sei  nur  die  Rede  von  der 
konstitutionellen  Inversion,  nicht  der  aus  Laster,  An- 
steckung, durch  die  Umgebung  oder  die  Sitte  gewisser 
Länder  entstandenen  Päderastie.  Der  konstitutionelle 
Livertierte  sei  stets  ein  Elranker  mit  einer  unwidersteh- 
lichen Neigung;  er  gehe  im  Leben  herum,  ohne  dasjenige 
Geschlecht  zu  besitzen,  das  er  exteriorisiere,  während 
er  das  entgegengesetzte  in  sich  trage.  Er  fühle  sich  zum 
gleichen  Geschlecht  hingezogen,  gegen  seinen  Willen  und 
instinktiv.  Es  frage  sich,  wie  diese  Geschlechtsrichtung 
zu  erklären  sei.  Sei  der  Invertierte  mit  dieser  Sub- 
stitution eines  Weibes  im  Manne  etwa  geboren?  Sei 
dies  als  ein  Zögern  der  Natur  aufzufassen  und  schliess- 
lich auf  eine  anatomische  Zwitterhaftigkeit  zurückzuführen? 
Letzteres  sei  nicht  anzunehmen,  sonst  müsste  der  embryo- 
logische Irrtum  häufiger  in  der  somatischen  Konstitution 
seinen  Wiederhall  finden.  Auch  die  Fälle  körperlicher 
Hermaphrodisie  könnten  nicht  die  Homosexualität  er- 
klären. Denn  gewöhnlich  besässen  die  Invertierten  alle 
Merkmale  völliger  Männlichkeit.  Man  müsse  die  Er- 
klärung anderwärts  suchen.  Die  Inversion  habe  ebenso 
wie  die  anderen  Anomalien  eine  und  dieselbe  Entstehungs- 
ursache, nämlich  krankhafte  Erregbarkeit  und  funktionelle 
Disharmonie.  Ein  zufälliger  Choc  erlange  dank  der 
emotionellen  Rezeptivität  besondere  Bedeutung.  Allmälig 
dränge  sich  in  Erinnerung  dieses  Chocs  ein  bestimmter 
Gedanke  auf  und  die  Homosexualität  gewinne  ihre  zwangs- 
mässige  und  impulsive  Energie.  Die  Sache  sei  nur  darum 
80  anziehend,  weil  die  Furcht  hinzukomme.  Diese  Ten- 
denz bilde  zur  Zeit  der  Unbestimmtheit  des  Geschlechts- 
lebens zuerst  nur  eine  vage  und  confuse,  im  unbewussten 
Leben  verborgene  Neigung,  erst  später  behaupte  sie  sich 
mit  der  Klarheit  einer  krankhaften  Begierde.  Die  In- 
version  sei   scharf  vom  Laster   zu  trennen.    Sie  sei  zu 

Jahrbueh  m.  25 


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•--  m  - 

definieren:  Als  eine  Perversion  des  Geschlechtslebens  mit 
zwangsmässiger^  impulsiver  Form,  die  eine  eingewurzelte, 
unwiderstehliche  Neigung  bedeute,  meist  von  so  aus- 
schliesslichem Charakter,  dass  das  gleiche  Geschlecht 
allein  im  Stande  sei,  den  Orgasmus  zu  erzeugen.  Die 
Inversion  sei  oft  mit  anderen  Perversionen,  Sadismus, 
Fetischismus  u.  s.  w.  vereinigt 

Der  Bericht  von  Krafil-Ebing  ist  besonders  be- 
achtenswert, weil  er  die  Inversion  von  der  Zwangsvor- 
stellung sondert  und  sie  als  Aequivalent  des  normalen 
Triebes  betrachtet  Jedenfalls  dürfte  kein  Zweifel  darüber 
bestehen,  dass  Kraffir£bing  völlig  Recht  hat,  die  Inver- 
sion nicht  mit  der  Zwangsvorstellung  und  den  Impulsen 
zusammenzuwerfen,  wie  dies  Garnier  thut  Oft  kann  sich 
die  Inversion  mit  zwangsmässiger  Gewalt  geltend  machen 
und  mit  krankhafter  Inversion  und  Neurasthenie  zusammen- 
treffen, ebenso  wie  beim  normalen  Trieb  krankhafte,  ner- 
vöse Erscheinungen  vorkommen.  Aber  in  vielen  Fällen 
wird  auch  die  Homosexualität,  wie  durchgängig  der 
normale  Trieb,  nicht  in  besonders  krankhafter  Weise 
hervortreten.  Garnier  schliesst  sich  bei  der  Erklärung 
der  Inversion  ausserdem  der  bekannten  Associationstheorie 
von  Schrenk-Notzing  an.  Ich  möchte  hier  noch  betonen, 
dass  Garnier  insoweit  jedenfalls  irrt^  als  er  meint,  der 
homosexuelle  Trieb  sei  ursprünglich  zur  Zeit  der  Puber- 
tät nur  ganz  unbestimmt  und  als  vage  Neigung  vorhanden, 
die  sich  erst  allmällg  entwickle.  In  den  meisten  Fällen 
tritt  die  Homosexualität,  oft  gerade  sehr  frühzeitig,  mit 
grosser  Bestimmtheit  und  Entschiedenheit  auf,  ein  Um- 
stand, der  gerade  gegen  die  Associationstheorie  und  für 
die  Auffassung  des  Eingeborenseins  spricht  Die  von 
Garnier  gegen  den  Zusammenhang  der  Inversion  mit  der 
embryonalen  Uranlage  vorgebrachte  Einwendung  der 
durchschnittlichen  völligen  Männlichkeit  der  Urninge  ist 
nicht  durchschlagend,  denn  die  Fälle,  wo  auch  äusserlich 


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-^    387    - 

weiblicher  Habitus,  manchmal  EffeminatioD  vorliegt, 
deuten  auf  diesen  Ursprung  hin,  nicht  minder  die  Fälle 
körperlicher  Hermaphrodisie,  bei  denen  meist  auch  ein 
Schwanken  im  geschlechtlichen  Fühlen  festzustellen  ist, 
wie  dies  namentlich  aus  den  Untersuchungen  von  Neu- 
gebauer*)  hervorgeht. 
11)  Näcke,  F.:  «Die  forensische  Bedeutung  der 

Träumerin  der  Zeitschrift  für  Criminalanthropologie 

von  Gross,   1.  Heft,  Bd.  5,  Septembemummer  1900. 
S.  123  bemerkt  Näcke,  dass   bis  jetzt  nicht  habe 
festgestellt  werden  können,  ob  jede  der  einzelnen  Kate- 
gorien    von    Geisteskrankheiten     ihre     eigentümlichen 
Träume  habe. 

Nur  eine  einzige  Klasse  von  Menschen  wisse  er  zu 
nennen,  welche  vielleicht  absolut  Charakteristisches  träume, 
die  sexuell  Perversen.  Er  (Näcke)  habe  als  der  Erste 
klipp  und  klar  auf  die  hohe  Bedeutung  dieser  Thatsache 
für  die  Diagnose  der  Perversion  aufmerksam  gemacht. 
Der  echte  Homosexuelle  (also  nicht  der  Rou^)  werde  so 
gut  wie  ausnahmslits  in  seinen  sexuellen  Träumen  sich 
homosexuell  verhalten,  der  psychische  Hermaphrodit  homo- 
und  heterosexuell,  der  Sadist  als  solcher  sich  bethätigen  etc. 
Bis  in  die  feinsten  Details  fände  sich  in  den  erotischen 
Träumen  die  sexuelle  Perversion  wieder. 

Die  Diagnose  der  Perversion  sei  in  foro  meist  schwer 
zu  führen.  Der  Sachverständige  solle  den  zu  Unter- 
suchenden seine  Lebensgeschichte  erzählen  lassen  und  un- 
vermerkt ihn  auf  die  Träume  bringen ;  wenn  die  Träume 
immer  oder  fast  immer  in  der  Richtung  der  Perversion 
sich  bewegten,  so  sei  das  Bestehen  einer  solchen  fast 
sicher.  Ein  einzelner  Traum  beweise  allerdings  noch 
nichts,  da  er  ein  sogenannter  Kontrasttraum,  d.  h.  ein 
dem  wirklichen  Wesen*  des  Träumenden  widersprechender 


♦)  Z.  vergl.  Jahrbuch  H. 

25* 


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-  m  - 

sein  könne.  Die  Träume  seien  auch  geeignet,  Aufschluss  zu 
geben  über  die  Zeit  des  ersten  Auftretens  der  Perversion. 
12)  Näcke:  «Die    sexuellen    Perversitäten  in    der 
Irrenanstalt*'    in   der    ,, Wiener  klinischen  Rund- 
schau« 1899  Nr.  29—30. 

Näcke  berichtet  über  die  von  ihm  an  den  Kranken 
seiner  Anstalt  hinsichtlich  etwaiger  sexueller  Perversitäten 
angestellten  Beobachtungen.  Sein  Beobachtungsmaterial 
erstreckt  sich  auf  509  Männer,  277  mit  einfacher  Seelen- 
störung, 47  Paralytiker,  185  Imbecillen  und  Idioten  (da- 
runter 50  Imbecillen)  und  auf  50  Frauen. 

Die  Onanie  hat  Näcke  am  häufigsten  angetroffen, 
aber  auch  die  verschiedensten  sonstigen  Perversitäten 
sind  ihm  begegnet. 

Homosexuelle  Handlungen  hat  er  verhältnismässig 
wenige  gefunden:  Mutuelle  Onanie  hatten  14  Per- 
sonen =  2,8  Prozent  sicher  oder  sehr  wahrscheinlich  ge- 
trieben, indem  sie  sich  von  Andern  masturbieren  Hessen 
oder  gegenseitig  dies  gethan.  Darunter  10  Idioten,  4  mit 
einfacher  Seelenstörung,  3  Paralytiker. 

Zu  verzeichnen  seien  ferner:  2  Feilatoren,  ein  älterer 
lasterhafter  Idiot  und  1  Paranoiker;  eigentliche  Päderastie 
habe  er  mehrmals  festgestellt,  immerhin  aber  selten; 
5  Personen  .  seien  beim  aktiven  Act  ertappt  worden, 
(1  Prozent  Aller),  2  hätten  sich  passiv  verhalten, 
2  weitere  aktiv  und  passiv  zugleich.  Alle  Päderasten 
seien  Onanisten  gewesen,  zum  Teil  mutuelle,  der  eine, 
ein  älterer  Idiot,  auch  Fellator,  alle  Aktiven  bis  auf  einen 
Idioten,  welche  jüngere  apathische  Kranke  als  Passivum 
benutzten.  Weibliche  mutuelle  Onanie  sei  bei  4  Frauen 
=  8  Prozent  anzunehmen,  die  aber  selbst  nie  onanierten. 
Zwei  seien  Idiotinnen,  die  sich  küssten  und  herzten, 
das  andere  Paar  Verrückte.  7  Kranke  seien  in  den 
Betten  bei  einander  getroffen  worden;  eine  Paranoica  zeige 
ein    coitusartiges  Benehmen    mit    einer    Andern    und   2 


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—    389    — 

Idiotinnen  setzten  sich  auf  Stühlen  einander  gegenüber  und 
führten  coitusartige  Bewegungen  aus. 

Käche  fasst  dann  seine  Beobachtungen  zusammen 
und  zieht  gewisse  allgemeine  Schlüsse  daraus: 

Unter  den  Männern,  bei  denen  er  gleichgeschlechtliche 
Handlungen  festgestellt,  befände  sich  wohl  kein  echter 
Invertierter.  Die  Päderasten  hätten  abwechselnd  getrieben: 
Onanie,  mutuelle  Onanie,  Fellatio,  Pädicatio.  Es  sei  da- 
her anzunehmen,  dass  sie  die  verschiedenen  Formen  von 
einander  gelernt;  dagegen  bleibe  es  allerdings  eine  offene 
Frage,  ob  die  Onanie  zu  den  übrigen  Perversitäten,  ins- 
besondere zur  Pädicatio  führe.  Für  die  Feststellung,  ob 
echte,  angeborene  Inversion  vorliege  oder  bloss  erworbene 
sei  vielleicht  das  beste  diagnostische  Mittel  die  Erforsch- 
ung des  Trauminhalts.  Echte  Homosexuelle  träumten 
nur  homosexuell,  bei  erworbener  Homosexualität  stellten 
sich  auch  Träume  heterosexuellen  Inhalts  ein. 

Näcke  hebt  dann  noch  die  merkwürdigen  Freund- 
schaftsbündnisse hervor,  denen  man  zuweilen  unter  den 
Geisteskranken  begegne;  oft  hätten  sie  einen  durch- 
aus sexuellen  Anstrich.  Sie  kämen  vor  zwischen  Idioten, 
von  denen  der  eine  agiler  sei  als  der  andere,  oder  zwischen 
einem  Paranoiker  und  einem  Idioten  mit  passiver  Natur. 
Die  Betreffenden  sässen  zusammen,  gingen  miteinander, 
umschlängen  und  liebkosten  sich.  Solche  Bündnisse  seien 
aber  doch  nur  selten,  da  der  Geisteskranke  meist  für  sich 
bliebe  und  nur  selten  ein  reges  Interesse  für  seine  Mit- 
kranken bekunde. 

Die  Beobachtungen  von  Näcke  bieten  ein  grosses 
Interesse  und  es  wäre  zu  wünschen,  dass  aubh  andere 
Psychiater,  die  die  Gelegenheit  dazu  haben,  ähnliche 
Forschungen  anstellten. 

Wenn  die  Vermutung  Näcke's  richtig  ist,  dass  unter 
seinen  Kranken  sich  kein  echter  Homosexueller  befunden 
habe,  so  würde  dies  den  Schluss  rechtfertigen,  dass  man 


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—    890    — 

unter  den  Geisteskranken  weniger  Invertierten  begegne, 
als  unter  sonstigen  erwachsenen  Männern,  denn  nach 
meiner  Abschätzung  kämen  unter  normalen  Yerhältnissen 
auf  500  Männer  etwa  2 — 3  Invertierte.  Jedenfalls  sprechen 
die  Feststellungen  Näcke's  dafür,  dass  ein  Zusammenhang 
zwischen  Geisteskrankheit  und  Inversion  nicht  besteht» 
Uebrigens  werden  wohl  unter  den  Irren  Nackens,  die 
gleichgeschlechtliche  Handlungen  begingen,  einige  ge- 
borene Homosexuelle  gewesen  sein.  Was  Näcke  über  die 
Bedeutung  der  Träume  sagt^  ist  sehr  beherzigenswert,  nur 
darf  man  nicht  aus  Träumen  heterosexuellen  Inhalts  bei 
Invertierten  ohne  Weiteres  auf  erworbene  Homosexualität 
schliessen,  da  sie  auch  ein  Beweis  psychischer  Herma- 
phrodisie  sein  können. 

13)  Venturi,  Silvio,  (Oberarzt  der  Provinzialirrenanstalt 
zu  Cantanzaro,  Italien):  „Corr^lations  psycho- 
sexuell e s*  (Bibliothfequedecriminologie, Bd. XVIII, 
Lyon»  Starck;  Paris,  Massen  ^d.  1899). 

Verfasser  entwickelt  in  dem  französisch  geschrie- 
benen Werk  zwei  Hauptgesichtspunkte: 

1)  Im  Gegensatze  zur  älteren  Psychiatrie  betrachtet 
er  jede  geistige  Störung  in  erster  Linie  als  eine  Verän- 
derung der  psycho-socio log i sehen  Funktionen,  als  eine 
Störung  der  Beziehung  zwischen  dem  Kranken  und  der 
Gesellschaft. 

2)  Er  sucht  die  Wechselwirkungen  zwischen  geistigen 
Anomalien  und  dem  Geschlechtstrieb  darzulegen. 

Obgleich  Venturi  gegen  die  neue  italienische  krimi- 
nalanthropologische Schule  polemisiert,  finden  sich  doch  bei 
ihm  manche  Gedanken  Lombroso's,  so  namentlich  über 
den  geborenen  Verbrecher. 

An  verschiedenen  Stellen  berührt  Venturi  die  Homo- 
ßexualität: 

1)  S.  139:  P^i  <Jeij  Geisteskranken  sei  die  Paederastie 


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—    391    — 

Dicht  selten  anzutrefTen.  In  seiner  Anstalt  hätten  aui 
180  Kranke  7  Neigung  zu  aktiver  Päderastie  gezeigt. 
Die  verschiedensten  Formen  von  Geisteskrankheiten  und 
die  verschiedensten  Altersstufen  seien  vertreten  gewesen. 
Verfasser  habe  zuerst  geglaubt,  die  Betreffenden  hätten 
lediglich  ein  Aequivalent  fllr  den  fehlenden  normalen  Ko- 
itus gesucht,  er  habe  sich  aber  getäuscht,  da  er  nach- 
träglich festgestellt  habe,  dass  vor  der  Erkrankung  die 
Neigung  schon  bestanden. 

2)  S.  161:  Gleichgeschlechtliche  Akte  kämen  oft  als 
Vorläufer  der  progressiven  Paralyse  vor. 

3)  S.  289—290:  Die  Päderastie,  insbesondere  die 
passive,  sei  nicht  als  ein  atavistischer  Rückschlag,  als  eine 
Wiederholung  von  Eigenschaften  früher  Vorfahren  zu  be- 
trachten, da  sie  keine  das  Leben  fördernde  Eigenschaft, 
sondern  eine  Verneinung  des  Zeugungsaktes 
darstelle.  Sie  sei  vielmehr  als  das  Ergebnis  einer  Ent- 
wicklungshemmung aufzufassen. 

Der  im  Altertume  weitverbreitete  gleichgeschlecht- 
liche Verkehr  sei  lediglich  ein  Beweis,  dass  auch  jene 
Epochen  ihre  antibiologischen  und  antisozialen  Elemente 
besessen.  Wir  hätten  unser  sexuelles  Verbrechertum,  wie 
jenes  Zeitalter  das  seinige. 

Heute  sei  dies  sexuelle  Verbrechertum  weniger  zahl- 
reich wie  früher,  da  unsere  Zeit  einen  nennenswerten  Fort- 
schritt in  der  Bekämpfung  des  Malthusischen  Gesetzes 
zu  verzeichnen  habe. 

Dem  Päderasten  entspräche  die  Tribade,  die  häufig 
in  Gefängnissen  und  weiblichen  Erziehungsanstalten  zu 
finden  sei;  die  soziale  Hygiene  erfordere,  dass  mau  die 
Tribaden  in  Klöstern  und  Harems  isoliere. 

4)  S.  295:  Die  Auffassung  mancher  Schriftsteller,  so 
z.  B.  von  Raffalovich,  dass  viele  Urninge  verkannte  Gre- 
nies,  Idealisten   und  Keusche  seien,   könne  er   (Venturi) 


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—    892    — 

nicht  teilen.  Es  seien  Invertierte  oder  Lasterhafte.  Aller- 
dings hätten  in  neuerer  Zeit  einige  moderne  Dichter 
kein  Hehl  aus  ihren  perversen  Neigungen  gemacht, 
uxn  gleichsam  die  Verwandtschaft  ihrer  Natur  mit  der 
antiken  Geistesrichtung  zu  betonen.  Auch  sie  seien  aber 
nicht  entschuldbar  und  geborene  Invertierte  oder  Laster- 
hafte. Nur  der  nait  der  Lust  zugleich  die  Zeugung  be- 
zweckende Beischlaf  sei  normal  und  poetisch. 

5)  S.  330:  Die  sexuelle  Perversion  gehöre  zum 
sexuellen  Verbrechertum,  sie  bilde  ein  Zeichen  einer  ein- 
geborenen Tendenz  zur  Zerstörung  der  Gattung  (eine  de- 
struktive Degenerescenz).  Die  moralische  Degenerescenz 
sei  gewöhnlich  auch  von  entsprechenden  physischen  Aen- 
derungen  begleitet.  Der  Urning  habe  gewöhnlich  mehr 
weibliches  Aussehen,  die  Tribade  mehr  männliches. 

6)  S.  880:  Die  Invertierten  hätten  gewöhnlich  eine 
ihrem  Geschlechte  entgegengesetzte  Stimme,  die  Urninge 
eine  weibliche  und  keinen  Bart,  die  Tribaden  meist  eine 
tiefe  und  rauhe  Stimme.  Letzteres  habe  Verfasser  bei 
einer  Tribade  und  mehreren  durch  sie  verführten  Kranken- 
pflegerinnen beobachtet 

Wie  aus  dem  Vorstehenden  sich  ergeben  dürfte, 
scheint  Venturi  keine  erschöpfenden  theoretischen  Kennt- 
nisse von  der  Homosexualität  zu  besitzen,  insbesondere 
aber  der  praktischen  Erfahrung  in  dieser  schwierigen  Frage, 
welche  nicht  mit  allgemeinen  Aufstellungen  erledigt  wird, 
zu  ermangeln. 


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—    393    — 
§  2.    Schriften  der  Nicht-Medizinen 

( Juristen ,  Ethiker,  Philosophen  etc.) 

1)  Anonym:    „Neue  Zeit",  Nr.  vom  10.  Februar  1900. 

In  dem  (anonymen)  Leitartikel,  betitelt  „Die  Tugend- 
heuchler",  ist  gelegentlich  der  „lex  Heinze*  und  des 
Widerstandes  gegenüber  dem  von  der  Sozialdemokratie 
vorgeschlagenen  Strafparagraphen  zum  Schutze  der  Ar- 
beiterinnen gesagt: 

,  Würde  der  Zweck  des  Widerstrebens  gegen  den 
Paragraphen  zum  Schutz  der  Arbeiterinnen  wirklich 
Furcht  vor  Erpressung,  Denunziationen  etc.  sein,  so 
müssten  §  95  und  §  175  aufgehoben  werden,  da  beide 
sich  darin  gleichen,  dass  sie  gar  keinen  erkennbaren  sitt- 
lichen Wert  besitzen,  aber  die  moralische  Pest  der  Denun- 
ziation, Erpressung  etc.  in  einem  Umfang  züchten,  der 
sich  nicht  vergleichen  lässt  mit  dem  Umfang  der  mora- 
lischen Pest,  die  der  Arbeiterparagraph  der  lex  Heinze 
beseitigen  und  einschränken  will.  Und  doch  heisst  es 
zur  Rechten  und  Linken  und  von  der  Regierung  be- 
treffs beider  Paragraphen  beim  Verlangen  der  Aufhebung : 
Unannehmbar!" 

2)  Driesmans,  Heinrich:  »Das  Geschlechts- 
empfinden der  Griechen*  im  , Magazin  für 
Litteratur"  von  Gaulke  und  Philipps  (Berlin,  Ver- 
lag Cronbach),  Nr.  51  und  52  vom  22.  und  29.  De- 
zember 1900. 

Nach  den  Bildern,  die  sich  der  Mensch  von  seinen 
Göttern  schaffe,  liesse  sich  der  Mensch  selbst  am  besten 
beurteilen;  dies  gelte  besonders  von  den  Griechen.  Die 
griechische  Götterwelt  gestatte  tiefe  Einblicke  in  Wesen 
und  Charakter  ihrer  Erzeuger.  Diese  Götter  hätten  keine 
weltfremden  Charaktere,  wie  die  der  anderen  Völker,  auf- 
gewiesen, sondern  eine  intime  Vermenschlichung,  welche 
das  griechische  Wesen  in  eigenartigem  Lichte  zeige.  Ein 
besonderer  Charakterzug  der  Götterbilder,  welcher  auch 


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—    394    — 

den  Griechen  selbst  wohl  kaum  zum  deutlichen  Bewusst- 
sein  gekommen^  sei  bisher  wenig  beachtet  worden,  näm- 
lich der  Ausdruck  des  Harmoniegefühls  der  Griechen  im 
Geschlechtsverhältnis  ihrer  künstlerischen  Darstellungen. 
Die  männlichen  Götterbilder  trügen  einen  ausgesprochen 
weiblicheren,  die  weiblichen  einen  ausgesprochen  männ- 
licheren Charakter,  als  man  ihn  in  der  Natur  fände.  Das 
Geschlecht  sei  in  diesen  Bildern  nicht  so  scharf  unter- 
schieden, wie  wir  es  unterscheiden  würden;  z.  B.  die 
Venus  von  Milo  habe  in  der  ganzen  Haltung  und  Bil- 
dung etwas  entschieden  Männlichem. 

Im  weiblichen  Körper  sei  das  männliche,  im  männ- 
lichen das  weibliche  Element  gleichsam  latent  vorhanden, 
jeweilig  dominiere  nur  eines  von  beiden  und  verleihe  der 
Person  dann  den  ausgeprägten  Geschlechtscharakter. 
Aber  auch  äusserlich  komme  das  unterdrückte  Geschlecht 
zum  Vorschein  in  den  Brustwarzen  des  Mannes,  in  dem 
Kitzler  des  Weibes.  Die  Betonung  gerade  des  latent 
vorhandenen,  gewissermassen  unterdrückten  Geschlechts 
in  der  Absicht,  die  geschlechtliche  Harmonie,  die  mensch- 
liche Totalität  wieder  herzustellen  oder  doch  künstlerisch 
als  höchstes  Menschentum  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
habe  im  Gefühl  der  Griechen  gelegen  und  ein  dahin- 
gehendes Bestreben  in  ihren  Kunstwerken  sei  deutlich 
zu  erkennen. 

Alle  männlichen  Bilder  zeigten  etwas  entschieden 
Weibliches,  leichte,  sanfle  Neigung  des  Hauptes,  ge- 
lockerte Gliedmassen,  ein  Sichgehenlassen  in  anmutiger, 
milder  Biegung  aller  Körperlinien.  Sogar  bei  dem  Tjrpus 
der  Männlichkeit,  Herakles,  seien  weiblich  scköne  Züge 
und  auffallende  Brustbildung  vorhanden. 

Der  männlich-herbe  Charakter  der  Hera,  der  strenge, 
kriegerische  der  Pallas  Athene,  der  knabenhafl-wilde  der 
Artemis  seien  im  Sinne  dieser  Ausführungen  leicht  zu 
erklären.  Während  die  Göttinnen  einen  männlich-rüstigen 


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—    395    — 

Charakter  zeigten^  verrieten  die  männlichen  Olympier  oft 
weibische  Schwäche  und  Wankelmut,  neigten  oft  zu  Weib- 
lichkeit und  Weibischkeit  hin,  z.  B.  der  aus  dem  Trojaner- 
krieg unter  Geschrei  fliehende  verwundete  Ares. 

Das  Tier  habe  weniger  scharf  ausgeprägte  Geschlechts- 
merkmale als  der  Mensch.  Je  höher  entwickelt  das  Tier, 
um  so  stärker  träten  die  Geschlechtsorgane  hervor.  Die 
sexuelle  Differenzierung  könne  als  Massstab  für  die 
Entwicklungsstufe  gelten,  dieselbe  sei  z.  B.  bei  Natur- 
völkern weniger  ausgeprägt.  (Z.  vergl.  die  flachen,  lappen- 
artigen, gering  entwickelten  Brüste  des  Negerweibes.) 

Aus  den  antiken  Bildwerken  sei  zu  schliessen,  dass 
das  Geschlecht  bei  den  Alten  weniger  markiert  gewesen 
als  heute.  Die  körperliche  Bildung  sei  wahrscheinlich 
dem  Harmoniegefühl  der  Griechen  gleichsam  zu  Hülfe 
gekommen.  Der  Grieche  sei  noch  um  einen  Grad  ^weib- 
licher* als  der  moderne  Mann,  die  Griechin  ^männlicher* 
als  das  moderne  Weib  gewesen;  in  beiden  sei  Mann- 
und  Weibwesen  noch  embryonaler  in  einander  ver- 
schlungen gewesen. 

Diese  Thatsache  erkläre  die  eigenartige  Erscheinung 
der  griechischen  Päderastie.  Die  Freundesliebe  sei  da- 
mals heftiger  und  inniger  gewesen,  als  die  Geschlechts- 
liebe. Die  schwächer  ausgeprägten  Geschlechtsmerkmale 
hätten  auf  den  antiken  Menschen  einen  geringeren  Ein- 
druck gemacht  und  ihn  nicht  in  dem  Masse  gereizt,  wie 
den  modernen  die  stärker  entwickelten  der  Gegenwart 
Daher  rühre  denn  die  relative  Gleichgültigkeit  des  antiken 
Menschen  gegenüber  dem  Geschlechtsleben,  das  nur  als 
Mittel  zur  Fortpflanzung  und  Erhaltung  der  Gattung 
gegolten  habe,  dem  gegenüber  die  Freundschaft  als  das 
edlere,  vergeistigtere  Gefühl  erschienen  sei. 

Diese  Freundesliebe,  anfangs  völlig  rein  und  ideal, 
sei  allmälig  in  eine  Form  ausgeartet,  die.  sich  uns  als 
Geschlechtsyerirrung   darstelle^   aus   der  Natur  und  deq 


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—    396    — 

LebensyerhältnisseD  der  alten  Griechen  aber  sich  ganz 
normal  und  harmonisch  erkläre.  Das  Liebesgeftthl  im 
höheren  Sinne,  welches  der  Grieche  dem  Weibe  nicht 
entgegenzubringen  vermocht  habe,  habe  er  auf  den  Freund 
übertragen.  In  dem  Freund  habe  der  Grieche  —  zu- 
nächst unbewusst  —  das  Geschlecht  gesucht,  die  weib- 
liche Seite  der  Natur  des  Freundes  habe  ihn  gereizt. 

Der  sexuelle  Grundtrieb  habe  sich  mit  der  Zeit 
immer  mehr  entwickelt  und  habe  schliesslich  völlig  durch- 
geschlagen und  in  dem  physischen  Kontakt  seine  Be- 
friedigung gesucht.  Der  jugendfrische  Jüngling  habe 
weiblich  empfinden  lernen,  der  liebebedürftige  Mann  habe 
das  weibliche  Element  in  ihm  geschätzt.  Die  einander  an- 
ziehenden männlichen  Lebensalter  seien  immer  weiter  aus- 
einander gerückt.  Während  anfänglich  die  Freunde  Alters- 
genossen gewesen,  habe  später  der  gereifte  Mann  den 
Jüngling,  der  Erzieher  den  Zögling  gesucht. 

Das  interessanteste  Bild  dieser  Knabenliebe  stelle 
Sokrates  dar.  Er  habe  zwar  konträr-sexual  empfunden, 
aber  doch  Gefühle  rein  geistiger  Natur  gehabt,  nur  das 
Wohlgefallen  an  der  Jugendlichkeit  habe  ihn  geleitet^ 
während  seine  decadenten  Zeitgenossen,  z.  B.  Alcibiades, 
blos  den  sinnlichen  Reiz  erstrebten.  Der  Knabe  im 
Alter  von  12—15  Jahren  habe  auf  den  Griechen  gewirkt, 
das  Alter  also,  wo  das  Geschlechtsleben  des  Jünglings 
kaum  rege  gewesen  und  seine  weibliche  Natur  in  Formen- 
weichheit und  Anmut  geblüht  habe.  Im  20.  Lebensalter, 
dem  Alter,  wo  die  Männlichkeit  zum  Durchbruch  gelangt, 
habe  der  konträrsexuelle  Grieche  den  Jüngling  als  „ver- 
blüht* bezeichnet.  Entzückende  Bilder  solcher  Liebes- 
verhältnisse wiesen  die  Gespräche  Piatos  auf.  Die  Ver- 
liebtheit zwischen  Mann  und  Knabe  zeige  sich  dort  etwa 
in  der  Form,  wie  wir  sie  zwischen  Backfisch  und  Primaner 
kennten.    Diese  Verhältnisse    böten  ein  getreues  Abbild 


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-   ä99   - 

der  ersten  reinen^  bimmelhoch  jauchzenden  Liebesgeftihle 
zwischen  Jüngling  und  Mädchen  unserer  Zeit. 

Driesmans  fährt  dann  fort:  Für  den  modernen 
Menschen  sei  es  schwer^  sich  in  die  Empfindungsweise 
der  alten  Griechen  zu  versetzen.  Eine  »Jugendblüte*, 
wie  diese  sich  ihrer  erfreuten,  kennten  wir  nicht.  Der 
griechische  Jüngling  müsse  eine  Anmut  in  der  Formen- 
bildung und  eine  blühende  Körperfrische  besessen  haben, 
von  der  uns  nur  ein  schönes  Mädchen  unserer  Tage  eine 
schwache  Vorstellung  geben  könne.  Die  blasse,  schwäch- 
liche selbst  in  ihren  gelungensten  Exemplaren  un- 
harmonisch gebaute,  entweder  zu  magere  oder  zu  feiste 
Jugend  von  heute  könne  uns  nicht  entfernt  ahnen  lassen, 
was  die  Griechen  unter  einem  schönen,  „blühenden" 
Knaben,  verstanden  hätten.  Für  das  Umschwärmen  eines 
solchen  Knaben  fehle  uns  das  Verständnis.  Immerhin 
sei  aber  auch  heute  die  Ejiabenliebe  nicht  völlig  ausge- 
storben und  die  härtesten  gesetzlichen  Bestinmiungen 
hätten  sie  nicht  auszurotten  vermocht.  Merkwürdig  sei 
es,  dass  man  sie  vorzugsweise  bei  hochbegabten,  genial 
veranlagten,  also  den  Griechen  in  gewissem  Sinne  ver- 
wandten Naturen  fände.  Das  Genie  besitze  eine  ent^ 
schiedene  Neigung  zu  seinem  eigenen  Geschlecht. 

Driesmans  glaubt  dann  diese  Neigung  auf  das  Harmonie- 
gefühl zurückführen  zu  müssen,  welches  von  dem  sexuell 
unentschiedenen  oder  dem  sexuellen  Gleichge- 
wichtszusta  nd,  in  dem  die  Geschlechter  noch  embryo- 
naler ineinander  verschlungen  seien,  mehr  angesprochen 
werde,  als  von  dem  charakteristisch  ausgeprägten,  voll- 
entwickelten Geschlechtswesen.  Driesmans  schliesst  dann 
wörtlich :  „  Wir  halten  es  daher  für  ungerechtfertigt,  eine 
solche  Empfindungsweise  durchaus  für  dekadent  und 
pervers  zu  erklären.  Sie  kann  freilich  entarten,  ebenso 
gut  wie  die  Frauenliebe.  So  geschah  es  in  der  späteren 
griechischen  Zeit.    Aber  wer  dürfte  die  Zeitgenossen  des 


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—    SÖ8    — 

Aeschylos  und  Sophokles  decadent  und  pervers  nennen? 
Ihre  sexuelle  Empfindungsweise  lag  tief  in  ihrer  Natur 
begründet  und  will  aus  dieser  erklärt  und  verstanden, 
nicht  nach  unseren  moralischen  Kategorieji  beurteilt  sein." 

Der  kleine,  aber  schöne  und  gedankenreiche  Aufsatz 
von  Driesmans  schien  mir  wert,  ausführlich  wiedergegeben 
zu  werden.  Doch  kann  ich  ihm  nicht  in  allen  Punkten 
beistimmen.  Ich  möchte  bezweifeln,  dass  ein  so  grosser 
Unterschied  in  der  Körperbildung  und  der  Ausprägung 
der  Geschlechtsmerkmale  zwischen  uns  und  den  Griechen 
besteht,  wie  dies  Driesmans  behauptet.  Der  Zeitraum, 
der  uns  von  ihnen  trennt^  dürfte  doch  ein  relativ  zu 
geringer  sein,  um  derartige  tiefgreifende  anthropolog- 
ische Aenderungen  hervorzubringen.  Allerdings  erblicke 
auch  ich  zwischen  der  bisexuellen  Uranlage  des  Menschen 
und  der  konträren  Sexualempfindung  einen  direkten  Zu- 
sammenhang, welcher  oft  sich  auch  in  dem  äusseren 
Gesamthabitus  ausprägt,  bei  vielen  Homosexuellen  bildet 
aber  die  konträre  Gefühlsanlage  das  alleinige  feststellbare 
weibliche  Element  ihrer  Natur. 

Die  mannweibliche  Darstellung  der  Götter  ist  wohl 
hauptsächlich  lediglich  auf  das  von  Driesmans  hervor- 
gehobene Harmoniegefühl  der  Griechen  zurückzuführen, 
welches  ihnen  den  Idealtjpus  in  der  Vereinigung  und 
Vermischung  der  jedem  Geschlecht  zukommenden  Vor- 
züge zeigte. 

Was  das  von  den  Griechen  bevorzugte  Alter  anlangt, 
so  erstreckte  sich  dasselbe  wohl  über  das  15.  Jahr  hinaus, 
etwa  bis  zum  20.  Der  Ausdruck  nalg  ist  nicht  als  Knabe, 
sondern  Jüngling  zu  verstehen;  dabei  ist  zu  berücksich- 
tigen, dass  die  körperliche  Entwicklung  des  griechischen 
Jünglings  eine  firühzeitigere  war  als  bei  uns.  Uebrigens 
kommen  auch  bei  den  Alten  Liebesbündnisse  zwischen 
völlig  Erwachsenen  und  Grossjährigen  vor. 

Die   Bemerkung  gegen  Schluss  des  Aufsatzes,  dass 


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-  m  - 

wir  beute  eine  Jugendblüte  bei  Jünglingen  wie  die^  für 
welcbe  die  Griecben  schwärmten^  nicht  kennten  und  dass 
nur  ein  schönes  Mädchen  einen  Begriff  davon  geben 
könne^  verwundert  etwas:  denn  nach  Ansicht  Kunstsach- 
verständiger ist  vom  ästhetischen  Standpunkt  aus  der 
Mann  und  speziell  der  Jüngling  dem  Weibe  überlegen^ 
mindestens  aber  gleichwertig;  in  dem  Jüngling  vom  16. 
bis  20.  Jahr  findet  sich  auch  heute  durchschnittlich  ein 
höheres^  jedenfalls  gleiches  Mass  von  körperlicher  Schön- 
heit und  Jugendblüte  als  bei  den  Mädchen  des  gleichen 
Alters. 
3)  Eekhoud,  Georges:  „Chronique  de  Bruxelles* 

im    „Mercure    de    France",   Juni,    December    1900, 

Januar  und  März  1901. 

Chronik  vom  Juni:  Eekhoud  führt  einige  in 
Deutschland  erschienene  homosexuelle  Werke  an,  ins- 
besondere die  bei  Spohr  veröffentlichten,  worunter  er 
namentlich  „Eros  und  die  Kunst*,  „diese  herrliche  histo- 
rische und  ethische  Studie  von  Frey*  und  das  „von  hoher 
Eigenart  zeugende*  „Problem  der  Ethik*  von  Wächter 
hervorhebt;  er  berichtet  über  die  Petition  und  erwähnt 
das  Jahrbuch,  bei  welchem  er  auf  die  Antworten  der 
Priester  hauptsächlich  hinweist. 

Zur  Widerlegung  gewisser  aus  seinem  Eoman  von  der 
Anklagebehörde  gezogenen  Schlüsse  beruft  sich  Eekhoud 
auf  Goethe's  „Wilhelm  Meister*,  aus  dem  er  die  unten 
im  zweiten  Abschnitt  angegebene  homosexuell  angehauchte 
Stelle  zwischen  dem  jungen  Goethe  und  dem  Fischer- 
knaben zitiert,  femer  auf  Tolstoi's  .Auferstehung",  wo 
ebenfalls  Küsse  auf  den  Mund  zwischen  zwei  Männern 
(die  Szene  in  der  Neujahrsnacht)  vorkämen,  ohne  dass 
man  deshalb  an  Päderastie  denke. 

Chronik  vom  Dezember:  Bericht  über  den 
Verlauf  der  Hauptverhandlung  seines  Prozesses. 

Chronik    vom    Januar    1901:    Mitteilung    ver^ 


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—    40Ö    — 

schiedener  Interwiews  einer  Anzahl  Schriftsteller  über 
die  homosexuelle  Frage  und  das  Recht  des  ßoman- 
Schriftstellers,  sie  zu  behandeln.  Zunächst  erklärt  E^khoud 
selber  den  Zweck  seines  Buches:  „Er  habe  das  Mitleid 
nicht  auf  einen  lasterhaften,  sondern  einen  von  Natur 
aus  homosexuellen  Menschen  lenken  wollen*  und  giebt 
dann  einige  Stellen  aus  Krafit-Ebings  Einleitung  zu 
Molls  „konträrer  Sexualempfindung*'  wieder. 

Er  führt  die  Auffassung  seines  Vertheidigers,  des 
Schriftstellers  und  Rechtsanwalts  Edmond  Picard  an,  der 
einen  scharfen  Unterschied  macht  zwischen  grobsinnlicher 
Päderastie  und  der  innigen  leidenschaftlichen  Freund- 
schaft gewisser  hochbegabter  Männer,  die  man  in  der 
Litteratur-  und  Kulturgeschichte  häufig  anträfe. 

Der  Dichter  Giraud  will  dem  Schriftsteller  das 
Studium  jeder  Leidenschaft  gestatten,  die  Gesinnung 
mache  Alles  aus. 

Der  hochbedeutende  belgische  Dichter  Verhaeren 
betont,  ^E^lchoud  habe  sich  durchaus  in  seinem  Recht 
befunden,  da  er  kühne,  grossartige,  erschütternde,  heroische 
Persönlichkeiten  dargestellt  habe,  ja  heroische,  denn 
Hehlwart  gehöre  zu  den  Leuten,  die  für  das  stürben, 
was  sie  für  schön  hielten.  Es  handelte  sich  um  eine 
Leidenschaft,  d.  h.  um  die  dem  Herzen  eingepflanzte  Be- 
gierde, deshalb  verstände  er  die  Bezeichnung  ^wider- 
natürlich" nicht.  Der  Künstler  dürfe  jede  Leidenschaft 
schildern,  ohne  Rücksicht,  ob  diese  Leidenschaft  für  die 
Gesellschaft  schädlich  sei  oder  nicht,  sonst  müsste  man 
auch  Shakespeare  und  Moli^re  verpönen.** 

Chronik  vom  März  1901:  Eekhoud  berichtet 
weiter  über  die  Umfrage,  welche  die  Zeitung  „Le  Peuple* 
über  das  homosexuelle  Problem  und  das  Recht,  es  zu 
behandeln,  angestellt  hatte,  und  führt  insbesondere  die 
Ansicht  eines  bekannten  belgischen  Romanschriftstellers, 
Eugen  Demolder,    an.     Demolder   tritt    mit  Wärme    für 


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—    401     — 

das  Recht  des  Schriftstellers  eiD,  homosexuelles  Empfinden 
darstellen  zu  dürfen.  Er  erinnert  an  die  häufigen  der- 
artigen Schilderungen  in  der  antiken  Litteratur.  Der 
Uranismus  sei  im  Altertume  eine  anerkannte  und  geübte 
Leidenschaft  gewesen,  vielleicht  noch  intensiver  habe  er 
stets  im  Orient  existiert.  Auch  in  Europa  sei  er  heute  nicht 
verschwunden.  Früher,  im  Altertum  und  in  der  Renais- 
sancezeit, habe  ein  homosexueller  Geisteszustand  keinen 
Makel  nach  sich  gezogen.  Bei  uns  würden  die  Uranier 
als  moralisch  Verpestete  behandelt.  Und  doch  seien  sie 
nicht  Herren  ihres  Geistes,  ihrer  Physiologie.  Wie  früher 
befänden  sich  unter  ihnen  Künstler  und  Könige,  Denker 
und  Priester.  In  Mitten  einer  sie  verdammenden  Welt 
kämpften  sie  mit  ihrer  Natur,  mit  dem  in  ihren  Adern 
fliessenden  seltsamen  Blut,  mit  ihren  eigenartigen  Trieben, 
die  ihre  Seele  aufwühlten.  Es  heisst  dann  wörtlich:  „Sie 
kämpfen,  manchmal  unterliegen  sie,  und  oft  müssen  sie 
büssen.  Und  mit  diesem  so  eigenartigen,  so  intensiven, 
so  fürchterlichen  Drama  sollte  sich  ein  Schriftst^eller  nicht 
beschäftigen  dürfen?  .  .  .  Verurteilt  dann  Racine,  weil 
er  in  „Ph^dre*  mit  wunderbaren  Versen  den  Incest  be- 
sungen! Verurteilt  Balzac  wegen  seiner  ,Fille  auxyeux 
d'or",  wo  er  das  Herz  der  Frauen  blosslegt,  die  sich 
untereinander  lieben !  Und  verurteilt  Balzac,  weil  er  die 
Liebe  Vautrin's  zu  Lucien  de  Rubempr^  dargestellt  hat! 
Alles,  was  menschlich  ist,  gehört  zum  Gebiet  der  Littera- 
tur, und  Niemand  hat  das  Recht,  dies  Feld  zu  beschrän- 
ken.* Demolder  hebt  dann  eine  grosse  Anzahl  bedeuten- 
der Uranier  aus  Geschichte  und  Litteratur  hervor.  —  Li 
der  gleichen  „Chronique"  bespricht  dann  Eekhoud  ein- 
gehend Kupffer's:  ,,Lieblingsminne  und  Freundesliebe,* 
dessen  Wert  und  Bedeutung  er  rühmend  anerkennt. 

DieChroniken  sind,wie  überhaupt  Alles,was  ausEekhouds 
Feder  kommt,  mit  dem  diesem  Schriftsteller  eigenenKünstler- 
temperament  und  charakteristischen  Schwung  geschrieben. 

Jahrbuch  IIL  26 


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—    402    — 

4)  Förster-Nietzsche,  Frau  Elisabeth:  „Friedrich 
Nietzsche  über  Weib,  Liebe  und  Ehe"  in 
der  »Neuen  deutschen  Rundschau*',  Oktoberheft  1899. 
Nach  den  Ausführungen  von  Frau  Förster-Nietzsche 
über  das  Verhältnis  ihres  Bruders  zum  Weib,  in  welchem 
die  Geschlechts  liebe  zu  fehlen  scheint,  lässt  sie  sich,  wie 
folgt,  über  die  Gefühle  Nietzsches  für  seine  Freunde  aus : 
„Auch  darf  man  nicht  vergessen,  dass  seine  Ideale 
und  seine  Freunde  einen  ungewöhnlich  grossen  Teil  seiner 
innigen  Gefühle  in  Anspruch  nahmen.  Von  Richard 
Wagner  und  seiner  Musik  schreibt  er  im  August  1896: 
„Meinfe  einzige  Liebschaft,  wenn  man  mir  glauben  will," 
und  für  die  Gefühle  seinen  Freunden  gegenüber  hat  er 
immer  die  ergreifendsten  Worte  gefunden,  wie  denn  über- 
haupt die  Freundschaft  in  seinem  Leben  den  höchsten 
Rang  eingenommen  hat.  Er  fasst  einmal  seine  Empfin- 
dungen in  die  Worte  zusammen;  „Ja,  wenn  man  keine 
Freunde  hätte!  Ob  man's  noch  aushielte?  ausgehalten 
hätte?  Dubito.*  Mein  Bruder  kannte  noch  jene  höchste 
Form  edelster  Männerfreundschaft,  die  das  Altertum  ver- 
klärt hat. 

Der  unnatürliche  Charakter  indessen,  den  diese 
Freundschaft  damals  zuweilen  annahm,  war  ihm,  wie  alle 
Unnatur,  aufs  Tiefste  zuwider.  Er  schreibt  über  Freund- 
schaft und  Liebe: 

«Das  Altertum  hat  die  Freundschaft  tief  und  stark 
ausgelebt^  ausgedacht  und  fast  mit  sich  ins  Grab  gelegt. 
Dies  ist  sein  Vorzug  vor  uns.  Dagegen  haben  wir  die 
idealisierte  Geschlechtsliebe  aufzuweisen.  Alle  grossen 
Tüchtigkeiten  der  antiken  Menschen  hatten  darin  ihren 
Halt,  dass  Mann  neben  Mann  stand,  und  dass  nicht  ein 
Weib  den  Anspruch  machen  durfte,  das  Nächste,  Höchste, 
ja  Einzige  seiner  Liebe  zu  sein  —  wie  die  Passion  zu 
empfinden  lehrt.* 

Ich  möchte  ausdrücklich  betonen,  dass  ich,  entgegen 


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—    403     — 

der  Auffassung  vieler  Homosexuellen,  Nietzsche  nicht  für 
einen  Konträrsexuellen  halte.  Jedenfalls  ist  bis  jetzt  ein 
homosexuelles  Gefühl  bei  ihm  nicht  erwiesen;  die  Briefe 
an  seine  Freunde  verraten  lediglich  schwärmerische  Freund- 
schaft, dagegen  lassen  Briefe  an  Frau  L.  O.  (in  dem  ersten 
Band  der  veröffentlichten  Briefe)  auf  eine  Neigung  anderer 
Natur  schliessen;  wie  ich  privaten  Mitteilungen  Bekannter 
dieser  Dame  entnehme,  soll  Nietzsche  thatsächlich  eine  * 
heftige  Leidenschaft  für  Frau  O.  empfunden  haben. 

5)  Hart,  Julius:  „Platens  Tagebücher*,  besprochen 
im  „Litterarischen  Echo"  (Herausgeber  Dr.  Ett- 
linger,  Berlin)  Heft  24,  Nr.  vom  15.  September  1900. 
Die  vertrautesten  Freunde  Platens  hätten  mit  Be- 
sorgnis der  Veröffentlichung  seiner  Tagebücher  entgegen- 
gesehen.     Man    habe    es    für    bedenklich    gehalten,    die 
Mysterien    aus    dem    Leben    des    Dichters    der    grossen 
Menge    preiszugeben,    die    verständnislos    den    dunklen 
Spielen  der  Natur  gegenüberstehe.    Um  so  verdienstvoller 
sei  die  Herausgabe  der  Tagebücher.    In  ihnen  habe  sich 
Platen  ganz    unverhüllt    geoffenbart.     Derartige  Selbst- 
bekenntnisse seien  von  grösstem  Kulturwert. 

Immer  und  immer  wieder  spräche  der  Dichter  in 
seinem  Tagebuch  von  dem,  was  ihn  ganz  erfülle.  Die 
Gefühle,  welche  Heine  dem  Dichter  in  gehässiger  Weise 
vorgeworfen,  habe  Platen  thatsächlich  empfunden, 
wenn  auch  in  viel  ediererund  höherer  Form,  als  Heine  ange- 
nommen. Das  Tagebuch  zeige,  wie  tief  und  leidenschaft- 
lich die  Männerliebe  Platen  bewegt  habe.  In  diesem 
Gefühl  wurzle  auch  Platens  Kunstwert.  Das  Eigenartige, 
Besondere,  Persönliche  der  Platenschen  Muse  hänge  mit 
seinem  Eros  zusammen. 

Für  die  psychophysische  Erkenntnis  des  Dichters 
habe  dieser  Eros  die  höchste  Bedeutung,  aber  auch  für 
das  Yerständniss  der  Männerliebe  überhaupt,  namentlich 

26* 

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—     404     — 

da  die  Bekenntnisse  gerade  von  einer  ^kranken*  Seele, 
einem  mitten  in  diesen  Gefühlen  Darinstehenden  ausgingen. 
Heute  werde  die  mit  dem  unsinnigsten  der  Worte 
als  „widernatürlich**  bezeichnete  Liebe  Platens  verpönt, 
verfolgt  und  bestraft.  Die  Vorurteile  würden  leider  auch 
die  Tagebücher  Platens  nicht  zerstören,  aber  wer  erkannt 
habe,  wie  alle  Moral  im  Verstehen  der  Natur  wurzele, 
würde  auch  unbefangen  über  ein  Gefühls-  und  Trieb- 
leben urteilen,  das  noch  so  viel  Geheimnisvolles  in  sich 
berge  und  nach  aller  unserer  Naturauffassung  für  den 
Organismus  irgendwie  von  Wert  und  Bedeutung  sein  müsse. 

Für  den  Arzt  wäre  Platen  allerdings  „schwer  be- 
lastet* und  weit  entfernt  vom  „Normalmenschen**.  Der 
bedeutende  Mensch  sei  aber  krank,  und  Krankheit  gehöre 
im  gewissen  Sinne  zum  Wesen  des  genialen  Menschen, 
wobei  dann  freilich  der  Begriff  der  Krankheit  sich  in 
denjenigen  der  höheren  Gesundheit  umkehre. 

Bei  Platen  sei  viel  Gedrücktes,  viel.  Missmut, 
Klagen,  Jammern  und  Selbstpeinigung  zu  finden.  In 
seinem  Charakter  läge  etwas  Unmännliches,  mehr  Weib- 
liches, ja  Weibisches,  etwas  Widerspenstiges  und  Zer- 
fahrenes, Launenhaftes  und  Uebertriebenes.  Man  be- 
gegne bei  ihm  vielen  Widersprüchen,  oft  einem  plötz- 
lichen Umschlag  in  seinen  Gefühlen,  einer  zwar  feinen 
Empfindung,  die  aber  von  Empfindlichkeit  und  Empfind- 
samkeit imzertrennlich  sei. 

Sein  starkes  Liebesbedürfnis  werde  daher  nur  zu 
leicht  verletzt.  Er  tauge  nicht  für  die  reale  Welt,  flüchte 
sich  in  sein  Lineres  und  suche  in  seinem  Ideen-  uud 
Phantasieleben  sein  Glück.  Deshalb  habe  seine  Dichtung 
auch  den  Charakter  einer  Phantasiedichtung.  Ein  aus- 
geprägter, phantastischer,  idealistischer,  spiritualistischer 
Zug  zeichne  auch  seine  erotischen  Neigungen  aus,  etwas 
von  der  Vergeistigung   der    platonischen  Liebe.     In    den 


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—    405     — 

Personeo,  die  er  liebe,  liebe  er  im  Grunde  genommen 
Geschöpfe  seiner  Einbildungskraft,  Schemen,  Idealge- 
stalten seines  Innern.  Allem  Anscheine  nach  habe  er 
seine  recht  harmlosen  Jünglinge  für  begnadete  Wesen 
gehalten.  Er  habe  glühende  Leidenschaft  für  Jünglinge, 
die  er  nicht  näher  gekannt,  empfunden.  Dabei  habe  jede 
derartige  Liebe  mit  Enttäuschung  beider  ersten  Bekannt- 
schaft geendet.  Seine  Liebe  trage  ein  stark  intellectuoUes 
Gepräge,  er  suche  Freunde  von  geistigem  Adel  und  hoher 
Bildung.  Da  er  von  zarter  Moralität  gewesen,  sei  er  mit 
seinen  Neigungen  in  Zwiespalt  gerathen,  dem  unausrott- 
baren Trieb  habe  er  aber  nicht  entrinnen  können.  Bald 
klage  er  sich  an,  bald  entschuldige  er  sich.  Seine  Lebens- 
aufgabe sei  es  gewesen,  seine  Neigung  zu  vergeistigen, 
der  Welt  der  Sinnlichkeit  sei  er  abgestorben  für  die  Welt 
der  Abstraktion.  Das  Bild,  das  Platens  physischer  Or- 
ganismus darbiete,  sei  auch  in  seinem  Kunstwerk  zu  be- 
obachten. Auch  in  diesem  seien  decadente  Erscheinungen 
nachweisbar.  Ueberreizter  Subjektivismus,  Unfähigkeit 
zu  leben,  Flucht  aus  der  Wirklichkeitswelt  in  eine  Ideen- 
und  Schattenwelt  fänden  sich  viel  in  seiner  Kunst.  Was 
bei  den  heutigen  Decadenten  sich  zur  Blüte  entfaltet 
sei  bei  Platen  im  Keim  vorhanden. 

Der  verständnisvolle,  feinsinnige  und  schöne  Aufsatz 
von  Hart  gehört  mit  zum  Besten,  was  über  Platens 
Homosexualität  und  seine  Tagebücher  geschrieben  worden 
ist.  Im  wohlthuenden  Gegensatz  zu  Andern  (wie  z.  B. 
Karl  Busse:  Blätter  für  litterarische  Unterhaltung  vom 
13.  Mai  1897)*)**j,  welche  trotz  der  beredten  Sprache  der 

*)  Z.  vgl.  die  Entgegnung  auf  diesen  Artikel  von  Numa 
Praetoriiis:  Die  Tagebücher  des  Grafen  Platen  in  Brandts  „Eigenen" 
Juli  1898,  Heft  1;  z.  vgl.  auch  der  treffliche  Aufsatz  im  1.  Jahrbuch 
von  Ludwig  Frey. 

♦*)  Wenig  verständnisvoll  drUckt  sich  auch  aus  ein  gewisser 
Dr.  Harry  Maync  in  der    „Gesellschaft"   von  Conrad,  2.  Jamiar- 


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—     406     — 

Tagebücher  noch  die  Natur  von  Platens  Neigung  zu  ver- 
dunkehi  suchen,  wird  Hart  dem  Wesen  der  Platenschen 
Gefühle  und  ihrer  Bedeutung  für  seine  ganze  Persönlich- 
keit gerecht,  ohne  die  lächerliche  Furcht,  dadurch  Anstoss 
zu  erregen  oder  Platen  dadurch  zu  verkleinern. 
7)  Herman,  G.:    , Genesis"  oder    »Das  Gesetz  der 

Zeugung,*     (Leipzig,  Verlag  von   Arwed  Strauch. 

4  Bändchen,  Bd.  1—3  1899,  Bd.  4  1900. 

In  dem  Band  I  » Sexualismus  und  Generation", 
Beiträge  zur  Sexual-Physiologie,  wird  in  Kapitel  IV,  bei 
der  Besprechung  des  von  Moll  unterschiedenen  Kon- 
trektations-  und  Detumescenztriebes,  der  sexuelle  Trieb 
überhaupt  und  insbesondere  auch  der  Uranismus  aus  einem 
bei  dem  Menschen  angeblich  vorhandenen  Gesetz  sexueller 
Polarität  erklärt.  Mit  Reichenbach  nimmt  Herman  an, 
dass  der  menschliche  Körper  ein  Magnet  sei,  der  polare 
Gegensätze  aufweise.  Die  polarische  Anziehung  erzeuge 
in  erster  Linie  die  Kontrektation.  Beim  Nahen  der  gegen- 
poligen  Person  werde  das  Annäherungsbegehren  als  eine 
Lust,  zu  umarmen  oder  umarmt  zu  werden,  empfunden. 
Bei  keuscheren  Naturen  brauche  der  Kontrektationstrieb 
gar  nicht  mit  dem  Detumescenztrieb  zusammenzufallen. 
Die  Berührung  des  geliebten  Gegenstandes  genüge,  die 
psychophysische  Spannung  auszulösen.  (Letzteres  ist  aller- 
dings bei  einer  gewissen  Klasse  von  Urningen  der  Fall, 
die  durch  blosse  Küsse  und  Umarmungen  schon  befriedigt 
werden.      Bern.  v.  N.  Pr.) 

In  Band  IV  „Animismus  und  Regeneration*,  ,Unter- 


hefi;  1901,  S.  123:  Es  heisst  dort:  Er  ist  ein  unglückseliger  Mensch, 
der  sich  mit  dem  Leben  nicht  abfinden  konnte  imdaof  böse  Irrwege 
gerieth.  (!)  Das  SchUmmste  war  seine  berüchtigte  Erhitzung  mit 
schönen  Jünglingen.  In  den  Tagebüchern  ist  die  offene  Darlegung 
dieser  heiklen  Dinge,  weit  entfernt,  den  Dichter  noch  mehr  zu  be- 
lasten, nur  dazu  geeignet,  ihn  in  unseren  Augen,  wenn  auch  nicht 
zu  reinigen,  so  doch  zu  entschuldigen. 


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—    407     — 

Buchungen  über  Sexual-Spiritismus",  berührt  Herman  gleich- 
faUs  die  Homosexualität.  Dieser  IV.  Band  enthält  eine 
Darstellung  des  philosophischen  und  mystischen  Kernes 
gewisser  Sagen^  Systeme  und  Religionen,  eine  Erörterung 
des  modernen  Okkultismus  und  Spiritismus,  nebst  wissen- 
schaftlichen Erklärungsversuchen,  sowie  eine  Entwicklung 
verschiedener  Theorien  über  das  Ich,  die  Seele,  deren 
Prae-  und  Postexistenz,  über  die  Möglichkeit  der  ob- 
jektiven Ausstrahlung  der  Psyche,  und  namentlich  die 
Darlegung  der  sog.  Inschau,  d.  h.  der  Fähigkeit  gewisser 
Medien,  sich  in  ein  Doppel-Ich  zu  spalten,  die  exteriori- 
sierte  Psyche  wahrzunehmen  und  die  Vorgänge  des 
Seelenlebens  zu  schauen. 

Diese  Inschauexperimente  seien  besonders  wertvoll 
für  die  Erforschung  der  sexuellen  Probleme,  namentlich 
auch  der  Homosexualität. 

Die  Inschauversuche  ergäben  drei  Gattungen  von 
Homosexualität:  Erstens  die  Bisexuellen,  welche  bei  dem 
normalen  Geschlechtswechsel  teilweise  in  Indifferenz 
blieben  und  den  embryonalen  Zwitterzustand  noch  be- 
sässen  —  männlicher  Körper  mit  weiblicher  Psyche  oder 
mngekehrt;  —  zweitens  die  Asexuellen,  bei  denen  die 
Polaritätsspannung  so  schwach  sei,  dass  sie  kaum  empfunden 
würde;  drittens  endlich  die  Suprasexuellen,  welche  das 
Geschlecht  überwunden  hätten  oder  überwunden  zu  haben 
vorgäben.  Der  historische  Beweis  scheine  für  Buddha 
und  Christus  erbracht;  für  die  Platoniker  alter  und  neuer 
Zeit  aber  fraglich.    (S.  225  und  226.) 

(Bei  den  Asexuellen  und  Suprasexuellen  von  Homo- 
sexuellen zu  sprechen,  halte  ich  für  unrichtig  und  ver- 
wirrend.    Bem.  V.  N.  Pr.) 

S.  232  behauptet  Herman,  dass  bei  Inschauversuchen 
die  Personifikation  der  Ich-Radien  nach  den  Polen  der 
Aussenwelt  meist  konträrsexuelle  Züge  trage.  Den  weib- 
lichen   Somnambulen    erscheine    der    Schutzengel    (sein 


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—     408     — 

Doppel-Ich)  als  Mann  und  unigekehrt.  Wo  dies  nicht  zu- 
träfe^ sei  auf  eine  sexuelle  Anomalie  zu  schliessen:  So 
z.  B.  sei  ein  männlicher  Somnambule,  der  seinen  Doppel- 
gänger immer  als  jungen,  schönen  Mann  gesehen  habe, 
Urning  gewesen. 

S.  241  wird  dann  •  zusammenfassend  darauf  hin- 
^  gewiesen,  dass  die  Natur  weibliche,  männliche  und  andro- 
gyne  Individuen  hervorbringe.  Nach  den  Inschau-Befunden 
sei  jedes  Einzelego  an  sich  androgyn,  also  Zwitter.  Ein 
jeder  Mensch  sei  in  den  ersten  Monaten  seines  Aufent- 
haltes im  Mutterleib  scheinbar  androgyn  und  in  anormalen 
Fällen  werde  diese  Zweigeschlechtlichkeit  mangels  ge- 
nügender DiflFerenziationskraft  zu  einer  thatsächlichen 
Herman  denkt  in  erster  Linie  an  physisches  Zwittertum,. 
aber  das  Gesagte  findet  ebenso  Anwendung  auf  die  Homo- 
sexualität. 

Die  Ausführungen  Hermans  über  die  Inschau  bieten 
ein  sehr  grosses  Interesse.  Inwieweit  diese  Experimente 
wirklich  wissenschaftlichen  Wert  beanspruchen  dürfen  und 
insbesondere,  inwieweit  sie  für  das  Studium  der  Homo- 
sexualität von  Bedeutung  sein  können,  vermag  ich  bei 
meiner  mangelnden  theoretischen  Kenntnis  und  praktischen 
Erfahrung  auf  dem  Gebiet  des  Okkultismus,  Spiritismus 
und  der  psychometrischen  Psychologie  nicht  zu  beurteilen. 
7)  Kaufmann,Max:  Besprechung  von  Kupffers  „Lieblings- 
minne und  Freundesliebe "  in  der  „Gesellschaft*,  1. 
Dezemberheft  1900:  S.  323—324. 

Man  dürfe  nicht  sensationelle  Erotik  in  der  Samm- 
lung Kupffers  suchen ;  sie  bilde  einen  wertvollen  Beitrag 
zur  Kultur-  und  Litteraturgeschichte,  der  freilich  vom 
Standpunkte  des  geeichten  Normalphilisters,  wohl  auch 
des  orthodoxen  Litteraturmenschen  mit  Kopfschütteln  und 
Widerspruch  gelesen  würde.  Kaufmann  hebt  dann 
hervor,  dass  das  Vorurteil  gegen  die  gleichgeschlechtliche 
Liebe  so   alt  wie  das  Christentum  sei  und  sich  aus  dem 


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Hass  gegen  alles  „Heiduische"  erkläre,  denn  die  Lieblings-^ 
minne  stelle  einen  nicht  unwesentlichen  Bestandteil  an- 
tiker Moral  und  Sitte  dar.  Das  Christentum  bedeute  Ne- 
gierung, Tötung  des  Fleisches,  daher  die  Verfolgung  der 
Homosexualität  Den  gleichen  Standpunkt  habe  auch  die 
Gesetzgebung  eingenommen. 

Hierauf  führt  der  Kritiker  die  hauptsächlichsten  in 
der  Sammlung  vertretenen  Dichter  an,  mit  guter  Charak- 
teristik, namentlich  die  modernen.  Er  schliesst  mit  un- 
eingeschränktem Lob  über  das  „der  grössten  Beachtung 
werte  Werk".  An  diese  Besprechung  anschliessend  hat 
in  einer  kurzen  Nachschrift  der  (im  Dezember  1900) 
der  Litteratur  allzufrüh  entrissene  Herausgeber  der 
„Gesellschaft",  Jacobowsky,  bemerkt:  Er  könne  das  Urteil 
des  Referenten  (Kaufmanns)  nicht  teilen.  Im  Uebereifer,. 
möglichst  viele  Namen  für  das  Buch  zu  reklamieren,  habe 
der  Verfasser  sich  schwere  Verfehlungen  zu  Schulden 
kommen  lassen,  die  das«  Verdienstliche  und  Unbefangene 
seiner  Sammlung  bedenklich  schmälerten.  Einen  Goethe 
hier  einzureihen,  weil  der  „Erlkönig"  die  Zeile  enthält: 
„Ich  liebe  dich,  mich  reizt  deine  schöne  Gestalt",  sei  eine 
Lächerlichkeit,  und  Christus  anzuführen,  weil  es  in  Joh. 
15  heisst:  „Es  war  aber  einer  unter  seinen  Jüngern,  der 
zu  Tisch  lag  an  der  Brust  Jesu,  welchen  Jesus  lieb  hatte^^ 
sei  eine  grobe  Taktlosigkeit.  „Es  Hesse  sich  noch  vieles 
anfuhren.* 

Auch  ich  möchte  die  Deutung  des  Erlkönigs  im  Sinne 
von  Kupffer's  nicht  teilen,  ebenso  hätte  ich  lieber  das  Ver- 
hältnis von  Jesus  zu  Johannes  nicht  erwähnt  und  zwar 
aus  den  verschiedensten  Gründen,  namentlich  aber,  weil 
nur  auf  Grund  eingehender  theologischer  Studien  und  ge- 
nauer Quellenkenntnis  ein  Urteil  über  dasselbe  möglieb 
sein  dürfte. 

Dagegen  übertreibt  Jacobowski  mit  den  Worten: 
,Es   liesse   sich   noch    vieles    anfuhren".      Lediglich    an 


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—    410    — 

ivenigen  Stellen  können  Zweifel  auftreten  darüber,  ob 
wirklich  homosexueUe  Empfindungen  im  Spiele  sind.  Des- 
halb gehören  sie  aber  trotzdem  fast  alle  in  die  Sammlung, 
weil  sie  wenigstens  die  Freundesliebe  behandeln  und 
Kupffer  nicht  nur  die  Lieblingsminne  aufnehmen  woUte. 
Wie  ich  über  diese  Unterscheidung  und  Zusammensetzung 
-der  Sanunlung  denke,  darüber  spreche  ich  mich  weiter 
unten  (Nr.  9)  aus. 

S)  Kaufinann,  Max:  ^Heine  undPlaten*.  Eine  Revi- 
sion ihrer  litterarischen  Prozessakten  in  den 
Züricher  Discussionen.  Flugblätter  aus  dem 
Gesamtgebiet  des  modernen  Lebens.  N.  16 — 17. 
(Zürich  1899). 

Zunächst  eine  allgemeine  Verurteilung  der  Kampfes- 
weise Heines  gegenüber  Platen.  Heute  würde  eine  Pole- 
mik, welche  die  sexuellen  Neigungen  eines  Künstlers  in 
die  Kritik  seiner  Werke  hereinzöge,  unbedingt  verworfen 
werden.  Aus  der  Homosexualität  eines  Dichters  auf 
schlechte  Verse  zu  schliessen,  sei  heute  undenkbar.  Eine 
Anzahl  homosexueller  oder  weiblich  veranlagter  Schrift- 
steller hätte  gerade  die  moderne  Litteratur  mit  neuen 
<jrefüfalsnüancen  bereichert.  Die  Het^rosexualität  sei 
Allerdings  das  grosse  Gesetz  der  Fortpflanzung  und  der 
menschlichen  Ordnung ;  die  Natur  kenne  aber  auch  andere 
Fortpflanzungsmöglichkeiten  und  überhaupt  Wesen,  die 
sich  gar  nicht  fortpflanzten,  wie  die  Arbeits-Bienen,  die 
nur  Honig  und  Waben  schüfen,  nur  Geist  und  Aesthetik 
konstruierten.  Sollte  es  nicht  Menschen  geben  auf  künst- 
lerischem, ästhetischem  Gebiet,  die  rein  geistig  erzeugten 
und  nur  ästhetische  Werke -den  Mitmenschen  darböten? 
Derartige  sensible,  hoch  geistig  veranlagte  Naturen  dürfe 
man  aber  nicht  wegen  des  in  ihnen  unabänderlich 
wirkenden  Gesetzes  ihren  roheren  Brüdern  zur  Knebelung 
übergeben  und  hinter  Gefängnismauem  einsperren. 

Hierauf  giebt  Kaufmann  einen  kurzen  geschichtlichen 


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—    411     — 

Ueberblick  über  die  BestrafuDg  des  gleichgeschlechtlichen 
Verkehrs  seit  Carpzow  und  einen  solchen  über  die  wissen- 
schaftliche homosexuelle  Forschung  seit  Casper  unter  Er- 
wähnung einiger  urnischer  belletristischer  Erzeugnisse. 
Dieser  ganze  Abschnitt  bringt  nur  Allbekanntes. 

Folgt  hierauf  eine  Darstellung  des  bekannten  Streites 
zwischen  Heine  und  Platen,  worauf  Kaufmann  untersucht, 
ob  Platen  wirklich  homosexuell  war.  Nach  Wiedergabe 
der  Ansicht  verschiedener  Schriftsteller  über  Platens 
Homosexualität  erblickt  Verfasser  (und  mit  Recht)  die 
unumstösslichsten  Beweise  für  des  Dichters  konträre 
Sexualempfindung  in  den  Selbstbekenntnissen  seiner  Tage- 
bücher. Aus  den  letzteren  wird  eine  Anzahl  charakteri- 
stischer Stellen  wiedergegeben.  Gegen  Schluss  wird  dann 
noch  aus  Platens  Liebe  folgende  Verallgemeinerung  ge- 
zogen: „Was  auch  hier  wieder  mit  voller  Evidenz  her- 
vorgeht, ist  die,  auch  in  EjrafFt-Ebings  autobiographischen 
Mitteilungen  von  Urningen  bestätigte  Thatsache,  dass, 
im  Gegensatz  zur  heterosexualen  Liebe  zwischen  Mann 
und  Weib,  die  sympathische  Neigung  unter  Homosexualen 
in  der  übergrossen  Mehrzahl  der  Fälle  eine  in  der 
Psyche  steckenbleibende,  dem  quietistLschen  Charakter  des 
Urnings  entsprechende,  sich  passiv  und  reserviert  ver- 
haltende, nicht  oder  nur  selten  zum  Sinnlichen  und 
Motorischen  vordringende  Seelenerschütterung,  darstellt 
imd  dass  dies  insbesondere  bei  Platen  der  Fall  war." 

Diese  letzteren  Sätze  sind,  was  Platen  anbelangt, 
insofern  richtig,  als  seine  Liebe  keine  brutal  sinnliche 
war,  vielmehr  eine  ideale,  schwärmerische,  desshalb  fehlte 
ihr  aber  keineswegs  das  sinnliche  Moment,  wie  dies 
überall  in  den  Bekenntnissen  deutlich  hervortritt.  Wenn 
Platen  vor  dem  Gedanken  gleichgeschlechtlichen  Genusses 
zurückschreckte,  so  ist  dies  nicht  auf  seinen  Mangel  an 
Sinnlichkeit  zurückzuführen,  sondern  weil  der  Dichter 
bei  der  damaligen  Unkenntnis  der  Wissenschaft  über  das 


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—     412     — 

Wesen  der  Homosexualität,  bei  den  bestehenden  Vorurteilen, 
in  denen  er  selbst  befangen  war,  und  bei  seiner  fein  be- 
saiteten Seele  sich  selbst  als  einen  Verbrecher  hätte  ver- 
urteilen müssen,  falls  er  seinen  Trieben  nachgegeben 
hätte,  mochte  er  noch  so  sehr  die  [Eigenart  seiner  Ge- 
fühle vor  sich  selbst  verantworten,  sodann  aber,  weil 
Platcn  niemals  einen  seiner  würdigen,  verständnisvollen 
Geliebten  gefunden  hat  und  die  feile  Liebe  verschmähte. 

Muss  man  es  schon  als  unrichtig  bezeichnen,  Platen 
die  Sinnlichkeit  abzusprechen,  so  ist  es  noch  weniger  zu- 
treffend. Derartiges  von  den  Urningen  im  Allgemeinen  zu 
behaupten,  da  Viele  gerade  einen  besonders  starken  und 
gebfeterischen  Geschlechtstrieb  aufweisen. 

Auch  die  zu  Beginn  des  Aufsatzes  gemachten  Aus- 
führungen bedürfen  der  Berichtigung,  wonach  die  Homo- 
sexuellen gleichsam  die  feineren,  edleren  Naturen  im 
Gegensatz  zu  ihren  heterosexuellen  Brüdern  sein  sollen. 
Man  hüte  sich,  von  einem  Extrem  in  das  andere  zu  fallen. 
So  haltlos  das  bisherige  Verdammungsurteil  über  die 
gleichgeschlechtliche  Liebe,  so  ungerechtfertigt  und  grau- 
sam das  die  Homosexualität  bestrafende  Gesetz  erscheint, 
so  übertrieben  ist  es  andererseits,  die  Urninge  als  die 
höheren,  geistigeren  ^Menschen  zu  preisen.  Die  ideale  An- 
lage, der  schöne  Charakter,  die  natürliche  Begabimg  für 
Kunst  und  Poesie  vieler  Konträren  ist  nicht  zu  leugnen, 
ebensowenig,  dass  eine  nicht  unbedeutende  Anzahl  Geistes- 
heroen Urninge  waren.  Deshalb  sind  aber  die  edleren 
oder  bedeutenderen  Homosexuellen  doch  nur  die  Aus- 
nahme, wie  die  besseren  oder  hervorragenderen  Menschen 
überhaupt. 
9)  Kupffer,    Elisar    von:     , Lieblingsminne    und 

Freundesliebe    in    der   Weltlitteratur*    (mit 

einer  ethisch-politischen  Einleitung).  Verlag:  S.  Dyck, 

Eberswalde. 

Die  der  Sammlung  vorangehende    gedankenreiche 


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-     413    — 

und  von  idealem  Streben  eriüllte  Einleitung  ist  im  vorigen 
Jahrbuch  besprochen  und  gewürdigt  worden.  Die  Samm- 
lung selbst  besteht  aus  der  Zusammenstellung  einer 
Anzahl  von  Gedichten,  Prosabruchstücken,  Briefen  u.  s.  w. 
aus  der  Weltliteratur  in  deutscher  Sprache.  Die  meisten 
dieser  Schöpfungen  haben  die  homosexuelle  Liebe  — 
Lieblingsminne,  wie  sie  Kupffer  nennt  —  zum  Gegen- 
stande, nur  einige  wenige  bloss  schwärmerische  Freund- 
schaft, —  Freundschaftsliebe.  — 

In  eineip  Anhang  sind  typische  Aeusserungen  und 
Berichte  namentlich  aus  Werken  der  Antike  über  homo- 
sexuelle berühmte  Männer  wiedergegeben,  sowie  Nach- 
träge von  Gedichten  und  sonstigen  litterarischen  Erzeug- 
nissen homosexuellen  Inhalts  einiger  moderner  Geistes- 
heroen (Friedrich  des  Grossen,  Goethe, Winckelmann  usw.), 
femer  ein  Bruchstück  aus  einem  japanischen  ßoman. 

In  der  Sammlung  sind  folgende  Dichter  und  Schrift- 
steller vertreten: 

1.  Hebräer:  König  David  (Klage  um  Jonathan). 

2.  Griechen:  Archilochos,  Mimnermos,  Theognis, 
Ibykos,  Simonides,  Anakreon,  Pindar,  Bacchylides, 
Plato,  Kallimaehos,  Theocrit,  Meleager,  Plutarch, 
Xenophon,  Parthenios,  Achilleus  Tatios. 

3.  Römer:  Catull,  Vergil,  Horaz,  Tibull,  Ovid, 
Martial,  Lucian,  Aelian,  Konstantinos. 

4.  Orientalen:  Ibn  at  Tubi,  AI  Motamid,  Abu 
Mohammed  von  Basra,  Moslicheddin  Sadi,  Hafis, 
Ibn  Chaldun. 

5.  Italiener:  Michel  Angelo,  Giovanni   della  Casa. 

6.  Spanier:  Garcilaso  de  la  Vega,  Zorilla. 

7.  Franzosen:  Montaigne,  Flaubert,  Verlaine,  Loti. 

8.  Engländer:  Marlowe,  Shakespeare,  Byron, 
Schwinbume. 

9.  Russen:  Lermontow. 


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—     414     — 

10.  Deutsche:  Friedrich  der  Grosse,  WiDckelmann 
Herder,  Goethe,  Schiller,  Hölderlin,  Rückert, 
Grillparzer,  Platen,  Taylor,  Wilbrandt,  Graf  Stadion, 
Ludwig  II.,  Bulthaupt,  Linke,  Kitir,  v.  Levetzow, 
von  Mayer,  Brand,  von  Kupffer. 

Bei  allen  diesen  Dichtern  wird  die  Lieblingsminne 
als  natürliches  Liebesgefühl  empfunden  und  dargestellt. 
Bei  den  Griechen  tritt  es  mehr  mit  naivem  Wohlbehagen 
an  der  jugendlichen  männlichen  Schönheit  auf,  mit  dem 
Streben,  das  Geschlechtlich- Sinnliche  durch  das  ästhet- 
ische Empfinden  zu  verklären,  bis  bei  Plato  und  Sokrates 
mit  der  Identifizierung  des  Guten  und  Schönen  die 
mannmännliche  Liebe  als  die  Liebe  zum  schöneren  phys- 
ischen und  geistigen  Objekt,  als  die  Lehrmeisterin  und 
Erzieherin  zu  allem  psychisch  Schönen  und  Guten,  als 
die  bessere,  edlere  Liebe  erscheint. 

Den  Römern  gilt  die  Lieblingsminne  mehr  als  not- 
wendiges Stück  heiteren  Lebensgenusses,  sie  suchen  mehr 
in  ihr  die  freudige  Sinnlichkeit,  oft  ohne  tiefere  Leiden- 
schaft oder  diese  versteckt  unter  tändelnder  Liebelei. 

Die  Orientalen  schlagen  ergreifende  Töne  tief- 
empfundenen Gefühls  an,  kleiden  ihre  Leidenschaft  in  die 
Pracht  orientalischen  Bilderreichtums. 

Alle  die^e  Dichter,  —  die  Antiken  imd  die  Orien- 
talen —  besingen  die  Lieblingsminne  ohne  Scheu  und  ohne 
Zagen  als  die  der  normalen  Liebe  gleichberechtigte,  ja 
als  die  hehrere  Neigung,  Den  Dichtern  des  Mittelalters 
fehlt  die  schöne  Unbefangenheit. 

Unter  dem  Deckmantel  des  Wortes  Freundschaft 
suchen  sie  ihr  wahres  Gefühl  zu  verbergen,  aber  die  Glut 
des  Empfindens  dringt  durch,  verrät  die  Liebe  eines 
Michelangelo,  eines  Shakespeare  in  ihren  schwärmerischen 
erotischen  Ergüssen. 

Die  zurückgedrängte  Sinnlichkeit  wird  vergeistigt, 
verleiht   ihren  Dichtungen    einen   exaltiert  idealistischen 


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—    415    — 

Zug,  zugleich  aber  einen  Adel  der  Gesinnung  und  eine 
Tiefe  des  Empfindens,  die  den  früheren  Dichtem  un- 
bekannt waren  und  kaum  bei  den  Dichtem  der  Frauen- 
liebe in  gleicher  Vollendung  zu  finden  sind. 

Nachdem  der  heterosexuelle  Göthe,der  Weitblickende,. 
Allverstehende,  und  Winckelmann,  der  homosexuelle  Ideal- 
typus, mehr  die  äussere  Schönheit  betont  und  die  Rück- 
kehr zum  reinen  Griechentum  angebahnt,  wird  bei  den 
Modernen  und  Moderasten  das  homosexuelle  Gefühl  frei 
und  offen  als  Liebe  gepriesen  und  besungen  unter  dem 
Druck  des  Märtyrer-  und  Pariabewusstseins,  zugleich  aber 
mit  einem  gewissen  Trotz  und  kampfeslustigem  Auflehnen 
gegen  Vorurteile  und  Verfolgungen. 

Trotz  der  Verschiedenheit  der  Ausdrucksweise  und 
der  Gefühlsäusserungen  ist  der  Gesamteindruck  und  der 
Inhalt  der  Sammlung  ein  durchaus  einheitlicher.  Ueber- 
all  zeigt  sich  die  Homosexualität  als  der  Ausfluss  des 
ureigensten  Wesens  der  Persönlichkeit  mit  urwüchsiger 
Spontaneität 

Die  Dichter  sind  eben  der  Wissenschaft  vorausge- 
eilt und  haben  das,  was  diese  jetzt  langsam  festzustellen 
beginnt,  um  durch  ihre  Ergebnisse  allmälig  das  Märchen 
des  Lasterlebens  und  der  strafbaren  Widernatüflichkeit 
zu  zerstören,  schon  längst  erraten  und  gefühlt. 

Ein  Weiteres  lehrt  aber  noch  die  Sammlung  Kupffer's: 
Ueberall,  bei  den  verschiedensten  Völkern,  hat  die  mann- 
männliche Liebe  eine  gleiche  Vertiefung  und  poetische 
Gestaltung  erfahren,  überall  nimmt  sie  ein  ideales  Gepräge 
an,  weist  die  Fähigkeit  nach  eines  von  jeder  Gemeinheit 
und  brutalen  Sinnlichkeit  baren  Empfindens.  Idealität 
und  Gesundheit  des  Gefühls  sind  die  charakteristischen 
Merkmale,  mit  denen  uns  die  Homosexualität  in  diesem. 
Spiegel  der  Wirklichkeit,  den  Dichtungen,  entgegentritt. 

Hiermit  stellt  die  Sammlung  die  von  der  heutigen 
Wissenschaft  oft  übersehene  gesunde  Form  der  Homo- 


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—    416    — 

Sexualität  in  den  Vordergi'uud  gegenüber  den  von  den  Ärz- 
ten meistens  nur  gekannten  krankhaften  Erscheinungen. 
Eine  weitere  Erkenntnis  muss  sich  aber  jedem  unbefange- 
nen Leser  der  Sammlung  aufdrängen:  Dass  eine  Liebe, 
die  die  Geistesheroen  aller  Zeiten  und  Orte,  die  die 
deutschen  EJassiker,  ein  Goethe,  Schiller,  Winckelmann 
besungen  und  gepriesen  haben,  nicht  verbrecherisch 
sein  kann. 

Die  Sammlung  Kupffer's  hat  nicht  nur  wegen  der 
Frage  der  Homosexualität  Bedeutung,  sondern  ist  über- 
haupt von  hohem  litterarischen  und  kulturhistorischen 
Interesse,  gleich  wertvoll  für  den  Philologen,  wie  für 
einen  jeden  gebildeten  Laien.  Schwer  zugängliche, 
ausländische  und  antike  Dichtungen  sind  in  deutscher 
Sprache  Jedem  zugänglich  gemacht;  Manches  ist  zum 
ersten  Male  übersetzt.  Aber  auch  die  Schöpfungen  der 
deutschen  Literatur,  die  meist,  wohl  absichtlich,  von 
Philologen  und  Literaturhistorikern  im  Dunkel  gelassen 
worden  sind,  wirken  überraschend  und  vielfach  wie  Neu- 
heiten. Einiges  ist  überhaupt  zum  ersten  Male  veröffent- 
licht, so  z.  B.  die  Klagen  Friedrich  des  Grossen  um 
seinen  geliebten  Caesarion,  Verlaine's  Mille  e  tre. 

Einen  Punkt  möchte  ich  nicht  billigen,  nämlich  den 
Titel:  Lieblingsminne  und  Freundesliebe,  sowie  die  Auf- 
nahme von  Bruchstücken,  die  keine  homosexuellen,  son- 
dern lediglich  schwärmerische  oder  innige  freundschaft- 
liche Gefühle  zum  Gegenstand  haben.  Allerdings  kommen 
Uebergänge  von  homosexuellen  und  freundschaftlichen 
Empfindungen  vor  und  Fälle,  wo  Zweifel  bestehen,  wel- 
cher Art  Gefühle  eigentlich  vorliegen.  Dieser  Fälle  wegen 
darf  man  aber  nicht  den  Begriff  Freundesliebe  als  eine 
Art  homosexueller  Liebe  einführen.  Regelmässig  sind 
beide  getrennt  und  die  Homosexuellen  unterscheiden  sie 
meist  auch  ganz  genau.  Die  Urninge  haben  Freunde^ 
oft  sehr  intime,    gleich   wie  die  Heterosexuellen,  für  die 


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^    417    — 

sie  eben  nur  Freundschaft,  aber  keine  Geschlechtsliebe 
empfinden.  Damit  soll  natürlich  nicht  gesagt  sein,  dass 
die  homosexuelle  Zuneigung  eine  brutal  sinnliche  sein 
müsse,  sie  kann  vielmehr  einen  durchaus  idealen,  geistigen, 
edlen  Charakter  an  sich  tragen  und  äusserlich  nur  das 
Bild  der  Freundschaft  bieten.  Der  Grundunterschied 
zwischen  einem  Verhältnis  blosser  Freundschaft  und  einem 
durch  das  homosexuelle  Empfinden  hervorgerufenen,  wird 
aber  dem  Homosexuellen  mehr  oder  weniger  bekannt  sein. 
In  der  Sammlung  sind  die  Stücke  bloss  freundschaft- 
lichen Charakters  in  ganz  verschwindender  Minderzahl. 
Der  mit  der  Homosexualität  vertraute  oder  überhaupt 
der  aufmerksame  Leser  dürfte  unschwer  herausfühlen, 
wo  die  Freundschaft  und  wo  die  Minne  besungen  wird. 
Die  unterschiedslose  Aufnahme  von  Werken  beider  Ge- 
fühlsarten, welche  mindestens  äusserlich  hätte  ersichtlich 
gemacht  werden  müssen,  kann  aber  nur  verwirrend  wirken 
und  sogar  den  Eindruck  einer  gewissen  Tendenz  erwecken. 
Thatsächlich  hat  man  schon  Kupffer  vorgeworfen^ 
dass  er  ohne  Grund  einer  Anzahl  Dichtern  homosexuelle 
Empfindungen  unterschiebe.*)  Trotz  des  auf  die  Zu- 
sammenstellung verwandten  grossen  Fleisses  wird  das 
eine  oder  das  andere  Charakteristische  aus  der  modernen 
Literatur  vermisst,  (z.  B.  von  Walt  Whitmann,  Douglas), 
und  namentlich  aus  der  französischen  (z.  B.  Abel  Her- 
mant:  Le  disciple  aimd;  Gide:  Les  nourritures  terrestres; 
Cladel:  Ompdrailles).  Ein  Schriftsteller  hätte  aber  jeden- 
falls nicht  fehlen  dürfen:  Der  Belgier  Georges  Eekhoud. 
Wenn  bei  einer  zweiten  Auflage  Kupffer  seine  Blüten- 
lese erweitert,  so  wird  er  auch  zweifellos  die  im  Anhang 


*)  Vergl.  oben  Nachschrift  Ton  Jacobowsky  zu  der  Rozonsion 
von  Kaufmann.  Auch  in  einer  Tageszeitung  habe  ich  einen  ähn- 
lichen, versteckten  Vorwurf  gelesen. 

Jahrbuch  UI.  27 


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—    418    — 

enthaltenen  Gedichte  und  Bruchstücke  dem  Hauptteil 
einfügen,  andererseits  möge  er  dann  die  Berichte  über 
berühmte  Männer  zu  einem  selbständigen  zweiten  Teile 
verarbeiten.  Wünschenswert  wäre  endlich,  dass  genau 
die  Werke  angegeben  würden,  aus  denen  die  Bruchstücke 
und  Gedichte  entnommen  sind. 

Doch  alles  das  sind  nebensächliche  Punkte.  So  wie 
die  Sammlung  jetzt  erscheint,  bildet  sie  das  bedeutendste 
Ereignis  auf  dem  Gebiet  der  homosexuellen  Literatur 
des  Jahres  1900.  Sie  füllt  eine  Lücke  aus  nicht  nur  in 
der  homosexuellen  Literatur,  sondern  in  der  Literatur- 
geschichte überhaupt  und  trägt  durch  das  beredte 
Zeugnis  der  grössten  Geister  aller  Zeiten  zur  richtigen 
Erkenntnis  der  Homosexualität  bei.  Möge  ihm  der  ver- 
diente Erfolg  und  die  erhoffte  Wirkung  zu  Teil  werden. 

10)  Meyer  Heinrich  (Göttingen) :  „Nietzsche,  der 
Frauenfeind"  in  der  Zeitschrift:  „Die  Gegen- 
wart" (Herausgeber  Th.  ZoUing,  Berlin)  vom 
24.  Februar  1900. 

Nachdem  Meyer  festgestellt,  dass  Nietzsche  nicht 
nur  ein  Frauenfeind  war,  sondern  dass  auch  jede  Liebe 
zum  Weib  bei  ihm  fehlte,  fährt  er,  wie  folgt,  fort: 

^Der  Mann,  der  die  Frauenliebe  nicht  kennt,  ist  ja 
nicht  überhaupt  unfähig  zu  lieben,  nur  dass  seine  ganze 
Zärtlichkeit  und  Liebesfülle  dem  Kinde  gilt.  Aber  da 
diese  Liebe  im  Kinde  doch  nicht  den  Körper  will,  bedarf 
es  da  überhaupt  der  physischen  Zeugung?  Genügt  da 
nicht  die  geistige  Vaterschaft,  das  Verhältnis  des  Meisters 
zum  Jünger?  Li  der  That,  weit  öfter  als  vom  Kinde 
redet  Nietzsche  vom  Freunde,  als  vom  grossen  Fest  des 
Lebens,  der  Ahnung  des  Uebermenschen.  An  seine 
„Brüder"  wendet  sich  Zarathustra,  ihnen  offenbart  er 
die  begierdefreie  Selbstlosigkeit  echter  Liebe,  den  Seelen- 


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—    419    — 

reichtum,  den  der  Geliebte  nur  braucht,  um  sich  seiner 
eigenen  Ueberfülle  zu  entledigen,  die  immerfort  schenkt, 
ohne  je  Gegengabe  oder  Dank  zu  verlangen,  sich  stets 
hingiebt  und  doch  nie  ausgiebt.  Nun  verstehen  wir 
die  seelische  Eigenart  Nietzsche's;  er  ist  ein  Mensch, 
dessen  eigentliche  Lebensatmosphäre  die  platonische  Liebe 
ist.  Wir  nennen  sie  so  im  Gedanken  an  das  verklärte 
Idealbild,  das  Plato  von  seinem  Meister  Sokrates  als  dem 
grössten  Virtuosen  dieser  Liebeskunst  entworfen  hat  — 
ein  Bild,  das  das  Siegel  der  Wahrheit  an  sich  trägt; 
denn  in  ihm  zittert  noch  die  volle  Glut  der  Liebe  nach, 
mit  der  er  zuerst  geliebt  worden  ist  und  die  als  ihren 
Abglanz  diese  Gegenliebe  geweckt  hat.  Diese  Liebe  war 
das  Vehikel  der  griechischen  Kultur,  gewiss  ein  edleres 
als  unsere  Schulen  mit  allgemeiner  Schulpflicht  und 
Normallehrplänen;  sie  hat  nicht  zum  wenigsten  ihrer 
Blüte  den  frischen  Jugendglanz,  den  warmen  Lebens- 
hauch gegeben. 

Aber  freilich  —  das  ist  die  Kehrseite  —  in  dieser 
nur  männlichen  Gesellschaft  ist  die  Frau  schlimm  daran. 
Sie  kann,  wie  es  in  Athen  der  Fall  war,  nur  als  Gebär- 
maschine, höchstens  nebenbei  als  Sklavin  Verwendung 
finden.  Wie  ein  nachgeborener  Spätling  der  Antike  er- 
scheint hier  Nietzsche!" 

Auch  Meyer  denkt  an  eine  von  jeglicher  Beimisch- 
ung der  Sinnlichkeit  freie  Liebe.  In  diesem  Falle  ist 
aber  die  Identifizierung  dieser  Liebe  mit  derjenigen  des 
Plato  und  Sokrates  verfehlt,  denn  obgleich  die  Antike 
und  insbesondere  Plato  eine  edlere  und  niedere  Männer- 
liebe  unterscheiden,  so  ist  ihnen  doch  auch  diese  edlere 
Liebe  nicht  ohne  sinnliche  Grundlage  denkbar. 


27* 

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—    42Ö    -^ 

il)  Nemanitsch  (A.),  Staatsanwalt  in  Marburg  a.  d.  I).: 
,Homo8exuelleEifersucht*in  der  Zeitschrift 
für  Kriminalanthropologie  und  Kriminalstatistik  von 
Gross,  3.  Bd.  Heft  3  1900,  Nr.  X  S.  203—207. 
Ein  Bericht  über  einen  Kriminalfall  imd  die  dem- 
selben zu  Grunde  liegende  Homosexualiät: 

Drei  junge,  arbeitscheue,  vielfach  vorbestrafte  Ita- 
liener G  .  .  .,  D  .  .  .  und  A  .  .  .  werden  nach  Vertibung 
schwerer  Diebstähle  in  dem  Zwangsarbeitshaus  unterge- 
bracht. Dort  zunächst  inniges  Verhältnis  zwischen  D. 
und  G.  Nachdem  D.  in  eine  andere  Abteilung  mit  A. 
zusammengekommen,  wird  er  bald  des  G.  überdrüssig 
und  bricht  mit  ihm  ab;  dagegen  schliesst  er  innige 
Freundschaft  mit  A.  Darauf  Wut  und  Eifer- 
sucht des  G.,  der  mehrere  Male  schriftlich  und  münd- 
lich den  D.  eine  Putana  (Dirne)  schilt.  ,Du  bist 
eine  Hure,  die  sich  von  allen  gebrauchen  lässt,  auch 
früher  in  S  . . .",  und  eines  Abends  droht  er:  ^Du  Schwein 
von  einer  Hure,  morgen  früh  wirst  du's  schon  sehen", 
und  dem  A.  gegenüber:  ,Bewaflhe  Dich  morgen.  Du  und 
auch  diese  Hure  von  D.*.  D.  und  A.  stecken  scharfge- 
schlifPene  Messer  zu  sich,  und  als  sie  am  andern  Morgen 
im  Gange  demG.  begegnen,  stösst  ihm  D.  ohne  weiteres 
das  Messer  in  die  Brust,  derart,  dass  G.  kurz  darauf  stirbt. 
Nemanitsch  nimmt  an  (und  sicherlich  mit  vollem 
Recht),  dass  zwischen  G.  und  D.  einer-  und  D.  und  A. 
andererseits  homosexuelle  Beziehungen  bestanden  hatten. 
Bei  G.  fand  man  den  Namen  des  D.  eintätowiert,  femer 
hatte  er  seinen  Gefühlen  zu.D.  in  einem  Liebesgedicht 
Ausdruck  verliehen.  G.  war  von  äusserst  leidenschaft- 
lichem und  sinnlichen  Temperament,  schon  bestraft,  weil 
er  einmal  dadurch,  dass  er  auf  der  Erde  seine  Glut 
öffentlich  stillte,  Aergernis  erregt  hatte.  D.  dagegen  hatte 
einmal  im  Hofe  einem  Mitzwängling  die  Hosen  gewalt- 
sam herunterreissen  wollen. 


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—    421     — 

D.  wird  wegen  Todschlages  verurteilt,  als  Motiv  giebt 
er  ao,  G.  habe  ihm  einige  Geldstücke  gestohlen. 
Nemanitsch  hält  dieses  Motiv  für  ein  bloss  vorgeschütztes, 
es  läge  Mord,  nicht  Todschlag  vor;  das  Motiv  sei 
auf  dem  Boden  der  homosexuellen  Beziehungen  zu 
suchen.  D.  und  A.  hätten  mit  Ueberlegung  das 
Praevenire  gespielt  und  den  lästigen  Neider  ihres  Ver- 
hältnisses   in    blinder  Leidenschaft   beseitigen  wollen. 

Nemanitsch  hat  zweifellos  Recht;  nur  muss  wohl 
noch  betont  werden,  dass  gerade  der  Vorwurf  des  G., 
D.  sei  nur  eine  Dirne  und  habe  sich  allen  Männern  hin- 
gegeben, also  der  Vorwurf  der  gewohnheitsmässigen 
passiven  Päderastie,  nach  den  in  Italien  herrschenden 
Anschauungen  als  eine  sehr  schwere  Beleidig  ung  von  D. 
empfunden  werden  musste;  denn  während  die  aktive 
Päderastie  in  Italien  nicht  als  entehrend  gilt,  wird  die 
passive  Päderastie  als  schimpflich  angesehen. 
12)  Panizza,  Oskar:  , Arthur  Rimbaud*  in  der 
Zeitschrift:  „Wiener  Rundschau**,  1.  Oktober- 
heft 1900.    S.  332-336. 

Panizza  erzählt  die  ziemlich  bekannten  Begeben- 
heiten des  Verhältnisses  zwischen  Rimbaud  und  Verlaine 
und  fügt  einige  interessante  Bemerkungen  bei. 

Rimbaud  erhielt  im  Laufe  des  Jahres  1900  in  seiner 
Vaterstadt  Charleville  ein  Denkmal  errichtet,  er  hat  in 
den  Jahren  1869 — 1873  eine  Anzahl  Gedichte  verfasst, 
im  Alter  von  15 — 19  Jahren,  derentwegen  er  berühmt 
wurde.  Rimbaud  hatte  an  Verlaine,  welcher  als  Vorstand 
des  Pressbureaus  im  Jahre  1871  während  der  Kommune 
mit  Frau  und  Schwiegermutter  in  Paris  wohnte,  einige 
seiner  Gedichte  geschickt  und  besuchte  dann  Verlaine 
persönlich.  Verlaine,  der  in  Rimbaud  einen  Dreissig- 
jährigen  vermutet,  warerstaimt,  erst  einen  sechzehnjährigen 
Jüngling  vor  sich  zu  sehen.  Rimbaud  blieb  in  Paris  und  nahm 
Wohnung  bei  Verlaine.     Es  entstand  nunmehr  zwischen 


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—    422    — 

beiden  ein  intimes  Freundschaftsverhältnis.  Neun  Monate 
lang  wohnte  Rimbaud  bei  der  Familie  Verlaine;  dann 
gingen  die  Freunde  nach  Belgien;  eine  drohende  Ver- 
haft;ung  Verlaine's  wegen  Beteiligung  an  der  Commune 
bildete  den  Vorwand.  Beide  zogen  längere  Zeit  in  Belgien, 
England  und  wieder  in  Belgien  umher. 

Panizza  bemerkt  bezüglich  dieser  berühmten  Reise: 
,  Verlaine  hat  den  Mut  gehabt,  diese  kostbare  Kameraderie 
in  gemeinschaftlichem  Schmausen,  Kochen,  Dichten, 
Rauchen  und  Bechern  in  künstlerisch  fi'eier  Weise  zu  be- 
schreiben, wohl  um  sich  selbst  und  Anderen  Rechenschaft 
zu  geben.  Er  hat  es  stets  behauptet  und  Andere  haben 
es  ihm  geglaubt,  dass  es  sich  zwar  um  „Homosexualit^*, 
aber  nur  „au  point  de  vue  psychique*,  nicht  um  „faits 
mat Ariels"  gehandelt  habe. 

Panizza  zitiert  dann  vier  Strophen  aus  dem  Gedicht 
,Laeti  et  Errabundi"  aus  „Parall^lement*,  die  aber  auf 
mehr    als  eine   bloss   psychische  Leidenschaft  hindeuten. 

„Der  Mann  und  der  Jüngling,  sagt  Panizza,  mögen 
in  ihrem  herzlichen  Verkehr  den  Beschauem  wohl  ge- 
legentlich zu  denken  gegeben  haben.  Verlaine  war 
hässlich,  wie  eine  Tigerkatze,  voller  Kriminalität  und  Be- 
lastungszeichen in  dem  Gesicht  eines  Würgers.  Rimbaud 
„mignon,  sijoli  et  si  touchant  —  un  visage  parfaitement 
ovale  d'ange  en  exil*  und,  fügt  Verlaine  hinzu,  »des  jambes 
Sans  rivales". 

In  Brüssel  kam  es  zwischen  den  Freunden  zum 
Bruch.  Mutter,  Gattin  und  Schwiegermutter  Verlaine's 
eilten  von  Paris  herbei,  aber  Verlaine  wollte  sich  von 
Rimbaud  nicht  trennen,  dieser  dagegen  war  ernüchtert 
und  verweigerte  den  weiteren  Verkehr.  In  seiner  leiden- 
schaftlichen Erregung  schoss  Verlaine  mit  einem  Revolver 
auf  Rimbaud  und  verwundete  ihn  am  Arm.  Auf  dem 
Rückweg  vom  Spital,   wo  Rimbaud  sich  hatte  verbinden 


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—    423    — 

lassen,  feuerte  Verlaine  auf  offener  Strasse  abermals  einen 
Schuss  auf  ihn  ab,  da  er  sich  neuerdings  weigerte,  das 
frühere  Zusammenleben  wieder  aufzunehmen.  Rimbaud 
wurde  nur  leicht  verwundet,  Verlaine  dagegen  konnte 
seiner  Verhaftung  nunmehr  nicht  entgehen  und  wurde 
wegen  Körperverletzung  zu  zwei  Jahren  Gefängnis  ver- 
urteilt. Im  Anschluss  an  die  Erzählung  über  das  Attentat 
teilt  Panizza  Einiges  aus  dem  Buch  von  Pateme  Berrichon 
,Vie  de  Jean  Arthur  Rimbaud"  (Paris  1899)  mit:  Berri- 
chon sucht  Verlaine  und  Rimbaud  von  dem  Verdacht 
sexueller  Beziehungen  zu  reinigen  und  führt  auch  in 
wirklich  allzu  naiver  Weise  als  Grund  dafür  an,  ^dass 
die  Richter  bei  der  Verurteilung  Verlaine's  ein  derartiges 
unsittliches  Motiv  hervorgehoben  hätten."  (!)  Kaum  ge- 
nesen kehrte  Rimbaud  nach  Paris  zurück.  Alle  Bekannten 
wandten  sich  von  dem  einst  Gefeierten  ab.  Rimbaud  be- 
gab sich  nunmehr  in  seine  Vaterstadt.  Dort  veröffent- 
lichte er  »Une  saison  en  enfer"  (Brüssel  1873).  Aus 
diesem  Buch  giebt  Panizza  einige  Stellen  wieder,  wo  die 
beiden  verdammten  Seelen  der  „thörichten  Jungfrau* 
(Verlaine)  und  des  , höllischen  Gatten*  (Rimbaud)  mys- 
tische Zwiegespräche  führen,  welche  in  symbolistischer, 
aber  deutlich  durchsichtiger  Weise  das  durch  Verlaine's 
Einfluss  entstandene  eigentümliche  Gefühlsleben  Rimbaud's 
und  die  Beziehungen  beider  wiederspiegeln. 

Kaum  hatte  Rimbaud  das  Buch  fertig,  als  er  die 
ganze  Auflage  bis  auf  wenige  Geschenk-Exemplare,  da- 
runter das  heimlich  an  Verlaine  gesandte,  ihm  gewidmete, 
zerstörte.  Von  da  ab  schrieb  Rimbaud  keine  Zeile  mehr. 
Er  starb  1891  im  37.  Lebensjahre.  Noch  in  seinen  letzten 
Lebensjahren  hat  er,  so  berichtet  Panizza,  wenn  man  auf 
seine  Jugendleistungen  zu  sprechen  kam,  die  Erinnerungen 
daran  mit  Heftigkeit  von  sich  gewiesen  mit  den  Worten: 
a Absurde,  ridicule,  d^goütant!  .  .  .* 

Rimbaud  wurde  später  Kaufmann  im  Kolonialgebiet 


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—    424    — 

und  hat  in  Ostafrika  neue  Handelsgebiete  seinem  Vater- 
land erschlossen. 

Ueber  den  gegenseitigen  Einfluss  von  Verlaine  und 
Rimbaud  bemerkt  Panizza:  Ohne  die  Begegnung  mit 
Rimbaud  wäre  Verlaine  vielleicht  ein  braver,  formvoll- 
endeter Dichter  geworden,  wie  er  es  schon  vorher  ge- 
wesen. Durch  die  Begegnung  und  das  Zusammenleben 
mit  Rimbaud  habe  sich  in  ihm  eine  neue  komplizierte 
hysterisch-religiöse  Seite  entzündet,  aus  einem  männlichen, 
befruchtenden  Prinzip  sei  ein  weiblich  -  aufiiehmendes 
Prinzip  entstanden,  aus  der  Glut  der  neuen  Situation  sei 
der  katholisch-anbetende,  sündenbegehende  und  Sünden- 
abbüssende  Verlaine  hervorgegangen.  Rimbaud  seiner- 
seits wäre  ohne  das  Zusammentreffen  mit  Verlaine  sicher 
zu  einem  der  hervorragendsten  Dichter  Frankreichs  ge- 
worden, aber  seine  männliche  Aktivität  hätte  sich  weiter 
entwickeln  müssen,  sie  hätte  nicht  in  eine  falsche  Passi- 
vität hinuntergedrückt  werden  dürfen.  Der  impressioni- 
stisch haltlose  Knabe  sei  in  zwittrige,  seiner  Naturanlage 
entgegengesetzte  Gefühle  hineingetrieben  worden,  nach 
einem  kurzen  Eitelkeitsrausch  ausgeglitten,  und  da  die 
Poesie  mit  im  Spiele  gewesen,  so  sei  die  Ernüchterung 
auch  auf  diesem  Gebiet  gefolgt.  Litteratur  und  Dichtung, 
fremde  und  eigene,  sei  ihm  zum  Ekel  geworden,  daher 
der  Rest  seines  Lebens  Trostlosigkeit  und  Dürre.  Der 
Fall  Verlaine-Rimbaud  sei  nicht  nur  nach  der  Seite  der 
Litteratur  äusserst  interessant,  sondern  auch  medizinisch 
gesprochen ;  er  bilde  einen  Schulfall  für  die  vielfach  auf- 
gestellte Lehre,  dass  im  Menschen  die  Fähigkeit  zu  allen 
möglichen  Entwicklungen  schlummerte  und  dass  im 
biegungsfähigen  Alter  gewisse  Einflüsse  für  das  Leben 
bestimmend  zu  wirken  vermöchten.  Verlaine  sei  von 
Haus  aus  nicht  homosexuell  gewesen;  dafür  sprächen  seine 
Verheiratung,  die  Erzeugung  eines  Kindes  und  seine 
guten    Schulgedichte    im    Stile    der  „Parnassiens*,    aber 


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—    425     — 

durch  zufällige  Berührung  und  auf  Grund  einer  Anlage, 
wie  sie  vielleicht  die  meisten  Menschen  besässen,  sei  er 
homosexual  geworden  und  dies  sei  für  ihn  und  die  Welt 
ein  Glück  gewesen.  Denn  diese  neue  Pfropfung  habe  den 
Stamm  zu  erhöhter  Reife  gebracht  und  Rosen  von 
ungekannter  Güte  erzeugt.  Rimbaud  dagegen,  der  männ- 
liche, virulente  Knabe  sei  zu  einem  seiner  Natur  nicht 
völlig  entsprechenden  Gegenstand  der  Liebe  gedrängt 
worden,  ein  volles  Ausleben,  eine  volle  Entwicklung  daher 
für  ihn  unmöglich  gewesen. 

Was  Panizza  hier  über  Rimbaud's  Natur  sagt,  mag 
vielleicht  richtig  sein,  obgleich  einige  Aussprüche  in 
dessen  Buch  „Une  saison  en  enfer"  auf  ursprüngliche 
Homosexualität  auch  bei  Rimbaud  hinweisen;  jedenfalls 
ist  die  geistige  Existenz  von  Rimbaud  durch  das  Ver- 
hältnis mit  Verlaine  nicht  vernichtet  worden,  sondern  es 
hat  nur  zur  Folge  gehabt,  dass  er  die  Dichtung  verliess, 
um  in  anderer  Richtung  sich  auszuleben.  Thatsächlich 
hat  er  auch  seine  Persönlichkeit  und  seine  Männlichkeit 
auf  dem  Gebiete  des  Kolonialwesens  zur  Geltung  gebracht 
und  dort  Tüchtiges  geleistet.  Auch  die  Auffassung 
Panizza's  von  Verlaine's  Homosexualität  dürfte  der  Wahr- 
heit nicht  entsprechen.  Sein  ganzer  Lebenslauf,  insbe- 
sondere sein  späterer,  offenkundiger  homosexueller  Ver- 
kehr und  die  Art  und  Weise,  wie  er  denselben,  nament- 
lich in  seinen  nicht  veröffentlichten  „Hommes",  besingt, 
kann  keinen  Zweifel  übrig  lassen,  dass  es  sich  nicht  nur 
um  gelegentliche,  sondern  tief  eingewurzelte,  eingeborene 
Homosexualität  handelte;  dass  Heirat  und  Kinderzeugung 
nicht  das  Gegenteil  beweisen  und  beides  bei  vielen  Homo- 
sexuellen anzutreffen  ist,  dürfte  wohl  jeder  Kenner  der 
thatsächlichen  Verhältnisse  wissen.  Bei  Verlaine  scheint 
allerdings  auch  Hang  zum  Weib,  also  psychische  Herma- 
phrodisie,  bestanden  zu  haben,  worauf  unter  anderem  auch 
wohl  seine  erotische,  nur  in  wenigen  Exemplaren  publi- 
zierte Gedichtsammlung  „Femmes"  Schlüsse  zulässt 


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—    426    — 

13)  Renou,  Henri:    „Die  Blumenschiffe  in  China* 
im  „Mercure  de  France",    September-Nummer  1900. 

Der  Artikel  enthält  Angaben  über  die  homosexu- 
elle Prostitution  in  China.  Verfasser  lässt  sich,  wie  folgt, 
darüber  aus:  „Die  sog.  unnennbaren  Sitten  (obgleich  in 
London  und  Paris  ebensogut  als  in  Berlin  und  Rom  in 
Uebung,)  sind  in  China  seit  den  fernsten  Jahrhunderten 
eingebürgert.  In  dem  Land,  wo  wir  uns  gegenwärtig  be- 
finden, sind  die  in  den  Volkstheatern  in  den  Weiberrollen 
auftretenden  Schauspieler  die  Epheben,  welche  von  den 
vornehmen  Mandarinen  bevorzugt  werden,  namentlich 
während  der  heissen  Jahreszeit.  Diese  Schauspieler, 
meistens  Jüngelchen  von  12 — 15  Jahren,  sind  verdorbener 
als  die  Dirnen  unserer  Seehäfen.* 

Folgt  dann  die  Erzählung  eines  Abenteuers,  das 
einem  Seeoffizier  während  einer  Reise  nach  China  wider- 
fahren sei. 

Derselbe  habe  sich  bei  einer  Theatervorstellung  in 
die  Heldin  des  Stückes  verliebt  und  sie  durch  Vermitt- 
lung eines  der  offiziellen  Kuppler,  welche  gleichsam  zur 
Theatergesellschaft  gehörten,  auf  den  anderen  Abend  zu 
sich  bestellen  lassen.  Die  Schöne  sei  unter  Begleitung 
von  Laternenträgem  und  Musikanten  erschienen.  Im 
Schlafzimmer  habe  sie  sich  dann  zum  Entsetzen  des 
Offiziers  als  eine  Person  männlichen  Geschlechts  entpuppt. 

14)  Semydoff,     K.:     „Kodifizierte     Irrtümer*    im 

Sprechsaal  der  Zeitschrift  „Die  Kritik'*  von  Wrede. 

XV.  Bd.    Nr.  191.    Hefl  11,  1900. 

Ausgehend  von  dem  Scheitern  der  lex  Heinze  wird 
darauf  hingewiesen,  dass  es  schwerer  sei,  alte  Irrtümer, 
wie  den  §  175,  zu  beseitigen,  als  neue  zu  verhüten.  Kein 
Strafzweck  rechtfertige  diesen  Paragraphen.  Hössli  und 
Ulrich  werden  erwähnt  sowie  die  Petition.  Die  Auf- 
geklärtesten der  Nation,  sogar  Regierung  und  Polizei, 
ständen  der  Bewegung  zur  Abschaffung  der  Strafandrohung 


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—    427    — 

sympathisch  gegenüber.  Nur  gewisse  Finsterlinge  hielten 
an  der  alten  Auffassung  der  Homosexualität  als  eines 
Lasters  fest;  nachdem  die  Wissenschaft  diese  Anschau- 
ung als  unhaltbar  nachgewiesen,  zögen  sie  sich  auf  das 
,Volksbewusstsein"  zurück,  jenen  dehnbaren  Begriff,  auf 
den  schon  der  ^fromme*  Minister  von  Mühler  den 
§  143  des  früheren  Preussischeri  Strafgesetzes  gestützt 
habe.  Dieses  letzte  Bollwerk  sei  aber  morsch  und  würde 
fallen,  sobald  das  Volk  über  die  Homosexualität  auf- 
geklärt werde. 

Zum  Schluss  wird  über  das  Komitee  und  das  Jahr- 
buch berichtet,  dessen  Aufsätze  lobend  angeführt  werden. 

Der  kleine  Artikel  ist  in  warmem  Tone  und  mit  be- 
redten Worten  geschrieben. 
15)   Tannenbergr,    Heinrich:     „Die    psychopathia 

sexualis  im  Konitzer  Mord*  in  der  ^»Welt  am 

Montag«  vom  30.  April  1900. 
Verfasser  weist  darauf  hin,  dass  man  bei  denNach- 
forschungen  über  den  Mord  des  Gymnasiasten  Winter  zu 
Konitz  die  Frage  des  Lustmordes  ins  Auge  fassen  sollte. 
Manches  spräche  für  einen  solchen  Mord  und  zwar  für 
einen,  der  auf  dem  Boden' der  Homosexualität  gewachsen  sei. 
Winter  sei  wahrscheinlich  das  Opfer  der  konträren  Sexual- 
empfindung geworden.  Man  habe  eine  an  ihn  gerichtete 
Karte  mit  einem  Gedicht  voll  schwärmerischen  Sehnens 
gefunden,  die  von  einem  Manne  herrühre.  Dass  sie  mit 
einem  Weibemamen  unterzeichnet  sei,  dürfe  nicht,  wie 
man  es  gethan  habe,  so  erklärt  werden,  als  habe  der  Ab- 
sender im  Auftrage  eines  Mädchens  geschrieben,  sondern 
nur  als  Maske,  um  den  wahren  Charakter  des  Verhält- 
nisses zu  verbergen.  Bei  der  anormalen  Sexualität  seien 
Exzesse,  die  schliesslich  zum  Lustmord  führten,  nicht 
selten.  Die  Homosexualität  gehe,  namentlich  wenn  sie 
eine  erworbene  Perversion  darstelle,  häufig  mit  gewissen 
psychisch^a  Störungen  einher,  welche  die  BJutgier  nHhrten 


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—     428    — 

und  das  entgegenstehende  moralische  Bewusstsein  beein- 
trächtigen könnten.  Beispiel  der  Marquis  de  Sade.  Im 
Konitzer  Mord  versagten  alle  gewöhnlichen  Motive  als 
Erklärung ;  die  furchtbare  Zerstückelung  des  Körpers  deute 
auf  einen  Sexualmord.  Derartige  entsetzliche  Folgen 
sexueller  Entartung  seien  gerade  im  Hinblick  auf  die 
ganze  geistige  Struktur  der  Bevölkerung  der  Konitzer 
Gegend  und  der  Provinz  Westpreussen  nicht  befremdlich. 
In  der  dortigen  Landschaft  herrsche  noch  der  finsterste 
Aberglaube,  der  schon  oft  zu  nächtlichen  Leichenausgra- 
bungen und  Leichenzerstückelungen  zwecks  Zubereitung 
von  Heilmitteln,  ja  sogar  zu  Kannibalismus  u.  drgl.  ge- 
führt habe.  Ein  aus  einem  derartigen  Milieu  hervor- 
gegangenes, zugleich  mit  perverser  Sexualität  behaftetes 
Individuum  sei  für  die  Abschlachtung  seines  Opfers  gleich- 
sam vorbereitet  gewesen.  Die  Vermutung  sei  gerechtfertigt, 
dass  sexuelle  Perversität  und  der  anthropophagische  Aber- 
glaube  das    Konitzer   Verbrechen   hervorgebracht   habe. 

Bei  diesen  Ausführungen  ist  die  Behauptung  jeden- 
falls irrig,  dass  die  Homosexualität  einen  besonders 
günstigen  Boden  zur  Entwicklung  der  Blutgier  und 
des  Lustmordes  darstelle  und  häufig  mit  derartigen  sadist- 
ischen Neigungen  vereint  sei.  Blutgier  bei  Homosexuellen 
kommt  natürlich  auch  vor,  aber  nicht  häufiger  als  bei 
Heterosexuellen  und  nur  sehr  selten.  Regelmässig  hat 
die  konträre  Sexualempfindung  mit  dem  Sadismus  und 
dem  Lustmord  nichts  zu  thun. 
16)  Windelband,  Wilhelm:  , Piaton«  (Stuttgart,  Fr. 

Fromman's  Verlag  [E.  Hauff]  1900). 

An  verschiedenen  Stellen  sind  Ausführungen  über 
den  Platonischen  Eros  enthalten. 

Seite  31  heisst  es:  ^Nichts  vielleicht  in  Platon's  Dar- 
stellungen ist  so  echt  und  rein  socratisch  wie  seine 
Schilderung  der  weihevollen  Vereinigung,  welche  die  ge- 
trennten Menschenseelen  im  Erkenntnistriebe  finden.    Im 


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—     429     — 

^thaidros*,  im  , Symposion*  hat  er  dies  edelste  Bekennt- 
ois  abgelegt.  Die  Verbindungen  männlicher  Persönlich- 
keiten, welche  das  Griechentum  kannte,  erscheinen  hier 
in  höchster,  sublimster  Vervollkommnung.  Aus  der 
Freundschaft  gleichstrebender  Genossen,  aus  der  Lebens- 
verbindung ebenbürtiger  Charaktere  fällt,  wie  es  schon 
in  dem  früheren  Dialoge  ^Lysis"  angebahnt  war,  alles 
Utilistische  praktischer  Interessen  fort,  die  ifvXla  wird  zu 
einer  Wechselwirkung  sittlicher  und  intellektueller  För- 
derung: Und  von  jener  eigenartigen  Beziehung  zwischen 
dem  reifen  Manne  und  dem  aufblühenden  Jüngling,  die 
der  griechischen  Sitte  geläufig  war,  wird  bei  Piaton 
wie  bei  Socrates  aller  gemeine  und  sinnliche  Neben- 
geschmack abgestreift  und  es  bleibt  auch  hier  nur  ein 
geistiges  Verhältnis  des  Gebens  und  Nehmens,  des  An- 
regens  und  Entfaltens  übrig.  Durch  die  Gemeinschaft 
des  Denkens  und  WoUens  in  einander  die  Wahrheit  zu 
erzeugen,  das  ist  für  Piaton  der  Inbegriff  aller  Freund- 
schaft und  Liebe,  die  Menschen  mit  einander  verbinden 
soll.  Aus  dieser  Vereinigung  des  Sterblichen  erwächst 
in  immer  neuem  Leben  das  Unsterbliche.  Das  ist  der 
Sinn  der  .platonischen  Liebe",  der  Lehre  vom  SQwgy 
worin  sich  das  tiefste  Motiv  des  Philosophen  ausge- 
sprochen hat." 

Seite  102:  Nach  Plato  sei  die  Liebe  nur  die  Sehn- 
sucht des  Vergänglichen  nach  dem  Unvergänglichen,  des 
Sterblichen  nach  dem  Unsterblichen. 

Seite  111:  Das  Schöne  sei  das  wertvollste  und  wirk- 
samste Bindeglied  zwischen  der  sichtbaren  und  der  un- 
sichtbaren Welt,  der  Faden,  der  die  irrende  Seele  aus  der 
Verworrenheit  der  körperlichen  Gestalten  heraus-  und 
emporleite  in  die  reine  Höhe  der  Wesenwelt.  In  diesem 
Sinne  habe  das  «Symposion"  den  Siegeszug  der  Liebe 
aus  der  Sinnenwelt  in  das  übersinnliche  Reich  geschildert 
An  schönen  Gestalten  der  Körperwelt  entzünde  sie  sich^ 


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—    430    — 

aber  sie  suche  dahinter,  weDn  sie  die  echte  Liebe  sei,  die 
Schönheit  der  Seelen,!  die^sich  in  Werken  der  Sittlich- 
keit, der  Kunst  und  Wissenschaft,  in  Erziehung  und 
politischer  Thätigkeit  entfalte;  von  da  aber  wende  sie 
sich  der  ganzen  Welt  zu,  um  schliesslich  zu  jener  reinen 
Schönheit  aufzusteigen,  die  in  der  übersinnlichen  Welt 
ihre  Heimat  habe. 

Seite  139 :  Die  Liebe  Piatons  bedeute  nichts  Anderes 
als  Heimweh  der  Seele  nach  ihrem  überirdischen  Ur- 
sprung, nach  dem  göttlichen  Leben,  das  ihr  dereinst  zu 
Teil  geworden;  denn  die  Seele  sei  göttlicher  Natur  und 
habe  die  reinen  Gestalten  der  unsichtbaren  Welt  dereinst 
mit  ihrem  geistigen  Wesen  geschaut;  die  Liebe  sei  der 
Schmerz,  womit  der  gefallene  Geist  zurückstrebe  in  das 
verlorene  Paradies  seines  reinen  und  wahren  Wesens. 

Windelband  hat  lediglich  die  rein  geistigen,  abstrakten, 
intellektuellen,  philosophischen  Seiten  des  Platonischen 
Eros  betont  und  lediglich  diesen  Kern  herausgeschält 
Den  sinnlichen  Teil  hat  er  einfach  bei  Seite  gelassen. 
Die  homosexuellen  Verbindungen  der  Griechen  hat  er 
kaum  gestreift,  das  Verhältnis  der  Homosexualität  und 
des  Platonischen  Eros,  die  Verkörperung  dieses  Eros  in 
der  homosexuellen  Liebe  hat  er  gar  nicht  erörtert.  Man 
sollte  meinen,  dass  er  die  homosexuelle  Frage  gar  nicht 
kennt  oder,  was  wahrscheinlicher  ist,  nicht  kennen  will. 
Windelband  hat  in  seiner  Schrift  eigentlich  nur  den 
abstrakten,  philosophischen  und  metaphysischen  Kern  des 
Platonischen  Eros  entwickelt  und  das  dargestellt,  was  Plato 
als  letz  te  Wesenheit  der  Liebe  und  höchstes  Ideal  galt  Den 
sinnlichen  Teil  dieses  Eros,  welcher  im  Symposion  und  Phai- 
dros  eine  so  grosse  Rolle  spielt  und  mit  einer  Natürlichkeit 
und  Selbstverständlichkeit  geschildert  wird,  »die  heutzu- 
tage bei  einer  ähnlichen  Schrift  das  Einschreiten  des 
Staatsanwaltes  befiirchten  liesse  (ich  erinnere  nur  an  den 
VerführuDgsversuch  des  Socrates  durch  den  Alkibiades), 


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—    431     — 

hat  Windelband  bei  Seite  gelassen^  desgleichen  hat  er 
aber  überhaupt  das  Verhältnis  der  Platonischen  Liebe 
zur  Homosexualität  kaum  gestreift,  obgleich  dieser  Eros 
gerade  in  der  Männerliebe  seine  Verkörperung  finden  soll. 
Die  Ausführungen  Piatos  über  die  Liebe  haben  so  aus- 
schliesslich die  Männerliebe  im  Auge,  dass  Windelband 
zur  richtigen  Würdigung  und  zum  vollen  Verständniss 
Piatos  die  Erörterung  des  homosexuellen  Problems  und 
die  Beziehungen  Piatos  zur  Homosexualität  nicht  hätte 
übergehen  dürfen. 


Kapitel  II:  Reine  Belletristik. 

1)  Dauthendey   Elisabeth *):     »Vom    neuen    Weib 

und  seiner  Sittlichkeit*.  Ein  Buch  für 
reifeGeister.  (Schuster und Löffler, Berlin  1900). 
Die  Heldin  des  Buches  sucht  eine  höhere,  geschlechts- 
lose Liebe  zwischen  Weib  und  Weib.  Die  Besten  des 
Weibergeschlechtes  sollten  sich  nicht  mehr  dem  Manne 
hingeben,  sondern  dem  Weib  in  ruhiger  Beglückung. 
Das  neue  Weib  der  Verfasserin  wehrt  sich  gegen  das 
die  feinem  Nerven  beleidigende  brutal  Physische.  Ein 
Kapitel  schildert  ein  Erlebnis  der  Heldin  mit  einer  Tri- 
bade:  »Sie  war  beglückt  von  diesem  lebenssicheren,  selbst- 
bewussten,  etwa»  mannhaften  Wesen  und  glaubte  in  ihr 
das  Weib  der  Zukunft  gefunden  zu  haben,  bis  sie  in  einer 
wachen  Nacht  mit  Deutlichkeit  fiihlte:  Auch  diese  war 
eine  Enttäuschung,  auch  sie  weiss  noch  nicht  das  roh 
Sexuelle  von  wahrer  Liebe  zu  scheiden.* 

2)  Dilsner,   Ludwig:      „Jasminblüte".      Drama   in 

5  Akten.     Mit  einem  Vorwort     (Berlin,  Verlag  von 
Bemdt  und  Klette).    Wahrscheinlich  1899  erschienen. 


*)  MitgeteUt  von  Herrn  Peter  Hamecher. 

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—    432     — 

1.  Das  Vorwort.*)  Nach  kurzem  Hinweis  auf 
das  Vielen  unaufgeklärt  gebliebene  Verhältnis  Ludwigs  II. 
zu  seiner  einstigen  Verlobten,  der  Herzogin  von  Alen^on, 
das  im  Drama  in  verschleierter  Gestalt  und  verschiedenem 
Milieu  sich  wiederspiegle,  erörtert  das  Vorwort  die  Natur 
der  Homosexualität  und  das  Recht  der  Urninge  auf 
Straffreiheit. 

Die  Homosexualität  sei  angeboren ;  sie  bedeute  einen 
die  Wahl  ausschliessenden,  zwingenden  Trieb,  nicht  zu 
verwechseln  mit  dem  Laster;  nur  verkommene  Normale 
liebten  unreife  Knaben.  Der  Trieb  sei  nicht  sündhafl. 
Völlige  Abstinenz  sei  überhaupt  nicht  zu  verlangen  und 
nur  wenigen  kalten  Naturen  möglich.  Der  Normale  fände 
im  Institut  der  Ehe  die  erlaubte  Gelegenheit  zur  Be- 
friedigung des  Geschlechtstriebes.  Der  Urning  sei  in  der 
Zwangslage,  falls  man  ihn  nicht  wie  jener  Geistliche  auf 
den  Selbstmord  verweisen  wolle,  entweder  der  Onanie 
sich  hinzugeben  oder  unter  seine  Gesundheit  zerrütten- 
den Seelenqualen  und  dem  Damoklesschwert  drohen- 
der Verhaftung  Befriedigung  zu  suchen.  Daher  nur 
ein  Ausweg  gerechtfertigt:  Die  Aufhebung  der  Straf- 
bestimmung. Die  öffentliche  Meinung  und  das  Gesetz 
irrig  und  ungerecht.  Der  Einwand  der  Unmöglichkeit 
der  Fortpflanzung  nicht  stichhaltig.  Denn  gerade  die 
grössten  Religionsstifter  seien  der  Ansicht,  dass  die 
Menschheit  sich  nicht  fortzupflanzen  brauche. 

Die  von  den  Urningen  vorgenommenen  Geschlechte- 
akte,  mutuelle  Onanie  oder  coitus  inter  femora,  eher 
ästhetischer  als  der  coitus  mit  dem  Weib.  Eine  um  sich 
greifende  Zügellosigkeit  in  Folge  der  Freigabe  nicht  zu 
befürchten.  Beweis  dafür  Italien  und  Frankreich.  Im 
Gegenteil,  der  §175  verursache  schwere  soziale  Schäden: 
Die  Erpressung,  den  Zwang  der  Urninge,  zu  heiraten  und 

*)  Das  Vorwort  gehört  eigentlich  unter  Kapitel  1  §  2,  ich 
muBste  es  aber  seines  Zusammenhanges  mit  dem  Drama  wegen 
hier  anführen. 


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—    433    — 

fiomit  die  Erzeugung  von  Urningen  durch  Vererbung; 
deshalb  seien  auch  die  Urninge  so  zahlreich;  nach  Manchen 
sei  die  H  äl  f  t  e  der  Männer  homosexuell.  Durch  das  Gesetz 
-würden  nur  die  Kleinen  getroffen;  die  Grossen  schone 
man.  Nur  die  anständigen  Urninge  litten  unter  dem 
Paragraphen;  die  Zügellosen  lebten  jetzt  schon  unbe- 
kümmert um  das  Gesetz.  An  der  ganzen  Frage  sei  Jeder 
interessiert  wegen  der  Möglichkeit,  in  seiner  Familie 
Urninge  zu  entdecken. 

Das  Vorwort  bringt  nichts  Neues.  Dem  mit  der 
Homosexualität  nicht  Vertrauten  bietet  es  aber  genügende 
Aufklärung.  Manches  ist  allerdings  allzu  kategorisch  be- 
hauptet, Manches  direkt  unrichtig,  so  z.  B.  die  Angaben 
über  die  Zahl  der  Urninge.  (Nach  meinen  Erfahrungen 
kommt  schlimmsten  Falles  einer  auf  200— 300  Männer); 
ferner  ist  der  namentlich  in  einer  Anmerkung  im  3.  Akt 
des  Dramas  gemachte  scharfe  Unterschied  zwischen  den 
verschiedenen  Modalitäten  gleichgeschlechtlicher  Befrie- 
digung  zu  tadeln;  wenn  Dilsner  in  der  erwähnten  An- 
merkung die  immissio  in  anum  und  in  os  sogar  als 
Schweinerei  bezeichnet,  so  ist  nicht  zu  verwundem,  dass 
die  mit  der  Homosexualität  Unbekannten  die  ganze  Frage 
mit  diesem  Worte  abthun.  Ich  kann  nur  das  im  vor- 
jährigen Jahrbuch  über  diesen  Punkt  Gesagte  wieder- 
holen (Jahrbuch  II,  S.  367,  bei  Besprechung  der  Schrift 
,Ero8  mid  das  Reichsgericht");  Viele  Urninge,  ja  die 
meisten  lieben  die  getadelten  Arten  nicht,  bei  vielen 
bilden  sie  aber  die  ihnen  adäquate  Befiiedigungsart.  Ein 
ästhetischer  Unterschied  mag  vorhanden  sein ;  in 
moralischer  Beziehung  besteht  aber  keiner. 

II.  Das  Drama. 

1.  Akt:  Gespräch  zwischen  Oberlehrer  Welcker  und 
seinem  Freund  und  Kollegen  Dr.  Lerche  über  die  Ho- 
mosexualität Für  Lerche,  der,  mit  der  Frage  bekannt, 
sie  mit  Verständnis  und  Milde  beurteilt,    ist  die  Homo- 

Jahrbach  m.  28 


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—    434    — 

Sexualität  lediglich  ein  Spiel  der  Natur,  eine  Zwischen- 
stufe,  vergleichbar  der  Jasminblüte  mit  dem  verkrüp- 
pelten, halb  zum  Blumenblatt  gewordenen  Staubgefäss. 
Welcker  dagegen,  welcher  zum  ersten  Male  ein  Buch 
über  Homosexualität  gelesen  hat,  erblickt  in  ihr  nur  eine 
sittliche  Verirrung  oder  mindestens  eine  sehr  krankhafte 
Neigung,  für  welche  nur  das  Gefängnis  oder  das  Irren- 
haus am  Platze  sei. 

Vergeblich  sucht  ihn  Lerche  eines  Besseren  zu  be- 
belehren und  warnt  ihn  vor  übereilter  Verdammung, 
da  niemand  davor  sicher  sei,  in  der  eigenen  Familie 
einen  Urning  zu  entdecken. 

Aber  vor  dieser  Gefahr  wähnt  sich  Welcker  geschützt. 
Seine  beiden  Söhne  sind  blühende,  kerngesunde  Gymna- 
siasten. 

In  den  folgenden  Szenen  lernen  wir  beide  kennen, 
die  Gegensätze  in  ihren  Naturen  treten  deutlich  hervor; 
Hans,  lebenslustig  und  ausgelassen,  ein  echter  Junge, 
schwärmt  schon  für  Mädchen;  Rudolf,  schüchtern  vor  den 
Mädchen  und  zurückgezogen,  ist  ein  stiller,  träumerischer 
Primaner.  Lerche  hat  seit  einiger  Zeit  eine  gewisse  Aen- 
derung  in  dem  Benehmen  Rudolfs  bemerkt;  er  ahnt  in 
ihm  den  Urning.  Das  Verhalten  Rudolfs  am  Schluss  des 
1.  Aktes,  der  angeblich  Pferde  eines  vorbeifahrenden 
Wagens  bewundeil,  natürlich  aber  seine  Augen  von  dem 
schönen  Kutscher  nicht  trennen  kann,  scheint  die  Ver- 
mutung Lerehe's  zu  bestätigen,  dem  es  nicht  entgeht, 
wen  Rudolf  schön  findet. 

2.  Akt:  Rudolf  ist  thatsächlich  homosexuell.  Er 
sucht  bei  Pfarrer  Bethmann  Trost  und  offenbart  ihm 
sein  Geheimnis.  Aber  der  Pfarrer  versteht  ihn  nicht;  er 
hat  nur  Worte  der  Verdammung  gegen  die  Sodomiterbrut ; 
als  einziges  Mittel  kennt  er  lediglich  das  Gebet  Aber  auch 
dieses  Mittel  hat  bei  Rudolf  nichts  genützt  Als  Beth- 
mann, ratlos,  die  erhofllen  Worte  des  Verständnisses  und 


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—    435    — 

der  Verzeihung  nicht  spenden  kann,  scheidet  Rudolf, 
entschlossen,  auch  ohne  den  Segen  des  Pfarrers  seiner 
Natur  gemäss  zu  leben. 

3.  Akt:  Rudolf  hat  sich  in  einen  kräftigen  Arbeiter, 
Schröder,  verliebt  und  ein  schwärmerisches  Freundschafts:» 
Verhältnis  mit  ihm  angeknüpft.  Schröder,  ein  gemeiner 
Schurke,  der  Rudolfs  Natur  erraten,  beutet  sein  Geheimnis 
aus.  Er  geht  zu  Welcker,  verlangt  in  frecher  Weise 
Geld  und  spielt  den  durch  Rudolf  zur  Unzucht  Verfiihrten. 
Rudolf,  Schröder  gegenübergestellt,  muss  seine  Bekannt- 
schaft mit  ihm  zugeben.  Welcker  jagt  Schröder  fort, 
der  sich  unter  Drohungen  mit  Skandal  entfernt;  von 
Rudolf  verlangt  der  Vater  sofortige  Abreise  nach  Amerika. 
Glücklicherweise  kommt  Lerche  dazwischen.  Von  dem 
schon  zum  Selbstmord  bereiten  Rudolf  erfährt  er,  dass 
dieser  nichts  Strafwürdiges  gethan,  sondern  in  seinem 
überströmenden  Gefühl  sich  lediglich  zu  einer  inbrünst- 
igen Umarmung  hinreissen  liess. 

Lerche  bestimmt  Welcker,  seinen  Sohn  nicht  zu  Ver- 
stössen. Auf  Ansuchen  des  herbeigerufenen  Arztes,  der 
die  Homosexualität  als  eine  durch  Ablenkung  der  Ge- 
danken und  frühzeitige  Heirat  leicht  zu  heilende  Krank- 
heit betrachtet,  soll  Rudolf  nunmehr  einen  körperliche 
Anstrengung  erheischenden  praktischen  Beruf  erlernen. 
Welcker  versöhnt  sich  mit  ihm,  in  der  Hoünung,  die 
Heirat  werde  später  jede  Spur  der  »vorübergehenden 
Jugend verirrung"  beseitigen. 

4.  Akt:  Einige  Jahre  sind  vergangen.  Rudolf,  tüch- 
tig in  seinem  Beruf,  hat  sich  eine  selbständige  Stellimg 
erworben.  Familie  und  Freunde  drängen  auf  Heirat  mit 
seiner  Jugendfreundin  Marie.  Frau  Lerche's  Ermahnungen 
scheitern  an  Rudolfs  Gleichgültigkeit;  den  Bitten  und 
dem  inständigen  Flehen  seines  Vaterg  vermag  er  aber 
nicht  zu  widerstehen,  und  er  verlobt  sich,  halb  gezwungen. 

28* 


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—    436    - 

5.  Akt:  Rudolf  hat  nicht  die  Kraft,  die  Heirat  zu 
vollziehen.  Er  gesteht  semer  Braut  seine  Unfähigkeit, 
sie  zu  lieben,  und  bittet  sie,  ihn  seines  Wortes  zu  ent- 
binden. Marie  aber,  in  der  festen  Zuversicht,  durch  ihre 
Liebe  den  Geliebten  zu  gewinnen,  giebt  ihn  nicht  frei. 
Rudolf  will  nicht  mit  einer  Lüge  im  Herzen  in  die  Ehe 
eintreten  und  erschiesst  sich. 

Als  die  schraerzerfüUte,  bisher  ahnungslose  Mutter 
durch  Lerche  und  Welcker  den  wahren  Grund  des  Selbst- 
mordes erfährt,  versteht  sie  sofort  in  ihrer  Mutterliebe, 
was  Pastor,  Philologe  und  Arzt  nicht  begreifen  konnten. 
Sie  verkündet  das  Recht  des  Verstorbenen,  nach  seiner 
Natur  zu  leben;  sie  fühlt  es,  dass  Rudolf  in  den  Tod 
getrieben  wurde;  sie  weiss,  dass  ihr  Sohn  gut  und  edel 
war,  und  hätte  ihm  den  Geliebten  mit  eigener  Hand  zu- 
geführt, um  sein  Leben  zu  retten. 

Das  Stück  hat  zum  ersten  Male  die  Homosexualität 
direkt  und  unverblümt  dramatisch  behandelt. 

Das  an  sich  tragische  Los  des  Urnings  und  die  zahl- 
reichen durch  die  Homosexualität  bedingten  Konflikte 
mit  der  Religion,  der  allgemeinen .  Meinung,  dem  Staate, 
der  Familie  bilden  schon  an  und  für  sich  ein  ergiebiges 
Feld  für  den  Dramatiker.  Daher  wird  auch  jede  Drama- 
tisierung der  Homosexualität  ihrer  Wirkung  sicher  sdin 
und  Dilsners  „Jasminblüte  **  verfehlt  gleichfalls  ihre  Wirk- 
ung nicht.  Dilsner  hat  unleugbar  dramatisches  Talent; 
die  Hauptkonflikte  sind  geschickt  verwendet  und  eff*ekt- 
voU  dargestellt,  so  die  Unterredung  zwischen  Rudolf  und 
dem  Pfarrer,  die  Entdeckungs-,  die  Verlobungsszene  und 
namentlich  der  auch  gedanklich  schöne  Schluss.  Der  in 
Vorurteilen  befangene  Standpunkt  des  Pfarrers,  des  Arztes 
und  des  gebildeten  aber  unaufgeklärten  Bürgers  ist  der 
Wirklichkeit  abgelauscht  und  die  dramatische  Behandlung 


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~     437     — 

dieser  Anschauungen  lässt  deutlich  erkennen,  mit  welchem 
Heer  von  Irrtümern  der  Held  zu  kämpfen  hat. 

Trotzdem  ist  das  Stück  kein  wahres  Kunstwerk. 
Zunächst  bildet  es  an  vielen  Stellen  mehr  eine  dialogi* 
sierte  Verteidigung  der  Homosexualität  als  ein  Drama. 
Die  Tendenz  tritt  zu  sichtbar  hervor.  Die  Personen  sind 
etwas  schemenhaft  gehalten.  Man  merkt  zu  sehr  die 
Absicht,  das  Ungerechte  der  Vorurteile  in  ihnen  zu 
geisein.  Die  Handlung  ist  zu  äusserlich;  das  Ganze 
nicht  genug  verinnerlicht.  Namentlich  aber  stellt  sich 
die  Hauptfigur,  Rudolf,  zu  sehr  als  Sprachrohr  des 
Dichters  dar.  Man  bekommt-  keinen  unmittelbaren,  er- 
greifenden EinblKjk  in  das  Seelenleben  des  Helden;  jede 
Entwicklung  der  Psyche,  jede  Schilderung  der  Seelen- 
qualen und  -kämpfe,  die  er  durchmachen  musste,  bis  er 
seine  Natur  erkannte,  fehlt.  Obgleich  Rudolf  in  den 
3  ersten  Akten  noch  ein  Gymnasiast  ist,  hat  er  schon 
Klarheit  über  seine  Geschlechtsnatur  erlangt  und  spricht 
wie  ein  gereifter  Mann.  Wenn  aber  Rudolf  eine  der- 
artige, frühreife,  fertige  Ausnahmenatur  ist,  dann  erscheint 
auch  seine  Verlobung  und  sein  Selbstmord  unglaubwürdig. 

Der  Selbstmord  entbehrt  überhaupt  genügender 
Motivation.  Warum  tritt  Rudolf,  der  überdies  auch 
pekuniär  völlig  selbständig  und  unabhängig  von  seiner 
Familie  geworden  ist,  nicht  einfach  von  der  Verlobung 
zurück?  Wenn  er  es  wirklich  deshalb  nicht  wagt,  um  das 
der  ziemlich  einfältigen  Braut  gegebene  —  übrigens  halb 
erzwungene  —  Heiratsversprechen  nicht  zu  brechen,  so 
kann  man  auch  den  Selbstmord  des  Helden  kaum 
bedauern. 

Trotz  der  gerügten  Mängel  muss  die  Bedeutung  des 
Stückes  als  erste  dramatische  Behandlung  der  Homosexua- 
lität ausdrücklich  anerkannt  werden.  Dilsner  verdient  des- 
halb besonderes  Lob.     Da  das  Ganze  massvoll  und  ernst 


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—    438    — 

gehalten  ist,  so  wäre  eine  Aufführung  nicht  nur  erwünscht, 
sondern  auch  durchaus  möglich.*) 

3)  Evers,    Franz:    ^Einladung"    und    ,An    einen 
Jüngling*   in  der  Gedichtsammlung:  „Der  Halb- 
gott* (mit  einem  Bilde  von  Max  Klinger.)    [Verlag 
Kreisende  Ringe:  Max  Spohr,  Leipzig  1900J. 

In    „Einladung"    (S.    256)  preist  der  Dichter  den 
gleichgesinnten  Freund,  den  er  erkannt.    Er  fordert  ihn 
in  lyrischem  Erguss  zu  Seelenharmonie  und  beglückender 
Liebe  auf.    Homosexuelle    Empfindungen   bringt  sodann 
das  Gedicht:  ,An  einen  Jüngling*  (S.  257).  Es  lautet: 
„Holder  Knabe,  der  mein  Herz  bezwungen, 
Der  die  Stärke  meiner  Seele  ahnte, 
Als  ich  noch  aus  halben  Dämmerungen 
Mir  den  Weg  nach  weissen  Höhen  bahnte. 
Lagst  beglückt  mit  mir  beim  Griechenmahle 
Unter  Rosen,  die  von  Düften  thauten. 
Fühltest  tief  beim  purpurnen  Pokale, 
Was  wir  unter  Rosen  uns  vertrauten. 

Keine  Schatten  trübten  solche  Schöne, 
Lauter  wurde  unser  Thun  und  Trachten, 
Von  den  Saiten  klangen  goldne  Töne  .  .  . 
Und  wir  sanken  selig  hin  und  lachten. 
O,  wie  schimmerten  die  Tage  lichter! 
Weisst  Du  noch?  wir  wurden  Du  und  Du  .  .  . 
Und  in  Freundschaft,  Bildner  wir  und  Dichter, 
Tranken  wir  den  schönen  Göttern  zu.* 

*)  Htyse's:  „Hadrian"  und  Wilbrandt's;  ».Reise nach  Riva" 
Bchildem  gleicbfalis  homosexuelle  Gefühle,  aber  in  mehr  verschlei- 
erter Form,  nicht  als  bewusst  geschlechtliche  Liebesgefilhle.  In 
Marlows:  „Eduard  11.*^  (ins  Französische  übersetzt  von  Georges 
Eekhoud)  tritt  zwar  die  Liebesleidenscbaft  Eduards  zu  Gaveston  deut- 
lich hervor;  aber  in  allen  diesen  Stücken  kommt  der  Konflikt  die- 
ser Gefühle  mit  der  Aussenwelt  wegen  ihrer  homosexuellen 
Natur  nicht  zur  Darstellung. 


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—    439    — 

4)  Gramont,  L o u i s  de:  Astart^;  Libretto  zur  Oper 
in  4  Akten  und  5  Bildern  von  Xavier  Leroux  (zum 
ersten  Male  in  der  Pariser  Grossen  Oper  Mitte 
Februar  1901  aufgeführt).*) 

Die  zwei  Episoden  aus  der  Herkulessage :  Herkules, 
Liebesabenteuer  mit  Omphale  und  sein  Tod  in  dem  brennen- 
den Gewände,  werden  zu  einem  Ganzen  verschmolzen. 

L  Akt:  Herkules,  Sieger  über  Tyrannen  und  Unge- 
heuer, will  noch  grössere  Gegner  bestehen  und  selbst 
Götterbekämpfen.  Er  will  den  schändlichen  und  blutigen 
Kultus  der  Astarte,  der  unzüchtigen  Göttin  von  Lesbos, 
der.  Göttin  der  monströsen  Liebe,  vernichten;  er  will 
Omphale,  Königin  von  Lydien,  die  Priesterin  und  lebendige 
Verkörperung  der  Astarte,  töten.  Trotz  der  Bitten  seiner 
Gattin  Ddjanira  schiflft  er  sich  mit  seinen  Getreuen 
nach  Lydien  ein.  Die  bekümmerte  Gattin  sendet  ihm 
die  Prinzessin  Jole  nach,  um  dem  Helden  das  wunder- 
bare, vom  sterbenden  Centauren  vermachte  Gewand  zu 
überbringen,  dessen  Berührung  genügen  soll,  die  Seele 
Herkules'  vor  dem  Zauber  der  Lyderin  und  ihrer  un- 
keuschen Liebe  zu  bewahren. 

n.  Akt:  Vor  den  Mauern  von  Sardes:  Die  Be- 
völkerung fürchtet  die  Ankunft  Herkules',  aber  der  Hohe- 
priester der  Astarte  Phur,  der  das  Orakel  in  I-icsbos  be- 
fragt, beruhigt  sie.  Auch  Herkules  und  seine  Krieger 
werden  der  Wollust  verfallen.  Als  sie  erscheinen,  werden 
sie  von  den  Töchtern  Lydiens  und  Lesbos*  empfangen, 
und  ihren  Verführungskünsten  widerstehen  die  Mannen 
nicht. 

ni.  Akt.:  Nur  Herkules  ist  standhaft  geblieben. 
Phur  führt  ihn  in  den  Palast  zu  Omphale.  Von  ihrer 
Schönheit  wird    auch    er   bezwungen  und  fällt  zu  ihren 

*)  Bei  der  nachfolgenden  Besprechung  habe  ich  hauptsächlich 
den  Artikel  des  Musikkritikers  des  „Temps",  Pierre  Lalo,  in  der 
Nummer  vom  20.  Februar  1901  benutzt. 


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—    440    — 

Füssen.  Omphale  versammelt  das  ganze  Volk  zum  Zeugen 
ihres  Triumphes  über  den  Helden,  der  ihr  den  Tod  ge- 
schworen. Vor  Herkules  und  der  Königin  feiert  Phur 
den  Kult  der  unkeuschen  Göttin:  Zuerst  langsame  Zere- 
monien, dann  Tänze  und  Umarmungen,  dann  frenetische 
Freude,  die  bis  zum  Delirium  steigt.  Endlich  sinken  die 
Priesterinnen  nach  einander,  von  Trunkenheit  und  Wollust 
müde,  hin  und  schlafen  ein.  Nacht  und  Schweigen. 
Omphale  ruft  Herkules  zu  sich.  Er  wirft  sich  in  ihre 
Arme. 

IV.  Akt.  1.  Bild:  Omphale,  die  zum  ersten  Male 
liebt,  will  nicht,  dass  Herkules,  wie  ihre  früheren  Lieb- 
haber, auf  dem  Altar  der  Astarte  geopfert  werde.  Aber 
Phur  will  das  Blut  des  Helden.  Er  überredet  ihn,  in 
dem  Heiligtum  der  Göttin  sich  mit  Omphale  trauen  zu 
lassen.  Herkules  ist  dazu  bereit,  aber  Omphale  weigert 
sich,  da  sie  weiss,  dass  der  Augenblick  der  Trauung  den- 
jenigen seines  Todes  bedeuten  würde.  Inzwischen  kommt 
Jole  mit  dem  Gewand.  Die  Königin,  von  der  jungfräu- 
lichen Grazie  und  Schönheit  des  Mädchens  bezaubert,, 
wird  von  glühender  Liebe  zu  Jole  ergriflfen;  Herkulea 
kann  wieder  nach  Argos  zurück,  Omphale  lässt  ihn  gehen,, 
wenn  nur  Jole  bei  ihr  bleibt.  Herkules  zieht  das  Ge- 
wand an,  worauf  er  sofort  in  Flammen  gerät.  Er  ver- 
brennt, und  der  Palast  mit  ihm.    Omphale  flieht  mit  Jole. 

2.  Bild:  Die  Insel  Lesbos.  Auf  einem  blumen- 
bekränzten Schiff  berühren  Omphale,  Jole  und  der  Hohe- 
priester die  Küste.  Unter  den  Tänzen  und  Gesängen 
der  Lesbierinnen  schreiten  sie  dem  Altar  der  Göttin 
Astarte  zu. 

„Astarte*  ist  wohl  die  erste  aufgeführte  Oper  und  über- 
haupt das  erste  Theaterstück,  worin  die  lesbische  Liebe  zur 
Darstellung  gelangt.  Man  kann  jedoch  an  und  für  sich 
dem  Librettisten  ebenso  wenig  einen  Vorwurf  aus  der 
Benützung  dieses  Themas  machen,  als  heute  Jemand  daran 


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—    441     — 

denkt,  die  musikalisch-dramatische  Behandlung  des  Incestes^, 
in  Wagnert  „Walküre",  wo  der  liebetrunkene  Bruder 
die  bräutliche  Schwester  freit,  zu  beanstanden.  Auch  in 
„Astarte"  bewirkt  die  Wahl  eines  in  grauer,  sagenhafter 
Zeit  sich  abspielenden  Vorgangs  und  die  notwendige 
Idealisierung  durch  Gesang  und  Orchester,  überhaupt 
durch  die  Musik,  dass  das  Ganze  in  weite  Femen  ge- 
rtickt wircj  und  unmittelbare  Beziehungen  zur  Wirklich- 
keit nur  schwer  aufkommen.  —  Allerdings  wird  von  dem 
Musikkritiker  des  ^Temps**,  Pierre  Lalo,  das  Bedenken 
erhoben,  dass  der  Verfasser  der  „Astarte*  allzu  ausschliess- 
lich die  Wollust,  die  normale  und  anormale,  besungen 
habe,  namentlich  sollen  die  Tänze  im  2.  und  3  Akt  sowie 
das  letzte  Bild  etwas  allzu  deutlich  die  lesbische  Liebe 
versinnbildlichen.  Diesen  Charakter  der  Sinnlichkeit  soll 
auch  die  mehr  an  der  Oberfläche  haftende  als  tiefe,  mehr 
glänz-  und  prunkvolle  als  innerliche  Musik  tragen  und 
in  packender,  überwältigender  Weise  die  Wollust  der 
Dichtung  wiederspiegeln.  „Aber  mag  man  auch  finden 
dass  der  Ausdruck  dieser  Wollust  oft  etwas  übertrieben," 
sagt  Lalo,  „so  muss  man  doch  anerkennen,  dass  man  kaum 
eine  plastischere  Wiedergabe,  die  vollständiger  und  vor- 
züglicher wäre,  wünschen  kann.  Insbesondere  ist  der 
dritte  Akt  in  dieser  Beziehung  charakteristisch.  Wenn 
nach  Schluss  der  Orgie  die  müden  Priesterinnen  der 
Astarte  einschlummern,  empfängt  man  von  der  ungeheuren 
Szene^  wo  die  Körper  lagern  und  über  ihnen  ein  dunkler 
Dunst  schwebt,  einen  Eindruck  von  Sinnlichkeit,  welcher 
der  Grösse  nicht  entbehrt.* 

5)  Hagenauer,  Arnold*):    „MuspilH"  (Linz,  Oester- 

reichische  Verlagsanstalt).  Roman.  1900.  Psychologische 

Autobiographie   eines   Lustmörders  und  Pyromanen. 

Der  Roman  schildert  das  Entstehen  und  Zerfallen 

einer  innigen,  jedoch  nicht  direkt  homosexuellen  Freund- 


*)  Mitgeteilt  von  Herrn  Peter  Hamecher. 

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«chaft.  Zwischen  den  Zeilen  lässt  Verfasser  indess  genug 
Momente  gleichgeschlechtlicher  Liebe  durchblicken.  S.  36 
iindet  sich  eine  Bemerkung  über  die  sexuelle  Neigung 
Fontana's,  einer  Nebenperson.  Es  heisst  dort:  „Franz  war 
während  seiner  Gymnasialzeit  einer  gewissen  gymnasialen 
Jugendkrankheit  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ergeben 
gewesen,  die  nur  mehr  pathologisch  bestimmt  werden 
kann.  Als  er  in  vernünftige  Bahnen  einlenl^en  wollte, 
war  er  zu  depraviert,  um  an  dem  gewöhnlichen  Ge- 
Bchlechtsgenuss  die  Befriedigung  zu  finden,  welche  eine 
leidenschaftliche  Jugend  verlangt.  Seine  Nerven  kannten 
das  Weib  nicht  mehr.*' 

6)  Herdy,  D'Luis:  ,La  Destin^e*.  Roman.  (Paris, 
Vanier  1900). 

Der  Roman  hat  nicht  wie  die  beiden  früheren, 
im  vorjährigen  Jahrbuch  besprochenen  desselben  Ver- 
fassers ein  homosexuelles  Problem  zum  Gegenstand.  Er 
behandelt  vielmehr  die  Schicksale  und  Nöten  eines  hete- 
rosexuellen Schriftstellers,  des  jungen  Maurice  Fauvel. 
Dieser  hat  zum  Helden  seines  Erstlingswerkes  Elagabal  ge- 
wählt, und  dies  giebt  D'Herdy  Gelegenheit,  in  Kapitel  VIII 
die  Geschichte  dieses  römischen  Kaisers,  seinen 
•Charakter,  seine  Ausschweifungen  und  Excentricitäten 
^u  schildern.  Dabei  werden  Elagabals  gleichgeschlecht- 
licher Verkehr  und  seine  homosexuellen  Leidenschaften 
berührt.  So  wird  erzählt,  wie  der  Kaiser  als  Venus  ver- 
kleidet öffentlich  auftritt  und  über  die  Natur  seiner  Lei- 
denschaft keinen  Zweifel  übrig  lässt,  wie  er  in  Weiber- 
kleidem  die  Passanten  anlockt  und  sich  ihnen  prostituiert. 
Sein  Verhältnis  zu  seinem  Hauptgeliebten  Hierocles  und 
seine  Neigung  zu  Zoticus  werden  erwähnt.  —  In  einem 
andern  Kapitel  (XI  S.  245)  kommt  dann  eine  homosexu- 
•cUe  Episode  aus  der  Jetztzeit  vor.  Eines  Abends  begegnet 
Fauvel  auf  der  Strasse  einer  Person  in  Frauenkleidem, 
•die  er  auch  fiir  eine  Frau  hält.     Sie  bietet  sich  ihm  an; 


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Fauvel  will  sie  mitnehmen^  worauf  sie  gesteht,  dass  er  in 
ihr  einen  Mann  zu  erwarten  habe.  Voll  Entrüstung  und 
Ekel  entfernt  sich  der  Schriftsteller. 

Das  Kapitel  über  Elagabal  bietet,  weder  was  psycho- 
logische Tiefe  noch  künstlerische  Darstellung  anbelangt,  ein 
besonderes  Interesse;  es  scheint  mehr  auf  den  Effekt,  als  Würze 
des  Romans,  berechnet  zu  sein,  obgleich  die  eingehende  Schil- 
derung Elagabals  eine  gewisse  Berechtigung  insofern  hat, 
als  die  Bewunderung  des  Helden  für  den  römischen  Cäsar 
izur  Charakteristik  Fauvels  dient  und  das  Verbrechen, 
das  er  am  Schluss  des  Romans  begeht,  mit  erklärt.  — 
Wie  ich  aus  einer  Besprechung  des  Romans  im  „Mer- 
cure  de  France"  vom  Monat  Dezember  1900  ersehe,  soll 
das  Kapitel  über  Elagabal  fast  wörtlich  aus  Aelius  Laro- 
pridius  entnommen  sein. 

7)  Ives,  George:     „Eros'  Throne."     London  1900. 

In  sehr  zarten  Farben,  deutlich  nur  für  den  Einge- 
weihten, bringt  dieser  Gedichtband  das  Entzücken  an 
jugendlich  männlicher  Anmut  und  das  homosexuelle 
Empfinden  zum  Ausdruck.  Den  Titel  führt  das  Buch 
nach  einem  Cyclus  philosophischer  Poesien,  die  in  einer 
mystischen  Schönheitsfeier  gipfeln.  Erkennbar  zwischen 
den  Zeilen  ist  des  Verfassers  Zorn  über  die  Fesseln 
unter  denen   die  gleichgeschlechtliche  Liebe  schmachtet. 

8)  Kupffer,  Elisa r  von:     „Irrlichter."     Drama    in 

3  Teilen.  (Berlin,  Verlag  von  E.  Ehering  1900.) 
Homosexuelle  Beziehungen  sind  nur  im  3.  Teile 
geschildert,  der  aber  gedanklich  ein  Bruchstück  des  Ganzen 
bildet.  —  1.  Teil:  Andrei.  Der  kranke,  lebensmüde 
Andrei  wird  durch  seine  Liebe  zu  Tamara,  dem  Mädchen 
aus  dem  Volke,  von  neuem  Lebensmut  und  frischer  Freu- 
digkeit beseelt.  Doch  ihm  fehlt  die  Kraft  zu  wahrer 
Lebens-  und  Liebesfreude.  Zuerst  die  Furcht,  seine  Frei- 
heit zu  verlieren,  dann  unbegründete  Eifersucht  und  Mangel 
an  Vertrauen  zur   Geliebten   zerstören  sein  Liebesglück. 


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In  thörichtem  Wahn  weist  er  die  Geliebte  zurück,  die 
sich  aus  Verzweiflung  vergiftet.  Zu  spät' erkennt  er  seine 
Verblendung.  —  2.  Teil:  Erich.  Der  brustleidende 
totkranke  Erich  wird,  als  ihm  sein  Freund  Otto  seine 
Verlobung  ankündigt,  von  einer  grenzenlosen  Begierde 
nach  Lebens-  und  Liebesglück  ergriifen.  Er  will  sich 
ausleben,  die  Lebenslust  geniessen,  und  in  krankhafter 
Erregung  glaubt  er,  sein  Wille  zum  Leben  müsse  Krank- 
heit und  Tod  überwinden.  In  fieberhaftem  Sinnestaurael 
stürzt  er  Becher  auf  Becher  hinunter  und  achtet  nicht 
auf  die  verhängnisvolle  Abendkühle.  Vergeblich  wolle» 
ihn  die  Verlobten  und  der  Arzt  beruhigen  und  zurück- 
halten. Mit  dem  Ausruf:  „Keine  Welt  hemmt  meine 
Kräfte  —  keine  Welt!  O  ich  bin  der  König  des  Lebens!" 
bricht  er  tot  zusammen,  ein  erlöschendes  Irrlicht.  — 
3.  T  ei  1 :  N  a  r  k  i  s  s  o  s.  Kleomenes,  der  Künstler,  hat  lange 
in  den  Banden  der  koketten  und  schönen  Normia  ge- 
legen. Er  will  ihr  aber  nicht  weiter  Freiheit  und  Mannes- 
würde opfern  Der  junge  Narkissos  fesselt  den  Künstler 
durch  seine  Schönheit  und  Anmut,  durch  seine  Frische 
des  Körpers  und  der  Seele.  Narkissos,  von  unnennbarem 
Sehnen,  von  unbestimmtem  Trieb  zum  Ausleben,  zu  Liebe 
und  Ergänzung  erfüllt,  nimmt  freudig  Kleomenes'  Liebe 
und  Freundschaft  an.  Normia  sieht .  in  Narkissos 
einen  neuen  Anbeter,  und  bei  dem  Gastmahl  hofft 
sie  auch  ihn  sich  zu  unterwerfen  und  gleichzeitig 
Kleomenes  wieder  unter  ihr  Joch  zurückzubringen.  Die 
Gäste,  der  Schlemmer  Boetikos,  der  Philosoph  des  Genusses, 
Lucian,  und  der  biedere  Ethikos  werden  von  den  Reizen 
des  jungen  Narkissos  bestrickt,  aber  mit  jugendlicher 
Schalkheit  weiss  Narkissos  den  Liebkosungen  des  lüster- 
nen Boetikos  und  des  sinnlichen  Lucian  zu  entgehen.  Nor- 
mia erscheint  im  Prachtgewand,  strahlend  von  Schönheit. 
Auch  Narkissos  wird  geblendet;  alle  huldigen  ihr,  nur 
Kleomenes  nicht,  der  zum  Zeichen,  dass  er  nie  mehr  ihrer 


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Macht  sich  fügen  werde,  den  Becher  in  die  Flut  schleu- 
dert. Normia  fordert  Narkissos  zur  Rache  auf,  aber  er 
zögert.  Zornerfüllt  zieht  sich  Normia  zurück.  Doch  bald 
kehrt  sie  wieder,  um  abermals  ihre  Macht  an  dem  schönen 
Narkissos  zu  erproben.  Liebeglühend  fällt  er  ihr  diesmal 
zu  Füssen,  als  er  aber  Erfüllung  seiner  Wünsche  verlangt, 
stösst  sie  ihn  lachend  von  sich.  Sie  hat  gesiegt,  aber 
nur  scheinbar;  denn  als  sie  nun  selbst  von  Liebe 
zu  Narkissos  ergriffen,  herablassend  ihm  ihre  volle 
Gunst  gewähren  will,  weist  er  sie  zurück.  Er  hat  das 
gleissnerische,  verlogene,  eigensüchtige  Weib  erkannt,  jede 
Liebe  zu  ihr  ist  in  ihm  erstorben.  Vergeblich  fleht  nun 
Normia  um  Liebe.  Narkissos  entfernt  sich  mit  Kleomenes, 
beide  befreit  von  dem  herrschsüchtigen  Weib.  „Herrscht 
nach  Gewohnheit  über  Sklavenseelen,*  ruft  Kleomenes 
der  in  Wut  ausbrechenden  Normia  nach. 

Ueber  die  tiefere  Bedeutung  des  Dramas  sagt  Kupffer 
selbst  in  seinem  Vorwort:  „Die  drei  Stücke  sind  innerlich 
ein  Ganzes  und  schildert  das  letzte  Stück  .Narkissos" 
das  Durchbrechen  der  jugendlichen  Kraft,  nachdem  sie 
sich  ^us  den  Banden  der  irrh'chterirenden  Dekadenz  und 
des  verflachenden,  lähmenden  Herkommens  befreit  hat.* 
Damit  ist  der  Ideengehalt  nicht  erschöpft.  Im  ersten 
Teile  tritt  uns  die  Unfähigkeit,  zu  lieben,  die  das  eigene 
Lebensglück  zerstörende  krankhafte  Schwäche  und  Grübel- 
sucht entgegen.  —  Im  , Erich*  ist  die  Lebenslust  und 
der  Liebesdrang  vorhanden,  aber  sie  vermögen  sich  nicht 
durchzusetzen;  der  Held,  siech  an  Körper  und  Geist,  ist 
dem  Untergang  geweiht,  sein  Liebesziel  und  seine  un- 
begrenzte Sehnsucht  bilden  nur  das  letzte,  krankhafte  Auf- 
flackern seiner  gebrochenen  Kräfte.  Erst  das  letzte  Stück 
zeigt  den  Sieg  dieser  Lebenslust  und  Lebensfreude,  aber 
auch  hier  haben  sie  noch  Kämpfe  zu  bestehen.  Aus  den 
Fesseln  erniedrigender  Liebe  haben  sich  Kleomenes  und 
Narkissos   zu    der  schönen  Freiheit  harmonischer  Seelen 


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durchgerungen.  Zugleich  verkörpert  der  Jüngling  Narkis- 
80S  die  Lebensfreude  und  Liebeslust  in  ihrer  Naivetät 
und  Naturfrische.  Das  dritte,  von  griechischem  Geiste 
durchwehte  Stück  bildet  ein  abgerundetes  Ganze  für  sich 
und  scheint  mir  das  beste.  —  Der  Konflikt  zwischen 
Weibertücke  und  Frauenherrschsucht  einerseits  und 
zwischen  Männerstolz  und  Männerwürde  andererseits  so- 
wie das  Aufkeimen  der  ersten  Liebesgefühle  und  die 
naive,  nach  gefährlichem  Schwanken  in  den  Hafen  edler 
Neigung  mündende  Empfindung  sind  zu  dramatischer 
Gestaltung  verwoben.  —  Das  Homosexuelle  in  „Narkissos" 
ist  hauptsächlich  mehr  symbolistisch  aufzufassen.  Die 
Liebe  Kleomenes'  zu  einem  Jüngling  -soll  den  Gegensatz 
zu  der  entwürdigenden  Leidenschaft  zum  sinnlichen^ 
verdorbenen  Weib  darstellen;  in  dem  unverdorbenen, 
naiven,  im  Frühling  des  Lebens  stehenden  Narkissos 
wollte  Kupffer  das  Ideal  unschuldvoller  Jugendlichkeit 
und  Anmut,  das  Ideal  der  zu  Leben  und  Liebe  erwachenden 
Menschenseele  versinnbildlichen.  Homosexuelles  in  psychi- 
atrischer Beziehung  ist  wenig  in  „Narkissos"  zu  finden. 
Die  grobe  Deutung,  dass  Kleomenes,  nachdem  er  Weiber- 
Uebe  zum  Ueberdruss  gekostet,  zum  Jüngling  sich  wendet 
und  somit  eigentlich  nicht  aus  Homosexualität,  sondern 
aus  anderen  Motiven  handelt,  wird  wohl  der  geistige  Ge- 
halt und  die  ästhetische  Ueberlegenheit  der  3  Stücke 
verhindern,  die  in  erster  Linie  trotz  ihrer  sicherlich  auch 
bühnenwirksamen  dramatischen  Lebendigkeit  als  Ideologien 
zu  bezeichnen  sind.  Allerdings  vor  böotischen  Lesern 
und  Kritikern  sind  auch  die  ^Irrlichter"  nicht  sicher,, 
obgleich  sie  abseits  vom  Alltagsmarkt  liegen. 
9)  Louys,  Pierre:  „Les  aventures  du  roi  Pausol"  (in 
das  Deutsche  übersetzt,  Budapest  1900). 

Die  Prinzessin  Alice,  als  sie  zum  ersten  Male  einer 
Balletvorstellung  beiwohnt,  fasst  eine  lebhafte  Zuneigung 
zu   der   als  Prinz   verkleideten   Ballettänzerin    Mirabelle. 


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Sie  bestellt  sie  Nachts  in  den  Park  Dort  gelobe» 
sich  beide  unter  Küssen  Freundschaft  und  lustwandeln 
in  zärtlichem  Gespräch.  Mirabelle  empfindet  Liebes- 
leidenschafl  nur  für  Frauen,  während  sie  des  Geldea 
Avegen  den  Männern  sich  hingiebt  Sie  ist  entzückt  von 
der  Prinzessin;  sie  beschliesst,  ihre  Truppe  zu  verlassen 
und  bestimmt  Alice,  mit  ihr  zu  entfliehen.  Beide  machen 
sich  noch  in  derselben  Nacht  auf  den  Weg. 

In  der  Bannmeile  des  Palastes  kehren  sie  in  einer 
Herberge  ein.  Folgt  nun  die  Schilderung  einer  Scene,. 
wo  beide  sich  entkleiden:  Mirabelle's  männliche  Gestalt^ 
die  Zwiefältigkeit  ihrer  Haltung,  die  flache  Brust  ohne 
Brüste,  ihre  an  den  Mann  erinnernden  Formen,  welche  die 
naive,  von  den  eigentlichen  Gefühlen  ihrer  Freundin  nichts 
ahnende  Alice  zu  dem  Ruf  verleiten:  «Ist  es  auch  wahr^ 
du  bist  kein  Mann?!"  werden  beschrieben. 

Unterdessen  hat  sich  König  Pausol  mit  seinem  Gross- 
eunucheu  Nixis,  seinem  Pagen  Giglio  und  einer  Leib« 
wache  zur  Verfolgung  seiner  entschwundenen  Tochter 
aufgemacht.  Giglio  ermittelt  den  Aufenthalt  der  beiden 
Frauen,  verschweigt  ihn  aber  dem  König  und  weiss  sich 
selbst,  dank  einer  Verkleidung,  Zutritt  in  das  Zimmer 
der  Flüchtigen  zu  verschafien.  Er  warnt  sie  und  bringt 
sie  dazu,  in  die  Hauptstadt  zurückzukehren,  wo  sie  in 
einem  Asyl  für  die  verwahrloste  Jugend  Unterkunft 
suchen  sollen.  Die  beiden  Frauen  steigen  aber  zunächst 
in  einem  Gasthofe  ab.  Erneute  Schilderung  einer 
intimen  Scene  zwischen  beiden,  diesmal  mit  direkten  An- 
deutungen, dass  Mirabelle  das  Ziel  ihrer  Wünsche  erreicht. 

Die  Polizei  hat  bald  die  Flüchtigen  entdeckt;  sie 
benachrichtigt  den  König,  dass  sie  die  Prinzessin  und  die 
andere  Person  belauscht  und  gar  seltsame  Dinge  hinter 
den  Thüren  vernommen  habe.  Giglio  eilt  wieder  zu  den 
beiden;  er  findet  Alice  allein.  Er  macht  ihr  eine 
Liebeserklärung  und  es  gelingt  ihm  auch,  sofort  sich  Ge- 


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-     448    — 

liör  zu  verschaffen,  in  einer  Weise,  dass  Alice,    nunmehr 
Mirabelle  vergessend,  nur  zu  Giglio  Liebesgefiihle  empfindet. 

Sie  fürchtet,  am  andern  Tag  in  den  Palast  zurück- 
kehren zu  müssen  und  dann,  streng  überwacht,  den  neu 
gewonnenen  Liebhaber,  der  sie  bisher  unbekannte  Freuden 
lehrte,  zu  verlieren.  Giglio  veranlasst  sie,  sich  vorläufig 
in  das  Asyl  für  verwahrloste  Jugend  zu  begeben,  bis  er 
alles  zum  Besten  gewendet.  Er  bringt  es  fertig,  dass  am 
iindern  Tag  der  König  das  Asyl  besucht  Dieser  stimmt 
den  Ausführungen  des  Vorstehers  über  die  Erziehimgs- 
methode  des  Hauses  bei,  wonach  die  Jugend  frei  ihren 
Instinkten  leben  soll  und  ungehemmt  ihren  sinnlichen 
Freuden.  Plötzlich  erscheint  Alice  und  bittet  den  er- 
staunten Vater,  auch  ihr  die  eben  gerühmten,  von  ihm 
gebilligten  Freiheiten  zu  gewähren.  Nach  einigem  Wider- 
streben willigt  Pausol  ein.  Alice  wird  fortan  mit  Giglio 
vergnügte  Stunden  verleben,  während  Mirabelle  mit  einer 
neuen  Eroberung,  einem  Mädchen,  das  durch  das  Fern- 
Tohr  die  intimen  Szenen  im  Gasthof  zwischen  Alice  und 
Mirabelle  beobachtete  und  zu  ungeahnten  Liebesempfind- 
ungen aufgeweckt  wurde,  sich  tröstet. 

Das  Abenteuer  der  Prinzessin  Alice  nimmt  nur  den 
kleinsten  Teil  des  Buches  ein;  die  Reise  des  Königs  zur 
Entdeckung  seiner  Tochter,  sein  Verhältnis  zu  Frauen 
jseines  Harems,  seine  Gespräche  mit  Nixis  und  Giglio, 
des  letzteren  verschiedene  Liebschaften  ziehen  die  Haupt- 
aufmerksamkeit auf  sicL  Die  geschilderten  homosexuellen 
Beziehungen  erheben  nicht  den  Anspruch  auf  poetische 
Gestaltung  oder  psychologische  Tiefe  oder  charakterist- 
ische Realistik;  sie  sind  ebensowenig  ernst  aufgefasst 
und  aufzufassen  wie  das  ganze  Buch;  das  Ganze  ist  nur 
gleichsam  das  Szenarium,  um  dem  Dichter  Gelegenheit  zu 
geben,  seinen  Witz,  seinen  Humor,  seine  satyrische  Ader, 
seine  Paradoxien,  namentlich  über  geschlechtliche  Un- 
gebundenheit,  glänzen  zu  lassen.     Louys  will  griechische 


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Naivetät  mit  gallischem  Geist  vermengen.  Der  Esprit 
fehlt  nicht;  aber  die  absichtlich  gesuchte  Naivetät  lässt 
von  gesunder  Natürlichkeit  wenig  übrig  und  grenzt  oft 
fast  an  Schlüpfrigkeit.  Die  Erzählung  erinnert  an 
Voltaire's  »Contes,*  aber  mit  mehr  operettenhaften  Zügen 
und  Personen.  Von  dem  griechischen  Klassizismus  der 
„Chansons  de  Bilitis*  und  der  vollendeten,  poesievollen 
Schönheit  der  .Aphrodite"  ist  in  dem  Boman  wenig, 
sehr  wenig,  übrig  geblieben. 

10)  Meebold,  Alfred:  «Dr.  Erna  Redens'  Thor- 
heit  und  Erkenntnis."  Novelle  aus  demNovellen- 
band:  „Allerhand  Volk-.  (Verlag Vita, Berlin  1900.) 
Die  Aerztin  Dr.  Erna  Redens  hat  sich  in  einen 
männlichen  Kollegen  verliebt.  Der  Malerin  Lucie  Brenner, 
welche  sich  mit  besonderer  Zuvorkommenheit  und  teil- 
nahmsvoller Freundschaft  ihr  genähert,  gesteht  sie  ihre 
unglückliche  Leidenschaft.  Beide  Frauen  reisen  nach 
Italien,  Dr.  Redens  in  der  Hoffnung,  allmälig  Linderung 
ihrer  Seelenqualen  zu  finden.  Lucie  Brenner  ist  homo- 
sexuell und  liebt  ihrerseits  leidenschaftlich  Dr.  Redens, 
verbirgt  jedoch  ihr  Gefühl  der  anders  gearteten  Freundin. 
Aus  Anlass  eines  Streites  der  Brenner  mit  einer  Bekannten, 
einer  excentrischen  Malerin,  errät  Dr.  Redens  ihre  wahre 
Empfindung.  Bald  darauf  tötet  sich  Lucie,  nachdem  sie 
weiss,  dass  sie  der  Freundin  nicht  mehr  unentbehrlich 
ist,  deren  Leidenschaft  zu  dem  Arzt  die  frühere  Heftig- 
keit   verloren   hat. 

Von  den  85  Seiten  der  in  Tagebuch-Form  ge- 
schriebenen Novelle  sind  ungefähr  70  mit  der  Be- 
schreibung der  unglücklichen  Liebe  der  Redens'  und 
ihrer  bis  zu  Selbstmordgedanken  gesteigerten  seelischen 
Qualen  und  Leiden  angefüllt,  wobei  zahlreiche  psycho- 
logische, ästhetische  und  philosophierende  Betrachtungen 
eingestreut  sind.  Die  Novelle  erweckt  trotz  ihrer  geist- 
reichen Einzelheiten  den  Eindruck  des  nicht  völlig  Ab- 

Jahrbuch  UI.  29 

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gerundeten,  Bruchstückartigen.  Zwei  Stellen,  welche  von 
einem  feinen  Verständnis  und  einer  treffenden  Beurteil- 
ung der  Homosexualität  zeugen,  verdienen  ganz  wieder- 
gegeben zu  werden.  —  S.  42 :  »Ein  seltsames  Rätsel  der 
Natur,  eine  der  Fragen,  über  die  ich  nicht  in's  Klare 
kommen  kann.  Sie  scheint  das  logische  Gebäude  der 
Entwickelungsgeschichte  über  den  Haufen  zu  werfen. 
Jedenfalls  bildet  diese  Erscheinung  vorläufig  eine  krasse 
Inkonsequenz  gegenüber  der  sonstigen  Zweckmässigkeit 
der  Schöpfung  und  kann,  so  lange  nicht  ihre  mögliche 
lokale  Ursache  nachgewiesen  ist,  als  Gegenbeweis  der 
Darwin'schen  Zuchtwahl  ausgenützt  werden,  da  gerade 
unter  den  geistig  hochstehenden  Menseben  ein  grosser 
Prozentsatz  so  veranlagt  scheint  oder  wenigstens  die  Ver- 
anlagung streift.  Man  müsste  höchstens  die  Zuchtwahl 
als  bloss  auf  die  körperliche  Entwickelung  gerichtet  an- 
nehmen, was  jedoch,  beim  Menschen  wenigstens,  offenbar 
nicht  der  Fall  ist.  Die  Verschiedenheit  in  der  Aus- 
legung dieses  Punktes  mag  wohl  das  Geschrei  über  De- 
generation und  Decadententum  veranlasst  haben.  Mir 
scheint,  dies  sei  bloss  eine  Begriffsfrage,  d.  L  wir  werden 
eben  mit  der  Zeit  fortschreiten  und  unseren  Begriff  vom 
sogenannten  normalen  Menschen  ändern  müssen.  Wie 
wenig  das  alles  festliegt,  weiss  man  erst,  wenn  man 
Pathologie  studiert  und  gesehen  hat,  dass  es  oft  eine 
quälende  Gewissensfrage  werden  kann,  ob  man  einen 
Menschen  für  pathologisch  erklären  soll  oder  nicht. 
Schliesslich  entscheidet  auch  hier  die  Majorität  —  und 
die  irrt  häufig,  auch  wenn  sie  sich  aus  gebildeten  Leuten 
zusammensetzt  Die  bona  fides  kann  darum  doch  bestehen; 
unser  Wissen  ist  noch  lückenhaft,  wir  urteilen  meist  nach 
der  Theorie.  Wie  viele  Theorien  sind  durch  eine  neue 
Entdeckung  umgestossen,  wie  viele  dadurch  bestätigt 
worden?  »Das  wird  sich  ziemlich  die  Wage  halten.*  — 
S.  78—80:  »Der  Hungernde,  der  Frierende,  der  Kranke, 


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—    451     - 

der  unglücklich  Liebende  wird  verstanden  und  darum 
sucht  man  seinem  Elend  abzuhelfen.  Aber  das!  Es  ist 
nicht  anerkanntes  Elend.  Die  grosse  Mehrzahl  kennt 
und  versteht  es  nicht^  und  deshalb  macht  sie  einen  grossen 
Strich  darunter  und  erklärt  es  für  nicht  bestehend. 
Diese  Frage  existiert  nicht.  Man  rechnet  nicht  damit  als 
mit  einer  Erscheinung  der  Natur,  man  betrachtet  es,  wo  man 
auf  seine  Spuren  stösst,  als  Ausfluss  der  Verderbtheit  und 
überweist  es  dem  Strafrichter,  oder  als  noch  Schlimmeres 
und  schiebt  es  dann  dem  Irrenarzt  zu.  Ich  sehe  auch 
nicht,  wie  da  abzuhelfen  ist,  solange  sich  unsere  ganzen 
sozialen  Verhältnisse  auf  dem  sexuellen  Unterschied  von 
Mann  und  Frau  aufbauen.  Es  scheint  mir,  dass  nur  auf 
eines  hingearbeitet  werden  kann :  die  Verachtung  aus  der 
Welt  zu  schaffen,  die  solchen  Naturen  anhängt.  Wir 
Normale  können  das  nie  verstehen,  da  wir  uns  nicht 
hineindenken  können,  aber  das  ist  kein  Grund,  es  zu  ver- 
achten. Wenn  wir  Spargel  nicht  lieben,  können  wir  auch 
nicht  verstehen,  warum  ein  anderer  ihn  gern  isst  —  wir 
verachten  ihn  deshalb  doch  nicht.  Ein  Wagnerianer  sieht 
geringschätzig  auf  einen  Don izetti- Verehrer  herab:  er 
versteht  das  nicht,  aber  er  verachtet  darum  nicht  den 
ganzen  Menschen.  Dasselbe  könnte  nach  und  nach  in 
dieser  Frage  erreicht  werden,  denn  dass  die  vox  populi 
keine  vox  Dei  ist,  sondern  oft  irrt  und,  wo  sie  irrt,  ge- 
ändert werden  muss,  darüber  sind  sich  längst  alle  Ver- 
ständigen einig.  Die  Erreichung  dieses  Zieles  steht  frei- 
lich noch  in  weiter  Feme,  denn  solange  das  Strafgesetz- 
buch nicht  seinen  Standpunkt  ändert,  ist  überhaupt  nichts 
zu  machen.  Und  selbst  dann  mag  es  noch  Jahrhunderte 
dauern,  ehe  die  wissenschaftliche  und  die  Herzensbildung 
soweit  in  die  grosse  Masse  eingedrungen  sind,  um  sie 
mit  diesem  Vorurteil  brechen  zu  lassen.  Hindernd  steht 
dem  auch  entgegen,  dass  gewiss  viele  der  so  Veranlagten, 
da   sie  sich  vereinsamt  fühlen,    zu  Sonderlingen  werden; 

29* 


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-     452    — 

kleine  Aoomalieii^  wie  sie  fast  jeder  Mensch  heute  be- 
sitzt, können  sich  dann  in  recht  störender  Weise  ent- 
wickeln. Hindernd  wirkt  ferner,  dass  viele  im  Groll  gegen 
die  Natur  und  die  Ungerechtigkeit  der  Menschen  das 
Mass  verlieren  und  sich  jeder  moralischen  Verpflichtung 
für  enthoben  .  erachten.  Das  alles  erklärt  sich  sehr  natür- 
lich, denn  jede  Pflanze  verkümmert  und  verwächst^  wenn 
sie  sich  nicht  nach  ihrer  Eigenart  entwickeln  kann,  und 
das  alles  wäre  zu  bessern.  Man  darf  nur  nicht  immer 
wieder  den  fatalen  Trugschluss  machen:  diese  Sache  ruft 
solche  schädlichen  Konsequenzen  hervor,  folglich  ist  sie 
schlecht  und  muss  ausgerottet  werden.  Der  Antisemit 
urteilt  nicht  anders;  die  Inquisition,  die  Christenverfolg- 
ungen entsprangen  demselben  Grundsatz.  Und  überall 
stecken  die  Utilitätegründe  dahinter,  deren  falsche  Moral 
in  die  Augen  springt.  .  ." 

11)  Hirbeau:  „Octave".   Le  Journal  d'  une  femme  de 
chambre.    (Paris,  Charpentier  1900.) 

In  diesem  Tagebuch  des  Kammermädchens  Cele- 
stine  kommen  verschiedene  Stellen  über  gleichgeschlecht- 
lichen Verkehr  vor. 

1)  In  einer  Familie  zeigt  die  englische  Gouvernante, 
namentlich,  wenn  sie  betrunken  ist,  homosexuelle  Nei- 
gungen zu  Frauen. 

Eine  Scene  wird  mit  brutaler,  fast  widerlicher  Re- 
alität geschildert,  wo  die  trunkene  Gouvernante,  Liebes- 
worte stammelnd,  die  spät  nachts  heimkehrende  Herrin 
mit  aufdringlicher  Zärtlichkeit,  unzüchtigen  Betastungen 
und  Umarmungen  belästigt,  um  dann,  von  ihrer  Herrin 
zurückgestossen ,  ähnliche  Versuche  gegenüber  dem  sie 
wegführenden  Kammermädchen  zu  wagen  (S.  150 — 152). 

2)  Unter  den  Gästen,  welche  der  Romanschrifteteller 
Charrigaud  zu  seinem  Festessen  einlädt,  befinden  sich  auch 
„Henry  Kimberley,  symbolistischer  Musiker,  glühender 
Päderast,  und  sein  junger  Freund  Lucien  Sartory,  schön 


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—     453    — 

wie  eine  Frau,  geschmeidig  wie  ein  Handschuh  aus  schwed- 
ischem Leder,  schmal  und  blond  wie  eine  Zigarre*  (S.  256). 
Sartory  lässt  bei  Tisch  in  cynischer  Form  eine  Bemerk- 
ung fallen  über  sein  widernatürliches  Verhältnis  zu 
Frau  en;  worauf  ein  anderer  Gast,  den  beabsichtigten  Sinn 
dieser  Worte  erratend,  erwidert,  es  komme  darauf  an,  wo 
man  die  natürlichen  Gefühle  suche,  während  die  Gast- 
geberin dann  taktlos  in  den  Ruf  ausbricht :  ^Sartory,  es 
ist  also  wahr?    Auch  sie  sind  so!"  (S.  266—267.) 

3)  Celestine,  eine  Zeit  lang  stellenlos,  hält  sich  einige 
Wochen  in  einer  von  Schwestern  geleiteten  Anstalt  auf, 
wo  allabendlich  unter  stillschweigender  Duldung  der 
Schwestern  die  Mädchen  im  grossen  Schlafsaal  homo- 
sexuellen Vergnügungen  sich  hingeben.  Celestine  wird 
durch  ihre  Freundin  Gliche  zu  gleichgeschlechtlichen 
Praktiken  verleitet,  welche  sie  schon  längst  aus  Neugierde 
gern  kennen  lernen  wollte.  Während  Gliche  dauernd 
homosexuell  ist  (vor  Jahren  durch  eine  ihrer  Herrinnen 
verführt),  bildet  der  gleichgeschlechtliche  Verkehr  für 
die  mannstolle  Celestine  nur  eine  vorübergehende,  be- 
deutungslose, in  Ermangelung  des  Mannes  erwünschte 
angenehme  Episode.     (S.  344—346.) 

4)  Der  achtzehnjährige  bildhübsche  Liebhaber  der 
älteren  Köchin  Eugenie  wird  vom  Kutscher  als  Buhl- 
knabe bezeichnet,  über  den  der  in  der  Nachbarschaft 
wohnende  Baron  nähere  Auskunft  geben  könne.  (S.  453.) 

Die  Scenen  sind  in  dem  Geist  des  zwar  amüsant, 
aber  sehr  frei,  raffiniert- brutal,  absichtlich  in  der  Denkungs- 
art  einer  verdorbenen  Pariser  Kammerzofe  geschriebenen 
Romans  gehalten,  und  die  Homosexualität  wird  von  dem 
Standpunkt  einer  solchen  Zofe  als  Ausfluss  eines  wenn  auch 
nicht  schlimmen,  so  doch  anderen  geschlechtlichen  Aus- 
schweifungen gleichzustellenden  Lasters  ironisiert. 


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—    454    — 

12)  Niemann,    August:  ^Zwei  Frauen*.     Roman*) 
E.  Pierson's  Verlag.     Dresden  und  Leipzig  1901. 

Die  Frau  eines  Konservatorium-Direktors  knüpft 
mit  einer  unverheirateten  Klavierlehrerin,  die  der  Mann 
zuerst  gegen  den  Willen  seiner  Frau  für  seine  Unter- 
richtsanstalt annimmt,  später  ein  lesbisches  Verhältnis 
an.  Der  Direktor  wird  argwöhnisch;  es  erfolgen  einige 
Auftritte,  die  stark  an  Belot's :  ^Mademoiselle  Giraud  ma 
femme"  erinnern.  Die  Direktorin  geht  mit  ihrer  Geliebten 
durch,  wird  von  ihrem  Gatten  zurückgeholt,  verlässt  ihn 
aber  nochmals.  Es  kommt  zur  Scheidungsklage.  Ehe 
diese  beendet  wird,  stirbt  die  Frau,  nachdem  sie  sich  mit 
ihrem  Gatten  versöhnt,  an  einer  nicht  näher  bezeichneten 
Krankheit,  und  der  Roman  ist  damit  zu  Ende. 

Etwas  Weiteres  als  hergebrachtes  Lesefutter  für 
Leihbibliotheken  ist  in  dem  Erzeugnis  von  Niemann  nicht 
zu  suchen.  Gegen  Belot's  angeführtes  Urbild,  das  jedoch 
selbst  weit  vom  Kunstwerk  entfernt  ist,  sticht  das  Mach- 
werk in  einer  für  das  deutsche  Schrifttum  wenig  schmeichel- 
haften Weise  ab. 

13)  Pöladan  (Le  Sar):  „La  vertu  supr6me".  (Flam- 
marion  ^d.  Paris  1900.) 

In  Kapitel  25  ^Amitid  h^roique*  wird  die  innige 
Freundschaft  dreier  junger  Leute  geschildert,  welche  eine 
gemeinsame  Liebe  zur  Kunst  und  gleichartiges  geistiges 
Interesse  zu  festem  Bund  vereinigt.  Hieran  knüpft 
Verfasser  einige  allgemeine  Bemerkungen:  Die  intellek- 
tuelle Freundschaft,  die  leidenschaftliche  Gemeinschaft 
der  Geister  sei  der  Frau  unbekannt,  die  nur  Wollust 
oder  Sentimentalität  zu  entwickehi  vermöge. 

Der  'hehren  Freundschaft  stellt  P^ladan  die  starken, 
aber  in  Laster  ausartenden  Verhältnisse  der  Sträflinge 
und  Matrosen  entgegen.    Die  edle,  geistige  Freundschaft 

*)  Mitg:eteilt  von  Herrn  Dr.  Hb. 

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—    455    — 

fände  sich  namentlich  bei  jugendlichen  Geistern  zur 
Pubertätszeit;  das  Streben  nach  einem  gemeinsamen  Ideal 
verleihe  ihr  oft  einen  Charakter  seltener  Grösse. 

Es  sei  nicht  zu  leugnen,  dass  im  Altertum,  z.  B.  bei 
dem  Verhältnis  zwischen  Sokrates  und  Alkibiades,  sich 
ein  sinnliches  Element  in  die  geistige  Freundschaft  ge- 
mischt: Die  griechische  Päderastie  habe  Geist  und  Wollust 
vereinigen  wollen  —  eine  zu  missbilligende  Verirrung, 
die  bei  Manchen  wohl  ernst  gemeint  gewesen  sei. 

Drei  Kapitel  (27,  29,  31),  „Les  Gynandres"  über- 
schrieben, beschäftigen  sich  mit  der  lesbischen  Liebe. 
Die  Marquise  von  Faventine  hat  die  gleichgeschlechtliche 
Liebe  gekostet  und  die  lesbische  Welt  kennen  gelernt. 
Eine  Zeit  lang  von  Paris  entfernt  und  dem  Treiben  der 
Gynander  entfremdet,  kehrt  sie  zu  ihren  alten  Bekannten 
zurück.  Sie  findet  den  lesbischen  Kreis  aufgelöst  und  in 
Verfall.  Die  einen  haben  sich  verheiratet,  die  anderen 
zurückgezogen  etc.  Der  Lesbismus  ist  ausser  Mode  ge- 
raten. Die  Marquise  giebt  ein  grosses  Fest,  zu  welchem 
auch  zahlreiche  Lesbierinnen  erscheinen ;  sie  will  ein  junges, 
unverdorbenes  Mädchen  aus  der  Provinz,  das  sie  sich  aus- 
gewählt, verführen  und  der  Gesellschaft  offen  als  ihre 
Geliebte  vorstellen,  aber  einige  Herren,  Landsleute  des 
Mädchens,  durchschauen  ihre  Pläne  und  bringen  das  un- 
erfahrene Kind  fort.  Faventine  wird  durch  den  Aesthe- 
tiker  Baucens  wieder  zur  normalen  Liebe  bekehrt. 

Die  trockene  Inhaltsangabe  kann  keinen  Begriff 
des  Charakters  dieser  3  Kapitel  geben,  die  hauptsächlich 
in  geistreichelnden  Gesprächen  zwischen  der  Marquise  und 
ihren  Freundinnen  sowie  eigenen  philosophierenden  Be- 
trachtungen des  Verfassers  bestehen.  P^ladan  beabsichtigt 
kaum  eine  realistische  Darstellung  der  Gynander  und  nur 
zum  kleinsten  Teil  eine  Sittenschilderung,  er  will  vielmehr 
den  Lesbismus  als  Ausdruck  gewisser  Gedanken  in  sym- 
bolistischer, halb  ernster,  halb  satyrischer  Form  dem  Roman 


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—    450    — 

einfügen;  dabei  bieten  diese  Kapitel  die  gleiche  Unklar- 
heit, Verschwommenheit  und  teilweise  Lächerlichkeit,  wie 
ein  grosser  Teil  des  Buches  überhaupt.  Der  Roman  an  sich 
bildet  das  übliche  Gemengsei  der  heterogensten  Auslass- 
ungen, dem  man  auch  in  den  früheren  Werken  von  P^ladan, 
dieses  in  litterarischen  Kreisen  nicht  ernst  genommenen 
Poseurs  und  teilweise  possenhaften  Komödianten  begegnet. 
Einige   feine    und    treffende    Apercus   interessieren,  ver- 
schwinden aber  in  dem  ungeordneten  Conglomerat  seltsamer 
Philosophisterei.  Auch  in  diesem  Roman  spielt  eine  Haupt- 
rolle   der   Bund    der   Rosenkreuz-Ritter,    ein   mystisch- 
religiöser, philosophischer  Verein  mit   Anklängen  an  die 
Parsivallegende  und  Erinnerungen  an  mönchisches  Leben. 
Der  Hauptgedanke   des   Buches  lässt  sich  vielleicht 
erblicken  in  der  Verherrlichung  der  wahren,  edlen  Liebe, 
welche  auch  der  Sinnlichkeit  und  der  dauernden,  Körper 
und  Geist  umfassenden  Leidenschaft,    die  den  Menschen 
emporhebt    und  adelt,   volle  Berechtigung  gewährt.    Ln 
Gegensatz  zu  diesem  echten  Gefühl  steht  die  Ausartung 
der  Liebe  und  als  schlimmste  Form  der  Lesbismus  einer- 
seits und  andrerseits  die  von  dem  Meister  der  Rosenkreuz- 
Ritter    gepredigte    völlige   Ueberwindung   des   Fleisches 
und  höchste  Geistigkeit.     Die  Ritter  dieses  Ordens  selber 
haben     aber    die     Macht    der    wahren    Liebe    entweder 
empfunden    oder    sehnen    sich  nach    einem    solchen   ihr 
ganzes  Leben  erfüllenden  Gefühle,  das  sie  als  das  Ideal 
der  höchsten  Tugend  erkannt  haben. 
14)  Pernauhm,  Fritz,  Geron:  „Ercole  Tomei".  Roman. 
(Verlag  von  Max  Spohr,  Leipzig  1900.) 

ErcoleTomei,  der  uneheliche  Sohn  einer  italienischen 
Mutter,  und  Büchner,  der  Spross  einer  norddeutschen 
Bürgerfamilie,  haben  sich  auf  dem  Gymnasium  eng  an- 
einander angeschlossen.  Zwischen  dem  Primaner  Büchner 
und  dem  einige  Jahre  jüngeren  Obertertianer  Tomei 
kommt   es    bald   zu  innigem  Freundschafts-  und  Liebes- 


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—    457    — 

büudnis.  In  Büchner's  Zimmer,  durch  dessen  Fenster 
Tomei  nachts  an  einem  .herabgeworfenen  Seile  herauf- 
kletternd einstieg,  haben  sie  traute  Stunden  verbracht  und 
sich  in  leidenschaftlicher  Jugendliebe  gefunden.  Ihr 
Liebesbund  dauert  auf  der  Universität  fort,  kaum  zeit- 
weise durch  kleine  Liebeleien  Tomei's  mit  Weibern 
unterbrochen,  bis  Tomei  ein  Mädchen  aus  anständiger 
Familie,  in  das  er  sich  verhebt,  heiratet.  Das  junge  Ehe- 
paar und  auch  der  alleinstehende  reiche  Büchner  siedeln 
nach  Berlin  über.  Tomei  hat  sich  inzwischen  zum 
Künstler  (Musiker)  ausgebildet  Büchner  bleibt  Haus- 
freund, aber  die  bisherigen  Beziehungen  hören  auf;  er 
will  nicht  zu  einer  entwürdigenden  Teilung  sich  bequemen 
oder  den  Freund  zum  Bruch  der  beschworenen  ehelichen 
Treue  verleiten.  —  Zwei  Jahre  lang  verkehrt  Büchner 
fast  täglich  bei  den  jungen  Eheleuten,  kühle  Freundschaft 
erheuchelnd  und  seine  immer  noch  glühende  Leidenschaft 
hinter  gleichgültiger  Maske  verbergend.  —  Eines  Tages 
macht  Tomei  die  Bekanntschaft  des  berühmten  Sängers 
Bullmann.  Dieser  veranlasst  Tomei,  mit  ihm  nach  Genf 
zu  reisen,  um  dort  in  einem  gemeinsamen  Konzert  auf- 
zutreten. —  Tomei  hat  an  Blick  und  Benehmen  des 
Sängers  den  Homosexuellen  erkannt  und  seine  Absichten 
erraten.  Trotzdem  begleitet  er  ihn  nach  der  Schweiz, 
halb  aus  Neigung,  halb  aus  Schwäche  und  Eitelkeit.  — 
Büchner,  der  die  Wahrheit  vermutet,  reist  ihm  nach.  Er 
will  wohl  entsagen,  aber  nur,  wenn  kein  Anderer  die 
Gunst  des  Geliebten  erwirbt  Tomei,  der  die  Kälte 
Büchner's  als  das  Erlöschen  seiner  Liebe  gedeutet  hatte, 
fällt  ihm  in  die  Arme.  Bullmann  reist  ab.  Die  Liebe 
der  alten  Freunde  lodert  neu  auf,  völlig  versöhnt  kehren 
sie  nach  Berlin  zurück  und  nehmen  das  frühere  Liebes- 
verhältnis wieder  auf.  Einige  Wochen  vergehen.  Die 
Liebe  Büchner's  wird  immer  gebieterischer,  eifersüchtiger, 
ausschliesslicher.  —  Er  weiss  Frau  Tomei  zu  überreden, 


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—    458    — 

einige  Zeit  zum  Besuche  ihrer  Eltern  Berlin  zu  verlassen, 
angeblich,  damit  die  Liebe  ihres  Mannes,  dessen  manch- 
mal eigentümliches  Benehmen  den  Argwohn  der  jungen 
Frau  erweckt  hatte,  aus  der  zeitweisen  Trennung  neu  ge- 
kräftigt hervorgehe.  Die  Freunde  verbringen  einige  un- 
getrübte Tage  des  Zusammenseins.  —  Eines  Abends  lässt 
sich  jedoch  Tom  ei  zu  einem  vorübergehenden  Abenteuer 
mit  einem  jungen  Arbeiter  hinreissen.  Büchner  ist  ihm 
gefolgt  und  entdeckt  seine  Untreue.  Es  kommt  zu  leb- 
hafter Auseinandersetzung;  als  Büchner  sogar  thätlich 
wird,  zieht  der  heissblütige  Tomei  einen  Revolver. 
Büchner  entwindet  ihm  die  Waffe  und  schiesst  auf  den 
Freund,  der  getroffen  niedersinkt.  Tomei  weiss  durch  die 
erftmdene  Erzählung  eines  Raubanfalls  jeglichen  Verdacht 
von  dem  Freunde  abzulenken  und  verzeiht  ihm.  —  Unter 
der  Pflege  des  Geliebten  und  der  zurückgekehrten  Frau 
heilt  die  Wunde  schnell;  die  Kugel  ist  aber  nicht  zu  ent- 
fernen. —  Im  Charakter  Tomei's  hat  das  Ereignis  eine 
Wendung  hervorgebracht;  jetzt,  wo  er  empfunden,  bis  zu 
welchem  Grade  Büchner  ihn  geliebt,  gehört  er  ihm  und 
nur  ihm  voll  und  ganz  an.  Seiner  Frau  entgeht  die  Um- 
wandlung in  seinem  Wesen  nicht,  sie  fühlt,  dass  sie  ihm 
gleichgültig  geworden,  und  entschliesst  sich,  ihren  Mann 
zu  verlassen.  Vergeblich  will  sie  zuvor  von  Büchner  die 
wahre  Ursache  der  Aenderung  erfahren  und  nach  der 
Frau,  die  ihr,  wie  sie  glaubt,  die  Liebe  ihres  Mannes  ge- 
stohlen, forschen.  Büchner  weiss  jetzt,  dass  er  den  Freund 
für  immer  gewonnen.  Die  Abreise  der  Frau,  der  Re- 
volverschass,  die  innige  Freundschaft  beider  Männer  er- 
regen in  der  Gesellschaft  Verdacht,  die  wahre  Natur  des 
Verhältnisses  beider  Freunde  „sickert  durch*.  Beide 
verlassen  Berlin  und  reisen  nach  Italien,  aber  in  Rom 
befällt  Tomei  eine  beängstigende  Schwäche:  die  nicht  ent- 
fernte Kugel  ist  dem  Herzen  gefährlich  geworden.  Tomei 
.  stirbt  in  den  Armen  des  Geliebten, 


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—    459    — 

Der  Roman  ist  eine  wohlgelungene  homosexuelle 
Studie.  —  Styl  und  Sprache  hätte  ich  abgerundeter  ge- 
wünscht; die  Katastrophe  wäre  wohl  auch  besser  auf 
andere  Weise  herbeigeführt  worden,  als  durch  den  etwas 
groben  Effekt  des  Revolverschusses;  der  Entschluss  der 
Frau  Tom  ei,  ihren  Mann  zu  verlassen,  und  seine  sofortige 
Ausführung  scheint  mir  nicht  genügend  motiviert;  aber 
andererseits  dienen  diese  Mittel  nur  dazu,  die  Wandelung 
in  der  Seele  Tomei's  zu  erklären,  und  diese  Aenderung 
ist  mit  Verständnis  und  Geschick  entwickelt.  Die  Mängel 
des  Buches  werden  durch  seine  Vorzüge  weit  überwogen. 
Auf  den  ersten  Blick  wird  man  vielleicht  geneigt  sein 
gewisse  Widersprüche  und  manches  Unwahrscheinliche 
in  den  Gefühlen  und  Handlungen  Tomei's  zu  finden,  aber 
das  Gemisch  von  Schwäche,  Eitelkeit  und  Güte,  aus  dem 
sich  sein  Charakter  zusammensetzt,  sein  heissblütiges 
italienisches  Temperament  und  die  psychische  Herma- 
phrodisie,  die  den  Urgrund  seines  Wesens  bildet,  machen 
ihn  vollauf  begreiflich.  —  Obgleich  der  Verfasser  psycho- 
logische Einzelheiten  vermeidet,  lassen  die  Handlungen 
und  das  Benehmen  Tomei's  seine  zwitterhafte  Natur 
hervortreten.  Tomei  vermag  zu  gleicher  Zeit  zweierlei 
verschiedenartige  Liebe  in  sich  zu  vereinbaren,  die  Liebe 
zu  seiner  Frau  und  die  Liebe  zu  Büchner.  Solche  Fälle 
der  Neigung  zu  beiden  Geschlechtern  sind  nicht  selten 
und  bei  Tomei  um  so  erklärlicher,  als  er  aus  einem 
Lande  stammt,  wo  man  derartigen  doppelseitigen  Naturen 
häufiger  begegnet.  —  Büchner  ist  der  echte  Homosexuelle, 
aber  nicht  der  Durchschnittsurning,  sondern  der  virile, 
ernster  Liebe  fähige  Konträre,  der  nur  einmal  liebt  und 
dann  f ür's  Leben.  —  Bullmann  dagegen  vertritt  den 
Typus  des  mehr  weibischen,  gutmütigen,  flatterhaften,  in 
seinen  Neigungen  wechselnden,  liebenswürdig  oberfläch- 
lichen Homosexuellen.  —  Li  dem  Roman  sind  die  sinn- 
lichen Elemente   in  den  Hintergrund  gerückt  und  direkt 

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—    460    — 

geschlechtliche  Situationen  diskret  übergangen;  die  soziale 
und  strafrechtliche  Seite  wird  gleichfalls  nicht  behandelt;  das 
Interesse  des  Buches  besteht  vielmehr  in  der  trefflichen 
Seelenmalerei  beider  Helden,  in  der  Schilderung  ihrer 
Charaktere  und  Gefühle  und  deren  Reaktionen.  Diese 
psychologische  Analyse  wird  mit  derselben  Selbstver- 
ständlichkeit entwickelt,  an  die  man  bei  der  Darstellung 
ähnlicher  Beziehungen  zwischen  Mann  und  Weib  gewöhnt 
ist.  Meist  ist  in  den  bisherigen  belletristischen  Erzeug- 
nissen homosexuellen  Inhalts  die  Homosexualität  entweder 
verschleiert,  oder  in  überschwängliche  oder  auffällige 
Freundschaftsgefühle  gekleidet,  oder  aber  sie  wird  in 
Auflehnung  gegen  die  herrschenden  Vorurteile  als  ausser- 
gewöhnliches  Gefühl,  als  die  Empfindung,  die  erst  nach 
ihrer  Berechtigung  ringt,  wiedergegeben.  Ein  Vergleich 
z.  B.  mit  den  Werken  Eekhoud's  zeigt  deutlich  den  zu- 
letzt angedeuteten  Unterschied.  Eekhoud,  dessen  Romane 
und  Novellen  in  Gedanken,  Sprache  und  Darstellung  ein 
grösseres  künstlerisches  Gepräge  tragen,  mehr  poesievollen 
Schwung  und  eine  kraftvollere  künstlerische  Eigenart  auf- 
weisen, schildert  die  homosexuelle  Liebe  als  Kampfgefühl 
gegen  die  Norm,  als  verfehmte  Empfindung,  und  die 
Homosexuellen  als  Ausnahmsmenschen,  als  Parias  der 
Liebe.  Bei  Pemauhm  reihen  sich  seine  Homosexuellen 
in  die  Gesellschaft  ein,  gleichsam  als  normale  Glieder, 
die  leben,  fühlen  und  handeln  wie  die  Heterosexuellen; 
aus  ihrer  Liebe  entstehen  zwar  Konflikte,  aber  in  ähn- 
licher Weise  und  mit  ähnlichen  Konsequenzen  wie 
zwischen  Mann  und  Frau.  Die  Ruhe  und  Selbstverständ- 
lichkeit, mit  der  die  Beziehungen  der  beiden  Männer  vom 
Verfasser  verfolgt  und  dargelegt  werden,  bringt  den 
Eindruck  der  Natürlichkeit  des  homosexuellen  Empfindens 
und  der  Gleichstellung  mit  der  heterosexuellen  Liebe 
gerade  durch  die  schöne  Objektivität  des  Erzählens  hervor 
und  vermag,  ohne   diese  Absicht  irgendwie  zu  verraten, 


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überzeugend  und  aufklärend  zu  wirken.  —  „Ercole  Tomei" 
kann  nur  wärmstens  empfohlen  werden. 

15)  Schlaf,  Johannes:  „Das  dritte  Reich." 

S.  73  gelegentlich  einer  Schilderung  des  nächtlichen 
Londons  begegnet  man  folgender  Stelle:  —  ^Da  waren 
alte  Herren,  welche  mit  jungen  Soldaten,  die  für  ein  Pfund 
Sterling  schon  ein  übriges  zu  thun  bereit  waren,  schönen^ 
strammen,  rotblütigen  Jungens  Verhältnisse  anknüpften, 
und  weiss  der  Teufel,  was  noch  alles  für  Raritäten." 

16)  Schlaf,  Johannes:  „Der  Tod  des  Antichrist" 
in  der  „Gesellschaft"  von  Conrad  und  Jacobowski. 
Nummern  vom  15.  November  und  1.  Dezember  1900. 

In  einem  farbensatten  Gemälde  schildert  Schlaf 
die  letzten  Zeiten  der  Neronischen  Herrschaft.  Eine 
Seite,  welche  die  Beschreibung  des  Geliebten  des  Kaisers, 
des  Knaben  Sporns,  enthält,  gebe  ich  wieder.  Mit  ryth- 
mischer  Vollendung  der  Sprache  führt  uns  Schlaf  ein 
künstlerisch  schönes  Bild  fortgeschrittener  Effemination 
greifbar  vor  die  Augen:  —  „Rosenbekränzt,  in  weichen, 
amethystfarbenen  Gewändern,  im  Duft  von  Blumen,  kost- 
baren Salben  und  Räucherwerken  lag  der  Caesar  in 
seinem  goldenen  Hause,  von  der  Schaar  seiner  Günst- 
linge umgeben,  beim  Mahle.  —  Immer  würdeloser  ist 
diese  Umgebung  und  Mahlgenossenschaft  geworden.  Dem 
Caesar  zur  Seite  liegt  der  schöne,  verschnittene  Knabe 
Sporns.  Nero  hat  ihn  sich  nach  dem  Tode  der  Poppäa 
Sabina,  die  infolge  eines  Fusstrittes  verschieden,  den  er 
ihr,  der  Schwangeren,  vor  den  Leib  versetzt,  mit 
allem  Pomp  und  mit  allen  üblichen  Zeremonien  als 
seine  rechtmässige  Gemahlin  antrauen  und  ihn  mit 
allen  den  Kaiserinnen  eigenen  Ehrenzeichen  versehen 
lassen.  Gelegentlich  seiner  Reisen  in  Achaja  ist  ihm 
Sporns  unter  dem  Namen  Sabina  überall  in  einer  Sänfte 
vorangetragen  worden.  Den  schlanken  Leib  in  ein  licht- 
blaues, kölsches  Gewand  gehüllt,  liegt  Sporns  dem  Caesar 


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—    462    — 

jetzt  zur  Seite.  Duftendes  Haupthaar  fällt  ihm,  von 
einem  Kranz  gelber  Rosen  umschlungen,  mit  dem  lieb- 
lichen Hyacinthenschwung  kastanienbraunen  Gelockes  auf 
die  weiche  Haut  des  Halses,  eine  linde,  weisse  Haut, 
von  zartbläulichem  Geäder  durchhaucht.  Dies  Gelock 
umrahmt  ein  Antlitz  von  zart  mädchenhafter  Anmut. 
Zwei  tief  braune,  grosse  Augen  leuchten  darin,  zwei  über- 
grosse, verbuhlte  Augen.  Ihre  Glut  ist  noch  gehoben 
durch  die  Schminke,  die  seine  runden  Wangen  bedeckt 
und  nach  orientalischer  Sitte  Brauen  und  Wimpern 
schwärzt.  Aber  der  Ausdruck  einer  frühreifen,  gereizt- 
nervösen Intelligenz,  einer  Verfeinerung  der  Depravation 
ist  in  ihnen,  zuckt  um  die  Winkel  des  schönen  Mundes 
und  spielt  um  die  Flügel  der  Nase,  spricht  launisch  und 
böse,  mit  kurzen,  klugen  Gesten  aus  den  weiss-zarten 
Händen,  lebt  in  den  Biegungen  und  Bewegungen  des 
weichen,  schlanken  Körpers,  und  sie  bestimmt  den  Aus- 
druck der  hellen  Knabenstimme,  die  sich  in  frechen,  früh- 
reifen Hetären  Worten  ergeht;  eine  so  seltsame  Stimme, 
wie  die  eines  reifen,  in  allen  Buhlkünsten  erfahrenen, 
gründlich  verdorbenen  Weibes,  wechselnd  in  den  Ueber- 
gängen  unstäter  Launen  und  Stimmungen,  denen  keinerlei 
Befriedigung  versagt  wird,  vor  denen  die  angesehensten 
Männer  des  Imperiums  zittern." 
17)  Seydlitz,  R.  von:  „Pierre' s  Ehe".  Psychologisches 

Problem.     (München,    August  Schupp;    wahrschein- 

Uch  1900). 

Pierre,  der  schönste,  kräftigste  Bauembursche  des 
Vivarais  in  der  Provence,  hat  sich  in  die  wilde  Jeanne, 
das  seltsamste  Mädchen  des  Dorfes  verliebt,  in  , diesen 
Bub  von  einem  Mädel,  dieses  tolle,  muskelprotzige  Frauen- 
zimmer, mit  den  harten,  braunen,  gewaltigen  Gliedern, 
mit  den  trotzigen,  festen  Zügen  im  herben,  magern  Ge- 
sicht, dies  kaum  je  Weib  gewesene,  unnahbare,  stolze  Ding 
mit  den  höhnenden  Lippen,   dem  hochgetragenen,  männ- 


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—    463    — 

liehen  Kopf  und  den  stahlhart  blickenden  grauen  Augen*. 
Sie  hatte  alle  Liebhaber  ausgeschlagen;  trotz  ihres  in- 
stinktiven Hasses  gegen  jede  Beeinträchtigung  ihrer  Frei- 
heit hat  sie  den  herrlichen  Pierre  angenommen.  In  ihm, 
der  alle  die  Aufgaben,  die  sie  ihm  gestellt,  durch  beispiel- 
losen Mut  und  unerschrockene  Kühnheit  gelöst,  hat  sie 
ihren  Meister  und  Geliebten  gefunden.  Am  Hochzeite- 
abend aber,  als  auf  dem  Heimweg  Pierre  sie  zärtlich 
umschlingen  will,  empört  sich  ihr  männliches  Wesen  ge- 
gen den  Gedanken,  einem  Manne  fürs  Leben  anzugehören. 
Sie  entreisst  sich  ihrem  Gatten  und  springt  davon,  die 
gähnende  Schlucht  hinunter.  Sie  stürzt  ab.  Ohnmächtig, 
aber  im  übrigen  unversehrt,  wird  sie  nach  Hause  getragen. 
Bei  der  Untersuchung,  die  der  herbeigerufene  Arzt  vor- 
nimmt, entdeckt  er  mit  Erstaunen,  dass  sie  kein  Weib, 
sondern  ein  Mann  ist.  —  Ln  zweiten  Teil  der  Novelle 
sind  Pierre  und  die  nunmehr  zum  Jean  gewordene  Jeanne 
in  eine  andere  Gegend  gezogen,  wo  sie  als  Zimmerleute 
arbeiten.  Sie  haben  ihre  Heimat  verlassen,  um  dem 
Arzte  zu  entgehen,  der  Jean  den  Gelehrten  in  Paris  als 
seltenen  Fall  vorstellen  wollte.  Niemand  kennt  ihre  Ver- 
gangenheit. Seit  zwei  Jahren  leben  sie  als  gute  Kame- 
raden zusammen,  aber  das  eigentümliche  Verhältnis  wird 
ihnen  unerträglich.  Pierre  hat  die  Liebe  zu  Jeanne  nicht 
vergessen  und  seine  einstigen  Gefühle  für  das  Mädchen 
übertragen  sich  unwillkürlich  auf  seinen  nunmehrigen 
Freund.  Jean  seinerseits  —  jetzt  anstatt  des  mannhaften 
Weibes  eher  ein  zarter  Mann  —  liebt  Pierre  leidenschaft- 
lich. Eine  Nacht  sind  sie  im  Begriffe,  sich  liebend  in  die 
Arme  zu  fallen,  aber  das  Entsetzen  vor  einer  ihn  unbe- 
greiflich dünkenden  Leidenschaft  treibt  Jean  aus  dem 
Zimmer  fort.  —  Eine  wohlbestallte  sinnliche  Nachbarin, 
die  Wäscherin  Louma,  hat  es  auf  die  beiden  ru- 
higen, verständigen  Burschen  abgesehen,  einen  von  beiden 
will  sie   zum  Manne   haben.    —   An   einem  Festtag,  wo 


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—    464    — 

Pierre  und  Jean  etwas  angetrunken  sind ,  lässt  sich  Pierre 
durch  die  Reize  der  Wittwe  verlocken  und  verspricht 
ihr  in  der  Liebesumarmung  die  Heirat.  Kurze  Zeit 
darauf  überrascht  er  imbemerkt  seinen  Freund,  den 
Jean,  in  vertrauter  Stellung  mit  einem  Dienstmädchen. 
Aber  Jean's  Leidenschaft  für  Pierre  ist  trotzdem  noch 
unvermindert.  Bei  der  Nachricht  von  Pierre's  Verlobung 
ergreift  ihn  tiefer  Schmerz  und  Eifersucht.  Als  er  den 
Namen  der  Braut  erfährt,  gesteht  er  dem  Freund,  dass 
auch  er  die  Gunst  von  Frau  Louma  genossen  und  dass 
sie  ihn  in  den  weiblichen  Verkehr  eingeweiht.  Von  Wut 
über  die  Verspottung  seiner  Braut  ergriffen,  stürzt  sich 
Pierre- auf  den  Freund,  sie  ringen  mit  einander.  Pierre 
stösst  mit  einem  steinernen  Krug  zu.  Als  er  Jean  blut- 
überströmt niedersinken  sieht,  entflieht  er,  nimmt  Dienst 
in  der  Kriegsmarine  und  stirbt  nach  Jahr  und  Tag  in 
Saigon.  Jean  ist  von  der  Wunde  genesen  und  lebt  un- 
verheiratet als  Zimmermann  im  Dorfe  weiter. 

Die  frisch  und  lebhaft  geschriebene  Novelle  ist 
namentlich  psychologisch  recht  interessant,  obgleich  der 
Verfasser  die  seelischen  Vorgänge  mehr  andeutet  als 
ausführt  und  ohne  tieferes  Eindringen  nur  an  der  Ober- 
fläche haften  bleibt.  Die  zum  Teil  recht  hässlichen,  dem 
Text  beigegebenen  Zeichnungen  würde  man  gern  entbehren. 
Li  einem  Nachwort  giebt  Verfasser  selber  eine  Erläute- 
rung seiner  Novelle.  Danach  hat  sich  der  Fall  wirklich 
in  den  Vierziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  zugetragen. 
Seydlitz  bemerkt,  er  habe  die  wissenschaftlichen,  trockenen 
Notizen  als  erstes  Gerippe  der  Darstellung  stehen  lassen 
und  der  physiologischen  Seite  der  Frage  ihre  Schärfe 
dadurch  benommen,  dass  er  die  psychologische  heller  als 
jene  beleuchtet  habe.  —  Jean  sei  Pseudohermaphroditus 
completus.  Unmengen  ähnlicher  Fälle  mögen  der  Wissen- 
schaft entgangen  sein,  wie  Kunstwerke  des  Altertums, 
Gesetze  und  Sagen  vermuten  liessen.     Zugleich  verweist 


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—    465    — 

Verfasser  des  Näheren  noch  auf  die  medizinische  Litteratnr 

(namentlich  VirchoWs  Archiv.) 

18)  Tolstoi,  Leo,  Graf:  ^Auferstehung*. 

Im  II.  Teil,  Kapitel  XXI  sprechen  die  Richter  des 
Kassationshofes  über  den  Fall  des  auf  der  Begehung  homo- 
sexueller Handlungen  ertappten  Departementsdirektors. 
Während  der  eine  Richter  seinen  Abscheu  kund  giebt, 
weist  ein  anderer  (Skoworodnikow)  auf  das  Projekt  eines 
deutschen  Schriftstellers  hin,  der  geradezu  vorschlage,  so 
etwas  nicht  mehr  für  ein  Verbrechen  zu  halten,  so  dass 
die  Ehe  zwischen  Männern  möglich  wäre,  und  auf  die 
Bemerkung  eines  dritten  Richters,  dass  der  Direktor  zum 
Gouverneur  irgend  einer  sibirischen  Stadt  ernannt  werden 
soll,  fügt  Skoworodnikow  ironisch  hinzu:  „Und  es  ist 
ausgezeichnet.  Ein  Bischof  mit  dem  Kruzifix  wird  ihn 
empfangen.  Man  müsste  nur  auch  einen  eben  solchen 
Bischof  haben.  Ich  würde  ihnen  einen  solchen  empfehlen.* 
—  Im  Kapitel  XXIV  machen  sich  die  kokette  Mariette 
und  die  Gräfin  Iwanowna  lustig  über  den  Fall  des  Direktors 
und  im  III.  Teile  von  Kapitel  XXIV  trifft  Nechljudow 
in  Sibirien  am  Tische  eines  Generals  und  Gouverneurs 
mit  jenem  Direktor  zusammen,  der  inzwischen  thatsäch- 
lieh  zum  Gouverneur  einer  entfernten  sibirischen  Stadt 
ernannt  worden  ist.  Er  schildert  ihn  „als  einen  rund- 
lichen Menschen  mit  gelichtetem,  frisierten  Haar,  mit 
«arten,  blauen  Augen,  sehr  breit  nach  unten,  mit  gepflegten, 
weissen,  von  Ringen  bedeckten  Händen  und  mit  ange- 
nehmem Lächeln*,  dadurch  ausgezeichnet,  «dass  er  in- 
mitten kauf  lieber  Beamter  allein  sich  nicht  bestechen  liess". 


Anmerkung  1  von  Numa  Prätorlus. 
Im  Monat  Mai  1901  erscheint  im  Verlag  von  Brückner 
und  Niemann   in  Leipzig  ein   homosexueller  Roman    des 
bekannten  Schriftstellers  Wilhelm   Walloth  unter  dem 

Jahrbuch  DI.  30 


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—    466    — 

Titel  »Ejjü  Sonderling".  Der  Roman  spielt  zur  Re- 
naissancezeit und  schildert  einen  fürstlichen  Homosexuellen 
und  eine^  abgesehen  von  der  geschlechtlichen  Seite,  charak- 
teristische umische  Eigenart  Soweit  ich  dies  nach  den 
mir  zu  Gesicht  gekommenen  Korrekturbogen  beurteilen 
kann,  wird  sich  der  Roman  namentlich  auch  durch  die 
spannende  Gestaltung  der  Erzählung  und  durch  drama-' 
tische  Lebendigkeit  auszeichnen.  Ich  möchte  daher  nicht 
versäumen,  schon  jetzt  auf  dieses  belletristische  Erzeug- 
nis besonders  aufmerksam  zu  machen. 

Anmerkung  2  von  Numa  Prätorius. 

Ich  habe  absichtlich,  um  den  Vorwurf  der  Verein^- 
genommenheitund  des  tendenziösen  Bestrebens  möglichster 
Heranziehung  homosexueller  Gefühle  zu  vermeiden,  ver- 
schiedene belletristische  Schriften,  bei  welchen  gewisse 
Stellen  zwar  den  Gedanken  an  eine  homosexuelle  Deutung 
nahe  legen,  aber  keinen  sichern  Schluss  auf  eine  solche 
zulassen,  nicht  in  die  Bibliographie  aufgenommen. 

So  hat  man  mir  die  Vermutung  ausgesprochen,  dass 
Otto  Ernst's  ^Jugend  von  Heute",  das  in  den  letzten 
Jahren  mit  grossem  Erfolg  in  vielen  Städten  Deutschlands 
aufgeführte  Schauspiel,'*')  einen  Homosexuellen  schildere. 
Der  Held  weist  zwar  einige  verdächtige  Züge  auf,  aber 
ich  glaube  nicht,  dass  Verfasser  in  ihm  einen  Homo- 
sexuellen darstellen  wollte.  Das  Verhältnis  zwischen  den 
zwei  Männern  ist  nur  als  ein  freundschaftliches,  nicht  als 
ein  homosexuelles  aufzufassen. 

Zweifelhafter  erscheint  die  Natur  des  Kammer- 
sängers in  dem  gleichlautenden  geistreichen,  reizenden 
Einakter  von  Wedekind  (München,  Albert  Langen,  Ver- 


*)  Der  litterarische  Wert  des  Stückes  steht  nicht  im  Verhält- 
nis za  dem  £ifolg;  Verfasser  rechnet  auf  die  gröberen  Jnstiiikte  der 
liasse  und  operiert  teUweise  mit  der  verbrauchtesten  Theatermache. 


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~    467    — 

lag  für  Litteratur  und  Kunst,  1900).  Der  Sänger  wird 
kurz  vor  seiner  Abreise  von  verschiedenen  Personen  be- 
lästigt, darunter  von  einem  jungen,  verliebten  Mädchen^ 
sodann  von  einer  verheirateten  Frau,  die  sich  ihm  in 
die  Arme  geworfen  hatte  und  entführt  sein  will.  Beide 
weist  er  ab.  Die  Szene  mit  der  Frau  enthält  einige 
Stellen,  die  bedenklich  an  homosexuelles  Empfinden  er- 
innern. Aber  die  Handlungsweise  des  Sängers  wird  auch 
ohne  Zuhilfenahme  der  Homosexualität  begreiflich:  Das 
kontraktmässige  Verbot,  mit  einer  Frau  zu  reisen,  die 
Eitelkeit  des  verwöhnten,  an  ähnliche  Gefühlsausbrüche 
gewohnten  Sängers,  sein  Mangel  an  Sentimentalität  und 
Leidenschaft,  die  Furcht  vor  unliebsamen  Störungen  in 
seiner  Künstlerlaufbahn  etc.  erklären  vollauf  sein  Ver- 
halten. Ein  Satz  allerdings  giebt  besonders  zu  denken, 
nämlich  der  Ausspruch  G^rard's:  ^Keiner  von  uns  liebt 
diesen  oder  jenen,  ausser  dem,  der  nur  einen  kennt. 
Jeder  liebt  seine  Art,  die  er  überall  wieder  findet,  wenn 
er  einmal  Bescheid  weiss.*  —  Es  scheint  fast,  als  habe 
der  Verfasser  absichtlich  die  Vermutung  auf  homosexuelle 
Natur  seines  „Helden*  erwecken  und,  in  seiner  geistreichen 
Weise  über  die  von  ihm  dargestellte  Person  und  über 
den  Leser  sich  gleichsam  lustig  machend,  zu  erkennen 
geben  wollen,  wofür  er  den  Sänger  hält,  dabei  aber  den 
ganzen  Dialog  so  zweideutig  eingerichtet,  dass  ebensogut 
eine  heterosexuelle  Deutung  möglich  ist. 

Auch  in  Max Kaufmann's  «Leiden  des  modernen 
Werter",  Roman*)  (Zürich,  Caesar  Schmidt,  1901),  sollen 
sich  Anklänge  an  Homosexualität  finden,  obgleich  an 
keiner  Stelle  das  Problem  offen  und  unzweideutig  be- 
handelt wird.  „Der  Held,  ein  willensschwacher,  nervöser 
Mensch,  schwankt  zwischen  zwei  Frauen.  Aber  nebenbei 
zeigt  sein  Charakter  reichlich  homosexuelle  Züge  und  in 


*)  Mitgeteilt  von  Peter  Hamecher. 

30* 


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—    468     — 

dem  Verkehr  mit  seinem  Schüler,  dem  kranken,  blassen 
und  zärtlichen  Kommerzienratssöhnchen,  scheint  es  oft, 
als  ob  das  unter  der  Oberfläche  Glühende  plötzlich  her- 
vorbrechen wolle." 


Kapitel  III :  Besprechungen  des  Jahrbuchs. 

1)  Anonym:  Beilage  zur  , Allgemeinen  Zeitung'^ 
(vom  27.  Dezember  1900). 
Kezensent  referiere  mit  einigem  Widerstreben  über 
das  Jahrbuch,  weil  der  Hinweis  auf  dasselbe  einer  Ver- 
breitung in  Kreisen,  wohin  das  Buch  nicht  gehöre,  för- 
derlich sein  könne.  Nachdem  jedoch  heute  Lexica  und 
sonstige  Schriften  jegliche  Orientierung  leicht  erlaubten, 
brauche  das  Werk  wegen  seines  Inhalts  nicht  übergangen 
£u  werden.  Als  Zweck  des  Jahrbuchs  wird  dann  die 
Abschaffung  des  §  175  betont  und  das  Streben  des 
Komitees  hervorgehoben.  Man  wisse,  dass  viele  bedeu- 
tende Namen  im  Verdacht  der  Homosexualität  gestanden. 
Fraglos  neige  die  heutige  Wissenschaft  dahin,  den  Trieb 
als  krankhaften  zu  bezeichnen,  denn  das  Begehren  und 
Fühlen  stehe  in  einem  direkten  Gegensatz  zur  körper- 
lichen Beschaffenheit.  Das  dürfte  ein  Prüfstein  sein,  ob 
etwais  normal  oder  abnorm  zu  nennen  sei.  Ob  der  Trieb 
angeboren  oder  erworben,  stehe  noch  zur  Diskussion, 
man  neige  vom  wissenschaftlichen  Standpunkt  mehr  zur 
ersteren  Auffassung.  Sobald  man  diese  Ansicht  gewonnen, 
leuchte  die  Forderung  nach  Individualisierung  und  Toleranz 
in  der  Rechtspflege  ein.  Unter  den  Aufsätzen  wertet 
Rezensent  den  von  Richter  Z.  am  höchsten.  Er  bemerkt 
sodann  noch  ausdrücklich,  dass  das  Komitee  von  der 
lautersten  Gesinnung  geleitet  sei.  Wie  weit  seinen 
Wünschen  im  modernen  Staatsleben  willfahrt  werden 
könne,  Hesse  sich  noch  nicht  absehen. 


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—    469    — 

Wie   in   anderen  Rezensionen  wird  auch  hier  Fonn> 
Ausstattung  und  Druck  lobend  hervorgehoben. 
2)  Anonym:  „Deutsche  Medizinische  Presse*  (Re-- 

daktion  Dr.  Birnbaum),  Nr.  14  vom  24.  Juli  1900. 
Das  Jahrbuch  bringe  reichhaltiges  Material  für 
die  Entscheidung  der  Frage,  ob  die  Ausübung  des  homo- 
sexuellen Triebes  als  Verbrechen  anzusehen  sei  oder 
nicht.  Wie  es  Jahrhunderte  lang  gedauert  habe,  ehe  man 
davon  abgelassen.  Geisteskranke  als  Verbrecher  zu  be- 
handeln, so  werde  bis  zur  Streichung  des  §  175  noch 
längere  Zeit  verfliessen.  Heute  werde  kein  Unterschied 
gemacht  bei  Verletzung  dieses  Paragraphen,  ob  es  sich 
um  einen  Wüstling  handle  oder  um  einen  von  Natur  mit 
perversem  Gefühl  ausgestatteten  Mann.  In  jedem  ge- 
richtlichen Falle  sollten  Sachverständige  darüber  ver- 
nommen werden,  ob  Homosexualität  vorliege  oder  nicht. 
Der  Inhalt  des  Aufsatzes  von  Moll  wird  dann  kurz  an- 
gegeben und  werden  die  übrigen  Arbeiten  näher  erwähnt. 
Hierbei  wird  das  Kapitel  von  Jäger  für  wenig  wertvoll 
gehalten.  Es  fände  sich  hier,  wie  in  einzelnen  der  an- 
deren Aufsätze  die  Neigung,  recht  viele  grosse  Männer 
zu  den  Homosexuellen  zu  rechnen,  z.  B.  auch  Goethe  und 
Humboldt.  Jeder  grosse  Mann,  der  Junggeselle  geblieben, 
werde  zum  mindesten  als  homosexuell  verdächtigt.  Das 
ginge  entschieden  zu  weit  Goethe  sei  so  normal-sexuell 
als  möglich.  Ganz  verkehrt  sei  es,  das  Gedicht  „An  den 
Mond*  zur  Beglaubigung  heranzuziehen  wegen  seiner 
beiden  letzten  Verse.  Rezensent  erörtert  dann  die  Ver- 
anlassung dieses  an  die  innig  geliebte  Frau  von  Stein  ge- 
richteten Gedichtes,  die  Stimmung  des  von  der  Geliebten 
entfernten,  melancholisch  gestimmten  Goethe  und  betont, 
dass  Frau  von  Stein  selber  später  das  Gedicht  zu  einer 
Nachdichtung  benutzt  habe,  was  sie  nicht  geMian  hätte, 
wenn  es  an  einen  Mann  gerichtet  gewesen  wäre.  Bei  den 
Antworten  der  Priester  wird  der  freimütige  Ton  einzelner 


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—    470    — 

Geistlichen  über  den  Glauben  an  die  Bibel  als  bemerkens- 
wert bezeichnet,  die  sich  nicht  verpflichtet  fühlten^  die 
naturwissenschaftlichen,  teilweise  sogar  die  sittlichen  An- 
schauungen der  Bibel  unbedingt  anzuerkennen. 

Mit  dem  Wunsche,  auch  die  Aerzte  möchten  sich  in 
den  Inhalt  des  Jahrbuchs  vertiefen,  schliesst  die  Kritik. 

Dass  das  Gedicht  „An  den  Mond*  an  eine  Frau,  eine 
Geliebte  gerichtet  war  und  dass  Goethe's  Heterosexualität 
über  alle  Zweifel  erhaben  ist,  nehme  auch  ich  an,  jedoch 
möchte  ich  darauf  hinweisen,  dass  bei  Goethe  in  seiner 
früheren  Jugend,  im  Zeitalter  der  Pubertät,  gewisse  Züge 
homosexuellen  Empfindens  gefunden  werden  dürften. 
Auch  später  stand  er  derartigen  Gefühlen  nicht  feind- 
selig gegenüber  und  hat  an  manchen  Stellen  seiner  Werke 
-ein  gewisses  Verständnis  für  die  Homosexualität  gezeigt 
—  Vor  der  Tendenz,  grosse  Männer  allzu  leicht  für  homo- 
sexuell zu  erklären,  möchte  auch  ich  warnen;  mit  Becht 
legt  man  die  bisherige  Prüderie  bei  Seite  und  erforscht 
die  Homosexualität  in  Geschichte  und  Litteratur,  aber 
voreilige  Schlüsse  sind  zu  vermeiden,  nur  ein  genau  aus 
dem  Leben  und  den  Werken  der  Geisteshelden  geschöpf- 
tes, auf  triftige  Gründe  gestütztes  Studium  ist  fioichtbar 
und  der  Erforschung  der  Homosexualität  in  Kultur-  und 
Litteratiu'geschichte  nutzbringend. 
3)  Anonym:  In  der  ,Zeit*,  herausgegeben  von  Singer, 

Burkhard  und  Kanner  (Wien), vom  30.  Juni  1900. 
Unter  den  Bücherbesprechungen  wird  auf  das 
Jahrbuch  II  aufmerksam  gemacht  Eine  eigentliche  Be- 
sprechung des  Inhalts  fehlt  Es  wird  ausgeführt,  es 
gäbe  eine  geheime  Welt,  eine  den  meisten  Menschen  un- 
bekannte Art  von  Freimaurerei  unter  den  Homo- 
sexuellen. Der  Arzt,  Pädagoge,  Soziologe,  Strafrichter 
habe  die  Pflicht,  diese  Welt  zu  erforschen;  dagegen  sei 
es  zweifelhaft;,  ob  der  Schleier  des  Geheimnisses  auch 
für  das  grosse  Publikum  zu  lüften  sei,  deshalb  könne  auf 


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—    471    — 

eine  Besprechung  des  Inhalts  des  Jahrbuchs  nicht  näher 
eingegangen  werden,  auch  nicht  auf  die  Frage,  ob  die 
Aufhebung  des  §  175  sittlich  zulässig  und  sozial  zweck- 
mässig wäre.  Zur  Zeit  hätten  die  Bestrebungen  zur 
Beseitigung  der  Strafe  wenig  Aussicht  auf  Erfolg.  Ab- 
gesehen von  der  bei  der  lex  Heinze  zu  Tage  getretenen 
scharfen  Richtung  gegen  Sexualdelikte,  fürchte  die  Re- 
gierung grössere  Verbreitung  dieser  Art  »Unzucht*  und 
Beeinträchtigung  der  Volks  Vermehrung  als  Folge  der  Auf- 
hebung der  Strafdrohung.  Obgleich  von  tausend  Fällen 
nur  einer  höchstens  zur  Beurteilung  gelange,  wirke  der 
Paragraph  als  Abschreckungsmittel  und  verhindere  offene 
Propaganda.  Die  Fachmänner  seien  jedoch  verpflichtet, 
sich  über  den  heiklen  Gegenstand  zu  unterrichten  und 
dafür  biete  das  Jahrbuch  wirkliches,  gutes  und  zu- 
verlässiges Material  dar. 
4)  Anonym:  In  der  „Strassburger  Post"  vom  9.  Juli  1900 

unter  der  Rubrik:  Wissenschaft,  Kunst  und  Litteratur. 
Das  Jahrbuch  wird  als  bedeutsames  Werk  be- 
zeichnet, die  einzelnen  Aufsätze  unter  knapper  Charakter- 
istik ihres  Inhalts  werden  angeführt,  die  umfassende  Biblio- 
graphie des  Jahrbuches  wird  als  Zeichen  angesehen,  welch 
ausserordentliches  Interesse  dieser  nicht  nur  forensisch, 
sondern  allgemein-menschlich  wichtigen  Frage  entgegen- 
gebracht werde. 
ö)  Anonym:  , Königlich  privilegierte  Berlinische  Zeitung" 

(Vossische  Zeitung)  vom  27.  September  1900. 
Unter  der  Zeitschriften-  und  Bücherschau  wird 
das  Jahrbuch  und  sein  Ziel,  Aufhebung  des  §  175,  er- 
wähnt und  beigefügt:  , Derjenige,  der  sich  wissenschaft- 
lich mit  den  einschlägigen  Fragen  beschäftigt,  der  Jurist, 
Arzt,  Psychologe  wird  in  dem  etwas  bunt  ausgefallenen 
Inhalt  des  Buches  Mancherlei  finden,  was  für  seine 
Studien  von  Interesse  ist.* 


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—    472    -- 

6)  Benzmann,  Hans:  „AUgemeioe  Deutsche  Universitäts^ 

Zeitung*.    (Berlin,  Nr.   23    vom  1.  Dezember  1900). 
Die    Hauptsätze    des    trefflichen    Vorworts    von 
Dr.  Hirschfeld  zum  I.  Jahrbuch  werden  wörtlich  angeführt 
und  die  meisten  Aufsätze  genannt. 

7)  Conrad,   M.   G.:    In   der   von   ihm   herausgegebenen 

Zeitschrift  „Die  Gesellschaft«,  1.  Januarheft  1901. 
Die  Autoren  und  einige  der  Aufsätze  des  11.  Jahr- 
buchs werden  hervorgehoben.  Conrad  bemerkt  dann 
wörtlich:  „Sämtliche  Beiträge  sind  wertvoll  und  gereichen 
dem  wissenschaftlich-humanitären  Komitee  zur  Ehre.  Das 
Jahrbuch  kann  jedem  wärmstens  empfohlen  werden,  der 
sich  für  die  fortschreitende  Menschenkenntnis  und  den 
menschenwürdigen  Ausbau  des  Strafrechts  inter- 
essiert. 

8)  Fuld,  Rechtsanwalt  (Mainz):  In  der  Zeitschrift    »Das 

Recht",  Rundschau  für  den  deutschen  Juristenstand, 

herausgegeben  von  Dr.  Soergel,  Freilassing,    Nr.  15. 

10.  August  1900. 
Durch  die  in  Folge  der  Petition  —  unterzeichnet 
von  Männern,  über  deren  sittliches  Streben  ein  Zweifel 
nicht  obwalten  könne  —  hervorgerufene  lebhafte  Er- 
örterung der  Homosexualität  sei  das  Problem  wesentlich 
vertieft  und  gefördert  worden. 

Das  Jahrbuch  sei  keine  angenehme  Lektüre,  die 
Wissenschaft  müsse  sich  aber  auch  mit  dem  Hässlichen 
und  Unschönen  befassen.  Gegenüber  andern  laut  ge- 
wordenen Stimmen  sieht  Verfasser  die  Herausgabe  des 
Jahrbuchs  als  nützlich  an  für  die  Aufklärung  der  öffent- 
lichen Meinung;  die  gerichtsärztlichen,  juristischen  und 
naturwissenschaftlichen  Aufsätze  seien  im  Geiste  strengster 
Objektivität  abgefasst  und  gestatteten  keine  Bemängelung 
unter  dem  sittlichen  Gesichtspunkt.  Dagegen  solle  man 
nicht  in  den  Werken  der  Elite  der  Menschheit  nach 
homosexuellen    Gefühlen    suchen.      Die    Homosexualität 


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—    473    — 

vieler  Dichter  und  Künstler  sei  ja  nicht  zu  bestreiten^, 
aber  deshalb  dürfe  man  nicht  jede  nicht  leicht  verständ- 
liche Stelle  durch  homosexuelles  Empfinden  erklären^ 
Die  Homosexualität  grosser  Männer  sei  für  die  Gesetz- 
gebung gleichgültig.  Die  Abänderung  des  Strafgesetzes^ 
durch  welche  eine  Quelle  schamloser  Erpressung- 
verstopft  würde,  sei  lediglich  auf  juristische  und  medizi- 
nische, nicht  auf  litterarische  Gründe  zu  stützen.  Zum 
Schluss  meint  Fuld,  dass  die  einzelnen  Verfasser  der 
Beiträge  mit  ihrem  vollen  Namen  auftreten  sollten. 

In  der  im  allgemeinen  anerkennenden  Besprechung^ 
Ettld's  muss  ich  den  gegen  das  Studium  der  Homo- 
sexualität der  Geistesheroen  und  ihrer  litterarischen  Werke 
gerichteten  Angriff  zurückweisen. 

Ebenso  wie  es  unrichtig  ist,  die  wissenschaftliche- 
ilrforschung  der  Homosexualität  zu  verwerfen,  ebenso  ist 
es  verfehlt,  die  Bedeutung  der  in  der  Litteratur  und  Ge- 
schichte hervortretenden  Homosexualität  zu  verkennen^ 
Derartige,  bisher  in  den  Geschichts-  und  Litteraturwerken 
absichtlich  oder  aus  Unkunde  missverstandene  und 
verdunkelte  Erscheinungen  sind  nicht  nur  für  die  Kultur- 
geschichte und  die  Erkenntnis  der  Homosexualität  von^ 
der  grössten  Wichtigkeit,  sondern  dürften  gerade  auch 
geeignet  sein,  die  Auffassung  der  öffentlichen  Meinung^ 
und  des  Gesetzgebers  von  der  Strafwürdigkeit  der  Homo- 
sexualität zu  ändern.  Denn  die  Feststellung,  dass  zahl- 
reiche der  berühmtesten  Geisteshelden  homosexuell  waren 
und  sind,  gestattet  es  nicht  mehr,  den  Homosexuellen 
zum  Verbrecher  und  Wüstling  zu  stempeln. 

Was  endlich  die  Aufforderung  Fuld's  an  die  Mit- 
arbeiter des  Jahrbuchs  anbelangt,  mit  ihren  Namen* 
hervorzutreten,  so  würde  die  offene  Nennung  des  Namens^ 
in  vielen  Fällen,  namentlich  für  Leute  in  öffoiUlicher 
Stellung,  mehr  eine,  nicht  jedermann  zuzumutende  Ver- 
wegenheit als    einen   besonderen   Mut   bedeuten.    Denoi 


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—    474    — 

wer  nicht  als  Arzt  sich  gleichsam  die  EntschuldiguDg  geholt 
hat,  das  verpönte  Gebiet  der  Homosexualität  zu  behandeln, 
wird  dank  den  noch  immer  auch  in  gebildeten  Kreisen 
herrschenden  Vorurteilen  und  dem  den  Fragen  der  Homo- 
jsexualität  oft  entgegengebrachten  Hohn  und  Spott  be- 
fürchten müssen,  den  Argwohn  eigenen  Interesses,  eigener 
Homosexualität  auf  sich  zu  laden  und  in  seiner  Existenz 
«nter  Umständen  schwer  geschädigt  zu  werden. 
'9)  Gaulke,  Johannes:     „Das    homosexuelle    Pro- 

blem**    im  Magazin  fUr  Litteratur  von  Gaulke  und 

Philipps,  Nummer  vom  2.  März  1901. 

Graulke  hebt  zunächst  lobend  hervor,  dass  das  Jahr- 
buch n,  wie  das  frühere,  äusserst  reichhaltiges  und  man- 
nigfaltiges Material  enthalte  und  entschieden  dazu  bei- 
tragen dürfte,  Licht  über  das  schwere  Problem  der  Ho- 
mosexualität zu  verbreiten.  Im  Gegensatz  zu  Gross  (siehe 
unten)  erkennt  er  die  Objektivität  der  Aufsätze  an.  Es 
berühre  äusserst  sympathisch,  dass  in  allen  Artikeln  ein 
—  von  einigen  Exaltationen  homosexuell  Beanlagter  ab- 
gesehen —  rein  sachlicher  Standpunkt  beobachtet  worden 
sei.  Sodann  folgt  zunächst  eine  eingehende  Inhaltsangabe 
^es  Aufsatzes  von  Moll.  Das  ^hochinteressante*  Kapitel 
von  Karsch  wird  dann  rühmend  erwähnt,  wobei  Gaulke 
die  Behauptung  gewisser  Homosexueller  zurückweist, 
wonach  die  Natur  mit  der  Homosexualität  bestimmte 
nützliche  Zwecke  verfolge:  Vorbeugung  einer  üeber- 
völkerung  oder  Schaffung  einer  von  allen  familiären 
Verpflichtungen  entbundenen,  lediglich  allgemeinen  Inter- 
essen lebenden,  zu  Führern  der  Menschheit  geborenen 
Klasse  von  Männern.  Dabei  wendet  sich  Gaulke  nament- 
lich gegen  die  ähnliche,  in  der  Zeitschrift  .Der  Eigene* 
von  A.  Brand  verfochtene  Auffassung.  Er  bemerkt,  die 
Natur  arbeite  durchaus  nicht  immer  planvoll,  man  könne 
ebensogut  die  Homosexualität  als  ein  verfehltes  Experi- 
ment der  Natur  betrachten,  sicherlich  aber  könne  sie  nur 


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—    475    — 

als  eine  pathologische  Erscheinung  in  Betracht  gezogen 
werden.  Des  Weitem  tadelt  Graulke  die  Neigung  man- 
cher Schriftsteller  des  Homosexualismus,  möglichst  vielen 
hervorragenden  Männern  homosexuelle  Neigungen  , anzu- 
dichten*, z.  B.  sogar  Göthe.  —  In  diesem  Zusammenhang 
geht  Oaulke  auf  den  Aufsatz  von  Professor  Jäger  über 
und  dessen  , Supervirilen*.  Dass  bei  einer  Anzahl  grosser 
Männer  Homosexualität  bestand,  giebt  Gaulke  zu.  So 
nimmt  er  dies  auch  bei  Michel  Angelo  an  und  teilt  den 
Hauptinhalt  meines  Aufsatzes  über  den  grossen  Künstler 
mit.  Gaulke  hebt  dabei  hervor,  dass  Numa  Prätorius  die 
für  die  Beurteilung  des  Liebesempfindens  Michel  Angelo's 
wichtige  Thatsache  unberücksichtigt  gelassen  habe,  dass 
der  Künstler  fast  nur  männliche  Körper  dargestellt  und 
selbst  den  weiblichen  einen  männlichen  Charakter  ver- 
liehen habe;  in  seinen  kraftvollen  Jünglingsgestalten  er- 
kenne man  den  begeisterten  Sänger  der  männlichen  Schön- 
heit. —  Nachdem  Gaulke  dann  noch  die  Selbstbiographie 
von  Dr.  M.  Katte:  «Aus  dem  Leben  eines  Homosexuellen* 
gebührend  gewürdigt  und  in  den  Hauptzügen  wieder- 
gegeben, endigt  er  mit  dem  Verlangen  nach  Aufhebung 
des  §  175.  Die  Erfahrung  lehre,  dass  durch  rigorose 
Straf bestimmungen  an  einer  Sache  nicht«  zu  ändern  sei; 
sie  trügen  nur  dazu  bei,  die  unglücklichen  Homosexuellen 
zu  verbittern  und  zu  Feinden  der  Gesellschaft  zu  machen. 
Ausserdem  werde  durch  derartige,  auf  vorgefassten  Mein- 
ungen beruhende  Gesetzesparagraphen  die  wissenschaft- 
liche Forschung  auf  dem  noch  sehr  ungeklärten  Gebiet 
des  Sexuallebens  auFs  Höchste  gefährdet 

Die  eingehende  Besprechung  von  Gaulke  verdient 
wegen  ihres  sachgemässen,.  verständnisvollen  Charakters 
besonders  gelobt  zu  werden.  Demjenigen,  was  Gaulke  an 
den  teilweise  gewagten  Auffassungen  gewisser  Schriftsteller 
über  die  Homosexualität  auszusetzen  hat,  stimme  ich  in- 
sofern   bei,   als   ich    derartige   teleologische  Erklärungen 


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—    476    — 

mindestens  für  verfrühte^  noch  unbewiesene  Hypothesen 
halte;  doch  möchte  ich  anderseits  in  der  Homosexualität 
nicht  ohne  Weiteres  eine  pathologische  Erscheinung  er* 
blicken;  Anomalie  ist  nicht  notwendigerweise  Krankheit. 
Was  Gaulke  über  die  für  das  homosexuelle  Empfinden 
Michel  Angelo's  bedeutsamen  Darstellungen  des  männlichen 
Körpers  sagt,  erachte  ich  ebenfalls  für  durchaus  gerecht- 
fertigt. Ich  habe  diesen  Punkt  in  meinem  Aufsatz  bei 
Seite  gelassen,  weil  ich  der  Meinung  bin,  dass  seine  er- 
schöpfende Behandlung  ein  besonderes  Kapitel  erfordert 
und  ein  in  den  bildenden  Künsten  vöUig  sachverständiges 
Urteil  voraussetzt.  Dabei  wäre  namentlich  eine  genaue 
Untersuchung  der  Gemälde  der  Sixtinischen  Kapelle  vor- 
zunehmen, unter  welchen  hauptsächlich  gewisse  Decken- 
gemälde recht  deutliche  und  drastische  Hinweise  auf 
homosexuelles  Fühlen  enthalten  sollen.  —  Schliesslich 
billige  ich  durchaus  die  Warnung  Gaulke's,  nicht  leicht- 
fertig bedeutende  Männer  der  Homosexualität  zu  ver- 
dächtigen, doch  glaube  ich,  dass  weitere  Forschimgen  in 
dieser  Richtung  noch  manche  Ueberraschungen  in  Be- 
ziehung auf  die  geschlechtliche  Natur  einer  ganzen  Reihe 
von  Geistesheroen  bringen  werden. 
10)  Gross«    Hans:    „Archiv    für  Criminalanthro- 

pologie  und  Criminalstatistik*,  4.Bd.,  3.  und 

4.  Heft  vom  21.  August  1900. 
Die  einzelnen  Aufsätze  werden  angeführt  und  mit 
Ausnahme  desjenigen  von  Moll,  der  als  beachtenswert 
bezeichnet  wird,  mit  wenig  günstigen  Bemerkungen  ver- 
sehen. Sie  brächten  wenig  Neues.  Aus  dem  Aufsatz 
des  Richters  Z.  wird  ein  Satz  herausgegriffen  unter  Bei- 
fügung von  Ausrufungszeichen.  Die  Geruchserklärung 
von  Dr.  Jäger  wird  bespöttelt.  Ueber  die  Mitteilungen 
der  Priester  drückt  Gross  seine  Verwunderung  aus,  weil 
Geheimnisse  des  Beichtstuhles  zu  wissenschaftlichen 
Zwecken  benutzt  würden. 


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—    477     — 

An  die  abfällige  Besprechung  schliessen  sich  lange 
Ausführungen  über  die  Tendenz  des  Jahrbuches  über- 
haupt an.  Die  Frage  der  Btrafrechtlichen  Seite  der  Homo- 
sexualität sei  allerdings  eine  hochwichtige,  aber  der  von 
den  Herausgebern  des  Jahrbuches  eingeschlagene  Weg 
unrichtig.  Wissenschaftliche  Forschung  erfordere  völlige 
Objektivität;  wenn  man  aber,  wie  das  Jahrbuch  es  thue, 
mit  der  Tendenz  arbeite,  ein  im  Voraus  bestimmtes  Ziel 
zu  erreichen,  so  könne  man  höchstens  von  einer  guten 
Verteidigung,  nicht  aber  von  unbefangener  Forschung 
sprechen.  Das  Jahrbuch  habe  nicht  einmal  neues  Material 
vorgebracht,  insbesondere  nicht  mit  den  Aufsätzen:  »Aus 
dem  Leben  eines  Homosexuellen"  und  „Ein  Fall  von 
Effemination  mit  Fetischismus*.  Durch  derartige  ein- 
gehende Schilderungen  würde  nur  Widerwille  erweckt 
und  die  Frage  nahe  gelegt,  ob  nicht  bei  Aufhebung  der 
Strafe  das  Hervorzerren  derartiger  Dinge  an  das  Tages- 
licht noch  schlimmer  werden  würde.  Dass  es  Homo- 
sexuelle gäbe,  wisse  man,  ebenso  dürfte  allgemein  zuge- 
geben werden,  dass  es  sich  stets  um  eine  angeborene 
Naturanlage  handle,  nicht  um  eine  böswillige,  erworbene 
Angewöhnung  in  Folge  von  Lasterhaftigkeit,  Ueber- 
eättigung  und  Lüderlichkeit  Aber  die  Beweisthemata  seien 
andere  und  diese  müssten  von  ganz  imbefangenen,  nicht 
pro  domo  sprechenden,  Berufenen  erörtert  werden.  Fest- 
zustellen sei,  ob  durch  die  homosexuellen  Handlungen 
überhaupt  ein  Angriff  auf  rechtlich  geschützte  Interessen 
geschehe,  ob  namentlich  die  öffentliche  Sittlichkeit  ge- 
fährdet werde,  ob  also  durch  Beseitigung  der  fraglichen 
ausdrücklichen  Verbote  eine  Verschlimmerung  der  Sitten 
eintreten  würde,  endlich  ob  es  möglich  sei,  durch  gewisse 
gesetzliche  Schranken  wirkliche  grosse  Gefahren  hintan- 
zuhalten. Wenn  diese  Fragen  gelöst  seien  und,  wie  es 
scheine,  würden  sie  zu  Gunsten  der  Homosexuellen  ge- 
löst werden,    dann  ergebe  sich  die  Schlussfolgerung  von 


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—    478    — 

eelbst.  Das  einzig  Richtige  wäre,  dass  die  Homosexuellen 
heterosexuelle  Forscher  veranlassten,  die  Frage  wissen- 
schaftlich zu  behandeln,  dann  würde  die  Wahrheit  zu  Tage 
treten.    Petitionen   würden   da  am  allerwenigsten  helfen« 

Die  Ausführungen  von  Gross  atmen  eine  geradezu 
feindselige  Stimmung  gegenüber  den  Bestrebungen  des 
wissenschaftlich-humanitären  Komitees  und  berühren  pein- 
lich. Es  ist  ja  menschlich  erklärlich,  wenn  auf  dem 
sexuellen  Gebiete,  wo,  wie  auf  keinem  zweiten,  instinktive 
Anziehung  und  Antipathie  eine  Rolle  spielen.  Hetero- 
sexuelle durch  unwillkürlichen  Abscheu  ihr  Urteil  über  die 
Frage  der  Homosexualität  trüben  lassen;  für  einen  Ge- 
lehrten wie  Gross  ist  aber  eine  derartige  Beeinflussung 
durch  seine  instinktive  Antipathie  keine  Entschuldigung 
und  muss  ihm  den  den  Mitarbeitern  des  Jahrbuchs  ge- 
machten Vorwurf  der  Parteilichkeit  zuziehen.  Nur  Vor- 
eingenommenheit erklärt  die  ironisierende,  einfach  ab- 
sprechende und  ungerechte  Beurteilung  der  einzelnen  Auf- 
sätze. Die  Thatsache,  dass  sämtliche  Mitarbeiter  des 
Jahrbuchs  die  Aufhebung  der  Strafbestimmung  für  er- 
forderlich erachten,  rechtfertigt  keineswegs  den  von  Gross 
gezogenen  Schluss  mangelnder  wissenschaftlicher  Objek- 
tivität. Sämtliche  deutschen  Spezialforscher  auf  dem  Ge- 
biete der  Homosexualität  halten  auf  Grund  ihrer  wissen- 
schaftlichen Forschungen  die  Beseitigung  des  §  175  für 
dringend  geboten  oder  wenigstens  für  sehr  wünchenswert 
(Kraffl-Ebing,  Moll,  Hirschfeld,  Euleuburg,  Näcke, 
Schrenk-Notzing,  Fuchs  etc.). 

Wenn  die  Mitarbeiter  des  Jahrbuchs  die  gleiche  An- 
sicht vertreten  und  jene  wissenschaftliche  Erkenntnis 
durch  ihre  Aufeätze  zu  unterstützen,  weiter  zu  befestigen 
und  durch  Herbeischaffung  von  neuem  Material  zu  be- 
leuchten suchen,  so  ist  ihr  Streben  nicht  zu  beanstanden, 
so  lange  sie  —  wie  dies  durchgehends  geschieht  —  in 
ruhiger  und    wissenschaftlicher  Weise   die  Gegengründe 


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—    479    — 

nicht  einfach   parteiisch  übergehen^   sondern  ihrer  Beur- 
teilung unterziehen. 

Uebrigens  sind  gegnerische  Aufsätze  nicht  vom  Jahr- 
buch ausgeschlossen  und  auch  solchen^  die  in  objektiver 
Weise  zu  andern  Resultaten,  als  den  bisherigen,  gelangen,, 
wird  die  Aufnahme  nicht  versagt  werden. 

Trotz  der  abfälligen  Kritik  von  Gross  ist  es  immer- 
hin erfreulich,  dass  er  in  der  Form  wenigstens  etwa» 
höflicher  geworden  als  in  der  vorjährigen.  Während  es 
dort  noch  hiess:  „Das  Gequick  dieser  Leute  wird  una 
nicht  hindern  .  .  .,*  spricht  er  jetzt  von  den  , Herren* 
des  Komitees.  Sodann  aber  sind  seine  jetzigen  Zugeständ- 
nisse wertvoll.  Noch  in  der  vorjährigen  Besprechung  von 
Moll's  , Konträrer  Sexualempfindung'*  neigte  Gross  zu  der 
Auffassung,  dass  die  konträre  Sexualempfindung  meist  erst 
im  Laufe  des  Pubertätsalters  erworben  sei.  Jetzt  giebt 
er  zu,  dass  es  sich  stets  um  angeborene  Naturanlage  han- 
delt und  nicht  um  böswillige,  erworbene  Angewöhnung^ 
Hiermit  nähert  sich  Gross  selbst  der  im  Jahrbuch  ver- 
tretenen Sichtung.  Gerade  auf  die  Feststellung  der  Er- 
kenntnis von  der  wahren  Natur  der  Homosexualität  ist 
aber  Gewicht  zu  legen,  auf  dies  Beweisthema  kommt 
es  in  erster  Linie  an;  die  Gesichtspunkte,  die  Gross  nun- 
mehr in  den  Vordergrund  gerückt  haben  will,  sind  schon 
im  18.  Jahrhundert  von  einer  Anzahl  Schriftsteller  er- 
örtert und  als  zur  Rechtfertigung  der  Bestrafung '  dea 
gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  an  und  für  sich  unge- 
eignet erkannt  worden.  Die  Straf  bestimmung  des  deut- 
schen Strafgesetzbuchs  ruhte  dann  lediglich  auf  der  Auf- 
fassung der  Homosexualität  als  eines  durch  Uebersättigung 
angewöhnten,  von  unsittlicher  Gesinnung  zeugenden  Lasters. 

Ist   nun   dieser  Strafgrund    als  unrichtig  dargethan,. 
so  fehlt  es  an  jeder  sonstigen  Rechtfertigung  der  Strafe, 

So   halten   denn    auch    gerade  Schriftsteller,  welche 
nicht   den  Sühn-,  sondern   den   Zweckgedanken   betonei^ 


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—    480    — 

—  und  namentlich  der  Führer  der  neueiren  Kriminalisten- 
Schule,  von  Uszt  —  die  Beseitigung  des  §  175  für  geboten, 
voraus  folgt,  dass  gerade  diese  Schriftsteller,  für  welche 
-die  von  Gross  angeführten  Gesichtspunkte  in  erster  Linie 
massgebend  wären,  keinen  Strafgrund  mehr  erblicken. 

Uebrigens  sind  die  betreffenden  Beweisthemata  auch 
schon  oft  in  neuerer  Zeit  gewürdigt  worden,  nicht  nur 
von  Krafft-Ebing  und  Moll,  sondern  auch  im  Jahrbuch 
selbst,  im  I.  Jahrbuch  im  Aufsatze  von  Numa  Prätorius, 
im  II.  in  demjenigen  des  Richters  Z. 
11)  Guttzeit,  Johann  es,  in  der  von  ihm  herausgegebenen 
Zeitschrift:  ,Der  neue  Mensch*,  November-De- 
zemberheft 1900  (ausgegeben  im  Februar  1901). 
Guttzeit  führt  den  2.  Jahrgang  des  Jahrbuchs  an 
»und  hebt  die  hauptsächlichsten  Aufsätze  hervor.  An  der 
gleichen  Stelle  wird  eine  auf  die  in  der  Zeitschrift  ge- 
-ßtellte  offene  Anfrage  über  das  homosexuelle  Problem 
eingegangene  Antwort  eines  gewissen  Doli  aus  Amerika 
veröffentlicht.  Der  Betreffende  stellt  den  Homosexuellen 
cait  einem  körperlich  Gebrechlichen  auf  gleiche  Stufe,  er 
warnt  aber  vor  ungeregeltem  Mitleid  gegenüber  den 
Homosexuellen,  da  hierin  die  Gefahr  liege,  die  Zahl  der 
<}ebrechlichen  zu  vermehren.  Ein  Kultus  dürfe  mit  der 
Homosexualität  nicht  getrieben  werden.  Ferner  glaubt 
-er,  dass  die  öffentliche  Besprechung  der  homosexuellen 
Frage  für  das  allgemeine  Wohl  gefährlich  wirken  könne. 

—  Mit  Recht  bemerkt  Guttzeit  bezüglich  der  letzten  Be- 
fürchtung, dass  das  Unterdrücken  der  öffentlichen 
Besprechung  gefährlicher  wirke  als  die  Besprechung 
selber. 

Die  Auffassung  von  der  Ansteckung  der  Homosexuali- 
tät habe  ich  schon  oben  widerlegt,  ebenso  schon  früher  be- 
tont^ dass  die  Bestrebungen  zu  Gunsten  der  Homosexuellen 
nicht  eine  Verherrlichung  der  Homosexuellen,  sondern 
Duldung   und  Aufhebung   des  Strafgesetzes   bezwecken. 


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—    481     — 

12)  Herzberg*,  Wilhelm:  „Besprechung  des  I.  Jahr- 
buchs" in  der:  „Neuen  Zeit".  Nr.  31  vom 
28.  April  1900. 

Wohlwollendes  Referat.  Im  Anschlüsse  an  die 
Inhaltsangabe  bemerkt  Herzberg,  dass  der  dem  Aufsatze 
von  Hirschfeld  beigegebene  Fragebogen  zu  eingehend  sei 
und  nicht  leicht  oder  unmöglich  zu  beantwortende  Fragen 
stelle,  die  sich  auf  psychische  Merkmale  bezögen.  Die 
Untersuchung  solle  sich  auf  somatische  Merkmale  be- 
schränken, jedenfalls  nicht  auf  solche  psychischen,  deren 
Beantwortung  durch  verletzte  oder  geschmeichelte  Eitel- 
keit beeinflusst  werde. 

Die  von  Herzberg  betonte  Schwierigkeit  besteht 
allerdings,  aber  lieber  zu  viel,  als  zu  wenig  Fragen. 

13)  Mehler:  „Umschau^ 

Die  beiden  Bildnisse  von  Kosa  Bonheur  und  dem 
Kleiderfetischisten  Lehrer  F.  sind  abgedruckt  und  werden 
erläutert.  Das  Vorkommen  der  Homosexualität  auch  bei 
Tieren  wird  betont,  aus  der  einen  Autobiographie  die 
frühzeitige  ausschliessliche  Richtung  des  Triebes  auf  das 
gleiche  Geschlecht  hervorgehoben  und  dann  der  Schluss 
auf  die  Unhaltbarkeit  des  die  Homosexualität  als  Folge 
ausschweifenden  Lebens  erklärenden  Vorurteils  gezogen. 
Rezensent  weist  sodann  noch  auf  die  Ausführungen  über 
Erpressertum  in  der  erwähnten  Biographie  hin,  sowie 
auf  die  durch  §  175  begünstigte  Stellung  und  Existenz 
der  Homosexuellen  bedrohende  Chantage  hin,  die  wohl 
manchen  rätselhaften  Selbstmord  erkläre. 

14)  Näcke:  «Besprechung  des  U.  Jahrbuchs'*  Inder 

»Allgemeinen  Zeitschrift  für  Psychiatrie." 
Zunächst  wird  bemerkt,  dass  der  zweite  Jahrgang 
des  Jahrbuchs   sich  dem  ersten  würdig  anschliesse,  viel- 
leicht sogar  noch  wissenschaftlicher  gehalten  sei  und  fast 
durchwegs  von  grösstem  Interesse. 

Jahrbuch  in.  81 


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—    482     — 

Mit  den  Ausf (ihruDgen  von  Moll  ist  Rezensent  fast 
insgesamt  einverstanden,  nur  vertritt  er  die  Ansicht,  dass 
Homosexualität  nicht  immer  pathologisch  bedingt  sei. 
Die  scharfe  juristische  Kritik  von  Richter  Z.  wird  her- 
vorgehoben, die  Untersuchung  von  Jäger  als  interessant 
imd  merkwürdig  bezeichnet,  obgleich  seine  Theorien  wohl 
nur  von  ihm  in  dem  entwickelten  Umfang  als  richtig  an- 
erkannt würden.  Karsch's  Aufsatz  nennt  Näcke  einen 
wertvollen  Beitrag  zur  Zoologie. 

Der  Forderung,    die    von    den  meisten  Priestern  er- 
hoben  wird,   nach  Aufhebung  des  §  175  stimmt  er  aus- 
drücklich   bei.     Sodann    führt  Näcke    auch    die   übrigen 
Arbeiten  des  Jahrbuchs  in  anerkennender  Weise  an. 
15)    Placzek    in   dem   soeben    erschienenen  «Jahrbuch 

für  gerichtliche  Medizin, **  Nr.  1  (1901). 
Er  bespricht  die  beiden  ersten  Jahrbücher  in  sehr 
anerkennender  Weise,  teilt  ausführlich  den  Inhalt  der 
Aufsätze  von  Frey,  Hirschfeld,  Moll,  Richter  Z.,  sowie  der 
Arbeit  von  Numa  Prätorius  über  die  geschichtliche  Ent- 
wicklung des  §  175  mit.  Im  Anschluss  an  die  Besprech-  • 
ung  bemerkt  Placzek,  dass  die  erworbene  Homosexualität 
im  Gegensatz  zur  angeborenen  nicht  genügend  im  Jahr- 
buch berücksichtigt  sei.  Diese  erworbene  Homosexualität 
existiere,  rein  oder  gemischt,  vorübergehend  oder  bleibend, 
und  müsse,  gerade  weil  sie  meist  ein  gemeines  Laster 
darstelle,  gekannt  und  streng  von  der  angeborenen  ge- 
trennt werden.  —  Dieser  letzteren  Auflassung  ist  Folgen- 
des entgegenzustellen.  Sobald  Homosexualität  vorliegt^ 
darf  man  nicht  von  Laster  sprechen,  mag  sie  nun  an- 
geboren oder  erworben  sein.  Nicht  zwischen  angeborener 
und  erworbener  Homosexualität  ist  der  von  Placzek  ge- 
wollte Unterschied  zu  machen,  sondern  zwischen  Homo- 
sexuellen überhaupt  und  Heterosexuellen,  die  trotz  reiner 
HeteroSexualität  aus  irgend  welchen  Motiven  gleichge- 
schlechtliche Handlungen  vornehmen.  Eine  scharfe  Trenn* 


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—    483     — 

ung  zwischen  angeborener  und  erworbener  Homosexualität 
ist  überdies  in  vielen  Fällen  gar  nicht  möglich.  Meist 
wird  die  Homosexualität  nur  erworben,  weil  eben  die 
homosexuelle  Anlage  vorhanden  ist.  Ich  verweise  in 
dieser  Beziehung  insbesondere  auf  die  zutreffenden  Aus- 
führungen von  Moll. 

16)    Vleuten,  L.  F.  v.:    In  »Litterarisches   Echo*, 
2.  November,  Heft  1900  S.  287. 

Die  Arbeit  von  Moll  sei  vortrefflich,  ebenso  der 
Artikel  von  Xarsch,  und  derjenige  von  Neugebauer  lesens- 
wert. Im  übrigen  sei  die  Haltung  des  Jahrbuchs  wenig 
erfreulich,  die  Perspektiven  seien  seltsam  verschoben  und 
verzerrt.  Ein  immerfort  fast  zwangsmässiger  Gegensatz: 
Die  Roheit  der  heterosexuellen  Liebe  und  die  Idealität 
der  Urninge,  durchziehe  das  Buch.  Der  Schlusssatz  des 
Aufsatzes  von  Moll  enthalte  eine  herbe,  aber  durchaus 
zutreffende  Beurteilung  derartiger  Bestrebungen. 

Auf  diese  Kritik  hin  hat  Dr.  Hirschfeld  im  Namen 
des  wissenschaftlich-humanitären  Komitees  folgende  im 
2.  Dezember-Heft  des  litterarischen  Echos  1900  auf- 
genommene Erwiderung  veröffentlicht,  welche  das  wieder- 
giebt,  was  auch  ich  über  die  Ausführungen  von  Vleuten 
zu  sagen  hätte.     Sie  lautet: 

flin  dem  2.  Novemberheft  des  litterarischen  Echos 
befindet  sich  eine  kurze  Besprechung  des  Jahrbuchs,  in 
der  es  heisst,  dass  abgesehen  von  den  Aufsätzen  von 
Moll,  Karsch  und  Neugebauer,  in  dem  übrigen  Inhalt  die 
Perspektiven  seltsam  verschoben  seien.  „Ein  immerfort 
fast  zwangmässiger  Gegensatz:  Die  Roheit  der  sexuellen 
Liebe  und  die  Idealität  der  Urninge  durchziehe  das  Buch.* 
Ich  möchte  Verwahrung  einlegen  gegen  diese  Sätze,  die 
nur  durch  eine  missverständliche  Lektüre  entstanden  sein 
können.  Derartige  Urteile  erschweren  nur  das  wissen- 
schaftliche Aufklärungswerk  des  Jahrbuches,  indem  sie 
geeignet  sind,  auf  die  ganze  Bewegung  ein  falsches  Licht 

31'' 

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—     484    — 

zw  werfen.  Mag  es  auch  sein,  dass  in  der  einen  oder 
andern  Arbeit,  namentlich  in  den  Bekenntnissen  der  Auto- 
biographen —  für  deren  Meinungen  die  Redaktion  nicht 
verantwortlich  zu  machen  ist  —  ein  oder  der  andere 
Satz  in  dem  von  dem  Hen'n  Rezensenten  behaupteten 
Sinn  gedeutet  werden  kann,  so  darf  man  doch  einen 
derartigen  Gegensatz  der  heterosexuellen  Liebe  einer- 
und der  homosexuellen  andererseits  dem  Jahrbuch  als 
Grundzug  nicht  unterschieben.  In  den  Aufsätzen  von 
Numa  Prätorius  wird  insbesondere  stets  lediglich  betont, 
dass  die  homosexuelle  Liebe  ebenso  wie  die  normale 
einer  idealen  Ausgestaltung  fähig  sei,  dass  sie  eine  poet- 
ische, edle  Seite  habe,  gleichwie  die  heterosexuellen  und 
dass  auch  sie  bei  den  grössten  Geistern  z.  B.  Michel 
Angelo  anzutreffen  sei.  Keineswegs  wird  sie  aber  als  die 
hehrere,  bessere,  edlere  Liebe  hingestellt. 

Die  Redaktion  des  Jahrbuchs,  ebenso  wie  Numa 
Prätorius,  stimmt  völlig  mit  dem  in  der  Kritik  zitierten 
Schlusssatz  von  Moll's  Abhandlung  überein.  Das  Jahr- 
buch will  Duldung  der  homosexuellen  Liebe,  Beseitigung 
der  Strafe,  richtigere  Beurteilung  und  Aufklärung,  nicht 
aber  Verherrlichung  des  Urningtums. 


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II.  Abschnitt. 

Vor  dem  Jahre  1900  erschienene, 

in  der  vorjährigen  Bibh'ographie  nicht  erwähnte 

Schriften.*) 

Kapitel  I:  Wissenschaftliches. 

§  1:  Schriften  der  Mediziner. 

Bang,  J.  S.:  »Sygelige  Afrigelser  fra  den  Nor- 
male Sexualfolelse"  et  indlaeg  i  sedeiig  heds- 
sagen  (Alb.  Lamraermeyers  Forlag). 

Norwegisches  medizinisches  Werk  über  die  krank- 
haften Abweichungen  von  dem  normalen  SexualgefühL 
—  Die  Homosexualität  wird  ziemlich  eingehend  be- 
sprochen. Neues  findet  sich  wenig  vor,  dagegen  sind 
viele  Auszüge  aus  der  deutschen  und  französischen  spe- 
ziellen Litteratur  wiedergegeben.  —  Bang  ninunt  bei 
vielen  Homosexuellen  hereditäre  Anlage  oder  Erwerb  des 
anormalen  Triebes  durch  Krankheit  an. 
Lombroso**):  Besprechung  des  Buches  von^Charles 
Don  OS:  Verlaine  intime  in  seinem  Archivio  di 
psichiatria,  Vol.  XIX.  1898.  S.  483. 

Lombroso  will  die  erwiesene  Homosexualität  Ver- 
laine's  ebenso  wie  seine  Exzesse  sexueller  und  sonstiger 
Art  auf  den  Alkoholismus  des  Dichters  zurückführen;  er 
berührt  das  bekannte  Verhältnis  Verlaine's  zu  Rimbaud. 


*)  Ein  grosser  Teil  der  Bibliographie  des  Abschnittes  2  rührt 
von  Dr.  B.  her,  einen  weiteren  Teil  hat  ein  österreichischer  Priester 
geliefert  (namentlich  die  theologischen  Schriften).  Einiges  haben 
die  Herren  X.  und  Peter  Hamecher  mitgeteilt  Der  Rest  ist  von 
mir.  Die  mit  b«  K«  bezeichneten  Werke  sind  in  der  Sammlung  von 
Kupffer  zu  finden  oder  mit  Brucüstflcken  dort  vertreten. 

*♦)  Mitgeteilt  von  Herrn  X. 


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—    486    — 

Penta:  »Ueber  einen  Fall  sexueller  Perversion* 
(italienisch)  in  jBivista  niensile  di  psichiatria  forense, 
anthropologia  criminale  e  scienze  affini*,  1898. 


§  2:  Schriften  der  Nicht-Mediziner. 
Anonym:  §  175   R.-St.-G.-B.   in  der  Zeitschrift  ,Der 
Korrespondent   für   das  Rettungswerk    an  den  Ge- 
fallenen  und    für   die  Arbeit  zur  Hebung  der  Sitt- 
lichkeit*.   Herausgegeben  vom  Vorstande  des  west- 
deutschen Sittlichkeitsvereines.    Nr.  4.,  April  1898. 
Mit   scharfen  Worten   wird    in    gehässiger  Weise 
gegen  die  Petition  und  die  Bestrebungen  zur  Aufhebung 
des  §  175   polemisiert.     Ohne  Verständnis  und  Kenntnis 
der  Homosexualität  werden  die  alten  Gründe  für  die  Bei- 
behaltung der  Strafe  angeführt:  Staatsgefährlichkeit  des 
gleichgeschlechtlichen  Verkehrs,  Gefahr  der  Ausbreitung 
eines  scheusslichen  Lasters  u.  dgl. 

Brückmann«  Arthur:  , Homosexualität*  im  Sprech- 
saal der  Zeitschrift:  „Die  Kritik*  von  Wrede, 
Xm.Bd.  Nr.  161,  19.  Februar  1898. 

Bemerkungen  über  die  Homosexualität  im  An- 
schluss  an  einen  in  dem  Januarheft  der  Zeitschrift  ent- 
haltenen, im  vorjährigen  Jahrbuch  angeführten  Artikel 
von  Ad.  Ulrich.  Verfasser  verwirft  die  scharfe  Unter- 
scheidung zMrischen  angeborener  und  erworbener  Homo- 
sexualität und  nimmt  stets  angeborene  Anlage  an.  Heil- 
barkeit sei  ausgeschlossen.  Er  geisselt  die  Grausamkeit 
des  §  175  und  verlangt  seine  Aufhebung.  Sodann  Er- 
örterung über  die  Entstehungsursache  der  Homosexualität, 
die  unbekannt  sei.  Zum  Schluss  einige  anerkennende 
Worte  über  Ulrichs,  den  Vorkämpfer  der  Homosexuellen. 
Die  Charakteristik  desselben  ist  treffend,  weshalb  ich 
wörtlich  einige  Sätze  wiedergebe:  ,,Wenn  man  mich 
fragt,  was  dieser  Mann  wissenschaftlich  geleistet  hat,   so 


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—     487     — 

antworte  ich:  Nichts  und  Grosses!  —  Nichts,  insofern  er 
haltlose  Theorien*),   in   überschwängliche  Worte    gehüllt, 
aufstellte,  und   Grosses,   weil    er  den  Forschern  und  der 
ganzen  Welt  durch   sie   einen  Einblick   in   seine  Welt 
verstattet  hat     Aber  nicht  das  ist  es  allein,  was  ihn  wert 
macht,  gekannt  zu  sein,    es  ist  vor  allen  Dingen  die  un- 
geheuere Summe  moralischen  Muts,  die   dieser  Mann  an 
den  Tag  gelegt.    Er   hat  mit  Leib   und  Seele   für   eine 
von  der  Gesellschaft    verfehmte  Sache  gefochten  und  ist 
deshalb  von  ihr  verfehmt  und  mit  Kot  beworfen  worden." 
Ewald,  Paul:  Besprechung  von  Dr.  v.  Erkelenz* 
Schrift:  „Strafgesetz  und  widernatürliche 
Unzucht"  in  der  Zeitschrift  für  Gesundheitspflege 
von  Ewald  Paul,  6.  Jahrgang,  März  1897. 
Der   Inhalt   der  Schrift   wird   in    knappen  Zügen 
angegeben.    Ewald  billigt  die  Forderungen  von  Erkelenz 
auf  Duldung  der  Homosexualität  und  Beseitigung  der  Strafe. 
Joannes:    Lesbianus  sive  modus  et  via  vera  lesbiandi 
sexus      masculini,     maxime      compendialis    carmine 
elegiaco     simplo    et    perbrevi    comprehensa    a    luce 
donata  etc. 

Erschienen  im  Jahre  1609. 

Hiceforo, Alfrede**):  I  codici  ed  i  reati  sessuali 

in  Lombroso's:  Archivio   di   psichiatria.   Vol. 

XIX  1898.  S.  35. 

Verfasser  wirft  dem  italienischen  Strafgesetzbuche 

Mangel    an  Logik   vor,   weil   es   die  Päderastie   straflos 

lasse  und  sie  nur  ahnde  bei  Verführung  Minderjähriger 

unter  12,  beziehungsweise  IC  Jahren.    In  grösserem  Masse 


*)  Alle  seine  Theorien  trifft  dieser  Vorwurf  nicht;  namentlich 
hat  er  zuerst  die  Homosexualität  auf  die  bisexuelle  Uranlage 
zurückgefithrt,  eine  Theorie,  die  heute  von  wissenschaftlichen  Au- 
toritäten auf  dem  Gebiete  der  HomosexuaÜtät  (Ellis,  Hirschfeld, 
Krafft-Ebing)  verfochten  wird. 
*♦)  Mitgeteilt  von  Herrn  X. 


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—    488    — 

fils  bei  diesen  Minderjährigen  treffe  das  Moment  der 
Willensunfreiheit  bei  denjenigen  Individuen  zu,  welche  zum 
Teil  in  Folge  unglücklicher  sozialer  Verhältnisse  durch 
Verführung  zur  passiven  Päderastie  —  Fälle  erworbener 
Päderastie  —  allmälich  in  neurasthenische,  die  Frei- 
heit ihres  Willens  aufhebende  Geisteszustände  gelangt 
seien.  Verfasser  schlägt  daher  Verfolgung  der  Päderastie 
auf  Antrag  vor.  Im  Einzelfall  müssten  dann  Arzt  und 
Richter  sehen,  in  wieweit  beim  passiven  Teile  Willens- 
unfreiheit vorliege. 

Weitere  Bemerkungen  über  die  seltsamen  Anschau- 
ungen des  italienischen  Gelehrten  sind  wohl  überflüssig. 
Sein  Vorschlag,  aus  der  Päderastie  ein  Antragsdelikt  zu 
machen,  dürfte  kaum  auf  Zustimmung  von  irgend  einer 
Seite  zählen  können.  Bemerkenswert  ist  die  besondere  Her- 
vorhebung der  passiven  Päderastie.  Die  Ausführungen  von 
Niceforo  in  dieser  Richtung  beweisen  die  Richtigkeit  der 
von  mir  oben  angedeuteten,  in  Italien  herrschenden  ver- 
schiedenen Wertung  der  aktiven  und  der  passiven 
Päderastie. 

Panormitae,  Antonü:  Hermaphroditus  (Primus  in 
Germania  edidit  et  Apophoreta  adjecit  Frid.  CaroL 
Forbergius.  Coburgi,  Sumptibus  Meuseliorum  1824). 
Sinlstrari,  R.  C.  de  Ameno  (ordinis  minorum  obser- 
vantiae  reformatorum) :  De  sodomia  tractatus, 
in  quo  exponitur  doctrina  nova  de  sodomia  foemi- 
narum  a  tribadismo  distincta.  [In  dem  grossen 
Werke  von  Sinistrari:  »De  delictis  et  poenis  (ed.  IL 
Romae  1754)  enthalten  und  selbständig  erschienen 
Paris,  Liseux  1879.] 


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—    489 


Kapitel  II:  Belletristik. 
Balzac,  de,  Honorar  Le   P^re  Goriot  in  ,Scfenes  de- 

la  vie  parisienne^. 

Die  homosexuelle  Neigung  von  Vautrin  zu  dem 
schönen  Rubempr^  wird  ganz  vorübergehend  und  flüchtig 
angedeutet,  während  Balzac  in  der  im  vorjährigen  Jahr- 
buch angeführten  „Derni^re  iucarnation  de  Vautrin*  die 
homosexuelle  Natur  von  Vautrin  ausdrücklicher  hervorhebt. 
Claudel:    Tete    d'or.     (Librairie   de    Part  ind^pendant. 

Paris  1890.). 

Die  Szenen  zwischen  Simon  und  C^bfes  und  zwischen» 
Töte  d'or  und  C^b^   sind    direkt   homosexuell   und  voa 
jgrosser  Schönheit 
Conrad«    Michael  Georg:   Majestät.    Improvisation- 

in   der  Zeitschrift  „Gesellschaft,"  Heft  17,   1898,   S. 

290-296. 
Einige  phantastisch-poetische  Stellen  über  Ludwig  IL 
von  Bayern  (unter  der  Maske  eines  orientalischen  Königs} 
und  seine  letzten  Tage.  Seine  Neigung  zu  schönen  Sol- 
daten wird  berührt.  Eine  teilweise  etwas  burleske  Szene^ 
Wo  des  Königs  Versuch,  einen  prosaischen  Marssohn  in 
seine  idealen  Höhen  emporzuheben,  kläglich  scheitert. 
Wassermann,    Jacob:     „Geschichte    des   jungen 

Renatus  Fuchs*    (Zuerst  im  Jahrgang  der  ,Neuen 

Deutschen  Rundschau';  jetzt  bei  S.Fischer.  Berlin  1901 
S.  403  wird  eine  homosexuelle  Züricher  Studentin 
erwähnt:  Gertraud  Werkmeister.  Sie  studiert  National- 
ökonomie und  hat  ein  Verhältnis  mit  einer  gewissen 
Viktoria  Schönau.  »Ihre  Mutter  war  eine  der  bekanntesten 
Dirnen  Europas.* 


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Nachtrag  zur  Bibliographie. 


I.  Medizinen 

J^nthony,  F.  W.:  The  Question  of  Responsability 
in  bases  of  Sexual -Perve  rsion.  Boston.  P.  139, 
288-291. 

Bacaloglu  et  Fossard:  Denx  cas  de  pseudo-hermaphro- 
ditisme  (gynandroides).  Presse  m^dicale  1897. 

Bock:  Der  gesunde  und  kranke  Mensch,  neu  be- 
arbeitet von  Dr.  W«  Camerep.  In  dem  Abschnitt  über 
den  „Geschlechtstrieb  und  seine  Befriedigung  (Onanie, 
Prostitution,  Ehe)*  wird  die  konträre  Sexualempfindung 
kurz  erwähnt.  £s  sei  nur  allzu  viel  darüber  geschrie- 
ben worden.  Für  den  Strairichter  und  Irrenarzt  biete 
sie  ein  gewisses  Interesse.  Wer  sich  nicht  von  Berufs- 
wegen damit  abzugeben  habe,  thue  besser,  sich  mit  die- 
sen rein  pathologischen  Verhältnissen  nicht  zu  beschäf- 
tigen, da  sie  dem  geistig  normalen  Menschen  nur  Ekel 
erregen  könnten. 

Derartige  oberflächliche  Abfertigungen  durch  wissen- 
schaftlich gebildete  Männer  sollten  gerade  in  einem 
viel  verbreiteten  Familienbuch,  wie  dem  obigen  Werk, 
nicht  vorkommen,  da  sie  eine  völlig  schiefe  Auflassung 
von  der  ganzen  Sache  und  ihrer  Bedeutung  bei  dem 
Laien  hervorrufen. 

BODflgli,C.:I  pervertimenti  sessuali.  Rom.  Capanni 
1897,  23  S. 


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—    491    — 

Buehanan,  Captain  Surgeon:  Criminology.  (Calcutta  Review^ 
1895.  März.)  Spricht  von  Paul  Verlaine  als  dem  Typus 
des  geborenen  Verbrechers  und  erwähnt  seine  sexuelle^ 
Abnormität. 

Buchner,  E.:  Lehrbuch  der  gerichtl  Medizin.  2.  Aufl. 
herausg.  von  C.  Herzer.  München  1872,  pg.  197. 

Carson,  J.  C.  and  Hrdlicha:  An  interesting  case  of 
pseudo-hermap  hroditismus  masculinus  com- 
pletus.  Contrib.  of  the  Pathol.  Instit.  of  New- York 
1896,97.  1  u.  n. 

Cullerre,  A.:  Les  frontaires  de  la  folie.  Paris  1888.  Die 
Grenzen  des  Irreseins.  Deutsche  Uebersetzung  von 
O.  Domblüth.  Hamburg  1890.  Besonders  Seite  190  ff.: 
Geschlechtlich  Abnorme.  Seite  197  ff.:  Verkehrungeu 
der  Geschlechtsempfindung. 

Dantec:  La  Sexualit^.  (Evreux.  Impr.  Hörinez.)   1897. 

Dantec:  L'equivalence  des  deux  sexes  dans  la 
f^condation,  Revue  generale  des  sciences  pures  et 
applique^.  B.  22,  S.  854.  (1897?). 

Desmaze:  Histoire  de  la  m^dicine  legale  en  France. 
1880.  pg.  122. 

Duebesne :  De  la  prostitution  dans  la  ville  d' Alger.  Paris 
1853.  Enthält  interessante  Thatsachen  über  die  Dienst- 
willigkeit der  Aufv^ärter  in  orientalischen  Bädern. 

Fahner:  System  der  gerichtlichen  Arzneikimde.  Bd.  III, 
pg.  186. 

Filippi,  A. :  Manuale  di  aphrodisiologia  civile  criminale  e 
Venere  forense.    Pisa  1878. 

Frentzel:  De  sodomia.    Erfurt  1723. 

Friedreleh:  Handbuch  der  gerichtsärztlichen  Praxis. 
1843,  I,  pg.  271. 

Glraldös  et  P.  Horteloup:  Sur  un  cas  de  meurtre  avec 
viol  sodomique.  (Ann.  d'hygifene  publ.,  1874,  vol.  41, 
pg.  419). 


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—    492    — 

Guöricolas :  De  Phermaphrodisme  vrai  chez  l'homme  et 
les  animanx  sup^rieurs  (Lyon,  Storck.  1898). 

Hirschfeldy  Magnus:  Das  Rätsel  im  Leben  der  Herzogin 
Sophie  von  Alen9on.  Eine  psychologische  Studie.  Li 
Beilage  zum  „Hausdoctor",  Nr.  392  vom  18.  Juli  1897» 
Anknüpfend  an  den  Flammentod  der  Herzogin 
von  Alen9on  in  dem  Pariser  Bazardbrand  erinnert 
Hirschfeld  au  die  einstmalige  Verlobung  der  Herzogin 
mit  Ludwig  II.  von  Bayern.  Die  Ursache  der  plötz- 
lichen Entlobung  sei  ,in  der  homosexuellen  Natur  des 
Königs  zu  suchen,  auf  welche  Hirschfeld  näher  ein- 
geht, insbesondere  unter  Hinweis  auf  das  Verhältnis 
Ludwigs  zu  Richard  Wagner.  Hieran  schliessen  sich 
allgemeine  Bemerkungen  über  Homosexualität;  den 
Schlüssel  zu  ihrer  Erklärung  sieht  Hirschfeld  in  der 
bisexuellen  Uranlage  des  Menschen. 

Ein  feinsinniges  und  doch  gemeinverständliches  kur- 
zes Feuilleton. 

Krafft-Ebing:  Gerichtliche  Psychopathologie,  pg.  160. 

Kraflt-Ebing:  Lehrbuch  der  Psychiatrie.  Stuttgart  1879. 
I,  pg.  67  ff. 

LACassagfne:  Ricerche  on  1333  tatnaggi  di  delinquentu 
(Archiv,  di  psychiatria  ed  anthropologia  criminale.  1880, 
I,  pg.  438). 

Löffler,  Friedrich  Berth:  Das  Preussische  Physikatsexa- 
men.  4.  Aufl.,  Berlin  1878.  pg.  219—222:  Widernatür- 
liche Unzucht.  (Heftige  Polemik  gegen  Ulrichs). 

Lombroso,  Cesare :  Neue  Fortschritte  in  den  Verbrecher- 
studien. Deutsch  von  Hans  Merian.  Leipzig  1894. 

Kapitel  VI,  3:  , Weibischer  Typus*.  (Nach  Brou- 
ardel,  Actes  du  II.  Congrfes,  1889). 

Hantegazza,  Paul:  Die  Hygieine  der  Liebe.  Deutsche 
Ausgabe.  3.  Aufl.  Jena.  I.,  Kap.  7. 

Pelopl:  De  la  pr^cocit^  et  des  perversions  de 
l'instinct  sexuel  chez  les  enfants.  Bord. (1897 ?)♦ 


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-     493    — 

Prince,  M.:  Sexual  Perversion  or  Vice.  A  patho- 
logical  and  therapeutie  inquiry.  Jour.  of  Nerv,  and  Men- 
tal.   25  S.  237—255. 

Verfasser  bespricht  die  verschiedenen  Theorien  über 
konträre  Sexualempfindung.  Er  glaubt,  es  handle  sich 
um  eine  auf  belasteter  Grundlage  erwachsende  Psychose 
der  Pubertät  (!),  analog  der  starken  Wirkung  einzelner 
Vorstellungen  bei  Neurasthenischen  und  Hysterischen. 

Pi^ia  and  Bieuchi:  Degenerazione  psico-sessuale. 
Roma,  Capauini  (1897  od.  1898). 

Raynauld:  Perversion  du  sens  genital.  Revue  de 
Psychiatrie  N.  S.    S.  139—141.    (1897  od.  1898). 

Schule:  Handbuch  der  Geisteskrankheiten.   1878.  pg.  116. 

Seburig:  Gynäkologia.  Sect.  II,  Kap.  VII:  De  coitu 
nefando  seu  sodomitico. 

Tardieu:  Annales  d^hygi^ne  publ.,  1857,  2.  pg.  133; 
397;  und  1858,  1,  pg.  137  und  152.    Titel? 

Tarussi«  C:  Intomo  Fordinamento  della  teratologia  3 
L'ermaphroditismo. 

Tatzel:  Die  suggestive  Behandlung  einzelner 
Formen  der  Parästhesi^ö  der  Geschlechts- 
empfindung. Zeitschrift  für  Hjrpnotismus.  B.  VIL 
a  249-256. 

Taylor,  A.  S.:  MedicalJurisprudence.  1873,  11,  pg.  473. 
(Männliche  Prostitution  in  London.) 

Thoinot:  Attentats  aux  moeurs  et  perversions  du  gens 
genital.    (Paris  Doin  1898.)    517  S. 

Toulmouche :  Des  attentats  h  la  pudeur  et  du  viol.  (Ann. 
d'hygifene  publ.,  1868,  2,  VI,  pg.  100). 


IL  Nicht-Mediziner. 

Aelianus,  Claudius  (um  200  n.  Ch.)  b.  K. 

Varia  historia  I,  30  (Die  Geschichte  vom  edlen 
Liebling). 


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—    494    — 

n,  21:  Ueber  den  Dichter  Agathon,  den  Geliebten 
de8  Pausanias  und  des  Euripides. 

m,  9,  10,    12:  (Die  Bedeutung   der  Lieblingsminne 
in  Krieg  und  Frieden). 

IV,  21:  »Alcibiades   ist  des  Sokrates    Geliebter  ge- 
wesen, Dion  der  des  Piaton/ 

VII,  8 :  Die  Trauer  Alexanders  über  den  Tod  seines 
Geliebten  Hephaistion. 

XIII,  608,a,  b,  c:  Verschiedenes  über  die  Männerliebe 

Alexanders. 

Aeschlnes:    In   Timarch.,    137.     (Tadelt   die   Päderastie 

nur  dann,  wenn  der  eine  Teil  sich  um  Geld  hingiebt). 

Aesehines:  I,  c,  159,  119.     (Es  wird  aus  einem  päderast- 

ischen  Mietskontrakt  förmlich  geklagt). 
Aesehines :  I,  c  R.  (Gewerbesteuer  der  Knabenbordelle,) 
Allgemeine  Realencyclopädie  von  Manz.   (Regens- 
burg 1865—1873.) 

Enthält  daher  gehörige  Angaben  an  mehreren  Stellen, 
so    in    dem  Artikel  „Päderastie**,   unter  „Athen*    und 
„Rom." 
Ammann,  F.  S.:  Oefinet  die  Augen,  ihr  Klösterverteid- 
iger u.   s.    w.     7.   Aufl.     Bern    1841.     (Homosexuelle 
Klostersitten.) 
Anonym:  Die  Geheimnisse  der  Berliner  Passage..    Berlin 
(1877).    Seite  12—14:  , Die  Männerfreunde  oder  Päde- 
rasten"  (sie!). 
Anonym  :  Our  Public  Schools :  Their  Methods  and  Morals. 
The  New  Review,  July  1893. 

(Ein  anonymer  Verfasser  vergleicht  die  Schulmoral 
in  den  grossen  englischen  Alunmaten  mit  den  Zuständen 
in  Sodom  und  Gomorrha.  In  der  Septembemummer 
derselben  Zeitschrift  versucht  J.  E.  C.  Welldon  diese 
Vorwürfe  abzuschwächen). 
Aurelius,  Viktor:  Caesares,  28. 

(Unter   den   späteren  römischen   Kaisern   bis  auf 


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—     495    — 

Philippus  war  die  päderastische  Prostitution  gegen  eine- 
Abgabe  gestattet. 

Bayle,  Pierre:  Dict.  Historique  et  Critique.  Bd.  L  Die 
Artikel  Anacreon  und  Bathyllus.  Bd.  II.  Artikel 
Chrysippe,  B.:  Knabenliebe  in  der  griechischen  Mytho- 
logie. 

Becker:  Charikles.    I,  pg.  347  ff. 

Bemer,  Albert  Friedrich :  Lehrbuch  des  deutschen  Straf- 
rechtes.   8.  Aufl.,  Leipzig,  1876.     Seite  423  ff. 

Blümner,  Dr.  H.:  Leben  und  Sitten  der  Griechen. 
Leipzig  1887. 

I.  Abteilung  S.  195:  Hinweis  auf  die  allgemeine 
Verbreitung  der  androphilen,  beziehungsweise  gleich- 
geschlechtlichen Liebe  im  alten  Griechenland  sowie  im 
gesamten  —  auch  heutigen  —  Orient 

BÖlSChe,  Wilhelm:  Heinrich  Heine.     Leipzig,  1888. 

(I V,Vn.  Ueber  Platen,  dessen  ,,päderastisches  Motiv* 
hier  als  ganz  impotente  Spielerei  eines  ehrbaren  Phi- 
listers von  vollkommen  spiessbürgerlicher  Unbescholten- 
heit angesehen  wird). 

Bossard,  E.  (abb^)  et  Haulle  R.  de:  Gilles  de  Rays 
maröchal  de  France,  dit  Barbe-Bleue  (Paris  1886),  das 
Scheusal,  welches  hunderte  von  Menschen,  nament- 
lich, Knaben  seiner  sexuellen  Gier  und  Mordlust  opferte. 

Brosch«  M.:  Königin  Maria  Karolina  von  Neapel 
in :  Historische  Zeitschrift,  Bd.  53  (München  und  Leip- 
zig 1885).    S.  72—94. 

Ueber    die    lesbischen    Neigungen    der    Königin; 
Widerlegung   von  Hilfert's  Schrift:     «Maria   Karoline 
von  Oesterreich,  Königin  von  Neapel*      (Wien   1884),. 
welcher  sie  bestritten  hatte. 

Bücher  der  Könige.  (Bibel).  HI,  14,  24:  .Sed  et 
effeminati  fuerunt  in  terra"  —  »Und  auch  Buhl- 
jimgen  waren  im  Lande." 

ni.  15,12:  »Et  abstuUt  (Asa)  effeminatos  de  terra* 


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—    496    — 

—  „Und  Asa  schaffte  die  Bufaljungen  aus  dem  Lande." 
Es  ist  hier,   wie   es  scheint^    von  der  Verbindung 
männlicher  Prostitution  mit    einem  heidnischen  Kultus 
die  Rede. 
Bücher  der  Machabäer,    (Bibel).    II,  4,  12:  „Äusus  est 
(Jason)  sub  ipsa  arce  gymnasium  constituere  et  opti- 
mosquosqueepheborum  in  lupanaribus  ponere.* 
Bueke,  Richard  Maurice.  Walt  Whitman.  Philadelphia  1883. 
Citiert    pg.   166    eine    abfällige    Kritik  der  Ten- 
denz von    „Calamus"    von  Standish  O'Grady    in  »The 
Gentleman's  Magazine).* 
Burchardy  Bischof  von  Worms.    Beichtfragen. 
Burckhardt,    Ceremonienmeister   Papst    Alexander     VI. 

Diarium. 
Bürette,  Hist.  de  PAcad^mie  des  Inscriptions,  tome  I. 

Drei   Denkschriften    über    die    Abschaffung     des 
Lendentuches  {gwina). 
Xüampe,  J.  H.    Allgemeine  Revision  des  gesamten  Schul- 
und  Erziehungswesens.     Wolfenbüttel  1787. 

Bd.  VI.  J.  F.  Oest:  Wie  man  Kinder  und  junge 
Leute  —  —  vor  der  Unzucht  —  —  und  Selbst- 
schwächung verwahren  könne? 

(Beispiele  homosexuellen  Verkehrs  in  Schulen). 
M.  A.  von  W in  t  er  fe  1  d:  Ueber  die  heimlichen  Sünden 
der  Jugend. 

(Knabenliebe  in  Erziehungsanstalten,  „wo  Onanisten, 
Päderasten  und  Sodomiten  gebildet  werden*). 

Bd.  Vn.    Villaume:  Ueber  die  Unzuchtsünden 
der  Jugend.    (Geständnisse  unbewusst  Homosexueller). 
Oarpenter,  Edward:    An  Unknown  People.    (Reprinted 
from  ,The  Reformer**).    London  1897. 

In  dieser  populären  kleinen  Schrift  stellt  der  Ver- 
fasser zunächst  fest,  dass  die  beiden  Geschlechter  keine 
absoluten  Gegensätze  bilden,  sondern  durch  Ueber- 
gangstjpen  verschiedenster  Grade  zu  einer  zusammen- 


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-    497    - 

häDgenden  Gruppe  verbunden  sind.  Diese  Zwischen- 
stufen^ bei  denen  ein  Gleichgewicht  des  Männlichen  und 
Weiblichen  besteht,  hält  er  für  heilsam  und  notwendig, 
da  sie  gewissermassen  als  Dolmetscher  der  Geschlechter 
unter  einander  dienen.  Es  scheint  ihm  deswegen  mög- 
lich, dass  die  Konträrsexuellen  eine  wichtige  Rolle  in 
der  Entwickelung  der  Kasse  zu  spielen  haben.  Doch 
sei  ihr  Los  tragisch;  und  da  ihre  Zahl  sehr  beträcht- 
lich, liege  der  Gesellschaft  die  Pflicht  ob,  sie  zu  be- 
greifen und  ihnen  zum  Verständnis  ihrer  selbst  zu  ver- 
helfen. Nachdrücklich  betont  er,  dass  sie  nicht  not- 
wendig krankhaft  veranlagt  und  in  der  Mehrzahl  nicht 
effeminiert  seien;  auch  beherrsche  ihre  Leidenschaft 
oftmals  nur  das  Gemütsleben,  ohne  sich  in  geschlecht- 
lichen Akten  zu  äussern.  An  den  letzteren  geht  die 
Schrift  vorüber,  um  sich  auf  die  psychologische  Seite 
der  Homosexualität  zu  beschränken,  deren  extreme 
Typen  in  beiden  Geschlechtern,  ebenso  wie  die  viel 
häufigeren  anscheinend  gesunden,  sie  ganz  vortreiflich 
charakterisiert 

Ciocci,    Raffaele:    Ungerechtigkeiten  und  Grausamkeiten 
der  römischen  Kirche  im  19.  Jahrhundert    Altenburg. 
(Homosexuelles  aus  italienischen  Klöstern;. 

Clemens,  Alexandrinus :  Admonitio  ad  Gentes. 

(Ueber   die  Knabenliebe  der  griechischen  Götter). 

Corvln:  Historische  Denkmäler  des  Christlichen  Fanatis- 
mus.   Leipzig  1844. 

(Bd.  I  behandelt  die  homosexuellen  Praktiken  der 
Mönche  und  in  den  Klosterschulen  als  «Folgen  des 
Cölibats**.  Bd.  U  berührt  die  homosexuelle  Seite  der 
Geisselungen  in  Schulen  etc). 

Debreyne:  Moechialogie.     (Beichtfragen.) 

Die  Cassius:  Geschichte  Roms.    LXII,  28.     LXIII,  13. 

Dio  Chrysostomos  (um  50  n.  Ch.) 

Orationes  32  p.  274:  Epaminondas  soll  die  Schlacht- 

Jfthrbach  in.  32 


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—    498    — 

Ordnung    e^unden  haben,   wo  Liebhaber  und  Liebling 
zusammen  kämpften  (die  sog.  heilige  Schar). 

Orationes  33:  Häufigkeit  des  fellare  und  irrumare 
in  Tarsos. 
Diogenes  Laertius  (3.  Jahrh.  n.  Ch.) 

De  vitis,  dogmatibus  et  apophthegmatibus  clarorum 
virorum. 

Bd.  Vn,  13   und   19   über  Zenon,   der   auch   die 
Jünglinge   liebte    und   mit   ihnen  —  wenn   auch  nicht 
oft  —  Umgang  hatte. 
Dühring,  Eugen:  Der  Wert  des  Lebens.    L  Aufl. 

Konstatiert  die  Häufigkeit  des  sinnlichen  Charakters 
der  Jugendfreundschaft^en. 
Faber,    Mathias:     Concionum    opus    tripartitum. 
(Neapel  1860.) 

Li   der   2.  Predigt   auf  das   Fest  der   Epiphanie 
(vol.  ni.  pag.  191)  ist  die  Rede  von  der  weiten  Ver- 
breitung   homosexualer    Geschlechtlichkeiten    und    der 
männlichen  Prostitution  im  Altertum. 
Grote,  George:  Plato  and  the  other  friends  of  Sokrates. 

Uebersicht  über  das  „Symposion*. 
HetUnger,    Franz:    Apologie    des    Christentums. 
(Freiburg  im  Breisgau  1885.) 

n.  B.,  L  Abteilung,  S.  238  berichtet  der  Verfasser, 
dass  unter  den  Lidianern  Amerikas  schon  vor  der  An- 
kunft der  Europäer  homosexualer  Verkehr  vielfach 
heimisch  war.  Er  verweist  auf  Waitz,  Anthropologie 
der  Naturvölker,  I,  S.  159.  —  U.  B.,  IQ.  Abteilung, 
S.  278  erwähnt  Verfasser  der  starken  Verbreitung 
gleichgeschlechtlicher  Liebe  in  der  antiken  Welt.  Welche 
Ausdehnimg  sie  gewonnen,  gehe  aus  den  häufigen 
Mahnungen  und  Verboten  der  ersten  Kirche  hervor. 
Er  zitiert:  Barnabas,  Epist.,  cap.  19.  —  Athenagoras, 
Bittschrift  für  die  Christen,  cap.  34.  —  Constitutiones 
Apostolorum,  VI,  28.  —  Amobius,  Contra  Gentes^  1, 64. 


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—    499    — 

—  Chrysostomus,  In  I.  Cor.  Hom.  XIII,  5.  —  Concilium 
Elvirense  (305),  CaDon  71.  Ausserdem  führt  er  an: 
Lysias  c.  Sim.  Orat.  Attic.  I,  191.  —  Xenoph.  Conviv. 
C.  8.  —  Seneca,  Epist.  XLVII,  XCIV,  ,Scorta  virilia». 

—  Aurelias  Victor,  De  Caesaribus,  C.  28.  —  Eusebius, 
Vit.  Constant.  III,  55.  —  Plutarch,  Araator.  C.  4.  — 
Xenoph.  Memorab.  IV,  2. 

Herodianus:  Vitae  imperatorum,  I,  16. 

(Philocommodus,  ein  Lustknabe  des  Kaisers  Commodus.) 
Herodot:  Neun  Bücher  griechischer  Geschichte. 

(I,  105,    Verpflanzung  der  Päderastie  aus  Syrien  zu 
den  Skythen.) 
Hesychios   aus  Milet  (6.  Jahrh.  nach  Chr.)  b.  K.     Welt- 
geschichte. 

B.  XL :  Ueber  das  treue  Liebesverhältnis  von  Polemon 
und  Kxates. 
Jais,    Aegydius:     Handbuch  des    Seelsorgers    für 
Amt    und    Leben.     Bearbeitet    von    Fr.    J.   Köhler. 
Paderborn  1870. 

S.  273  und  anderwärts. 
Janssen,  Johannes :  Anraeine  Kritiker.     Freiburg  im 
Breisgau  1883. 

S.  144  wird  unter  Hinweis  auf  ,Lenz,  Briefwechsel 
Philipp's  von  Hessen  mit  Butzer  (302)'  erwähnt,  dass 
Kurfürst  Johann  Friedrich  von  Sachsen,  in  dem  Luther 
eine  der  stärksten  Stützen  seines  neuen  Kirchentums 
erblickte,  der  „Sodomiterei"  ergeben  war. 
Joel:  Weissagung.  (Bibel.) 

Cap.  3,  V.  3  (8)    sagt  der  Prophet  von  den  ausser- 

jüdischen  Völkerschaften:    »Posuerunt  puerum  in  pro- 

stibulo**  —  „Sie  machten  die  Knaben  zu  Buhljungen". 

Justinus:     Erste    Apologie    für    die    Christen. 

Cap.  27  und  29. 
Koch,  Max :  Shakespeare.  (Stuttgart,  Cotta'sche  Bibliothek 
der  Weltlitteratur.) 

82» 


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—    500    — 

Seite  132-145:  Die  Sonette.  Seite  315—316: 
Litteraturangaben  zur  Erklärung  der  Sonette. 

Lactantius:  Institutiones  divinae^  U,  17. 

Das  Missgeschick  Cannäs  wird  der  Eifersucht  der 
Juno  auf  einen  in  den  Jupitertempel  eingeführten 
schönen  Jüngling  beigemessen. 

Lampridius :  Commodus,  5,  10.  fg. 

Lampridius:  Heliogabalus. 

Lecky^  W.  E.  H. :  History  of  European  Morals.  (Sitten- 
geschichte Europas  von  Augustus  bis  auf  Karl  den 
Grossen.    Deutsch  von  Jolowicz.    2.  Aufl.). 

Bd.  n,  Seite  244—247:  Ueber  die  Eoiabenliebe  der 
Griechen. 

Lichtenberg^^  Georg  Christoph:  Vermischte  Schriften. 
Göttingen  1867. 

Bd.  I,  Seite  8:  „In  meinem  zehnten  Jahre  verliebte 
ich  mich  in  einen  Knaben^  namens  S  .  .  .  .^  eines 
Schneiders  Sohn,  der  in  der  Stadtschule  Primus  wartete* 

Ligruori,  Der  heilige  Alphons  M.  von:  Der  Beichtvater. 
Aus  dem  Italienischen.    Regensburg  1841. 

Luzzato:  Israelitische  Moraltheologie.  Aus  dem 
Italienischen.     Czernowitz  1870. 

Der  Autor  betont,  dass  die  Sünde  Sodomas  nicht, 
wie  man  gewöhnlich  zu  sagen  pflegt,  hauptsächlich 
„Sodomiterei*  gewesen  sei,  sondern  Mangel  an  Barm- 
herzigkeit und  rohe  Beschimpfung  der 
Fremden.  Dasselbe  wird,  nebenher  bemerkt^  neuestens 
auch  von  katholischen  Theologen  hervorgehoben.  Es 
ist  nicht  uninteressant^  zu  vernehmen,  dass  auch  der 
Name,  mit  dem  die  Bethätigung  der  homosexuellen 
Natur  vielfach  bisher  bezeichnet  worden  ist,  auf  einem 
Irrtum  beruht. 

Lysias:  Orationes.  Adversus  Simonem. 

Erzählt  vor  Gericht  unbedenklich  von  einem  päderast- 
ischen  Mietskontrakt. 


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—    501     — 

Malthus^   Thoraas    Eobert:    Essay    od    the  Principle    of 
Population. 

pg.  103:  „Unnatürliches  Laster"  in  der  Türkei  als 
Hemmungsmittel  gegen  Uebervölkerung. 

Maury:  Histoire  des  Religions  de  la  Gr^ce  antique,  tome 
in,  pg.  35—39. 

Mehler,  Ludwig:  Der  Katholik  in  seinem  Glauben. 
Regensburg  1848. 

3.  Band,  S.  634.  Der  Verfasser  führt  die  Stelle 
Rom.  1,  26 — 27  an,  erwähnt  einer  Predigt  des  Kirchen- 
lehrers Johannes  Chrysostomus,  aus  welcher  hervor- 
geht^ dass  gleichgeschlechtliche  Liebe  in  der  Stadt  des 
Heiligen  ausserordentlich  verbreitet  war,  und  erzählt 
von  dem  schönen  Knaben  Pelagius,  der  lieber  in  den 
Tod  ging,,  als  dass  er  sich  dem  Könige,  seinem  Herrn, 
zur  Verfügung  gestellt  hätte. 

Hehler,  Ludwig:  Beispiele  zur  gesamten  christ- 
katholischen Lehre.    Regensburg  1861. 

IIL  Bd.,  S.  386:  Eine  Geschichte  daher  gehörigen 
Inhalts. 

Mehrlng,  Franz:  Die  deutsche  Sozialdemokratie.  1878. 
Mitteil,  über  den  Agitator  u.  Lustspieldichter  Schweizer. 

Meiners,  Christoph :  Geschichte  des  Ursprungs,  Fortgangs 
und  Verfalls  der  Wissenschaften  in  Griechenland  und 
Rom.    Lemgo  1782. 

Bd.  II,  Seite  52—57:  Jugendschutz  in  der  Solonischen 
Gesetzgebung.   Seite  531  ff. :  Verteidigung  des  Sokrates. 

Moses:  Deuteronomium.  (Bibel.) 

Cap.  23,  17:  »Non  erit  meretrix  de  filiabus  Israel 
nee  scortator  de  filiis  Israel.* 

Cap.  23,  18:  »Non  offeres  mercedem  prostibuli  nee 
pretium  canis  in  domo  Domini  Dei  tui  .  .  .  .  quia 
abominatio  est  utrumque  apud  Dominum  Deum  tuum.' 
Unter  dem  ^Pretium  canis*  ist  von  Knaben  und  Jüng- 
lingen verdienter  Prostituiertenlohn  zu  verstehen. 


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—    502    — 

Die  beiden  Stellen  weisen  darauf  hin,  dass  auch  bei 
den  Juden    männliche  Prostitution    mehr   oder  minder 
heimisch  war. 
Müller^  Josef:  Der  Reformkatholicismus.    11.  Teil. 
Zürich  1899. 

Verfasser  kann  (S.  123)  nicht  begreifen,  dass  Hafis, 
der  Sänger  des  Morgenlandes^  den  Jüngling  geliebt 
haben  soll.  Im  Orient  dürfe  die  Geliebte  nicht  be- 
sungen werden,  statt  von  ihr  spreche  der  Dichter  in 
Liebesliederu  durchgehends  von  einem  „Freund*!  Es 
ist  doppelt  bedauerlich,  wenn  Männer  von  der  univer- 
sellen Bildung  und  dem  wissenschaftlichen  Tiefblick 
eines  Dr.  Müller  sich  der  Aufklärung  über  diese  Seite 
des  Geschlechtslebens  immer  noch  verschlossen  halten. 
Nordau,    Max:     Entartung.     Berlin,   Duncker,    1892. 

3  Bde. 

Spricht  von  der  Entartung  im  Allgemeinen;  konträre 
SexualempfinduBg  wird  nur  erwähnt  im  I.  Bd.  und 
dann  einfach  auf  Krafit-Ebing  verwiesen.  S.  347,  Bd.  I 
wird  das  in  den  Romanen  des  Sar  Peladan  vorkommende 
ungeschlechtliche  Zwitterwesen  als  ein  unbewusstes 
mystisches  Ideal  konträrer  Sexualempfindung  bezeich- 
net. S.  525,  Bd.  III  wird  in  dem  satirisch  entworfenen 
Zukunftsbild  fortschreitender  Degeneration  die  Ehe 
zwischen  Männern  erwähnt. 
Pausanias  (2.  Jahrh.  n.  Ch.)  b.  K. :  Periegesis  (Rundreise). 

Bd.  V,  K.  11  und  Bd.  IX,  K.  34  wird  von  den  Ge- 
liebten des  Phidias  erzählt. 
Plinius:  Historia  naturalis. 

XXXIV,  9:  Ueber  Harmodios  und  Aristogeiton. 
Plutarch:  Leben  des  Agesilaus. 

Ein  Mann  wird  wegen  der  Unterdrückung  seiner 
Leidenschaft  für  den  Knaben  Megabetes  als  Heros 
über  Leonidas  gestellt 


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—    503    — 

Plutarch:  Leben  des  Marcellus^  2. 

Marcellus  verklagt  den  Aedil  Scatinius  wegen  päder- 
astischer  Anträge  an  seinen  Sohn. 

Plutarch:  Lieben  des  Pelopidas. 

Die  Thebaner  erlaubten  ihren  Jünglingen  unter 
einander   die  Päderastie^   um    ihre  Sitten   zu  veredeln. 

Plutarch:  Bd.  V,  Solonis  1:   Aus   einem   Gesetz^    worin 
Solen  die  Lieblingsminne  der  Sklaven  verboten  habe^ 
gehe   hervor,   dass   er   sie    für  eine  edle  Neigung  ge- 
halten. 

Bd.  V:  Aristides  2  und  Themist ocles  3:  Die  Feind- 
schaft beider  habe  ihren  Grund  in  ihrer  Leidenschaft 
zu  Stesilaos  und  ihrer  daraus  entspringenden  Eifer- 
sucht gehabt. 

Post,    Albert    Hermann:    Grundriss    der    ethnologischen 
Jurisprudenz.     Oldenburg  und  Leipzig  1894. 

Bd.  II,  Seite  390-392:  Die  strafrechtliche  Ahndung 
der  ,  Unnatürlichen  Wollust*  bei  den  verschiedenen 
Völkern. 

Reuss,  Rudolphe:  L'Alsace  au  17.  si^cle  Bd.  II. 

P.  60  Anm.  2  und  P.  96  Anm.  1  wird  berichtet  von 
der  Zunahme  der  ^widernatürlichen  Verbrechen"  seit 
dem  30jährigen  Kriege,  während  sie  bis  dahin  im 
Elsass  ziemlich  unbekannt  gewesen  seien.  Den  Grund 
dafür  sieht  Reuss  in  dem  Durchzug  der  zahlreichen 
Soldateska  der  verschiedensten  Länder,  insbesondere 
der  Italiener  und  Spanier.  Von  1647  bis  1671  seien 
in  der  Chronik  von  Walter  nicht  weniger  als  etwa  12 
Individuen  erwähnt,  die  wegen  derartiger  ^Verbrechen" 
zu  Strassburg  lebendig  verbrannt  oder  geköpft  worden 
seien. 

P.  486  ist  die  Rede  von  der  Absetzung  des  Pfarrers 
Martin  Gross,  weil  er  nach  verschiedenen  ungehörigen 
Handlungen  schliesslich  sogar  den  Stadtmeister  Zorn 
des  Incestes  und  der  Sodomie  beschuldigt  habe. 


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—    504    — 

Rolfüs   und  Brändle:   Die   Glaubens-   und    Sitten- 
lehre der  katholischen  Kirche.    Einsiedeln  187&. 

S.  660  Exposition  über  die  „sodomitische  Sünde*. 
Geschichte  von  König  Deraetrius  und  dem  Knaben 
DamokleSy  welch  letzterer,  um  sich  der  leidenschaft- 
lichen Liebe  seines  Herrn  zu  entziehen,  in  einem  mit 
siedendem  Wasser  gefüllten  Kessel  den  Tod  suchte. 
Hinweis  auf  eine  Predigt  des  heiligen  Chrysostomus 
und  Aussprüche  von  heiligen  Vätern. 
Röscher,  Wilhelm :  Die  Grundlagen  der  Nationalökonomie. 
11.  Aufl.    Stuttgart  1874. 

Buch  V,  Kap.  2  Geschichte  der  Bevölkerung.    §245, 

Anm.  16   Verschneidung  im    Orient.      §  249    C.   Die 

„unnatürlichen  Laster".  Anm.  16 — 22  Zahlreiche  Littera- 

turangaben. 

Rousseau,  Jean  Jacques:   Les   Confessions.    I,  2  und  4. 

Erzählt     von     zwei     homosexuellen     Verführungs- 
versuchen, die  ihm  in  seiner  Jugend  begegnet  sind. 
Sack,  Eduard:   Unsere   Schulen   im   Dienste   gegen   die 
Freiheit.  —  Gegen  die  Prügelpädagogen.  —  Beiträge  zu 
der  Schule  im  Dienste  gegen  die  Freiheit. 

In    einer    dieser   Broschüren    werden    päderastische 
Thatsachen  erwähnt. 
Salier,  Johann  Michael :  Handbuch  der  christlichen 
Moral.     München  1817. 

ni.  Bd.,    S.  216:   Die    Pflichten    des    aufblühenden 

Alters    sind: Beherrschung    der  erwachenden 

Neigungen  zu  Freundschaft  und  Liebe.  Liebe  und 
Freundschaft  haben  vielleicht  unter  allen  Neigungen 
am  meisten  blendenden  und  verführerischen  Schein 
und    üben    diese  Uebermacht   des  Scheines  vorzüglich 

an  dem  blühenden  Alter  aus Das  Bedürfnis,  zu 

lieben  und  geliebt  zu  werden,  das  mit  der  erwachenden 
Geschlechtsneigung  erwacht,  zieht  mit  ungekanntem, 
schwer   widerstehlichen  Zuge   an.    Da  nun    gerade  in 


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—    505    — 

diesem  Alter  die  sinnlichen  Triebe  gewaltig  hervorbrechen; 
da  unter  den  sinnlichen  Trieben  vorzüglich  die  Triebe  zu 
Freundschaft  und  Liebe  sich  mit  Uebergewalt  ankünden; 
da  beiden  Trieben  am  meisten  Leichtsinn  und  Unverstand 
eingeboren  ist;  da  beide  mit  dem  Zauber  der  Einbildungs- 
kraft kunstreich  zu  spielen  und  mit  diesen  Kunstspielen 
zu  bethören  wissen:  so  ist  die  Beherrschung  der  beiden 
Neigungen  zu  Freundschaft  und  Liebe  eine  besondere  und 

wohl  die  schwerste  Aufgabe  des  zarten  Alters 

Bei  frommen,  keuschen  Jünglingen  verkleidet  sich 
die  Geschlechtsneigung,  als  wenn  sie  das  Geschlecht  ver- 
fehlt hätte,  manchmal  in  Liebe  zu  Ihresgleichen. 
Der  unbekannte  Trieb  erscheint  anfangs  als  Freundschaft 
und  offenbart  erst  später  seine  Tücke.  Deshalb  haben 
weise  Vorsteher  in  Erziehungshäusern,  überzeugt,  dass  der 
unbewusste  Zug,  der  Knaben  mit  Knaben  verbindet,  die 
schlafende  Geschlechtslust  aufregen  und  grosse  Verwüst- 
ungen anrichten  kann,  diese  sogenannten  amicitias  parti- 
culares  nie  aus  ihrem  wachenden  Auge  gelassen." 

Salzmann,  Christian  Gotthilf:  Ueber  heimliche  Sünden  der 
Jugend.    4.  Aufl.  Leipzig,  1819. 

Mehrfache  Selbstbekenntnisse  mutueller  Onanie  in 
Fällen,  deren  homosexueller  Charakter  heutzutage  nicht 
mehr  bezweifelt  werden  kann. 

Schuen,  Josef:  Der  Katechismus  auf  der  KanzeL 
(Paderborn  1879.)  2.  Abteilung,  S.  260.  Es  ist,  wie 
in  den  meisten  Werken  dieser  Art,  der  Standpunkt 
des  naturwissenschaftlichen  Lrtums  vertreten:  Die 
„sodomitische  Sünde*  gehe  wieder  die  Natur.  Sie 
werde  auch  als  »stumme  Sünde*  bezeichnet,  da  sie  im 
Beichtstuhl  den  Meisten  den  Mund  verschliesse,  so 
dass  aus  geheimer  Scham  kein  Sterbenswörtlein  darüber 
verlaute  und  das  heilige  Sakrament  oft  Jahre  lang,  so- 
gar das  ganze  Leben  lang,  entehrt  werde.  Es  geschehe 


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—    506    — 

«gar  nicht  selten"^  dass  in  Häusern^  die  nach  aussen 
sehr  anständig  und  ehrbar  erscheinen,  solche  Dinge 
vorkämen,  und  werden  deshalb  die  Eltern  und  Vor- 
gesetzten ermahnt,  wo  nur  immer  möglich,  jedem  Haus- 
genossen ein   eigenes  Bett   zur  Nachtruhe   anzuweisen. 

Stead,  W.  T.  Review  of  iteviews,  June  15,  1895.  Seite 
491 — 492.  Artikel  über  die  Verurteilung  Oscar  Wilde's. 
Betont  das  Missverhältnis  zwischen  der  Bestrafung 
homosexuellen  und  heterosexuellen  Verkehrs.  Die  all- 
gemeine schweigende  Duldung  der  Päderastie  in  den 
grossen  englischen  Alumnatsschulen.  »Wenn  man  jeder- 
mann ins  Gefängnis  steckte,  der  sich  der  Vergehungen 
Oscar  Wilde's  schuldig  gemacht  hat,  so  würde  eine 
sehr  überraschende  Auswanderung  von  den  Schulen  zu 
Eton  und  Harrow,  Rugby  und  Winchester  nach  den 
Gefängnissen  in  Pentonville  und  Holloway  stattfinden. 
.  .  .  Bis  dahin  lässt  man  Knaben  in  öffentlichen  Schulen 
ungestraft  Gewohnheiten  nachhängen,  die  sie,  wenn  sie 
die  Schule  verlassen,  der  Zwangsarbeit  überliefern 
würden." 

Stpabon  (z.  Z.  Ch.)  b.  K.  B.  X.  483c.  Ueber  den  Jüng- 
lingsraub in  Kreta  und  das  Verhältnis  von  Liebhabern 
und  Geliebten  (den  „Rühmlichen")  nach  der  Schilderung 
des  Historikers  Ephoros. 

Stolz,  Alban:  Erziehungskunst  Freiburg  im  Breis- 
gau 1875.  S.  225  erwähnt  der  Verfasser  des  Homo- 
sexualismus von  Kindern:  „Manchmal  kehrt  sich  die 
Verliebtheit  einem  Kinde  des  eigenen  Geschlechtes  zu, 
ohne  deshalb  anderer  Art  zu  sein  als  die  vor- 
her bezeichnete  (heterosexuelle).  Es  ist  der  blind- 
geborene Geschlechtstrieb * 

Symonds,  John  Addington.  Walt  Whitman,  a  Study. 
London,  1893.  Kap.  V,  Seite  67—85  handelt  von 
Whitman^s  Ideal  der  männlichen  Liebe. 


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—    507    — 

Tanner,  Adam,  S.  J.:  Theologia  scholastica.  (Er- 
schienen um  das  Jahr  1600.)  Aufforderung  an  die 
Obrigkeiten,  gewisse  Zusammenkünfte  zu  verbieten,  bei 
welchen  Sodomie  getrieben  werde,  da  diese  Zusammen- 
künfte die  rechten  Brutstätten  und  Nester  der  Hexerei 
seien. 

Tacitus,  Annales,  VI,  1  und  XV,  37. 

Tissot.  L'  Onanisme.  3"®  Edition.  Paris  1765.  Beispiele 
von  Jugendverführung  und  unbewusster  Homosexualität. 

Haximus  Tyrius:  (2.  Jahr.  n.  Ch.)  b.  K.  Dissertationes. 
XXIV:  Ueber  die  Liebe  zwischen  Achilles  und  Patroclos, 
XXIV,  2:  Ueber  diejenige  zwischen  Harmodius  und 
Aristogeiton  und  über  die  Einrichtung  der  heiligen 
Schar  der  Liebenden  seitens  Epaminondas\  XXIV  4: 
Ueber  Sokrates'  Liebe  zu  zahlreichen  Jünglingen.  XXTV 
9:  Ueber  die  Jünglingsliebe  des  Dichters  Anacreon. 

Voltaire.  M^moires  pour  servir  ä  la  vie  de  M.  de 
Voltaire,  Berits  par  lui-m6me.  (Ueber  den  homosexuellen 
Verkehr  Friedrich  des  Grossen.) 

Weber,  Carl  Julius.    Demokritos,  Bd.  V,  Kap.  14. 

Weninger,  Franz  Xaver:  Standespredigten.  (Mainz 
1881.)  In  der  5.  Konferenz  werden  die  Männer  auf- 
gefordert, sich  darüber  zu  erforschen,  ob  und  in  welcher 
Weise  sie  vor  ihrer  Heirat  wider  die  Keuschheit  ge- 
sündigt hätten,  ob  es  Knaben  oder  Mädchen  gewesen 
wären,  mit  denen  sie  zu  thun  gehabt.  (S.  30.) 

Xenophon.    Memorabilien  von  Sokrates. 

Xenophon.    Symposion. 

Zeller,  Eduard.  Die  Philosophie  der  Griechen  in  ihrer 
geschichtlichen  Entwicklung.  Bd.  IH:  Die  Ansichten 
der  Stoiker  über  Knabenliebe. 

QueUen:  Sext  Pyrrh.  III,  200,  245.  —  Math.  XI,  190. 
Clement.  Homil.  V,  18. 

Zenos  Ansichten:  Sextus  Math.  XI,  190.  —  Pyrrh.  III, 
245.  —  Plut.  qu.  conv.  HL  6,  1,  6. 


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—    508    — 

Bekämpfung  durch  die  späteren  Stoiker:  Musonius 
bei  Stob.  Serra.  6,  61.  —  Cic.  de  Fin.  III,  20,  68.  — 
Cic.  Tuac.  IV,  34,  72.  —  Diog.  VII,  129  f.  —  Stob. 
II,  238.  —  Alex.  Aphr.  Top.  75   o. 


UI.  Belletristisches. 

Alan-a-Dale  (Pseud.)  A  Marriage  below  Zero.  New- York, 
Dillingham  &  Co.,  188—. 

Die  Erzählung  einer  jungen  Gattin,  deren  Ehemann 
die  geheimnisvolle  Umings-Beziehung  zu  einem  Kapitän 
im  englischen  Heere  nicht  abschütteln  kann.  Der 
Schauplatz  ist  London.  Das  Buch  ist  mit  dem  gut 
durchgeführten  Bestreben  geschrieben,  durch  die  ganze 
Erzählung  die  Art  einer  einfachen,  ahnungslosen  Natur 
der  jungen  Gattin  zu  bewahren.  Es  enthält  kein  an- 
stössiges  Wort^  und  nur  die,  welche  zwischen  den  Zei- 
len lesen,  werden  die  wahre  Veranlassung  zu  dem  Ruin 
des  Gatten  verstehen.  Er  wird  in  Paris  nach  dem  be- 
rühmten ,Cleveland-Street"-Skandal  als  Selbstmörder 
von  seiner  gekränkten  und  verletzten  Gattin  gefunden. 

Amphis,  griechischer  Dichter  v.  Chr.  b.  K,  Ein  Ge- 
dicht bei  Athenäos  XIII,  563  e. 

Anacreon  (5.  Jahrh.  v.  Chr.)  b.  K.  Liebesgedichte. 

Andersen,  Hans  Christian.  „Der  Freundschaftsbund.' 
(Sämtliche  Märchen).  P^iesterliche  Einsegnung  eines 
Bundes  zwischen  zwei  neugriechischen  Jünglingen,  ohne 
ausdrücklich  sinnliche  Elemente. 

Anonym:  »La  chronique  scandal  euse*.  Paris  1791. 
Bd.  II.  S.  167 :  Mutuelle  Onanie  zwischen  Frauen. 

Anonym:  Hassan  the  Fellah.  By New- York  1899. 

Eine  orientalische  Romanze  aus  dem  modernen  Jeru- 
salem und  Egypten,  von  einem  Amerikaner,  der  lange 
im  diplomatischen  Dienst  im  Orient  gestanden  hat. 
Das  uranidische  Gefühl    für   männliche  Schönheit  und 


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—    509    — 

eine  intime  geschlechtliche  Sympathie  zwischen  Mann 
und  Mann  werden  hie  und  da  stark  hervorgehoben, 
mit  Einschluss  einer  Episode  der  »Blut-Brüderschaft* 
durch  wechselseitiges  Trinken! 

Anonym:  »Tel^ny."    CosraopoHs,  189 — . 

Ungeachtet  der  Thatsache,  dass  dieser  Roman  durch 
Abschnitte  entstellt  ist,  in  denen  der  Autor  den  litter- 
arischen Wert  durch  Stil  und  Sprache  verringert,  ist 
das  Buch  dennoch  von  ausnehmender  Wichtigkeit,  in- 
dem es  eine  Leidenschaft  zwischen  zwei  Urningen  dar- 
stellt. Der  Schauplatz  ist  Paris,  und  die  beiden  Hel- 
den der  Erzählung  sind  Musiker  —  einer  von  ihnen, 
Teleny,  ein  berufsmässiger  Klaviervirtuose.  Die  Er- 
zählung entwickelt  sich  zu  einer  Tragödie.  Stark  be- 
tont ist  die  Beziehung  auf  ;'die  nationale  Tendenz  des 
Magyaren  zum  Uranismus  als  eine  psychologische 
Richtung. 

Anonym:  „Les  d^lices  du  clottre  ou  la  nonne  dclair^e^' 
1760.    Erotisches  Buch:  Lesbische  Liebe. 

Anonym:  Aus  den  Memoiren  einer  Sängerin.  Boston,  Re- 
ginald  Chesterfield.     Altena  1862.    2.  Bd. 

Bmichtigter  obscöner  Roman  in  der  Art  der  ,  Justine^ 
des  Marquis  de  Sade,  mit  Szenen  aller  möglichen  ge- 
schlechtlichen Combinationen;  Amor  lesbicus  spielt 
eine  Hauptrolle. 

Argens  d'Marquis:  Les  Nonnes  galantes.  Erotisches  Buch: 
Lesbische  Liebe  in  Nonnenklöstern. 

Archilochos  (um  700  v.  Chr.)  b.  K.  Fragment  eines 
Liedes  über  die  Lieblingsminne. 

Aristophanes.  Equites,  1280  ff.  —  Vespae,  1274  ff.  1347. 
—  Pax,  885.  —  Ranae,  1349. 

Bacchylides  (5.  Jahr.  v.  Chr.)  b.  K.  Gedicht:  ,Der 
Friede,*  der.es  ermöglicht,  dass  „gastliche  Mähler  der 
Liebe  feiern  die  Städte,  lodernd  erstehen  Sänger  der 
Lieblingsminne.  * 


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—    510    — 

Biccadelli^  Antonio  degli  (Panormita  gen.).  HermaphrodituB. 
Herausg.  von  Forberg.  Koburg  1824.  Eine  Sammlung 
lateinischer  Epigramme. 

Brand,  Adolph :  b.  K.  Eine  Anzahl  Gedichte,  die  Männer- 
liebe besingend  (nicht  im  Band  erschienen,  sondern 
meist  in  der  eingegangenen  von  Brand  herausgegebenen 
Zeitschrift  „Der  Eigene*  1898  und  1899).  Teilweise 
von  urwüchsiger,  schöner  Begabung  zeugend  und  fri- 
schem Empfinden. 

Bypon,  George  Noel  Gordon,  Lord.  Manfred. 

Durch  Byron's  Briefwechsel  und  durch  andere  per- 
sönliche Zeugnisse  ist  die  Thatsache  nun  vollkommen 
bekannt,  dass  das  Gedicht  , Manfred"  vom  Anfang  bis 
zu  Ende  nicht  nur  ein  Ausdruck  des  umischen  Gefühls 
für  Natur  imd  Einsamkeit  ist,  sondern  auch  ein  ver- 
stecktes persönliches  Bekenntnis  Byron's  von  seiner  heim- 
lichen Leidenschaft  für  einen  Freund  seines  eigenen  Ge- 
schlechts, Lord  Cläre,  oder  seinen  späteren,  gleichfalls 
wohlbekannten  Uming-Freund.  Unter  dem  lediglich 
allegorischen  Bild  der  „  Astarte  *  ist  nicht  ein  weiblicher, 
sondern  ein  männlicher  Geliebter  verborgen,  und  eine 
Leidenschaft  für  einen  Mann,  die  die  Grenzen  des  Nor- 
mal-Menschen so  sehr  überschritten  hat,  dass  sie  ein 
Gegenstand  lastenden  Kummers  und  doch  der  endlosen 
Sehnsucht  ist  (Briefl.  Mitteilung  von  Herrn  L*enaeus 
Prime-Stevenson.) 

Casanova:  Memoiren  (ed.  Alvensleben-Schmidt)  Bd. 
Vin,  S.  74—76:  Bericht  über  eine  lesbische  Szene 
zwischen  zwei  Frauen,  während  sie  einer  Hinrichtung 
beiwohnten. 

An  anderer  Stelle  wird  von  dem  Ueberfall  eines 
Italieners  auf  Casanova  zu  geschlechtlichen  Zwecken 
erzählt. 


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—    511    — 

Catullus,  Cajus  Valerius,  (geb.  87  v.  Chr )  b.  K.  Gedichte 
über  die  Männerliebe. 

Chaldun,  Ibn,  (14.  Jahrb., arabischer  Historiker  u.  Dichter) 
b.  K.  Gedicht:  Er  möchte  ebenso  wie  die  Fische 
entwischen  aus  dem  Netz,  in  dem  der  £[iiabe  sein 
Herz  gefangen. 

Friedrich  der  Grosse  b.  K.  Gedichte:  „Den  Manen 
Cesarions*  (zum  ersten  Mal  bei  Kupffer  in  Ueber- 
setzimg  abgedruckt).  Klagelied  über  den  Tod  seines 
Geliebten  Cesarion. 

, Widmung*  und  „An  Cesarion":  Beide  bringen 
die  unverbrüchliche  Treue  und  Anhänglichkeit  Friedrich 
des  Grossen  für  Cesarion  zum  Ausdruck. 

Goethe,  Joh.  Wolfgang:  b.  K.  Winckelmann  und 
sein  Jahrhundert:  , Heidnisches*,  ^Freundschaft*, 
„Schönheit*.  (Alle  drei  Abschnitte  handeln  von  dem 
Wesen  der  Männerliebe  Winckelmanns). 

Goethe,  West-östlicher  Divari:  Saki  Nameh 
(Das  Schenkenbuch),  insbesondere  die  Wechselgespräche 
zwischen  dem  Dichter  und  dem  Schenken,  in  welchen 
das  sinnliche  Wohlgefallen  an  dem  Schenken  in  der 
Manier  der  orientalischen  Dichtung  wiedergegeben  wird. 

Goethe,  Faust,  IL  Th.,  5.  Akt:  Mephistopheles  be- 
trachtet die  Engel  mit  päderastischen  Gelüsten,  seine 
Wachsamkeit  wird  dadurch  eingeschläfert,  und  sie  ent- 
führen ihm  Faust. 

Goethe,  Wilhelm  Meisters  Wanderjahre,  ILBuch, 
Kap.  12.  Die  glühende  Freundschaft  des  Eoiaben 
Goethe  zu  dem  Fischerknaben,  das  gemeinsame  Bad, 
die  gegenseitige  Zuneigung,  („unter  den  feurigsten  Küssen 
schwuren  wir  eine  ewige  Freundschaft*)  und  Goethe^s 
fast  unnatürlicher  Schmerz  beim  Tode  des  Freundes. 
(Er  will  dem  Toten  seinen  Atem  durch  die  kalten 
Lippen  einblasen.) 


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—    512    — 

Goethe,  Yenetianische     Epigramme.    Epigramm 
39:    »Kehre  nicht,  liebliches  Kind,*  u.  s.  w.    Epi- 
gramm    88:      „Eine     einzige    Nacht    an     deinem 
Herzen!*  u.  s.  w. 

Notizbuch  von  der  schlesischen  Reise. 
»Knaben  liebt^  ich  wohl  auch,  doch  lieber  sind  mir 
die  Mädchen,  hab'  ich  als  Mädchen  sie  satt,  dient  sie 
als  Knabe  mir  noch.* 

Goethe,  Wilhelm  Meisters  Wanderjahre,  Drittes 
Buch,  Kap.  18.  In  dem  Schlusskapitel  kommt  wenigstens 
Goethe's  Entzücken  an  der  nackten  männlichen  Ge- 
stalt zum  Ausdruck,  wo  der  aus  dem  Wasser  gerettete 
Felix  entkleidet  auf  dem  Mantel  des  Vaters  liegt, 
»der  holdeste  Jüngling*,  und  Wilhelm  ausruft:  »Wirst 
du  doch  immer  aufe  Neue  hervorgebracht,  herrlich 
Ebenbild  Gottes!*  Auch  hier  geht  die  Umarmung 
des  nackten  Jünglings  voraus.  »So  standen  sie  fest 
umschlungen,  wie  Kastor  und  Pollux,  Brüder,  die  sich 
auf  dem  Wechsel wege  vom  Orkus  zum  Licht  begegnen.* 

Gutzkow,  Karl.  Der  Zauberer  von  Rom.  Roman. 
Spricht  gelegentlich  von  homosexuellem  Verkehr  der 
römischen  Geistlichkeit  und  weist  auf  Horaz, 
Shakespeare  und  Platen  als  Dichter  der  Männerliebe  hin. 

Heine,  Heinrich.  Die  Bäder  von  Lucca.  Reisebilder  U,  IL 
Verhöhnung  Platens. 

Herder,  Johann  Gottfried  v.:  Ideen  zur  Philosophie  der 
Geschichte  der  Menschheit,  b.  K.  Einen  sehr  schönen 
Abschnitt  über  die  Männerliebe,  ihre  Entwicklung  und 
Bedeutung  in  Griechenland  enthaltend. 

Herondas,  griechischer  Dichter  (3.  Jahrh.  v.  Gh.), 
Mimianben:  Szenen  aus  dem  griechischen  Volksleben 
in  Form  von  Dialogen.  In  dem  Mimianbus;  »Die 
beiden  Freundinnen*  oder  „Das  vertrauliche  Gespräch* 
ist  von  einem  unter  den  Frauen  von  Kios  bei  Ausübung 


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-  m  - 

lesbischer  Akte  damals  gebräuchlichen,  allgemein  ver« 
breiteten  Lederphallus  die  Rede. 

Hopaüus.  b.  K.  Carmina  I,  4.  Odew  II,  9.  III,  20.  IV,  1. 
IV,  10.  Epod.  XI.  „Mollibus  in  pueris  aut  in  puellis 
urere*. 

Ibykos:  (um  530  v.  Ch.)  b.  K.  Gedichte,  die  Männer- 
liebe besingend.  (Fragmente  bei  Athenaios.  XIII  564, 
Xm  601,  XV.) 

Kallimachos:  (um  300  v.  Ch.)  Gedicht«.  N  XLI  b.  K. 
Die  Hälfte  der  Seele  des  Dichters  ist  entschwunden 
zu  einem  Knaben,  von  Eros  geraubt. 

Kitir,  Joseph:  b.  K.  ^Strassenbild",  , Zaudernde  Liebe*, 
, Sturmliebe*.  (Alle  drei  beziehen  sich  auf  die  homo- 
sexuelle Liebe). 

Konstantinos :  (9.  oder  10.  Jabrh.  n.  Ch.)  b.  K.  Gedicht, 
den  Knaben  Eros  verherrlichend. 

Kupffer,  Elisar  von:  b.  K.  Gedichte.  Antinous:  Die 
Klage  Hadrians  um  seinen  toten  Liebling.  —  Der  Ge- 
nesende spricht —  und  ein  unbetiteltes Gedicht. 

Lermontow,  Michael  von:  b.  K.  Gedichte,  in  denen  zwar 
nur  von  Freundschaft  die  Rede  ist. 

Levetzow,  Karl,  Freiherr  von:  b.K.  Gedicht:  Begegn  ung. 

Ludwig  IL  von  Bayern:  b.  K.  Briefe  an  Richard 
Wagner,   welche   die  glühendste  Leidenschaft  atmen. 

Mairobert:  UEspion  Anglais.    London  1784. 

Bd.  X  Lettre  IX  „Confession  d'unejeune  fille*  S.  179 
bis  208.  Lettre  XI  »Suite  de  la  confession  d'une  jeune 
fiUe*  S.  248-275.  Lettre  XIV  „Suite  et  fin  de  la 
confession  d'une  jeune  fille*  S.  179 — 208.  Eingehende 
Schilderung  der  tribadischen  Vereinigung,  der  .secte 
Anandryne",  welche  im  „Tempel  der  Vesta*.  ihre  My- 
sterien feierte.  Darstellung  der  Einführung  eines  neu- 
gewonnenen Mitglieds  in  den  Klub. 

Sönac  de  Meilhan.  La  Foutromanie.  Po^me  lubrique 
ä  Sardanopolis,  aux  depens  des  amateurs.     1775. 

Jahrbuch  m.  33 


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—    514    — 

Sehr  bekanntes  Gedicht  (6  Gesänge  zu  je  300  Versen). 
Im  zweiten  Gesang  dringt  ein  von  Satyriasis  Ergriffener 
in  ein  Nonnenkloster:  Bei  diesem  Anlass  Ausfall  des 
Dichters  gegen  Tribadie  und  Päderastie. 

HayePy  Eduard  von:  b.  K.  Zwei  Gedichte,  welche 
der  Wonne  Ausdruck  verleihen ,  den  idealen  Freund 
für's  Leben  gefunden  zu  haben. 

Heleagros,  aus  Gadara  (um  80  v.  Ch.)  b.  K.  G  edichte, 
eine  grosse  Anzahl  an  verschiedene  geliebte  Jünglinge 
gerichtet. 

Hirabeau:  Ma  Conversion  (London  1783).  S.  165 
bis  168.  Beschreibung  einer  grossen  von  30  Hofdamen 
ausgeführten  Tribadenscene. 

Mohammed  Abu  Elkasim  Ben  Allel  Hariri.  b.  K« 
M  a k  a  m  e  n  (übersetzt  von  Friedrich  Rückert),  insbesondere 
die  achte:  Das  Eidesformular.  Erzählung  von 
dem  Wali  (Richter),  dessen  Neigung  durch  einen  schönen 
Jüngling  und  seinen  Vater  ausgenützt  wird.  Ferner  die 
zehnte:  .Lass  Labe  dir  schenken  —  Vom  lieblichen 
Schenken  —  Denn  Liebe  zu  schenken  —  Das  Herz  ist 
gemacht" 

AI  Hotanüd,  (König  von  SeviUa^  11.  Jahrh.)  b.  K. 

Gedichte^  übersetzt  von  Graf  von  Schack.  Glühende 
Verherrlichung  jugendlicher    Schenken    und    Krieger. 

Ovid  (Publius  Ovidius  Naso.)  b.  K.  Metamorphosen. 
N.  X.  Hyacinthus:  Phöbus  tötet  im  Wettkampf 
mit  seinem  Speer  aus  Unvorsichtigkeit  seinen  Geliebten 
Hyacinth.  Aus  der  mit  dem  Blut  des  Getöteten  be- 
sprengten Erde  spriesst  auf  die  Klagen  des  Gottes  hin 
seinem  Wunsche  entsprechend  eine  Blume  empor 
mit  dem  Zeichen  seines  Wehrufs  {ai,  a$)  auf  den 
Blättern. 

N.  lU.  Narcissus:  Der  in  sein  eigenes  Bildnis 
verliebte  Jüngling;  seine  Schönheit  wird  von  Ovid  mit 
verführerischen  Farben  gezeichnet. 


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—  kl  -- 

Palgrave,  F.  G.  Hermann  —  Agha.  London  and  ifew- 
York.    (New-York,  Henry  Holt,  1874.) 

In  dieser  glänzenden  und  umständlich  „einstudierten'' 
orientalischen  Liebesgeschichte,  deren  Schauplatz  Elein- 
Asien  ist,  erzählt  der  Verfasser  nicht  nur  eine  dionidische 
Liebes-Episode,  sondern  giebt  uns  als  ein  wesentliches 
Element  die  Umings-Liebe  zwischen  zwei  Soldaten,  dem 
Helden  und  seinem  Waffenbruder  Wodanih.  Die  Zere- 
monie des  wechselseitigen  Bluttrinkens  ist  mit  Einfalt 
und  Macht  dargestellt,  und  der  Tod  des  einen  Teils 
des  Paares  ist  auffallend  leidenschaftlich  geschrieben. 
Der  Verfasser,  ein  ausgezeichneter  orientalischer  Reisen- 
der, starb  vor  einigen  Jahren  im  Orient. 

Parthenlos,  um  70  v.  Ch.  b.  K.  Leiden  der  Liebe- 
Darin  die  zwei  Erzählungen:  1.  Antileon  undHip- 
parinos.  Antileon  holt  die  Glocke  von  der  Burg,  um 
dadurch  den  geliebten  Hipparinos,  der  die  kühne  That 
verlangt,  zu  gewinnen,  später  tötet  er  den  ihm  nach- 
stellenden Tyrannen,  bei  der  Flucht  stürzt  er  über  zu- 
sammengekoppelte Schafe  und  wird  dadurch  von  den 
Verfolgern  erreicht.  Den  beiden  Geliebten  wird  später 
ein  Standbild  errichtet  und  das  Verbot  erlassen,  dass 
Niemand  mehr  die  Schafe  gekoppelt  treiben  dürfe.  — 
2.  Hipparinos  und  Achaios.  Hipparinos  tötet  aus 
Versehen  seinen  siegreich  aus  der  Schlacht  zurückkehren- 
den Geliebten  Achaios. 

Pindar:  (500  V.  Ch.)  b.  K,    Gedichte. 

Prime-Stevenson,  E.  tenaeus.  Left  to  Themselves  or 
the  Fortunes  of  Philip  and  Gerald.  (Londoner  Aus- 
gabe: , Philip  and  Gerald*).  New-York,  Philips  <& Hund; 
London,  Hodder  &  Stonghton. 

Diese  angeblich  für  jüngere  Leser  geschriebene 
Erzählung  ist  dieser  Leserklasse  in  Wirklichkeit  weit 
voraus,  und  gegen  den  Schluss  ist  sie  ersichtlich  für 
ein   erwachsenes  Publikum.   Sie  beschreibt,  etwa  wie  im 

88* 

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—    516    — 

Falle  der  englischen  Schul-Erzählung  »Tim",  eine  tiefe, 
hochgespannte  und  selbstaafopfernde  Liebe  zwischen  zwei 
Jünglingen,  besonders  von  Seiten  des  älteren,  Philipp,  zu 
seinem  SchützUng  Gerald.  Die  Erzählung  ist  gelegent^ 
lieh  dramatisch.  Die  Beschaffenheit  des  Verständnisses 
für  die  erste  Entwicklung  der  Urnings-Liebe,  die  ge- 
heinmisvolle  Umings-Hingebung,  ist  sorgfältig  und  fein 
gezeichnet 

Prime- Stevenson,  E.  Irenaeus.  A  Great  Patience. 
(Scribner's  Magazine,  Jahrg.  1899.  New-York-London.) 
Eine  hochdramatische  Skizze  eines  Urnings  und  eines 
Dionid-Umings,  deren  lange  und  von  Aussenstehenden 
kaum  geahnte  Beziehung  plötzlich  im  frühen  Knaben- 
alter begann,  entwickelt  sich  zu  einem  tragischen  Schluss. 
Der  Schauplatz  ist  London. 

Prime-StevensoD,  E.  Lrenaeus.  Manj  Waters.  (New- York, 
The  Chrt.  Union,  1885). 

Eine  tief  uranidische  Erzählung  von  der  leiden- 
schaftlichen Neigung  zweier  Musiker,  die  beide  Urninge 
sind,  in  deren  Bann  der  jüngere  bereit  ist,  seinen 
eigenen  Ruf  für  den  anderen  zu  opfern  sowie  einen 
groben  Ehebruch  zu  verzeihen. 

Prlme-Stevenson,     E.    L-enaeus.      Weed     and     Flour. 
(„Musik".    Chicago  189—). 

Rückertt    Friedrich.    Oestliche    Rosen:      Der    Schenke. 
(Poetische  Werke,  Bd.  5). 

Rückert,  Friedrich.     Saul  und   David,  Drama.     (Szene 
zwischen  David  und  Jonathan.  Poetische  Werke,  Bd.  9). 

Sacher-Hasoch,  Leop.  v.  Die  Einsamen.  Mannheim,  1891. 
Die  einfache,  ruhige  Zeichnung  eines  Urnings,  welcher 
der  Einsamkeit  und  Verzweiflung  durch  die  dionische 
Liebe  zu  einem  geringen  Landmädchen  entrissen  wird, 
das  ihn  bemitleidet  und  seine  Gefährtin  wird,  ohne 
seine  Seele  zu  verstehen. 

Sade,  Marquis  de:    La  nouvelle  Justine  ou  les  malheurs 


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-    517    — 

de  la  vertu,  suivi  de  l'histoire  de  Juliette,  sa  soeur  ou 
les  prosp^rit^  du  vice.  Aufl.  von  1797  10  Baude,  4 
der  , Justine*,  6  der  ^Juliette*  angehörend. 

Die  bekannten  obscönen  Komane  des  berüchtigten 
Marquis  (vergl.  oben  die  Besprechung  des  Buches 
von   D  Uhren:    Der  Marquis  de  Sade  u.  seine  Zeit.) 

Sade,  Marquis  de:  La  Philosophie  dans  le  boudoir  ou 
les  instituteurs  immoraux.  1.  Aufl.  1795,  2.  Aufl.  1805. 
Das  Hauptthema:  Die  Erziehung  eines  jungen 
Mädchens  zum  Laster,  wird  in  Form  vou  Dialogen  und 
langen,  lebhaften  Vorträgen  eröffnet^  die  nur  ab  und 
zu  von  praktischen  Ausführungen  der  gepredigten  Aus- 
schweifungen unterbrochen  werden.  Die  Handlung  tritt 
zurück  hinter  den  theoretischen  Erörterungen.  (Dühren 
S.  370). 

Schaufert,  Hippolyt  August:  Schach  dem  König. 
Preisgekröntes  Lustspiel.  Wien  1869.  König  Jakob 
I.  lässt  sich  bestechen  durch  die  Schönheit  eines 
Mädchens,  das  sich,  als  Jüngling  verkleidet,  ihm  nähert 
und  von  ihm  für  einen  Jüngling  gehalten  wird. 

Schiller,  Friedrich,  b.  K.  Freundschaft,  ein  noch 
ungedruckter  B^man:  Die  Briefe  von  Julius  an  Raphael 
mit  einer  Stelle  leidenschaftlichen  Liebesergusses. 

Swinbume,  Algemon  Charles.  Anactoria  (Poems  and 
Ballads).  Dies  Gedicht  ist  als  leidenschaftlicher  Aus- 
druck für  die  Liebe  der  Sappho  aus  dem  schon  im 
Jahrgang  II  aufgeführten  Buche  besonders  hervor- 
zuheben. 

Tatios,  Achilleus:  (5.  Jahrh.  n.  Ch,)  b.  K.  Kleitophon 
und  Leukippe.  Buch  II,  K.  35:  Gespräch  zwischen 
Kleitophon  und  Menelaos ;  sie  vergleichen  die  Männer- 
und  Weiberliebe  mit  einander;  der  eine  schätzt  die 
Umarmung  und  Küsse  des  Weibes,  der  andere  die  des 
Jünglings  höher. 

Tausend  und  eine   Nacht  (arabische    Erzählungen    aus 


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—    518    — 

dem  15.  und  16.  Jahrb.).  Die  Geschichte  des 
dritteoKalenders.  Adjib  tötet,  wie  prophezeit  war, 
den  von  ihm  geliebten  Jüngling  aus  Zufall.  Die  Ge- 
schichte des  Prinzen  Kamr.  Die  Schönheit  des 
Geliebten  und  der  Liebesgenuss,  den  er  gewährt,  wird 
gepriesen. 

TheogrnlS  (um  540  v.  Gh.)  b.  K.  Gedichte:  Verherr- 
lichung der  Lieblingsminne  an  vielen  Stellen. 

Tlbullus,  Albius  (geb.  um  52  v.  Ch.)  b.  K.  Elegien: 
IV  und  IX  an  seinen  Geliebten  Marathus.  N.  IV:  All- 
gemeine Ratschläge  über  die  Kunst^  einen  Geliebten 
zu  fesseln,  Warnung  vor  käuflicher  Hingabe.  N.  IX: 
Klagen  über  die  Untreue  seines  Geliebten,  der  sich 
des  Geldes  wegen  einem  alten  Mann  hingegeben  hatte. 

Tieek,  Ludwig.  Der  Dichter  und  sein  Freund.  Novelle 
über  Shakespeare^s  Sonette. 

Verlaine,  Paul,  b.  K.  Les  hommes,  ungedruckte 
Sammlung  erotischer  Gedichte  über  die  Männerliebe. 
Von  einem  Gedicht:  Millee  Treb.  K.  3  Strophen 
abgedruckt.  Wohl  das  Talentvollste,  aber  auch  Kühnste, 
was  über  die  sinnliche  Seite  der  Männerliebe  gedichtet 
worden  ist 

Vli^  (Publius  Vergilius  Marc,  1.  Jahrh.  v.  Ch.)  b.  K. 
Die  Ekloge  an  Alexis.  Die  Klagen  und  die  Sehn- 
sucht des  Hirten  Korydon  (Vergil)  nach  dem  ihn  ver- 
schmähenden Alexis  (Alexander,  in  den  Virgil  verliebt). 
Aeneis.  Buch  V.  Der  Wettkampf,  in  welchem 
Euryalus  durch  die  Aufopferung  seines  Geliebten 
Nisus  siegt 

XenophOD  (um  300  v.  Ch.)  b.  K.  Habrokomes  und 
Antheia,  daraus:  Die  Erzählung  des  Habrokomes  von 
seinem  Geliebten  Hyperanthes,  der  durch  den  Aris- 
tomachos  entführt,  von  Habrokomes  unter  Ermordung 
des  Entführers  wieder  zurückgewonnen,  auf  der  Flucht 
p^b  Asien  umkommt, 


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—    519    — 

Zoja,  Emile,  Paris  (Ed.  Charpentier,  Paris  1898).  Roman. 
Hyacinthe,  der  Sohn  des  vielfachen  Millionärs  Duvillard, 
wird  als  der  Vertreter  der  entarteten  Nachkommen- 
schaft des  verfaulten  reichen  Bürgertums  geschildert, 
als  ein  effeminierter,  weichlicher,  etwas  dummer  Konträr- 
Sexualer,  der  seine  Sucht  nach  dem  Anormalen  und 
Seltsamen  überhaupt  und  seinen  Abscheu  vor  dem  Weib 
(er  schwärmt  im  Namen  der  Schönheit  für  die  uni- 
sexuelle Heirat,  die  keine  Kinder  erzeugt,  S.  520)  in 
abgeschmackter  Selbstgefälligkeit  und  dünkelhafter 
Eitelkeit  hervorkehrt.  Eine  Nebenfigur,  Bargez,  der 
Hochstapler,  ist  gleichfalls  als  Homosexueller  gezeichnet, 
z.  vergl.  namentlich  S.  277,  wo  er  mit  seinen  beiden 
^Liebschaften*  (S.  397),  einem  früheren  »italienischen 
Modell,  der  zur  leichten  Existenz  der  zweifelhaften 
Berufe  hinabgesunken*,  und  einem  unbärtigen,  wie  ein 
Mädchen  gekämmten  Pariser  Jüngling  den  modischen 
Tingeltangel  besucht. 


P.  S.  Ich  konnte  nur  einen  Teil  der  Korrekturen 
durchsehen  und  diesen  nur  in  der  allergrössten  Eile.  Ich 
rauss  deshalb  die  Verantwortung  für  Unrichtigkeiten, 
Fehler  und  Unebenheiten  ablehnen. 

Numa  Prätorius. 


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Der  Prozess  von  Georges  Eekhoud  wegen 
seines  Romanes  „Escal-Vigor". 

Georges  Eekhoud,  der  bekannte  Schriftsteller,  der 
dem  vorjährigen  Jahrbuch  die  interessante  Studie  über 
den  homosexuellen  Bildhauer  Duquesnoj  gewidmet  hatte, 
ist  wegen  Angriffs  auf  die  öffentliche  Schamhaftigkeit, 
begangen  durch  seinen  Roman  „Blscal-Vigor*,  von  der 
Staatsanwaltschaft  in  Brügge  gerichtlich  verfolgt  worden. 
Selbst  in  Deutschland  —  trotz  der  in  den  letzten  Jahren 
so  häufig  hervorgetretenen  rückschrittlichen  Tendenzen 
und  Knebelungsversuche  freier  künstlerischer  Produkte 
—  hätte  sich  doch  kaum  ein  Staatsanwalt  gefunden,  der 
gegen  die  Veröffentlichung  eines  solchen  Romans  einge- 
schritten wäre.  Um  so  mehr  setzt  es  in  Erstaunen,  dass 
dies  in  dem  sonst  in  jeder  Beziehung  so  freien  Belgien 
möglich  war.  Noch  unbegreiflicher  erscheint  es,  dass 
gerade  das  künstlerisch  vollendetste  Werk  des  Dichters 
beanstandet  wurde.  Nirgends  begegnet  man  bei  Eekhoud 
der  Schilderung  brutaler  Sinnlichkeit,  geschweige  denn 
lasciven  Darstellungen,  überall  ist  das  geschlechtliche 
Moment  idealisiert  und  künstlerisch  verschleiert,  aber  in 
gewissen  seiner  Novellen  sind  derbere  Szenen,  gewagtere 
Situationen  homosexuellen  Inhalte  als  in  dem  poetischen, 
teilweise  von  Platonischem  Geist  durchwehten,  wenn  auch 
aus  dem  feurigen  Temperament  eines  modernen  Künstlers 
herausgewachsenen  und  von  ihm  durchglühten  „Escal- 
Vigor*  anzutreffen.  —  In  meiner  Besprechung  von  Eek- 


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—    521    — 

houds  Werken  im  vorjährigen  Jahrbuch  habe  ich  «Escal^ 
Vigor",  wie  folgt,  charakterisiert:  —  „^Escal-Vigor*,  viel- 
leicht der  schönste,  echt  künstlerische  Umingsroman,  der 
auch,  was  Aufbau,  Geschick  der  Darstellung,  psycho- 
logisches Verständnis  und  lyrischen  Schwung  anbelangt, 
als  vortrefflich  bezeichnet  werden  muss,  behandelt  die 
Liebe  eines  jungen,  mit  allen  Vorzügen  des  Geistes  und 
Körpers  ausgestatteten  Grafen  zu  Gidon,  dem  einfachen 
Bauemburschen,  dessen  Erziehung  der  Graf  unternimmt, 
den  er  zu  sich  emporhebt  und  in  dem  er  das  Ideal  von 
Jugendschönheit  und  Charaktergtite  findet.  —  Per  Roman 
gewährt  zugleich  einen  Einblick  in  die  Seelenkämpfe  und 
-Qualen,  die  ein  HomosexueUer  durchzumachen  hat^  bis 
er  sich  zur  Erkenntnis  seiner  Natur  und  der  Berechtigung 
seiner  Liebe  durchgerungen.  Er  schildert  sodann  nicht 
nur  die  Entwicklung  der  Leidenschaft  des  Grafen  zu 
Gidon,  sondern  auch  den  Eindruck  dieser  Leidenschaft 
auf  die  Umgebung  und  den  Ansturm  der  Vorurteile 
gegen  sie.  Ueberall  begegnet  der  Graf  dem  Misstrauen, 
der  Verleumdung,  der  Bosheit  und  dem  Hass;  nur  eine 
Frau,  die  ihn  hoffnungslos  liebt,  vermag  ihm  Mitleid  und 
Verständnis  entgegenzubringen.  In  einer  grandiosen 
Schlussszene  prachtvollen  Kolorits  wird  der  tragische 
Untergang  des  Geliebten  dargestellt,  der  an  einem  Tage 
allgemeiner  Volksbelustigung,  wo  die  entfesselte  Sinn- 
lichkeit des  Volkes  wahre  Orgien  feiert,  durch  wütende 
Frauen  —  echte  Mänaden  —  getötet  wird."  —  Ich  will 
dieser  damaligen  Charakteristik  noch  Folgendes  hinzu- 
fügen: 

In  dem  Roman  wird  nirgends  ein  geschlechtlicher 
Akt  zMrischen  dem  Grafen  und  Gidon  angedeutet^  ge- 
schweige denn  ausgemalt,  das  einzige  sinnliche  Vor- 
kommnis ist  eine  Umarmung  Beider,  als  der  Graf  dem 
Jungen  seine  Liebe  gestanden.  Das  ganze  Verhältnis 
wird   von  E^khoud   nicht  als  grobsinnliches,   sondern  im 


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—    522    — 

Sinne  des  Platonischen  Eros  als  eine  edle  Leidenschaft^ 
als  eine  das  Wohl  und  Beste  des  Geliebten,  seine  Bil- 
dung und  Vervollkommnung  bezweckende  Zuneigung  auf- 
gefasst.  Gerade  um  jede  Missdeutung  auszuschliessen, 
hat  der  Dichter  den  Diener  des  Grafen,  den  Schurken 
Laudrillon,  dessen  gemeine  Seele,  unfähig,  die  wahre 
Natur  des  Bundes  zwischen  seinem  Herrn  und  Gidon  zu 
verstehen,  ihn  nur  durch  Motive  der  Lüsternheit  und 
niedrigster  Geschlechtlichkeit  zu  erklären  vermag,  mit 
besonderer  Verachtung  gezeichnet  —  Eekhoud  hat  in 
seinem  Koman  nicht  nur  das  homosexuelle  Problem  be- 
handelt, sondern  auch  den  religiösen  Fanatismus,  die  eng- 
herzige, an  dem  Buchstaben  klebende  Orthodoxie  und  die 
heuchlerische  Scheinheiligkeit  in  oft  sehr  herben  Worten 
gegeisselt  —  Man  wird  sich  nicht  irren,  wenn  man  den 
Grund  der  Verfolgung  und  jedenfalls  der  Anzeige  nicht 
so  sehr  in  einer  Äergernisnahme  an  dem  homosexuellen 
Inhalt  des  Etomans  erblickt,  als  in  dem  Streben,  den  in 
dem  Werke  unverhüllt  sich  entfaltenden  freiheitlichen 
Geist  zu  knebeln.  —  Die  Anzeige  an  die  Staatsanwalt- 
schaft erfolgte  im  Sommer  1899  seitens  eines  Sittlichkeits- 
vereins in  Brügge.  —  Die  Untersuchung  dauerte  monate- 
lang und  erst  am  24.  Oktober  1900  kam  die  Sache  vor 
dem  Schwurgericht  zu  Brügge  zur  Verhandlung.  Eine 
grosse  Anzahl  französischer  Schriftsteller  —  über  Hun- 
dert —  und  verschiedene  ausländische,  darunter  die 
glänzendsten  Namen  der  Kunst  und  Litteratur,  Männer 
aller  Konfessionen  und  aller  Richtungen,  veröffentlichten 
folgende  Protesterklärung: 

„Georges  Eekhoud,  dessen  gesamte  Werke  ernst  und 
gewissenhaft  sind,  hat  eine  Studie  herausgegeben,  die  wie 
seine  übrigen  Schriftwerke  nur  von  dem  philosophischen 
und  künstlerischen  Streben  erfüllt  ist:  ,Escal-Vigor'. 
Trotzdem  wird  dieses  Buch  als  gegen  die  guten  Sitten 
verstossend  verfolgt.     Bei  dieser  Gelegenheit  fühlen  sich 


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—     523    — 

die  unterzeichneten  französischen  Schriftsteller  verpflichtet, 
ihrem  Kollegen  Eekhoud  ihre  Hoohaohtang  zum  Ausdruck 
zu  bringen  und  sie  bedauern  den  Angriff,  der  an  seiner 
Person  gegen  die  Freiheit  der  Kunst  und  des  Gedankens 
unternommen  worden  ist." 

Um  die  Aufirechterhaltung  der  Anklage  zu  ermög- 
lichen, hat  die  Behörde  nicht  nur  das,  was  in  dem  Roman 
geschieht  und  geschildert  wird,  beanstandet  —  denn  dies 
hätte  keinesfalls  genügt  —  sondern  vermutete  Ab- 
sichten und  etwaige  geschlechtliche  Handlungen  den 
Personen  des  Romans  untergeschoben. 

Ueber  den  Verlauf  der  Verhandlung  berichtet  Eekhoud 
selber  in  der  Dezembemummer  des,Mercure  de  France^ 
Er  sagt  unter  Anderm:  ,Im  Gefühl  meiner  reinen  Ab- 
sichten und  meines  guten  Gewissens  hatte  ich  während 
der  Voruntersuchung  der  Behörde  auf  ihr  Verlangen  hin 
gewisse  Spezialwerke  geliehen,  aus  welchen  ich  einige  er- 
greifende Offenbarungen  über  den  Zustand  beständiger 
moralischer  Tortur  der  Invertierten  entnommen  hatte. 
Was  that  die  Staatsanwaltschaft?  Sie  liess  die  psycho- 
logischen und  seelischen  Ergebnisse,  die  einzigen,  die 
mich  in  diesen  Büchern  für  die  Ausarbeitung  meines 
Romans  interessiert  hatten,  bei  Seite,  suchte  und  hob  in 
den  gesamten  Schriftien  alle  widrigen  Einzelheiten,  alle 
Beschreibungen  der  rein  geschlechtlichen  Praktiken  her- 
vor und  schrieb  dann  den  beiden  Helden  aus  ,Escal- 
Vigor^  die  Gesamtheit  aller  physiologischen  Exzesse  zu, 
welche  die  Aerzte  aufzählen.  Sie  wollte  mich  verur- 
teilen lassen  nicht  wegen  dessen,  was  ich  geschrieben, 
sondern  was  ich  hätte  schreiben  können.* 

Zwei  Irrenärzte   waren    von   der  Anklage   als  Sach- 
verständige  geladen,   welche    ^Escal-Vigor*    wegen   des 
darin  behandelten  Problems  für  sozial  schädlich  erklärten. 
Gegenüber  diesen  Sachverständigen  bekundeten  etwa 
20  Zeugen  der  Verteidigung:  Schriftsteller,  üniversiölte» 


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—    524    — 

Professoren,  Kritiker  o.  s.  w.  —  die  bekanotesten  Namen 
der  Kunst  und  Litteratur  Belgiens  —  den  Kunstwert  und 
den  sittlichen  Ernst  des  Romans.  ,  Unter  den  Zeugen, 
berichtet  Eekhoud,  waren  strenggläubige  Katholiken  und 
Künstler,  mit  denen  ich  mich  schon  in  Konflikt  oder 
wenigstens  in  Meinungsverschiedenheit  befunden  hatte. 
Alle  aber  brachten  mir  den  Ausdruck  ihrer  Achtung  und 
litterarischen  Solidarität,  einmütig  die  beleidigende  und 
phantasievolle  Deutung  zurückweisend,  welche  die  An- 
klage und  ihre  Helfershelfer  „Escal-Vigor*  gegeben 
hatten.  Die  Staatsanwaltschafl  hatte  kein  Glück.  Sie  hatte 
sich  geschmeichelt,  wenigstens  einen  Künstler  den  von 
der  Verteidigung  geladenen  gegenüberstellen  zu  können, 
sie  brachte  mir  aber  nur  ein  Zeugnis  der  Achtung  mehr. 
Georges  Virrfes,  der  bekannte  katholische  Schriftsteller, 
obgleich  er  von  seinem  Standpunkt  als  Katholik  ge- 
wisse Vorbehalte  über  die  philosophische  Tragweite  meines 
Buches  machte,  weigerte  sich  dennoch  wie  die  übrigen, 
in  diesem  etwas  Anderes  als  ein  Kunstwerk  zu  sehen 
und  wies  ebenso  energisch  wie  die  Zeugen  der  Verteidigung 
die  von  den  sogenannten  Wächtern  der  öffentlichen  Sitt- 
lichkeit erdachten  Scheusslichkeiten  zurück.* 

Nach  einer  glänzenden  Verteidigungsrede  des  in 
Belgien  rühmlichst  bekannten  Schriftstellers  und  Advo- 
katen Edmond  Picard  wurde  Eekhoud,  wie  es  ja  ge- 
schehen musste,  freigesprochen. 

Auch  das  wissenschaftlich-humanitäre  Komit^  hatte 
ein  Gutachten  über  den  Eoman  vom  medizinischen  Stand- 
punkt aus  eingesandt  Dasselbe  wurde  jedoch  zu  spät 
von  Eekhoud  einverlangt,  um  noch  übersetzt  und  in  der 
Verhandlung  benützt  werden  zu  können.  Eekhoud  will 
dasselbe  in  der  nächsten  Auflage  des  Romans  als  Ein- 
leitung veröffentlichen.  In  dem  Gutachten  wurde  hervor- 
gehoben, dass  Eekhoud  nicht  etwa  ein  Laster  verherrlicht^ 
sondern  nur  eine  angeborene,   höchstens   als  krankhaft^ 


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—    525    — 

aber  nicht  als  verbrecherisch  zu  bezeichnende  Neigung 
behandelt  habe,  dass  dieser  Trieb  ebenso  wie  die  normale 
Liebe  eine  edlere,  idealere  Seite  aufweise,  dass  Eekhoud 
gerade  einen  geistig  und  sittlich  höher  stehenden  Homo- 
sexuellen zum  Helden  gewählt  habe,  dass  von  einer  un- 
sittlichen oder  gar  unzüchtigen  Tendenz  nicht  im  Ent- 
ferntesten die  E.ede  sein  könne,  dass,  wenn  man  von 
Tendenz  bei  einem  Kunstwerk  wie  Escal-Vigor  über- 
haupt sprechen  wolle,  diese  nur  dahin  gehe,  den  sinnlichen 
und  geschlechtlichen  Charakter  der  Homosexualität  des 
Helden  in  einer  Weise  in  den  Hintergrund  zu  stellen, 
wie  es  in  der  Wirklichkeit  beim  Homosexuellen  nicht  oft 
der  Fall  wäre. 

Der  Prozess  hat  ganz  andere  Folgen  gehabt,  als  die 
Feinde  Eekhouds  erwartet  hatten.  Der  Dichter  ist  nicht 
nur  freigesprochen,  sondern  sein  Name  weit  über  Belgiens 
Grenzen  hinaus  bekannt  geworden.  Sein  Buch  hat  in 
den  letzten  Monaten  rasch  die  5.  Auflage  erlebt. 

Dr.  jur.  Numa  Prätorius. 


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Zeitungsausschnitte. 
Vorbemerkung. 

Wir  bringen  auch  dieses  Mal  der  Tagespresse 
der  letzten  und  früheren  Jahre  entnommene  Mitteilungen^ 
in  bunter  Reihenfolge,  wie  wir  sie  erhielten.  Den  Damen 
und  Herren,  -welche  sie  übersandten,  verbindlichsten  Dank! 
Auch  diejenigen,  deren  Zusendungen  hier  nicht  abgedruckt 
sind,  zum  Teil  aus  dem  Grunde,  weil  sie  zu  wenig 
Charakteristisches  enthielten,  bitten  wir  um  weitere  Ueber- 
weisungen. 


Ein  Hädohen  in  Männerkleidern.  Vor  dem  Gebäude 
der  Polizeidirektion  in  Wien  promenierte  ein  junger,  bartloser 
Mann,  der  sich  durch  sein  scheues  Benehmen  auffällig  machte.  Er 
schien  unschlüssig  zu  sein,  ob  er  das  Gebäude  betreten  solle  oder 
nicht.  Ein  Polizeiagent,  der  den  Betreffenden  eine  Weile  beobachtet 
hatte,  trat  auf  ihn  zu  und  fragte  ihn,  ob  er  vielleicht  etwas  suche, 
worauf  der  junge  Mann  erwiderte,  er  wünsche  ein  Arbeitsbuch  von 
der  Polizei  zu  erhalten,  man  habe  ihn  vom  Magistrat  hierher  ge- 
wiesen. Man  führte  den  jungen  Mann  zum  Stadtkommissariat,  dort 
konnte  aber  seinem  Wunsche  nicht  entsprochen  werden,  da  er  keiner- 
lei Dokumente  vorzulegen  im  Stande  war.  Bei  dem  Protokoll,  das 
mit  ihm  nun  aufgenommen  wurde,  war  sein  ganzes  Gehaben  so 
eigentümlich,  dass  der  Polizeibeamte  auf  die  Idee  kam,  der  junge 
Mann  sei  eigentlich  ein  —  Frauenzimmer.  Als  der  Beamte  diesem 
Verdachte  Ausdruck  gab,  gestand  alsbald  der  Junge  Mann''  imter 
Thränen,  ein  Mädchen  zu  sein.  Aus  den  weiteren  Geständnissen 
ging  hervor,  dass   dieses  Mädchen   seit  dritthalb  Jahren  nur 


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—    52?    — 

Männerkleider  getragen  habe.  Als  Grund  der  Verkleidung  gab 
das  Mädchen  an,  dass  es  als  Magd  bei  den  Bauern,  bei  denen  es 
diente,  sehr  viel  Nachstellungen  ausgesetzt  sei.  Die  letzte  Zeit  habe 
es  als  „Feldarbeiter"  das  Leben  gefristet,  und  auf  dem  Lande  habe 
Niemand  sein  wahres  Geschlecht  geahnt.  Da  die  Angaben  des 
Mädchens,  das  weder  schreiben  noch  lesen  konnte,  doch  Argwohn 
erweckten,  leitete  die  Polizei  Erhebungen  ein.  Dieselben  ergaben, 
dass  das  Mädchen,  dessen  geistige  Entwickelung  selir  zurückgeblieben 
ist,  sich  in  allen  Angaben  an  die  Wahrheit  gehalten  und  nichts 
Böses  angestellt  oder  im  Sinne  hatte.  Als  arbeits-  und  subsistenz- 
los  wird  nun  das  Mädchen  in  die  Heimatsgemeinde  gebracht  und 
ihm  auch  bedeutet  werden,  dass  es  nicht  mehr  in  Männerkleidem 
einhergehen  dUrfe.    (20.  8.  99.) 


Mainz,  12.  Mai  1900.  Einer  geradezu  unglaublich  g  e  m  e  i  n  en 
Erpressung  ist  ein  hiesiger  HandlungsgehUIfe  zum  Opfer  gefallen. 
Derselbe  gewährte  dem  25jährigen  Hammerschmied  Karl  Bernhard 
Braun  aus  Püllnitz  Nachtquartier  in  seinem  Zimmer  und  soll  sich 
dabei  gegen  den  §  175  Str.-G.-B.  vergangen  haben.  Braun  schwindelte 
dem  Handlungsgehülfen  nun  vor,  er  sei  ein  Detektiv  aus  Wiesbaden 
und  mit  seiner  Ueberwachung  betraut.  Da  er  ihn  jetzt  auf  fHscher 
That  abgefasst  habe,  so  werde  er  Anzeige  erstatten.  Durch  diese 
Drohungen  gelang  es  dem  Gauner,  von  dem  Handlungsgehülfen  in 
kurzer  Zeit  dessen  ganze  Ersparnisse  im  Betrage  von  Mk.  1000  zu 
erpressen.  Da  er  aber  immer  noch  melir  verlangte,  zeigte  der 
Düpierte  endlich  die  Sache  dem  Gericht  an,  das  in  seiner  gestrigen 
Verhandlung  vor  der  Strafkammer  den  Braun  in  Anbetracht  der 
Gemeingefährlichkeit  seines  Treibens  zu  drei  Jaliren  Gefängnis  ver- 
urteilte und  ihm  die  Ehrenrechte  auf  die  gleiche  Dauer  aberkannte. 


Der  Anführer  einer  frechen  Erpresserbande,  welche 
namentlich  den  Tiergarten  unsicher  zu  machen  pflegte,  ist  soeben  in 
der  Person  des  Kellners  Rudolph  P  riebe  gefänglich  eingezogen 
worden.  In  polizeilichen  Kreisen  wird  P.  als  der  „Schrecken  des 
Tiergartens''  bezeichnet.  Er  hat  erst  vor  kurzer  Zeit  ein  Jahr  und 
neun  Monate  Gefängnis  wegen  Erpressung  abgebüsst,  nach  seiner 
Haftentlassung  aber  sofort  sein  schändliches  Gewerbe  wieder  auf- 
genommen. Seine  Thätigkeit  bestand  besonders  darin,  dass  er  sich 
mit  seinen  Komplizen  in  der  Nähe  entlegener  Partieen  des  Tier- 
gartens in  den  Hinterhalt  legte  und  einsam  promenierenden  Herren 
auflauerte,  die  alsdann  belästigt  und  mit  frechen  Erpressungsver- 
suehen   wegen  angeblicher  lasterhafter  Ausschweifungen  verfolgt 


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-    5ä8   — 

wurden.  Das  Manöver  blieb  selten  ohne  Erfolg,  weil  die  Opfer  den 
öffentlichen  Skandal  fUrchteten.  Der  letzte  Fall,  welcher  zur  Ver- 
haÄ;ung  führte,  betraf  einen  Kaufmann  aus  einer  der  fashionablesten 
Strassen  in  der  Nähe  des  Königsplatzes.  Der  Kaufmann  hatte  auch 
zunächst  ein  Lösegeld  gezahlt,  als  aber  die  Forderungen  immer 
frecher  wurden,  griff  er  zu  dem  allein  richtigen  Mittel,  der  Anzeige 
bei  der  Staatsanwaltschaft. 


Eine  Verlobung,  die  in  ihrer  Art  vereinzelt  dastehen  dürfte, 
hat  eine  BeamtenfamiUe  in  grosse  Bestürzung  versetzt.  Vor  kurzem 
machte  die  17jährige  Tochter  auf  einem  Balle  die  Bekannt- 
schaft eines  jungen  Seemannes,  der  durch  seine  schmucke 
Uniform  und  seine  angenehmen  Manieren  sofort  ihr  Herz  gewann. 
Der  hübsche  Matrose  war,  wie  er  erzählte,  auf  längere  Zeit  beur- 
laubt. Nach  einigen  Wochen  schon  willigten  die  Eltern  in  eine 
Verlobung,  die  auch  regelrecht  bei  Musik  und  Tanz  gefeiert  wurde. 
Eines  Tages  war  der  Seemann  verschwunden.  Als  sich  die  ver- 
lassene Braut  an  Verwandte  wendete,  von  denen  der  Bräutigam 
früher  gelegentlich  gesprochen  hatte,  erfuhr  sie  zu  ihrer  grenzen- 
losen Ueberraschung,  dass  der  Auserwählte  ihres  Herzens  gar  kein 
Mann,  sondern  weiblichen  Geschlechts  sei.  Da  das  junge 
Mädchen  hieran  nicht  glauben  wollte,  wurde  ein  Zusammentreffen 
mit  dem  Bräutigam,  der  Berlin  noch  gar  nicht  verlassen  hatte,  er- 
möglicht. Hier  erschien  der  Bräutigam,  der  keine  Ahnung  hatte, 
wer  ihn  erwartete,  in  weiblicher  Kleidung.  Wie  sich  jetzt  heraus- 
gestellt hat,  ist  der  Verlobte  im  Unterrock  derselbe  weibliche 
Matrose,  der,  wie  jüngst  berichtet  wurde,  einen  Schneidermeister 
im  Norden  mit  zwei  Matrosen- Anzügen  prellte.  Der  Person  sieht 
man  allerdings  kaum  an,  dass  sie  zu  Evas  Geschlecht  gehört.  Männ- 
liche Gesichtszüge,  kurzgeschnittenes  Haar  erleichtem  die  Maskerade 
ganz  bedeutend.  Die  Eltern  sind  dem  Treiben  ihrer  Tochter  gegen- 
über völlig  machtios.  (21.  9.  1898.) 


In  Damenkleidern.  Welche  Sumpfpflanzen  in  der  Gross- 
stadtluft gedeihen,  zeigte  eine  Diebstahlsanklage,  die  gestern  vor 
dem  Schöffengericht  gegen  einen  Schneidergesellen  Namens  Julius 
Schulz  verhandelt  wurde.  Der  Angeklagte,  ein  Mensch  mit  ganz 
weibischen  Gesichtszügen  und  Körperbewegungen,  ist,  wie  aus  seinem 
Strafregister  hervorgeht,  schon  ein  halbes  Dutzend  Mal  mit  Haft 
bestraft  worden,  weil  er  in  Damenkleidem  Strassen  durchstreift  und 
groben  Unfug  verübt  Jetzt  stand  er  unter  der  Anklage,  einen 
Radmantel,  einen  Damenhut  und  eine  Perrücke  gestohlen  zu  haben, 


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—    529    — 

welche  Eigentum  eines  Tafeldeckers  waren.  Dieser,  sowie  die  üb- 
rigen drei  vernommenen  Zeugen  gehörten  nun  aber,  wie  die  Ver- 
handlung ergab,  sämtlich  zu  derselben  Spezies  von  jungen  Männern, 
welche  sich  in  Damenkleidem  des  Abends  in  den  Strassen  Berlins 
umhertreiben.  Der  Angeklagte  wie  die  Zeugen  machten  kein  Hehl 
aus  ihrer  Vorliebe  für  die  weibliche  Tracht,  und  der  Erstere  ver- 
kündete mit  einem  gewissen  Stolz,  dass  er  in  seinen  Kreisen  als 
„Julchen**  weit  bekannt  sei,  ^vährend  die  Belastungszeugen  die 
Ehrennamen  „Schlamassel-Jette",  „Tiger-Dame"  und  „Plansch-Guste" 
führen.  Bei  dieser  Maskerade  ist  es  natürlich  auf  unsauberen  Er- 
werb abgesehen.  Interessant  ist  es  jedenfalls,  dass  der  Angeklagte 
behauptete,  die  von  ihm  angeblich  gestohlenen  Damensacben  seien 
ihm  zur  Benutzung  bei  dem  grossen  Ball  geliehen  worden,  welchen 
die  Herren  und  „Damen"  dieser  Art  alljährlich  abzuhalten  pflegen. 
Behufs  weiterer  Aufklärung  musste  die  Verhandlung  vertagt 
werden. 


Eine  neue  Sekte  der  „Mannweiber"  hat  sich,  wie  wir 
den  „St.  Louis  News"  entnehmen,  in  diesem  Monat  in  St.  Louis  ge- 
bildet. Diese  sonderbare  Vereinigung  wurde  von  einigen  älteren 
unverheirateten  Damen  des  high  life  gegründet  und  zwar  zum  Be- 
weise dessen,  dass  die  Frauenwelt  keineswegs  zum  Leiden,  zum 
Dulden  dem  Manne  gegenüber  als  das  schwächere  Geschlecht  ge- 
boren sei.  Die  hagestolzen  Damen,  welche  schon  mehr  als  himdert 
Anhängerinnen  ihrer  Tendenzen  gefunden  haben  sollen,  leben  nach 
folgendem  Programm:  Jedes  Weib,  welches  der  Vereinigung  bei- 
tritt, muss  sich  verpflichten,  Männerkleidung  zu  tragen,  zu  rauchen, 
zu  trinken,  wie  die  Männer,  und  wöchentlich  zweimal  des  Abends 
im  Klubhause  zu  erscheinen.  Der  Strickstrumpf  und  die  Nadel  sind 
verbannt  aus  dem  Kreise  der  emanzipationslustigen  Frauen,  während 
Reiten,  Fechten  und  Turnen  die  erste  Stelle  in  dem  Vereins- 
programm einnehmen.  Jedes  Mitglied,  welches  in  die  Ehe  tritt, 
wird  ausgestossen  Mit  einem  religiösen  Nimbus  sucht  sich  diese 
Sekte  dadurch  zu  umgeben,  dass  sie  sich  eine  Patriai'chin  als  Ober- 
haupt gewählt  hat,  welche  jeden  Monat  einmal  sechs  Stunden  ohne 
Unterbrechung  nach  einem  Kellgionskodex,  der  sich  aus  christ- 
lichen und  muhamedanischen  Glaubenssätzen  aufbaut,  predigen 
muss.    (19.  12.  90.) 

Chemnitz,  22.  Dezember.  Ein  eigentümlicher  Er- 
pressungsprozess,  der  durch  die  begleitenden  Umstände  die 
allgemeine  Aufmerksamkeit  erregte,  gelangte  in  den  letzten  Tagen 

Jahrbuch  HI.  B4 


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—    530    — 

hier  zur  Aburteilung.  Seitens  eines  Übel  beleumundeten  jungen 
Menschen,  des  berufslosen  Paul  Heinrich  Prengel,  wurden  an  die 
Witwe  eines  im  April  verstorbenen,  zu  Lebzeiten  hochgeachteten 
hiesigen  Kaufmanns  Geldforderungen  gestellt,  die  diese  Dame 
schliesslich  bewogen,  die  Hilfe  der  Staatsanwaltschaft  anzurufen. 
Es  ergab  sich  jetzt,  dass  der  genannte  Bursche,  der  übrigens  aus 
ehrenwerter  Familie  stammt,  dem  verstorbenen  KauMann  in  der 
Zeit  vom  Februar  1889  bis  März  1891  nicht  weniger  als  40000  Mk. 
abgepresst  hat  Der  Verstorbene  scheint  völüg  im  Banne  des 
Prengel  gestanden  zu  haben,  denn  sobald  er  diesen  Taugenichts  er- 
blickte, liess  er  ihm  unter  den  Zeichen  äusserster  Furcht  grössere 
Geldbeträge  einhändigen.  Aber  Prengel  hatte  nur  das  Erbe  eines 
„Freundes''  angetreten,  eines  jetzt  verstorbenen  Lehrlings  im  Ge- 
schäft jenes  Kaufinanns,  der  seinem  Lehrherm  gleichfalls  20000  Mk. 
abpresste.  Dieser  junge  Verbrecher  hat  auf  dem  Sterbebette  den 
Prengel  gebeten,  nun  dem  Kaufmann  weitere  Gelder  nicht  mehr  ab- 
zupressen. Prengel  hat  sich  daran  jedoch  nicht  gekehrt,  sondern 
sein  verbrecherisches  Treiben  fortgesetzt  und  selbst,  wie  bemerkt, 
nach  dem  Tode  des  Kaufinanns  die  trauernde  Witwe  nicht  ver- 
schont. Welche  Gründe  der  KauMann  hatte,  zu  den  Erpressungen 
still  zu  schweigen,  ist  durch  die  Gerichtsverhandlung  nicht  genügend 
aufgeklärt  Prengel  hat  die  erhaltenen  Summen  in  der  unsinnigsten 
Weise  vergeudet,  unter  Anderem  seinen  Hund  mit  Cham- 
pagner getränkt  Der  Verbrecher  wurde  zu  4  Jahren 
3  Monaten  Gefängnis  und  5  Jahren  Ehrverlust  verurteilt 


Eine  dunkle  Geschichte.  Am  letzten  Sonntag  wurde  in 
Perleberg  ein  Mann  zu  Grabe  getragen,  der  aus  einem  recht 
eigentümlichen  Grunde  seinem  Leben  ein  Ende  gesetzt 
Während  der  Feiertage  erschoss  sich  in  Birnbaum  (Posen)  der 
82jährige  Amtsrichter  und  Leutnant  der  Beserve  Carl  Thiele, 
ohne  dass  man  zunächst  für  die  unselige  That  des  hofbungsvoUen 
jungen  Mannes  irgendwelchen  Anhalt  hatte.  Wie  nun  verlautet, 
soll  folgender  Vorgang  den  Amtsrichter  veranlasst  haben,  in  den 
Tod  zu  gehen.  Während  seiner  Studienzeit  verkehrte  Th.  sehr 
intim  mit  einem  Kommilitonen,  und  beide  hatten  sich  auf  Ehren- 
wort verpflichtet,  niemals  zu  heirateu.  Trotzdem  verlobte  sich 
Th.  vor  Kurzem  und  machte  auch  seinem  Freunde  hiervon  Mitteilung. 
Dieser  machte  ihm  nun  die  schwersten  Vorwürfe,  auch  der  Braut 
liess  er  Mitteilung  zukommen.  Th.  wusste  sich  wohl  keinen  anderen 
Bat  als  den  Bevolver.   —  Zum  Begräbnis  war  auch  der  erwähnte 


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y^Freimd^  ereohienen.  Tags  darauf  kaufte  derselbe  drei  Grabstellen 
in  unmittelbarer  Nähe  der  Gruft  des  freiwillig  aus  dem  Leben  Ge- 
schiedenen. —  Wer  soll  wohl  hier  seine  ewige  Ruhe  finden? 


Ein  Mann —  ein  Weib.  In  der  Zirkusgasse  in  der  I^eopold- 
stadt  wurde  Sonntag  auf  offener  Strasse  ein  dürftig  gekleideter 
Mann  in  tiefstem  Schlafe  gemächlich  hingestreckt  aufgefunden,  und 
es  bedurfte  nicht  erst  langer  Beobachtung,  um  zu  erkennen,  dass 
der  Schläfer  einen  Kapitalsrausch  hatte.  Der  Wachmann,  der  den 
Mann  wecken  wollte,  hatte  nicht  geringe  Mähe,  denselben  auf  die 
Herne  zu  stellen  und  auf  das  Kommissariat  zu  eskortieren;  dort 
musste  der  Betrunkene  vorerst  in  eine  Zelle  gebracht  werden,  damit 
er  sich  ernüchtere.  Ueber  Nacht  war  von  dem  Häfbling  der  Bausch 
einigermassen  gewichen,  und  nun  begann  die  polizeiübliche  Pro- 
zedur :  ärztliche  Visitation,  Abnahme  der  Generalien  etc.  Der  Arzt 
machte  gleich  an  dem  Manne  eine  Entdeckung,  die  ihn  nicht  wenig 
verdutzt  machte ;  er  konstatierte  nämlich,  dass  der  Arrestant  keines- 
wegs ein  Mann,  sondern  ein  Weib  war.  Im  Verlaufe  des  un- 
mittelbar nach  dieser  überraschenden  Feststellung  aufgenommenen 
Verhörs  gab  diese  merkwürdige  Frau  offen  zu,  dass  sie  schon 
seit  dreissig  Jahren  in  Männerkleidern  herumgehe  .  .  . 
Die  Frau  nannte  sich  P.  E.,  ist  gegenwärtig  53  Jahre  alt,  wohnt  in 
der  Haidgasse  Nr.  10  bei  einem  Schuhmacher  und  brachte  sich 
kümmerlich  als  Harfenist  fort  Sie  ist  angeblich  die  Tochter  eines 
höheren  Offiziers,  nach  dessen  Tode  sie  in*s  Waisenhaus  gebracht 
wurde,  welches  sie  noch  im  jugendlichen  Alter  verliess.  Nun  war 
sie,  da  ihr  die  Mutter  fehlte  und  sie  weder  Mittel  noch  an  Ver- 
wandten eine  Stütze  besass,  darauf  angewiesen,  sich  einen  Erwerb 
zu  suchen.  Da  kam  ihr,  der  von  aller  Welt  Verlassenen  und  über 
ihre  Hässlichkeit  Verbitterten,  der  sonderbare  Einfall,  die  Frauen- 
kleider abzulegen.  So  wurde  aus  dem  Fräulein  Paula  ein  Paul  E. 
Da  sie  das  Violinspielen  gelernt  hatte,  blieb  sie  bei  der  Musik  und 
zog  nun  von  Lokal  zu  Lokal,  bald  allein,  bald  in  Gesellschaft,  von 
dem  Elrträgnisse  ihrer  „Kunst"  stets  kümmerlich  genug  lebend  .  .  . 
Die  Polizeibehörde  wird  nach  dieser  Sachlage  gegen  P.  K  die  An- 
zeige wegen  Falschmeldung  an  das  Bezirksgericht  leiten. . 


Aus  dem  Dunkel  des  Tiergartens.  (23.  9.  1900.)  Das 
Treiben  des  lichtscheuen  Gesindels,  welches  den  Tiergarten  so 
oft  unsicher  macht,  erhielt  eine  grelle  Beleuchtung  durch  eine  gestern 
vor  dem  Schwurgericht  des  Landgerichts  I  verhandelte  Anklage 
wegen  Raubes.    Auf  der  Anklagebank  sassen  der  noch  jugend- 

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liehe  Hausdiener  Emil  Gräber,  der  Schlächter  Panl  Schleicher 
lind  der  Klempner  Otto  Sadrinna,  von  denen  die  beiden  Letzt- 
genannten der  Kriminalpolizei  schon  längere  Zeit  als  Verbrecher 
bekannt  sind,  die  in  sittlicher  Beziehung  auf  der  niedrigsten  Stufe 
stehen.  Nach  den  Ergebnissen  der  Beweisaufnahme,  die  unter  Aus- 
schluss der  Oeffentlichkeit  stattfand,  hat  Gräber  im  Tiergarten  Ge- 
legenheit gesucht  und  gefunden,  mit  einem  Techniker  ein  Gespräch 
anzuknüpfen  und  diesen  so  für  sich  zu  interessieren,  dass  der  Fremde 
sich  herbeiliess,  ihn  mit  in  den  Pariser  Keller  zu  nehmen  und,  da 
er  über  Hunger  klagte,  dort  auf  seine  Kosten  speisen  zu  lassen. 
Beide  gingen  darauf  wieder  in  den  Tiergarten  und  setzten  sich  auf 
eine  Bank  in  der  Nähe  des  Brandenburger  Thores.  Neben  ihnen 
nahmen  bald  noch  zwei  Personen  Platz,  die  plötzlich  dem  Techniker 
die  Arme  festhielten  und  ihn  so  in  die  Notlage  brachten,  ruhig  zu 
dulden,  dass  man  ihm  das  Portemonnaie  wegnahm.  Es  gelang  der 
Kriminalpolizei  nach  ganz  kurzer  Zeit,  noch  im  Tiergarten,  den 
ersten  Angeklagten  festzunehmen.  Aus  den  Beschreibungen,  die 
der  Beraubte  von  den  beiden  anderen  Männern  gab,  ersah  Kriminal- 
kommissar V.  Tresckow,  dass  es  sich  nur  um  die  beiden  letzten 
Angeklagten  handeln  könnte;  er  liess  diese  festnehmen  und  sie 
wurden  dann  auch  von  dem  Belastungszeugen  wiedererkannt  Das 
TrifoUum  hatte  ein  ganzes  Lügengebäude  errichtet  und  glaubte, 
durch  die  Irrgänge  desselben  dem  Staatsanwalt  entschlüpfen  zu 
können.  Sie  hatten  sich  getäuscht,  deim  auf  Grund  des  Wahr- 
spruches der  Geschworenen  verurteilte  der  Gerichtshof  den  An- 
geklagten Gräber  zu  2  Jahren  Gefängnis,  die  beiden  anderen 
Angeklagten  zu  je  5  Jahren  Zuchthaus. 

Von  einem  geheimnisvollen  Doppel  Selbstmord  meldet 
unser  es-Korrespondent  aus  Werdau  in  Sachsen.  Zwei  dortige  junge 
Handwerksgehilfen,  der  Barbiergehilfe  Alfred  Wolf  und  der  Müller- 
geselle Gebert,  haben  sich  durch  Erschiessen  entleibt.  Die  Beweg- 
gründe zu  der  That  stehen  noch  nicht  fest.  Durch  Inserate  in  den 
Werdauer  Lokalblättern  nahmen  die  Selbstmörder  herzlichen  Ab- 
schied von  allen  Freunden  und  Bekannten.  Nachmittags  in  der 
zweiten  Stunde  begaben  sie  sich  in  die  Dachkammer  Wolfs,  zogen 
die  besten  Anzüge  und  frische  Wäsche  an,  legten  sich  zusammen 
auf  das  Bett,  und  bald  darauf  krachten  zwei  Schüsse.  Die  Hinzu- 
eilenden, der  Hauswirt  und  der  Prinzipal  des  Barbiergehilfen,  fanden 
die  Selbstmörder  bereits  entseelt  vor.  Gebert  hatte  sich  mit  einem 
Teschin,  Wolf  mit  einem  Revolver  in  die  linke  Schläfe  geschossen. 
(3.  2.  1900.) 


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Aus  dem  GerichtssaaL  Die  Verhandlung  gegen  eine  aus 
8  Köpfen  bestehende  Diebesbande,  welche  gestern  die  4.  Straf- 
kammer des  Landgerichts  I  beschäftigte,  gestattete  Einblicke  in  das 
entsetzliche  Treiben  eines  lichtscheuen  Gesindels.  Angeklagt  waren 
1.  der  Schlächtergeselle  Wilhelm  Hosemann  (mit  Spitznamen  „Die 
Hosemannsche"),  2.  der  Stepper  Karl  Aug.  Hildebrandt  (Spitz- 
name „Die  Olle"),  3.  der  Schlächtergeselle  Gust.  Schonert  („Die 
Schöne"),  4.  der  Hausdiener  Gustav  Grimm  („Die  Sohminkjuste"), 
5.  der  Hausdiener  Wilhelm  Ltibke  („Lockenrieke**),  6.  der  Haus- 
diener Gustav  Hermann  Holweg  („Seiden-Guste"),  7.  der  Btiffetier 
Heinrich  Suhr  und  8.  der  Hausdiener  Ernst  Julius  Koschinski 
(^Der  Leutnant*').  Schon  die  Spitznamen  der  Angeklagten,  die  sich 
wegen  bandenmässigen  Diebstahls  zu  verantworten  hatten,  zeigen 
deutlich,  wess  Geistes  Kinder  sie  sind;  zum  Ueberfluss  brachte  der 
Vorsitzende  noch  zur  Sprache,  dass  sie  sämtlich  noch  in  verschiedenen 
Lokalen,  namentlich  auch  im  Luisenstädtischen  Konzerthause,  in 
Frauenkleidem  Bälle  zu  besuchen  pflegten.  Sämtliche  Angeklagte 
gruppierten  sich  um  Hildebrandt,  bei  dem  verschiedene  von  ihnen 
wohnten.  Bei  Hildebrandt  wurden  dann  auch  die  Eaubztige  geplant 
imd  besprochen,  die  sie  in  verschiedenen  Gruppen  durch  die  Strassen 
Berlins  unternahmen.  Sie  pflegten  die  grossen  Warenhäuser  zu 
besuchen;  einer  von  ihnen  unterhandelte  zum  Schein  wegen  An- 
kaufes irgend  eines  Gegenstandes,  und  diese  Zeit  benutzten  die 
Helfershelfer,  um  unbemerkt  Waren  der  verschiedensten  Art  ver- 
schwinden zu  lassen.  Als  die  Polizei  bei  Hildebrandt  Hausdurch- 
suchung abhielt,  fand  sie  ein  ganzes  Warenlager  gestohlener  Gegen- 
stände, welche  gestern,  in  drei  grosse  Reisekörbe  verpackt,  dem 
Gerichtshof  vorgeführt  wurden :  hohe  Ständerlampen  mit  Phantasie- 
Bchirmen,  Statuetten  aus  Bronze  und  Kupfer,  Majolikateller,  Damen- 
umhänge, 45  Paar  Lackstiefel  usw.  In  der  Weihnachtszeit  stahlen 
sie  besonders  Gänse,  Hasen,  Pfefferkuchen  usw.  Das  Urteil  lautete 
gegen  Hildebrandt  auf  4  Jahre  Zuchthaus,  gegen  Grimm  und  Ltibke 
auf  je  2Vi  Jahre  Gefängnis,  gegen  Schonert  auf  6  Monate,  gegen 
Holweg  auf  4  Monate  (unter  Anrechnung  von  2  Monaten),  gegen 
Suhr  auf  1  Monat,  gegen  Koschinski  auf  6  Wochen  Gefängnis.  Bei 
den  beiden  zuletzt  Genannten  wurde  die  Strafe  als  verbüsst  erachtet 
Hosemann  wurde  freigesprochen.    (Tägl.  Rundsch.  20.  8.  1898.) 

42  Jahre  in  Männerkleidern.  Aus  London  schreibt  man: 
Catharina  Coombes  hat  keine  Armee  befehligt,  hat  das  Vaterland 
nicht  gerettet  läuft  keine  Gefahr,  verbrannt,  und  hat  wenig  Aus- 
sicht]  heilig   gesprochen   zu   werden.    Aber   sie   hat  42  Jahre  als 


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Maler  in  Männerkleidem  gelebt  und  gearbeitet,  obendrein,  ohne  dass 
die  Welt  ihre  Weiblichkeit  ahnte.  Erst  jetzt,  als  im  Alter  von 
63  Jahren  Arbeitsunfähigkeit  sie  ins  Armenhaus  von  West  Harn 
trieb,  ist  ihr  Geheimnis  an  den  Tag  gekommen.  Man  hielt  sie  nicht 
für  recht  gescheidt,  als  sie  ihr  Gesuch  um  Aufnahme  in  die  Anstalt 
mit  den  Worten  begann :  „Ich  bin  eine  Frau."  Sie  fuhr  jedoch  un- 
beirrt fort:  „Ich  bin  geboren  in  Axbridge  in  der  Grafschaft  Somerset 
im  Jahre  1834  und  habe  in  der  Töchterschule  von  Cheltenham  eine 
vortreffliche  Erziehung  genossen.  Unglücklicherweise  heiratete  ich, 
kaum  16  Jahre  alt,  meinen  Vetter,  und  seiner  schlechten  Behand- 
lung wegen  trage  ich  seit  über  vierzig  Jahren  Männerkleidung.  Er 
war  ein  Taugenichts,  der,  nachdem  er  mein  kleines  Vermögen  durch- 
gebracht hatte,  seinen  Aerger  täglich  in  der  rohesten  Weise  an  mir 
auszulassen  suchte.  Ich  lief  ihm  weg,  aber  er  folgte  mir  überall 
hin.  Schliesslich  wusste  ich  nun,  um  mich  vor  ihm  zu  verbergen, 
keinen  anderen  Bat,  als  die  Kleidung  anzunehmen,  die  ich  seitdem 
getragen  habe.  Unter  dem  Namen  Charles  Wilson  wurde  ich  Stuben- 
maler und  habe  als  solcher  über  ein  Menschenalter  wöchentlich  über 
2  Pfund  Sterling  (40  Mark)  verdient.  Ich  hatte  den  ganzen  Tag 
Über  auswärts  zu  thun.  Ein  und  dasselbe  Mädchen  hatte  13  Jahre 
lang  meine  kleine  Wirtschaft  geführt  Sie  so  wenig  wie  irgend 
jemand  Anderer  hatte  je  daran  gezweifelt,  dass  ich  dem  Geschlecht 
angehörte,  dessen  Kleider  ich  trug.    Jetzt  bin  ich  alt  und  müde.^^ 

(12.  9.  1899.) 

Brauns chweig,  11.  Dezember.  Grosses  Aufsehen  erregt 
hier  das  Verschwinden  eines  höheren  Beamten  des  herzoglichen 
Finanzkollegiums,  des  Kegierungsrats  W.  Derselbe  wird  der  Ueber- 
tretung  des  §  175  des  Reichsstrafgesetzbuches  beschuldigt  und  hatte 
ein  gerichtliches  Einschreiten  zu  gewärtigen.  Man  bringt  hier  die 
Sache  in  Zusammenhang  mit  der  Verhaftung  des  Kaufmanns  P.  R., 
der  gleicher  Vergehen  beschuldigt  wird. 


Wegen  mehrfacher  Verbrechen  im  Sinne  des  §  175  des 
Strafgesetzbuchs  wurde  am  Sonnabend  der  Kaufmann  K  W.  aus 
Braunschweig  bei  seiner  Ankunft  in  Berlin  verhaftet  Zu  denjenigen 
Männern,  welche  mit  dem  Verhafteten  Beziehungen  unterhalten 
haben,  gehört  ein  Hofischauspieler  in  Braunschweig.  Die  Verhaftung 
erfolgte  auf  Requisition  der  dortigen  Polizeibehörde,  welcher  der 
Verhaftete  auch  zugeführt  werden  wird.  Im  Besitze  des  sonst  als 
mittellos  geltenden  Mannes  wurden  bei  der  Verhaftung  10000  Mk. 
I^efupden^   dje  er  »pf  der  Eisenbahnfahrt  von  Braunschweig  nach 


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—    535    - 

Berlin  von  einem  ihm  unbekannten  mitreisenden  Herrn  geschenkt 
erhalten  haben  will,  eine  Angabe,  die  anf  erhebliche  Zweifel  stOsst. 


Der  wegen  Sittlichkeitsverbrechen  hier  verhaftete 
Kaufmann  £.  W.  (vergL  unsere  gestrige  Morgenausgabe)  ist,  wie 
das  Braunschweiger  TgbL  meldet,  aus  Wolfenbüttel  gebürtig  und 
mehrerer  der  ihm  zur  Last  gelegten  Strafthaten  geständig.  Der  in 
unserem  Bericht  erwähnte  Ifitschuldige  des  W.  soll  dem  zitierten 
Blatte  zufolge  nicht  Mitglied  des  herzoglichen  Hoftheaters  zu  Braun- 
schweig sein.  

Frankfurt  a.  M.,  30  April.  Eine  Farn  ilientragOdie, 
Von  unserem  «%-Korrespondenten  wird  uns  aus  Paris,  29.  April, 
geschrieben:  C'est  beau,  un  beau  crime!  Das  Wort  ist  historisch. 
Der  Name  seines  Autors  ist  mir  entfallen,  aber  ich  weiss,  dass  es 
einem  berühmten  Franzosen,  einem  Juristen,  Philosophen  oder  Volks- 
vertreter zugeschrieben  wird.  Wenn  dieser  Mann  zufällig  noch  lebt, 
so  wird  er  von  dem  Verbrechen,  welches  das  Tagesgespräch  in 
Paris  bildet,  ästhetisch  befriedigt  sein.  Es  ist  wirklich  einmal  wieder 
ein  „schönes^  Verbrechen,  die  Ermordung  des  siebzehnjährigen 
Kellnerburschen  Eugene  Vasseur.  Am  letzten  Samstag  wurde  die 
Leiche  im  Gehölz  von  Vincennes,  nahe  der  dort  über  das  Plateau 
von  Gravelle  führenden  Landstrasse  gefunden.  Kein  Wertgegen- 
stand und  kein  Papier,  das  sich  am  Thatorte  gelinden  hätte,  ge- 
stattete im  ersten  Augenblick  die  Identität  des  Toten  festzustellen. 
Derselbe  war,  wie  der  seinen  Hals  umschnürende  Strick  bewies,  an 
Erstickung  gestorben.  Vielleicht  hatte  er  durch  Selbstmord  geendet, 
vielleicht  hatte  er  sich  an  dem  Baum,  unter  welchem  er  lag  erhängt. 
Doch  nein!  Dann  wäre  der  Strick  langfaserig  zerrissen,  und  das 
obere  Ende  wäre  noch  an  einem  Baumast  befestigt  gewesen.  Dieses 
abgerissene  Ende  jedoch  existierte  nicht,  und  das  Stück,  welches 
die  Kehle  des  Toten  zusammenpresste,  war  glatt  abgeschnitten. 
Mitbin  lag  ein  Mord  vor.  Der  junge  Mensch  war  im  einsamen  Ge- 
hölz überfallen,  wahrscheinlich  angegriffen  und  erdrosselt  worden. 
Die  PersönUchkeit  des  Ermordeten  wurde  ziemlich  rasch  ermittelt. 
Ein  schmutziges  Stück  Briefpapier,  das  sich  fn  seiner  Hosentasche 
fand,  enthielt  zwei  halb  verwischte  Bleistiftnotizen:  die  Adressen 
eines  Logiswirtes  und  eines  Weinschänken  in  einer  südlichen  Vor- 
stadt Zur  Morgue  geführt  und  der  Leiche  gegenüber  gestellt, 
wusste  der  Herbergswirt  sich  nicht  zu  erinnern,  dass  er  den  Toten 
jemals  gesehen  habe,  der  Weinschänke  dagegen  glaubte,  einen  seit 
längerer  Zeit  stellenlosen  Kellner  zu  erkeimen,  der  in  GeseUschaft 


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-    536    — 

gewisser  Übel  beleamundeter  junger  Leute  mehnnals  in  seinem  Lokale 
gewesen  war.  Die  Eriminalbehörde  nahm  die  betreffenden  jungen 
Taugenichtse  ins  Verhör,  und  einer  derselben  erklärte  sofort,  der 
Tote  sei  sein  Freund  Eugene  Vasseur,  der  seit  Jahren  von  seinen 
Eltern  verstossene  Sohn  eines  Weinwirts  im  Faubourg  SaintrDenis, 
nahe  dem  Boulevard  de  Laohavclle.  Man  berief  den  Vater  zur 
Morgue,  und  ohne  mit  den  Wimpern  zu  zucken,  sagte  derselbe 
beim  Anblick  der  Leiche:  „In  der  That,  das  ist  mein  Sohn.  Dass 
er  so  endete,  wundert  mich  nicht.  Er  war  ein  unverbesserlicher 
Thunichtgut,  die  Schande  und  der  Kummer  seiner  Familie.  Nun  er 
tot  ist,  brauchen  wir  nicht  mehr  zu  fürchten,  ihn  als  Verbrecher 
vor  Gericht  zu  sehen."  Sprach's,  wandte  der  Leiche  achselznckend 
den  Rücken  und  ging  sichtbar  erleichtert  davon.  Ueber  den  Mörder 
hatte  der  alte  Biedermann  nur  die  Vermutung,  dass  es  einer  der 
Kumpane  seines  Sohnes  gewesen  sein  dürfte,  einer  der  Strolche, 
welche  denselben  Lastern  fröhnten  wie  der  Tote,  ein  junger  Strolch, 
der  den  Mitwisser  eines  Verbrechens  beseitigen  oder  sich  aus  sinn- 
licher Leidenschaft  „wegen  Untreue"  rächen  wollte.  Die  Polizei 
griff  auf  die  betreffenden  jungen  Leute  zurück.  Einer  derselben 
begann  damit,  dass  er  sein  Alibi  in  unanfechtbarer  Weise  nachwies  und 
sich  somit  vor  dem  Verdacht  der  Thäterschaft  sicher  stellte.  So- 
dann erzählte  er,  dass  er  zuletzt  am  Donnerstag  Nachmittags  mit 
Eugene  Vasseur  zusammen  getroffen  und  dass  dieser  ihm  gesagt 
habe,  ihm  sei  eine  Stellung  als  Auf  wärter  bei  einem  Gastwirt  in  der 
Nähe  von  Vincennes  angeboten  worden.  Sein  Vetter,  ein  Eisen- 
bahn-Beamter Namens  Boucher,  habe  das  Engagement  vermittelt 
und  wolle  ihn  am  nächsten  Tage  jenem  Gastwirt  vorstellen.  Eigent- 
lich habe  das  Rendezvous  schon  für  jenen  Donnerstag  gegolten, 
aber  Boucher  sei  an  diesem  Tage  nicht  abkömmlich  gewesen.  Diese 
Verspätung,  so  setzte  Eugene  Vasseur  hinzu,  sei  ihm  sehr  lieb,  denn 
er  wisse,  dass  Boucher  am  nächsten  Tage  zuerst  zu  seinem  Vater, 
zu  dem  Weinwirt  L6on  Vasseur,  gehen  wolle,  um  ein  ihm  ver- 
heissenes  Darlehen  von  3000  Fros.  zu  erheben.  Voraussichtlich 
werde  er  diese  Summe  noch  bei  sich  haben,  wenn  er  zum  Dampf- 
boot komme,  um  ihn,  den  Eugene  Vasseur,  nach  Charenton  und 
von  dort  über  Joinville  nach  Vincennes  hin  zu  begleiten.  Boucher 
sei  ein  schwächlicher  Mensch,  und  er,  Vasseur,  beabsichtige  die 
Gelegenheit  wahrzunehmen,  um  ihm  auf  dem  Fussmarsch  durch  die 
einsame  Landschaft  das  von  seinem  Vater  entliehene  Geld  „abzu- 
knöpfen". Der  Strolch,  dem  die  Polizei  diese  interessanten  An- 
gaben verdankte,  deutete  ausserdem  noch  an,  dass  zwischen  dem 
Eugene  Vasseur  und  dessen  Vetter  seit  Jahren  gewisse  vertrauüche 


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—    537    — 

Besiehungen  bestanden,  dass  Boucher,  obwohl  verheiratet,  einen 
Hang  zn  Aussebweifungen  hege,  und  dass  er  den  jungen  Eugene, 
der  ihn  hätte  verraten  können,  beständig  mit  Ideinen  Geldsummen 
unterstützte.  Auf  Grund  dieser  Ermittelungen  wurde  Boucher  in 
aller  Heimlichkeit  unter  polizeiliche  Beobachtung  gestellt  Da  ent- 
deckte man  nun,  dass  er  in  der  Nacht  vom  Freitag  zum  Samstag 
ausserhalb  seiner  in  der  Rue  Salute- Anne  gelegenen  Wohnung  ver- 
weilte, dass  er  erst  am  Samstag  Morgen  über  und  über  mit  Strassen- 
kot  bedeckt,  nach  Hause  gekommen  sei,  den  grösseren  Teil  des 
Tages  schlafend  verbracht,  während  der  folgenden  Nacht  bei  seiner 
in  der  Nähe  der  Central-Markthallen  wohnenden  Mutter  Obdach  ge- 
sucht, am  Sonntag  mit  auffälligem  Eifer  sämtliche  Pariser  Blätter 
zu  lesen  verlangt,  dann  seinen  Schnurrbart  wegrasiert  und  die  beiden 
folgenden  Tage  in  unstäten  Wanderungen  und  Besuchen  verlebt 
habe.  Man  nahm  Boucher  darauf  hin  ins  Verhör  und  konstatierte 
mit  Erstaunen,  dass  er  alle  Beziehungen  zu  seinem  „verstorbenen'* 
Vetter  leugnete,  dass  er  den  jungen  Menschen  seit  Monaten  nicht 
gesehen  haben  wollte,  obwohl  es  doch  feststand,  dass  er  denselben 
beinahe  täglich  auf  gewissen  versteckten  Plätzen  in  der  Nahe  seines 
Arbeitsbureaus  getroffen  und  mit  kleinen  Geldgeschenken  unterstützt 
hatte.  Sein  Leugnen,  die  Abnahme  des  Schnurrbartes,  sein  ganzes 
Benehmen  machten  Boucher  verdächtig.  Man  zitierte  ihn  zur 
Kriminalpolizei  und  behielt  ihn  zu  eingehenderem  Verhör  zurück. 
Unmittelbar  hernach  liess  man  Boucher's  Gattin,  die  in  der  Bue 
Sainte-Anne  eine  kleine  Speise  Wirtschaft  betrieb,  zur  Präfektur 
führen.  Vor  dem  forschenden  Blick  des  Kriminalkommissars  verfiel 
die  Frau  sofort  in  Ohnmacht,  dann  hatte  sie  einen  Weinkrampf^ 
und  plötzlich  schrie  sie,  sich  auf  die  Knie  werfend,  sie  habe  ein 
furchtbares  Geheimnis  auf  dem  Gewissen,  ein  Geheimnis,  an  dem 
sie  ersticken  müsste,  wenn  sie  sich  nicht  durch  ein  offenes  Be- 
kenntnis entlaste.  Und  nun  folgte  mit  der  Heftigkeit  eines  Wasser- 
sturzes die  ganze  Flut  von  EnthtUlungen.  Vasseur's  eigener 
Vater  hatte  den  Jungen  erwürgt,  und  ihr  Mann,  Boucher, 
hatte  den  Vetter  verräterischer  Weise  an  den  Ort  ge- 
lockt, wo  der  Alte  im  Gebüsch  lauerte.  Boucher  und 
Vasseur  Senior  hatten  einen  Tag  lang  mit  der  Ringbahn  alle  ein- 
samen Plätze  in  der  Bannmeile  abgesucht,  um  eine  geeignete  Stelle 
für  die  VoUbringung  der  Mordthat  zu  finden.  Für  den  Dienst,  den 
Boucher  als  Helfershelfer  leistete,  wollte  ihm  Vasseur  3000  Francs 
schenken,  deren  Jener  zum  30.  April  behufs  Befriedigung  ver- 
schiedener Gläubiger  benötigte.  Es  war  das  die  Summe,  welche 
der  junge  Vasseur,  der  aus  seines  Vetters  eigenem  Munde  von  dem 


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Darlehnsgeschäft  gehört  hatte,  dem  intimen  Freund  und  Verwandten 
„abzuknöpfen"  gedachte.  Boncher  hat  die  Angaben  seiner  Frau 
sofort  bestätigt,  um  „endlich  wieder  schlafen  zu  können",  wie  er 
sagte.  Der  unmittelbar  hernach  verhaftete  Weinwirt  Vasseur  leug- 
nete ebenfalls  nicht  länger,  als  man  ihm  die  Aussagen  seines  Kom- 
plizen vorlas.  Er  habe  seinen  ungeratenen  Sohn  schon  seit  Jahren 
aus  der  Welt  zu  schaffen  beabsichtigt,  so  sagte  er,  „um  durch  den- 
selben nicht  noch  grössere  Schande  ttber  die  Familie  bringen  2u 
lassen."  In  der  letzten  Nacht  —  das  Geständnis  erfolgte  gestern 
Abend  —  hat  sich  dieser  „Verbrecher  aus  verlorener  Ehre"  selber 
entleibt.  Unter  den  Augen  der  beiden  Polizeibeamten,  die  ihn 
bewachen  sollten,  die  vermutlich  jedoch  eingeschlafen  waren,  hat  er 
sein  Lager  verlassen,  das  ungefähr  acht  Meter  ttber  der  Strasse 
gelegene  Fenster  geöffnet  und  sich  kopftiber  auf  die  Fliesen  vor 
dem  Jastizpalast  gestürzt,  wo  er  dann  mit  zerschmettertem  Schädel 
aufgehoben  wurde.  Heute  Nachmittag  um  2  Uhr  ist  er,  ohne  in- 
zwischen seine  Besinnung  wieder  erlangt  zu  haben,  gestorben. 
Frau  Bouoher,  die  man  gestern  Abend  frei  liess,  ist  nicht  in  ihre 
Wohnung  zurückgekehrt.  Man  vermutet,  dass  sie  auf  dem  Heim- 
wege  von  der  Präfektur  nicht  weiter  kam  als  bis  an  und  —  in  die 
Seine.  In  der  That,  ein  „schönes"  Verbrechen  und  eine  grausige 
Familien-lYagödie !  G  e  r  m  a  i  n. 


Man  wird  sich  vielleicht  jener  Affäre  noch  erinnern,  die  seiner- 
zeit so  grosses  Aufsehen  erregte,  und  in  deren  Mittelpunkt  die 
junge  ungarische  Komtesse  Sarolta  Vay  stand.  Diese  hatte 
Männerkleider  angelegt,  dann  flott,  ungebunden  darauf  losgelebt  und 
war  auf  ihren  heiter  verbrachten  Kreuz-  und  Querfahrten  schliess- 
lich in  eine  österreichische  Provinzialhauptstadt  gelangt,  wo  sie 
sich  mit  der  Tochter  einer  angesehenen  Familie  verlobte  und 
auch  verheiratete.  Ueber  einen  ähnlichen  Fall  haben  wir  nun  auch 
heute  zu  berichten;  die  Affäre,  die  in  Wien  spielt,  ist  folgende: 
Montag  Vormittag  bemerkte  ein  Wachmann  in  der  Stiftgasse  in 
Hemals  einen  Passanten  von  schwächlichem  Aussehen,  der  mühsam 
ein  Fass  mit  sich  schleppte.  Dem  Wachmann  kam  die  Sache  ver- 
dächtig vor,  er  schritt  auf  den  Mann  zu  und  forderte  ihn  zur  Aus- 
weisleistung auf.  Der  Angehaltene  wurde  verlegen,  gab  aber  keine 
genügende  Aufklärung,  weshalb  er  vom  Wachmanne  arretiert  wurde. 
Bei  der  üblichen  Visitation  entdeckte  der  Polizeiarzt,  dass  der 
Häftling,  der  sich  Josef  G.  nannte,  ein  —  Weib  sei,  M.  Josefa  G. 
mit  Namen  imd  34  Jahre  alt.  In  der  Wohnung  der  Verhafteten, 
Gschwandnergasse   Nr.  26,  einem  kleinen  Kabinet,   traf  man  ein 


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MKdohen,  die  27  Jahre  alte  Metallschleiferin  Marie  D.,  die  sich  als 
die  Geliebte  der  G.  bezeichnete.  Wie  die  Metallsohleiferin  erzählt, 
hat  sie  die  G.  vor  5  Jahren  in  einer  Fabrik,  wo  sie  Beide  arbeiteten, 
kennen  gelernt  Die  G.  trug  auch  damals  liüumerkleider.  „£r^ 
bewarb  sich  geradezu  Btürmisch  und  durch  längere  Zeit  um  die 
Neigung  der  Metallschleiferin,  die  endlich  nachgab  und  mit  ,4hm'' 
gemeinschaftlich  eine  Wohnung  bezog.  Marie  D.  blieb  es  nicht 
lange  verborgen,  mit  wem  sie  lebte.  G.  hatte  ihr  alsbald  ihr  Ge- 
heimnis anvertraut  und  dabei  unter  Thränen  beteuert,  dass  sie  alle 
Männer  verabscheue  und  ohne  die  Geliebte  das  Dasein  nicht  er- 
tragen könne.  Aus  Mitleid  brach  die  Metallschleiferin  das  „Ver- 
hältnis" nicht  ab.  G.  hat  die  ganze  Zeit  über  mit  einem  auf  den 
Namen  Josef  G.  ausgestellten  Arbeitsbuch  Bestellung  gesucht  und 
auch  erhalten.  J.  G.  trägt  schon  seit  mehr  als  14  Jahren  Männer- 
kleider. Ihr  Anzug  war,  ihrem  Stande  entsprechend,  der  eines 
Arbeiters :  Bock,  Hose,  Weste,  Alles  von  der  einfachsten  Art.  Ihre 
Oberröcke  hatten  immer  einen  ungewöhnlich  breiten  Kragen,  den 
sie,  wie  um  sich  zu  verbergen,  aufzuschlagen  pflegte.  Viele  Jahre 
hindurch  arbeitete  sie  in  einer  Steindruckerei  in  LichtenthaL  Schon 
dort  gab  sie,  so  sehr  sie  sich  auch  bemühte,  als  Mann  stramm  aus- 
zusehen, Aiüass  zu  spöttelndem  Gerede.  Etwas  Scheues,  Weib- 
liches offenbarte  sich  bei  ihr,  wenn  auch  durch  Energie  stark  nieder- 
gehalten, in  Allem  und  Jedem.  Man  war  in  dieser  Sache  indess 
niemals  im  Klaren  und  wurde  dadurch  sehr  schwankend  gemacht, 
dass  die  G.  beständig  lebhaft  mit  den  Kolleginnen  charmierte.  Wie 
sehr  sich  der  gegen  ihr  Geschlecht  gehegte  Argwohn  allmäUg  ver- 
flüchtigt hatte,  beweist,  dass,  als  bei  einer  Gelegenheit  das  männ- 
liche Arbeitspersonal  der  Fabrik,  in  welcher  die  G.  beschäftigt  war, 
sich  in  corpore  photographieren  liess,  sie  zu  dieser  Gruppe  eben- 
falls mit  herangezogen  wurde.  Sie  sieht  da  sogar  recht  schmuck 
aus.  Das  „Mannweib",  das  alle  Männer  aus  tiefister  Seele  verab- 
scheut, war  eine  geradezu  leidenschaftUche  Baucherin.    (14.  1.  98.) 


Der  Geiger  Brindis,  dessen  Verhaftung  wir  meldeten,  ist  als 
unschuldig  wieder  entlassen  worden.  Der  „Saale-Ztg."  wird  von 
seinem  Impresario  aus  Braunschweig  Folgendes  geschrieben:  ,3rindis 
wurde  heute  früh  durch  den  Oberamtsrichter  Ludwig  in  Wolfen- 
büttel in  meiner  Gegenwart  aus  der  Haft  entlassen  und  von  der  gegen 
ihn  erhobenen  Beschuldigung  völlig  frei  erklärt  Ich  gebe  Ihnen 
den  Sachverhalt,  soweit  i«h  davon  Kenntnis  erhalten.  Brindis  wurde 
von  dem  kaum  15jährigen  Schneiderlehrling  Schulze  in  Wolfen- 
büttel der  VerÜbung  ganz  unglaublicher,  ans  Romanhafte  grenzender 


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Handlungen  besohuldigt,  anf  Gmnd  der  Angaben  dieses  Burschen 
verhaftet  und  nach  Wolfenbttttel  gebracht.  Der  Barsche  wurde 
vorgestern  von  Herrn  Oberamtsrichter  Ludwig  vernommen  und  ver- 
wickelte sich  derartig  in  Widersprüche,  dass  seine  Verhaftung  sofort 
beschlossen  wurde.  Noch  gestern  legte  er  folgendes  Geständnis 
ab :  Die  ganze  Geschichte,  die  er  über  Brindis  (J©r  Polizei  in  Wolfen- 
büttel erzählt  hätte,  wäre  vollkommen  von  ihm  erfunden.  Er 
hätte  einmal  einen  Boman  gelesen,  in  welchem  derartige  Greuel- 
thaten,  die  ein  Neger  an  einem  Knaben  verübt  haben  soUte,  erzählt 
wurden.  Er  hätte  dies  einem  ihm  bekannten  älteren  Manne  erzählt 
und  dieser  habe  ihm  aufgetragen,  vielleicht  in  dem  Glauben,  dass  die 
Geschichte  den  Mohren  Brindis  beträfe,  denselben  bei  der  Polizei 
anzuzeigen,  was  der  Bursche  gethan,  nachdem  der  betreffende  Mann 
schon  vorher  von  der  Erzählung  des  Knaben  Polizeibeamten  gegen- 
über Andeutungen  hatte  lallen  lassen.  Sein  Gewissen  hätte  ihn, 
den  Schneiderburschen,  wegen  der  falschen  Anschuldigung  indess 
die  ganze  Nacht  nicht  ruhen  lassen.  Die  Angaben  des  Burschen 
waren  derartig,  dass  schon  der  Untersuchungsrichter  in  Halle  da- 
rüber den  Kopf  schüttelte,  jedoch  nicht  umhin  konnte,  den  Befehl 
des  Staatsanwalts,  Brindis  zu  verhaften,  auszuführen.^  Zur  Behabi- 
litienmg  des  Bufes  des  unschuldig  verdächtigten  und  6  Tage  in 
Haft  gewesenen  Künstlers  bitte  ich  Sie,  diese  auf  Wahrheit  beruhenden 
Mitteilungen  zu  veröffentlichen,  zumal  derselbe  das  dort  bereits  an- 
gesetzt gewesene  Konzert  dennoch  in  nächster  Woche,  vielleicht 
schon  nächsten  Sonntag,  geben  wird." 


Ein  Mann  in  Frauenkleidern  trieb  sich  am  Dienstag 
Abend  nach  Art  der  bekannten  galanten  Dämchen  in  der  Nähe 
des  Bahnhofs  Zoologischer  Garten  umher.  Er  wurde  verhaftet  und 
nach  dem  nächsten  Polizei-Revier  gebracht.  (4.  5.  1900.) 


Münster.  Im  hiesigen  Polizeigefängnis  war  ein  etwa  ITjähriger 
Knabe  inhaftiert.  Durch  Zufall  stellte  sich  jedoch  heraus,  dass  der 
Knabe  eigentlich  —  ein  Mädchen  sei,  trotz  des  angenommenen 
männlichen  Namens  und  der  männlichen  Tracht.  Insofern  ist  der 
Vorfall  höchst  merkwürdig,  als  das  17jährige  Mädchen,  wie  wir 
hören,  behauptet,  von  Jugend  auf  in  männlicher  Kleidung  gegangen 
zu  sein  und  noch  niemals  weibliche  Kleidung  getragen  zu  haben. 
Das  Mädchen  will  seinem  Vater,  einem  umherziehenden  Künstler 


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—    541     - 

oder  Seiltänzer,  wegen  der  ausgestandenen  Misshandinng  entlaufen 
sein.  Vielleicht  wird  die  hoffentlich  einzuleitende  Untersuchung 
manches  Interessante  zu  Tage  fördern. 


Frankenthal,  8.  Aug.  1900.  Das  Strafverfahren  gegen  den 
gestern  wegen  Vertibung  von  Sittlichkeitsvergehen  an  jungen  Ge- 
sellen verhafteten  bisherigen  stellvertretenden  Präses  des  hiesigen 
katholischen  Gesellenvereins  K.  W.  ist  eingestellt  und  der  Beschuldigte 
heute  aus  der  Haft  entlassen  worden.  Die  Bestimmung«in  §  175 
des  Beichsstrafgesetzbuches  ist  auf  den  Fall  nicht  anwendbar. 


Ein  böses  Abenteuer,  welches  einem  Ausländer  in  Berlin 
begegnete,  kam  gestern  in  einer  Verhandlung  zur  Sprache,  die  vor 
der  dritten  Strafkammer  des  Landgerichts  I  stattfand.  Aus  der 
Untersuchungshaft  wurden  drei  junge  Leute,  der  Kellner  Johann 
Nowack,  der  Elektrotechniker  Fritz  Boll  und  der  KeUner  Franz 
Hank  vorgeführt,  welche  der  gemeinsamen  Erpressung  be- 
schuldigt waren.  Die  Verhandlung  ergab  folgenden  Sachverhalt: 
Am  Abend  des  13.  März  d.  J.  traf  hier  der  junge  Kaufmann  N.  ans 
Warschau  ein.  Er  stieg  im  Savoy-Hotel  ab  und  besuchte  zunächst 
das  Apollo-Theater.  Auf  dem  Heimwege  schloss  sich  ihm  der  An- 
geklagte Boll  an.  Dem  Vorschlage  des  Letzteren,  noch  ein  Glas 
Bier  zu  trinken,  stimmte  der  Fremde  zu,  und  sie  kehrten  im  „Franzis- 
kaner^ ein.  Sodann  schlug  Boll  noch  einen  kleinen  Spaziergang 
nach  dem  Tiergarten  vor,  womit  der  Busse  ebenfalls  einverstanden 
war.  Auf  dem  Bückwege  vom  Tiergarten  fiel  es  dem  Fremden  auf, 
dass  zwei  Personen  ihnen  in  auffallender  Weise  folgten,  Boll  wnsste 
ihn  aber  zu  beruhigen.  Sie  hatten  fast  das  Brandenburger  Thor 
erreicht,  als  plötzlich  die  beiden  ihnen  folgenden  Männer,  die  An- 
geklagten Nowack  und  Hank,  ihnen  den  Weg  vertraten  und  je  einen 
mit  festem  Griff  packten.  „Im  Namen  des  Gesetzes,  Sie  sind  ver- 
haftet, Sie  haben  unsittliche  Hamdlungen  vorgenommen  !**  rief  Nowack, 
der  den  Russen  gepackt  hielt,  diesem  zu.  „Verhalten  Sie  sich  ganz 
ruhig,  ein  Pfiff,  und  die  ganze  Berliner  Sohutzmannschaft  ist  auf 
den  Beinen!"  —  „Um  des  Himmels  Willen,  geben  Sie  dem  Manne 
etwas,  dann  lässt  er  Sie  laufen,''  raunte  der  angeblich  mit  verhaftete 
Boll  seinem  Leidensgefährten  zu.  Dieser  befolgte  den  Bat,  er  bot 
dem  Psendo-Beamten  zwei  Hundert-Bubelscheine  und  fand  sofort 
freundliches  Ekitgegenkommen.  Der  Fremde  musste  noch  seine 
Wohnung  im  Hotel  angeben  und  dann  schlugen  die  beiden  angeb- 
lichen Beamten  sieh  seitwärts  in  die  Bttsohe.    Die  beiden  Spazier- 


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ganger  konnten  nun  unbehelligt  nach  Hause  gehen.  Nowack  hatte 
die  Dreistigkeit,  den  Russen  am  folgenden  Morgen  in  seinem  Hotel- 
zimmer aufEusuohen.  Er  verlangte  von  ihm  mehr  Geld.  Der  Busse 
entnahm  seiner  Brieftasche  noch  einen  Hundert-Bubel-Schein ;  es  war 
der  letzte.  Grossmtttig  gab  Nowack  ihm  einen  Hundertmarkschein 
heraus,  damit  er  seine  Bechnung  bezahlen  und  nach  Hause  reisen 
könne.  Als  Nowack  dann  aber  an  dem  Finger  des  Bussen  einen 
Brillantring  bemerkte,  Hess  er  sich  auch  diesen  geben  und  erklärte 
sich  dann  für  befriedigt.  Der  Busse  beeilte  sich,  die  Heimreise  an- 
zutreten mit  dem  Gedanken,  dass  die  Bestechlichkeit  der  Beamten 
in  Deutschland  nicht  minder  gross  sei  als  anderswo.  Die  drei  An- 
geklagten erweckten  durch  ihre  Ausgaben  Verdacht,  sie  verrieten 
sich  dann  selbst  Der  Staatsanwalt  betonte,  dass  das  fein  abge- 
karte  Spiel,  welches  die  Angeklagten  betrieben,  auf  eine  hochgradige 
Verderbtheit  schliessen  lasse;  er  beantragte  gegen  Nowack  andert- 
halb, gegen  BoU  und  Hank  je  ein  Jahr  Gefängnis.  Die  Verteidiger 
Beehtsanwälte  Dr.  Schwindt  und  Löwenstein,  mussten  sich  darauf 
beschränken  ein  niedrigeres  Strafinass  zu  erzielen.  Nowack  wurde 
zu  einem  Jahre,  BoU  und  Hank  je  zu  sechs  Monaten  Gefängnis 
verurteilt 

Aus  Paris  schreibt  man  uns:  Ein  Skandalgeschichte,  die  in 
den  sogenannten  „besten  Kreisen^  spielt,  beschäftigt  gegenwärtig 
die  Pariser  Gerichte  und  wird  in  der  französischen  Presse  lebhaft 
besprochen.  Die  Heldinnen  dieser  Tragikomödie  sind  zwei  ungarische 
Damen,  die  seit  längerer  Zeit  in  Paris  leben.  Vor  fünf  Jahren 
machte  die  Baronhi  F  .  .  .,  die  damals  20  Jahre  alt  war,  in  Pest 
die  Bekanntschaft  einer  jungen,  hübschen  Landsmännin  gleichen 
Alters,  welche  auf  den  Namen  St.  hörte.  Die  Baronin  machte  Frän- 
lein  St  zur  Vertrauten  und  Freundin  ihres  Herzens  und  unternahm 
mit  ihr  grosse  Beisen  nach  Südfrankreich  und  Norditalien.  Die 
beiden  Frauen  trennten  sich  nicht  mehr  von  einander,  und  die  mit 
Diamanten  und  Juwelen  geschmückte,  verhätschelte,  von  zahlreichen 
Kavalieren  angeschmachtete  Baronin  lehnte  aus  Liebe  zu  ihrer 
Freundin  jeden  Verkehr  mit  dritten  Personen  ab.  So  pilgerte  man 
glückseUg  wie  ein  Ehepaar  auf  der  Hochzeitsreise  von  Monte  Carlo 
nach  Nizza,  von  Nizza  nach  Genua,  von  Genua  nach  Venedig  und 
Mailand,  bis  die  sehr  reiche  Baronhi  in  Paris  auf  dem  Boulevard 
Haussmann  ein  prächtiges  Hotel  mietete.  In  den  ersten  Tagen  dieses 
Maienmonats  reiste  die  Baronin  nach  ihrer  ungarischen  Heimat,  wo 
sie  14  Tage  verweUte.  Vor  ihrer  Abreise  gab  sie  der  vielgeliebten 
St  2000  Francs,  damit  sie  eine  neue  Wohnung  miete.    Auch  ihre 


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Juwelen  vertraute  sie  der  Freundin  an  und  gestattete  ihr  ausserdem 
|m  Hanse  nach  Belieben  zu  schalten  und  zu  walten  Als  die  Baronin 
dieser  Tage  wiederkam,  fand  sie  zu  ihrer  Ueberraschung  in  der 
Wohnung  die  traute  Herzensfreundin  nicht  vor.  In  ihrer  Erregung 
klingelte  sie  sofort  das  ganze  Dienstpersonal  zusammen  und  nun 
erfuhr  sie,  was  vorgefallen  war.  Fräulein  St.  hatte  bei  ihren  täg- 
lichen Spazierfahrten  im  Bois  die  Bekanntschaft  eines  jungen  Manneg 
gemacht  und  diesen  zu  ihrem  Geliebten  erwählt  Um  diese  Liebe 
wttrdig  feiern  zu  können,  verkaufte  sie  bald  nach  der  Abreise  der 
Baronin  zwei  Ringe  im  Werte  von  10,000  Fr.  und  mietete  eine 
prächtige  Wohnung  in  der  Avenue  Kleber.  Dann  wanderten  auch 
die  Juwelen,  das  ganze  Silber  und  die  wertvollsten  Kleidungsstücke 
der  Baronin  zum  Trödler.  Als  die  Baronin  solches  vernahm,  fuhr 
sie  direkt  vom  Boulevard  Haussmann  in  die  Avenue  Kleber,  aber 
Fräulein  St.  war  „nicht  zu  sprechen. **  Nun  nahm  die  in  ihren  heiligsten 
Geftlhlen  und  auch  sonst  noch  betrogene  Baronin  die  Hilfe  der 
Polizei  in  Anspruch,  —  schweren  Herzens  aber  gefasst  Einem 
Polizeünspektor  gelang  es  durch  List  und  Ueberredung,  Fräulein  St. 
aus  ihrem  Bau  zu  locken  und  zur  Wache  zu  bringen,  wo  sie  als 
verhaftet  erklärt  wurde.  Die  Verhaftete  erhob  gegen  die  Baronin 
die  schwersten  Anschuldigungen,  die  sich  auch  nicht  einmal  andeut- 
ungsweise wiedergeben  lassen.  Fräulein  St  ist  übrigens,  wie  sich 
jetzt  herausstellt,  eine  sehr  gesuchte  Persönlichkeit;  sie  hat  in  Oester- 
reioh,  besonders  in  Wien,  zahlreiche  Betrügereien  verübt  und  wird 
von  den  österreichischen  Polizeibehörden  dringend  verlangt 


Ein  junger  Mann  in  Frauenkleidern  wurde  am  Sonn- 
abend in  das  Moabiter  Untersuchungsgefängnis  eingeliefert  Der 
19jährige  Kellner  Franz  Witzel  aus  Berlin  liebte  es  des  Abends 
stets  in  Frauenkleidern  auszugehen.  In  dieser  Verkleidung  lockte 
er  Männer  an  und  benutzte  derartige  Gelegenheiten,  um  Diebstähle« 
Erpressungen  und  dgL  auszuf  üren.  Am  Freitag  fiel  er  der  Kriminal- 
polizei in  die  Hände.  Im  Polizeipalast  am  Alexanderplatz  wurde 
er  zwar  als  männliches  Individuum  erkannt,  da  es  dort  aber  keine 
besondere  Garderobe  für  Untersuchnngsgefangene  giebt,  wurde  er 
in  seinen  Frauenkleidem  nach  Moabit  überführt,  woselbst  er  sein 
Kostüm  natürlich  sofort  mit  einem  Gefangenen- Anzüge  vertauschen 
musste. 


Intimes  aus  der  Londoner  Gesellschaft  Man  schreibt 
uns  aus  der  englischen  Hauptstadt:  Die  soeben  von  der  schönen 
jungen  Marquise  von  Anglesey  angestrengte  Ehescheidungsklage 


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erregt  nichts  weniger  als  Yerwnndening.  Man  hat  es  ja  schon  seit 
Langem  erwartet,  dass  die  Lady,  die  sich  bereits  während  der 
Flitterwochen  von  ihrem  Gatten  trennte,  sich  bemühen  würde,  ihre 
volle  Freiheit  zurückzugewinnen.  Die  geborene  Miss  Chetwynd, 
Tochter  von  Sir  George  Chetwynd  und  der  Marquise  von  Hastings, 
zählte  erst  achtzehn  Lenze,  als  sie  vor  zwei  Jahren  dem  damaligen 
£arl  of  Urbridge  die  Hand  zum  Lebensbimde  reichte.  Das  fein 
geschnittene,  von  goldroten  Haarmassen  umrahmte  Gesicht  der 
jungen  Aristokratin  gilt  mit  seinen  grossen  veilchenblauen  Augen 
für  eines  der  schönsten  in  ganz  England.  Auf  die  von  zahlreichen 
Bewerbern  umschwärmte  Miss  Chetwynd  machte  das  fast  sanft  zu 
nennende  Wesen  des  Earl  einen  so  günstigen  Eindruck,  dass  sie 
ihm  vor  allen  andern  Freiem  den  Vorzug  gab.  Sie  ahnte  aber 
nicht,  in  welchem  Masse  ihr  Erwählter  einem  verzärtelten,  ei- 
centrischen  Weibe  glich  und  dass  er  alle  Launen  und  Schwächen 
eines  solchen  besass.  In  der  That  hat  der  jetzt  25jährige  Nobleman, 
der  bald  nach  seiner  Eheschliessung  durch  den  Tod  der  Vaters 
fünfter  Marquis  of  Anglesey  wurde,  das  Aussehen  einer  schönen 
Frau  in  Männerkleidung.  Seidenweiche  dunkle  Locken  umgeben 
ein  rosiges  Gesicht  mit  weichen,  sympathischen  Zügen.  Um  blasser 
und  interessanter  zu  erscheinen,  verschmäht  er  weder  die  Puder- 
Bchachtel  noch  bleichmachende  Toiletten-Wasser.  Er  ist  immer 
stark  parfümiert,  und  seine  zarten,  schlanken  Finger  sind  mit  Rin- 
gen überladen.  Man  sieht  ihn  bei  seinen  Promenaden  durch  Picoa- 
dilly  oder  auf  den  Pariser  Boulevards  meist  mit  einem  schneeweis- 
sen,  schleifengeschmückten  Pudel  unter  dem  Arm,  der  ebenso  wie 
sein  Herr  nach  Patchouli  und  L'eau  d'Espagne  duftet.  Wie  unglück- 
lich seine  Mutter  mit  ihrem  Gatten  lebte,  beweist  der  Umstand, 
dass  sie  nach  dreijähriger  Ehe  Selbstmord  beging.  Sein  Vater  hei- 
ratete dann  eine  Amerikaneiin.  Kurz  vorher  hatte  er  einer  anderen 
Tochter  des  Dollarlandes  Hoffnungen  gemacht  und  diese  vergiftete 
sich  an  seinem  Hochzeitstage.  Ueber  die  Abneigung,  die  seine 
schöne  Gemahlin  gegen  ihn  hegt,  ist  der  junge  Marquis  gerade 
nicht  untröstlich.  Er  hat  ihr  ein  Jahreseinkommen  von  einer  viertel 
Million  Mark  ausgesetzt;  ihm  selber  stehen  vier  Millionen  Mark 
im  Jahr  zur  Verfögung.  Seiner  Verlobten  schenkte  er  Schmuck- 
sachen im  Werte  von  anderthalb  Millionen  Mark.  An  dem  adUgen 
Krösus  ist  eigentlich  eine  Serpentintänzerin  verdorben.  Die  Lieb- 
lingszerstreuung des  Herrn  Marquis  besteht  nämlich  darin,  sich  auf 
wirklichen  —  Spezialitätenbühnen  als  Imitator  der  graziösen  LoYe 
Füller  zu  produzieren  .... 


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^    fe45    — 

Nach  der  Vernrteilang  ersohoBsen.  Aus  Giesseii, 
31.  Oktober,  wird  uns  geschrieben:  Heute  fand  vor  unserer  Straf- 
kammer ein  sensationeller  Prozess,  an  dem  vier  volle  Tage  verhan- 
delt wurde,  seinen  tragischen  Abschlnss.  Seit  dem  Sommer  18d8 
schwebt  das  Strafverfahren  gegen  den  Milchkntscher  W.  und  den 
Studiosus  Th.  von  hier  wegen  Vergehens  aus  §  175  d.  B.-St.-G. 
Bei  dem  Dienstherm  des  W.,  dem  Oekonomen  Peters,  fand  um  die 
angegebene  Zeit  em  Diebstahl  statt,  und  der  Verdacht,  diesen  be- 
gangen zu  haben,  fiel  auf  W.  Eine  bei  demselben  vorgenommene 
Nachsuchnng  hatte  das  Resultat,  dass  die  Kriminalpolizei  grössere 
Geldmittel  und  Wertgegenstände  bei  dem  Verdächtigen  vorfand, 
die  derselbe  von  einem  Herrn,  wie  er  später  zugestand,  vom  Stu- 
diosus Th,  erhalten  haben  wollte.  Der  letztere  bestritt  dies,  doch 
stellte  es  sich  heraus,  dass  W.  an  dem  Diebstahl  unschuldig  war. 
Nun  wurde  auf  Grund  der  Selbstbezichtigung  des  Inhaftierten  W. 
das  Verfahren  wegen  Vergehens  gegen  die  Sittlichkeit  eingeleitet 
und  auch  Tb.  in  Haft  genommen,  letzterer  aber  gegen  Kaution 
später  auf  freien  Fuss  gesetzt  Der  Staatsanwalt  Schilling- 
Trygophorus,  welcher  diese  Sache  zuerst  bearbeitete,  ist  in  der 
schmählichsten  Weise  verdächtigt  worden,  einen  Unschuldigen, 
nämlich  Tb.,  zu  verfolgen,  während  von  anderer  Seite  die  Meinung 
laut  wurde,  man  wolle  das  Recht  beugen,  denn  man  konnte  nicht 
begreifen,  warum  beinahe  IV2  Jahre  nötig  seien,  um  die  Strafsache 
zu  erledigen.  Man  wusste  im  Publikum  nicht,  dass  der  Angeklagte 
W.  zweimal  auf  Antrag  des  Th.  zur  Untersuchung  seines  Geistes- 
zustitndes  im  Irrenhause  zubringen  musste.  Die  merkwürdigsten 
Legenden  über  diesen  Fall  machten  die  Runde  in  der  Bevölkerung. 
Mit  einer  Spannung  ohnegleichen  erwartete  man  daher  den  Urteils- 
spruch in  diesem  Prozess,  dessen  Verhandlung  hinter  verschlossenen 
Thüren  stattfand ;  erst  heute,  am  vierten  Tage,  bei  den  Plaidoyers 
wurde  die  Oeffentlichkeit  wieder  hergestellt.  Beinahe  dreissig  Zeu- 
gen, darunter  ein  während  der  Verhandlung  telegraphisch  von  Ber- 
lin geladener  Zeuge,  wurden  vernommen.  Vier  Experten  gaben 
über  den  Geisteszustand  des  geständigen  W.  ein  Gutachten  ab. 
Mit  der  peinlichsten  Gewissenhaftigkeit  wurde  die  Beweisaufiiahme 
vom  Landgerichtsrat  Schäfer  als  Vorsitzenden  durchgeführt  Die 
meisterhafte  Rede  des  Verteidigers  Rechtsanwalts  Dr.  Gutfleisch 
konnte  den  Angeklagten  Th.  vor  dem  Schuldigspruch  des  Gerichtes 
nicht  retten.  Der  Verteidiger  des  W.,  Rechtsanwalt  Grunewald, 
sah  seine  Aufgabe  hauptsächlich  darin,  über  den  angezweifelten 
Geisteszustand  semes  Küenten  keinen  Zweifel  aufkommen  zu  lassen. 
Th.  behauptete  bis  zum  Schluss  der  Verhandhmg  seine  Unschuld. 

Jmhrbuch  III.  36 


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Kaoh  2  Uhr  mittags  yerkfindete  der  Vorsitzende,  dass  das  Urteil 
nm  7  Uhr  abends  publiciert  würde.  Dicht  gedrängt  stand  der 
grosse  Zuhörerraum  unseres  Strafkammersaales,  wusste  man  doch, 
dass  es  sich  um  das  Wohl  oder  Wehe  eines  24jährigen  talentvollen 
jungen  Mannes  handelte.  Landgerichtsrat  Schäfer  verkUndete  das 
Votum  des  Grerichtshofes  dahin,  dass  beide  Angeklagte  der  ihnen 
zur  Last  gelegten  Strafthat  schuldig,  dass  W.  mit  6  Monaten  Ge- 
fängnis, wovon  3  für  erlittene  Untersuchungshaft  anzurechnen,  der 
Student  Th.  aber  mit  7  Monaten  Gefängnis  zu  bestrafen,  der  letz- 
tere auch  wegen  Fluchtverdachts  in  Haft  zu  nehmen  sei.  Th. 
wusste  sich  seiner  Inhaftnahme  dadurch  zu  entziehen,  dass  er  nach 
verkündetem  Urteil  schleunigst  das  Gerichtsgebäude  verUess.  Ge- 
richtsboten machten  sich  an  seine  Verfolgung;  dies  merkend,  jagte 
sich  der  Verurteilte  einige  hundert  Schritte  vom  Gericbtsgebäude 
entfernt  mit  einem  bereit  gehaltenen  Revolver  eine  tötliche  Kugel 
durch  den  Kopf.  Der  Tod  trat  nach  30  Minuten  ein,  ohne  dass 
der  Selbstmörder  vorher  die  Besinnung  wieder  erhielt. 


Ein  dunkles  Kapitel  aus  „Berlin  bei  Nacht''  beschäf- 
tigte die  neunte  Ferien-Strafkammer  des  Landgerichts  I.  Der  Haus- 
eigentümer S.  wurde  in  einer  Nacht  von  einem  ihm  unbekannten 
Manne,  wie  sich  später  herausstellte,  dem  Hausdiener  Friedrich 
Wegner,  auf  der  Strasse  angesprochen.  S.  liess  sich  mit  ihm  in 
ein  kurzes  Gespräch  ein,  ging  dann  aber  weiter,  als  er  bemerkte, 
dass  Wegner  stark  angetrunken  war.  Dieser  musste  aber  doch  be- 
obachtet haben,  dass  S.  sein  in  der  Nähe  gelegenes  Haus  betrat, 
er  vermochte  deshalb  zu  erfahren,  mit  wem  er  gesprochen.  Noch 
in  derselben  Nacht  begab  sich  Wegner  nach  dem  Polizeibureau 
und  gab  zu  Protokoll,  dass  S.  ihm  unsittliche  Anträge  gestellt,  habe. 
W.  war  jetzt  so  betrunken,  dass  er  kaum  vernehmungsfähig  war. 
£r  musste  von  dem  angebUch  Erlebten  wohl  auch  dem  beschäfti- 
gungslosen Bäckergesellen  Ludwig  Pinnick  Mitteilung  gemacht 
haben,  denn  am  folgenden  Tage  erschien  dieser  beim  Hauseigentü- 
mer S.  und  machte  ihm  die  Hölle  heiss.  Er  habe  gesehen,  was  S. 
mit  dem  Wegner  vorgehabt  und  werde  im  Termine  als  Belastungs- 
zeuge auftreten,  wenn  er  nicht  20  Mark  erhalte.  S.  liess  den  Be- 
sucher verhaften.  Wegner  sollte  sich  nun  der  wissentUoh  falschen 
Anschuldigung  und  der  Anstiftung  zur  versuchten  Erpressung,  Pin- 
nick des  letzteren  Verbrechens  schuldig  gemacht  haben.  Es  wurde 
angenommen,  dass  sie  gemeinschaftlich  die  Ausbeutung  des  S.  ge- 
plant hätten.  Der  Angeklagte  Wegner  erklärte  im  Termine,  von 
nichts  zu  wissen,   er  sei  sinnlos  betrunken  gewesen.    Der  G^richts- 


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hof  schenkte  ihm  Glanben  und  sprach  ihn  frei.  Dagegen  wnrdd 
angenommen,  dass  der  Angeklagte  Pinnick,  ein  vielfach,  darunter 
wegen  Raubes  mit  3  Jahren  Gefängnis  vorbestrafter  Mensch,  den 
Erpressungsversuoh  auf  eigne  Hand  ausgeführt  habe.  Er  wurde 
zu  einem  Jahre  Gef&ignis  verurteilt. 


Die  Frau  mit  dem  Bart  Die  Polizei  von  St.  Louis  hat 
jüngst  eine  junge  Dame  wegen  Selbstmordversuchs  festgenommen. 
Sie  wurde  ins  Krankenhaus  gebracht,  wo  sie  bis  zu  ihrer  vollstän- 
digen Wiederherstellung  scharf  bewacht  werden  soll.  Ihr  „Fall" 
hat  jetzt  zu  einer  heftigen  Polemik  zwischen  den  Aerzten  des 
Hospitals  und  der  Justiz  von  St.  Louis  Veranlassung  gegeben.  Die 
Dame,  die  sich  Anna  Smith  nennt ,  will  von  jetzt  an  Männerkleider 
tragen,  und  wenn  man  ihr  die  Erlaubnis  dazu  verweigert,  ist  sie 
entschlossen,  wieder  einen  neuen  Selbstmordversuch  zu  machen. 
Fräulein  Smith  hat  nämlich  einen  dichten,  pechschwarzen  Backen- 
bart Sie  ist  aus  ihrer  Vaterstadt  St  Paul  entflohen,  weil  man  sie 
dort  wegen  ihres  Bartes  und  ihrer  Männermanieren  verspottete. 
Sie  hat  sämtliche  Enthaarungsmittel  probiert,  aber  der  Bart  wurde 
immer  länger.  Deshalb  will  die  Smith  wie  ein  Mann  gekleidet  sein 
oder  —  sterben;  Frauenkleider  legt  sie  nie  und  nimmermehr  an. 
Den  Behörden  wird  wohl  nichts  anderes  übrig  bleiben,  als  sich 
zu  fügen.  (S.  I,  99). 

Wien.  Es  erregte  viel  Aufmerksamkeit,  als  Mitte  Januar  vo- 
rigen Jahres  der  durch  seine  zahh-eichen  gesellschaftlichen  Bezie- 
hungen bekannte  26jährige  Freiherr  von  Levetzow,  welcher  sich 
schriftstellerisch  versuchte  und  zur  modernsten  Schule  zählen  wollte, 
verhaftet  und  dem  Landgericht  eingeUefert  wurde,  v.  L.,  der 
durch  seine  elegante,  hochgewachsene  Gestalt  eine  aufiäUige  Er- 
scheinung darstellt,  ist  der  Sohn  eines  Realitätenbesitzers  und  Ritt- 
meisters im  Ruhestand;  seine  Verhaftung  erfolgte,  weil  er  gewisser 
strafbarer  Beziehungen  beschuldigt  war,  welche  das  Verbrechen 
des  §  129b  des  St-G.^B.  bilden  und  seit  einiger  Zeit  in  erschreckend 
vermehrter  Zahl  das  Strafgericht  beschäftigen.  Diese  gerichtUche 
Verfügung  war  durch  eine  Zuschrift  der  MiUtärbehOrde  herbeigeführt 
worden.  Bei  dem  Husaren  Moiiz  Schill,  welcher  sich  wegen  De- 
sertion in  militärgerichtlicher  Untersuchung  befand,  hatte  man  kom- 
promittierende Briefe  L.'s  vorgefunden.  Es  ergab  sich,  dass  dieser 
bedenkliche  Freundesbeziehungen  zu  Schill  unterhalten,  ein  elegantes 
Logis  für  ihn  gemietet  und  ihn  mit  Geschenken  überhäuft  hatte. 
Wie  der  Husar  angab,   war  er  auf  Anstiften  L.'s  desertiert,  um  sich 

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ihm  ganz  widmen  zu  können.  Noch  andre  Personen  wurden,  wAd 
bis  jetzt  nicht  in  die  OeffenÜichkeit  gedrungen  ist,  als  Mitschuldige 
des  L.  in  Haft  gezogen.  Es  sind  dies  der  Kammerdiener  Joseph 
Stookhammer,  der  Wäschergehilfe  Karl  B u c h t a  und  der  Neger 
William  Johns,  der  als  Ausrufer  in  Praterbuden  beschäftigt  war. 
Ein  Vierter,  der  Forsteleve  Joseph  Mohr,  brauchte  nicht  verhaftet 
zu  werden,  weil  er  sich  schon  wegen  ähnlicher  Delikte  in  Gewahrsam 
befand.  Er  hatte  wegen  derselben  bereits  vor  Gericht  gestanden, 
doch  hatte  der  Gerichtshof  die  Verhandlung  abgebrochen,  um  ihn 
durch  Psychiater  untersuchen  zu  lassen.  Diese  PrUfung  seiner  psy- 
chischen Beschaffenheit  währte  noch  fort,  als  zu  Tage  trat,  dass  er 
auch  an  der  Angelegenheit  L.'s  beteiligt  war.  Ursprünglich  glaubte 
man  noch  an  eine  Reihe  andrer,  vornehmen  Klassen  angehörender 
Mitschuldiger  des  L.  Es  ergaben  sich  jedoch  keine  Anhaltspunkte, 
gegen  diese  einzuschreiten.  L.  hat  seinen  Leidenschaften  den  grössten 
Teil  seines  beträchtlichen  Vermögens  geopfert.  Nach  der  Verhaf- 
tung des  jungen  Barons  stellte  dessen  Verteidiger,  Dr.  Steger,  unter 
Beibringung  umfassenden  Materials  das  Ersuchen,  den  Geisteszustand 
dieses  Beschuldigten  einer  gerichtsärztlichen  Beobachtung  unter- 
ziehen zu  lassen.  Diesem  Antrag  wurde  stattgegeben,  wobei  zu- 
gleich die  psychiatrische  Untersuchung  auf  die  Mitbeschuldigten  aus- 
gedehnt wurde.  Nach  zweimonatlicher  Untersuchung  gaben  die  Sach- 
verständigen, Regierungsrat  Dr.  Hinterstoisser  und  Dr.  Sickinger, 
ihr  Gutachten  ab.  Dasselbe  lautete  —  im  Einklang  mit  einer  neueren 
starken  wisäenschaftlichen  Strömung  —  dahin,  dass  Baron  L.,  soweit 
es  sich  um  das  Verbrechen  nach  §  129  handle,  und  Stockhanuner 
sich  unter  einem  die  Straflosigkeit  herbeif  tlhrenden  unwiderstehlichen 
Zwange  befunden  hatten.  Die  übrigen  Beschuldigten,  welche  zum 
Teil  ein  lasterhaftes  Gewerbe  betrieben,  wurden  als  normal  befunden. 
In  Betreff  der  Verleitung  zur  Desertion  durch  L.  wurde  von  den 
Sachverständigen  gleichfalls  keine  Entlastung  durch  Aufhebung  der 
Willensfreiheit  vorgefunden.  Die  heute  getroffene  Entscheidung 
ging  jedoch  dahin,  dass  das  Strafverfahren  gegen  den  Freiherm  v. 
L.  gänzlich  eingestellt  werde.  Abgesehen  davon,  dass  eine  Trennung 
der  beiden  Delikte  bei  der  Beurteilung  schwer  vorzunehmen  sei, 
weil  das  erstere  ein  Motiv  für  das  letztere  bilde,  sei  für  die  Ver- 
leitung zur  Desertion  kein  hinreichender  Beweis  vorhanden,  nachdem 
die  Aussage  Schills  einen  solchen  aus  verschiedenen  GrUnden  nicht 
gebe.  Natürlich  wurde  die  Untersuchung  gegen  den  Kammerdiener 
Stockhammer  (als  dessen  Rechtsfreund  Dr.  Pressburger  fungierte) 
eingestellt  Gegen  Schill  wird  die  Verhandlung  bei  dem  Militärge- 
richt, gegen  die  übrigen  drei  Beschuldigten  beim  Landgericht  statt- 


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finden.    Baron  L.  will  Oesterreich  verlassen  und  sich  nach  Spanien 
oder  Italien  begeben. 


Zu  dem  geheimnisvollen  Gymnasiastenmord,  der,  wie 
wir  kitrzlich  berichtet,  in  Bossland  grosses  Aufsehen  macht  und 
den  man  auf  einen  Anschlag  der  Nihilisten  zurückführte,  wird  den 
„Berl.  Neuest.  Nachr."  aus  Petersburg  geschrieben:  In  Wirklichkeit 
ist  dieses  Verbrechen  durchaus  keine  politische  That  gewesen, 
sondern  einer  jener  Leidenschaftsmorde,  die  in  Bnssland  in  der  letzten 
Zeit  sich  erschrecklich  vermehrt  haben.  Ich  muss  gestehen,  dass 
ich  lange  gezögert  habe,  bevor  ich  mich  entschliessen  konnte,  über 
diese  Sensationssache  zu  schreiben,  denn  es  handelt  sich  dabei  um 
recht  unsaubere  Dinge,  die  ich  unseren  Lesern  lieber  vorenthalten 
hätte.  Nur  die  seit  einiger  Zeit  immer  mehr  einreissende  Gewohn- 
heit der  ausländischen  Korrespondenten,  gleich  alles  Mögliche  und 
Unmögliche,  was  in  Russland  passirt,  lu  politischen  Ereignissen  zu 
stempeln,  zwingt  mich,  die  Wahrheit  über  den  Gymnasiastenmord 

—  anzudeuten.  Wohl  bandelt  es  sich  dabei  wirklich  um  eine  weit- 
verzweigte Konspiration,  doch  nicht  etwa  gegen  das  Zarenhaus  der 
Romanow,  sondern  gegen  die  Königin  Moral  und  die  elementarsten 
Sittlichkeitsprinzipien.  Der  unglückliche,  sechzehnjährige  Junge  fiel 
nicht  als  Opfer  der  grausamen  Nihilisten,  sondern  einer  Bande 
schamloser  Lüstlinge,  die  ihn  erst  verdorben  und  später  —  aus 
Furcht  vor  einer  Denunziation  —  gemordet  haben.  Recht  traurig 
ist  bei  dieser  Sache  der  Umstand,  dass  unter  den  Mitgliedern  dieser 

—  seien  wir  höflich  und  sagen  wir  —  Lebemänner-Bande  sich  manche 
Persönlichkeit  befinden  soll,  die  allgemein  geachtet  wurde  und  ein- 
flussreiche Stellungen  bekleidete;  ja,  selbst  höhere  Offiziere  und 
. . .  Familienväter!  —  Unglaublich,  nicht  wahr?  —  sollen  sich,  wenn 
auch  nicht  an  dem  Morde  direkt,  so  doch  an  Handlungen  beteiligt 
haben,  die  nicht  näher  zu  bezeichnen  sind.  Selbstredend  ist  der 
Skandal  in  Petersburg  unglaublich  gross  imd  anhaltend  Die  ganze 
Stadt  spricht  von  nichts  Anderem,  so  weit  man  über  solche  Dinge 
überhaupt  sprechen  kann.  Die  nissische  medizinische  Gesellschaft 
hat  in  ihrer  letzten  Sitzung  mehrere  darauf  bezügliche  Referate  an- 
gehört, die  alle  in  der  Behauptung  gipfelten,  dass  derlei  Verbrecher 
eigentlich  viel  eher  in  die  Kliniken  für  Geisteskranke  gehören 
sollten,  als  in  das  Zuchthaus.  Mag  sein,  dass  die  Herren  Aerzte 
recht  haben,  aber  die  unglücklichen  Eltern  des  ermordeten  Jungen 

—  der,  nebenbei  gesagt,  das  einzige  Kind  war  —  werden  solch' 
gelehrte  Aussprüche  nicht  trösten  können. 


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—    550    — 

Ein  weiblicher  Knecht.  Ein  seltsames  Ergebnis  hatte  die 
dieser  Tage  in  Glanbits  bei  Riesa  erfolgte  Festnahme  eines  Dienst- 
kneohtes  durch  den  dortigen  Gendarmen.  Der  Verhaftete  war  ver- 
dächtig, einen  falschen  Namen  tu  führen,  und  wurde  zur  weiteren 
Feststellung  nach  dem  Amtsgericht  m  Riesa  gebracht.  Bei  dem 
yerh((r  stellten  sich  schliesslich  Zweifel  an  der  Person  des  Knechtes 
heraus,  und  nach  der  Konsultation  eines  hinzugezogenen  Arztes 
wurde  erwiesen,  dass  der  Knecht  ein  —  Mädchen  war.  Merkwürdiger- 
weise ist  die  so  Verkannte,  die  22  Jahre  alt  ist,  schon  über  ein  Jahr 
auf  dem  betreffenden  Gute  in  Diensten  und  teilte  mit  anderen 
Ejiechten  denselben  Wohn-  und  Schlafraum,  ohne  nur  das  geringste 
Misstrauen  zu  erregen.  Wegen  Führung  eines  falschen  Namens  er- 
hielt sie  eine  mehrtägige  Haftstrafe.  ld./2.  1900. 


üeber  den  Dichter  Oskar  Wilde,  der  bekanntlich  zu  2 
Jahren  Zuchthaus  mit  harter  Arbeit  verurteilt  ist,  wurde  aus  London 
die  Meldung  verbreitet,  er  sei  im  Gefängnisse  zu  Pentonville  wahn- 
sinnig geworden.  Die  Westminster  Gazette  setzte  hinzu,  man  müsse 
sich  im  Interesse  des  hochbegabten  Verbrechers  darüber  freuen, 
denn  geistige  Umnachtung  sei  offenbar  das  Beste,  was  ihm  habe 
zustossen  können  usw.  Der  radikale  Abgeordnete  Labouch^re  stellte 
jetzt  in  seinem  Blatte  Truth  fest,  dass  jene  Nachricht  vollständig 
erfunden  seL  Wilde  sei  geistig  und  körperlich  völlig  gesund,  sagt 
Labouoh^re,  der  seine  Nachricht  wahrscheinlich  vom  Gouverneur 
Mannig  selbst  erhalten  hat.  Unterdessen  sind  auch,  wie  man  aus 
London  weiter  meldet,  die  letzten  Zweifel  an  Wilde's  Schuld  ge- 
schwunden, und  zwar  durch  einen  Brief^  den  sein  Freund  Lord  Al- 
fred Douglas  an  Labouch^re  gerichtet  hat  und  den  dieser  veröffent- 
lichte. Lord  Alfred  Douglas,  der  sich  in  Frankreich  befindet,  ge- 
steht in  diesem  Briefe  seine  Mitschuld  so  deutlich  ein,  wie  man  es 
thun  kann.  Labouch^re  begleitet  den  Brief  denn  auch  mit  der  Be- 
merkung :  „Lord  Alfred  Douglas  hat  den  Mut  seiner  Ueberzeugung, 
aber  es  ist  zu  bedauern,  dass  er  nicht  auch  im  Zuchthause  von 
Pentonville  darüber  nachdenken  kann.** 


Salzburg.  Grosse  Sensation  erregte  dahier  der  Prozess, 
welcher  durch  eine  Beschuldigung  des  Schönerianers  Pacher  gegen 
den  bekannten  Parlamentarier  St,  den  Führer  der  Deutschen  Volks- 
partei, veranlasst  worden  ist  St.  soll  hiemach  mit  einem  jungen 
Wiener  Kellner,  der  auch  von  andern  hochgesteUten  Herren  um- 
ßchwäcpit  und  mit  kofttbiur^  G^chepken  überhäuft  ^ord^  in  straf« 


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—    551     — 

baren  Beziehungen  gestanden  haben.  Die  Matter  des  Kellners  war 
erschienen,  nm  gegen  St.  anszosagen,  wnrde  jedoch  vom  Gericht 
nicht  angeh((rt  Der  Prozess  endete  mit  der  Freisprechung  des  Be- 
schuldigers.   (Dezember  1900). 


H.  T.  6.  Petersburg,  16.  Januar.  Das  Bezirksgericht  in 
Twer  verurteilte  bei  geschlossenen  ThUren  mehrere  Mönche  aus 
einem  naheliegenden  Kloster  zu  Zwangsarbeit  wegen  unnatttrlicher 
Verbrechen.  Zwölf  Mönche  sind  geflohen.  Haarsträubende  Sachen 
sind  enthüllt 


Eine  gar  merkwürdige  „Räubergeschichte''  hat  ein 
junger  Friseurgehilfe,  welcher  bei  einem  im  Südwesten  der  Stadt 
etablierten  Friseur  seit  Mitte  des  Torigen  Sommers  in  Kondition 
stand,  der  Kriminalpolizei  mitgeteilt.  Der  bei  seinen  Eltern  am 
Kottbuser  Ufer  wohnhafte  Gehilfe  Karl  F.  berichtete  nämlich,  dass 
in  dem  Geschäft  seines  Ihinzipals  öfter  ein  sehr  reicher  Amerikaner 
Namens  W.  erschienen  war,  den  er  zumeist  bedient  und  der  ihn 
dann  jedes  Mal  durch  hohe  Trinkgelder  ausgezeichnet  habe.  Eines 
Tages  habe  ihn  der  reiche  Amerikaner  zu  einem  Besuche  nach 
seiner  in  der  Französischen  Strasse  gelegenen  Wohnung  eingeladen 
und  hocherfreut  habe  er  dieser  Einladung  noch  am  selben  Abend 
gegen  9  Uhr  Folge  geleistet.  Im  betrefifenden  Hause  der  französi- 
schen Strasse  sei  er  mittels  eines  Fahrstuhles  in  die  zweite  Etage 
befördert  worden,  in  welcher  die  fürstlich  ausgestattete  Wohnung 
seines  Gönners  liegt.  Er  fand  dort  eine  reich  besetzte  Tafel,  der 
er  auf  unablässiges  Zureden  des  Herrn  W.  eifrig  zusprach,  wobei 
er  noch  viel  Bier  trank  und  eifrig  Zigaretten  rauchte.  P.  behauptet 
nun,  dass  in  dem  Biere  und  in  den  Zigaretten  ein  Sohlafmittelzusatz 
sich  befunden  haben  müsse,  denn  es  habe  sich  alsbald  eine  Erschlaf- 
fung seiner  Glieder  bemächtigt,  gegen  welche  er  vergebüch  an- 
kämpfte. Er  habe  die  Absicht  gehabt,  nach  Hause  zu  gehen,  sei 
aber  in  einen  tiefen  Schlaf  verfallen.  Als  er  gegen  Mittemacht  er- 
wachte, habe  er  den  Gastgeber  bei  einem  Verbrechen  betroffen. 
Gelegentlich  seines  Besuches  will  P.  von  dem  Amerikaner  dunlde 
Andeutungen  über  gewisses  Treiben  in  dem  Geschäfte  seines  Prin- 
zipals erhalten  haben.  —  Die  ganze  Geschichte  klingt  so  eigen- 
tümüoh,  dass  sich  wohl  erst  durch  eine  eingehende  Untersuchung 
feststellen  lassen  wird,  was  hier  Wahrheit  oder  Erfindung  ist 


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—    552    — 

Eine  Auf  sehen  erregend  eVerhaf  tun  g  wird  aasSohneide- 
mflhl  gemeldet.  Dort  wurde  der  auf  dem  benachbarten  Bittergute 
Rzadkowo  auf  Besueh  weilende  Graf  von  Skorzewski  durch  den 
DlBtriktskommiBsar  Mühring  und  einen  berittenen  Gendarmen  ver- 
haftet und  als  üntersuchungsgefangener  dem  Justizgetängnisse  in 
Sohneidemtthl  zugeführt  Graf  v.  S.  ist  43  Jahre  alt  und  Bruder 
des  derzeitigen  Besitzers  der  Herrschaft  Rzadkowo.  Wie  verlautet, 
ist  gegen  den  Grafen  eine  Untersuchung  aus  §  175  des  R.-St-G.-B. 
eingeleitet  worden.  

Ein  gewerbsmässiger  Zechpreller  ist  dieser  Tage  auf 
frischer  That  abgefasst  und  der  Polizei  tiberliefert  worden.  Es  ist 
dies  der  19jährige  Arbeiter  Gustav  Sorge,  in  Verbrecherkreisen 
bekannt  unter  dem  Namen  „Schwenken-Guste".  Der  Vater  des 
Verhafteten  war  seiner  Zeit  Inhaber  des  Schanklokals  Fischerbrücke 
9,  einer  der  berüchtigtsten  Verbrecherkneipen  Berlins,  genannt  die 
„Schwule  Neune'',  die  vor  etwa  zwei  Jahren  polizeilich  aufgehoben 
wurde.  Die  Gesellschaft,  welche  dort  verkehrte,  scheint  auf  den 
jungen  Sorge  nicht  ohne  Eünfluss  gebUeben  zu  sein,  denn  derselbe 
ist  nicht  allein  Stammgast  der  wenigen  noch  in  Berlin  vorhandenen 
Bierlokale,  welche  den  Markt  bilden  für  die  Opfer  reicher  Wüstlinge, 
er  ist  auch  sonst  schon  wegen  Diebstahl  und  Hehlerei  bestraft 
worden.  In  letzter  Zeit  ging  Sorge  in  das  erste  beste  Lokal,  machte 
eine  ansehnliche  Zeche  und  verschwand  dann  spurlos,  ohne  zu  be- 
zahlen. Solcher  Fälle  waren  der  Polizei  schon  zu  Dutzenden  an- 
gezeigt worden,  bis  es  endlich  gelang,  den  Schwindler  bei  einem 
erneuten  Versuche  dieser  Art  anzuhalten  und  festzunehmen. 


4.  März  1893.  Ueber  die  Schiessaffaire  in  Moabit,  über 
welche  wir  bereits  in  der  gestrigen  Abend- Ausgabe  berichtet  haben, 
ist  uns  inzwischen  des  weiteren  mitgeteilt  worden,  dass  der  von 
dem  Militärposten  verfolgte  Herr  auf  der  Polizeiwache  als  der  in 
der  Spenerstrasse  6  wohnhafte  Schauspieler  Schaffer  rekognosziert 
worden  ist.  Derselbe  soll  an  den  vor  dem  Packhofgebäude  stehenden 
Posten  —  Pionier  Heimwarth  —  herangetreten  sein  und  ihm  eine 
merkwürdige  Zumutung  gemacht  haben,  welche  der  Soldat  kurz 
zurückwies.  Der  etwas  angeheiterte  Herr  stiess  infolge  der  Ab- 
weisung den  H.,  worauf  dieser  ihn  fasste,  als  Arrestanten  in  das 
Schilderhaus  stellte  und  sodann  der  Vorschrift  gemäss  sein  Gewehr 
mit  scharfen  Patronen  lud.  Nach  kurzer  Zeit  stiess  der  Arrestant 
jedoch  den  Soldaten  beiseite  und  ergriff  die  Flucht  nach  der  Moltke- 
brücke.    Da  er  auf  das  dreimalige  „Halt'',  welches  der  Soldat  ihm 


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—    553    — 

nachrief,  nicht  stehen  blieb,  gab  dieser  sweimal  Feaer  auf  den  Flttcht- 
ling,  ohne  ihn  su  tre£fen.  Nach  dem  zweiten  Schusse  warf  der 
Verfolgte  sich  zn  Boden  und  wurde  darauf  festgenommen. 


Eine  Skandalaffaire  schlimmster  Art  erregt  in  Kreisen 
des  Wassersports  berechtigtes  Aufsehen.  Es  handelt  sich,  wie  ein 
Berichterstatter  zu  melden  weiss,  um  Orgien  der  schmutzigsten  Sorte, 
die  auf  dem  Segelboot  eines  Berliner  Kaufmanns  auf  dem  Müggelsee 
abgehalten  worden  sind.  Das  Treiben  auf  dem  Fahrzeuge  soll  den 
Anwohnern  des  Müggelsees  schon  seit  längerer  Zeit  aufgefallen  sein, 
und  auf  eine  bezügliche  Andeutung  hin  soll  ein  KOpenicker  Gendarm 
dem  Segelboote,  als  es  gegen  11  Uhr  nachts  in  den  See  hinaus- 
gefahren, in  einem  kleinen  Nachen  heimlich  gefolgt  sein  und  die 
üeberraschung  der  Gesellschaft  während  ihres  Treibens  bewirkt 
haben.  Vier  männliche  Personen  sind  verhaftet  worden  und  werden 
sich  wegen  Vergehens  wider  die  Sittlichkeit  zu  verantworten  haben. 


Eine  gefährliche  Kategorie  von  Verbrechern  treibt 
seit  einiger  Zeit  im  Tiergarten,  nahe  dem  Brandenburger  Thore, 
in  den  Abendstunden  ihr  Unwesen.  Das  raffiniert  angelegte  Ma- 
n(5ver  besteht  in  Folgendem.  Femgekleidete,  allein  in  den  einsamen 
Anlagen  promenierende  Herren  werden  von  einem  jungen  Burschen 
angesprochen,  und  während  sie  auf  die  beliebig  gewählten  Fragen 
desselben  Auskunft  erteilen,  taucht  dann  plötzlich  eine  zweite  Basser- 
mannsche  Gestalt  hinter  dem  Gebüsch  hervor  und  tritt  an  die  im 
Gespräch  befindlichen  mit  der  kategorischen  Forderung  heran,  sie 
mochten  ihm  sofort  nach  der  Polizeiwache  folgen,  denn  sie  hätten 
beide  soeben  unzüchtige  Handlungen  begangen.  Da  der  erste  der 
Burschen,  der  „ Anreisser*' ,  diese  freche  Bezichtigung  absichtlich 
nicht  bestreitet,  so  sieht  der  in  dieser  Weise  Ueberfallene  in  der 
Regel  zu  spät  ein,  dass  die  beiden  unter  einer  Decke  stecken,  und 
kauft  sich,  um  mit  den  Strolchen  nicht  den  Weg  zur  Polizeiwache 
machen  und  sich  noch  sonstigen  Unannehmlichkeiten  aussetzen  zu 
müssen,  durch  irgend  einen  Geldbetrag  los,  in  der  Hoffiiung,  dass 
er  damit  die  Verbrecher  los  ist.  Diese  Hoffiiung  hat  sich  indess 
in  vielen  Fällen  als  trügerische  erwiesen,  denn  die  Burschen  folgten 
zumeist  ihren  Opfern,  oft  bis  in  die  Wohnung,  und  bedrohten  die- 
selben dann  immer  wieder  mit  Anzeigen,  um  aufii  Neue  Schweige- 
gelder zu  erpressen.  Die  Opfer  der  Erpresser  haben  in  der  Regel 
später  umsomehr  von  einer  Anzeige  Abstand  nehmen  zu  müssen 
geglaubt,  als  sie  befürchteten,  dass  die  mehrfach  von  ihnen  gelei- 
steten Zahlungen  als  Schuldbeweis  ausgelegt  werden  könnten.    Die 


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—    554    — 

Bysteraatiscfaen  ErpreBstmgen  sind  in  mehreren  Fällen  so  weit  ge- 
trieben worden,  dass  die  Unglücklichen,  welche  jenen  Blutsangem 
nach  und  nach  alles  geopfert  hatten,  schliesslich  aus  Verzweiflung 
selbst  Hand  an  sich  gelegt  haben.  Gegen  diese  Buschklepper,  die 
sich  zumeist  aus  stellenlosem  Gesindel,  darunter  auch  Hausdienern, 
Kellnern  etc.  rekrutieren,  ist  nur  in  sehr  seltenen  Fällen  Anzeige 
erstattet  worden.  Gestern  ist  es  indess  gelungen,  einem  solchen 
Patron  das  Handwerk  zu  legen.  Dieser  Kerl  hatte  von  einem  Ka- 
valier in  der  geschilderten  Weise  Geld  erpresst,  als  er  seinem  Opfer 
aber  sogar  nach  dessen  ausserhalb  Berlins  gelegenen  Gute  zu  folgen 
die  Frechheit  besass,  erstattete  der  Kavalier  Anzeige ;  der  Bursche 
wurde  verhaftet  und  sieht  nunmehr  einer  exemplarischen  Strafe 
entgegen. 

Ein  Deserteur  in  Frauenkleidern  ist  kürzlich,  wie  die 
„Nat.-Zeitung  meldet,  in  Troppau  (Oesterr.  Schles.)  gefasst  worden. 
Der  Infanterist  Jaskulsky  vom  1.  österreichischen  Infanterie-Regiment 
war  wegen  Desertion  steckbrieflich  verfolgt  Seine  Auffindung  war 
deshalb  erschwert,  weil  der  Infanterist  als  —  Dienstmädchen  in 
Beschäftigung  stand.  Sein  mädchenhaftes  Aussehen  und  der  Um- 
stand, dasB  er  in  früheren  Jahren  als  Damen-Imitator  sich 
produziert  und  daher  seine  Stimm-Mittel  entsprechend  modulations- 
fähig gemacht  hatte,  begünstigten  die  Täuschung.  Auf  einer  Tanz- 
unterhaltung, die  er  als  Dienstmädchen  besuchte,  wurde  er  trotz 
seiner  Frauenkldder  von  einem  Soldaten  erkannt,  der  ihn  auf  dem 
Heimweg  arretieren  üess.  Der  Deserteur  wurde  dem  Gamisons- 
gericht  eingeliefert,  nachdem  er  seiner  Frauenkleider  entledigt  und 
in  eine  männliche  i^vilkleidung  gesteckt  worden  war.    (19. 9. 1900). 


Eine  in  ihren  Einzelheiten  noch  dunkle  Mordaffaire 
beschäftigt  die  Potsdamer  Kriminalpolizei.  In  der  Kietzstrasse  Nr. 
27  dortselbst  bewohnt  seit  einiger  Zeit  der  50  Jahre  alte  Rentier 
Albert  Schmidt  eine  aus  drei  Zimmern  bestehende  Hoch -Parterre- 
wohnung. Schmidt  ist  Junggeselle  und  hielt  starken  Verkehr  mit 
einer  gewissen  nicht  näher  zu  bezeichnenden  Klasse  von  Männern. 
Er  war  früher  in  Neu-Fahrland  Besitzer  eines  umfangreichen  Bauern- 
gutes, das  er  vorteilhaft  verkaufte;  er  war  dort  sehr  geizig.  Im 
vorigen  Jahre  wurde  Schmidt  wegen  Sittliohkeitsverbrechens  zu  einem 
Jahre  Getängnis  verurteilt,  welche  Strafe  er  erst  kürzlich,  bevor  er 
die  Wohnung  in  der  Kietzstrasse  bezog,  verbüsst  hat  Er  ist  durch 
diese  Strafe  aber  nicht  von  seinen  fast  krankhaften  Neigungen  ku- 
riert worden,  denn  fast  allabendlich  konnte  man  ihn  in  den  Strassen 


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Potsdams  umherlungera  und  rieh  namenUioh  an  junge  Soldaten  heran- 
drängen sehen.  Schon  vor  etwa  vier  Wochen  wurde  ihm  dies  zum 
Verhängnis,  indem  Schmidt  im  Lustgarten,  wie  auch  seinerzeit  von 
uns  mitgeteilt,  eines  Abends  von  drei  Soldaten,  von  denen  einer 
zum  Schein  auf  seine  Wünsche  eingegangen,  aber  zwei  handfeste 
Kameraden  in  der  Nähe  versteckt  hatte,  gehörig  durchgeprügelt  wurde. 
Schon  mehrere  Tage  war  es  den  Bewohnern  des  Hauses  Kietzstr. 
27  aufgefallen,  dass  Schmidt  sich  nicht  blicken  Hess.  Der  in  dem 
Hause  wohnende  Schutzmann  Mühlenschulte  Hess  nun  am  Dienstag 
die  Thür  zur  Schmidt'schen  Wohnung  durch  einen  Schlosser  tfffiien. 
Im  Wohnzimmer  lag  Schmidt  als  Leiche  entkleidet  auf  den  Dielen 
in  einer  grossen  Blutlache.  Der  Tod  musste  nach  verschiedenen 
Anzeichen  schon  vor  drei  bis  vier  Tagen  eingetreten  seüi.  Der 
Beamte  benachrichtigte  sofort  seine  vorgesetzte  Behörde.  Am  selben 
Nachmittag  erschienen  in  der  Schmidt'schen  Wohnung  der  Staats- 
anwalt Dr.  Mendelsohn,  Polizeidirektor  von  Balan,  Polizeirat  Jankci 
Kriminalkommissar  Guban  und  der  Kreisphysikus  Sanitätsrat  Dr. 
Passauer  zur  Feststellung  des  Thatbestandes.  Derselbe  ergab,  dass 
Schmidt  emes  gewaltsamen  Todes  gestorben,  denn  am  Hinterkopf 
fand  man  eine  tiefe,  klaffende  Wunde,  die  ihm  anscheüiend  mit. 
einem  dicken  Stück  Holz,  das  blutbesudelt  in  der  Wohnung  ge- 
funden wurde,  beigebracht  war.  Schmidt  scheint  durch  die  Ver- 
letzung, die  er  anscheinend  im  Kampfe  mit  einem  Mann  erhalten, 
nicht  sofort  tot  gewesen  zu  sein,  sondern  erst  später,  nachdem  sein 
Angreifer  entflohen  und  die  Thür  hinter  ihm  wieder  verschlossen, 
gestorben  zu  sein.  Da  bei  ihm  noch  80  Mark  bares  Geld,  sowie 
Uhr  und  Kette  vorgefunden  wurden,  so  scheint  es  auf  eine  Berau- 
bung nicht  abgesehen  gewesen  zu  sein,  vielmehr  nimmt  man  an, 
dass  er  mit  einem  seiner  „Freunde''  in  Konflikt  geraten  und  von 
diesem  im  Streit  erschlagen  worden  ist  Man  hat  einen  blonden, 
jungen  Menschen,  anschemend  emen  Schreiber,  im  Verdacht,  der 
öfter  in  Gesellschaft  Sohmidt's  gesehen  wurde  und  der  erst  vor 
wenigen  Tagen  von  einem  Dienstmädchen  aus  der  Nachbarschaft 
in  Schmidts  Wohnung  bemerkt  wurde.  Schon  vor  einigen  Jahren, 
als  der  Ermordete  noch  in  Neu-Fahrland  wohnte,  machte  er  durch 
ein  Abenteuer  von  sich  reden.  Er  behauptete  nämlich,  dass  er  von 
zwei  vermummten  Kerlen,  die  er  für  ehemalige  Kirsohenpflücker 
gehalten  haben  wollte,  in  seüier  Wohnung  überfallen,  geknebelt 
und  beraubt  worden  sei.  Die  eingeleitete  Untersuchung  hat  damals 
aber  nichts  ans  Licht  gebracht,  so  dass  man  annahm,  die  Sachlage 
habe  einen  anderen,  auf  dem  Gebiete  der  Unsittlichkeit  Hegenden 
Hintergrund.    Ueber  den  Obduktionsbefund  ist  noch  nichts  bekannt 


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geworden,  dass  jedoch  Schmidt  eines  gewaltsamen  Todes  gestorben, 
steht  fest.  Die  Kriminalpolizei  stellt  namentlich  bei  Personen,  welche 
wegen  ihrer  Ausschweihmgen  bekannt  sind,  Ermittelangen  nach 
dem  Thäter  an. 

Zum  Morde  des  Rentiers  Schmidt  in  Potsdam  wird 
zu  unseren  bisherigen  Mitteilungen  weiter  gemeldet,  dass  die  Unter- 
suchung auf  eine  Spur  gef  ilhrt  hat,  wonach  anscheinend  ein  Soldat  die 
Blutthat  vollführt  haben  könnte.  Wie  berichtet,  hat  die  Obduktion 
ergeben,  dass  Schmidt  die  tOdtliche  Kopfwunde  nicht  mit  dem  in 
der  Wohnung  vorgefundenen  Stück  Holz,  sondern  mit  einem  scharfen 
Gegenstand  erhalten  hat.  Der  Hieb  rflhrt  von  einem  Seitengewehr 
her.  Da  nun  Schmidt  vielfach  mit  Soldaten  verkehrt  hat,  so  hat 
sich,  wie  ein  Potsdamer  Korrespondent  schreibt,  der  Verdacht  auf 
einen  bestimmten  Soldaten,  dessen  Name  sogar  bekannt  ist,  ge- 
richtet. Die  Ermittelungen  werden  nun  sehr  durch  den  Umstand 
erschwert,  dass  die  Truppen  zum  Manöver  ausgerückt  sind.  Eme 
von  dem  Staatsanwalt  Dr.  Mendelssohn  dieserhalb  abgesandte 
Depesche  musste  dem  betreffenden  Truppenteil  von  Ort  zu  Ort 
nachgeschickt  werden.  Bis  die  militärischen  Ermittelungen  abge- 
schlossen sind,  ruhen  deshalb  die  Recherchen  der  Kriminalpolizei 
nach  dieser  JEUchtumg  hin.    

Geschieden  wird  die  Ehe  des  Prinzen  A.  von  A.  mit  Prinzessin 
L.  von  Schl.-H.  Der  Prinz  soll,  wie  „plötzlich  bekannt**  wird,  ur- 
nische  Neigungen  haben.  In  eingeweihten  Kreisen  war  es  seit 
Jahren  bekannt,  dass  der  unglückliche  Prinz  sich  vom  Weibe  ab- 
gestossen  fühle  und  seine  jedenfalls  angeborenen  homosexuellen 
Empfindungen  verheimlichen  musste.  Prinz  A.  ist  eine  körperlich 
vollendete  Erscheinung,  ein  geist-  und  gemütvoller  Mann,  der  nicht 
zu  verurteilen,  sondern  nur  zu  beklagen  ist.  24.  IX.  1900. 


Innsbruck,  7.  Juli.  Vorletzte  Nacht  um  11  Uhr  ist  der  auf 
der  Durchreise  befindliche  katholische  Priester  Georg  Chabot  aus 
Nordamerika  wegen  eines  mit  einem  Hausknecht  im  Innpark  ver- 
übten Sittlichkeitsvergehens  verhaftet  worden. 


Innsbruck,  20.  Juli.  Heute  wurde  dahier  der  katholische 
Priester  Georg  Chabot  aus  Canada,  dessen  Verhaftung  kürzlich 
bedeutendes  Aufsehen  erregt  hat,  wegen  eines  in  den  städtischen 
Parkanlagen  an  einem  Hausdiener  verübten  Sittlichkeitsverbrechens 
zu  zwei  Monaten  schweren  Kerkers  verurteilt 


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—    557    — 

Freiwillig  gestellt!  Der  Kleriker  Stefan  Jirgl  aus  Pest, 
welcher  von  der  hiesigen  Kriminalpolisei  gesnoht  wurde,  weil  er, 
wie  in  Nummer  651  gemeldet,  gegen  einen  hochgestellten  Beamten 
emen  Erpressnngsversach  unternommen  hat,  soll  sich,  wie  eine  aus 
Anwaltskreisen  informierte  Korrespondenz  mitteilt,  der  Behörde 
freiwillig  gestellt  haben.  Ueber  das  Auftreten  des  Jirgl  in  Berlin 
bringt  dieselbe  Korrespondenz  folgende  Einzelheiten: 

Vor  etwa  zehn  Tagen  erschien  in  dem  Bureau  eines  hiesigen 
vielbeschäftigten  Anwalts  ein  junger,  leidend  aussehender  Mensch, 
welcher  sich  als  Kandidat  der  Theologie  Stefan  Jirgl  aus  Budapest 
vorstellte  und  anfragte,  ob  der  Anwalt  geneigt  sei,  die  Information 
für  eine  Zivilklage  gegen  einen  Freiherm  entgegenzunehmen,  der 
seit  Jahren  bei  einer  hervorragenden  Persönlichkeit  eine  Vertrauens- 
stellung bekleide.  Auf  Ersuchen  des  Anwalts  stellte  J.  nun  den 
Sachverhalt  folgendermassen  dar:  Vor  vier  Jahren  habe  er  den 
Freiherm  in  der  Gemäldegallerie  zu  München  kennen  gelernt,  wo- 
selbst er  damals  von  seinen  auf  der  Reise  befindlichen  Eltern  zurück- 
gelassen worden  war.  Der  Freiherr  habe  ihn  alsbald  zu  einem 
splendiden  Frühstück  mit  Champagner  eingeladen  und  ihn  nicht 
mehr  aus  den  Augen  gelassen.  Jirgl  begleitete  seinen  neuen  Freund 
sodann  durch  die  Schweiz  und  logierte  mit  ihm  in  Hotels,  woselbst 
wüste  Orgien  gefeiert  wurden,  wobei  er  von  dem  Freiherm  oft  be- 
trunken gemacht  worden  seL  Sein  Vater  habe  damals  Telegramme 
an  alle  möglichen  Hotebi  mit  dem  Ersuchen  gerichtet,  die  beiden 
Reisenden  anzuhalten.  Der  junge  Mann  will  nun  Infolge  jener  Reise- 
abanteuer  körperlich  heruntergekommen  sein;  der  Arzt  habe  ihm 
dringend  angeraten,  seine  Studien  zu  unterbrechen  und  längere  Zeit 
sich  ausschliesslich  der  Erholung  zu  widmen.  Nun  sei  er  nach 
Berlin  gekommen,  um  von  dem  Freiherm  eine  Entschädigung  zu 
eiiangen. 

Der  Rechtsanwalt,  welcher  nicht  geneigt  war,  in  dieser  pein- 
lichen Sache  das  Mandat  einer  Zivilklage  zu  übernehmen,  erklärte 
sich  bereit,  eine  Verständigung  der  beiden  Parteien  herbeizuführen; 
er  gestattete  demzufolge,  dass  Jirgl  in  seinem  Bureau  ein  Schreiben 
an  den  Freiherm  aufsetzte,  welches  der  Anwalt  alsdann  durchlas 
und  für  völlig  unbedenklich  erklärte.  Es  hiess  darin  nur  nach  rein 
thatsächlichen  Mitteilungen,  dass  Jirgl  auf  Grund  seiner  Erfahrangen, 
die  er  beweisen  könne,  gewillt  sei,  eine  Entsohädigungsklage  an- 
zustrengen, es  aber  vorziehen  würde,  einen  gütlichen  Vergleich  mit 
dem  Freiherm  zu  schliessen.  Die  Summe,  die  er  verlangte,  belief 
sich  auf  15000  Mark.  Gleichzeitig  stellte  Jirgl  einen  Schein  ans, 
worin  er  dem  Anwalt  ein  entsprechendes  Honorar  versprach.    Der 


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—    558    — 

Anwalt  erklärte  jedoch,  dass  ein  derartiges  Verfahren  hier  za  Lande 
nicht  tlblich  wäre  und  zerriss  den  Revers.  Hieraus  mnss  Dnn  wohl 
Jirgl  gefolgert  haben,  dass  der  Anwalt  seme  Sache  nicht  führen 
wolle,  denn  er  hat  sich  seitdem  nicht  wieder  blicken  lassen  und 
nur  telephonisch  angefragt,  ob  eine  Antwort  eingegangen  sei.  Der 
Freiherr  hatte  das  Schreiben  sofort  der  Kriminalpolizei  übergeben. 
Infolgedessen  Hess  die  Behörde  bei  dem  Anwalt  recherchieren  und 
auf  Jirgl,  der,  wie  gemeldet,  aus  dem  Hotel,  in  welchem  er  logiert 
hatte,  unter  Zurttcklassung  eines  alten  Plaids  verschwunden  war, 
in  Gasthöfen,  Anwaltsbureaus  etc.  fahnden.  Inzwischen  nahm  Jirgl 
bei  einer  hiesigen  Familie  Wohnung,  welche  er  auf  der  Beise  kennen 
gelernt  hatte.  Er  that  nunmehr  weitere  Schritte,  um  sein  Recht 
weiter  zu  verfolgen.  Aber  die  Anwälte,  an  die  er  sich  wandte, 
lehnten  eine  Vertretung  ab.  Endlich  zog  er  den  Rechtsanwalt  Q. 
zu  Rate.  Als  er  hier  den  Sachverhalt  erzählte,  fiel  ihm  der  Anwalt 
ins  Wort  und  sagte:  „Ich  kenne  Ihre  Sache  bereits;  denn  erstens 
bin  ich  von  der  Kriminalpolizei  ersucht,  Sie  anzuhalten,  und  zweitens 
—  lesen  Sie  hier  selbst  diesen  eben  erschienenen  Zeitungsartikel. '^ 
Jirgl  las  die  Geschichte  seines  Erpressungsversuches  und  zeigte  eine 
tiefe  Entrüstung  über  die  angebliche  Entstellung  seiner  Sache;  zu- 
gleich teilte  er  dem  Anwalt  die  oben  wiedergegebenen  Einzelheiten 
mit  Rechtsanwalt  G.  erklärte  nun :  „Gut,  ich  bin  bereit,  Ihre  Sache 
zu  führen,  wenn  Sie  sich  sofort  der  Kriminalpolizei  stellen."  Jirgl 
bemerkte:  „Das  war  auch  ohnedies  mein  fester  Entschluss."  Zu- 
nächst schrieb  er  seinem  Rechtsanwalt  noch  ausführliche  Informa- 
tionen auf  und  lieferte  sich  sodann  in  der  That  der  Behörde  aus, 
die  ihn  sofort  in  Haft  nahm. 

Durch  die  von  den  hiesigen  Behörden  mit  aller  Energie  ge- 
führte Untersuchung  dürfte  wohl  bald  festgestellt  werden,  ob  die 
Angaben  des  Jirgl  nach  irgend  welcher  Richtung  hin  als  zutreffend 
zu  erachten  seien. 


Der  stud.  theoL  Stefan  Jirgl,  dessen  Verhaftung  wegen 
versuchter  Erpressung  seinerzeit  grösseres  Aufsehen  erregte,  wurde 
gestern  der  ersten  Strafkammer  hiesigen  Landgerichts  I  aus  der 
Untersuchungshaft  vorgeführt.  Der  Angeklagte,  welcher  sich  auf 
Anraten  eines  hiesigen  Rechtsanwalts  dem  Gerichte  selbst  gestellt 
hat,  wird  beschuldigt,  den  Versuch  gemacht  zu  haben,  von  dem 
Kaounerherm  Freiherm  E.  v.  W.  mehrere  Tausend  Mark  zu  er- 
pressen, indem  er  denselben  beschuldigte,  sich  sittlich  an  ihm  ver- 
gangen und  dadurch  seine  Gesundheit  untergraben  zu  haben.  — 
Als  Verteidiger  stand  dem  Angeklagten  der  Rechtsanwalt  Munckel 


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--    55Ö    - 

sur  Seite.  Für  die  Verhandlung  sohloss  der  Gerichtshof  die  Oeffent- 
liohkeit  ans.  Die  Begründung  des  Erkenntnisses  dagegen  erfolgte 
öffentlich.  Aus  derselben  ist  zu  ersehen,  dass  der  aus  Ungarn 
stammende  Angeklagte  durch  Androhung  eines  ZivUprozesses  und 
Hinweis  auf  eventuelle  Veröffentlichungen  kompromittierender  Art 
versucht  hat,  von  dem  Baron  v.  W.  15000  Mark  zu  erhalten.  Der 
Gerichtshof  hat  geglaubt,  dass  dem  bisher  unbestraften  Angeklagten 
ein  gleichfalls  unbestrafter  Zeuge  gegenüberstehe,  welchem  noch  der 
Eid  zur  Seite  stehe,  und  er  hat  deshalb  genau  geprüft,  auf  welche 
Seite  sich  bei  der  Beurteilung  der  Glaubwürdigkeit  die  Wagschale 
neige.  Nach  dieser  sorgfältigen  Prüfung  habe  der  Gerichtshof  den 
Aussagen  des  Barons  v.  W.  den  Vorzug  geben  müssen,  denn  dieser 
habe  sich  nicht  in  einem  einzigen  Punkte  widersprochen,  während 
der  Angeklagte  auf  zahlreichen  Lügen  ertappt  sei.  Der  Gerichtshof 
habe  erwogen,  dass  der  Angeklagte  schon  einmal  dem  Baron  v. 
W.  259  Mark  abgelockt  und  dabei  erzählt  habe,  dass  seine  Eltern 
aus  Gram  über  Verluste  seines  Vaters  an  der  Börse  plötzlich  ge- 
storben seien.  Thatsäohlich  leben  aber  die  Eltern  des  Angeklagten 
noch,  und  die  ganze  Geschichte  sei  nur  erfunden,  um  den  Baron  v. 
W.  weich  zu  stimmen.  Einem  Menschen,  der  so  lügt,  könne  der 
Gerichtshof  nicht  glauben.  Der  Gerichtshof  halte  für  erwiesen, 
dass  die  den  Baron  y.  W.  kompromittierenden  Behauptungen  des 
Angeklagten  nicht  wahr  sind  und  der  Letztere  sich  einer  ver- 
suchten Erpressung  schuldig  gemacht  habe.  Bei  der  Strafabmessong 
habe  der  Gerichtshof  die  Unbesoholtenheit  und  Jugend  des  20jährigen 
Angeklagten  berücksichtigt,  anderseits  aber  die  unglaubliche  Frech- 
heit und  Halsstarrigkeit  des  Angeklagten,  womit  derselbe  sogar 
zwei  Rechtsanwälte  düpiert  habe.  Der  Gerichtshof  hat  deshalb 
nach  dem  Antrage  des  Staatsanwalts  auf  IVj  Jahre  Gefängnis  und 
2  Jahre  Ehrverlust  erkannt  —  Der  Angeklagte  erklärte,  sich  bei 
diesem  Erkenntnisse  nicht  zu  beruhigen. 


Durch  die  Polizei  geschlossen  wurde  gestern  um  die 
Mittagszeit  das  Sohanklokal  von  W.,  Schützenstrasse  55,  »Der  kleine 
Salvator"  genannt.  Es  verkehrten  dort  zumeist  der  Prostitution 
ergebene  Männer,  von  denen  viele  Frauenkleidung  zu  tragen  pflegten. 
Das  Treiben  in  diesem  Lokale  soll  ein  überaus  skandalöses  ge- 
wesen sein. 

Ein  Mädchen  in  Männerkleidung.  Letzthin  verurteilte 
das  Landgericht  zu  Dresden  den  angeblichen  Dienstkneoht  Ernst 
Schulze,  der  angeblich  am  12.  Mai  1881  zu  Burg  bei  Hoyerswerda 


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—    660   — 

geboren  ist,  wegen  Unterschlagung,  Urkandentälsohung  ■  und  Be- 
truges zu  sechs  Monaten  Gefängnis.  Ais  der  Verurteilte  zur  Ver- 
büssung  der  Strafe  eingeliefert  wurde,  stellte  der  Geriohtsarzt  Me- 
dizinalrat Dr.  Donau  fest,  dass  Schulze  ein  Mädchen  sei.  Die  weitere 
Untersuchung  ergab,  dass  es  sich  um  die  am  6.  April  1875  zu  Neu- 
dorf bei  Hoyerswerda  geborene  Dienstmagd  Johanna  Casper  handelte. 
Sie  hat,  ohne  dass  jemand  hinter  das  Geheimnis  gekommen  wäre, 
eine  ganze  Reihe  von  Jaliren  Männerkleidung  getragen,  als  Dienst- 
knecht gearbeitet  und  ist  auch,  wie  bemerkt,  als  solcher  verurteilt 
worden.  Weil  sie  sich  eines  ihr  nicht  zukommenden  Namens  einem 
zuständigen  Beamten  gegenüber  bedient  hatte,  wurde  sie  des  wei- 
teren zu  einem  Monat  Haft  verurteilt. 


Köln,  8.  Januar  1901.  In  jeder  Grossstadt  giebt  es  eine  Menge 
lichtscheuer  Existenzen,  die  durch  ihr  niederträchtiges  Treiben  an- 
dern Leuten  mit  f^ressungsversuchen  schmutzigster  Art  zu  Leibe 
rücken  und  sie,  falls  die  f^ressung  abgewiesen  wird,  ruinieren  und 
Streit  und  Unfrieden  in  bis  dahin  glücklichen  Familien  stiften. 
Leider  kommt  dieses  Treiben  nur  selten  ans  Tageslicht.  Ein  solch 
äusserst  gemeingefährlicher  Mensch  ist  der  Tagelöhner  Hermann 
Bog  mann  von  hier,  der  sich  heute  vor  der  Strafkammer  des  kgl. 
Landgerichts  wegen  der  Anklage  der  versuchten  Erpressung  und 
der  wissentlich  falschen  Beschuldigung  zu  verantworten  hatte.  Der 
Angeklagte  richtete  im  Oktober  v.  J.  an  einen  hiesigen  Kaufmann 
einen  Brief^  worin  er  von  dem  Adressaten  die  Zahlung  von  40  Mk. 
verlangte,  widrigenfalls  er  ihn  wegen  widernatürlicher  Unzucht  an- 
zeigen werde.  Als  der  Kaufmann  auf  den  plumpen  Erpressungs- 
versuch nicht  einging,  führte  Bogmann  seine  Drohung  aus  und 
denunzierte  jenen  bei  der  Staatsanwaltschaft.  Aus  dieser  Beschul- 
digung erwuchsen  dem  Kaufmann  die  grössten  Unannehmlichkeiten 
und  Nachteile,  denn  er  wurde  auf  der  Beise  plötzlich  verhaftet, 
dann  14  Tage  in  Untersuchungshaft  gehalten  und  verlor  schliesslich 
dadurch  auch  noch  seine  Stellung.  Die  Untersuchung  und  die  Ge- 
richtsverhandlung, die  bei  verschlossenen  Thüren  geführt  werden 
muBste,  ergab,  dass  die  Beschuldigung  des  Bogmanu  gegen  den 
Kaufmann  vollständig  haltlos  war.  Das  Gericht  erkannte  gegen 
BogmanB  auf  8  Jahre  Gefängnis  und  5  Jahre  Ehrverlust 


Ulm,  80.  August  Wegen  einer  Beihe  von  Sittlichkeitsver- 
brechen (§  175  des  K-Str.-G.-B.)  wurden  der  frühere  Hauptmann 
M.  C.  aus  Kannstatt,  die  Friseure  E.  0.  Seh.  aus  Ulm  und  G.  aus 
Dudweiler  und  der  Hntmacher  K.  aus  Giengen  von  der  Strafkammer 


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—  Sei   — 

des  hiesigen  Landgerichts  zu  Getängnisstrafen  von  5,  2,  7  und 
2  Monaten  verurteilt  Die  Verbrechen  sind  anlässlioh  der  Nach- 
forschungen über  die  Ermordung  des  Friseurlehrlings  Paul  Müller 
hier  zu  Tage  gekommen. 


Neues  Wiener  Tageblatt  vom  10.  Juli  1900.  (Selbstmord 
eines  Majors.)  In  Herkulesbad  hat  sich  dieser  Tage  der  Major 
des  in  Stuhlweissenburg  gamisonierenden  69.  Infanterie-Regiments, 
Michael  Cimpoca,  durch  einen  Bevolverschuss  entleibt.  Major 
Cimpoca,  ein  verhältnismässig  junger,  eleganter  Stabsoffizier,  war 
Ende  Juni  nach  Herkulesbad  gekommen.  Er  zeigte  sich  sehr  selten 
in  Gesellschaft  und  führte  ein  sehr  zurückgezogenes  Leben.  Die 
Ursache  des  Selbstmordes  ist  völlig  unbekannt.  Die  That  ist 
um  so  unerklärlicher,  als  der  Offizier  in  geordneten  Verhält- 
nissen lebte.  Wie  verlautet,  war  Major  Cimpooa  seit 
einigen  Monaten  mit  einem  jungen  Mädchen  aus  guter 
Familie  verlobt  und  hätte  seine  Braut  schon  demnächst 
zum  Traualtar  führen  sollen. 


Ein  dreister  Erpressungsversuch  ist  dieser  Tage  gegen 
einen  hiesigen  hochgestellten  Beamten  ausgeführt  worden.  Derselbe 
lernte  vor  einigen  Jahren  in  einer  Gemälde-Sammlung  zu  München 
einen  jungen  Kleriker,  Namens  Stefan  Jiergel,  kennen,  mit  welchem 
er  sich  in  ein  Gespräch  über  Kunst  und  Litteratur  einliess.  Da  der 
junge  Mann  auf  diesen  und  anderen  Gebieten  wohlbewandert  war, 
auch  sonst  einen  hohen  Grad  von  Bildung  verriet,  so  verkehrte  der 
Beamte  damals  noch  öfters  mit  ihm,  machte  auch  später,  als  er 
seinen  jungen  Freund  in  Pest  wiedertraf,  von  dort  einen  gemein- 
schaftlichen Ausflug  mit  demselben.  In  voriger  Woche  meldete  sich 
der  aus  Pest  gebürtige  Jiergel  bei  dem  hier  wohnhaften  Beamten 
und  suchte  gleich  bei  Gelegenheit  dieses  ersten  Besuches  ein  Dar- 
lehn nach,  was  der  Beamte  indess  abschlug.  Wenige  Tage  darauf 
empfing  der  Beamte  einen  Brief  des  J.,  in  welchem  dieser  ihm  mit 
einer  Klage  drohte,  wenn  der  Beamte  für  ihn  nicht  umgehend 
15,000  Mark  Schweigegeld  bei  seinem  Rechtsanwälte  deponiere. 
Da  der  Bedrohte  sich  eines  unerlaubten  Umganges,  dessen  er  sich 
mit  dem  Briefschreiber  schuldig  gemacht  haben  sollte,  nicht  bewusst 
war,  so  übergab  er  das  Schreiben  einfach  der  Kriminalpolizei,  welche 
die  Verhaftung  Jiergels  beschloss.  Dieser  war  indess  nirgends  zu 
ermitteln;  das  Hotel,  in  welchem  er  logierte,  hatte  er  bereits  wieder 
verlassen,  und  auch  bei  seinem  Rechtsanwalt  erschien  er  nicht  mehr 
persönlich,  sondern  fragte  nur   ab   und  zu  telephonisch   nach,  ob 

Jahrbuch  m.  36 


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—    562    — 

die  15,000  Mark  eingegangen  seien.  Die  Polizei  vermutet  gleich- 
wohl, dass  Jiergel,  der  wahrscheinlich  Wind  von  der  Anzeige  be- 
kommen hat,  sich  hier  —  vielleicht  bei  Freunden,  welche  von  seinem 
getährlichen  Treiben  keine  Kenntnis  haben  —  noch  aufhält.  Der 
Gesuchte  ist  zirka  20  Jahre  alt,  schlank,  hat  schmales,  blasses 
Gesicht  und  Anflug  von  kleinem,  dunklem  Schnurrbart;  er  spricht 
das  Deutsche  mit  fremdem  Accent  und  trägt  dunklen  Ueberzieher 
mit  Pelzkragen  und  spitze,  mit  Knöpfen  besetzte  StiefeL 


Angeborene,  unverschuldete,  geschlechtliche  Abneigung  ist 
gerade  beim  Manne  verbreiteter  als  viele  ahnen.  Nicht  alle  Jung- 
gesellen sind  selbstsüchtige  Ichmenschen.  Auch  Mädchen  zeigen 
mitunter  unüberwindliche  Abneigtmg  gegen  die  Ehe,  Es  giebt  zahl- 
reiche sogenannte  Altjungfem,  deren  Loos  selbstgewollt  ist  Sollen 
diese  auch  besteuert  werden?  Junggesellensteuer  kann  u.  £.  nur 
begdindet  werden  mit  dem  Hinweise,  dass  der  Junggeselle  steuer- 
kräftiger ist  als  der  Familienvater,  welcher  ausserdem  um  den 
Beistand  des  Staates  mehr  bemflht  ist,  als  jener.  Aber  als  Strafe 
Itir  Selbstsucht?!  Nein.  Gegenüber  der Thatsache,  dass  verkehrte 
Geschlechtsempfindung  durchaus  angeboren  sein  und  einen  unüber- 
windlichen Abscheu  vor  den  ehelichen  Freuden  begründen  kann, 
muss  man  mit  solchen  Vorwürfen  vorsichtig  sein.  Die  ärztlichen 
Forschungen  —  man  vergleiche  insbesondere  unter  anderen  Werken 
„Psychopathia  sexualis^  von  dem  Wiener  Psychiater  Geh.  Hofrat 
Professor  Dr.  von  Krafft-Ebing  —  haben  Licht  in  diese  Verhältnisse 
gebracht  und  ausserdem  dargethan,  dass  die  strafgesetzUchen  Be- 
stimmungen gegenüber  der  homogenen  Liebe  ein  Unrecht  sind. 
Von  ihrem  Wesen  bestehen  in  der  Oeffentlichkeit  ganz  falsche  Vor- 
stellungen. Nicht  immer  ist  jeder  Junggeselle  ein  Ichmensch  und 
somit  verdammenswert  (Schriftleitung  des  „Deutschen  Burschen- 
schafter'' in  einer  Anmerkung  zu  einem  Aufsatz  über  Junggesellen- 
steuer, No.  8.  1898.) 

New -York,  12.  Februar.  Ein  furchtbarer  Skandal  dürfte  in 
einigen  Tagen  platzen,  und  es  stehen  Verhaftungen  von  mehreren 
des  Giftmordes  an  Bamet  und  Frau  Adams  verdächtigen  Persön- 
lichkeiten bevor.  Der  Distriktsanwalt  Gardiner,  der  den  Fall  führt, 
gab  heute  den  Vertretern  der  Presse  eine  Erklärung  ab,  indem  er 
ihnen  mitteilte,  er  sei  überzeugt,  dass  mindestens  drei  Personen 
den  Tod  Bamet's  und  der  Frau  Adams  herbeigeführt  hätten.  Er 
kenne  ihren  Namen  und  das  Motiv,  das  sie  zur  That  trieb.  „Es 
muss  ein  förmlicher  Verbrecherstall  ausgekehrt  werden, '^  sagte  Gar- 


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-  S6ä  - 

diner.  „Die  EnthüUungen  werden  Personen  blossBtellen,  die  im 
sozialen  Leben  sehr  hoch  stehen,  aber  ich  werde  mich  durch  kei- 
nerlei Rücksichten  beeinflussen  lassen  und  schonungslos  vorgehen.^ 
Diese  energische  Sprache  der  leitenden  Magistratsperson  lässt  keinen 
Zweifel  daran,  dass  es  nunmehr  ernst  werden  soll  und  dass  weder 
Stellung  noch  Reichtum  die  Schuldigen  retten  wird,  wenn  es  ihnen 
auch  gelungen  ist,  die  Enthüllung  des  Mordgeheimnisses  durch  fünf 
Wochen  zu  yereiteln ,  indem  sie  das  Geld  mit  vollen  Händen  aus- 
streuten. Die  Sensation  wird  aber  dabei  nicht  stille  halten  und 
es  stehen  noch  viele  skandalöse  Enthüllungen  bevor,  es  werden 
perverse  Zustände  und  Neigungen  aufgedeckt  werden, 
welche  selbst  die  Skandalaffären  der  Clevelandstreet  und 
des^Aesthetikers^  Wilde  bei  weitem  übertreffen  sollen. 
Die  Untersuchung  hat  scheussliohe  Thatsachen  an  das  Tageslicht 
gebracht,  und  die  Namen  zahlreicher  hervorragender  Bürger  und 
Millionäre  werden  in  unheilbarerW eise  kompromittiert 
werden.  Viele  Mitglieder  des  „Knickerbocker  Atleticklub"  haben 
aus  dem  angedeuteten  Laster  einen  förmlichen  Kultus 
gemacht.  Wie  es  nunmehr  feststeht,  hatten  dieselben  luxuriöse 
Räumlichkeiten  gemietet,  woselbst  sie  bis  vor  kurzem  wohnten. 
Die  Zimmer  waren  mit  orientalischem  Luxus  eingerichtet; 
nur  ein  Japanese,  ein  schweigsamer  Bursche,  hatte  die  Bedienung 
zu  besorgen.  Im  Atleticklub,  der  zahlreiche  ehrenwerte  Mitglieder 
enthält,  war  der  Charakter  jener  Wohnung  bekannt  geworden  und 
verschiedene  Ifitglieder,  darunter  namentlich  Bamet  und  Cemish, 
hatten  sich  offen  in  unzweideutigster  Weise  hierüber  ausgesprochen. 
Dies  scheint  den  feigen  Mördern  den  Plan  eingegeben  zu  haben, 
diese  Männer  aus  dem  Wege  zu  räumen,  um  nicht  in  der  steten  Furcht 
zu  schweben,  eines  Tages  verraten  zu  werden.  Sie  wären  aus  der 
öffentlichen  Gesellschaft  ausgestossen  worden  und  für  ewige  Zeiten 
gebrandmarkt  gewesen.  Dies  sind  die  verbürgten  Meldungen.  Es 
sind  hier  noch  viele  Versionen  weit  sensationellerer  Natur 
im  Umlaufe,  die  vielfach  geglaubt  werden,  aber  noch  nicht  er- 
wiesen sind.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  New- York  vor 
einem  Skandale  steht,  wie  er  sensationeller  selbst  in  der  an  derlei 
VortäHen  so  reichen  Chronik  unserer  Stadt  seinesgleichen  sucht 


Friedrich  Wilhelm  I.  schenkte  1731  der  Stadt  Potsdam  818 
Thaler  zu  Feuerlösch- Gerätschaften  und  205  Thaler  21  Gr.  Kosten, 
welche  durch  die  Hinrichtung  der  Kindesmörderin  Pet seh  und  des 
Sodomiten  Lepsch  der  Stadt  erwachsen  waren.  (27  Thaler  erhielt 
der  Scharfrichter  für  die  Tortur  und  die  Execution  der  Petsch, 

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16  thaier  kostete  das  Gerüst  zum  Sacken.  —  27  Thaler  bekam  der 
Scharfrichter  an  £xeontions- Gebühren  für  Lepsoh  und  16  Thaler 
5  Gr.  wurden  für  3  Haufen  Holz,  Stroh  und  Theer  zur  Verbrennung 
gezahlt,  15  Thaler  erhielt  das  Schmiedegewerk  für  Halseisen, 
Galgen  und  Bad.) 

Wagner  (Wie  Potsdam  eine  Kämmerei  erhält.)  Mitteilungen  des 
Vereins  für  die  Gesch.  Potsdams.  Nr.  253.  Neue  Folge,  IL  Teil 
(Bd.  VH),  P.  G.  130.  

In  der  „Voss.  Zeitg.''  vom  Freitag,  28.  Mai  1886,  war  berichtet, 
dass  der  Handlungsreisende  einer  Leipziger  Firma  wegen  eines  Ver- 
brechens gegen  §  175,  welches  er  in  Suhl  begangen,  von  dort 
aus  steckbrieflich  verfolgt  und  in  Leipzig  verhaftet  worden  war. 
Dort  Hess  er  sich  von  dem  Polizisten  noch  einmal  nach  dem  Hause 
seines  Prinzipals  führen,  und  während  der  Polizist  mit  diesem  sprach, 
trat  jener  an  einen  Kasten,  angeblich  um  einige  lUeidungsstücke 
herauszunehmen,  ergri£f  aus  demselben  einen  Bevolver  und  er- 
schoss  sich.  

Die  in.  Strafkammer  hiesigen  Landgerichts  I.  beschäftigte  sich 
gestern  mit  einer  Gesellschaft  von  Männern,  die  das  Seeger'sche 
Restaurant,  Jägerstrasse  10,  zum  Schauplatze  ihrer  unnennbaren 
Lüste  gemacht  hatten.  An  ihrer  Spitze  befand  sich  der  längere  Zeit 
unsichtbar  gewordene  Restaurateur  Seeger,  welcher  sich  schliess- 
lich selbst  gestellt  hatte,  dann  dessen  Kellner,  drei  Kaufleute,  ein 
Bentier,  ein  Schullehrer,  ein  Schneider,  ein  Diener  und  noch  ein 
Kellner.  Der  Staatsanwalt  beantragte  gegen  die  beiden  Erst- 
genannten je  ein  Jahr  Gefängnis,  gegen  die  übrigen  Angeklagten 
je  3  Monate  Gefängnis.  Der  Gerichtshof  verurteilte  den  Restaurateur 
Seeger  zu  8  Monaten  Gefängnis,  einen  schon  bejahrten  Kaufmann 
zu  4  Monaten,  die  übrigen  zu  3  Monaten  Gefängnis  und  sprach  den 
Schullehrer  freL  Letzterer  ist  schon  einige  Zeit  vom  Amte  sus- 
pendiert und  seinetwegen  wohnte  ein  Magistratsbeamter  der  Ver- 
handlung bei.  1.  12.  85. 

Breslauer  Zeitung,  17.  Juli  1886.  Heute  der  Jubeltag  der 
sogenannten  „Armensünderglocke"  auf  dem  Magdalenenturm,  welche 

heute  ein  halbes  Jahrtausend  alt  geworden  ist. Die  von  Wü- 

helm  Müller  in  seinem  bekannten  Gedicht  „War  einst  ein  Glocken- 
giesser^*  behandelte  Erzählung  lässt  sich  als  historisch  wahr  nicht 
nachweisen. Fest  steht,  dass  vom  Jahre  1526  ab  auf  den  An- 
trag des  Breslauer  Beformators  Johann  Heiss  der  Bat  der  Stadt 


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—    565    — 

den  zur  Riohtstatt  geführten  Delinquenten  nnr  die  Glocke  von 
Maria  Magdalena  und  niobt  mehr,  wie  bisher,  auch  noch  die  von 
St.  Elisabeth  läuten  Hess.  Diese  Verordnung  trat  zum  ersten  Male 
bei  einem  Schreiber,  Namens  Johann  Beer,  einem  Glogauer,  in 
Kraft;  denn  „dieser  hatte  mit  einem  Knaben  Böses  ver- 
übt" —  „Er  wurde  gerichtet  und  verbrannt" 


G.  Anzgr.  v.  20.  Dezbr.  1900.  In  Haft  genommen  wurde  eine 
Mannsperson,  die  in  Frauenkleidern  auf  den  Strassen  Un- 
fug verübte.  Der  Betreffende  scheint  aber  auch  schwere  Straf- 
thaten  auf  dem  Kerbholz  zu  haben,  denn  man  hat  es  für  nOtig  be- 
funden, ihn  für  das  Verbrecheralbum  zu  photographieren. 


London,  5.  Juli  1886.  Ein  17  jähriger  Bursche,  Namens  John 
Osborne,  der  von  einem  jungen  Mann,  Namens  Marling,  unter  der 
Drohung,  ihn  eines  unnatürlichen  Verbrechens  zu  bezichtigen,  Geld 
und  eine  Uhr  im  Werte  von  40  Lstr.  erpresst  hatte,  wurde  im 
Zentral-Kriminalgerichtshof  in  London  zu  lebenslänglicher  Zucht- 
hausstrafe verurteilt    (D.  H.) 


Strafkammerverbandlung,  5.  Juli.  Vorsitzender :  Herr  Landgerichts- 
rat Dr.  Gillischewsky.  Staatsanwaltschaft:  Herr  Assessor  Hoffstedt* 
Wegen  versuchter  Erpressung  stand  der  Hausdiener  E.  vor  Gericht 
Der  noch  jugendliche  Mensch  ist  baar  jeglichen  Gefühls  der  Dank- 
barkeit. Auf  der  Strasse  lernte  er  einmal  den  Zeugen,  früheren 
E^enbahnassistenten,  jetzigen  Kaufmann  W.  kennen,  der  ihn  beim 
Betteki  antraf  und  ermahnte,  er  solle  dies  lieber  unterlassen.  Als 
der  fremde  Bettler  nun  ein  recht  klägliches  Gesicht  machte,  nahm 
W;  ihn  mit  nach  Hause,  gab  ihm  zu  essen  und  zu  trinken  und  liess 
ihn  dann  gehen.  Am  nächsten  Tage  kam  E.  wieder  und  war  nun 
fast  täglicher  Gast  des  Herrn  W.,  den  er  nach  allen  Begeki  der 
Bettelkunst  „neppte",  ihm  Geld  abborgte  und  sich  Sachen  schenken 
liess.  Als  endlich  nun  die  Sache  zu  bunt  wurde  und  er  dem  Un- 
dankbaren die  Thür  wies,  schrieb  dieser  ihm  einen  Brief,  in  dem 
er  sofort  20  Mk.  verlangte,  da  er  andernfalls  den  W.  wegen  an  ihm 
begangener  unsittücher  Handlungen  denunzieren  würde.  Durch  die 
Verhandhmg  wurde  nichts  Diesbezügliches  erwiesen  und  derf^resser 
auf  4  Monate  ins  Gefängnis  geschickt.     (Potsd.  Int  BL    5.  7.  99.) 


Ein  Sprung  aus  dem  Fenster.  Eine  eigentümliche  Affäre, 
die  trotz  ihrer  Abscheulichkeit  und  Infamie  einer  gewissen  Tragi- 
komik   nicht  entbehrt,   hat  sich  in  der  Lunkwitzstrasse  abgespielt 


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Am  frühen  Morgen  des  gestrigen  Tages  wurden  die  Bewohner  des 
Haoses  Nr.  5  durch  gellende  Hilferufe  aus  dem  Schlafe  geweckt. 
Die  Hinzueilenden  konnten  noch  wahrnehmen,  dass  aus  einem 
Fenster  des  ersten  Stockwerkes  ein  junger  Bursche,  in  dem 
man  den  Diener  eines  im  selben  Hause  wohnenden  Studenten  er- 
kannte, in  den  Hofraum  hinabsprang,  wo  er,  scheinbar  ver- 
letzt, liegen  blieb.  Man  glaubte,  dass  der  jugendliche  Diener, 
dessen  Name  Richard  Hine  ist,  einen  Selbstmordversuch  unter- 
nommen habe.  Er  jammerte  unausgesetzt  und  es  dauerte  eine 
ziemliche  Weile,  ehe  er  dazu  gebracht  werden  konnte,  die  nach- 
stehende, sehr  merkwtlrdige  Darstellung  von  einem  Vorfall  zu  geben, 
der  sich  unmittelbar  vorher  in  dem  Schlafzimmer  seines  Herrn  ab- 
gespielt hatte.  Der  Dienstgeber  ist  der  Student  Theodor  von 
Gr.,  der  Sohn  eines  Gutsbesitzers.  Mit  wissenschaftlichen  Studien 
scheint  v.  Gr.  sich  nicht  sonderlich  zu  beschäftigen.  Er  liebt  es,  in 
seiner  aus  mehreren  hochelegant  eingerichteten  Zimmern  bestehenden 
Wohnung  Zechgelage,  bei  denen  es  hoch  hergeht  und  die  bis  zum 
frlihen  Morgen  währen,  zu  veranstalten.  Auch  gestern  hatten  die 
Gäste  des  adeligen  Studenten  erst  um  die  zweite  Morgenstunde  Ab- 
schied genommen.  Von  Gr.  war  dann  noch  eine  Weile  sitzen  ge- 
blieben; seinen  jugendlichen  Diener  forderte  er  auf,  dass  er  doch 
auch  etwas  trinken  möge,  dann  möge  er  sich  in  sein,  v.  Gr.'s,  Bett 
schlafen  legen.  Der  Bursche  fand  das  letztere  Ansinnen  seines 
Herrn  etwas  sonderbar,  doch  nachdem  ihm  der  Baron  erklärt  hatte, 
er  müsse  thun,  was  er  ihm  befehle,  begab  sich  Hine  in  dem  Schlaf- 
zimmer seines  Herrn  zur  Buhe.  Bald  darauf  spielte  sich  eine  nicht 
zu  schildernde  Szene  ab,  in  deren  Verlauf  der  adelige  Student  einen 
abscheulichen  Angriff  gegen  den  jungen  Mann  verübte. 
Hine,  der  sich  der  Angriffe  seines  Herrn  nicht  zu  erwehren  ver- 
mochte, schrie  so  laut  um  Hilfe,  dass  Personen  in  den  Nachbar- 
wohnungen aufmerksam  wurden.  Es  gelang  schliesslich  dem  Diener, 
sich  den  Händen  v.  Gr.  zu  entwinden  und  in  seine  Kammer  zu  eilen. 
Aber  auch  dahin  verfolgte  ihn  sein  Herr,  und  Hine,  ausser  sich  vor 
Angst  und  Entsetzen,  vermochte  sich  nur  dadurch  zu  helfen,  dass 
er  aus  dem  Fenster  in  den  Hofraum  hinabsprang.  Gleich- 
zeitig schrie  er  laut  um  Hilfe.  Bei  dem  Sprunge  aus  dem  ersten 
Stocke  hatte  er,  wie  später  festgestellt  wurde,  auch  innere  Ver- 
letzungen erlitten.  Mitteilt  Krankenwagens  wurde  er  zunächst 
auf  die  Unfall-Station  in  der  Belle- Alliancestrasse  und  von  dort 
nach  dem  Krankenhause  am  Urban  gebracht.  Der  adelige  Student, 
der,  wenn  die  Darstellung  seines  Dieners  auf  Richtigkeit  beruht, 
sich  eines  schweren  Verbrechens  schuldig  gemacht  hat,  hält  sich 


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in  seiner  Wohnung,  in  der  er  sich  ganz  allein  befindet,  einge- 
schlossen. Es  wird  Niemandem  geöffnet.  An  die  in 
Magdeburg  wohnhaften  £ltem  des  von  seinem  H«rm  so  sobmählioh 
inissbrauchten  jungen  Dieners  ist  von  Hausleuten  auf  telegraphischem 
Wege  von  dem  Vorfalle  Mitteilung  gemacht  worden.  Der  Polizei 
durfte  wohl  schon  von  ärztlicher  Seite  Anzeige  erstattet  worden  sein. 

V.  1900. 


Ueber  .einen  Skandal  unangenehmster  Art  in  Theater- 
kreisen berichtet  das  „BerL  TagebL"  aus  Weimar,  den  30.  Aug.: 
Der  bevorstehenden  ErOffiiung  der  neuen  Spielzeit  im  grossherzog- 
lichen Hoffcheater  geht  ein  Ereignis  voraus,  das  einen  traurigen 
Einblick  in  die  Verschiebung  der  Personalverhältnisse  gewährt,  die 
sich  früher  mit  Recht  eines  musterhaften  Rufes  erfreuten.  Heute 
ist  in  Weimar  der  Ausgang  einer  Gerichtsverhandlung  bekannt 
geworden,  die  sich  in  voriger  Woche  hinter  verschlossenen  ThUren 
in  Berlin  abspielte,  woriiber  bisher  noch  nichts  in  die  Oe£fentlich- 
keit  gedrungen  war.  Der  grossherzoglich  sächsische  Hofschau- 
spicler  Gregory,  mit  richtigem  Namen  Haupt,  ist  wegen  versuchter 
Erpressung  zu  sechs  Monaten  Gefängnis  und  sein  angeblicher  Diener, 
ein  gewisser  Fritz  Völker,  wegen  fortgesetzter  Erpressung,  wegen 
Diebstahls  in  wiederholtem  Rückfall  und  wegen  Freiheitsberaubung 
zu  vier  Jahren  Zuchthaus,  füni^^^^?^"^  Ehrverlust  und  Stellung 
unter  PoUzeiaufisicht  verurteilt  worden.  Gregory  kam  im  Sommer 
vorigen  Jahres  vom  Landestheater  in  Prag  nach  Weimar  und  ward 
hier  Nachfolger  von  Paul  Riecke  im  Fache  der  jugendlichen  Helden 
und  Liebhaber,  nachdem  Prange  und  Ludwig  nach  kurzer  Zeit 
ausgeschieden  waren.  Die  Lebensverhältniäse  Gregorys  wurden 
in  Weimar  bald  zum  Stadtgespräche,  zumal  das  einsame  Garten- 
haus, in  dem  er  wohnte,  mehrfach  von  Polizeibeamten  umstellt 
wurde,  die  auf  den  Diener  Fritz  Völker  fahndeten,  der  durch  die 
Gärten  rechtzeitig  die  Flucht  zu  ergreifen  wusste;  doch  konnte  er 
seiner  Gefangennahme  schliesslich  nicht  entgehen.  In  künstlerischer 
Hinsicht  fand  Gregory  hier  scharfe  Verurteilung,  doch  erfreute  er 
sich  der  Gunst  des  Generalintendanten  v.  Vignau,  in  dessen  Hause 
und  an  dessen  Tafel  er  zu  einem  gewissen  Neide  der  Kollegen 
sehr  freundlich  aufgenommen  wurde.  Gegen  Ende  der  vorigen 
Spiebeit  verschwand  Gregory  plötzlich,  und  bald  verbreitete  sich 
das  Gerücht,  dass  er  in  Charlottenburg  verhaftet  sei.  Die  Einzel- 
heiten der  Vergehen  entziehen  sich  aus  SittUchkeitsgründen  der 
Auseinandersetzung.  Es  kann  nur  angedeutet  werden,  dass  Völker 
eigenartige  Beziehungen  zu  einem  angesehenen  höheren  Beamten 


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in  Berlin  hatte,  auf  Grund  deren  es  ihm  möglich  wurde,  kolossale 
Erpressungen  zu  begehen,  die  sein  Opfer  fast  bis  zum  Selbstmorde 
getrieben  haben.  Endlich  fasste  der  Beamte  den  Entschluss,  den 
Schutz  des  Gerichtes  anzurufen,  um  sich  seinem  Peiniger  zu  ent- 
ziehen. Nach  dem  Gerichtsurteil  muss  sich  Gregory  an  den  Er- 
pressungsversuohen  beteiligt  haben.  Gegen  eine  Kaution  befindet 
er  sich  jetzt  auf  freiem  Fuss  imd  verweilt  in  seinem  idyllischen 
Weimarer  Gartenhaus.  Seine  Einrichtung  war  geschmackvoller  als 
diejenige  der  Weimarer  Hofbflhne,  die  zuweilen  Gegenstände  ent- 
lieh, zum  Beispiel  war  Bracco's  „Untreue''  gänzlich  mit  dem  Mobiliar 
und  den  Teppichen  Gregory's  ausgestattet.  Nun  fordern  aber  die 
Gläubiger  ihre  Möbel  zurück,  und  die  Schutzgemeinschafl  für 
Handel  und  Gewerbe  ersucht  in  einem  Inserat,  die  Forderungen 
an  Gregory  bei  ihr  anzugeben.  Es  ist  bekannt,  dass  das  gross- 
herzogliche Ministerium  auf  Wunsch  des  Generalintendanten  Straf- 
antrag gegen  die  Hildburghauser  „Dorfzeitung^^  gestellt  hat,  weil 
unter  Anderem  das  Weimarer  Hoftheater  eine  „Dunkelkammer**  ge- 
nannt war.  Der  Korrespondent  des  verklagten  Blattes  war  aber 
von  den  jetzt  enthüllten  Dingen  offenbar  schon  unterrichtet,  und 
sein  Verteidigungsmaterial  soll  noch  Dinge  enthalten,  die  am  besten 
tiefes  Schweigen  bedeckt  hätte.  Die  Meininger  Staatsanwaltschaft 
ist  mit  den  Voruntersuchungen  betraut.  Man  ist  gespannt,  ob  wirk- 
lich auch  jetzt  noch  die  £Uage  erhoben  werden  wird. 


Wien,  den  29.  Dezember  1900.*)  —  (In  geheimer  Verhand- 
lung). Franz  Knauer,  ein  sechzehnjähriger  Bursche,  stand  heute 
unter  Ausschluss  der  Oeffentlichkeit  vor  Gericht,  angeklagt  des 
Verbrechens  nach  §  129,  b.  St.  G.  In  zwei  Fällen  waren  die  Teil- 
nehmer an  diesem  Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit  nicht  ausfindig 
zu  machen.  Als  Knauer  in  Haft  war,  gelangte  an  seine  Wohnungs- 
adresse ein  Brief,  welcher  mit  „Kaltenegger"  unterzeichnet  war 
und  unter  diesem  Namen  eine  Poste-restante- Antwort  erbat.    Aus 


*)  Anmerkung  des  Herausgebers:  Wir  möchten,  an  diesen  und 
ähnliche  Fälle  anschliessend,  den  Homosexuellen  den  Rat  erteilen, 
sich  vorkommenden  Fall  nicht  auf  Leugnen  zu  verlegen,  sondern 
sich  als  homosexuell  empfindend  zu  bekennen  und  ein  sachver- 
ständiges Gutachten  zu  fordern.  Die  Erfahrung  der  letzten  Jahre 
hat  gezeigt ,  dass  unter  diesen  Umständen  am  ehesten  auf  Frei- 
sprechung zu  hoffen  ist;  wiederholt  ist  nach  Feststellung  der 
Homosexualität  von  psychiatrischer  Seite  überhaupt  von  der  Er- 
öffnung des  Hauptverfahrens  abgesehen  worden. 


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dem  Ton  des  Briefes,  war  zu  ersehen,  dass  der  Brief  von  einem 
Herrn  herrührte,  der  mit  Enaner  ebenfalls  intime  Beziehungen  unter- 
halten gehabt  hatte.  Es  wurde  polizeilich  ermittelt,  dass  der  an- 
gebliche Kaltenegger  ein  Geistlicher,  namens  M.  P.,  war.  Die 
Gerichtsärzte  sahen  sich  veranlasst,  zu  konstatieren,  dass  der  Geist- 
liche unter  unwiderstehlichem  Zwang  gehandelt  habe,  und  so  stand 
Knauer  heute  allein  vor  Gericht.  Er  wurde,  verteidigt  von  Dr. 
Brauer,  zu  drei  Monaten  schweren  Kerkers  verurteilt. 


„Graf  Ahle feld  vom  Hanse  Eschelmark,  EOnigL  dänischer 
Kavallerie-Offizier  und  llitglied  der  schleswig-Holsteinischen  Ritter- 
schaft.^ Eine  Visitenkarte  mit  diesem  hochtönenden  Inhalt  gab  ein 
Herr  an  einem  Maiabende  d.  J.  beim  Pförtner  des  Westminster- 
Hotels,  Unter  den  Linden,  ab,  wobei  er  angab,  dass  er  für  längere 
Zeit  im  Hotel  Unterkunft  nehmen  würde.  Der  vornehme  Gast  fand 
eine  gebührende  Au&ahme.  In  den  ersten  zwei  Wochen  berichtigte 
der  Herr  Graf  seine  Rechnung  imd  befestigte  dadurch  das  ihm  ge- 
schenkte Vertrauen.  Der  Geschäftsführer  nahm  auch  keinen  An- 
stand, für  den  Gast  eine  Kleiderrechnung  in  Höhe  von  280  Mark 
zu  bezahlen.  Als  dem  letzteren  dann  wieder  die  Wochenrechnung 
in  Höhe  von  140  Mark  vorgelegt  wurde,  erklärte  der  Graf,  dass  er 
auf  Mittel  von  ausserhalb  warte.  Am  folgenden  Tage  war  er  ver- 
schwunden. Es  meldeten  sich  nun  verschiedene  Geschäftsleute  im 
Hotel,  die  an  den  angeblichen  Grafen  Ansprüche  hatten.  So  hatte 
dieser  sich  u.  a.  bei  der  Firma  Mohr  &  Speyer  eine  Phantasie-Uni- 
form anfertigen  lassen,  wie  sie  seiner  Angabe  nach  von  den  Mitr 
gliedern  der  Schleswig-Holsteinischen  Ritterschaft  getragen  würde. 
Der  augebliche  Graf  entpuppte  sich  ab  Hochstapler,  der  bald  zur 
Haft  gebracht  wurde.  Er  stand  am  Freitag  vor  der  fünften  Beru- 
fungsstrafkammer des  Landgerichts  I.  Das  Schöfifengericht  hatte 
ihn  zu  2  Monaten  Gefängnis  und  3  Tagen  Haft  verurteilt,  welches 
Strafmass  dem  Staatsanwalt  zu  niedrig  erschien.  Der  Angeklagte 
ist  erst  17  Jahre  alt  und  macht  den  Eindruck  eines  völlig  unreifen 
Menschen.  Er  war  Buchhandlungslehrling  gewesen,  hatte  aber  diese 
Stellung  aufgeben  müssen,  weil  er  gar  zu  arg  —  stotterte.  Ein 
Kommando  von  ihm  hätte  sich  drollig  anhören  müssen.  Ueber  die 
Herkunft  des  Angeklagten  ist  folgendes  festgestellt  worden:  Er  ist 
der  Sohn  des  verstorbenen  Apothekers  Runge  zu  Eckemförde,  der 
eine  Gräfin  Ahlefeld  geheiratet  hatte.  Als  sein  Vater  gestorben 
war,  ohne  Vermögen  zu  hinterlassen,  zog  dessen  Witwe  mit  ihrem 
Knaben  nach  Potsdam.  Sie  heiratete  bald  einen  Gutsbesitzer,  die 
Ehe   wurde   aber  im  vorigen  Jahre  geschieden.    Der  Angeklagte 


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kAin  in  der  Schule  hm  zur  Ober-Tertia,  dann  brachte  man  ihn  in 
Üe  Lehre.  Als  seine  Eltern  sich  trennten,  kümmerte  sich  niemand 
mehr  um  ihn ;  seine  Mutter  war  auf  eine  Einnahme  von  2000  Mark, 
die  ihr  aus  einem  Familienstift  zufloss,  angewiesen  Jetzt  verfiel 
der  Angeklagte  auf  das  Gebiet  der  Hochstapelei.  Als  er  sich  im 
Westminster-Hotel  einquartierte,  war  er  fast  mittellos  Es  wurde 
ihm  aber  eine  unerwartete,  wenn  auch  höchst  unlautere  Einnahms- 
quelle. Wie  er  angab,  hat  er  von  einem  älteren  Herrn,  den  er  im 
Tiergarten  kennen  lernte,  300  Mark  erhalten.  Dadurch  wurde  er 
in  den  Stand  gesetzt,  die  ersten  Hotelrechnungen  zu  begleichen. 
Durch  die  Beweisaufiiahme  wurde  festgestellt,  dass  der  Angeklagte 
mit  der  Gewandtheit  eines  geriebenen  Hochstaplers  aufgetreten  war, 
wenn  es  andererseits  auch  auffallend  erschien,  dass  Berliner  Ge- 
schäftsleute sich  lediglich  durch  den  hochtönenden  Namen  hatten 
täuschen  lassen.  Der  letztere  Umstand  hatte  das  Schöffengericht 
bewogen,  auf  ein  so  niedriges  Strafmass  zu  erkennen.  Das  Berufis- 
gericht  war  mit  dem  Staatsanwälte  der  Ansicht,  dass  eine  empfind- 
lichere Strafe  verhängt  werden  müsse;  es  wurde  auf  sechs  Monate 
Gefängnis  und  14  Tage  Haft  erkannt. 


Zu  dem  Selbstmord  des  englischen  Botschafts-Sekretärs 
Hugh  Grosvenor  in  Wien,  über  den  wir  in  der  heutigen  Morgen- 
ausgabe berichteten,  wird  uns  weiter  telegraphisch  gemeldet,  dass 
er  ganz  unerklärlich  erscheint  Der  Verstorbene  lebte  sehr  be- 
scheiden und  zurückgezogen,  er  spielte  und  wettete  nicht  und  hatte 
keine  Schulden.  Der  erst  zwanzigjährige  Mann  neigte  aber  der 
Melancholie  zu.  Er  war  erst  seit  Beginn  dieses  Jahres  der  Wiener 
Botschaft  zugeteilt.  Er  ist  ein  Vetter  des  jungen  Herzogs  von 
Westminster.    7.  8.  1900.    

Wien,  7.  August  1900.  (Privat-Telegramm.)  üeber  den  Selbst- 
mord des  Botschaftssekretärs  Grosvenor  verlautet  weiter,  es  sei 
ganz  ausgeschlossen,  dass  derselbe  (Spiel-  oder  andere  Schiüden) 
gehabt  habe.  Dagegen  wäre  vielleicht  für  die  Vermutung  Grund» 
dass  er  eine  unglückliche  Leidenschaft  gehabt,  die  ihn  in  den  Tod 
getrieben  habe,  namentlich  da  er  in  der  letzten  Zeit  einsilbig  war 
und  gern  die  Einsamkeit  aufsuchte. 


Voss.  Zeitg.,  29.  Mai  1886.  Aus  Brüssel  wird  der  „Frankf 
Ztg."  über  das  sittenlose  Treiben  in  Genter  aristokratischen  Kreisen, 
geschrieben:  „Seit  zwei  bis  drei  Jahren  bereits  murmelte  man  in 
Gent  von  einem  oder  selbst  mehreren  Klubs,  unter  denen  einer  den 


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Namen  „Zwarte  Krayatten"  (crayates  noires)  führte  und  die  osten- 
sibel blos  dem  Sport  des  Wettens  bei  Rennen  oder  dem  Spiel  ge- 
widmet waren,  deren  Mitglieder  aber,  wie  das  immer  lanter  werdende 
Gertloht  behauptete,  Unsittlichkeiten  der  schlimmsten  Art  sich 
widmeten  nnd  ihre  Opfer  nicht  blos  in  der  weiblichen  Jagend 
suchten.  Dies  Treiben  ist  jetzt  ans  Licht  gezogen  worden,  und 
zwar,  soweit  man  bis  jetzt  urteilen  kann,  in  Folge  der  Enthüllungen 
einiger  wegen  Betrugs  im  Spiel  verhafteten  frühreifen  und  Aus- 
schreitungen ergebenen  Mitglieder  jenes  Klubs.  Diese  jungen  Leute 
hätten  die  compromittierten  Personen,  von  deren  Lasten  sie  ge- 
naue Kenntnis  hatten,  verraten.  Eines  der  Opfer,  das  nicht  einmal 
den  Namen  des  von  ihm  Beschuldigten  kannte,  wusste  doch  auf 
die  Spur  desselben  zu  führen :  Durch  die  Angabe,  dass  dieser  einen 
Stockdegen  besitze.  Herr  E.  —  so  lautet  der  Anfangsbuchstabe 
des  Blossgestellten  —  wurde  zum  Untersuchungsrichter  entboten 
und  gefragt,  ob  er  einen  solchen  Stock  besitze.  Er  leugnete  es. 
Hierauf  wurde  sofort  eine  Hausdurchsuchung  in  dessen  Wohnung 
vorgenommen,  wo  man  einen  Stock  von  der  angegebenen  Art  fand. 
Noch  am  selben  Tage  und  ehe  noch  die  Untersuchung  geschlossen 
war,  machte  E.  seinem  Leben  ein  Ende.  Ein  Yizekonsul,  der  eben- 
falls in  diese  Untersuchung  verwickelt  war,  versuchte  gleichfalls,  sich 
durch  einen  Schuss  in  den  Kopf  zu  töten,  doch  misslang  dieser 
Versuch.  Dagegen  ist  noch  von  mehreren  weiteren  Selbstmorden, 
von  denen  einer  geraume  Zeit  zurück  datiert,  aber  in  engem  Zu- 
sammenhang mit  den  beregten  Vorgängen  steht,  die  Rede.  That- 
sache  ist,  dass  bereits  57  Personen  aus  allen  Schichten  der  Gesell- 
schaft in  Untersuchung  wegen  Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit 
gezogen  sind.  Compromittiert  sind  gleiohmässig  Personen,  die  zur 
liberalen,  und  solche,  die  zur  klerikalen  Partei  zählen.  Erwiesen 
ist  ferner,  dass  die  Hilfsquellen,  über  welche  der  Klub  der  „oravates 
noires **  verfügte,  aus  einer  Industrie  der  infamsten  Art  stammten.^ 


Voss.  Zeitg.  2.  Juni  1886.  Brüssel,  31.  Mai.  (Privat-Mitteilung). 
Die  bereits  erwähnten  Entdeckungen  in  den  aristokratischen  Kreisen 
der  Stadt  Gent  führen  zu  immer  traurigeren  Ereignissen;  schon 
wieder  eine  ganze  Reihe  von  Selbstmorden.  Ein  Staatsbeamter 
hat  sich  erschossen,  ein  am  Boulevard  des  Zoologischen  Gartens 
wohnhafter  bemittelter  Bürger  hat  durch  Erhängen  seinem  Leben 
ein  Ende  gemacht,  ein  anderer  hat  Gift  genommen  und  sich  von 
der  Brücke  Marceliis  ins  Wasser  gestürzt,  —  kurz,  in  wenigen  Tagen 
sechs  Selbstmorde.  Man  fordert  schnelle  Untersuchung,  aber  die 
Denunziationen  gehen  so  massenhaft  ein,  dass  Gericht  und  Polizei 


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alle  Hände  voll  zu  tbnn  haben.  Die  Unruhe  in  der  Bevölkerung 
ist  eine  ausserordentliche,  zumal  man  die  Behörden  beschuldigt, 
das  ganze  Vorgehen  nur  deshalb  mit  dem  grössten  Geheimnis  zu 
umgeben,  weil  man  gewisse  angesehene  Familien  schonen  woUe.  Die 
Klerikalen  hatten  gestern  Plakate  anschlagen  lassen,  in  denen  es 
hiess,  nur  Liberale  seien  „am  Skandal"  beteiligt.  Die  Führer  der 
Partei,  die  aber  wohl  wissen,  dass  auch  Klerikale  teilgenommen, 
llessen  diese  Plakate  entfernen! 


Brüssel,  2.  Juli.  Gestern  haben  vor  dem  Genter  Korrektions- 
Tribunal  die  Verhandlungen  gegen  die  Bande  der  „schwarzen  Kra- 
vatten",  bei  denen  es  sich  um  Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit 
handelt,  stattgefunden.  Nachdem  4  Hauptangeklagte  sich  das  Leben 
genommen,  sitzen  noch  15  Angeschuldigte  auf  der  Anklagebank. 
Der  Gerichtshof  beschloss  den  Ausschluss  der  Oe£fentlichkeit.  Vier 
wurden  freigesprochen,  ein  Rentier  wurde  zu  vier  Monaten  Getängnis, 
die  übrigen  wurden  zu  je  einem  Monat  verurteilt 


In  der  „medizmischen  Woche"  vom  12.  März  1900  erwähnt  Dr. 
Johannes  Müller-Eiiangen  in  einer  Arbeit  über  Pathologie  und  The- 
rapie der  Chlorose,  dass  die  meisten  Autoren  das  Vorkommen  der 
Bleichsucht  bei  Männern  rundweg  ablehnen,  nur  einige,  so  Eichhorst 
in  Eulenburgs  Realencyclopädie,  heben  hervor,  dass  Chlorose  bei 
Männern  mit  weiblichem  Habitus  beobachtet  würde. 


Selbstmord  eines  Advokaten.  Aus  Budapest  wird  uns 
unterm  Gestrigen  telegraphiert:  Heute  nachmittag  hat  sich  der  be- 
kannte, 51  Jahre  alte  Advokat  Dr.  Johann  Poldes  in  der  Wohnung 
seines  Schwagers  erschossen.  Er  war  ein  selir  wohlhabender  Mann. 
Auf  dem  Couvert  eines  Briefes,  den  man  bei  ihm  fand,  standen 
die  Worte :  „Gott  sei  mit  Euch !  Das  Geheimnis  meines  Todes 
nehme  ich  mit  mir." 

Ein  widernatürliches  Verhältnis.  Vor  zwei  Jahren 
erregte  die  That  einer  hübschen  jungen  Frau  in  Miskolcz,  die  ihre 
gewesene  Herrin  aus  Eifersucht  erschossen  hatte,  allenthalben  grosses 
Aufsehen.  Seinerzeit  behandelten  die  Blätter  sehr  ausführlich  diesen 
merkwürdigen  Fall,  der  auch  den  justizärztlichen  Senat  beschäftigte. 
Juliane  Koväcs  diente  ein  Jahr  lang  als  Stubenmädchen  bei  der 
Beamtensfrau  Johann  Szesenssky.  Sie  führte  sich  da  musterhaft  auf 
und  ihre  Herrin  verheiratete  sie  im  Jänner  1898  an  einen  wohlha- 
benden Landmann  in  Belsö-Böcs,  namens  Josef  Nän^i.  E^ge 
Wochen  lang  lebte  das  junge  Paar  in  glücklichster  Harmonie  mit- 


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—    67S    — 

einander,  als  eines  Tages  Frau  Nänäsi  ihren  Gatten  verliess  und 
zu  Frau  Szesenssky  znriickkebrte.  Von  da  an  betete  sie  ihre  Herrin, 
in  die  sie  sterblich  verliebt  war,  an.  Sie  küsste  und  liebkoste  Frau 
Szesenssky  und  hasste  jeden  Mann,  der  sich  ihrer  geliebten  Herrin 
näherte.  Mehr  als  einmal  äusserte  sie  den  Wunsch,  dass  sie  vereint 
mit  ihr  sterben  möchte.  An  einem  Juniabend  des  Jahres  1898 
machte  die  Juliane  NänAsi  die  Wahrnehmung,  dass  ihre  Herrin 
einem  Kellner  ein  Rendezvous  für  die  Nacht  gewährt  habe.  Rasch 
entschlossen,  kaufte  die  Nan4si  einen  Revolver  und  Patronen,  und 
als  dann  in  der  Nacht  jemand  an  das  Fenster  klopfte,  da  feuerte 
sie  auf  Ihre  Herrin  vier  Schüsse  ab,  welche  den  Tod  der  Szesenssky 
herbeiführten.  Die  NÄn4si  stellte  sich  dann  selbst  der  Polizei  mit 
den  Worten :  „Ich  liebte  sie  zu  sehr  und  konnte  ihre  Untreue  nicht 
ertragen."  Der  justizärztliche  Senat  erklärte  in  seinem  Gutachten, 
dass  die  Juliane  Kovics  zur  Zeit  der  VerÜbung  der  That  wohl  in 
zurechnungsfähigem  Zustande  gewesen  sei,  jedoch  an  Neurasthenie 
und  sexueller  Perversität  leide.  Der  Gerichtshof  verurteUte  mit 
Rücksicht  hierauf  Juliane  EoviU»  zu  einem  Jahre  Kerker,  welche 
Strafe  von  der  kgL  Tafel  auf  acht  Monate  Kerker  herabgesetzt 
wurde.    Die  kgl.  Kurie  bestätigte  heute  das  UrteU  der  2.  Instanz. 


Der  Fall  0.  vor  Gericht.  Greifswald,  I.Juni. 
Vor  der  ersten  Strafkammer  des  kgl.  Landgerichts  fand  heute  der 
Prozess  gegen  den  Chefredakteur  des  Grei£swalder  Tageblattes, 
firiohStechert,  und  den  Rittergutsbesitzer  Arthur  Becker  (Bartmanns- 
bagen  bei  Grimmen)  wegen  Beleidigung  des  Stralsunder  Regierungs- 
präsidenten Scheller  statt  Wie  bereits  mitgeteilt,  ist  die  Anklage 
erhoben  worden,  weil  Becker  in  einem  „Eingesandf  des  von  Ste- 
chert  verantwortlich  gezeichneten  „Greifswalder  Tageblatts"  be- 
hauptet hatte:  Es  verlaute  nichts  von  Massnahmen,  die  von 
Seiten  der  königl.  Regierung  in  Stralsund  bezüglich  des  in  seinem 
Privatleben  kompromittierten,  nach  einem  missglückten  Selbst- 
mordversuch verschwundenen  Landrats  0.  unternommen  worden 
wären.  Letzterer  sei  sogar  noch  immer  offiziell  als  Grimmer 
Landrat  zu  betrachten.  —  Erster  Staatsanwalt:  Ich  bin  in  der  Lage, 
den  Beweis  zu  erbringen,  dass  amtliche  Uebergriffe  des  Landrats 
0.  amtlich  noch  nicht  festgestellt  sind.  Im  übrigen  stelle  ich  an 
den  Herrn  Angeklagten  die  Frage,  ob  er  denn  von  einer  strafbaren 
Handlung  des  Landrats  0.  überzeugt  ist  Gegen  den  Landrat  ist 
nun  das  Disziplinarverfahren  eingeleitet  und  ein  Haftbefehl  er- 
lassen worden.  Der  Landrat,  der  sich  augenblicklich  inehier  Heil- 
anstalt in  der  Schweiz  befindet,   kann   vorläufig  nicht  vernommen 


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—    674    — 

werden,  deshalb  ist  0.  noch  bis  heute  Landrat  des  Grimmer 
Kreises  und  muss  es  auch  noch  bis  auf  weiteres  bleiben.  Niemand 
bedauert  dies  mehr  als  die  kgL  Regierung.  —  Es  wird  Regierungs- 
präsident Scheller-Stralsund  als  Zeuge  aufgerufen.  Dieser  bekundet 
auf  Befragen  des  Präsidenten :  Anfangs  Dezember  1899  wurde  uns 
mitgeteilt,  dass  gegen  den  Landrat  O.  Gerüchte  im  Umlauf 
seien,  dieser  begehe  Handlungen,  die  die  Sittengesetze  verletzen. 
Ich  fragte  sofort  den  Geheimen  Oberregierungsrat  Mejer,  ob  ihm 
ebenfalls  davon  etwas  bekannt  sei.  Da  Geh.  Oberregierungsrat 
Mejer  dies  bestätigte,  so  telegraphierte  ich  sofort  an  den  Landrat 
0.  sich  unverzüglich,  und  zwar  am  Sonntag,  den  10.  De- 
zember, bei  mir  einzufinden.  Landrat  0.  erschien  auch  am 
10.  Dezember  bei  mir.  Auf  meine  Vorhaltung  stellte  der  Landrat 
alles  in  Abrede  und  bemerkte,  es  sei  ihm  nicht  bekannt,  dass  irgend 
welche  Gerüchte  gegen  ihn  im  Umlauf  seien.  Ich  bemerkte  dem 
Landrat,  dass  ich  mich  damit  nicht  beruhigen  könnte.  Er  müsse 
die  umlaufenden  Gerüchte  in  entschiedener  Weise  widerlegen,  andern- 
falls sei  ich  genötigt,  dem  Herrn  Minister  Anzeige  zu  machen.  Ich 
bemerke,  dass  Landrat  0.  im  Sommer  1899  mit  dem  Pferde 
gestürzt  ist  und  sich  dabei  eine  Gehirnerschütterung  zugezogen 
hat.  Ich  reiste  gleich  darauf  nach  Berlin  und  hielt  dem  Herrn 
Minister  über  den  Fall  0.  Vortrag.  Der  Herr  Minister  äusserte, 
es  müsse  sofort  in  der  Angelegenheit  eine  genaue  Untersuchung 
vorgenommen  werden.  Nach  meiner  Rückkehr  aus  Berlin  forderte 
ich  sogleich  den  Landrat  auf,  entweder  gegen  die  umlaufenden 
Gerüchte  selbst  vorzugehen  oder  seine  Entlassung  zu  beantragen. 
Der  Landrat  antwortete  mir:  Er  habe  sich  keiner  strafbaren 
Handlung  schuldig  gemacht,  er  müsse  aber  bekennen,  dass  er  in 
sittlicher  Beziehung  nicht  ganz  rein  dastehe,  er  ersuche  daher,  ihn 
von  seinem  Amte  zu  suspendieren.  Ich  verfügte  sofort  die  Sus- 
pendierung des  Landrats  von  den  Amtsgeschäften  und  beauftragte 
den  von  dem  Herrn  Minister  zum  Kommissar  ernannten  Herrn  Geb. 
Oberregierungsrat  Mejer,  diese  Angelegenheit  in  die  Hand  zu  nehmen. 
Gleich  darauf  wurde  mir  von  dem  Geh.  Oberregierungsrat  Mejer 
berichtet,  dass  der  Landrat  einen  Selbstmordversuch  begangen  habe. 
Der  Landrat  sei  wohl  nicht  lebensgefährlich,  aber  immerhin  schwer 
verwundet  Einige  Zeit  darauf  wurde  von  dem  Bürgermeister  zu 
Grimmen  mitgeteilt,  dass  er  der  Staatsanwaltschaft  zu  Greiüswald 
wegen  einer  unsittlichen  Handlung  des  Landrats  Anzeige  erstattet 
und  dass  die  Staatsanwaltschaft  deshalb  den  Haftbefehl  gegen  den 
Landrat  erlassen  habe.  Diese  Mitteilung  veranlasste  mich,  sofort 
das    Disziplinarverfahren     gegen     den     Landrat    0.    einzuleiten. 


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—    576    — 

Der  Haftbefehl  konnte  jedoch  nicht  ausgeführt  werden,  da  0. 
angeblich  auf  Anraten  seiner  Verwandten  in  ärztliche  Be- 
handlung nach  Berlin  sich  begeben  hatte  und  von  dort  sofort  nach 
der  Schweiz  abgereist  war.  Nun  macht  man  mir  den  Vorwurf,  dass 
ich  nicht  schneller  eingeschritten  bin,  um  dem  Öffentlichen  Skandal 
Yorzubeugen.  Ich  weiss  in  der  That  nicht,  was  ich  noch  hätte 
machen  sollen.  Sollte  ich  schleunigst  die  Pensionierung  oder  die 
Versetzung  des  Landrats  bewirken?  Abgesehen  davon,  dass  dies 
nicht  so  ohne  weiteres  gegangen  wäre,  so  wtlrde  man  mir,  wenn 
ich  derartiges  ausgeführt  hätte,  mit  Recht  den  Vorwurf  gemacht 
haben,  ich  wollte  etwas  vertuschen.  Man  macht  mir  ausserdem 
den  Vorwurf,  dass  ich  über  den  Verlauf  des  Disziplinarverfahrens 
nicht  der  Öffentlichkeit  Kenntnis  gegeben  habe.  Ich  bin  ein  alter 
Verwaltungsbeamter,  ich  habe  aber  noch  niemals  gehört,  dass  man 
über  den  Gang  eines  Disziplinarverfahrens  der  Öffentlichkeit  Kenntnis 
giebt.  Im  übrigen  bestreite  ich,  dass  im  Kreise  eine 
Erregung  vorhanden  gewesen  ist.  Ich  habe  mit  den  Kreis- 
eingesessenen bedeutend  mehr  Fühlung  als  Herr  Becker,  der  einfach 
auf  seinem  Gute  sitzt  Ich  bin  jedenfalls  sofort  eingeschritten,  als 
ich  von  der  Angelegenheit  Kenntnis  erhielt,  und  hatte  keinerlei 
Veranlassung,  den  Landrat  0.  zu  schonen.  —  Auf  Befragen  des 
Ersten  Staatsanwalts  bemerkt  der  Regierungspräsident  noch: 
Von  dem  inkriminierten  Artikel  hat  fast  die  gesammte  liberale  Presse 
Notiz  genommen.  Die  „Vossische  Zeitung'',  „Nationalzeitimg'',  das 
„Berliner  Tageblatt",  die  „Frankfurter  Zeitung"  und,  wie  mir  mit- 
geteilt wurde,  auch  die  „Hessische  Landeszeitung"  in  Marburg  und 
noch  mehrere  andere  Zeitungen  haben  den  inkriminierten  Artikel 
abgedruckt.  Einige  Zeitungen  haben  den  Artikel  gemildert.  Gegen 
die  „Vossische  Zeitung",  „Nationalzeitung''  und  das 
,,Berliner  Tageblatt'*  habe  ich  Strafantrag  gestellt 
Gegen  die  „Frankf.  Zeitung"  habe  ich  dies  unterlassen,  weil  diese 
eine  mir  genehme  Berichtigung  aufgenommen  hat  Ich  vermute 
aber,  dass  der  Angeklagte  Becker  den  Abdruck  des 
Artikels  in   den  genannten  Zeitungen  veranlasst  hat 

—  Becker  bemerkt:  Dem  Abdruck  des  Artikels  in  der  „Frank- 
furter Zeitung"  stehe  ich  fem,  den  Abdruck  in  den  Berliner  Blättern 
und  der  „Hessischen  Landeszeitung"  habe  ich  allerdings  veranlasst 

—  Erster  Staatsanwalt:  Herr  Regierungspräsident,  ist  Ihnen  vielleicht 
bekannt,  welches  Motiv  den  Angeklagten  Becker  bei  dem  Schreiben 
des  Artikels  geleitet  haben  mag?  —  Regierungspräsident:  Der  An- 
geklagte Becker  lag  in  seiner  Eigenschaft  aU  Gutsvorsteher 
mit    dem    Landrat    0.     in    unaufhörlicher    Fehde, 


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—    576    — 

der  Landrat  hat  den  Angeklagten  Becker  vielfach  in 
Geldstrafe  genommen.  Ans  diesen  Anlässen  ging  eine  Reihe 
von  Beschwerden  bei  mir  ein,  die  fast  sämtlich  als  nnbegrttndet 
zurückgewiesen  werden  mnssten.  Ich  vermute  daher,  Becker  wollte 
sich  nicht  nur  an  dem  Landrat  0.,  sondern  auch  an  mir 
rächen.  —  Der  Verteidiger  protestiert  gegen  diese  Fragestellung. 
Eventuell  beantrage  er  zwecks  Klarstellung  dieser  Angelegenheit 
die  Vorlegung  sämtlicher  diesbezüglicher  Akten.  —  Der  Gerichtshof 
beschliesst,  den  Antrag  des  Verteidigers  abzulehnen.  —  Hierauf 
wird  Gutsbesitzer  Dr.  Wendorff  als  Zeuge  vernommen.  Dieser  be- 
kundet: Der  Fall  0.  habe  grosse  Erregung  im  ganzen 
Kreise  hervorgerufen  und  es  sei  allgemein  aufgefallen, 
dass,  obwohl  das  unsittliche  Treiben  des  Landrats  seit  langer 
Zeit  bekannt  war,  nicht  früher  eingeschritten  wurde,  und  ganz  be- 
sonders, dass  0.  noch  immer  Landrat  gewesen  sei.  —  Der 
erste  Staatsanwalt  bemerkt:  Er  habe  sich  nicht  für  berechtigt  ge- 
halten, den  Haftbefehl  zu  veröffentlichen,  zumal  es  ihm  zweifelhaft 
gewesen  sei,  ob  0.  sich  im  Sinne  des§  175  des 
Strafgesetzbuches  strafbar  gemacht  habe.  Aus  diesem 
Grunde,  und  da  ihm  bekannt  sei,  dass  des  angedeuteten  Vergehens 
wegen  die  Schweiz  überhaupt  nicht  ausliefere,  habe  er  auch  keinen 
Steckbrief  erlassen.  Es  sei  ihm  sogar  zweifelhaft,  ob, 
wenn  0.  hier  wäre,  er  gegen  denselben  einen 
Haftbefehl  erlassen  würde.  Das  Reichsgericht  habe 
bezüglich  des  angedeuteten  Vergehens,  das  in  vielen 
Kulturländern  straflos  sei,  die  Grenze  so  eng  gezogen, 
dass  es  ihm  (Erstem  Staatsanwalt)  sehr  zweifelhaft  sei, 
ob  die  Eröffnung  des  H  a  u  p  t  ver  fahrens  gegen  O. 
beschlossen  und,  wenn  das  der  Fall,  ob  er  verurteilt 
werden  würde.  —  Auf  die  Vernehmung  zweier  weiteren  Zeugen, 
die  dasselbe  wie  Dr.  Wendorff  bekunden  sollen,  wird  hierauf  all- 
seitig verzichtet  und  danach  die  Beweisaufiiahme  für  geschlossen 
erklärt  —  Nach  etwa  einhalbstündiger  Beratung  des  Gerichtshofes 
verkündet  der  Präsident,  Landgerichtsrat  Professor  Dr.  Medem: 
Der  Gerichtshof  hat  die  Angeklagten  der  öffentlichen  Beleidigung 
des  Herrn  Regierungspräsidenten  Scheller  für  schuldig  erachtet  und 
deshalb  gegen  Becker  auf  vier  Wochen  Gefängnis,  gegen 
Stochert  auf  300  Mark  Geldstrafe  erkannt  Nachdem  die 
Beschlusskammer  die  Eröffnung  des  Hauptverfahrens  abgelehnt  hatte, 
konnte  dieser  Paragraph  bei  der  Urteilställung  nicht  mehr  in  Be- 
tracht kommen.  Der  inkriminierte  Artikel  enthält  eine  Beleidigung 
gegen  den  Regierungspräsidenten  Scheller,   die  geeignet  ist,   den- 


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-    67?    - 

selben  verächtlich  zu  machen  und  in  der  Öffentlichen  Meinung  herab- 
zusetzen. Es  ist  dem  Regierungspräsidenten  der  Vorwurf  gemacht 
worden,  dass  er  unvermögend  gewesen  sei,  zur  rechten  Zeit 
gegen  den  Landrat  0.  einzuschreiten.  In  subjektiver  Hinsicht  hat 
der  Gerichtshof  festgestellt,  dass  der  Angeklagte  Recker  ans 
H  ass  gegen  den  Landrat  0.  und  den  Regierungspräsidenten 
Scheller  gehandelt  hat;  dafür  spricht  auch  der  Umstand,  dass  er  den 
Abdruck  dieses  Artikels  in  noch  anderen  Zeitungen 
veranlasst  hat.  Daher  konnte  auch  dem  Angeklagten  der  Schutz 
des  §  198  des  Strafgesetzbuches  nicht  zugebilligt  werden,  da  aus 
der  Form  und  den  Umständen  die  Absicht  der  Beleidigung  hervor- 
geht. Bei  der  Strafzumessung  ist  erwogen  worden,  dass  die  Be- 
leidigung gegen  den  obersten  Beamten  des  Regieru  ngs. 
bezirks  gerichtet  war.  Bezüglich  des  Angeklagten  Stechert  liegt 
die  Sache  ja  bedeutend  milder,  immerhin  ist  nach  Lage  der  Dinge 
eine  Geldstrafe  von  300  Mark  gegen  diesen  angemessen.  Die  Kosten 
des  Verfahrens  haben  die  Angeklagten  gemeinschaftlich  zu  tragen. 

(Ein  Unzurechnungsfähiger  als  Abgeordneter.)  Der 
schweizerische  Wahlkreis  La  Chaux-de- Fonds  hat  dieser  Tage  in 
der  Person  des  Arztes  Dr.  Favre  einen  Mann  in  den  grossen  Rat 
geschickt,  dem  durch  ein  Gerichtsurteil  die  Zurechnungsfähigkeit 
abgesprochen  worden  ist  und  dem  nur  wegen  der  ärztlichen  Be- 
scheinigung seiner  Unzurechnungsfähigkeit  Schlimmeres  erspart  blieb. 
Dr.  Favre  stand  wegen  einer  Anklage  vor  den  Geschworenen,  die 
in  der  Zeitung  aus  guten  Gründen  gewöhnlich  nur  mit  der  Para- 
graphenziffer des  Strafgesetzbuches  angedeutet  wird.  „Hannov. 
Courier«  v.  24  /lO.  1900  Nr.  22826. 

Kopenhagen,  22.  Juni.  Das  höchste  Gericht  verurteilte 
heute  Wilhelm  Möller  zum  Tode.  Möller  hatte  als  „Vorsteherin" 
eines  Kopenhagener  Knabenasyls  Knaben,  mit  denen  er  Unzucht 
getrieben,  ermordet.  Erst  im  Laufe  der  Untersuchung  hatte  sich 
herausgestellt,  dass  Möller  ein  Mann  ist.    1894. 


(Selbstmord  eines  Geistlichen.)  Pastor  primarins  Voigt 
aus  Friedeberg  a.  Queis,  gegen  welchen  eine  Untersuchung  wegen 
Sittlichkeitsvergehens  schwebte,  hat  sich  erschossen.  „Hannov 
Courier**  v.  30./10.  1900. 

Sonderbare  Menschenkinder  in  Madagaskar.  Bei 
dem  Stamme  der  Sakalaven,  der  im  nordwestlichen  Teile  der  Insel 
Madagaskar  wohnt,  giebt  es  zwei  ganz  merkwürdige  Bevölkenmgs- 

JahrbuGh  UI.  37 


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-     &78    — 

klassen,  die  mit  dem  Namen  Fady  und  Sekatra  bezeichnet  werden 
nnd  erst  durch  die  neuen  Forschungen  von  Lasnet  bekannt  ge- 
worden sind.  „Fady^  sind  zunächst  alle  missgestalteten  Kinder, 
sie  werden  zum  Tode  verurteilt  und  in  irgend  einen  Graben  im 
Urwald  geworfen.  ICan  überlSsst  sie  den  wilden  Tieren  und  den 
Insekten  zur  Beute,  wenn  sie  nicht  etwa  schon  durch  den  Stan 
ums  Leben  kommen.  Diese  etwas  mehr  als  spartanische  Sitte  würde 
immerhin  noch  erklärlich  sein.  ,^ady^^  sind  aber  auch  alle  Kinder, 
die  am  Dienstag  geboren  werden,  sie  werden  allerdings  nicht  dem 
Verderben  überliefert,  aber  doch  von  ihren  Eltern  an  Fremde  weiter- 
gegeben, denen  es  überlassen  bleibt,  sie  zu  adoptieren  und  aufzu- 
ziehen. „Fady^^  sind  endlich  auch  alle  Kinder,  die  mit  einer  ver- 
schlungenen Nabelschnur  zur  Welt  kommen,  nur  ein  Zauberer  vermag 
den  Knoten  zu  lösen  und  das  Unheil  abzuwenden,  das  dieses  Er- 
eignis sonst  unfehlbar  über  die  Familie  bringen  würde.  Ueberhaupt 
ist  der  Zauberer  bei  den  Sakalaven  der  einzige  Mann,  der  die  Ver- 
urteilung  der  als  „Fady**  betrachteten  Kinder  hintanhalten  kann. 
Er  wird  daher  auch  in  den  meisten  Fällen  zu  Kate  gezogen,  und 
die  kleinen  Würmer  werden  nur  dann  ausgesetzt,  wenn  er  sich  ausser 
Stande  erklärt,  ihren  unheilvollen  Einfluss  abzuwenden.  Vor  etwa 
einem  Jahre  erwarb  sich  ein  madagassischer  Arzt  das  Verdienst 
bei  der  Stadt  Nossibe  ein  Dorf  fUr  Fadykinder  zu  gründen,  die  er 
in  der  ganzen  Umgebung  sammeki  Hess;  diese  IHederlassung  soll 
heute  in  erfreulichem  Aufschwung  begriffen  sein.  Nicht  weniger 
sonderbar  ist  die  abergläubische  i^nrichtung  der  „Sekrata**,  männ- 
licher Kinder,  die  als  weibliche  aufgezogen  werden.  Sie  finden  sich 
übrigens  auch  bei  den  Hovas,  dem  Hauptstamme  der  InseL  Die 
Sekrata  sind  immsr  normal  entwickelte  männliche  Personen,  die  man 
nur  aus  dem  Grunde  als  weibliche  behandelt,  weil  sie  sehr  zart  und 
schwächlich  sind.  Schliesslich  gelangen  sie  ganz  dazu,  sich  selbst 
für  Mädchen  zu  halten.  Sie  nehmen  die  Tracht,  die  Gewohnheiten, 
den  Charakter  des  weiblichen  Geschlechtes  an,  und  die  Autosug- 
gestion geht  so  weit,  dass  sie  ihr  wahres  Geschlecht  in  allen  Fällen 
völlig  vergessen.  Sie  verwenden  die  grOsste  Sorgfalt  auf  ihre  Toi- 
lette, tragen  lange  Kleider  und  lange,  in  einen  zierlichen  Knoten 
verschlungene  Haare.  In  den  durchbohrten  Ohren  werden  Silber- 
münzen als  Schmuck  befestigt,  die  Arme  und  die  Fussknöchel 
werden  mit  Spangen  geziert.  Die  Sekrata  haben  das  Benehmen  von 
Frauen  und  erhalten  schliesslich  infolge  der  Uebung  und  durch  die 
Nachahmung  auch  eine  weibliche  Stimme.  Sie  brauchen  keine 
schwere  Arbeit  zu  thun  und  beschäftigen  sich  nur  mit  dem  Haus- 
wesen, der  Küche  und  dem  Flechten  von  Matten.   Vom  Kriegsdienst 


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-    67§    - 

Bmd  sie  befreit  und  dürfen  auch  nicht  die  Rinder  httten,  da  dieser 
Beruf  den  Männern  vorbehalten  ist  Niemand  nimmt  an  dem  Ge- 
bühren der  Sekrata  Anstoss,  man  findet  es  im  Gegenteil  ganz  na- 
tUiüeh,  und  irgend  eine  Aeusserung  darüber  wttrde  sich  schwer 
riU^hen,  da  nach  dem  bestehenden  Aberglauben  alsdann  der  belei* 
digte  Sekrata  tlber  den  Beleidiger  das  Los  werfen  und  Krankheit 
über  ihn  bringen  wttrde. 


Am  8.  Februar  1899  wurde  vor  dem  Landesgerichte  in  Olmütz 
(Mähren)  folgender  interessanter  Fall  verhandelt:  Franz  Os^al, 
81  Jahre  alt,  ledig,  Bauer  aus  Dubnan  ist  angeklagt  des  vorsätz- 
lichen Mordes  begangen  an  dem  Bauer  Ignaz  Venera  aus  Dubnan 
am  22.  November  desselben  Jahres.  Der  Angeklagte  zeigte  schon 
in  frühester  Eündheit  einen  eigentümlichen  Charakter;  er  besuchte 
das  technische  Gymnasium  in  Olmütz,  trat  aber,  da  er  zum  Lernen 
keine  Lust  hatte,  schon  im  dritten  Jahre  aus  und  wurde  in  seinem 
Heimatsorte  Bauer.  Aber  auch  zu  diesem  Berufe  zeigte  er  wenig 
Neigung.  Als  er  zu  seinem  Erbteile,  Feldern  im  Werte  von  14000 
Gulden,  gelangte,  überliess  er  die  Bewirtschaftung  derselben  seinem 
Bruder  und  lebte  nur  seinen  Neigungen.  £r  las  viel,  radelte  und 
bereitete  sich  selbst  seine  einzige  Nahrung  —  Süssigkeiten.  Wegen 
seines  Eigensinnes  und  Eigenwillens  war  er  überall  unbeUebt  Zu 
dem  Sohne  eines  reichen  Bauern,  dem  22jährigen  Ignaz  Venera, 
einem  sehr  schtfnen  Jünglinge,  der  auch  durch  Studien  an  der  Acker- 
bauschule zu  Pisek  höher  gebildet  war,  fasste  er  eine  leidenschaft- 
liche Liebe,  die  nicht  unerwidert  blieb,  denn  beide  machten  eine 
Reise  nach  Prag  zum  Besuche  der  ethnographischen  Ausstellung 
des  Jahres  1895;  später  änderte  sich  dieses  Freundschaftsverhältnis; 
Ignaz  fing  an  dem  Franz  auszuweichen  und  klagte  schüesslich  diesen 
vor  Gericht  an,  ihn  mit  unzüchtigen  Ajiträgen  zu  verfolgen  und  ihn 
mit  dem  Tode  bedroht  zu  haben,  falls  er  ihm  nicht  zu  Willen  wäre. 
In  der  hierüber  eröffneten  Untersuchung  stellte  es  sich  heraus,  dass 
sich  beide  einmal  auf  der  Rückkehr  von  einer  Hochzeit  in  ange- 
heitertem Zustande  gegen  den  §  129  des  österreichischen  Strafgesetz- 
buches (§  175  des  Deutschen)  vergangen  hätten.  In  einer  Verhand- 
lung beim  Landesgerichte  in  Ohnütz  wurden  beide  Freunde  daher 
zu  einem  Monate  schweren  Kerkers  verurteilt.  Von  der  gefährlichen 
Drohung  wurde  Franz  freigesprochen.  Dieser  trat  die  Strafe  am 
10.  Oktober  an,  während  Ignaz  ein  Begnadigungsgesuch  einreichte. 
Als  dies  Franz  bei  seiner  Rückkehr  aus  dem  Gefängnisse  erfuhr, 
erkundigte  er  sich  sofort  in  Olmütz  bei  zwei  Gerichtsschreibem, 
ob  Ignaz  wirUich  Aussicht  hätte,  begnadigt  zu  werden  und,  als 

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—    580    - 

dies  bejaht  wurde,  kaufte  er  sich  noch  am  selben  Tage  Revolver 
und  Patronen.  Am  22.  November  fuhr  Ignaz  zur  Düngung  auf  das 
Feld  seines  Vaters  hier  trat  ihm  Franz  entgegen  und  zwischen  beiden 
kam  es  zu  einer  Unterredung,  bei  der  Franz  dem  Ignaz  2  Wunden 
an  Stirn  und  Nacken  beibrachte,  worauf  er  nach  Olmtttz  entfloh. 
Dort  wurde  er  noch  am  selben  Tage  verhaftet  In  der  Gerichts- 
verhandlung am  8.  Februar  erklärte  der  Angeklagte,  niemals  die 
Absicht  gehabt  zu  haben,  seinen  einstigen  Freund  zu  töten.  Er 
habe  am  verhängnisvollen  Tage  nach  Prossnitz  fahren  wollen,  aber 
den  Zug  versäumt  und  deshalb  den  Feldweg  gewählt,  um  die  Strecke 
zu  Fuss  zurückzulegen.  Unterwegs  habe  er  Ignaz  am  Felde  arbeitend 
getroffen,  ihn  über  das  Gnadengesuch  befragt  tmd  zur  Rede  gestellt, 
weshalb  er  über  ihn  hässlicbe  Geschichten  erzähle.  Ignaz  hätte 
ihn  verhöhnt  und  übermütig  abfertigen  wollen.  Hierüber  erzürnt, 
hätte  der  Angeklagte  sich  auf  Ignaz  stürzen  wollen,  dieser  sich  mit 
einer  Hacke  zur  Wehr  gesetzt,  worauf  er  ohne  zu  zielen  schoss. 
Hierauf  habe  er  von  Ignaz  mit  der  Hacke  einen  Schlag  auf  die 
Stirn  erhalten.  Auf  das  Übrige  wisse  er  sich  nicht  mehr  genau  zu 
besinnen,  er  meine  aber  zwei  oder  drei  Schüsse  abgegeben  zu  haben. 
Erst  jetzt  sei  Ignaz  umgesunken  und  habe  ihn  angefleht,  ihn  nicht 
zu  ermorden.  Er  habe  seinerseits  nun  Ignaz  gebeten,  ihn  nicht  zu 
verrathen,  sei  nach  Hause  geeilt  und  habe  seinen  Bruder  ersucht, 
nach  Ignaz  zu  sehen.  Als  dieser  zurückkam  und  die  Gefährlichkeit 
von  Ignaz'  Wunden  schilderte,  sei  er  sofort  nach  Olmütz  gefahren, 
hätte  seinen  Rechtsanwalt  befragt  und  auf  dessen  Rat  sich  selbst 
dem  Gerichte  stellen  wollen.  Auf  dem  Wege  zum  Gerichte  sei  er 
erkannt  und  verhaftet  worden.  Das  Protokoll  des  Untersuchungs- 
richters weicht  von  der  gegebenen  Darstellung  insofern  ab,  als  in 
demselben  Franz  gesteht,  auf  Ignaz  gezielt  zu  haben.  Unter  Thränen 
behauptet  er  noch,  überzeugt  zu  sein,  am  80.  September  1898  un- 
schuldig verurteilt  worden  zu  sein.  Der  Hauptzeuge  Ignaz  Venera, 
der  wegen  seiner  noch  nicht  verbüssten  Strafe  zum  Eide  nicht  zu- 
gelassen wird,  giebt  an,  dass  der  Angeklagte  ihm  zur  Zeit  ihrer 
Freundschaft  aufgefordert  habe,  mit  ihm  nach  Veräusserung  ihres 
ganzes  Besitzes  gemeinsam  wirtschaftend  in  der  Fremde  zu  leben. 
Am  Morgen  des  22.  November  sei  der  Angeklagte  am  Felde  zu- 
ihm  gekommee  und  habe  ihm  erklärt,  das  wäre  die  letzte  Begegnung 
wenn  Zeuge  ihm  nicht  nochmals  geschlechtlichen  Genuss  gewähre. 
Er  habe  dies  natürlich  verweigert  und  hätte  seine  Arbeit  wieder 
ruhig  aufgenommen.  Als  er  sich  später  nochmals  umsah,  erblickte 
er,  wie  Franz  in  einer  Entfernung  von  fünf  Schritten  mit  dem  Re- 
volver auf  ihn  zielte.    Nun  suchte  er  zu  entfliehen  und  während  er 


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im  Laufen  sioh  umsab,  ging  der  Schuss  los  und  traf  ibn  an  der 
Stirn.  Er  fiel  zu  Boden  und  hörte  noch  drei  Sohüese,  von  denen 
ihn  aber  nur  einer  am  Nacken  traf.  Dann  fiel  Franz  über  ihn  her 
und  legte  den  Bevolver  an  sein  Ohr.  Zeuge  hörte  den  Hahn  knacken 
aber  der  Schuss  versagte.  Als  nun  Franz  die  Hacke  ergriff,  um 
nach  seinem  Kopfe  zu  schlagen,  fing  er  den  Schlag  mit  Aufgebot 
seiner  letzten  Kräfte  auf.  Im  letzten  Augenblick  sei  ein  Mann  er- 
schienen, vor  dem  Franz  entfloh.  Zeuge  sei  dann  in  die  Wohnung 
seiner  Eltern  gebracht  worden,  wo  ihm  erste  Hülfe  zuteil  wurde, 
später  kam  er  ins  Spital  nach  Prossnitz,  wo  es  der  Kunst  der  Arzte 
gelang,  ihn  am  Leben  zu  erhalten.  Franz  Oscadal  erklärt  Ignaz, 
Aussage,  sofern  sie  von  seiner  eigenen  abweiche,  für  erlogen  und 
erwähnt  noch,  er  habe  Ignaz  einst  für  seinen  Freund  gehalten,  dem 
er  auch  oft  Geld  geliehen  habe,  und  erst  später  erkannt,  dass  er 
sein  grösster  Feind  sei.  Die  Geschworenen  sprachen  mit  9  gegen 
3  Stimmen  den  Angeklagten  schuldig,  worauf  ihn  der  Gerichtshof 
zu  7  Jahren  schweren  Kerkers,  in  jedem  Monat  mit  einem  Fasttage 
verschärft  und  Dunkelarrest  am  Jahrestage  der  That  verurteilte. 


In  einer  kleinen  Stadt  Mährens  lebte  ein  22jähriger  Kaufmanns- 
söhn,  der,  von  Jugend  auf  nur  vom  eigenen  Geschlechte  angezogen, 
ein  leidenschaftliches  Freundschaftsverhältnis  mit  einem  18jährigen 
Heischergesellen,  einem  bildschönen  Jüngling  einging.  Wegen  der 
Ungleichheit  des  Standes  fiel  dies  auf;  Feinde  der  Kaufmannsfamilie 
erstatteten  Anzeige  bei  der  Ortsgensdarmerie,  der  Fleischergeselle 
wurde  verhört  und  läugnete  so  lange,  bis  ein  Gensdarm  auf  den 
Einfall  kam,  zu  behaupten,  der  Kaufmannssohn  habe  bereits  alles 
gestanden,  der  Fleischergeselle  möge  doch  dasselbe  thun.  Nun 
gestand  dieser  einmal  ,4nter  femora"  und  dreimal  durch  mutuelle 
Masturbation  geschlechtlich  mit  seinem  Freunde  verkehrt  zu  haben. 
Beide  wurden  verhaftet,  fünfzehn  Tage  in  Untersuchung  behalten 
und,  trotz  aller  Schritte  des  älteren  Bruders  des  Kaufmannsohnes, 
Begnadigung  zu  erzielen,  verurteilt  Der  ältere  Freund  erhielt 
10  Tage,  der  jüngere  acht  Tage  schweren  Kerkers. 


Eine  Frau  als  Mann  verkleidet!  Einen  gar  seltsamen 
P^ang  machte  vor  kurzer  Zeit  der  Gensdarm  Katzbichler  von  Pasing 
auf  seinem  Patrouillengange  nach  Holzapfelkreut.  Schon  seit  längerer 
Zeit  bemerkte  er  einen  jungen,  mittelgrossen,  bartlosen  Mann,  in 
einen  schwarzen  Sackanzug  gekleidet,  mit  schwarzem,  steifen  Hut, 
Stehkragen  und  schwarzer  Kravatte  angethan,  der  sich  Tag  für  Tag 
in  dem  Gehölze  bei  Holzapfelkreut  herumtrieb.    Endlich  Uef  er  dem 


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Gensdarmen  in  die  Hände,  der  ihn  auch  sofort  kontrollierte.  Der 
BniBche  gab  an,  er  heisse  Max  Berr,  sei  Sohneidergeselle  und  zur 
Zeit,  da  aosser  Stelle,  bei  seinen  Eltern  in  Haidhansen.  Der  Gens- 
darm  sah  sich  den  Knnden  genauest  an  und  —  stutzte.  Nach  ein- 
dringliobem  Befragen  gab  der  Bursche  auch  zu,  kein  Mann,  sondern 
die  stellenlose  19  Jahre  alte  Kellnerin  Sophie  Ben-  von  hier  zu  sein. 
Sie  wurde  verhattet  nnd  stand  vor  dem  Schö£fengericht,  angeklagt 
einer  Verttbung  des  groben  Unfugs,  begangen  durch  Tragen  von 
Männerkleidem,  eines  weiteren  der  falschen  Namensangabe  und  der 
Arbeitsscheu.  Die  Angeklagte  erscheint  im  Frauenstrafgewande 
und  macht  genau  den  Eindruck,  als  wenn  man  —  einen  Mann  in 
Frauenkleider  gesteckt  hätte !  Die  Berr  hat  männliche  Gesichtszüge, 
männlichen  Gang  und  Bewegungen.  Ihr  Kopfhaar  ist  k  la  Ilesco 
kurz  geschnitten,  hinter  den  Ohren  abrasiert  und  verläuft  nach 
vorne  zu  einem  kleinen  Scheitel,  den  zu  beiden  Seiten  niedliche 
„Sechser''  umrahmen.  —  Sie  fUhit  sich  in  der  Frauenkleidung  sehr 
unbequem,  da  die  Böcke  keine  —  Hosentaschen  haben,  und  sie  die 
Gewohnheit  hat,  die  Hände  in  die  Tasche  zu  stecken.  Unumwunden 
gesteht  sie  zu,  seit  längerer  Zeit,  auch  bei  Tage,  meistens  aber  zur 
Nachtzeit,  in  Männerkleidung  in  und  ausserhalb  der  Stadt  herum- 
spaziert zu  sein,  und  wiU  auf  diesen  Elinfall  dadurch  gekommen  seint 
dass  ihr  der  Friseur  den  „Tituskopf '  zu  kurz  geschnitten  hätte.  In 
Wirklichkeit  hatte  aber  die  Berr  von  der  Polizeibehörde  wiederholt 
Arbeitsauftrag  bekommen,  den  sie  nicht  befolgte,  und  wollte  auf 
diese  Weise  der  bevorstehenden  Strafe  entgehen.  Charakteristisoh 
bei  der  ganzen  Sache  ist,  dass  niemand  der  Berr,  selbst  auf  offener 
Strasse  ansah,  dass  sie  ein  Weib  sei.  Nach  längerer  Verhandlung 
wird  die  Berr  wegen  der  genannten  Übertretungen  zu  einer  SOtägigen 
Haftotrafe  verurteilt;  von  der  Anschuldigung  einer  Verttbung  des 
groben  Unfugs,  begangen  durch  Tragen  von  Männerkleidem  auf 
Strassen  und  öffentlichen  Plätzen,  wird  die  Berr  freigesprochen. 
Das  Gericht  ging  hierbei  von  der  Erwägung  aus,  dass  es  überhaupt 
fraglich  ist,  ob  das  Tragen  von  Männerkleidem  durch  Frauenzimmer 
unter  den  Paragraphen  des  groben  Unfugs  fällt  und  strafbar  sei; 
man  könne  höchstens  einen  groben  Unfug  dann  für  gegeben  erachten, 
wenn  die  betreffende  Person  öffentliches  Ärgernis  durch  ihre  Hand- 
lungsweise hervorgerufen  habe.  Dies  sei  aber  bei  der  Angeklagten, 
die  man  allgemein  für  einen  Mann  hielt,  nicht  zutreffend,  es  fehle 
deshalb  das  Moment  des  §  360  Ziff.  11  des  R.-Str.  G.-B.,  das  eine 
Bestrafung  bedingt,  und  sei  deshalb  die  Angeklagte  von  diesem 
Beate  freigesprochen  gewesen. 


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Eine  Frau,  die  als  Mann  lebte.  Letzten  Freitag  starb  in 
New-York  Herr  Murray-Hall,  der  Inhaber  eines  Gesinde- Verding - 
bureaus  und  einer  der  eifrigsten  Politiker  des  dortigen  Tammany- 
Rings.    Der  Arzt  Dr.  Galager,  der  ihn  in  seiner  Todeskrankheit, 

Brustkrebs,  behandelte,   machte 
nach  dem  Hinscheiden  Mr.  Murray- 
Halls  dem  Leichenbeschauer  die 
Anzeige,  der  Verstorbene  sei  — 
eine  Frau  gewesen.    Die   Sache 
erregte    in   New-York    um    so 
grösseres  Aufsehen,  da  Murray- 
Hall  zweimal  verheiratet  gewesen 
war.    Er  hatte  ein  bartloses  Ge- 
sicht und  machte  den  Eindruck 
eines    gutmütigen    alten    Herrn; 
die  Stimme,  ein  tiefer  Alt,  konnte 
ganz  gut  als  Männerstimme  gelten. 
Hall  verkehrte  viel  in  Gasthäusern 
und  Kneipen,  sass  aber  meist  mit 
Frauen  oder  Mädchen  zusammen. 
In    politischen    Versammlungen 
war  Hall  als  kluger,  sachkundiger 
und  besonnener  Redner  geachtet 
und  lieferte  somit  den  Kämpfer- 
innen  für   Frauenrechte    starke 
Beweise  für  ihre  Bestrebungen. 
In  Halls  Naohlass  fand  sich  eine 
Erklärung,   in   der  etwa   stand: 
„Ich  bin  als  armes  Mädchen  ge- 
boren und  habe  als  Mann  gelebt, 
weil  ich   als  ein   solcher  besser 
meinem      Erwerbe      nachgehen 
konnte."    Das  ansehnliche  Ver- 
mögen, welches  Hall  zurücklässt, 
bestätigt  die  Richtigkeit  der  in  der 
Erklärung  bekundeten  Anschau- 
ung.   Die  Adoptivtochter  Halls 
war   in   voller   Unkenntnis   des 
Murray-HalL  .    v         u 

Geheimnisses  ihres  „Vaters",  und  Halls  beide  Frauen  starben,  ohne 
das  Geheimnis  verraten  zu  haben. 


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Ein  scheussliches  Verbrechen  ist  am  Dienstag  morgen 
an  zwei  weit  auseinander  liegenden  Stellen  von  Paris  entdeckt  worden. 
In  dem  Hause  Rue  du  Faubonrg-Saint-Denis  Nr.  205  bemerkte  die 
Hausmeisterin  beim  Oeffnen  des  Tbores  ein  grosses  Paket,  das  in 
ein  Stück  Teppich  eingehüllt  war.  Sie  rief  einen  Polizisten  herbei, 
der  es  auseinanderwickelte.  Zuerst  kam  eine  Schicht  dickes  Papier 
zum  Vorschein;  als  dieses  abgestreift  war,  entrang  sich  ein  Schrei 
des  Entsetzens  dem  herbeigeeilten  Publikum.  Der  blutige  Rumpf 
eines  20-  bis  25jährigen  Mannes  lag  dort  fest  eingeschnürt  Arme, 
Beine  und  Kopf  waren  abgeschnitten  worden;  erstere  waren  dem 
Paket  beigelegt.  In  der  Haut  waren  ebenfalls  Einschnitte  zu  be- 
merken; die  Mörder  hatten  dort  wahrscheinlich  Tätowierungen,  die 
zur  Agnoszierung  des  Opfers  hätten  führen  kOnnen,  entfernt;  auch 
die  Geschlechtsteile  waren  abgeschnitten  und  die  Elingeweide  heraus- 
gerissen worden.  Man  war  noch  mit  den  Erhebungen  über  den 
grauenhaften  Fund  beschäftigt,  als  die  Nachricht  eintraf,  dass  in 
der  reichlich  zwei  Kilometer  von  dem  Faubonrg  Saint -Denis  ent- 
fernten Rue  des  Plätriers  am  Kirchhote  Pere  -  Lachaise  auf  einem 
unbebauten  Gelände  ein  genau  wie  das  erste  umhüllte  Paket  gefunden 
worden  war,  das  einen  skalpierten  Kopf  und  Beine  eines  Mannes 
enthielt.  Die  sofort  angestellten  Versuche  und  Messungen  ergaben 
die  Zusammengehörigkeit  der  Körperteile  der  beiden  Packete.  Der 
Elrmordete  muss,  wie  man  glaubt,  einer  nicht  näher  zu  bezeichnen- 
den Klasse  angehört  haben,  die  sich  zur  Fröhnung  widernatürlicher 
Leidenschaften  hergiebt.  Er  ist  wahrscheinlich  das  Opfer  einer 
Bande  von  Zunftgenossen  und  Zuhältern  geworden.  Bis  jetzt  liegen 
als  Indizien  zur  Ermittelung  der  Verbrecher  nur  die  Aussagen  eines 
alten  Rentners  vor,  der  von  seiner  auf  den  Bauplatz  der  Rue  des 
Plätrers  hinausgehenden  Wohnung  in  der  Nacht  sechs  Personen  mit 
einem  grossen  Packete  erblickt  hatte,  das  von  zweien  derselben  auf 
das  bedeutend  tiefer  als  die  Strasse  belegene  unbebaute  Grundstück 
geschleppt  wurde.  Die  Feststellung  der  Identität  des  Opfers  wird 
dadurch  erschwert,  dass  die  Mörder  die  Lippen  und  einzelne  Ge- 
sichtsteile weggerissen  und  femer  die  Haare  entfernt  haben. 


George  Sand  und  Liszt.  In  einer  letzthin  in  Genf  er- 
schienenen Biographie  der  Sand  finden  wir  folgende  Anekdote:  Im 
Jahre  18B8,  kurz  nach  Lösung  ihrer  unglücklichenEhe,  begab  sich  die 
Sand  nach  Genf,  um  dort  Liszt  aufzusuchen,  der  damals  mit  der 
Gräfin  d*Agoul  auf  seiner  Schweizer  Reise  begriffen  war.  Die  Sand 
hatte  zu  jener  Zeit  ein  recht  originelles  Kostüm  angelegt,  durch 
das  sie  nicht   geringes  Aufsehen   erregte  —  sie   trug   eine  blaue 


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Bloiise,  breite  Beinkleider  und  Stiefel.  Just  an  dem  Tage,  da  die 
Sand  in  Genf  eintraf,  weilte  liszt  mit  der  Gräfin  und  einem  gelehrten 
Genfer  Philologen,  Adolf  Pietet,  in  Chamounix,  wohin  ihm  die  Sand 
sofort  nachreiste.  Sie  begab  sich  hier  direkt  ins  Hotel  und  frug 
beim  Portier  nach  „einem  Herrn  mit  langen,  zerzausten  Haaren,  mit 
einem  zerknitterten  Hut  und  einer  Cravatte,  die  ihm  wie  eine 
Schnur  um  den  Hals  baumelt;  weitere  Kennzeichen:  dieser  alte 
Herr  pflegt  fortwährend  Melodien  durch  die  Nase  zu  summen."  Diese 
Beschreibung  genügte,  denn  der  Portier  antwortete  sofort:  „Zimmer 
No.  18".  Die  Sand  begab  sich  in  das  Zimmer  und  hier  fand  folgende, 
von  ihr  selbst  beschriebene  Begrüssung  statt:  Wir  bildeten  eine 
eigenartige  Gruppe,  über  die  sich  das  Zimmermädchen,  das  gerade 
anwesend  war,  wohl  sattsam  gewundert  haben  mag.  Kam  da  ein 
Kerlcben  in  grossen,  staubigen  Stiefeln,  trat  ins  Zimmer  und  um- 
armt und  küsst  die  Gräfin,  als  wäre  er  ihresgleichen.  Das  Zimmer- 
mädchen hatte  auch  nichts  EiUgeres  zu  thun,  als  im  ganzen  Hause 
'diese  interessante  Scene  mitzuteilen,  als  sie  davon  auch  zum  Hotel- 
koch sprach,  zuckte  dieser  verächtlich  die  Schultern  empor  und 
meinte  wegwerfend:  „Ach  was,  Komödiantenvolk!** 


Eine  Hosenrolle.  Eins  der  eifrigsten  und  berühmtesten 
Mitglieder  der  demokratischen  Vereinigung  von  „Tammany  Hall"  in 
New- York  hat  der  Welt  eine  grossartige  Ueberraschung  bereitet, 
indem  er  sich  nach  seinem  Tode  als  —  Weib  entpuppte,  das  ein 
langes  Menschenleben  hindurch  mit  Erfolg  eine  Hosenrolle  spielte 
und  jedermann  über  sein  Geschlecht  zu  täuschen  wusste.  Ja,  diese 
merkwürdige  Frau  hat  in  ihrer  selbst  gewählten  Verkleidung  noch 
mehr  gethan:  sie  hat  sich  sogar  zweimal  in  ihrem  Mannesdasein 
verheiratet  Dass  beide  Gattinnen  um  das  Geschlecht  ihres  „Mannes'' 
gewusst  haben,  ist  natürUch  mit  Sicherheit  anzunehmen.  Entdeckt 
wurde  ihr  Geschlecht  offiziell  aber  erst,  als  ihr  Tod  dem  Standes- 
amte —  dem  Coroner  —  durch  den  Arzt,  der  sie  behandelt  und 
ihren  Totenschein  ausgestellt  hatte,  gemeldet  wurde,  und  der  als 
Todesursache  Ej*ebs  in  der  linken  Brust  angab,  zugleich  auch  er- 
klärend hinzufügte,  dass  man  es  in  dem  verstorbenen  Murraj-Hall 
mit  einem  Weibe  zu  thun  habe.  Der  Coroner  liess  darauf  die  Leiche 
noch  einmal,  und  zwar  durch  den  Arzt  der  Behörde  untersuchen, 
wodurch  sich  die  Angaben  als  Thatsacbe  bestätigten.  Die  Nachricht 
von  dieser  merkwtlrdigen  Entdeckung  erregte  unter  den  Mitgliedern 
Tammany  Halls  und  des  Jrokesen-Klubs,  dem  die  Verstorbene 
angehört  hatte,  ungeheures  Aufsehen.  Alles  war  „shocked"  und 
entsetzt  über  diesen  Skandal.    Denn  Murray-Hall  hatte  mit  jeder- 


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mann  doch  auf  das  familiärste  verkehrt,  hatte  als  einer  der  lustigsten 
Jungen  gegolten  und  manchen  wilden  Spass  mitgemacht.  Die 
Frauenwelt  in  Amerika  ist  über  diese  Enthüllung  durchaus  entzückt ; 
denn  nun  könne  es  keine  Schwierigkeit  mehr  haben,  jedem  anderen 
Weibe  in  Röcken  das  Stimmrecht  zu  gewähren,  das  jene  Frau  in 
Hosen  so  glänzend  ausgeübt.    Tag,  18.  1.  1901. 


Eine  sensationelle  Verhaftung.  Der  22jährige  Bank- 
beamte Gustav  M.  ist  gestern  vormittag  festgenommen  und  dem 
Untersuchungsgefängnis  in  Moabit  eingeliefert  worden.  Die  Festnahme 
erfolgte  auf  Grund  einer  Denunziation,  In  welcher  der  junge  Mann 
schwerer  Sittlichkeitsverbrechen  beschuldigt  wird.  Gustav M 
stammt  aus  einer  angesehenen  auswärtigen  Eaufmannsfandlie  und 
ist  seit  IVt  Jahren  in  einem  hiesigen  Bankgeschäite  thätig.  Er 
hatte  bisher  den  besten  Leumund  und  galt  als  ein  tüchtiger  Kauf- 
mann, der  am  Beginn  einer  aussichtsreichen  Cani^re  stand.  Bis 
vor  wenigen  Monaten  wohnte  M.  in  einem  Hotel.  Um  aber 
den  jungen  Mann  mehr  unter  seinen  Augen  zu  haben,  traf  sein  hier 
lebender  Onkel  die  Anordnung,  dass  Gustav  M.  ein  Zimmer,  das 
mit  den  im  Parterre  gelegenen  Geschäftsräumen  des  Onkels  in  Ver- 
bindimg  steht,  als  Wohnraum  benutzte.  Doch  scheint  diese  Yer- 
ftigung  ihren  Zweck  verfehlt  zu  haben,  denn  gerade  in  der  neuen 
Junggesellenwohnung  des  Bankbeamten  sollen  sich  die  Szenen  ab- 
gespielt haben,  die  zur  Einleitimg  einer  strafgerichtlichen  Unter- 
suchung geführt  haben.  Inwieweit  die  gegen  M.  erhobenen  schweren 
Beschuldigungen  auf  Richtigkeit  beruhen,  ist  vorläufig  noch  nicht 
festgestellt.  Während  der  junge  Mann  in  der  Denunziation  als  ein 
Wüstling  schlimmster  Sorte  geschildert  wird,  geht  eine  andere  Dar- 
stellung dahin,  dass  M.  sich  höchstens  in  einem  Falle  vergangen 
haben  könne,  aber  auch  da  sei  er  der  Verführte.  Er  soll  vor  einiger 
Zeit  mit  einem  jungen  Manne,  den  er  in  der  Friedrichstrasse  kennen 
lernte,  intim  verkehrt  haben.  Diese  Strassenbekanntschaft  ist  für  M. 
von  den  unheilvollsten  Folgen  begleitet  gewesen.  Wiederholt  soll 
er  unter  Drohungen  zu  Geldleistungen  gepresst  worden  sein.  Dann 
habe  er,  da  er  in  seiner  Eigenschaft  als  Bankbeamter  nur  ein  Gehalt 
von  140  Mark  bezog,  den  erpresserischen  Forderungen  nicht  mehr 
nachkommen  können,  und  aus  Rache  sei  gegen  ihn  eine  strafgericht- 
liche Anzeige  erstattet  worden. 


Stuttgart,  22.  Oktober.  Zur  Erläuterung  der  Gerüchte, 
welche  von  dem  „ amerikanischen '^  {Einfluss  bei  Hofe  sprechen, 
wird  dem  „Frankf  Joum.'*  von  hier  geschrieben :  „Der  Gteh.  Hofrat 


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y.  J.  hat  den  hiesigen  Hof  yerlassen.  Man  erinnert  sieh  der  märchen- 
haften Carriöre,  die  dieser  jnnge  Amerikaner  gemacht  hat  Früher 
Schüler  am  hiesigen  Konservatorium  und  zeitweise  Schreiber  beim 
amerikanischen  Konsulat,  ward  er  vor  etwa  drei  Jahren  in  die  nSciiste 
Umgebung  des  Königs  gezogen,  geadelt  nnd  mit  Titeln  und  Orden 
überhäuft.  Als  Wohnong  ward  ihm  ein  hübscher  Pavillon  des  kgl. 
Schlosses  angewiesen.  Sein  Verschwinden  von  der  Bildfläche  hat 
aber  niemanden,  der  die  Vorgänge  am  hiesigen  Hofe  etwas  näher 
kennt,  mehr  überrascht.  ICan  weiss  schon  lange,  dass  Herr  von  J. 
ans  der  Freundschaft  des  Königs  durch  einen  anderen  Amerikaner, 
Namens  Woodcock,  verdrängt  wurde,  dem  eine  glänzend  ausgestattete 
Wohnung  in  der  Neckarstrasse  eingerichtet  worden  ist  J.'s  Stellung 
bei  Hofe  war  demnach  schon  lange  keine  beneidenswerte  und  er 
hat  jetzt  vorgezogen,  nach  seiner  Heimat  zurückzukehren,  wo  er 
mit  seinen  Titeln  und  Orden  nicht  wenig  Effekt  machen  wird.'' 


Die  Voss.  Zeitg.  hatte  kurz  vorher  die  Mitteilung  gebracht, 
Freiherr  von  Spitzenberg,  der  Freund  des  Königs  Karl,  habe  sich 
„aus  Gesundheitsrücksichten"  für  ein  halbes  Jahr  zur  Disposition 
stellen  lassen,  weil  er  mit  der  Stellung  mehrerer  junger  Amerikaner 
in  der  Umgebung  des  Königs  unzufrieden  sei.  Sie  bemerkte  dazu, 
es  sei  bisher  immer  nur  von  einem  jungen  Amerikaner  die  Rede 
gewesen.  

Die  Erpressung  an  dem  Hofrat  Aus  Stuttgart  wird  dem 
„Wien.  TagbL''  geschrieben:  Die  Erinnerung  an  die  merkwürdigen 
Vorgänge,  deren  Schauplatz  der  Stuttgarter  Hof  in  den  letzten 
Lebensjahren  des  verstorbenen  Königs  Karl  war,  wird  durch  einen 
interessanten  Frozess,  welcher  am  13.  Januar  unter  Ausschluss  der 
Oeffentlichkeit  vor  dem  Stuttgarter  Landgerichte  stattfand,  in  eigen- 
artiger Weise  wieder  au^efrischt  Damals  tauchten  bekanntlich 
bei  Hofe  zwei  junge  Amerikaner  auf,  welche  sich  in  kurzer  Zeit 
die  vollste  Gunst  des  alten  Königs  errangen  und  von  diesem  mit 
Ehren  und  Beichtümem  überschüttet  wurden.  Ueber  die  Ursachen 
dieser  Zuneigung  kursierten  im  Volke  und  bei  Hofe  die  merk- 
würdigsten Gerüchte,  und  die  Gährung  wurde  so  stark,  dass  das 
Ministerium  Mittnacht  den  König  vor  die  Alternative  stellte,  ent- 
weder die  beiden  Amerikaner  oder  das  Ministerium  zu  entlassen. 
Dem  Drucke  nachgebend  willigte  der  König  in  die  Entfernung  der 
beiden  Günstlinge  bei  Hofe,  nicht  ohne  ihnen  noch  in  letzter  Stunde 
durch  Schenkung  eines  herrlichen  Schlosses  und  die  Ernennung  zu 
„Geheimen  Hofräten"  ein  letztes  Zeichen  seiner  Gunst  gegeben  zu 


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—    588    — 

haben.  Der  Erpressung  angeschiüdigt  stand  nun  vor  einigen  Tagen 
der  sechsunddreissigjährige  Herrschaftsdiener  Karl  Mann  vor  der 
zweiten  Strafkammer.  Dieser  hatte  in  den  Jahren  1881  bis  1884  in 
den  Diensten  des  Geheimen  Hofrates  von  Jaclcson  —  eines  der 
beiden  bevorzugten  Günstlinge  König  Karl's  —  gestanden.  Dabei 
scheint  aber  der  Geheime  Hofrat  seinen  Diener  nicht  blos  zu  den 
gewöhnlichen  Dienstleistungen  eines  Kammerdieners  benutzt  zu 
haben,  sondern  bediente  sich  dessen  Person  zur  fortgesetzten  Ver- 
übung  einer  Beihe  nicht  näher  zu  bezeichnender  sträflicher  Delikte. 
Nachdem  nun  der  Angeklagte  die  Dienste  Jackson's  verlassen  hatte, 
suchte  er  jenes  frühere  schmutzige  Verhältnis  sich  nutzbar  zu  machen, 
indem  er  von  seinem  früheren  Herrn  dadurch  einzelne  Greldsummen 
zu  erpressen  wusste,  dass  er  diesen  mit  Strafanzeigen  bedrohte. 
So  gelang  es  ihm,  von  1890  bis  1892  grosse  Summen  von  Jackson 
herauszupressen,  bis  diesem  endUch  die  Sache  zu  viel  wurde  und 
er  bei  der  Staatsanwaltschaft  die  Anzeige  wegen  Erpressung  er- 
stattete. Sofort  nach  Erstattung  der  Anzeige  verliess  der  Herr 
Geheime  Hofrat  Stuttgart  und  soll  sein  gegenwärtiger  Aufenthalt 
nicht  bekannt  sein.  Auf  Grund  der  Gerichtsverhandlung  wurde 
der  Kanmierdiener  schuldig  erkannt  und  zu  sechs  Monaten  Ge- 
fängnis verurteilt,  aber  mit  folgender  interessanter  Motivierung 
,Nach  den  Angaben  des  Angeklagten,  die  nicht  zu  widerlegen  seien, 
ist  derselbe  von  seinem  Dienstherm  während  des  bestehenden  Dienst- 
verhältnisses in  drastischer  Weise  zu  Handlungen  verleitet  und 
missbraucht  worden.  Bei  der  Strafbemessung  ist  zu  Gunsten  des 
Angeklagten  das  merkwürdige  Verhältnis  berücksichtigt  worden, 
welches  sich  zwischen  ihm  und  seinem  Dienstherm  herausgebildet 
hatte,  und  dessen  Bekanntwerden  für  den  Herrn  Hofrat  sehr 
empfindliche  Folgen  gehabt  hätte,  während  sich  daraus  für  den  An- 
geklagten eine  sehr  naheliegende  Versuchung  ergeben  musste."  — 
Damit  ist  nun  der  Gerechtigkeit  Genüge  geschehen.  Von  einer 
Verfolgung  des  Herrn  Hofrats  hört  man  nichts  und  scheint  die 
Stuttgarter  Polizei  gewichtige  Gründe  zu  haben,  seinen  Aufenthalt 
nicht  zu  entdecken.  Nebenbei  sei  erwähnt,  dass  seit  den  Achtziger 
Jahren  die  Gerichtsverhandlungen  wegen  gewisser  unsittlicher 
Delikte  sich  in  Stuttgart  in  erschreckender  Weise  hänfen. 


Ausschnitte  zum  Ende  des  König  Ludwig  II.  von  Bayern 
Voss.  Zeitg.  22.  Juni  1886.  Mit  der  gestrigen  Verhandlung  der 
bayerischen  Kammer  der  Reichsräte  über  die  Regentschaftsfrage 
hat  die  Verlegung  des  Regierungsmaterials  zur  Erläuterung  der 
Katastrophe   an  die  Oe£fentlichkeit  begonnen.    Dass  die  Vorlegung 


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-    68Ö    - 

nur  eine  beschränkte  ist,  wird  ausser  anderem  auch  durch  den 
Rahmen  des  Öffentlichen  Sittlichkeitsgefühls  geboten,  inner- 
halb dessen  gewisse  Teile  des  Aktenmaterials  schlechterdings  nicht 
wiederzugeben  sind.  Was  uns  selbst  an  Einzelheiten  in  dieser  Be- 
ziehung von  glaubwürdiger  Seite  in  den  letzten  Tagen  zugegangen 
ist,  übertrifft  an  Beweisen  geistiger  und  sittlicher  De- 
generaton  Alles,  was  bisher  für  möglich  gehalten  wurde,  und 
macht  es  dem  bayrischen  Ministerium  leicht,  das  Verlangen  nach 
„voller  Oeffentlichkeit"  aus  Gründen  abzuweisen,  welche  auch  dem 
Rücksichtslosesten  einleuchten  müssen.  Nicht  was  den  Kammern 
öffentlieh  gesagt  wird,  sondern  was  ihnen  verschwiegen  werden  muss, 
obwohl  es  von  Mund  zu  Munde  geht,  bildet  den  schwärzesten  Punkt 
in  dieser  traurigen  Episode,  wenn  auch  schon  das  öffentlich  vor- 
gelegte Material  an  Beweiskraft  für  den   entarteten  Geisteszustand 

des  Königs  nichts  zu  wünschen  übrig  lässt 

Ueber  die  vorgestrige  Sitzimg  des  Ausschusses  der  Adgeordneten- 
kammem  wird  der  „Frankfurter  Zeitung**  berichtet:  „Die  Sitzung 
begann  mit  einer  grossen  Klage  von  beiden  Seiten,  dass  alles  heraus 
komme.  Der  Minister  ist  bekanntlich  nicht  genötigt,  alles  Material 
vorzulegen.  Das  zur  Sittengeschichte  Gehörige  ist  nur  gestreift 
weil  es  unmögUch  war,  die  Chevauxlegers  vonHohenschwangau  zur  Ver- 
nehmung kommen  zu  lassen,  da  der  König  Verdacht  geschöpft  hätte,  v. 
Gudden  hatte  in  seinem  Gutachten  keinen  Wert  daraufgelegt,  weil  das- 
selbe eine  Schwäche  sei,  die  auch  bei  gesunden  Menschen  vorkomme. 
Kammerdiener  Weier,  welcher  eine  Aussage  bei  Lebzeiten  des  Kö- 
nigs verweigerte,  wurde  nach  dessen  Tode  vernommen ;  alle  anderen 
Aussagen  sind  vor  dem  Tode  gemacht  worden.**  —  Hierher  gehört 
die  Erzählung,  ein  Abgeordneter  habe,  nach  dem  Eindruck,  den  die 
Verhandlungen  auf  ihn  gemacht,  befragt,  mit  dem  einzigen  Worte : 
„Sueton!**  geantwortet 


Voss.  Zeitg.  24.  Juni,  Abendansg.  München,  24.  JunL 
Aus  dem  mündlich  im  Ausschuss  der  Abgeordnetenkammer  abge- 
gebenen Gutachten  des  Dr.  Grashey  geht  hervor,  dass  fast  während 
der  ganzen  Regierimgszeit  König  Ludwigs  die  Geistesstörung  be- 
stand. Schon  als  Knabe  sei  derselbe  auffallend  furchtsam  und  ängst- 
lich gewesen;  die  Krankheit,  welche  logisches  Denken  nicht  aus- 
Bchloss,  habe  die  Kraft  des  Willens,  die  Beschaffenheit  des  Cha- 
rakters imd  die  Regungen  des  Gemütes  beeinträchtigt  Die  Heilung 
wäre  möglich  gewesen,  wenn  gleich  nach  dem  Regierungsantritt 
die  ärztliche  Behandlung  eingeleitet  worden  wäre. 

Dem  „Frank.  Courier**  wird  anscheinend  ans  parlamentarisohen 


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-    69Ö    - 

Kreisen  nach  Vorlegong  des  gesamten  Aktenmaterials  über  die 
Geistesgestörtheit  Ludwig  II.  geschrieben:  „Kein  Zweifel,  dass  der 
unglückliche  Monarch  seit  vielen,  langen  Jahren  infolge  geistiger 
Störung  regierungsuntähig  war.  Vor  seinen  Todesurteilen  war  zu- 
letzt niemand  mehr  sicher.  Bildnisse  allerhöchster  und  höchster 
Personen  konnten  nicht  gegen  seine  Verunglimpfung  geschützt  werden. 
Den  Kabinetse#kretären  Ziegler  und  Müller  schrieb  er  von  Zärtlich- 
keit überfliessende  Briefe:  „Mein  angebeteter  Friedrich''  und 
„Ludwig"  —  so  lautete  die  briefliche  Anredeformel  des  sonst  so 
selbstbewussten  Fürsten,  der  seinen  Lieblingen  das  kordiale  „Du" 
aufzudringen  suchte.  Solchen  Freundschaftobeteuerungen  folgten 
dann  bei  dem  sich  in  beständigen  Kontrasten  bewegenden  Könige 
Anfälle  von  Wut,  bisweilen  Erzählungen  von  Träumen,  z.  B.  dass 
er  seinen  toten  Vater  im  Grabe  misshandelt  habe,  und  ganz  nero- 
sohe  Aussprüche,  wie:  er  wünsche  seinem  ganzen  Volk  einen  ein- 
zigen Kopf,  um  ihn  abschlagen  zu  können;  femer:  er  möchte 
München  an  seinen  vier  Endpunkten  anzünden.  •  Es  ist  leider  eine 
durch  die  Minister  vollerwiesene  Thatsache,  dass  derselbe  König, 
der  im  Juli  1870  mit  mannhaftem  Entschlüsse  sofort  sein  Heer  gegen 
Frankreich  mobilisieren  Hess,  und  der  im  November  desselben  Jahres 
dem  König  von  Preussen  die  deutsche  Kaiserkrone  anbot,  schon 
damals  in  Momenten  geistiger  Störung  wiederholt  die  Siege  des 
deutschen  Heeres  über  Frankreich  verwünschte  und  die  Hoffiiung 
auf  einen  für  Frankreich  günstigen  Ausgang  des  Feldzuges  aussprach. 
Ludwigs  XTV.  widersinnige  Verhimmelung  im  bayerischen  Ver- 
sailles auf  Herrenchiemsee  bildet  das  Pendant  hierzu.  Ein  fernes 
Land,  womöglich  eine  Insel  wünschte  sich  der  König  zu  persön- 
lichem despotischen  Regiment  und  beauftragte  den  Direktor  von 
Löher,  der  auch  wirklich  eine  grosse  Beise  in  seinem  Namen  unter- 
nahm, mit  Auffindung  dieses  Eilandes.  Er  glaubte  an  ein  Leben 
nach  dem  Tode,  erklärte  es  aber  für  undenkbar,  dass  im  Jenseits 

der  Unterschied  der  Stände  fallen  werde Zum  Schluss 

noch  Eines,  das  Peinlichste,  was  ich  auf  dem  Herzen  trage.  Was 
den  ganzenWinter  hinduroh  in  Kasernen  und  Soldaten- 
kreisen stehender  Gesprächsstoff  war,  was  die  Spatzen 
auf  den  Dächern  pfiffen,  das  sollte  der  Militärverwaltung  nicht 
zur  Kenntnis  gelangt  sein?  Und  wenn  doch,  wie  konnte  und 
durfte  sie  immer  wieder  Chevauxlegers  an  das  Hoflager 
schicken. 


Voss.  Ztg.  28.  Juni  1886.     Aus    der  Sitzung    der   bayerischen 
Abgeordnetenkammer  vom  26.  Juni.  —  —  —  —    Einen  grossen 


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-  6dl  — 

Gegensatz  zu  dieser  Menschenscheu,  die  sich  zum  Hasse  steigerte, 
bildete  die  schwärmerische  Zuneigung  zu  den  Kabinetssekretären 
y.  Ziegler  und  v.  Müller,  die  in  eigenhändigen  übersohwänglichen 
Briefen  Ausdruck  fand  —  eine  Freundschaft,  die  freilich  nur  kurze 
Zeit  auszudanem  pflegte.  Stallmeister  Hornig  bekundet,  dass  der 
König  Anfangs  noch  ein  grösseres  Bedttrfiiis  hatte,  mit  Menschen 
zu  verkehren;  er  spricht  von  Waldfesten,  die  der  König  mit  jungen 
Stallbediensteten  veranstaltete,  bei  denen  Spiele  wie  das  Bingver- 
stecken,  „Schneider  leih'  mir  deine  Scheer*"  u.  s.  w.,  gemacht  wurden. 
Später  unterblieb  dies,  doch  kam  es  noch  vor,  dass  auf  dem 
Schachen  das  Stallpersonal  tttrkisch  gekleidet  und  sitzend  mit  ihm 
Sorbet  trinken  und  türkische  Pfeifen  rauchen  musste.  Im  Hunding- 
hause  zu  Linderhot  trank  er  mit  den  Dienern,  auf  Fellen  ruhend, 
nach  der  Sitte  der  alten  Deutschen  aus  grossen  Trinkhömern  Meth. 
Seit  dem  9.  Januar  1883,  als  Ziegler  aus  dem  Kabinete  ausschied, 
gab  er  sonst  jeden  Umgang  mit  gebildeten  auf  und  verkehrte  nur 
noch  mit  der  unteren  Dienerschaft.  Im  letzten  Jahre  fand  keine 
Hoftafel,  keine  Audienz  der  Minister  und  der  Hofdamen  statt  Die 
Befehle  wurden  nur  durch  die  Dienerschaft,  zuletzt  Chevaulegers 
vermittelt 

Wir  sohHessen  hier  noch  einige  neuerdings  veröffentlichte  Briefe 
(auszugsweise)  des  Königs  an  Richard  Wagner  an. 
Mein  teurer  Freundl 

Heute  ist  der  letzte  Tag  meines  hiesigen  Aufenthaltes,  ich  be- 
gebe mich  morgen  nach  Partenkirchen  und  werde  am  Dienstag 
spät  abend  in  München  eintreffen.  0  mein  geliebter  Freund,  der 
letzten  Tage  Qual  war  groBB,  auch  die  ersten  Tage  in  München 
werden  sehr  anstrengend  und  trttbe^  ftir  mich  sein,  es  wird  lange 
währen,  bis  ich  zu  der  mir  nötigen  Ruhe  gelangen  kann.  —  Jener 
Artikel  in  den  Neuesten  Nachrichten  trug  nicht  wenig  dazu  bei, 
mir  den  Schluss  des  hiesigen  Aufenthalts  zu  verbittern,  er  ist  ohne 
Zweifel  von  einem  Ihrer  Freunde  geschrieben,  der  Ihnen  mit  dem- 
selben einen  Dienst  erweisen  wollte,  leider  aber  hat  er  Ihnen  ge- 
schadet, statt  genützt  0  mein  Freund,  wie  fürchterlich  schwer 
macht  man  es  uns,  doch  ich  will  nicht  klagen,  ich  habe  ja  Ihn,  den 
Freund,  den  Einzigen.  ...  Ich  bitte  Sie,  nennen  Sie  mir  die  Ver- 
leumdung, die  gegen  mich  im  Werke  ist,  ich  beschwöre  Sie,  Teurer; 
0  die  schwarze,  lästerhafte  Welt,  nichts  ist  ihr  heilig,  doch  der 
Gedanke  an  Sie  richtet  mich  stets  wieder  auf,  nie  lasse  ich  von 
dem  Einzigen;  ist  das  Wüten  des  Tages  noch  so  folternd,  wir  bleiben 
uns  treu.    Der  Himmel  liegt  in  diesem  Gedanken. 

Ich  will  nun  mit  Ihnen  in  Siegfrieds  Walde  sein,  mich  geistig 


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-    &9ä    - 

an  der  Vöglein  Sang  erquicken,  vergessen  Sie  die  raohe  Umgebung, 
die  mit  Nacht  und  Blindheit  geschlagen  ist,  unsere  Liebe  leuchte 
hell  und  lauter!    .  .  .  Getreu  bis  in  den  Tod  L. 

*  *       * 
Inniggeliebter  Freund! 

Es  drängt  mich  Ihnen  zu  schreiben,  Ihnen  zu  sagen,  wie  Über- 
glücklich ich  bin,  da  ich  hörte,  dass  Sie  heiter  und  zufrieden  smd, 
und  die  Proben  zu  Tristan  vollkommen  nach  Ihrem  Wunsche  von 
statten  gehen.  —  Wer  hätte  an  dies  herrliche  Gelingen  vor  einem 
Jahre  gedacht!  —  Um  diese  Zeit  sandte  ich  Pfistermeister  nach  der 
Sonne  meines  Lebens  aus,  nach  dem  Urquell  meines  Heils!  — 
Vergeblich  suchte  er  Sie  in  Wien  und  Zürich,  alle  Schauer  der 
höchsten  Wonne  durchbebten  mich,  als  er  mir  sagte,  der  Ersehnte 
ist  hiev  will  hier  nun  bleiben.  — 

0','^er     .'  Abend,  als  ich  diese  Kunde  empfing! 

^  >ocb   is  ich  wahrhaft  Dich  so  vor  mir  sehe, 

Eikannt  ich  gleich.  Du  kämst  auf  Gottes  Rat**  u.  s.  w. 

.  .  .  Leben  Sie  wohl,  teurer  Freund,  Stern  des  Daseins;  wie 
immer  Ihr  ewig  getreuer  L. 

Den  20.  April  1865. 

Ein  und  All! 

Inbegriff  meiner  Seligkeit! 

Wonnevoller  Tag!  —  Tristan!  Wie  freue  ich  mich  auf  den 
Abend!  Käme  er  doch  bald!  Wann  weicht  der  Tag  der  Nacht, 
Wann  löscht  die  Fackel  aus,  wann  wird  es  Nacht  im  Haus?  — 
Heute,  heute,  wie  zu  fassen!  —  Warum  mich  loben  und  preisen! 
Er  vollbrachte  die  That!  —  Er  ist  das  Wunder  der  Welt,  was  bin 
ich  ohne  Hm!?  —  Warum,  ich  beschwöre  Sie,  warum  finden  Sie 
keine  Buhe,  warum  stets  von  Qualen  gepeinigt!  —  Keine  Wonne 
ohne  Weh,  o  wodurch  kann  endlich  Ruhe,  endlich  ewiger  Friede 
auf  Erden,  stete  Freude  für  Ihn  erblühen.  —  Warum  stets  betrübt 
bei  aller  Freude,  den  tief  geheimnisvollen  Grund,  wer  macht  der 
Welt  ihn  kund?  Meine  Liebe  für  Sie,  o  ich  brauche  es  ja  nicht 
zu  wiederholen,  bleibt  Ihnen  stets!  —  „Treu  bis  in  den  Tod!"  — 
Mir  geht  es  wieder  gut!  —  Tristan  wird  mich  trotz  der  Ermüdimg 
vollkommen  wiederherstellen!  —  Die  herrliche  Maienluft  in  Berg 
wohin  ich  bald  ziehen  werde,  wird  mich  vollentls  kräftigen!  — 
Bald  hoffe  ich  meinen  Einzigen  wiederzusehen!  .  .  .  Dir  geboren. 
Dir  erkoren!  Dies  mein  Beruf!  Ich  grüsse  Ihre  Freunde,  sie  sind 
die  meinigen!    Warum  betrübt,  bitte  schreiben  Sie!  — 

Tristan-Tag.  Ihr  treuer  L. 

•  ♦        ♦ 


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—    593    — 

Teurer  Freund! 

0  ich  sehe  wohl  ein,  dass  Ihre  Leiden  tief  begründet  sind! 
Sie  sagen  mir,  geliebter  Freund,  Sie  hätten  tief  in  die  Herzen  der 
Menschen  geblickt,  ihre  Bosheit  und  Verdorbenheit  darin  erschaut; 
o  ich  glaube  Ihnen,  begreife  wohl,  dass  oft  Augenblicke  des  Un- 
mutes gegen  das  Menschengeschlecht  bei  Ihnen  eintreten,  doch 
stets  wollen  wir  bedenken  (nicht  wahr,  Geliebter?)  dass  es  doch 
viele  edle  und  gute  Menschen  giebt,  für  welche  zu  leben  und  zu 
schaffen  es  wahre  Freude  ist.  Und  doch  sagen  Sie,  Sie  taugen  nicht 
für  diese  Welt!  —  Verzweifeln  Sie  nicht,  Ihr  Treuer  beschwört  Sie, 
fassen  Sie  Mut:  „Die  Liebe  hüft  alles  tragen  und  dulden,  sie  fUhrt 
endlich  zum  Sieg !"  —  Die  Liebe  erkennt  selbst  in  den  Verdorbendsten 
den  Keim  des  Guten,  sie  allein  überwindet !  —  Leben  Sie,  Liebling 
meiner  Seele,  Vergessen  üben  ist  ein  edles  Werk,  Ihre  Worte  rufe 
ich  Ihnen  zu!  —  Bedecken  wir  mit  Nachsicht  die  Fehler  An  3rer, 
für  Alle  ja  starb  und  litt  der  Erlöser!  ...  Bis  in  dt  Too  Ihr 
treuer  Freund  Ludwig.  Den  15.  jiai     .65. 

*        *        * 

Einziger!  —  Vielgeliebter  Freund!  Vor  allem  spreche  ich 
Ihnen  meinen  herzlichsten  Dank  aus  für  zwei  mir  so  werte  Briefe, 
den  ersten  erhielt  ich  im  schönen  Schlosse  Oberschwangan,  den 
zweiten  hier  in  der  herrlichen  Purschlinghütte.  —  Sie  drücken  mir 
Ihren  Kummer  darüber  aus,  dass,  wie  Sie  meinen,  eine  jede  unserer 
letzten  Zusanmienkünfte  mir  nur  Schmerz  und  Sorge  gemacht  habe. 

—  Muss  ich  meinen  Geliebten  an  Brtinhilds  Worte  erinnern?  — 
Nicht  nur  in  Freude  und  Lust,  auch  im  Leiden  macht  die  Liebe  selig. 
Geliebter!    Alles  wird  vollbracht  werden!    Jedes  Sehnen  gestillt. 

—  Das  Feuer  der  Begeisterung,  das  mich  mit  jeder  Woche  heftiger 
entflamnlt,  soll  nicht  umsonst  erglühen!  —  Die  Frucht  muss  reifen 
und  gedeihen!  —  Heil  Dir!  Heil  der  Kunst!  Gott  gebe,  dass  der 
Aufenthalt  auf  Bergeshöhen,  das  Weben  in  der  freien  Natur,  in 
unsem  deutschen  Wäldern  dem  Einzigen  heilbringend  sei!  Ihn  froh 
und  heiter  stimme,  zum  Schaffen  entflamme!  Wann  gedenkt  mein 
Freimd  nach  dem  Hochkopfe  zu  ziehen,  nach  des  Waldes  würzigen 
Lüften?  —  Sollte  ihm  der  Aufenthalt  daselbst  nicht  vollkommen 
zusagen,  so  bitte  ich  den  Teuren  irgend  eine  meiner  andern  Gebirgs- 
hütten  sich  zum  Wohnorte  zu  erwählen.  —  Was  mein  ist,  gehört 
ja  ihm !  Vielleicht  \)egegnen  wir  uns  dann  auf  dem  Wege  zwischen 
Wald  und  Welt,  wie  mein  Freund  sich  ausdrückte!  ....  Gegen- 
wärtig bin  ich  wieder  hoch  in  einsam  stehender  Berghütte,  umweht 
von  erfrischenden  Alpenlüften,  selig  in  der  freien  Natur,  und  denke 
an  den  Stern,  der  meinem  Leben  strahlt,  an  den  Einzigen !   Möchte 

Jahrbuch  III.  38 


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—    £94    — 

ihn  froh  and  glttoklich  wissen  und  beitragen  können  zn  seiner  Bnhe^ 
seiner  Seligkeit.  Heil  ihm  I  —  Segne  ihn,  mein  Herr  und  Gott,  gieb 
ihm  den  frieden,  den  er  bedarf,  entziehe  ihn  den  profanen  Angen 
der  eitlen,  leeren  Welt,  bekehre  sie  durch  ihn  von  dem  Wahn,  der 
sie  gefangen  hält!  —  Dir  bin  ich  ganz  ergeben,  nur  Dir,  nur  Dir 
zu  leben!  Bis  in  den  Tod  Ihr  Eigen. 
Purschling,   den  4.  August  1865.  Ihr  getreuer  Ludwig. 

*  *       * 

Ein  und  All!    Ueber  Alles  geliebter  Freund! 

Es  drängt  mich  Ihnen  aus  voller  Seele  meinen  wärmsten  Dank 
auszusprechen  für  Ihren  teuren  Brief  und  das  herrliche  Geschenk: 
Rheingold!  Rheingold,  o  Entzücken,  Jubel  meines  Herzens!  Ich 
kann  Ihnen  nicht  beschreiben,  mit  welch  jauchzender  Freude  mich 
Ihre  Gabe  erfüllt!  Von  des  Herrlichen  eigener  Hand  geschrieben! 
Vollkommen  weiss  ich  ihn  zu  schätzen,  den  Wert  des  hinmilischen 
Geschenkes!  —  Auch  von  Ihrer  Freundin,  von  Frau  v.  BÜlow,  er- 
hielt ich  ein  mir  teures  sinnvolles  Geschenk,  das  mir  im  Augenblicke 
jedes  Ihrer  hehren  Werke  vorzaubert!  Nun  wollen  wir,  Ihre 
Freunde,  rüstig  arbeiten  und  fördern,  während  der  Geliebte,  der 
göttiiche  Freund  gänzlich  der  Erdenwelt  entzogen  werden  soll,  um 
einzig  in  seinen  wonnigen  Reichen  zu  träumen,  zu  schaffen.  Wie 
schmerzlich  war  mir  die  Kunde  von  neuen  Leiden  meines  Freundes, 
Gott  gebe,  dass  Ihre  teure  Gesundheit  sich  bald  vollkommen  wieder 
kräftige !  —  Wie  hätte  ich  mich  gefreut,  meinen  Geliebten  auf  dem 
Hochkopfe  besuchen  zu  können,  ich  wäre  nach  der  Riss  geritten, 
etwa  Anfang  September,  um  dort  einige  Tage  zu  verweilen,  von 
dort  aus  hätte  ich  so  gerne  den  Freund  in  seiner  Bergeswohnung 
aufgesucht;  welch'  schöne  Stimde  hätten  wir  dort  vereint  verlebt! 
Doch  es  sollte  nicht  sein!  Im  Geiste  bin  ich  immer  bei  Ihnen! 
Wie  entzückt  mich  Ihr  Geschenk,  ich  muss  es  immer  wiederholen! 
Heil  Dir,  Sonne!  —  Heil  Dir,  Licht!  Ich  muss  schliessen.  Leben 
Sie  wohl,  Urquell  des  Lebenslichtes,  wir  handeln,  verlassen  Sie  sich 
darauf!  Bis  in  den  Tod 
Hohenschwangau,  den  27.  August  1865.     Ihr  getreuer  Ludwig. 

*  ♦       * 

Innig  Geliebter!  —  Mein  Alles! 
Der  Jubel  meiner  Seele  lässt  mir  keine  Ruhe;  ich  muss  heute 
noch  einige  Zeilen  an  den  Teuersten  richten,  an  dem  Tage,  der 
mir  durch  Ihren  göttlichen  Brief  unvergesslich  bleiben  wird.  —  Ja, 
ich  will  Ihnen  treu  bleiben  bis  zum  letzten  Atemzuge,  will  Sie 
schirmen  mit  mächtigstem  Schutz!  Feierlich  gelobe  ich  Ihnen  dies 
aufs  neue.  —  Mit  Ihnen  nur  leb'  ich,  mit  Ihnen  will  ich  sterben. 
—  Hört  diesen  Schwur,  Manen  des  verewigten  Tristan,  Heiliger 
Gott,  gieb   Deinen   Segen  [  .  .  .  Herzüchen   Dank    für    die  üeber- 


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—    695    — 

Bendung  des  Briefes  der  Witwe  unseres  Tristan ;  sie  fragt  mich,  ob 
ich  die  Todenmaske  des  Verblichenen  annehmen  wolle.  Ich  bitte 
den  Geliebten,  ihr  mitteilen  zu  wollen,  dass  mich  das  Andenken 
an  den  Verstorbenen  innig  erfreuen  wird,  dass  es  mir  von  Herzen 
wert  und  teuer  sein  wird;  desgleichen  bitte  ich  den  Freund,  sie 
wissen  zu  lassen,  dass  mich  ihr  Brief  mit  inniger,  tiefer  Rührung 
erfüllte!  —  Ewig  des  Einzigen  treuer  L. 

* 
Mein  Einziger!  Mein  göttlicher  Freund! 
Endlich  finde  ich  einen  freien  Augenblick,  endlich  komme  ich 
dazu,  dem  Geliebten  für  den  übersandten  Entwurf  zum  „Parcival" 
aus  tiefster  Seele  zu  danken,  die  Flammen  der  Begeisterung  erfassen 
mich ;  mit  jedem  Tage  wird  sie  glühender,  meine  Liebe  zu  dem, 
den  ich  einzig  liebe  auf  dieser  Welt,  der  meine  höchste  Freude, 
mein  Trost,  meine  Zuversicht,  mein  Alles  ist!  .  .  .  Wie  sehne  ich 
mich  nacn  Ihnen;  selig  kann  ich  nur  bei  Ihnen  sein!  —  Hier  ver- 
lebe ich  unruhige  Tage ;  ich  werde  am  Sonntage  mich  wieder  hinauf 
flüchten  in  die  heilige  Ruhe  der  Natur,  in  die  reine  Luft  der  Berge, 
dort  werde  ich  endüch  wieder  aufatmen  können  nach  den  Mühen 
bewegter  Tage,  lästiger  Besuche,  dort  oben  in  wonniger  Einsam- 
keit, auf  Bergeshöhe,  werde  ich  die  mir  so  nötige  Ruhe  finden; 
die  Hütten,  die  ich  bewohnen  werde,  sind  von  hier  nicht  sehr 
entfernt,  will  mein  Teurer  mir  die  Freude  machen,  mir  zu  schreiben, 
so  bitte  ich  Ihn,  die  Briefe  hierher  zu  adressieren,  sie  werden  mir 
nachgesandt  werden !  —  Wie  geht  es  dem  Geliebten,  herrscht  Ruhe 
um  Ihn,  ist  er  froh  und  heiter?!  .  .  .  Geliebter,  wir  wollen  Uns 
treu  stets  zur  Seite  stehen,  das  Ideal,  welches  uns  begeistert,  wird 
die  Welt  dereinst  begeistern  —  o  wie  liebe  ich  Sie,  mein  angebeteter, 
heiliger  Freund!  —  Nur  eine  Frage  erlaube  ich  mir  an  meinen  ge- 
liebten Freund  bezüglich  des  Parcival  zu  richten.  —  Warum  wird 
unser  Held  erst  durch  Cundry's  Kuss  bekehrt,  warum  wird  ihm 
dadurch  seine  göttliche  Sendung  klar?  Erst  von  diesem  Augenblick 
ka^n  er  sich  in  die  Seele  des  Amfortas  versetzen,  kann  er  sein 
namenloses  Elend  begreifen,  mit  ihm  fühlen!  —  0  könnten  wir  doch 
immer  zusammen  sein!  In  München  müssen  wir  uns  jeder  Woche 
wenigstens  einmal  sprechen;  länger  halte  ich  es  nicht  aus,  ohne 
meinen  Einzigen  zu  sein;  Ruhe,  Ruhe  brauche  auch  ich  so  notwendig, 
hier  konnte  ich  sie  gegenwärtig  nicht  finden;  oben  wird  sie  ge- 
wonnen werden!  Weiss  ich  den  Geliebten  wohlgemut,  so  bin  ich 
es  auch,  mein  Denken  und  Fühlen  geht  einzig  auf  ihn,  könnte  ich 
bald  von  ihm  hören!  —  Heil  und  Segen  dem  Einzigen! 

Sein  treuer  Ludwig. 
*  *  38* 


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—    596    — 

Mein  vielgeliebter  Freund! 

Es  drängt  mich,  Ihnen  heut  noch  zu  schreiben,  Ihnen  zu  sagen, 
dass  mein  Geist  sich  immer  nur  mit  Ihnen  beschäftigt,  dass  ich  nur 
in  der  steten  Erinnerung  an  Sie  glücklich  sein  kann!  —  Heute  be- 
zog ich  eine  andere  Hütte  in  einem  stillen,  trauten  Gebirgsthale; 
80  herrlich  umragen  mich  die  Gipfel  der  Berge,  so  anheimelnd  um- 
stehen mich  die  dunklen  Fichten  und  Tannen.  —  Ich  komme  eben 
von  einem  Spaziergange  zurück  in  meine  einsame  Wohnung.  Sieg- 
friedsluft umwehte  mich;  die  Sonne  sank  herab,  es  war  der  Tag 
vollbracht,  ein  glühend  roter  Saum  leuchtete  auf  den  Bergen.  — 
Das  Bild  meines  Einzigen  umschwebte  mich,  trat  mir  immer  näher 
vor  das  geistige  Auge,  ein  Bild,  das  meine  Augen  zu  schauen  sich 
kaum  getrauten,  sogar  im  Rauschen  des  Gebirgsbaohes  erkannte 
und  horte  ich  die  Töne  und  Melodien  aus  den  Werken  des  heiligen 
Freundes.  .  .  .  „Stark  ist  der  Zauber  des  Begehrenden,  doch 
grösser  der  des  Entsagenden!"  —  Welch  grosse,  welch  eine  er- 
schütternde Wahrheit  in  diesen  Worten!  —  0  Parcival,  Erlöser! 
Heilige  Nacht  herrscht  draussen  im  Thale,  es  leuchten  die  glitzernden 
Sterne,  der  Tag  birgt  sich  nur,  aufs  neue  entflammt  mich  die  Be- 
geisterung! „Dir  geweiht  dies  Haupt,  Dir  geweiht  dies  Herz!"  — 
Semper  wird  jetzt  in  München  sein,  der  Platz  wird  bestimmt,  der 
Geliebte  träumt  in  Seinen  idealen  Welten,  die  Erfüllung  winkt. 

Rreuzenalp,  am  13.  September  1865.  Ludwig. 

*        ♦        * 
Mein  einziger  Freund!    Mein  heiss  Geliebter! 

Heute  Nachmittag  V«^  Uhr  kam  ich  von  einem  herrlichen  Aus- 
fluge nach  der  Schweiz  zurück!  —  Wie  entzückte  mich  dieses 
Land!  —  Da  fand  ich  Ihren  teuren  Brief!  Innigsten  wärmsten 
Dank  für  denselben.  —  Mit  neuer  flammender  Begeisterung  hat  er 
mich  erfüllt,  ich  sehe,  dass  der  Geliebte  mutig  und  vertrauensvoll 
unserem  grossen,  ewigen  Ziele  entgegenschreitet. 

Ich  will  alle  Hindemisse  siegend  wie  ein  Held  damiederkämpfen; 
ich  bin  Dir  ganz  zu  eigen,  nun  lass  mich  Gehorsam  zeigen.  Ja 
wir  müssen  ims  sprechen,  ich  will  alle  Wetterwolken  verscheuchen, 
die  Liebe  hat  Kraft  zu  Allem.  Sie  sind  der  Stern,  der  meinem 
Leben  strahlt,  und  wunderbar  stets  stärkt  mich  Ihr  Anblick.  — 
Ich  brenne  nach  Ihnen,  o  mein  Heiliger!  Angebeteter!  Ich  würde 
mich  unendlich  freuen,  den  Freund  etwa  in  8  Tagen  hier  zu  sehen, 
0  wir  haben  ims  viel  zu  sagen !  —  Gelänge  es  mir  doch  den  Fluch, 
von  welchem  Sie  mir  sprechen,  gänzlich  zu  bannen,  zurückzusenden 
in  die  nächtlichen  Tiefen,  aus  denen  er  aufstieg!  —  Wie  liebe,  wie 
liebe  ich  Sie  mein  Einziger,  mein  höchstes  Gut!  —  Sonne  des 
Lebens!    .    .     .     Kömmt   mein   geliebter  Freund V     Ich   bitte   Sie, 


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Bohreiben  Sie  bald.  —  Uns  trennt  man  nie,  ich  biete  Trotz  dem 
falschen  Strahl  des  Tages.  .  .  .  Meine  Begeisterung  und  liebe 
ftlr  Sie  sind  grenzenlos! 

Auf   das   Neue    schwöre  ich   Ihnen  Treue    bis  in   den  Tod 

Ihr  für  Sie  glühender  Ludwig. 
«  * 

Mein   einziger,   geliebter  Freund! 

Wie  die  majestätische  Sonne,  wenn  sie  die  trüben,  beängsti- 
genden Nebel  verscheucht  und  Licht  und  Wärme,  labende  Wonne 
rings  verbreitet,  so  erschien  mir  heute  Ihr  teurer  Brief,  aus  welchem 
ich  vernahm,  dass  Sie,  geliebter  Freund,  von  den  folternden 
Schmerzen  verlassen  sind  und  der  Besserung  rasch  entgegenschreiten« 
Der  Gedanke  an  Sie  erleichtert  mir  das  Schwere  in  meinem  Beruf; 
so  lange  Sie  leben,  ist  auch  für  mich  das  Leben  herrlich  und  be- 
glückend. 0  mein  Geliebter,  mein  Wotan  soll  nicht  sterben  müssen, 
er  soll  leben,  um  sich  lange  noch  an  seinem  Helden  zu  erfreuen! 
Hier  sende  ich  meinem  teuren  Freund  eine  gemalte  Photographie 
von  mir,  welche,  wie  ich  glaube  und  höre,  das  gelungenste  Bildnis 
ist,  welches  von  mir  besteht.  Ich  sende  es  Ihnen,  weil  ich  der 
festen  Ueberzeugung  bin,  dass  Sie  mich  am  meisten  lieben  von 
allen  Menschen,  welche  mich  kennen,  ich  glaube  mich  hierin  nicht 
zu  irren.  Mögen  Sie  bei  ihrem  Anblick  immer  gedenken,  dass  der 
Uebersender  Ihnen  in  einer  Liebe  zngethan  ist,  welche  ewig  dauern 
wird,  ja  dass  er  Sie  mit  Feuer  liebt,  so  stark,  als  nur  irgend  ein 
Mensch  zu  lieben  vermag.    Ewig 

Hohenschwangau,  den  8.  Nov.  1864.  Ihr  Ludwig. 

♦ 
Vielgeliebter  Freund! 

Obwohl  ich  in  einigen  Tagen  wieder  nach  München  zurück- 
zukehren gedenke  imd  ich  hoffe,  möglichst  bald  meinem  Teuren 
und  Einzigen  wieder  aus  vollem  Herzen  —  wie  ja  immer!  —  be- 
grüssen  zu  können  und  viel  mit  ihm  zu  sein,  so  kann  ich  doch  dem 
Drang  meines  Innern  nicht  widerstehen,  einige  Zeilen  an  Ihn  zu 
richten. Seien  Sie  überzeugt,  dass  ich  meinen  Geliebten  ver- 
stehe, dass  ich  weiss  und  fühle , dass  Er  nur  mehr  für  mich  leben  und 
schaffen  will ,  wie  ja  mein  eigentliches ,  wahres  Leben  in  ihm  und 
durch  ihn  einzig  und  allein  besteht.  —  Kein  Schmerz,  keine  Wolke 
kann  mir  das  Dasein  trüben,  wenn  dieser  Stern  mir  vom  Himmel 

strahlt  —  mein  Alles  hängt  an  ihm! Zu  ewiger  Liebe  und 

Begeisterung 

Hohenschwangau,  den  26.  November  1864. 

Ihr  treuer  Freund  Ludwig. 


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Jahresbericht  1900. 

Wie  in  den  drei  Vorjahren,  so  wurde  auch  in  dem 
vergangenen  eine  umfangreiche  Propaganda  ftir  die  Be- 
freiung der  Homosexuellen  vom  Strafgesetz  und  von  noch 
immer  vielfach  verbreiteten  Vorurteilen  entfaltet.  Die  gesetz- 
gebenden Körperschaften  wurden  fortgesetzt  mit  Material 
versehen.  Anfangs  des  Jahres  1900  erhielten  sämtliche 
Mitglieder  des  Reichstags  und  Bundesrats  die  im  2.  Band 
des  Jahrbuchs  abgedruckten  Erklärungen  römisch-katho- 
lischer Priester,  kurz  darauf  eine  von  Dr.  M.  verfasste 
Brochüre:  ^Widerlegung  der  Gegenpetition  betreffend 
§  175  R.-Str.-G.-B." 

Am  Tage  seines  Zusammentritts,  dem  14.  November 
V.  J.,  ging  dem  Reichstag  wiederum  unsere  Petition  behufis 
Aufhebung  des  Urningsparagraphen  zu,  von  einer  be- 
trächtlichen Anzahl  neuer  Unterschriften,  namentlich  aus 
höheren  Beamtenkreisen,  bedeckt,  der  sich  dann  beim 
Beginn  dieses  Jahres  das  folgende  Anschreiben  an  alle 
Abgeordneten,  welche  bisher  dieser  Angelegenheit  ablehnend 
oder  gleichgültig  gegenüberstanden,  anschloss: 

Hochverehrter  Herr  Abgeordneter! 
Verzeihen  Sie,  wenn  das  unterfertigte  Comit^  sich 
die  Freiheit  nimmt,  Ihnen  eine  Bitte  zu  unterbreiten, 
mit  welcher  es,  angesichts  der  steigenden  Actualität 
der  homosexuellen  Frage  und  angesichts  der  über- 
wältigenden Fülle  seelischer  Not  und  Bedrängnis,  die 
ihm  aus  den  fortgesetzt  sich  mehrenden  Zuschriften 
homosexueller  Männer  aller  Stände  und  Gesellschafts-^ 


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—    599    — 

kreise  entgegentritt,  nicht  mehr  länger  zurückhalten 
kann.  Wir  sind  der  festen  Ueberzeugung  und  finden 
uns  keinen  Augenblick  im  Zweifel  darüber,  dass  die 
Lösung  der  erwähnten  Frage  im  Sinne  von  Recht  und 
Menschlichkeit  auch  schon  so  gut  wie  erreicht  ist,  so- 
bald einmal  die  zur  Gesetzgebung  berufenen  Mandatare 
-des  Volkes  diese  Frage  zum  Gegenstand  ihres  per- 
sönlichen Studiums  machen  und,  «lit  Ausscheidung  rein 
aprioristischer  Erwägungen,  die  hier  offenbar  nicht  zum 
Ziele  führen  können,  an  der  Hand  des  täglich  wachsen- 
den Thatsachenmaterials  nach  allen  Seiten  hin  unter- 
suchen werden.  Infolgedessen  erfüllen  wir  eine  For- 
derung unseres  Gewissens,  wenn  wir  an  Sie,  hoch- 
verehrter Herr  Abgeordneter,  die  dringende  Bitte  richten, 
<ler  Ehre  und  dem  Lebensglück  tausender  von  ab- 
weichend veranlagten,  aber  unschuldigen  Menschen 
das  Opfer  eines  solchen  persönlichen  Studiums  zubringen. 
"Wir  wissen,  dass  Euer  Hochwohlgeboren  auf  diesem 
Wege  nur  zu  dem  einen  Ergebnis  gelangen  können: 
Hier  ist,  wie  auch  immer  die  religiös-moralische  Taxation 
lauten  mag,  eine  strafrechtliche  Schuld  nicht  vor- 
handen, und  es  giebt  sonach  kein  Motiv,  wodurch  sich 
§  175  mit  seinen  vernichtenden  Konsequenzen  recht- 
fertigen Hesse. 

Sollten  Sie  indess,  hochverehrter  Herr  Abgeord- 
neter, nicht  geneigt,  bezw.  nicht  in  der  Lage  sein,  unserer 
Bitte  zu  entsprechen,  so  erlauben  wir  uns  den  Vorschlag 
J5U  unterbreiten,  Sie  mögen,  sei  es  ausschliesslich  für  Ihre 
Person,  sei  es  in  Verbindung  mit  den  übrigen  Herren 
Abgeordneten  Ihrer  Partei  oder  doch  wenigstens  einem 
Teil  derselben,  einen  für  das  Studium  dieser  Frage  ge- 
•eigneten  beliebigen  Vertrauensmann  designieren,  dem  wir 
sodann  eine  Anzahl  intellectuell  und  sittlich  prominenter 
Conträrsexualen  namhaft  machen  wollen,  welche  sich  ihm 
bereitwillig  als  Forschungsobjekte  zur  Verfügung  stellen 


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—    600    — 

und  ihm  dadurch  ermöglichen  werden,  sich  ein  völlig  un- 
mittelbares, selbständiges  und  unabhängiges  Urteil  über 
den  Gegenstand  zu  bilden.  Euer  Hochwohlgeboren  wer- 
den selbst  anerkennen  müssen,  dass  wir  unsererseits  nicht 
mehr  zu  thun  imstande  sind,  um  für  die  bezeichnete  Frage 
eine  möglichst  objektive  imd  durch  das  redliche  Streben 
nach  Objektivität  aller  Leidenschaftlichkeit  entrückte 
Behandlung  zu  erzielen,  und  wir  glauben  uns  darum  der 
Hoffnung  hingeben  zu  dürfen,  dass  unsere  Bitte,  welche 
zugleich  die  Bitte  einer  ganzen  Klasse  von  unschuldig 
verfolgten,  flir  ein  Stück  ihrer  konstitutionellen  Natur 
verantwortlich  gemachten  Menschen  ist,  nicht  unberück- 
sichtigt bleiben  wird. 

Einer  freundlichen  Aufnahme  entgegensehend 

für  das  wissenschaftlich-humanitäre  Komitee: 
Dr.  M.  Hirschfeld,  Arzt  in  Charlottenburg. 

Prof.  Dr.  Fr.  Karsch,  J.  H.  Dencker, 

Privatdozent  in  Berlin.  Fabrikbes.  in  Sulingen,  Han. 


Die  Petition  wurde  seitens  der  Kommission,  wie 
bereits  das  letzte  Mal,  der  Regierung  als  Material  über- 
wiesen und  gleichzeitig  zur  Erörterung  im  Plenum  als  un- 
geeignet bezeichnet  In  der  Reichstagssitzung  vom  21.Febr. 
1901  wurde  jedoch  auf  Antrag  des  Abg.  Metzger  die 
Petition  wieder  an  die  Kommission  zur  Berichterstattung 
an  das  Plenum  zurückverwiesen,  sodass  also  noch  im 
Laufe  dieser  Session  eine  Erörterung  derselben  im  Hause 
selbst  zu  erwarten  steht. 

Was  die  Aussichten  auf  Aufhebung  des  verhängnis- 
vollen Gesetzes  betrifft,  so  ist  vor  allen  Dingen  der 
Empfang  hervorzuheben,  welchen  der  Unterzeichnete  am 
15.  Mai  v.  J.  gelegentlich  der  Ueberreichung  der  Jahiv 
bücher  bei  dem  Chef  des  Reichsjustizamts,  dem  Herrn 
Staatssekretär  W.   G.  R.   Nieberding,   hatte.    Seine   Ex- 


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—    601     — 

cellenz  zeigte  sich  in  der  eingehenden  Unterredung  mit 
der  ganzen  Frage  wohl  vertraut  und  über  unsere  Be- 
strebungen völlig  unterrichtet.  »Ein  bestehendes  Gesetz  zu 
entfernen,"  so  äusserte  er  u.  a.,  „sei  sehr  schwierig,  einen 
Antrag  ad  hoc  halte  er  für  nicht  empfehlenswert,  dagegen 
stände  in  vier  bis  fünf  Jahren  eine  Revision  des  Reichs- 
strafgesetzbuchs sicher  zu  erwarten,  das  sei  die  passendste 
Gelegenheit,  in  dieser  Richtung  vorzugehen.  Er  gebe  uns 
den  Rat,  die  öffentliche  Meinung,  als  deren  Spiegelbild 
der  Reichstag  doch  erscheine,  weiterzubearbeiten,  damit 
man  in  fünf  Jahren  den  Paragraphen  fallen  lassen  könne." 

Zur  Aufklärung  der  öffentlichen  Meinung  Hessen  wir 
sämtlichen  2017  deutschen  Tageszeitungen  die  letzte  Pe- 
tition mit  folgendem  Briefe  zugehen: 

Hochgeehrter  Herr  Redakteur! 
Wir  gestatten  uns  Ihnen  beifolgende  Eingabe  zu 
unterbreiten,  welche  wir  soeben  den  gesetzgebenden 
Körperschaften  überreicht  haben.  Dieselbe  wurde  bereits 
dem  letzten  Reichstage  vorgelegt  und  von  diesem  der 
Regienmg  als  Material  überwiesen.  Die  Regierung  ver- 
schliesst  sich,  wie  wir  zuverlässig  mitteilen  können,  nicht 
den  gewichtigen  Gründen,  welche  für  die  Abschaffung^ 
des  §  175  R.-Str.-G.-B.  sprechen.  Einer  ihrer  mass- 
gebendsten  Vertreter  hat  uns  geraten,  die  öffentliche 
Meinung  weiter  aufzuklären,  damit  die  Regierung  ver- 
standen wird,  wenn  sie  selbst  auf  die  WiederaufiQahme 
des  verhängnisvollen  Paragraphen  in  das  Strafgesetzbuch,, 
dessen  Revision  bevorsteht,  verzichtet. 

Wir  übersenden  Ihnen  dieses  Schriftstück  in  erster 
Linie,  damit  Sie,  wenn  in  Ihrem  Kreise,  Ihrem  Ort^ 
Ihrer  Umgebung  Fälle  aus  §  175  vorkommen,  unter- 
richtet sind,  dass  eine  grosse  Zahl  unserer  bedeutendsten 
Persönlichkeiten  zu  der  Ueberzeugung  gelangte,  es 
handle  sich  da  nicht  um  verbrecherische,  sondern  von 


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—     602    — 

Geburt  an  abweichend  geartete,  durch  das  Gesetz  tief 
beklagenswerte  Menschen. 

Wir  bitten  Sie,  auch  Ihren  wertgeschätzten  Namen 
den  Unterschriften  derjenigen  beizufügen,  die  sich  aus 
lautersten  Motiven  zur  Beseitigung  einer  unzeitgemässen 
Inhumanität  zusammenfanden. 

Ganz   besonders   würden  Sie  uns   zu  Dank 
verpflichten,     wenn    Sie    im    Interesse    der 
Volksaufklärung  in    Ihrer    wertgeschätzten 
Zeitung  über  unser  Vorgehen  berichten  wür- 
den, wenn  nicht  ausführlich,  so  doch  in  Form 
der  untenstehenden  Mitteilung  etc. 
Mit  ausgezeichneter  Hochachtung  etc. 
Eine  ganze  Anzahl  Zeitungen  nahm  davon  Kenntnis, 
une  denn  überhaupt  die  Sprache  der  Blätter  bei  Berichten 
über  Fälle   aus  §   175  in   den   letzten  Jahren    eine   weit 
mildere  und  verständigere  geworden  ist  wie  früher. 

Laut  Beschluss  der  5.  Hauptkonferenz  vom  24.  Juni 
1900  wurde  ferner  die  Petition  zur  Orientierung  nebst 
Anschreiben  an  über  8000  höhere  Verwaltungsbeamte, 
Landräte,  Bürgermeister,  Justiz-,  Polizei-  und  Eisenbahn- 
beamte versandt.  Als  erfreuliches  Zeichen  fortschreiten- 
der Aufklärung  mag  hervorgehoben  werden,  dass  der 
Magistrat  der  Stadt  Horde  in  Westfalen  die  Petition 
korporativ  unterzeichnete. 

Die  bekanntesten  Blätter  wurden  fortgesetzt  mit 
Material  versehen,  ausser  den  Priestererklärungen  wurde 
die  Schrift:  „Laster  oder  Unglück?  Besteht  der  §  175 
zu  Recht?  Eine  Gewissensfrage  an  das  deutsche  Volk 
von  einem  Freunde  der  Wahrheit"  in  grösserem  Um- 
fange versandt,  vor  allem  aber  ging  das  Jahrbuch  zu 
Propaganda-  und  Rezensionszwecken  einer  grossen  Anzahl 
politischer  und  wissenschaftlicher  Organe,  sowie  vielen 
hervorragenden  und  einflussreichen  Persönlichkeiten  zu. 
Eine  nicht  geringe  Menge  von  Antworten  und  Besprech- 


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—    603    — 

UDgen  legten  Zeugnis  davon  ab,  dass  das  Jahrbuch  sich 
einer  stetig  steigenden  Anerkennung  zu  erfreuen  hat. 

Auf  wiederholt  geäusserten  Wunsch  wurde  auch  der 
Versuch  gemacht,  durch  einen  kurzen  Aufruf  im  In- 
seratenteil von  Zeitungen  das  Interesse  weiterer  Kreise 
fiir  unser  sexuelles  Befreiungswerk  zu  wecken.  Auf  eine 
diesbezügliche  Annonce  in  etlichen  Tageszeitungen  gingen 
165  Anfragen  ein,  deren  Einsendern  wir  ausreichendes 
Material  übermittelten. 

Endlich  wurde  auf  unserer  6.  Hauptkonferenz  am 
13.  Januar  d.  J.,  welche  unter  starker  Beteiligung  aus 
allen  Himmelsrichtungen  Deutschlands  —  auch  vom  Aus- 
lande waren  Vertreter  zugegen  —  einen  besonders  er- 
freulichen Verlauf  nahm,  beschlossen,  ein  Preisausschreiben 
zu  erlassen  für  eine  2  bis  3  Bogen  starke,  allgemein  ver- 
ständliche und  überzeugende  Propagandaschrift,  um  in 
den  weitesten  Schichten  des  Publikums  die  falschen  Auf- 
fassungen zu  widerlegen,  welche  noch  über  das  Wesen 
des  Uranismus  vielfach  herrschen.  Aus  der  Brochüre 
solle  vor  allem  hervorgehen,  dass  es  sich  nicht  um  Be- 
fürwortung von  Unsittlichkeiten,  sondern  um  Beseitigung 
einer  grausamen  Ungerechtigkeit  gegen  unglückliche 
Menschen  handle.  Der  erste  Preis  wurde  auf  150,  der 
zweite  auf  50  Mark,  der  Termin  für  die  Ablieferung  an 
das  unterfertigte  Komitee,  das  den  Bewerbern  auf  Wunsch 
nähere  Mitteilungen  machte  auf  den  1.  Juni  1901  fest- 
gesetzt. 

Besonders  wurden  immer  wieder  die  Gerichte  mit 
einschlägigem  Material  versehen.  Als  sich  im  Herbst  des 
Jahres  in  der  Provinz  Hannover  die  Verurteilungen  aus 
§  175  häuften,  benutzten  wir  diesen  Anlass,  um  den  ersten 
Staatsanwälten  und  Vorsitzern  der  Strafkammern  im 
ganzen  Reich  folgendes  Schreiben  zu  übersenden,  welches 
uns  von  einem  Landgerichtsdirektor  zur  Verfügung  ge- 
stellt war: 


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—     604     -« 

Ew.  Hochwohlgeboren 
wird  es  nicht  unbekannt  geblieben  sein,  dass  in  letzter 
Zeit  in  Hannover  zahlreiche  Verurteilungen  wegen 
„widernatürlicher  Unzucht*  erfolgt  sind.  So  lange  der 
§  175  St.-G.-B.  nicht  aufgehoben  ist,  muss  er  freilich 
angewendet  werden.  Er  wird  aber  verschieden  aus- 
gelegt. Die  Auslegung  des  Reichsgerichts  dürfte  nicht 
die  richtige  sein,  (vide  die  Schrift:  „Eros  vor  dem 
ßeichsgericht*). 

Die  Norm  des  §  175  —  Verbot  des  Geschlechts- 
verkehrs unter  Männern  —  findet  in  dem  heutigen 
Strafrechtssystem,  in  der  Lehre  von  dem  Rechtsgüter- 
schutz, eine  Stelle  nicht.  Nach  dem  heutigen  Stande 
der  Kriminologie  und  Pönologie  muss  die  Aufhebung 
des  §  175  Str.-G.-B.  kategorisch  gefordert  werden,  (vide^ 
den  Aufsatz:  „Schützt  §  175  Rechtsgüter?"  S.  30  ff. 
im  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen,  U.  Jahrgang.) 

Erwägt  man  dies,  so  wird  man  derjenigen  Auslegung 
des  §  175  den  Vorzug  geben,  welche  die  eingeschränkteste- 
Anwendung  ermöglicht.  Man  wird  also  unter  der  ,  wider- 
natürlichen Unzucht*^  inter  mares  nur  immissio  penis  in 
anum  vel  os  verstehen.  Man  wird  femer  strikten  Be- 
weis der  That  verlangen  und  irgendwie  zweifelhafte 
Fälle  nicht  verfolgen.  Meine  Bitte  an  Ew.  Hochwohl- 
geboren  geht  dahin,  dass  Sie  der  Anwendung  des 
§  175  Ihre  besondere  Aufmerksamkeit  geneigtest  widmen 
möchten. 

Ich  verkenne  nicht,  dass  die  Liebe  des  Mannes  zum 
Manne  fUr  den  absolut  weibliebenden  Mann  un- 
verständlich ist.  Wollen  Sie  sich  daher  mit  dem  Er- 
fahrungssatze begnügen,  dass  diese  Liebe  vorhanden 
und  von  Gott  gesetzt  ist>  genau  so  wie  die  Liebe  des^ 
Mannes  zum  Weibe. 

Erwägt  man  dies,  so  wird  man  zu  dem  Schluss 
kommen  müssen,  dass,  wenn  einmal  aus  §  175  gestraft 


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—    G05    — 

werden  muss^  die  gesetzlich  mildeste  Strafe,  abgesehen 
von  erschwerenden  Umständen,  am  Platze  ist.  Hier 
kann  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass  die  Päderastie  im 
engeren  Sinne  (immissio  penis  in  os  vel  anum;  eine 
seltenere  Form  der  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes 
inter  mares  ist,  so  dass  richtig  ausgelegt  der  §  175 
nur  in  ganz  vereinzelten  Fällen  wird  angewendet  werden 
können.  Ich  verweise  auch  diesbezüglich  auf  die 
Petition  an  die  gesetzgebenden  Körperschaften  des 
Reichs,  welche  von  zahlreichen  unserer  hervorragendsten 
Strafrechtslehrer  und  von  nahezu  tausend  bekannten 
Männern  aus  allen  Zweigen  der  Wissenschaft  und 
Kunst  unterzeichnet  worden  ist. 

Se.  Excellenz,  der  Herr  Justizminister,  wird  sicher 
der  eingeschränktesten  Anwendung  des  §  175  zustimmen. 
Seine  wohlwollende,  menschenfreundliche  Gesinnung 
ist  uns  Justizbeamten  allen  ja  wohlbekannt. 

Ich  zeichne  als  Ew.  Hochwohlgeboren 
sehr  ergebener 

Juris  consultus. 

In  einer  ganzen  Reihe  von  Fällen  gelang  es  durch 
mündliche  oder  schriftliche  Sachverständigen-Gutachten, 
in  denen  überzeugend  die  angeborene  Beeinträchtigung 
der  freien  Willensbestimmung  inbezug  auf  den  Geschlechts- 
trieb klargestellt  war,  zu  bewirken,  dass  die  Angeklagten 
freigesprochen  wurden  oder  von  der  Eröffnung  des  Haupt- 
verfahrens überhaupt  Abstand  genommen  wurde.  Immerhin 
kam  noch  eine  recht  beträchtliche  Anzahl  von  Ver- 
urteilungen Homosexueller  vor,  besonderes  Aufsehen 
erregte  der  Karlsruher  Fall,  in  welchem  von  13  An- 
geklagten aus  verschiedenen  Berufsständen  12  zu  Frei- 
heitsstrafen von  6  Wochen  bis  1  Jahr  Gefängnis  ver- 
urteilt wurden.  Wir  können  den  Anwälten  dieses  Pro- 
zesses   den    Vorwurf  nicht    ersparen,    dass   sie   es    trotz 


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-     606    — 

unserer  wiederholten  Aufforderung  unterHessen,  medi- 
zinische Sachverständige  beizuziehen. 

Sehr  häufig  wurden  wir  von  Homosexuellen  in  An- 
spruch genommen,  die  in  den  Händen  von  Erpressern 
ganz  unsäglich  litten,  wiederholt  haben  wir  in  solchen 
Fällen  speziell  die  Hülfe  der  Berliner  Kriminalpolizei 
erbeten  und  bei  derselben  stets  das  grösste  und  dankens- 
werteste Entgegenkommen  gefunden.  Mehrfach  über- 
sandten wir  auf  Wunsch  Verwandten  und  vorgesetzten 
Behörden  von  Konträrsexuellen  aufklärendes  Material. 
Einige  Fälle,  wo  wir  Eltern  ihre  Söhne,  an  denen  sie 
irre  geworden  waren,  wiedergaben,  erfüllen  uns  mit  be- 
sonderer Genugthuung,  einmal  leider  trafen  unsere  um- 
gehend übersandten  Mitteilungen  und  Schriften  erst  ein^ 
nachdem  eine  Stunde  zuvor  ein  22jähriger  Of&zier,  dessen 
Rehabilitierung  sie  galten,  durch  einen  Revolverschuss 
seinem  Leben  ein  Ende  bereitet  hatte. 

Die  sich  stark  anhäufende  Arbeit,  welche  die  Zentral- 
stellen in  Charlottenburg  und  Leipzig  zu  leisten  hatten^ 
machte  es  im  Laufe  des  letzten  Jahres  erforderlich,  in 
mehreren  Provinzen  Deutschlands  Vertrauensmänner  zur 
Entlastung  heranzuziehen,  deren  Adressen  Auskunfl- 
suchenden  von  den  beiden  Hauptstellen  auf  Wunsch 
mitgeteilt  werden.  Von  der  Gründung  eines  Vereins, 
wie  er  mehrfach  angeregt  wurde,  ist  dagegen  nach  wieder- 
holter Erörtening  auf  den  Konferenzen  Abstand  ge- 
nommen worden. 

Wir  können  diesen  Bericht  nicht  schliessen,  ohne 
des  Ablebens  mehrerer  Männer  zu  gedenken,  welches 
unsere  junge  Bewegung  im  verflossenen  Jahre  zu  be- 
klagen hatte. 

Ein  sehr  harter  Schlag  war  für  uns  der  Tod  des 
Reichstagsabgeordneten  Sanitätsrats  Dr.  Kruse,  welcher 
am  17.  Februar  plötzlich  im  Reichstagsgebäude  verschied. 
Als  Vorsitzender  der  Petitionskommission  und  ärztlicher 


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—     607     — 

Fachmann  hatte  er  den  Bestrebungen  des  wissenschaftlich- 
humanitären  Komitees  von  Anfang  an  das  grösste  Interesse- 
entgegengebracht, und  die  Beachtung,  welche  die  An- 
gelegenheit im  Reichstage  fand,  ist  zum  grossen  Teile 
seinem  Einfluss  zu  danken. 

Nicht  minder  schmerzlich  war  für  uns  der  Verlust 
welchen  wir  kurz  vor  Weihnachten  durch  den  Tod  dea 
Berliner  Polizeidirektors  Leo  Freiherm  von  Meerscheidt- 
HüUessem  erlitten.  Wir  hatten  auf  diesen  hochverdienten 
Mann,  welcher  ein  Opfer  des  so  unseligen  Sternberg- 
Prozesses  wurde,  grosse  Hoffnung  für  die  Entscheidungs- 
stunde gesetzt.  Ihm,  der  sich  in  jahrzehntelanger  Thätig- 
keit  seine  kriminalistischen  Erfahrungen  gesammelt  hatte, 
war  es  in  erster  Linie  zuzuschreiben,  dass  die  Berliner 
Behörden  den  Urningen  gegenüber  seit  Jahren  eine  so 
einsichtsvolle  Stellung  einnehmen.  Ich  habe  wiederholt 
persönlich  mit  Herrn  von  Hüllessem  verhandelt,  wenn 
Homosexuelle  sich  in  ihrer  Not  an  mich  wandten,  und 
stets  das  grösste  Verständnis  gefunden,  ohne  dass  er 
je  seiner  Stellung  auch  nur  das  geringste  vergeben 
hätte.  Ich  kann  es  mir  nicht  versagen,  an  dieser  Stella 
den  Brief  wörtlich  abzudrucken,  welchen  ich  kurz  vor 
seinem  Tode  als  Antwort  auf  einige  Zeilen  erhielt,  in 
denen  ich  ihm  anlässlich  seiner  Suspendierung  vom  Amt 
Aufrichtung  zu  spenden  suchte.     Er  schrieb: 

Berlin,  10.  XI. 
Hochverehrter  Herr  Doktor! 
Herzlichen    Dank    für    Ihre    freundlichen    Worten 
Sie  zeigen  mir  mit  so  vielen  anderen,  dass  eine  Geld- 
schuld gehabt  zu  haben   noch  nicht  ehrlos  sein  heisst. 
Erliege  ich  allen  diesen  Schlägen,  nachdem  Operation 
und   Tod    meiner  Frau   vorher   meine   Nerven    völlig 
zerrüttet  haben,  so    denke  ich,  werden  die  Kinder  des 
Mannes,  der  in  einer  Hinsicht  Vorkämpfer  für 
Licht  und  Recht  gewesen  und  hunderten   un - 


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—    608    — 

«igennützig  mit  Rat  und  That  zur  Seite  ge- 
standen^ viele  vor  Schande  und  Tod  bewahrt 
hat,  nicht  verloren  sein,  nicht  zu  betteln  nötig  haben, 
obwohl  ihnen  ihr  Vater  nichts  hinterlässt,  als  eine 
unsichere  Hypothek  auf  das  berühmte  Haus  in  Binz 
und  einen  zwar  hart  und  in  erster  Linie  vom  Berliner 
Tageblatt  angegriffenen,  aber  doch  völlig  unbe- 
fleckten Namen. 

In  herzlicher  Dankbarkeit 
Ihr  ergebener 

Leo  Hüllessem. 
Am  1.  Dezember  starb  in  einem  Pariser  Spital 
Oskar  Wilde,  einer  der  bedeutendsten  homosexuellen 
Dichter  des  verflossenen  Jahrhunderts,  ein  Märtyrer  seiner 
Individualität,  eines  der  beklagenswerten  Opfer  englischer 
Gerichtsbarkeit.  An  anderer  Stelle  dieses  Buches  ist 
seiner  ausführlich  gedacht. 

Ebenfalls  fem  von  der  Heimat,  seinen  Verwandten 
und  Freunden  ist  am  30.  Dezember  1900  OttodeJoux 
in  Dresden  einem  Gehirnschlage  in  der  Blüte  seiner 
Jahre  erlegen.  Durch  seine  populär  gehaltenen  Schriften : 
„Die  Enterbten  des  Liebesglückes "  und  „Die  hellenische 
Liebe*  hat  er  vielen  das  Problem  der  Homosexualität 
nahe  gebracht,  welche  die  rein  wissenschaftlichen  Werke 
nicht  in  sich  aufzunehmen  vermochten.  Von  ihm  erschien 
auch  der  erste  Aufruf  an  die  Homosexuellen,  in  ihrem 
Befreiungskampfe  selbst  mitthätig  zu  sein.  In  den  zwei 
Jahren  seines  Berliner  Aufenthaltes,  wo  ich  ihm  persönlich 
nahe  stand,  habe  ich  ihn  als  einen  ideal  veranlagten 
Menschen  kennen  gelernt,  der  etwas  wie  Sonnenschein 
um  sich  verbreitete. 

Unser  Komitee  wird  das  Andenken  dieser  Toten  in 
Ehren  halten. 

Die  Kosten  der  ausgedehnten  Propaganda  wurden 
durch   Jahresbeiträge    und    einmalige    Beiträge    gedeckt 


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—    609    — 

Der  Anfangs  des  vorigen  Jahres  veröffentlichte  Aufruf 
(vgl.  Anhang  im  Jahrg.  II.)  wurde  den  Unterzeichnern  der 
Petition  sowie  zahlreichen  uns  bekannten  Homosexuellen 
übersandt  Eis  kam  eine  Summe  zusammen^  mit  der  unter 
Beachtung  grosser  Sparsamkeit  viel  gearbeitet  werden 
konnte^  aber  sehr  vieles  konnte  wegen  Mangel  an  Kampf- 
mitteln nicht  zur  *  Ausführung  gelangen.  Noch  immer 
müssen  wir  uns  in  der  so  notwendigen  Agitation  grosse 
Beschränkungen  auferlegen.  Ist  es  nicht  unbegreiflich, 
dass  so  viele  Männer  der  Geistes-,  Geburts-  und  Geld- 
aristokratie nichts  übrig  haben,  wo  es  sich  darum  handelt, 
ihnen  oder  ihren  Verwandten  und  Freunden  das  Höchste 
wiederzugeben,  was  ein  Mensch  besitzt,  seine  Ehre  und 
seine  Freiheit?  Welche  Propaganda  könnte  entfaltet 
werden,  wenn  jeder  Homosexuelle  nur  20  Pfennige  im 
Tag  (76  Mark  im  Jahr)  seinen  höchsten  Lebensinteressen 
opfern  würde  I  Möge  doch  jeder  den  Satz  beherzigen, 
welchen  der  grosse  Rechtslehrer  v.  Ihering  in  seiner 
Schrift:  ,Der  Kampf  ums  Recht*  aufstellte: 

,Man   muss,   wenn    einem   ein  Recht  vorenthalten 

wird,   kämpfen  und  nicht  nachgeben.    Das  ist  eine 

sittliche  Pflicht.« 

Charlottenburg,  Berlinerstr.  104. 
März  1901. 

Dr.  med.  M.  Hirschfeld. 


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Zeichner  von  Jahresbeiträgen 


bis  1.  März  1901. 


Mark 

1.  B.  L.  in  B.      . 

.    20 

2.  O.  H.  in  V.     . 

.    CO 

3.  Seh.,  München 

.    60 

*4.  Justizrat  V.,  Berlin  10 

5.  Fabrikbes.  D.  i.  S 

.  100 

6.  Dr.  G.,  Berlin 

.  100 

7.  Prof.  Dr.  Fr. 

Earsch,  Berlin 

.    40 

8.  H.  H.  Schriftst., 

Hessen    .    ,    . 

.    10 

9.  J.,  Ciseleur,  Berlin 

1      6 

10.  O.  in  H.      .    . 

.  100 

11.  Nnma  Prätoriua 

.  100 

12.  P.  in  K       .    . 

.  300 

13.  W.  B.,  Landwirt 

in  Mecklenburg 

.    20 

14,  Dr.  phil.  J.,  Berlin 

10 

15.  F.  J.,  Bez.  Osna- 

brück     .    .    . 

.    10 

16.  L.,  Bern      .    . 

10 

17.  G.,  Jena      .    . 

5 

18.  Dr.  M   in  L.  . 

5 

19.  F.  W.,  München 

.    10 

Mark 

20.  E.  B.,  Schriftst. 

in  P.       ....  20 

21.  A.  H.,  München  .  50 

22.  E.  R  in  K.     .    .  20 

23.  Rechtsanwalt  Dr. 

8.  in  H.       ...  20 

24.  J.  M.,  Hannover  .  50 

25.  ü.  in  N.      ...  20 

26.  Durch  U.  in  N.  aus 
Rom  50  Lire  .    .  40 

*27.  G.  Seh.,  Berlin     .  20 

28.  V.  G 12 

29.  Pherander,  Barmen  40 

30.  Amtsrichter  S.     .  80 

31.  Rechtsanwalt  Dr. 

G.  in  F.      ...  100 

32.  C.  N.  in  H.     .    .  20 

33.  Freiherr  v.T.,  Ch.  20 

34.  Dr.  K  F.  J.,  Berlin  20 

35.  Seelhorst  (anonym) 
Hannover     ...  20 

36.  C.  ü.,  Hamburg  .  20 
*37.  S.  in  M.  ...  20 
*38  Graf  W.,  Berlin    .  50 

Mark  1618 


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—    611    — 


Transport:  Mark  1618 


39.  Emil  S.,  Berlin    . 

10 

56.  Richard  S.,  Berlin 

30 

40.  Lehrer  E.,  BerUn  . 

10 

57.  Emil  F.,  B.-Ch.   . 

20 

41.  H.  J.,  Freiburg    . 

20 

58.  Apoth.  R.,  Bayern 

20 

42.  8.  L.  W.,  Basel   . 

20 

59.  E.  T.  in  F.      .    . 

25 

43.  Oberl.  H.  W.  .    . 

40 

60.  V.  A,  N.,  Hamb. 

30 

44.  Dr.  L.  in  C.    .    . 

20 

61.  Dr.  in  Ch. 

12 

45.  C.  Gr.,  Bayern     . 

20 

62.  A.  Kutschbaoh,  Ob,- 

46.  Institut  f.  Gesund- 

Feuerw.,  Spandau 

20 

heitspfl.,  Wiesb.   . 

10 

63.  R.KalJi,H.b.kai8erL 

47.  E.  B.,  Plauen       . 

20 

Statist  Amt^  Berlin  50 

.  48.  E.  R.,  Würtembg. 

100 

64.  Robert  R.,  B.       . 

25 

49,  E.  M.  in  N.     .    . 

10 

65.  Dr.  med.  Pr.  in  F. 

20 

*50.  C.  Br.,  Berlin       . 

5 

66.  Dr.  phiL  H.  in  H. 

10 

51.  R.  Seh.  in  a      . 

20 

67.  Ingen.  C.  in  N.    . 

20 

52.  R,  J.  in  N.      .    . 

10 

68.  C.-A.,Schrift8t,B. 

20 

53.  J.  L.,  Breslau 

20 

69.  Graf  Seh.     ,    .    . 

30 

54.  C.  0.  in  Seh.       . 

20 

70.  Fidkbes.  R-D. 

100 

55.  J.R.,cand,ph.,Ch. 

20 

Summa:  Mark  2425 

IV.  Abrechnung 

bis  31.|12.  1900. 

Bei  der  Geschäftsstelle  in  Charlottenburg  gingen  ein : 
1900  Mark 

Januar  20.  Von  der  Geschäftsstelle  in  Leipzig     .    50,00 
,       25.  Aus  Italien  10  Lire     ....      8,00 

Februar  6.  Prof.  Dr.  L.  m  B 20,00 

6.  H.  in  V 15,00 

6.  Seh.  in  B 10,00 

,         8.  Landwirt  B.,  Mecklenburg  5,00 


Übertrag:  Mark  108,00 


*  AuBser  wo  voUe  IHamensangat 
wurde,  haben  wir  es  vorgezogen,  die  Spender  durch  Chiffem  zu 
beseiciinen.  Die  mit  *  versehenen  haben  1900  Beiträge  gezeichnet, 
bisher  dieselben  aber  noch  nicht  ttbersandt. 


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—    612    — 


Transport:  Mark 
Februar  10.  H.  H.  .        . 

„       12.  Lehrer  J.    . 
,       28.  A.  H.  in  München 
März  3.  Von  der  Geschäftsstelle  in  Leipzig 
April    3.  Landwirt  B.    . 
Prof.  L.  in  B. 


Mai 


4 

7, 
21 
22 
24 
24 
25. 
1. 
10. 
11. 
12. 
17. 
17. 
30. 
31. 
9. 
14. 
17. 
20. 
30. 
2. 
„      3. 
.      4. 
.      6. 
«      7. 
„    23. 
August 


Juni 


JuU 


Dr.  G.  in  J.    . 

Ed.  B.  P. 

F.  W.,  München 

Dr.  M.  L. 

H.  in  V. 
.  E.  R.,  Köln     . 
Rd.  Dr.  S.  in  H. 
J.  M.,  Hannover 
Dr.  G.,  Berlin 
V.  G.,  Berlin 
A.  L.,  Altona 
Pherander 
Seh.,  Bamberg 
Rd.  G.,  Frkf. 
Integer  vitae 
Incognitus 
Cis.  J.       . 
E.  R.  in  K. 
Baron  v.  T. 
Dr.  J. 
H.  H. 
Seelhorst 
H.  in  V. 
O.,  Hannover 
von  N.  N.  durch  Dr 


6.  aus  Bruxelles  anonym 


6.  M.,  Hamburg 


G. 


108,00 

2,50 
10,00 
50,00 
55,50 

6,00 
10,00 

5,00 
20,00 
10,00 

5,00 
15,00 
20,00 
20,00 
25,00 
100,00 
12,00 
50,00 
40,00 
20,00 
100,00 
20,00 
20,00 

6,00 
20,00 
20,00 
20,00 

4,00 

5,00 
15,00 
25,00 
100,00 
50,00 
20,00 


Übertrag:  Mark  1008,00 


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—    613    — 

Transport:  Mark  1008,00 

August    10.  Seh.,  Bamberg !0,00 

,     10.  Emil  Seh 10,00 

,     12.  J.,  Freiburg 10,00 

„     22.  W.  C,  Hamburg 20,00 

Septbr.    9.  W.,  Basel 20,00 

,       18.  Dr.  L.,  Anhalt 20,00 

,       22   C.  R.,  Bayern 20,00 

,       22.  Fr.  R.-D.,  Fideikommissbes.         .        .  50,00 

,       23.  E.  B.,  Plauen 20,00 

,       25.  Inst.  f.  Gesundheitspfl.,  Wiesbaden     .  10,00 

Oktober    1.  O.,  Hannover 50,00 

2.  Eck.  R.  in  0 25,00 

5.  A.  R.  m  Seh 20,00 

,         5.  M.  in  Hannover          ....  30,00 

6.  R.  Seh.,  Hanau           .        .        .        .  20,00 
,        10.  Lehrer  J.             15,00 

16.  R.  N.  100  Frcs 80,00 

,       16.  R.  J 10,00 

,       16.  8.  M.  in  N 10,00 

,        17.  L.,  Breslau          ...                 .  20,00 

,       19.  Oberleutnant  H,          ....  10,00 

23.  R.P.  Op 20,00 

,        29.  Dr.  M.  M„  Rom         ....  5,00 

29.  cand.  phiL  J.  R.,  Ch.          ...  20,00 

Novbr.    2.  Apotheker  R 20,00 

3.  F.  in  Ch 5,00 

,,       14.  Rieh.  S.,  Berlin 30,00 

19.  Rechteanwalt  Dr.  E.,  Berlin                 .  50,00 

„      23.  Seh 15,00 

„       25.  J.,  Nordhausen 5,00 

Dezbr.  3.  R.  Kalk,  Hülfsarb.  i.  Kais.  Statist.  Amt.  Berlin  3,00 

,     12.  G.  L 100,00 

,     12.  A.  N.,  Hamburg 30,00 

„     30.  H.  in  V .  15,00 

in  Summa:  Mark  1806,00 

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—    6U    — 

Transport:  Mark  1806,00 
Die  Geschäftsstelle  in  Charlottenburg  verausgabte 
für  Fertigstellung  und  Versandt  von  Propagandamaterial 
an  die  Mitglieder  des  Bundesrats  und  Reichstags,  für 
Gratis-Exemplare  der  Jahrbücher  an  Abgeordnete,  Zeit« 
ungen,  bekannte  Persönlichkeiten,  für  Herstellung  und 
Versandt  von  6500  Petitionen  an  höhere  Beamte,  2017 
Petitionen  an  die  Tagesblätter  mit  Anschreiben,  für 
Übersendung  von  Materialien  an  Gerichte  und  Private, 
für  Inserate  an  die  Firma  Haasenstein  &  Vogler,  für 
kleinere  Drucksachen,  wie  Einladungen  zu  den  Kon- 
ferenzen, für  Schreibgebühren  und  Porti  Mk.  1672,00 
Mithin  Überschuss  der  Geschäftsstelle 

Charlottenburg  am  31.  Dezember  1900:  

"Sark  134,00 
An  der  Geschäftsstelle  in  Leipzig  gingen  ein 
1900 

Januar  4.  E.  O.  in  H 

Februar  3.  W.  in  W.  (Rechnungsüberschuss) 
„         7.  Integer  vitae        .... 
März  20.  R.  R.  in  F.)    ,      ,    t   •     13. 

.     20.  W.  J.  in  F./  ^'^''''^  ^'  '^  ^• 

„     20.  W.  J.  in  F.  Jahresbeitrag  für  1900 
April  14.  W.  W.  in  München  (Rechnungsübers.) 

,      28.  E.  W.  H.  in  Leipzig      . 
Mai  3.  P.  S.  in  München 

,     5.  B.  R.  in  Mannheim    . 

,     11.  Dorian  Gray,  Wien  . 

,     18.  Geschäftsstelle  Charlottenburg 

,     18.  K  in  G.  Jahresbeitrag  für  1900 

,     26.  Ph.  F.  in  O.  (Rechnungsüberschuss) 
Juni  27.  F.  Seh.  in  H 

,     30.  R  R.  in  F.  (Rechnungsüberschuss) 


Mark 

25,00 

2,70 

5,00 

52,50 

50,00 

1,20 

5,00 

10,00 

12,70 

80,00 

7,00 

15,00 

12,70 

1,00 

23,20 


Übertrag:  Mark  303,00 


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Google 


—    615    — 

Transport:  Mark  303,00 

Juli  21.  K.  H.  in  D 20,00 

August  6.  E.  W.  H.  in  Leipzig     ....  5,00 

25.  G.  H.  H.  auf  H 4,70 

Septbr.  6.  F.  8ch.  in  H 2,00 

„        13.  D.  M.  M.  in  Rom        ....  20,00 

„        19.  Numa  Prätorius 100,00 

,        20.  G.  R.  in  L.  (Reehnungsübersch.)         .  4,41 

27.  K.  H.  in  D 20,00 

Oktbr.  11.  R.  S.  123  Köln  (Jahresbeitrag)    .        .  300,00 

„       U.  P.  Seh.  in  München      ....  10,00 
„       ,,Keine  Unsittlichkeit,  sondern  Naturrecht" 

aus  Leipzig 50,00 

Novbr.  1.  A.  S.  in  0 15,00 

„       2.  R.  S.  in  V 10,00 

3.  G.  B.  in  V. 24,60 

,      16.  B.  R.  in  Mannheim        ....  20,00 

Dezbr.  6.  Dorian  Gray,  Wien  (60  Kr.) .        .        .  50,40 

„      10.  W.  H.  in  D 10,00 

„       11.  Dorian  Gray,  Wien  (Rechnungsübers.)  2,10 
,       13.  E.  W.  a  in  Leipzig     ....      5,00 

Mark  976,21 
Die  Geschäftsstelle  in  Leipzig  verausgabte  für  Ver- 
trieb der  Aufrufe,  Jahrbücher  an  Fondszeichner,  Bücher- 
material an  Untersuchungsrichter,  Staatsanwälte,  Gerichte, 
Bibliotheken^  600  Eingaben  an  Strafkammervorsitzende 
und  Staatsanwälte,  Satz,  Druckpapier,  Versandt,  Porto ,  etc. 

Mark  850,99 
Ueberwies  femer  der  Geschäftsstelle  Char- 
lottenburg am  20.  Januar  1900      ....    50,00 
,       5.  März  1900        ....    55,50 

Mark  956,49 
Mithin  Ueberschuss  der  Geschäftsstelle 
in  Leipzig Mark    19,72 


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-     6i6    — 

Gesammt^Einnahme  Charlottenburg 
,  „  Leipzig 


Gesammi^ Ausgabe  Charlottenburg 
„  Leipzig  ' 

Überhaupt  Einnahme 
,  Ausgabe 


1806,00 

976,21 

Mark  2782,21 

.  1672,00 
.    956,49 


Mark  2628,49 

Mk,  2782,21 
„    2628,49 
Gesammt-Überschuss  am  31.  Dezbr.  1900  Mark  154,72 

Charlottenburg,  den  31.  Dezember  1900. 

Dr.  med.  H.  Hirschfeld. 

Leipzig,  den  31.  Dezember  1900. 

Hax  Spohr. 


Druck  von  G.  Beichardt,  Groitzsch. 


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-    16 


Strafgesetzbuch 

und 

widernatürliche  Unzucht 


von 


Dr.  med.  van  Erkelens. 
Frei«  1  Mark. 


Die  Entwickelung 


der 


Homosexualität 

von 

Marc  Kndr€  Raffalovich. 

Autorisierte  Übersetzung  aus  dem  Französischen. 
Preis  1,20  lark. 


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-    16    - 


^^  Bestellzettel.  -^ 

Bei  der  Buchhandlung  von  Max  Spohr  in  Leipzig, 

Sidonienstr.  19  B»  bestelle  hiermit: 

ExpL 

Moll,  Untersuchungen  über   die   Libido  sexualis. 
Band  I,  Teil  I.     Geh.  6  Mk.,  geb.  7  Mk. 

i  —    —   Band  I,  Teil  II..  Geh.  12  Mk.,  geb.  13,50  Mk. 

Moll,    Die  konträre  Sexualempfindung.     3.  Aufl. 
Geh.  10  Mk.,  geb.  11,50  Mk. 

Rohleder  y    Vorlesungen    über    Sexualtrieb    und 
Sexualleben  des  Menschen.     Geh.  4,50  Mk. 

•  Rohleder,  Die   Masturbation.    Geh.  6  Mk.,  geb. 

7   Mk. 

van  Brkelens,  Strafgesetzbuch  und  widematür- 
liehe  Unzucht     i  Mk. 

i  Raffalovich,  Die  Entwickelung  der  Homosexua- 
lität.    1,20  Mk. 

Unterschrift  und  genaue  Adresse: 


J 


Druck  von  C.  BEHRENS.  B«-Un,  Ortner  W«t  9  u.  10. 


.  Pjgitized  by  VjOOQIC 


Untersuchungen 

aber  die 

Libido  sexualis 

Yon 

Dr.  med.  Albert  Moll. 

Band  I,  Teil  I:       Preis  geheftet  6  Mk.,  gebunden  7  Mk. 
Band  I,  Teil  II:    Preis  geheftet  12  Mk.,  gebunden  13,50  Mk. 


•Dem  Referenten  ist  es  eine  wahre  Freode,  obiges  Boch  anzuzeigen  ond 
korz  zu  besprechen.  Br  kann  dem  Ganzen  nor  nneingeschränktes  ^  Lob 
sollen  ond  es  als  die  tiefgrOndigste  Untersnchong  über  den  betreffenden 
Gegenstand  hinstellen.  Das  Werk  giebt  aber  viel  mehr  als  der  Titel ^ver- 
moten  Iftsst.  Bs  wird  n&mlich  sehr  eingehend  auf  psychologische,  anthro- 
pologische, biologische,  soziale  Fragen  etc.  eingegangen.  Der  Psychiater 
findet  eine  Menge  für  ihn  spedell  interessantes  Material  yor,  namentlich  ist 
das  JSapital  der  Monomanien,  der  Degenerationszostande  glänzend  geschrieben, 
nicht  weniger  aber  anch  die  forense  Medicin  in  Bezog  auf  die  Sexualdelicte, 
und  dies  moss  anch  den  Richter  im  höchsten  Grade  anziehen.  So  wendet 
sich  denn  das  Bnch  eigentlich  an  jeden  .Gebildeten,  ond  jeder  wird  darin 
eine  Falle  yon  Belehrong  ond  Anregong  finden.  Trotz  ongeheorer  Br- 
fkhrong  aof  seinem  speciellen  Gebiete,  das  sich  dorch  eine  aberreiche 
Casoistik  ooter  anderem  zeigt,  ist  Verf.  in  seinen  Schiassen  sehr  vorsichtig, 
tritt  niemanden  so  nahe,  socht  jedem  Aotor  gerecht  zn  werden,  ond  seine 
eminente  Gelehrsamkeit  wird  nirgends  aofdringlich.  Nicht  am  wenigsten 
interessant  sind  die  Fossnoten.  Dabei  ist  der  Stil  flOssig,  das  Ganze  ist 
fOr  den  Gebildeten  leicht  verständlich,  selbst  bei  schwierigen  Materien.'' 
CAus  dem  umfangreicJun  Referat  des  Dr,  Näcke  im  Archiv 
für  Criminal' Anthropologie,) 


Inhalts-Vepzelchnlss. 

Band  I,  Teil  L 

L  Analyse  des  Oesclileehtstriebes. 

Begriffisbestimmong  von  Trieb.  Fortpflanzungstrieb.  Bef^ttongstrieb. 
Vorg&nge  an  d.  Genitalien  Detumescenz-  u.  Kontrektationstneb  Isolierter. 
Detnmescenztrieb  bei  Fraoen,  Kindern,  Homosexoellen.  Trennon|f  von 
Detumescenz-  0.  Kontrektationstneb.  Onanie  bei  Fraoen.  Platonische-, 
Primaner-  o.  Romantische  Liebe. 

Phylogenetische  Entwickelong  des  Geschlechtstriebes.  Ungeschlechtliche 
o.  geschlechtl.  Fortpflanzung.  Konjugation.  Fortpflanzungs-  u.  Begattungs- 
(M'gane.  Geschlechtstrieb  bei  höheren  u.  nied.  Tieren.  Detumescenz  u. 
Kontrektation  bei  nied.  Tieren.  Parthenogenese.  Geschlechtstrieb  u.  Bi- 
lOsnng  beim  Weibe.    Geschlechtliche  Differenzierung  bei  nied.  Organismen. 


EDtwickelung  d.  GeechlechiBtriebeB  beim  mensohl.  In  divido  am.  Vor 
der  Pubertät  auftretende  Liebesempfindangen  beim  Menschen  u.  Tieren. 
Kontrektations-  o.  Detomescenztrieb  vor  d.  Pubertät.  Vorzeitige  Reife 
d.  Eeimdrflsen.  Detomescenztrieb  als  mittelbare  Folge  d.  KeimdrOsen  be- 
trachtet. Individuelle  Differenzen  in  Bezug  aufd.  ersten  sexuellen  Empfindungen, 
unterschied  von  sexuellen  u.  sozialen  Beziehungen. 

Geschlechtstrieb  im  Alter,  bei  anscheinend  erloschener  Eeimdrflsen- 
fnnktion.    Perverser  Geschlechtstrieb  im  Alter* 

Kastration.  Schwinden  d.  Detumescenztriebes  u.  Nichtentwickelung 
d.  Eontrektationstriebes  bei  frühzeitiger  Kastration.  Geschlechtsakte  von 
Kastraten.  Geschlechtstrieb  bei  kastrierten  Frauen.  Bedeutung  d.  Pubertät 
fflr  d.  Folgen  d.  Kastration.  Trennung  d.  psychischen  u.  somat.  Pubertät. 
Kontrektatioostrieb  als  sekundärer  Geschlechtscharakter. 

Theorien  Über  d.  Zosammenhang  d.  Keimdrüsen  u.  d.  Geschlechtstriebes. 
Keimdrüsenstoffe.  Anatomisches  Schema  für  beide  Komponenten  d.  Ge^ 
schlechtstriebes.    Erogene  Zonen. 

IL  Ererbtes  im  normalen  Geschlechtstriebe. 

Richtung  d.  Geschlechtstriebes  als  erworb.  Funktion. 

Begriffsbestimmung  u.  Unterschied  von  Angeboren  u.  Ererbt. 

Geschlechtstrieb  von  Wolfskindem,  Pseudo-Hermaphroditen.  Fehler* 
quellen  bei  d.  Betrachtung  derselben.  Kormale  Erziehung  oft  Bedingung, 
nicht  Ursache  d.  heterosexuellen  Geschlechtstriebes.  Konträre  Eotwickelung 
sekund.  Geschlechtscharaktere.  Normaler  Geschlechtstrieb  bei  Pseudo- 
Hermaphroditen. 

Geschlechtstrieb  als  Fortpflanzungsinstinkt.  Erweckung  von  Instiokt- 
handlungen  u.  Auslösung  d.  Gescblechtstriebes  durch  spezif.  Reize.  Beispiele 
von  Instinkthandlungen,  die  durch  spezif.  Reize  ausgelöst  werden. 

Beteiligung  mehrerer  Sinne  bei  Instinkten.  Ererbte  Instinkte  erklärbar 
ohne  Brerboog  von  Vorstellungen.  Unterschied  von  angebor,  u.  ererbten 
lubtinkten.  Das  Ererbtsein  d.  heterosexuellen  Geschlechtstriebes  erklärbar 
ohne  Annahme  angebor,  oder  ererbt.  Vorstellungen.  Unbewusste  Vorstellungen. 

Sexuelle  Differenzierungs-  o.  Reizmittel,  Bedeutung  d.  Ge- 
sichtssinnes beim  Menschen.  Bedeutung  anderer  Sinne.  Geruchs-  u.  Tastsinn. 
Geschlechtstrieb  bei  Blinden.  Fehlerquellen,  die  bei  Blinden  in  Betracht 
kommen.  Geschlechtstrieb  bei  tauben  Leuten.  Kein  Sinnesorgan  uner-^ 
setzbar  sur  Erweckung  d.  normalen  Geschlechtstriebes.  Homosexualität  bei 
Blinden. 

Zusammenwirken  verschied.  Sinnesorgane  beim  Geschlechtstrieb.  Irre- 
führung von  Instinkten  des  Geschlechtstriebes. 

Innere  Beziehungen  d.  sexuellen  Reaktionsfähigkeiten.  Analogie  mit 
Konsonanzen  u.  Dissonanzen.  Der  ererbte  Geschlechtstrieb  als  ererbter 
Komplex  von  Reaktionsföhigkeiten.  Individuelle  Differenzen.  Unvollkommene 
Reaktionsfäbigkeitskomplexe.  Bedeutung  derselben  lür  sexuelle  Perversionen. 
Psycbosexuelle  Hermaphrodisie.  Knabenliebe.  Störung  derselben  durch 
Bartwuchs.  Reiz  durch  weibliche  Gesichter.  Übergang  zur  Umkehrung  d. 
Geschlechtstriebes.  Weitere  Übergangszuptände.  Deutung  d.  psychosexu- 
ellen  Übergangszustände.    Psychosexoelle  Übergangszustände  bei  Frauen. 

Bedeutung  d.  psychischen  Eindrücke  fOr  d.  Geschlechtstrieb.  Wechsel 
d.  sexuellen  Erregungsmittel  zu  verschied.  Zeiten,  bei  verschied.  Völkern. 

Wert  der  Gewöhnung.    Bastardierung. 

Sexuelle  Erregungsmittel  in  d.  Tierwelt.    Geruch.    Fische. 

Darwinismus.  Vererbung  u.  Variabilität.  Eingeschlechtliche  Ver- 
erbung. Wert  d.  natürl.  Zuchtwahl  für  d.  Vererbung  d.  heterosexoellen 
Geschlechtstriebes.  Der  heterosexuelle  Geschlechtstrieb  als  sekond.  Ge- 
Bohlechtscharakter.  Weismanns  Tneorie.  Die  ursprflogl.  Entatehnng  d« 
Geschlechtstriebes  unerklärt.  Geschlechtstrieb  u.  Zweckbewustsein.  Be- 
deutung d.  geschlechtl.  Zuchtwahl  für  d.  Vererbung  d.  heterosexuellen  Ge*< 
schlechtstriebes.    Nachkommenschaft  trotz  Homosexualität.        ^         :^ 

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-    8    - 

BiDwendangen  gegen  d.  DarwiDismos.  Gamopba^e.  Teleologie. 
Teleologie  o.  KOrperorganisatioD.  Teleologie  u.  FortpflanzoDg.  Vererbang 
d.  Gescblecbtstriebes  yom  Standpunkt  d.  Teleologie. 

Folgen  d.  Kaatration  n.  die  Vererbang  d.  Qescblecbtatriebes.  Perio- 
dizität d.  Gescblecbtstriebes.  Verlust  d.  Periodizität  beim  Menseben.  Ge- 
scb locht strieb  des  Weibchens  nach  d.  Befruchtang.  Geschlechtstrieb 
schwaogerer  Frauen.  Bastardierung.  Angebliche  Unfruchtbarkeit  von 
Bastardeu.    Geschlechtstrieb  u.  Reife  der  Eeimdrflsen. 

Vererbtheit  d.  Detumeseeoztriebes.  Ererbtes  im  Drang  zum  Koitus. 
BesprinebewegUDgen  junger  Tiere.  Erleicbteraug  d.  BespriDgbewegnngen 
darch  Erfahrung  n.  Nachabmaug.  Hymen  u.  Vererbung  d.  Geschlechts- 
triebes. Ethnologische  unterschiede  beim  Koitus.  Die  sexuellen  Peryer- 
sionen  u.  der  Koitus.    Periodischer  Stiefel-,  Fussfetischismus. 

Band  I,  Teil  II. 

in.  Ererbtes  in  der  Homosexnalität« 

Verschiedene  Ansichten.  Kritik  der  Autobiographien.  Fehlerhafte 
Verallgemeinerung.  Unterschied  zwischen  d.  Homosexualität  u.  anderen 
sexuellen  Peryersionen.  Durchbruch  d.  Heterosexnalität  bei  anderen  sexu- 
ellen Perversionen.  Stiefelfetischismus,  Sadismus.  Die  Homosexualität  als 
latenter  sekundärer  Geschleohtscharakter  des  normalen  Menschen. 

Anatomisches  Schema  für  die  Homosexualität. 

Konträre  sekundäre  Geschlechtscharaktere.  Milchdrüsen  beim  Mann. 
Frauen  mit  Barten.  Konträre  Entwickelung  d.  Beckens,  Kehlkopfs.  Kon- 
träre sekundäre  Geschlechtscharaktere  bei  Tieren.  Maskulismus  u.  Femi- 
nismus. Ererbheit  konträrer  Geschlechtscharaktere.  Konträre  psychische 
Gescblechtscharaktere.  Beschränkte  Plastizität  psychischer  Dispositionen. 
Homosexualität  als  ererbter  konträrer  Gescblecbtscbarakter.  Durchbruch 
konträrer  Geschlechtscharaktere  zur  Zeit  d.  Pubertät.  Homosexaalität 
einer  amerikan.  Ordensschwester. 

Homosexualität  bei  Tieren.  Grund  der  anschein.  Seltenheit.  Perverse 
Akte  bei  VOgeln.    Heobachtungen  von  Seitz  an  Säugetieren. 

Allgemeine  Ursachen  sexueller  Perversionen  beim  Menschen.  Die 
ererbte  sexoelle  Reaktionsfähigkeit.  VerkQmmerung  des  Gemchsinnes  u.  d. 
sexaellen  Erregbarkeit  durch  d.  Geruch.  Panmixie.  Unterschied  zwischen 
d.  Potssucht  des  Menschen  u.  d.  Tiere.  Nacktheit  unserer  Vorfahren.  Ver- 
deckung  vieler  Reize.  Abänderung  anderer  Reize,  z.  B.  des  Bartes.  Be- 
deutung dieser  Abänderungen  im  Laufe  vieler  Generationen.  Vergleich  mit 
d.  Domestikation.  Bedeutung  d.  Gesichtes  für  d.  sexuelle  Differenzierung. 
Wert  d.  verdeckten  Reize.  Kleidung  u.  sexuelle  Perversion.  Vielbeit  d. 
sexuellen  Differenzierungsmittel.  Wert  d.  Konstanz  d.  sexuellen  Differen- 
zierungs-  u.  Reizmittel.  Kompliziertheit  sexueller  Differenzierungsmittel 
beim  Menschen.  Abänderung  d.  ererbten  Reaktionsfähigkeit  dorch  Ehen. 
Geschlechtliche  Zuchtwahl  bei  Tieren  u.  beim  Menschen.  Beschränkung  d. 
Wahlfreibeit.  Kaufehe.  Fortpflanzung  sexuell  Perverser.  Sterilität  Dege- 
nerierter« Unterschiede  zwischen  Tierwelt  u.  Kulturmenscbheit.  Fortpflanzung 
u.  Ehen  homosexueller  Frauen. 

Zeitiges  Auftreten  d.  Homosexualität.  Die  swei  Perioden  d.  Ge- 
schlechtstriebes nach  Dessoir.  Bedeutung  d.  Pubertät  für  d.  Differenzierung 
d.  Geschlechtstriebes.  Differenzierung  vor  d.  Pubertät.  Bedentung  des 
Stadiums  d.  Undifferenziercheit  für  d.  Zoknnft.  Freundschaft  zwischen 
Mensch  u.  Tier.    Liebe  zu  Tieren. 

Konträre  Spiele  in  d.  Kindheit.  Bedeutung  d.  Spielein  d.  Kindheit. 
Darwin  über  d.  Geschlechtscharaktere  vor  d.  Pubertät. 

Konträre  Charaktere  u.  Neigungen  erwachs,  homosexueller  Personen. 

Heilung  d.  Homosexualität.  Heilung  u.  Latent.  Künstliche  Änderung 
von  Instinkten. 

Künstliche  Anerziehung  d.  Homosexualität.  Überschätiung  künstL 
Einflüsse.    Homosexueller  Verkehr  in  Internaten.        ^^''^^^^^ 


--    4    - 

Scbeiobjare  ZflchtiiDg  d.  Homo«exaalitftt. .  VeniichtDDg  d.  Het^rosexn- 
alität  oDerkifirt.  WechselverhältDis  vod  Homosexoalität  q.  Heterosexoalit&t. 
William  James  Ober  d.  Instinkte.  Bedeutung  d.  ersten  sexuellen  Erregung 
far  d.  Richtung  d.  Geschlechtstriebes.  Vergleich  zwischen  sexueller  Per- 
▼ersion  u.  Ekelgefflhlen.  Erkl&rung  fQr  d.  Fehlen  d.  Heterosexualität. 
Heterosexualität  nicht  ererbt  oder  ererbte  Schwäche  d.  Heterosexnalit&t; 
Ererbter  Assoziationsswang  in  sexueller  Beziehung.  Der  Homosexuelle  als 
Leib-8eelenzwitter. 

Cbergangszuetände.  Liebe  zu  Knaben ,  zu  Jflnglingen.  Die  psycho- 
sexnelle  Hermaphrodisie. 

Enstehen  d.fiomosexualit&t  im  späteren  Alter.  Schwierigkeit  d.  Trennung 
▼on  Ererbtem  u.  Erworbenem.  Ererbte  Alterserscheinungen.  Homosexu^ 
alität  bei  Weibermangel,  infolge  yon  Exzessen.  Homosexuelle  Akte  in  d. 
Insektenwelt. 

Ererbtes  beim  Fetischismus,  Masochismus  u.  Ererbte  sexuelle  Disposi- 
tionen.   Sadismus  bei  zwei  Brüdern. 

Unterdrückung  ererbter  Eigenschaften  durch  Einflüsse  im  Leben.  Er- 
erbte Schwachsichtigkeit,  Rechtshändigkeit,  Nahrnogsantipathien. 

IT«  Sexuelle  Penrersion  und  Monomanie. 

Kritik  d.  neueren  Arbeiten  Ober  sexuelle  Perversion.  Definition  d. 
Monomanie.  Geschichtliches.  Aogebliche  Beziehungen  d.  perversen  Ge- 
schlechtstriebes zur  Monomanielehre. 

Der  perverse  Geschlechtstrieb  als  Modifikation  e.  normalen  Triebes. 

Frage  der  UnterdrOckbarkeit  beim  normalen  u.  perversen  Trieb.  Fälle 
von  Unterdrückung  perverser  Akte  bei  e.  Homosexuellen,  psychosexuellen 
Hermaphroditen,  homosexuellen  Weibern,  e.  Fall  von  Flagellantismus,  e. 
Rosenfetiscbisten.  Ununterdrflckbarkeit  kein  Oharakteristikum  d.  perversen 
Triebes.  Stärke  d.  qualitativ  normalen  Geschlechtstriebes.  Relative,  nicht 
absolute  UnterdrOckbarkeit  d.  Geschlechtstriebes.  Bedeutung  d.  nächtl. 
Pollutionen.    Möglichkeit  d.  sexuellen  Abstinenz. 

Der  Ausdruck  Psyehopatkia  sexnalis.  Einwände  gegen  d.  alte  Monoma- 
nielehre.  Die  verschied,  psychischen  Prozesse.  Die  Willensfreiheit  u.  ihre 
Gegner.  Bestimmung  d.  Willens  durch  Motive.  Rechtsbewosstsein.  Be- 
deutung d.  Schwachsinns.  Logische  Motive  beim  Stehlen.  Frühere  Forscher 
über  Monomanie. 

Motive  zum  Geschlechtsakt.  Selbsttäuschung  durch  d.  Lustvorstellongen. 
Fehlen  d.  Wollustorgane.  Detumescenztrieb  ohne  Wollusterwartung.  Be- 
friedigung trotz  Felüens  d.  Wollust.  Die  organische  Bedingtheit  d.  Ge- 
schlechtstriebes. Die  logische  Unmotiviertheit  d.  Kontrektationstriebes. 
Geschlechtstrieb  ohne  Wollustvorstellung.  Das  Unlogische  beim  Elekti- 
vismus  u.  beim  patholog.  Geschlechtstrieb.  Empfindung  d.  Kontrektations- 
triebes als  Zwang.  Last  u.  Unlust  beim  Geschlechtstriebe.  Verhältnis 
psychischer  u.  somat.  Symptome  beim  Geschlechtstrieb.  Unterschied  von 
Geschlechts-  u.  Stehltrieb.  Beziehungen  d.  Geschlechtstriebes  zum  Seelen- 
leben.   Die  Anhänger  d.  Lokalisationslebre. 

Unlogisches  ausserhalb  d.  Geschlechtstriebes,  beim  Stehlen  u.  s.  w; 
Spezialistentum  unter  d.  Verbrechern.  Die  Sammler.  Psychische  Natur 
dieser  Prozesse.  Der  Geizhals.  Aneignungstrieb.  Reflexbewegungen. 
Psychische  Reflexe.  Bewegungen  durch  GemeingefOhle.  Posthypnotische 
Suggestionen.  Monomanie  u.  posthypnot.  Suggestion.  Kleptomanie  n. 
Geschlechtstrieb.  Zwangshandlungen.  Impulsive  Akte.  Bedeutung  d.  Dege- 
neration.   Degeneratives  Irresein.    Degeneration  u.  posthypnot.  Suggestion. 

Einseitige  Anlagen.  Genie  u.  Irrsinn.  Die  partieUe  Begabung.  Partielle 
Defekte. 

Die  organische  Bedingtheit  des  Stehlens.  Psychologisches  im  Ge- 
schlechtstrieb. Periodische  Perversionen.  Psychische  Erregung  d.  Ge- 
schlechtstriebes. Geschlechtstrieb  bei  Gehirnkrankheiten.  Identität^jd. 
psychischen  Bedingtheit  beim  normalen  u.  perversen  Geschlechtstrieb,  y^ 


-     5    - 

N^oropatbisebe  a.  psjrobopatb.  Symptome  bei  sexoellen  PerversiooeD. 
Fall  Ton  Masochismas,  psycbosezaeHer  Hermaphrodisie.  Bffeminatioo. 
Körperliche  degenerat.  Symptome.  Erbliche  Belastuog  o.  deren  Bedeotang. 
FunktioDelle  a.  anatom.  Symptome.  ADScbeineode  Normalität.  QreDzen 
erblicher  Belastuog.  Latente  Entartangssymptome.  Krankheitsdisposition 
u.  Krankheit.  Die  verschied.  Meinungen  über  andere  Krankbeitssymptome 
n.  Belastung  bei  sexoellen  Peryersionen.  Ansicht  KrafFt-Bbings.  Mit- 
teilungen aus  d.  älteren  Litteratur.  Neuere  Autoren.  Exhibitionismus. 
Anerkennung  d.  sexuellen  Perversion  als  isoliertes  Symptom  dorch  einige 
Autoren.  Schwierigkeit  d.  Nachweises  erblicher  Belastung.  Zusammen 
fassung  d.  bisher.  Erfahrungen.  Verwertung  histor.  Forschungen.  Isolierungs- 
instinkt. 

Bedeutung  der  Degeneration  fQr  ererbte  u.  erworb.  Charaktere.  Ver- 
schiedene Degenerationstypen. 

Vermittelnder  Standpunkt  zwischen  d.  extremen  Monomanielehre  u. 
deren  extremen  Gegnern.  Die  intellektuelle  Monomanie.  Beziehungen  d. 
Zwangsvorstellungen  zum  perversen  Geschlechtstrieb.  Andere  Triebe  bei 
Entartungssuständeu, 

y.  Forensisches. 

Civilrechtliche  Bedeutung  d.  sexuellen  Per  Versionen. 

Strafrechtliche  Bedeotang.  Die  widernatflrl.  Unzucht  zwischen 
Männern.  Bestialität  von  Frauen,  von  Männern.  Sadismus.  Lustmord. 
Andere  sadistische  Akte.  Mord  bei  unglückl.  Liebe.  Fetischistische  Dieb- 
stähle. Andere  sexuell  bedingte  Diebstähle.  Leichenschändung.  Verletzung 
d.  Offentl.  Sittlichkeit.    Strafbare  Akte  von  Kindern. 

Stratausschliessnngsparagrapheo. 

Bedeutung  der  Bewusstlosigkeit  in  §  51.  Fall  von  period.  Taschentuch- 
fetischismus.    Epileptische-  u.  Rauschzustände. 

Die  krankhafte  Störung  d.  Geistesthätigkeit.  Das  Irresein  d.  Entarteten. 
Die  psychischen  Entartungen.  Beziehungen  d.  sexuellen  Perversionen  zu  d. 
psychischen  Entartungen. 

Die  sexuelle  Perversion  als  isoliertes  Symptom.  Vergleich  d.  sexu- 
ellen Perversion  mit  Missbildongen.  Wert  e.  einzelnen  Symptoms.  Stand- 
punkt der  Psychiater.  Erankhaltigkoit,  Voraussetzung  d.  Straffreiheit.  Un- 
aufgeklärte Fälle.  Fehlerhafte  Trennung  von  eingebor,  u.  erworb.  Perversion. 
Schwierigkeit,  beide  zu  trennen.  Anatom,  u.  funktionell«)  Störungen. 
Krankhaftigkeit  u.  Krankheit.  Störung  der  Geistesthätigkeit.  Überschätzung 
d.  erblichen  Belastung  in  forens.  Fällen. 

Simulation. 

Ausschluss  d.  freien  Willensbestimmung.  Determinismus  u.  Indetermi- 
nismus. Motive  u.  Auslegung  d.  Gesetzes.  Willensfreiheit  als  Voraus* 
Setzung  d.  Strafgesetzbuches.  Beantwortung  der  Frage  d.  Willensfreiheit 
Bestehen  d.  Willensfreiheit  trotz  krankhaften  Geschlechtstriebes.  Nicht- 
strafbarkeit  d.  Masturbation.  Macht  d.  Kontrektationstriebes  u.  die  Selbst- 
täuschung durch  ihn.  Bedeutung  der  Pubertät.  Fall  von  fiaarfetischismos. 
Notwendige  Trennung  d.  Begriffe  krankhafte  Störung  d.  Geistesthätigkeit 
u.  Ausschluss  d.  freien  Willensbestimmung.    Sittlichkeitsdelikte  an  Kindern. 

Die  partielle  Zurechnnngsfähigkeit.  Entstehungsgeschichte  des 
§  51.  Partielle  Zurechnungsfäbigkeit  von  Kindern  u.  Taubstummen.  Intel- 
ligenz u.  Zurechnungsfähigkeit.  Intelligenz  u.  Motivstärke.  '  Missbrauch  d. 
Wortes  Intelligenz.  Schwachsinn  u.  Zurechnungsfäbigkeit.  Feststellung 
von  Schwachsinn.  Zurechnungsfäbigkeit  bei  Intelligenzscbwäche.  Strafurteil 
u.  Strafvollstreckung.  Partielle  Zurechnungsfäbigkeit  Geisteskranker.  Die 
absolute  Zurechnungsunfähigkeit  d.  typischen  Geisteskranken.  Die  oft  nur 
partielle  Zurechnungsfäbigkeit  der  Grenzfälle.  Notwendigkeit  der  Indivi- 
dualisierung. Partielle  Zurechnungsunfähigkeit  ausserhalb  d.  sexuellen  Per- 
version. Nicht  sexuelle  Handlungen  sexuell  Perverser.  Unterschied  d. 
partiellen  Zurechnungsfäbigkeit  u-  d.  alten  Monomanielebre.  Anscheinende 
Motiylosigkeit  u.  Krankhaftigkeit.     Die  Konsequenzen  dieser  Lehre  von  d. 


—    6    — 

partiellen  ZurechnoiigBfäbigkeit  u.  d,  alten  Monomanielehre  sind  einander 
entge^eDg:eBetzt. 

Verminderte  Zarechnangsfähigkeit. 

Notwendigkeit  ärztlicher  Sachverständiger.  Notwendigkeit  e.  genauen 
Analyse. 

loterDierung  gemeingefährlicher  sezaell  Peryerser  in  Irrenanstalten. 
Schwierigkeiten  hierbei.    Fall  yon  Eoprola^nie. 

Vorschlag,  den  §  175  abzoschaffen.  Hanger  u.  Geschlechtstrieb.  Ein- 
schränkung d.  heterosexuellen  Geschlechtstriebes  durch  Gesetz  u.  Sitten. 
Inkonsequenz  d.  Gesetzes.  Wert  der  sexuellen  Hygiene.  Anfbnn  d.  Ge- 
setzes auf  der  Bibel.  Erzieherische  Wirkung  d.  Gesetzes.  Das  Unloidsche 
im  §  175  selbst.  Fortpflaozung  u.  Degenoration.  Notwendige  Beschränkung 
d.  sexuellen  Verkehrs  durch  d.  Strafgesetz. 


Die 

konträre  Sexualemfindung 

von 

Dr.  med.  Albert  MolL 

Dritte  teilweise  timgearbeitete  und  vermehrte  Auflage. 
Preis  geheftet  10  lark,  gebnnden  11,60  lark. 


^Moirs  Buch,  das  längst  in  die  verschiedensten  ausländischen  Sprachen 
(französisch,  spanisch,  italienisch)  Übersetzt  worden  ist,  erscheint  jetzt  in 
dritter  Auflage.  Das  Buch  ist  das  einzige  Werk,  das  in  erschöpfender  und 
wissenschaftlicher  Weise  die  gleichgeschlechtliche  Liebe,  das  heisst  die  Liebe 
des  Mannes  zum  Mann  und  die  Liebe  des  Weibes  zum  Weib  behandelt. 
Das  reiche  Material,  das  dem  Verfasser  durch  das  Entgegenkommen  ver- 
schiedener Behörden  zur  Verfügung  stand  und  das  aus  vielen  anderen 
Quellen  ergänzt  wurde,  befähigte  ihn,  wie  kaum  einen  Andern,  zu  einer 
Behandlung  dieser  Frage.  Professor  v.  KrafftEbing,  anerkannt  der 
erste  deutsche  Psychiater,  betonte  die  Wichtigkeit  gerade  dieses  Werkes 
für  den  Arzt,  den  Polizeibeamten,  den  Untersuchungsrichter,  den  Staats- 
anwalt, den  Verteidiger,  den  Soziologen,  den  Psychologen,  den  Erzieher  der 
Jugend,  den  Gesetzgeber  u  s.  w.  Havelock  Ellis,  der  erste  englische 
Eriminalanthropologe  und  selbst  Forscher  auf  dem  Gebiet  der  sexuellen 
Per  Version,  erklärt  das  Buch  des  Verfassers  bedingungslos  fOr  das  beste, 
das  auf  diesem  Gebiete  erschienen  ist. 

Dass  auch  der  Geschlechtstrieb  im  Allgemeinen  und  alle  anderen 
krankhaften  Erscheinungen  desselben  genügend  Berücksichtigung  finden,  sei 
erwähnt. 

Im  Anfang  wird  von  dem  Verfasser  die  Frage  erörtert,  ob  geschlecht- 
liche Enthaltsamkeit  beziehungsweise  Keuschheit  f&r  die  Gesundheit  und 
Sittlichkeit  des  Mannes  zuträglich  sei.  Es  wird  hierbei  gewissen  land- 
läufigen Ltigen  entgegengetreten  und  die  Heuchelei  verurteilt,  die  Viele 
verhindert,  ihre  innere  aufrichtige  Überzeugung  in  geschlechtlichen  Dingen 
auszusprechen.  oigitizedbyVjOOQlC 


—    7    - 

Inhalts- Verzeichnis. 

I.  AllgMneiiies. 

PortpftasxQog.  ünterscheidoDg  der  Geschlechter.  Geschlechtscharaktere. 
Gevefaiecbtetrieb.  Liebe.  Liebe  u.  Freundschaft.  Bedeotang  des  Geschlechts- 
triebes. Homosexueller  Trieb.  Perversion  o.  Perversität.  TermiDologie. 
Schönheit.  Urningsliebe  o.  Frenndscbaft.  Psychosexaelle  Hermaphrodisie. 
fiomosexaalität  in  d.  Tierwelt 

11.  Geschichtliches. 

BibeL  Die  alten  Juden.  Asien.  Baalsdienst.  A(?jpten.  Kastration. 
Griechenland.  Mythologie.  Athen.  Plato  u.  Xenophon.  Sokrates. 
Elis  u.  BOotien.  Jonien.  Kreta.  Dichter.  Stellung  der  Frau.  Rom. 
Karthago.  Republik.  Cäsar.  Kaiser.  Römische  Frauen.  Dichter  u.  Schrift- 
steller. Scythen,  Macedonier.  Germanen,  Gallier.  Abendland  im  Mittel- 
alter u.  in  der  Neuzeit.  Karl  der  Grosse.  Zeit  der  Minnesänger.  Tempel- 
ritter. Katholische  Kirche.  Hof  Ludwigs  XIV.  Orient.  Dichter.  Litte- 
ratur  im  Abendlande.  Dante.  Goethe.  Ramdohr,  Ehrenberg.  Moritz. 
Jörg.  Hössli.  Gasper,  Schopenhauer.  Ulrichs.  Griesinger,  Westphal. 
Tarnowsky,  Jäger.  Kraflft-Bbing.  Neuere  Autoren.  Werke  über  Psychiatrie, 
Degeneration,  Nervenkrankheiten,  gerichtliche  Medizin.  De  lege  lata  oder 
ferenda.  Bussbtlcher.  Werke  Aber  Psychologie,  Zwittertum.  Rosenbaum. 
Besprechungen.  Belletristik.  Italien,  Marokko.  Türkei,  Griechenland.  China. 
Japan,  Indien.  Polynesien.  Amerika.  Historische  Urninge.  Heinrich  lll. 
Eduard  IL  Jakob  L  Rudolf  IL  Paulus  IL  SixtusIV.  Julius  IL  Julius  IIL 
Michelangelo.  Sodoma.  Muret.  Shakespeare.  Winkelmann.  Ififland. 
Philipp  von  Orl6ans.  Prinz  Heinrich  von  Preussen.  Friedrich  der  Grosse. 
Friedrich  I.  von  Württemberg.  Byron.  Platen.  Ludwig  IL  von  Bayern. 
Sonstige  Persönlichkeiten. 

in.  Soziale  Beziehungen  der  Homosexaellen. 

Zahl  der  Urninge.  Gesellschaftsklassen.  Beruf.  Juden.  Alter.  So- 
matische Eigenschaften.  KQnstlerische  Yeranlaguog.  Effeminatio, 
Kindheit.  Weibisches  Benehmen.  Weibliche  Kleiduog.  ToilettenkUnste. 
Weibliche  BeschätMgung.  Handschrift,  Stimme.  Bewegungen.  Charakter 
der  Urninge.  Neigung  zum  Ltlgen.  Eitelkeit.  Schamhaftigkeit.  Grensen 
der  Effemination.  Seibstbeorteilung  der  Urninge.  Stimmung.  Selbstmord. 
Verkehr  der  Urninge  mit  dem  Weibe.  Sexuelle  Abneigung.  Heirat. 
Ausübung  des  Koitus.  Geselliger  Verkehr.  Verkehr  der  Urninge 
untereinander.  Gegenseitiges  Erkennen.  Zusammeukunftsorte.  Uroisohe 
„Hochzeiten*'.  Gesellschaften.  BftUe.  Standesuuterschiede.  Benennungen. 
Verschlossenheit  der  Urninge. 

IT«  Sexnelleg  Leben  der  Homosexaellen. 

Liebe.  Glückliche  u.  unglückliche  Liebe.  Platonische  Liebe.  Eroto- 
manie. Koketterie.  Eifersucht.  Elektivität.  Abneigung  gegen  Urninge. 
Alters  Verhältnis.  Individuelle  Neigungen.  Sexuelle  Befriedigung. 
Immissio  in  anum.  Immissio  in  os.  En fesser.  Mutuelle  Onanie.  Onanie. 
Befriedigung  ohne  Berührung  der  Genitalien.  Ideeller  Koitus,  fläofigkeit 
des  Verkehrs.    Träume  u.  Pollutionen.    Reiz  durch  das  Membrum.    Küssen. 

Y«  MännUche  Prostitution« 

Geschichtliches.  Versammlungelokale.  Sexuelle  Veranlagung  der  Prosti- 
tuirten.  Alter.  Eigenschaften.  Fehlen  der  polizeil.  Aufsicht.  Täuschung 
Heterosexueller  dnich  Weiberkleidnng.  Erpresser  tum.  Vorgeben  der 
Erpresser.  Unterstützung  des  Erpressertums  durch  d.  Gesetz.  (^(^f!^3l^Il^ 
Erpressertnm.  '^'  '^®    ^  o 


Tl.  Sexuelle  Perrersioiieii  als  KomplUtatlon  der  koutrlren 
Sexnalempflndimg. 

FetischismoB.  Normaler  q.  patbolog.  GegeostaDdfetischismag  bei 
Heterosezaellen.  GegeDStandfetiscbismus  bei  HomoBezoellen.  Allfi:eiDeiner 
EinflaBB  der  Kleidang  bei  Heterosexuellen  n.  Homosexaellen.  Körperteil- 
fetischiBmaB  bei  Heterosexn eilen  u.  fiomoBexnellen.  MaBocbismaB.  Erafft- 
Ebings  Erklärang.  Ramdobr.  Goetbe.  GescbicbtlicbeB.  FlagellaDtismQS. 
Pica.  FetiBcbiBmos  a.  MasocbismoB.  Mixoskopie.  Sadismus  bei  Qetero- 
sexuellen.  GeBcbicbtlicbes.  Sadismus  bei  Homosexuellen.  Kasuistik.  Ge- 
scbicbtlicbes.  Forensiscber  Fall  Ton  Homosexualität  u.  MaBOchismus.  Neigung 
zu  unreifen  Kindern,  zu  alten  Männern,  zu  Statuen.  Leicbenschändnng. 
Andere  Perversionen. 

TU.  Psychosexuelle  Hennaptarodisie« 

Krafft-EbingB  Einteilung.  Zwischenstufen.  Episodische  Heterosexualität. 
Neigung  psychosexoeller  Hermaphroditen  zu  einem  Typus  ohne  ROcksicbt 
auf  das  Geschlecht.  Wilbrandts  Erklärung.  Psychosexuelle  Hermaphrodisie 
Yor  der  Pubertät.  Stärke  des  homosexuellen  GeschlecbtstriebeB.  Efifemi- 
natio  bei  Heterosexuellen.    Geschichtliches. 

Till.  Itiologisches. 

Eingeborene  u.  erworb.  konträre  Sexualempfindung.  Dessoirs  Theorie. 
Eingeborene  Disposition.  Schwierigkeit,  diese  Einteilung  Oberall  durchzu- 
führen. Degeneration.  Belastende  Momente.  Erbliche  Belastung.  Gelegen- 
heitBursacben.  Latenz.  Unterscheidung  zwischen  Entstehen  u.  Bethätigung 
des  Triebes.  Moralisches  Eontagium.  Einfluss  der  Litteratur.  Mutuelle 
Onanie.  Mangel  an  Weibern.  Furcht  vor  Ansteckung  im  Verkehr  mit  d. 
Weibe.  Einfluss  des  Berufs.  Onanie.  Excesse.  Abstumpfung.  Hyperästhesie. 
Gewöhnung.  Somatische  Hermaphrodisie.  Epilepsie,  AltersblOdsinn.  Pro- 
gressive Paralyse.  Angebliche  Ursachen  der  Päderastie  im  alten  Griechenland. 

IX.  Theoretisches« 

Aristophanes.  Parmenidcis.  Urnische  Theorie.  Ramdobr,  Mantegazza. 
Psychische  Abnormität.  Weibliches  Gehirn.  Anatomische  Lage  des  sexu- 
ellen Zentrums.  Lokalisationslehre.  Jäger.  Krafft-Ebings  Vererbnngs- 
theorie.  Schopenhauer.  Gyurkovechky.  Der  Geschlechtstrieb  als  psychische 
Funktion  betrachtet.    Soziale  Bedeutung  des  Geschlechtstriebes. 

X.  Diagnostisches« 

Verschlossenheit  der  Urninge.  Fragestellung  des  Arztes.  Träume. 
Erfahrung.  Erkennungszeichen  der  Urninge.  Diagnose  durch  Beobachtung. 
Erkennen  nach  Photographien.  Irrtümer  in  d.  Diagnose.  Differentialdia- 
gnose. Geschlechts  Verwandlung.  Homosexualität  als  krankhafte  Er- 
scheinung. Verwechslung  von  Geschlechtstrieb  u.  Geschlechtsakt.  Geistes- 
oder Nervenkrankheit. 

XI.  Therapeutisches. 

Angabe,  des  Arztes  betreffs  d.  konträren  Sexualempfindung.  Prognose. 
Gründe  gegen  die  Behandlung.  Pflicht  des  Arztes  dem  Urning  gegenüber. 
Bekämpfung  der  nervösen  Beschwerden,  der  Bethätigung  des  Triebes,  der 
Hyperästhesie.  Einflass  der  Arbeit.  Umwandlung  der  Homosexualität.  Be- 
handlung der  ganzen  Konstitution.  Prophylaxe.  Frühzeitiges  Einschreiten. 
Verhüten  d.  Onanie  u.  mutuellen  Onanie  in  Haus  u.  Schule.  Belehrung  der 
Kinder.  Entwickelung  des  Geschlechtstriebes.  Umgebung.  Meiden  des 
homosexuellen  Verkehrs  bei  erwachs.  Urningen.  Verkehr  mit  d.  Weibe. 
Meiden  der  homosexuellen  Gedanken.  Sexueller  Verkehr  mit  d.  Weibe. 
Elektivität.  Nichtgelingen  des  Koitus.  Ehe  der  Urninge.  Bedenken  gegen 
d.  ausserehel.  Koitus  u.  gegen  d  Verkehr  mit  d.  Weibe  überhaupt.  Verbot 
der  Onanie.    Suggestive  Therapie.    Elektrotherapie.    Kastration^        '  .    • 


—    9    - 

-•* 
Xn«  Forensigches. 

GesetsHche  Bestimmangen  so  verschied.  Zeiten  u.  in  verschied.  L&ndern. 
%  176  des  Deutschen  ßtrafgesetsbnches,  §  51,»  §  52.  Diagnose  der  Immissio 
in  anom.  Qesetzesvorschlag  hetreffend  §  175.  Strafrechtstheorien.  Gründe 
fOr  die  Bestrafan^*  Sittlichkeit.  Ächtung  der  Homosexuellen  n.  deren  Be- 
rechtigung. Sittlichkeitsbewusstsein.  Bibel.  Gesundheitsschädigung.  Mo- 
ralischea  Kontaginm.  Erziehliche  Wirkung  der  Gesetzgebung,  unlogisches 
in  der  Gesetzgebung.  Züchtung  d.  Erpressertums.  Petition  gegen  §  175. 
Heschränkung.  der  Straffreiheit.  GesetzesTorschlag  betreffend  §  861  und 
§  •176.f  '^ Zivilrechtliche  Fragen. 

XIII«  Konträre  Sexoalempflndang  beim  Weibe. 

Gründe  für  kürzere  Besprechung.  Per  Versionen  beim  Weibe,  Häufig- 
keit der  sexuellen  Anästhesie.  Geschichtliches.  Historische  Persön- 
lichkeiten. Litteratur.  Belletristik.  Gesellschaftskreise.  Terminologie. 
Somatische  Eigenschaften.  Entwickelung  der  Tribaden.  Charakter.  Kind- 
heit. Vorliebe  für  Männerkleider.  Männliche  Beschäftigung.  Viraginität. 
Bewegungen.  Geschichtliches«  Kasuistik.  Männliche  Neigungen  ohne 
Homosexoalität.  Sexueller  Verkehr  mit  dem  Mann.  Sekundäre  Geschlechts- 
cbaraktere.  Liebe.  Männliche  Namen.  Gegenseitiges  Erkennen.  Elektivität. 
Liebesverhältnisse.  Eifersucht.  Art  der  Befriedigung.  Lambitns.  Mutuelle 
Onanie.  Künstlicher  Koitus.  Einfluss  der  Umgebung.  Häufigkeit  des 
VerkehrF.  Onanie.  Latenz.  Träume.  Homosexueller  Verkehr  hetero- 
sexuellen, Weiber.  Verheiratete  Tribaden.  Psychosexnelle  Hermaphrodisie. 
Peripherische  Reize.  Unglückliche  Ehen.  Belletristik.  Periodische  Homo- 
sexualität. Neigung  so  unreifen  Mädchen.  Fetischismus,  Masochismos, 
Sadismus.    Ätiologie.    Medizinisches.    Forensisches. 


Vorlesungen 

über 

Sexualtrieb  und  Sexualleben 

des  Menschen 

TOD 

Dr.  med.  Herrn.  Rohleder. 

Frais  fsheftst  4,S0  lark. 


Vorwort. 

Motto:  ..Die  ganze  Stellung  des  Arzt«s 
bietet  keine  angenehmere,  keine  zufrieden- 
stellendere Seit«  als  die,  dass  sein  WiBF^-n 
das  Sexualleben,  die  ..Grundbedingungen  der 
Familie'*  beherrscht. 

Im  Vorliegenden  werden  wir  eine  Reihe  Ton  für  den  ärztlichen  Prak- 
tiker bestimmten  Einzeldarstellungen  über  ^Sexualtrieb  und  Sexualleben  des 
Metaschen^  vorlegen.  Es  sind  zwar  merkwürdige  ond  doch  —  notwendige 
'Themata.  Mag  auch  mancher  Leser  verwundert  sein  über  dieses  Verbum 
pro  donno,  so  muss  er,  will  er  offen  sein,  bekennen,  dass  bisher,  trotzdem 
der  Büchermarkt  mit   wiasenschaftlicheo  "—  besonders  aber  fopfiUUren'  — 


—    10    - 

medizioischen  Werken  über  sexaelle  Themata  ttberschwemmt  ?rird,  kein 
Werk  existierte,  welches  ihn  .in  kurzer,  prftciser  und  -^  was  das 
Wichtigste  —  wissenschaftlicher  Darstellong  den  Sezoaltrieb  mit  dem 
darans  eoitspringenden  Sexaalieben  yor  Angen  fahrte.  Denn  betrachten  wir 
nur  einmal  onsei«  Faehlittaimtiir  nl^er,  wo  resp.  in  welchem  Lehrbnehe, 
Leitfaden,  in  welcher  Zisttsohrift  findet  d«r  Ldser  «twn  Ob— mi>i 
darüber?  Selbst  in  der  so  grossartig  angelegten  „Real- ßncyklop&die  der 
Medizin*"  von  Enlenbnrg  (1.— 3.  Anfl.)  findet  er  Ober  dieses  Gebiet  fast 
nichts  oder  nur  herzlich  wenig.  Er  yersache  sich  in  diesem  Werke  über 
Oeschlecbtstrieb ,  Anaesthesia  sexnalis,  Frigidität,  Dyspareunie,  Hyper- 
aesthesia  sexualis,  Koitus  normalis,  Koitus  interruptus,  künstliche  Befruchtung 
etc.  zu  unterrichten  und  •—  keine  Antwort  auf  air  diese  Dinge!  Wo  soll 
der  Arzt  Belehrungen  hierüber  suchen.  Er  findet  sie  teils  allein  in  den 
grossen  wissenschaftlichen  Werken  von  K r äfft- E bin g:  „Psychopathia 
sexualis**,  von  Moll:  „Die  konträre  Sexualempfindnng**  und  «Unter- 
suchungen über  die  Libido  sexualis***  m  Ploss-Bartels,  Max  Dessoir, 
Stratz  u.  a.  Werken.  Aber,  welcher  praktische  Arzt  hat  neben  seiner 
Berufsthätigkeit  Zeit,  und  wenn  er  diese  hätte,  Müsse,  die  genannten  hoch- 
interessanten,  aber  schwer  durchzuarbeitenden  Bücher  durchzustudieren? 

Mein  Bestreben  ging  dahin,  dieser  Lücke  abzuhelfen.  Langjährige 
theoretische  wie  praktische  diesbezügliche  Studien,  ferner  die  in  Zuschriften 
verschiedenster  Art  von  kollegialer  Seite  sich  kundgebende  freundliche  Auf- 
nahme meiner  Werke:  „Krankhafte  Samen  Verluste,  Impotens  und  Sterilität 
des  Mannes**  (Leipzig,  Konegen)  und  der  „Masturbation**  (Berlin,  Fischer) 
bestimmten  mich,  die  vorliegenden  Vorlesungen  herauszugeben. 

Wissenschaftlichkeft,  verbunden  mit  Klarheit  und  Kürze 
in  der  Darstellung  waren  mein  Hauptziel.  Möchte  es  mir  geglückt 
sein,  dasselbe  zu  erreichen,  um  unser  Thema  dem  geistigen  Auge  des  Lesers 
nahe  zu  rücken,  und  zum  eigenen  Nachdenken  anzuregen.  Ich  war  femer 
bestrebt,  bei  dem  heiklen  Stoffe  den  richtigen  Ton  in  der  Darstellung  zu 
finden  und  wandte,  wo  immer  möglich,  termini  technici  resp  lateinische 
Worte  an,  wie  schon  der  Titel  des  Werkes  ergiebt. 

Mögen  diese  Darstellungen  den  Leserkreis  suchen,  für  den  sie  allein 
bestimmt  sind,  den  ärztlichen,  und  beitragen  zum  Verständnis  dieses  für 
den  Arzt  so  wichtigen  und  bisher  leider  nur  als  Stiefkind  bebandelten  Gebietes. 

Leipzig,  im  August  1900.  ^        -^    .  -      . 

Dr.  Rohleder. 


Inhalts- Verzeichnis. 

L  Der  normale  und  anormale  Geschlechtstrieb. 

L  Der  normale  Geschlechtstrieb.  IL  Der  fehlende  oder 
mangelhafte  Geschlechtstrieb,  a)  Paradoxia  libidinis  sexnalis  im 
Kindesalter,  b)  im  Greisenalter.  Anapbrodisia  sexualis  totalis  u.  partialis. 
Frigiditas organica idiopatbica.  III.  Die  mangelnde  Wollustempfindung 
(Dyspareunie).      Diagnose    derselben.     IV.     Abstinentia     sexualis. 

V.  Hyperaesthesia     sexualis.      A.     Satyriasis      ß.     Nymphomanie. 

VI.  Geschlechtstrieb  bei  fiermaphroditismus.   VIL  Gesc^echtj^i 
trieb  bei  Kastrierten,  a)  bei  Kastrierten,  b)  bei  Eunuchen. 


—  11  — 

II«  Die  normale  und  anormale  Gohabitation« 

I.  Der  normale  Koitus,  a)  Physiologie  desselben  beim  Manoe,  b)  bei 
der  Frao,  c)  Physiologie  der  OooceptioD,  d)  Orgasmas,  das  Wollostgefühl. 
Physiologische  o.  tberapeut.  Wirkung  des  Koitas.  IL  Der  flberm&ssige 
natürliche  sexuelle  Verkehr  und  seine  Folgen.  1.  Neora^thenia 
sezaalis.  2.  Allgemeinschwächung  des  Organismns,  Blotarmnt  nnd  Muskel - 
schwäche.  8.  Die  Folgen  fOr  das  Qehiru.  4.  Sinoeserkranknogen  als 
Folgeo,  a)  Augen-,  b)  Ohren-  u.  c) Qemchserkrankungen.  5.  Verdanungs- 
BtöruDgen  als  Folgen.  6.  Oirculations-  und  Respiration sst Orangen  als 
Folgen.  7  Die  Folgen  für  die  Qenitalien.  III.  Vaginismus.  IV.  Koitus 
interruptus,  a)  dessen  Folgen  fürs  männliche,  b)  fürs  weibliche  Geschlecht. 
V.  Neomalthusianismus.  Bistoriecher  Rückblick.  Betrachtung  vom 
rein  medizinischen  Standpunkt.  Seine  Notwendigkeit  bei:  1.  Herz- 
leiden. 2.  Lungenerkrankungen.  3.  Beckenanomalien.  4.  Geisteskrank- 
heiten. 5.  Haemophilie.  Die  Mittel  des  Neomalthusianismus.  I.  Die  natür- 
lichen, IL  die  künstlichen  Mittel,  a)  Die  mechanischen  Mittel:  Condom, 
Mensingas  Pessarium  occlusivum,  Sicherbeitsschwämmchen ,  Hohlkugeln, 
b)  Die  chemischen  Mittel:  Vaginalsuppositorien  nach  Klein  Wächter,  Pulver- 
bläser, Spülungen.    Autoren  urteile  über  Neomalthusianismus. 

in.  Die  Conception  (natürliche  vnd  kflnstliche). 

I.  Die  natürliche  Befruchtung.  Das  Sperma.  Die  Ovulation.  Nähere 
Vorgänge  bei  der  Conception.  Ort  der  Befruchtung  Die  geschlecht^che 
Bestimmung  des  Embi7o.  1.  Schon  bei  der  Befruchtung.  2.  Schon  im 
Qvarinm.  3.  Durch  Ernährung  (Schenk).  IL  Die  künstliche  Be- 
fruchtung,   Indicationen  u.  Bedingungen  dazu.    Ausführung  derselben. 


Die  flasturbatioD. 

Eine  Monographie  für  Aerzte  und  Pädagogen 

von 

Dr.  med.  Hermann  Rohleder. 

Mit  Vorwort 

von 

Geh.  Oberschulrat  Dr.  phIL  H.  Schiller, 

Gynmasialdirektor  and  Professor  an  d«r  UnivarsiUt  (Hessen. 

Motto:  Die  Krankheiten  der  Ge- 
sellschaft können  ebensowenig  als  die  Krank- 
heiten des  Körpers  gehindert  oder  geheilt 
wt'rden,  ohne  dass  man  offen  Ton  ihnen 
spricht*  John  Htnart  Mill. 

Preis  geheftet  6  lark,  gebuden  7  lark. 

Die  ScLrift  des  Dr.  med.  H.  Rohleder  behandelt  ein  onerfreoUches  and 
dQsteres  Kapitel  des  Jogendalters.  Die  Pädafifogie  entzieht  sich,  wie  man 
ihr  ja  aach  nicht  yerObeln  kann,  gerne  seiner  Kenntnisnahme,  denn  die  Be- 
kämpfung und  Beseitigong  dieses  yerbreiteten  Üebels  ist  äasserst  schwierig, 
nnd  der  Einfloss  der  Schale  kann  sich  nur  sehr  vorsichtig  im  Verein  mit 
dem  Bltemhaose  und  dem  Arzte  geltend  za  machen  soohen.    In  der  deli- 


katen  Nator  des  Übels  nod  aeiner  Festatellnng  ond  Behaadluog  liegt  es  be- 
gründet,  dass  all»  diese  Faktoren  nor  schwer  sich  sil  gemeinsamer  Tb&tigkeit 
vereinigen  lassen.  Der  tiefere  Grand  ist  aber  meist  in  der  bestehenden 
Unkenntnis  über  die  Verbreitung  und  die  Verderblichkeit  des  Üebels  za 
suchen;  denn  die  2ahi  der  Pädagogen  und  der  Ärzte,  vollends  der  Eltern 
ist  klein,  die  Aber  diese  Frage  ausreichende  Erfahrung  besitzen. 

Dieser  Unkenntnis  oder  wenigstens  dieser  mangelhaften  Kenntnis  will 
Herr  Dr.  Robleder  durch  seine  Schrift  Abhilfe  schaffen,  und  bei  der  grossen 
Wichtigkeit  der  Frage  fOr  Eltern,  Ärzte  und  Lehrer  ist  nur  zu  wünschen, 
dass  sein  Buch  in  diesen  Kreisen  eine  recht  grosse  Verbreitung  erlange. 
Bestehen  auch  noch  manche  Meinungsverschiedenheiten  aber  Ausdehnung 
und  richtige  Bekämpfung,  so  können  diese  doch  nur  allmählich  überwunden 
werden,  wenn  alle  Betheiligten  ihr  Interesse  der  Frage  zuwenden,  und 
dazu  wird  ihnen  das  vorliegende  Buch  wertvolles  Material  und  eine  kräftige 
Anregung  bieten. 

Ol  essen.  Qeh.  Oberschulrat  Prof.  Dr.  H.  Schiller. 


Vorwort. 

Das  vorliegende  Werk,  welches  ich  hiermit  der  Öffentlichkeit  übergebe, 
bedarf,  wie  ich  glaube,  keiner  Rechtfertigung  seines  Erscheinens.  Denn 
eine  Monographie  über  die  Onanie  ist  meines  Wissens  in  Deutschtand  in 
letzter  Zeit  überhaupt  noch  nicht  erschienen,  ja,  „eine  Litteratur  über  die 
Onanie  existiert  als  solche  nicht'',  sagt  Für  bringer  in  seiner  Randnote 
unter  dem  Artikel  „Onanie**  in  der  Realen cyklopädie  der  gesamten  Heil- 
kunde von  Eulenburg.  II.  Aufl.  Man  fragt  sich  unwillkürlich:  Woran  liegt 
dies?  Etwa  an  der  Unwichtigkeit,  welche  die  Onanie  im  Leben,  in  der 
ärztlichen  Praxis  spielt?  Doch  sicherlich  nicht.  Denn  jeder  Kenner  ein- 
schlägiger Verhältnisse  wird  zugeben,  dass  die  Onanie  eine  ungeheure 
Verbreitung  —  leider  —  gefunden  hat.  Um  so  gerechtfertigter  muss  es 
erscheinen,  wenn  in  einer  Monographie  einmal  die  nOthige  Aufklärung  über 
diese  geschlechtliche  Unart,  ihr  Wesen,  ihre  Bedeutung,  ihre  Ursachen  und 
Folgen  für  den  körperlichen  Gesamtorganismus,  ihre  Verhütung  und  ihre 
Heilung  gegeben  wird.  Wissenschaftlich- theoretische,  wie  ärztlich-praktische 
Studien  mit  der  Onanie  bestimmten  mich«  das  vorliegende  Buch  zu  verfassen 
und  in  einer,  wie  ich  hoffe,  für  den  praktischen  Arzt  ond  auch  den  Er- 
zieher unserer  Jugend  nutzbringenden  Weise  zu  bearbeiten.  Wenigstens 
glaube  ich,  dass  manchem  Kollegen,  der  mitten  iu  der  Praxis  steht,  des 
Öfteren  schon  eine  umfassende  Belehrung  über  die  Onanie  erwünscht  ge- 
wesen wäre.  Ich  unternehme  es  daher,  in  diesem  Buche  das  meines  Er^ 
achtens  auch  für  die  tägliche  Praxis  Wissenswerteste  aus  dem  Kapitel  der 
«Onanie*'  niederzulegen,  und  hoffe,  vielen  Kollegen  eine  erwünschte  Gabe 
geboten  su  haben. 

Es  soll  dies  Werk  fflrs  erste  dem  ärztlichen  Praktiker  und  Erzieher 
einmal  einen  Einblick  gestatten  in  die  ungeheure  Bedeutung,  die  die  Onanie 
im  alltäglichen  Leben  spielt,  ihm  ein  Bild  geben  von  ihrer  Verbreitung; 
wie  von  dem  krankhaften  Triebe,  dem  Hang  zur  Onanie  Tausende  und 
Abertausende  unserer  Mitmenschen  beherrscht  werden.  Anderseits  soll  es 
ihn  befähigen,  den  Ooanisten  als  solchen  zu  verstehen  und  nicht  gleich,  wie 
es  meist  geschieht,  den  Stab  über  ihn  zu  brechen,  eis  Abscheu  und  Aus- 
wurf von  Gesittung  ihn  zu  betrachten,  endlich  soll  es  ihn,  —  das  Wichtig^ste! 
in-  den  Stand  setzen,  aus  allgemeinen  Symptomen,  ans  dem  Wesen  und 
Gebahren  des  Onanisteo.  das  meist  ja  entschieden  geleugnete  Laster  zu 
erkennen,  um  vor  allen  Dingen  wirksam  dagegen  einzuschreiten,  denn  der 
Arzt  soll  es  .in  erster  Linie  «ein,  der  den  Lehrer,   die  Eltern,  jd^n.  Vor^ 

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—     13    - 

maDd,  korz  die  Erzieher  onserer  Jagend  aufmerksam  macht  auf  die  vor- 
liegende geschlechtliche  Unart  and  die  Mittel  zor  Bekämpfung  derselben 
an  die  fiand  giebt. 

ürsprtSnglich  hatte  ich  das  Werk  nnr  fOr  die  Bedürfnisse  des  Arztes 
allein  bestimmt,  daher  der'  medizinische  Charakter,  die  Schreibweise  des 
Baches.  Da  ich  aber  vom  Interesse  der  Sache,  die  dasselbe  vertritt,  and 
von  der  zwingenden  Notwendigkeit  der  Kenntnisnahme  der  Mastorbation 
von  Seiten  der  Erzieher  tief  durchdrungen  bin,  habe  ich  dasselbe  völlig 
umgearbeitet  und  die  Interessen  der  Erzieher,  sowohl  Lehrer  wie  gebildeter 
Eltern  genügend  berücksichtigt.  Denn  der  Kernpunkt  des  ganzen  Werkes, 
das.  Punctum  saliens  desselben  ist,  zu  zeigen,  dass  die  beste  Prophylaxe 
der|; Onanie  wie  aller  sexueller  Laster  des  Lebens  in  einer  vernunftgem&ssen 
Erziehung  zur  Selbstbeherrschung,  zur  sexuellen  Enthaltsamkeit  liegt.  Dass 
vorzüglich  die  Lehrerschaft,  nicht  aber  die  Geistlichkeit  dabei  beteiligt  ist, 
ist  auch  die  Ansicht  anderer,  gewiss  von  wahrer  Religiosit&t  beseelter 
Autoren.  So  meint  auch  Ribbing,  dass  Arzt  und  Erzieher  das  erste  Wort 
hier  mitzureden  haben,  und  für  die  Mitglieder  des  geistlichen  Standes  es 
ganz  unmöglich  ist,  eine  Frage,  wie  die  unsere,  nach  allen  Seiten  zu  be- 
urteilen. 

Es  richtet  sich  das  Bach  an  die  Adresse  von  sittlich  gereiften  Männern, 
die  voll  und  ganz  den  Zweck  desselben  verstehen  werden.  Um  unser 
Laster  mit  all  seinen  Schattenseiten  zu  schildero,  durfte  daher  nicht  zu- 
rückgeschreckt werden  selbst  vor  Vorführung  von  Beispielen  gemeinster 
sittlicher  Verworfenheit.  Doch  „es  ist  das  traurige  Vorrecht  der  Medizin, 
dass  sie  beständig  die  Kehrseite  des  menschlichen  Lebens,  menschliche 
Armseligkeit  und  menschliche  Schwäche  schauen  muss.  Pflicht  und  Recht 
der  medizinischen  Wissenschaft  zu  diesen  Studien  erwächst  ihr  aus  dem 
hohen  Ziel  aller  menschlichen  Forschung  und  Wahrheit.**  (v.  K  rafft - 
fibing,  Psychopathie  sexoalis.)  Dass  ich  dennoch  einen,  dem  Zweck  der 
Sache  angemessenen  Ton  in  der  Darstellung  eingeschlagen  habe,  wird  mir 
wohl  Jeder  zusehen. 

Wer  die  Schwierigkeit  der  Abfassung  eines  umfangreichen  Manuscriptes 
in  den  Mussestunden  nach  angestrengter  ärztlicher  Berufsarbeit  kennt,  wird 
mir  für  hin  und  wieder  auftretende  Wiederholungen,  die  ausserdem  femer 
in  der  Natur  der  Sache  begründet  sind,  die  hierfür  erbetene  Nachsicht 
nicht  schlichtweg  versagen.  Hierzu  kommt  noch,  dass  die  Litteratur  über 
unser  Thema  so  ausserordentlich  zerstreut  ist  und  deren  Titel  oft  so  wenig 
wie  nur  irgend  etwas  mit  der  Onanie  im  Zusammenhang  zu  stehen 
scheinen,  dass  nur  Derjenige,  der  die  S  ach  Verhältnisse  kennt,  die  Schwierig- 
keit der  Beschaffung  und  des  Studiums  der  einschlägigen  Litteratur  ver- 
stehen wird.  Ich  habe  es  daher  nicht  für  wertlos  gehalten,  sämtliche, 
mir  zu  Gebote  gestandene  Litteratur  am  Eingange  des  Buches  anzotohren. 

Habent  sua  fata  libelli.  MOge  diesem  Werke,  dessen  einziger  Zweck 
ist,  Nutzen  zu  verbreiten,  ein  gütiges  Geschick  beschieden  sein,  mO^e  es 
eine  Lücke  ausfüllen  in  der  Otteratur  und  Aufnahme  finden  in  jenen 
Kreisen,  für  die  es  bestimmt  ist,  um  anzuregen  zur  Mitbekämpfung  jener 
verheerendsten  aller  Volksseucheu  und  dadurch  beitragen  zur  Besserung  bei 
dem  Ersiebungswerk  unserer  Jugend,  der  Erhaltung  eines  grossen  Teiles 
unserer  Volkskraft. 

Leipzig.  Dr.  Robleder. 


Inhaltsverzeichnis. 

Vorwort.  Litteratur.  Einleitung.  Definition.  Geschichtliches.  Arten 
und  Formen  der  Onanie.  Üebergang  der  Onanie  in  sexuelle  Psychopathie. 
Wesen  der  Onanie.  Verbreitung  der  Onanie.  Onanie  J^^^t^jz^^ii^o^^t^ 
in  den  verschied.  Lebensaltern.    Ludelbeweguugen.         '^  "^^    ^  o 


-   u   ~ 

L    Ursachen  der  Onanie.    (Aetiologfe.) 

A.  Physiologische,   im  Körper  liegende  Ursachen  der  Onanie. 
Allzo  lebhaftes  Temperament.    Krankhaft  gesteigerter  Geschlechtstrieb. 

Abi^eichongen  Tom  normalen  Qeschlechtstrieb.  £ine  übermässig  frühzeit. 
geistige  Entwickelung.  Körperliche  Gebrechen  nnd  Krankheiten.  Nervöse 
Störongen.  Die  fiaatkrunkbeiteo.  Die  parasitären  Erkrankungen.  Innere 
Erkranknntren.  Geistes-  und  Hirnkrankheiten.  Erkrankungen  der  Geschlechts- 
organe, Die  Erblichkeit.  Fanlheit  and  Müssiggang.  Die  moralische 
Schwäche,  die  Willensschwäche. 

B.  Die  aasserhalb  des  Körpers  liegenden  Ursachen  der  Onanie. 

Falsche  Erziehang.  Die  falsche  häusliche,  falsche  öffentliche  Er- 
ziehung. In  den  Kinderkrippen  nnd  Kleinkinderbe wahranstalten.  In  den 
Kindergärten.  In  der  Schule  etc.  1.  fehlerhafte  körperliche,  2.  verkehrte 
geistige  Erziehung,  8.  Gelegenheitsarsachen  in  der  Schule.  Verdorbene 
Fantasie.  Falsche  Ernährung.  Medikamente.  Falsche  Kleidung.  Beschäftigung. 
Jahreszeiten  und  Klima.  Soziale  Verhältnisse  und  Armut.  Sexuelle  Ab- 
stinenz. Unglückliche  Ehe.  Furcht  vor  allsu  grossem  Kindersegen.  Furcht 
vor  geschlechtlicher  Ansteckung     Impotenz. 

n.    Pathologie  der  Onanie. 

m.    Folgen  der  Onanie. 

1.  Folgen  für  das  betreffende  Individuum  selbst. 
Wirkungen  des  Spermaverlustes.  Wirkungen  der  Onanie  im  Vergleich 
zum  Coitus  natuialis-  Folgen  der  Onanie  für  das  Nervensystem,  auf  die 
Sinnesorgane,  Auge  und  Gehör.  Folgen  der  Onanie  für  die  geistigen  Ffihig« 
keiten.  Onanie  und  Nymphomanie  resp.  Satyriasis.  Folgen  der  Onanie 
für  die  Verdauungsorgane,  Respirations-  und  Zirknlationsorgane.  Folgen 
der  Onanie  für  das  Moskelsystem,  für  die  Genitalien:  Organische  und  funk- 
tionelle Störungen.  Folgen  der  Onanie  für  die  Oohabitation.  Allgemein- 
verlauf der  Onanie  in  ihren  Folgen.  Stadium  der  physischen  und 
psychischen  Verstimmung.  Stadium  der  nervösen  Erkrankungen.  Stadium 
der  leichteren  Psychosen.  Folgen  der  Onanie  für  die  Moral  und  für  den 
Charakter. 

2.    Folgen  der  Onanie  tOr  die  menschliche  Gesellschaft. 
lY.  Diagnose  der  Onanie.    Y.  Prognose  der  Onanie. 

YI.    Therapie  der  Onanie. 

Prophylaxe. 
Prophylaxe    durch    häusliche    und    öfifentliche   Erziehung.     Prophylaxe 
durch  richtige  Ernährung  und  richtige  Bekleidung.    Prophylaxe  durch  ver« 
nünftige  Lebensweise.     Prophylaxe  durch  Anerziehung  von   Willensstärke. 

Therapie. 
Behandlung  der  Onanie  im  Allgemeinen.  Behandlung  der  auf  Er- 
krankung, auf  perversem  Geschlechtstrieb  beruhenden  Onanie.  Die  psychisch- 
suggestive  Therapie.  Die  medikamentöde  und  in  Strumen  teile  Tnerapie; 
operative  Therapie.  Die  Ehe  als  therapeutisches  Moment.  Der  ausserehe- 
liche  Coitus  als  therapeutisches  Moment.  Die  Anstaltsbehandlnng.  Zur 
Beurteilung  des  Onanisten.    Schlusswort. 


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