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Full text of "Jahrbuch für sexuelle zwischenstufen mit besonderer berücksichtigung der homosexualität"

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Jahrbuch 

für 

sexuelle  Zwischenstufen 

mit  besonderer  Berücksichtigung  der 

Homosexualität 


Herausgegeben  unter  Mitwirkung  namhafter  Autoren 
im  Namen  des  wissenschaftlich -humanitären  Komitees 


Dr.  med.  Magnus  tlirschfeld, 

prakt.  Arzt  in  Charlottenburg. 


VI.  Jahrgang. 


Leipzig. 

Verlag  von  Max  Spohr. 

1904. 


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Inhaltsverzeichnis. 


Seite 
Homosexualität  und  Bürgerliches  Gesetzbuch.    Von  Dr.  jur. 

Numa  Praetorius 1 

Erster  Abschnitt    Homosexualität  und  Ehe   ...        8 
Zweiter  Abschnitt    Homosexualität  und  Entziehung 
des  Pflichtteils  (bezw.  des  standesgemäßen  Unter- 
halts)       88 

Dritter  Abschnitt.    Homosexualität  und  Handlungs- 
fähigkeit      36 

Der  Uranier  vor  Elirche  und  Schrift.  Eine  Studie  vom  ortho- 
dox-evangelischen   Standpunkt       Von    Prof.    Caspar 

Wirz,  V.  D.  M 68 

Das  Ergebnis  der  statistischen  Untersuchungen  über  den 
Prozentsatz    der   Homosexuellen.      Von    Dr.    Magnus 

Hirschfeld 109 

Die  physiologische  Freundschaft  als  normaler  Gruudtrieb 
dies  Menschen  und  als  Grundlage  der  Soziabilität.    Von 

Dr.  Benedict  Friedlaender 179 

1 03  Beobachtungen  von  mehr  weniger  hochgradiger  Entwicke- 
lung  einer  Grebännutter  beim  Manne  (Pseudohermaphro- 
ditismus  masculinus  internus).    Mitgeteilt  von  Dr.  Franz 

von  Neugebauer-Warschau 215 

58  Beobachtungen  von  periodischen  genitalen  Blutungen 
menstruellen  Anscheins,  pseudomenstruellen  Blutungen, 
Menstruatio  vicaria,  Molimina  menstrualia  usw.  bei  Schein- 
zwittem.  Mitgeteilt  von  Dr.  Franz  von  Neugebauer- 
Warschau    277 


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—     rv     — 

Seite 
Vorläufige  MitteiliiDgen  über  die  Darstellang  eines  Schemas 

der  Geschlechtsdifferenzierongen.    Von  L.  S.  A.  M.  von 

Böm  er- Amsterdam 827 

Aus  dem  Seelenleben  des  Grafen  Platen.   Von  Prof.  Ludwig 

Frey 357 

Die   Bibliograpliie   der   Homosexualitftt  für  das  Jahr  1903. 

Von  Dr.  jur.  Numa  Praetorius 449 

Teil  I.   Homosexuelle  Schriften  mit  Ausnahme  der 

Belletristik      .    .  ' 457 

Teil   II.    Belletristik 595 

TeilUL    Besprechungen 642 

Jahresbericht  1903—1904 647 

Abrechnung  für  1903 729 


Bilderverzeichnis. 


Graf  V.  Platen- Hallermünde Titelbild 

Photographie  eines  femininen  Mannes 327 

Photographie  zweier  Frauen  mit  Vollbärten 449 

Bild   aus   dem  Kopenhagener   ,, Verbrecheralbum":   Ein   im 
Jahre  1869  wegen  „widernatürlicher  Unzucht"  verhafteter 

„Mann" 646 

Standbild  des  Kaisers  Hadrian  auf  der  Saalburg,  enthüllt  am 

16.  Juni  1904 729 

Standbild  von  F.  A.  Krupp  in  Kiel,  enthüllt  am  22.  Juni  1904  730 


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Homosexualität 

und 

Bürgerliches  Gesetzbuch. 


Von 


Dr.  jur.  Numa  Praetorius. 


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Einleitung. 

Die  Hauptbedeutung  der  konträren  Sexaalempfindung 
für  die  Jurisprudenz  liegt  auf  dem  Gebiete  des  Straf- 
rechts, der  praktisch  wichtigste  Konflikt  der  Homo- 
sexualität mit  dem  Gesetz  wird  durch  §  175  des  Straf- 
gesetzbuchs hervorgerufen,  der,  trotzdem  hunderte  von 
Männern  aller  Wissenschaften  und  aller  Berufe,  Medi- 
ziner, Juristen,  Gelehrte  aller  Fächer  seine  Aufhebung 
verlangen,  immer  noch  fortbesteht  und  die  Homosexuellen 
wegen  ihres  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  mit  schimpf- 
licher Strafe  bedroht. 

Bei  dieser  Wichtigkeit  der  strafrechtlichen  Seite 
der  Homosexualität  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn 
gerade  sie  immer  wieder  zum  Gegenstande  der  Erörte- 
rung gemacht  wird,  während  das  Verhältnis  der  Homo- 
sexualität zum  Zivilrecht  so  gut  wie  nicht  behandelt 
worden  ist.  ^)  Eine  gleich  große  Bedeutung  wie  im  Straf- 
recht kommt  der  Homosexualität  im  Zivilrecht  nicht  zu, 
aber  auch  hier  spielt  sie  eine  Rolle  bei  einer  Anzahl  von 
Rechtsverhältnissen,   auch  hier  werden  manche  Fragen 


^)  Nur  Moll  berübrt  das  Thema  ia  seiner  Konträren 
Sexualempfindung,  3.  Aufl.,  S.  503  u.  S.  580 — 583,  ferner  in 
seinen  Untersuchungen  über  die  Libido  sexualis,  Bd.  I, 
Tl.  2,  S.  693—695;  zu  erv^ähnen  ist  außerdem  eine  von  Moll 
angeführte  Arbeit  von  Allan  M^Lane  Hamilton,  The  civil 
responsibility  of  sexual  pervcrts,  in  American  Journal  of 
Insanity,  April  1896,  Nr.  4,  welche  mir  leider  nicht  zugäng- 
lich war. 

1* 


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—     4      — 

eine  verschiedene  Lösung  erfahren,  je  nachdem  man 
Wesen  und  Natur  der  konträren  Sexualempfindung  auf- 
faßt Im  Zivilrecht  gleichfalls  wird  das  bisherige  Vor- 
urteili  welches  in  der  Homosexualität  ein  Laster  und 
schändliches  Verbrechen  erblickt,  zu  ganz  anderen  Resul- 
taten führen,  als  die  Feststellung  der  Wissenschaft,  wo- 
nach die  gleichgeschlechtliche  Liebe  den  Ausfluß  eines 
dem  Organismus  eingepflanzten  Triebes  darstellt.  Auf 
dem  Gebiete  der  Homosexualität  ist  zwar  noch  manches 
streitig.  Aber  soviel  steht  doch  schon  auf  Grund  der 
wissenschaftlichen  Forschung  der  letzten  30  Jahre  fest, 
daß  die  bisherige  Auffassung  des  gleichgeschlechtlichen 
Verkehrs  als  eines  Lasters  und  einer  strafwürdigen  Im- 
moralität  für  fast  alle  Fälle  falsch  war  und  daß  die 
Urninge  nicht  gleichsam  willkürlich  die  normalen  Ge- 
fühle aufgegeben  haben,  um  sich  aus  freien  Stücken  der 
Männerliebe  zuzuwenden,  sondern  daß  sie  —  wie  Krafi't- 
Ebing  in  einem  seiner  letzten  Gutachten  so  trefl'end  sich 
ausdrückt  —  lediglich  „dem  Gesetz  in  ihren  Gliedern 
folgen". ') 

Noch  nicht  völlig  aufgeklärt  ist  dagegen  die  Frage 
über  die  Entstehung  der  konträren  Sexualempfindung; 
Ob  und  zu  welchem  Prozentsatz  dieser  Trieb  infolge 
zwingender  Assoziation  in  frühester  Kindheit  oder  im 
Pubertätsalter  auf  Grund  äußerer  und  innerer  Umstände 
sich  entwickelt  oder  ob  er  im  Embryo  schon  latent 
existiert  und  in  der  Bisexualität  des  Fötus  seinen  Ur- 
sprung hat  (einerseits  Binet,  Schrenk-Notzing  usw.,  an- 
dererseits EUis,  Hirschfeld,  Krafl't-Ebing,  Moll,  Näcke  usw.). 

Für  die  rechtliche  Beurteilung  der  Homosexualität 
sind  diese  Fragen  aber  überhaupt  ohne  Bedeutung,  da- 

')  Krafft-Ebing,  Drei  Konträrsexuale  vor  Gericht, 
in  den  Jahrbüchern  für  Psychiatrie  und  Neurologie, 
Bd.  XIX,  Heft  2,  1900.  (Vgl.  mein  Referat  in  diesem  Jahrbuch^ 
JJd.  III,  S.  378.) 


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-.     5     - 

gegen  ist  von  einschneidender  Wichtigkeit  die  Tatsache^ 
daß  unter  den  maßgebenden  Forschern  jedenfalls  das 
ah  zweifellos  gilt,  daß  es  sich  bei  den  Homosexuellen 
nicht  um  Wüstlinge  und  Verbrecher,  sondern  um  Leute 
mit  anormaler  Oeschlechtsrichtung  handelt,  mag  nun 
diese  Geschlechtsrichtung  stets  eingeboren  oder  öfters 
erworben  sein. 

Eine  wichtige  Rolle  wird  sodann  auch  im  Zivilrecht 
die  bestrittene  Frage  spielen  und  je  nach  ihrer  Beant- 
wortung zu  anderen  Ergebnissen  fahren  müssen,  ob  die 
Homosexualität  eine  krankhafte  oder  natürliche  Erschöi- 
nung  ist. 

Beztighch  dieses  Punktes  lassen  sich  wohl  drei  Haupt- 
meinungen unterscheiden: 

'  1.  Die  erste  geht  im  wesentlichen  dahin,  daß  die 
konträre  Sexualempfindung  stets  krankhaft  sei,  jedoch 
nicht  als  vereinzelte  krankhafte  Erscheinung  vorkomme, 
sondern  nur  ein  Symptom  einer  allgemeinen  Degenera- 
tion, nur  einen  Teil  eines  Komplexes  von  geistigen  Er- 
krankungen darstelle.  Als  Hauptvertreter  dieser  zahl- 
reichen Gruppe^)  konnte  bis  vor  kurzem  KrafFt-Ebing ^ 

*j  Vgl.  die  bei  Moll,  Untersuchungen  Über  die  Libido 
sexualis,  Bd.  I,  Tl.  2,  S.  646figd.  angeführten  zahlreichen  An- 
hänger dieser  Meinung. 

*)  In  der  letzten  Zeit  Beines  Lebens  hat  sich  Krafft-Ebing 
mehr  der  unten  angeführten  dritten  Ansicht  zugewendet,  denn  in 
dem  Bericht  für  den  13.  internationalen  medizinischen 
Kongreß  zu  Pari«  1900  (abgedruckt  in  den  Archives  de 
Neurologie,  Vol.  X,  2.  söiie,  No.  59  u.  60,  vgl.  Jahrbuch  III, 
S.  384)  sagt  er,  daß  die  sexuelle  Perversion  nach  ihm  nur  das 
Äquivalent  des  normalen  Geschlechtssinnes  bilde,  und  in  seinen 
neueren  Studien  auf  dem  Gebiete  der  Homosexualität,  Jahrbuch  III, 
S.  7,  gelangt  er  zu  dem  Ergebnis,  daß  das  Vorhandensein  konträrer 
Sexualempfindung  „nicht  der  Annahme  einer  üngetrübtheit  der 
seelischen  Funktionen  präjudiziere  und  mit  normaler  geistiger 
Funktion  verträglich  sei**. 


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—     6     — 

gelten,  der  die  konträre  Sexualempfindung  in  den  ver- 
schiedenen Auflagen  seiner  Psychopathia  sexualis  als 
„funktionelles  Degenerationszeichen  und  Teilerscheinuiig 
eines  neuropsychopathischen ,  meist  hereditär  bedingten 
Zustandes"  definierte. 

2.  Die  zweite  Ansicht  erblickt  gleichfalls  in  der 
Homosexualität  stets  eine  krankhafte  Erscheinung,  nimmt 
aber  an,  daß  sie  auch  ganz  vereinzelt  als  einziges  Krank- 
heitssymptom bei  Menschen  anzutrefl*en  sei,  die  sonst 
keine  krankhaften  Anzeichen  aufwiesen.^) 

3.  Andere  endlich,  welche  gleichfalls  anerkennen, 
daß  die  Homosexualität  bei  sonst  durchaus  normalen 
Personen  vorhanden  sein  könne,  halten  sie  in  diesem 
Falle  nicht  für  krankhaft,  sondern  nur  dann,  wenn  sie 
—  was  allerdings  oft  zuträfe  —  einen  Teil  eines  Degene- 
rationszustandes bilde.  ^) 

Alle  Ärzte  stimmen  aber  darin  überein,  daß  die 
konträre  Sexualempfindung  jedenfalls  nur  eine  krankhafte 
Erscheinung  leichteren  Grades  und  niemals  eine 
eigentliche  Geisteskrankheit  im  engeren  Sinne  darstellt. 

Teilt  man  eine  der  beiden  ersteren  Anschauungen, 
sieht  man  also  in  der  konträren  Sexualempfindung  eine 
krankhafte  Erscheinung,  dann  wird  die  Homosexualität 
im  Zivilrecht  da  eine  Erörterung  nötig  machen,  wo  der 

*)  Moll,  Die  konträre  Sexualempfindung,  S.  407  flgd., 
und  Untersuchungen  über  die  Libido  sexualis,  Bd.  I, 
Tl.  2,  S.  732. 

*)  Ellis  u.  Symonds,  Das  konträre  Geschlechtsgefühl 
(deutsch  von  Kurella,  Bibliothek  für  Sozial  Wissenschaft, 
Bd.  VII).  —  Hirschfeld,  Die  objektive  Diagnose  der  Homo- 
sexualität, Jahrbuch' I. —  Derselbe,  Der  urnische  Mensch, 
Jahrbuch  V.  —  Näcke,  Probleme  auf  dem  Gebiete  der 
Homosexualität,  in  der  Allgemeinen  Zeitschrift  für 
Psychiatrie  und  psychiatrisch  •  gerichtliche  Medizin, 
Bd.  LIX,  Heft  6. 


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—     7     — 

Einfluß   geistiger  Störungen   in  Betracht  kommt,   d.  h. 
namentlich: 

a)  Bei  der  Deliktsfähigkeit,  d.  h.  bei  der  Verant- 
wortung für  unerlaubte  schädigende  Handlungen, 

b)  bei  der  Geschäftsfähigkeit, 

c)  bei  der  Entmündigung. 

Hält  man  dagegen,  wie  ich  es  tue,  mit  der  dritten 
Gruppe  die  konträre  Sexualempfindung  nicht  für  krank- 
haft, dann  kann  die  Frage  ihres  Einflusses  auf  die  Zu- 
rechnungsfähigkeit gar  nicht  aufgeworfen  werden. 

unabhängig  aber  davon,  ob  die  Homosexualität  als 
krankhafte  Erscheinung  zu  gelten  habe  oder  nicht,  wird 
sie  von  Bedeutung  werden: 

1.  bei  den  Voraussetzungen  der  Gültigkeit  der  Ehe 
und  der  Ehescheidung, 

2.  bei  gewissen  über  die  Enterbung  und  die  Ali- 
mentationspflicht geltenden  Grundsätzen. 

Da  die  meisten  Ärzte  die  konträre  Sexualempfindung 
als  krankhafte  Erscheinung  auffassen,  werde  ich  von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  die  Bedeutung  der  Homo- 
sexualität für  die  Deliktsfähigkeit,  Geschäftsfähigkeit  und 
Entmündigung  besprechen.  Die  praktische  Wichtigkeit 
dieser  Frage  ist  jedoch  eine  geringere,  im  Vergleich  zu 
dem  größeren  praktischen  Interesse,  das  die  Erörterung 
des  Einflusses  der  Homosexualität  auf  die  Ehe  be- 
ansprucht Deshalb  werde  ich  mit  der  Behandlung 
dieser  wichtigsten  Frage  beginnen  (erster  Abschnitt)  und 
nach  Besprechung  der  Beziehungen  zwischen  Homo- 
sexualität und  Enterbung  im  zweiten  Abschnitt  den 
dritten  Abschnitt  der  Frage  nach  dem  Einfluß  der 
Homosexualität  auf  die  Handlungsfähigkeit  widmen. 


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Erster  Abschnitt. 


Homosexualität  und  Ehe. 

Die  Homosexualität  kommt  im  Eherecht  nach  zwei 
Richtungen  hin  in  Betracht:  1.  bei  der  Frage  der  Gültig- 
keit der  Ehe,  2.  bei  der  Ehescheidung. 


Kapitel  I. 

Gültigkeit  der  Ehe. 

Eine  Ehe  kann  für  ungültig  erklärt  werden  aus 
zweierlei  Arten  von  Gründen:  Gewisse  Gründe  hindern 
überhaupt  das  gültige  Zustandekommen  einer  Ehe,  der- 
art, daß  die  Ehe  von  vornherein  nichtig  ist,  z.  B.  eine 
Ehe  zwischen  nahen  Verwandten;  aber  auch  in  diesen 
Fällen  bedarf  es  zur  Feststellung  der  Nichtigkeit  einer 
Klage,  der  sogenannten  Nichtigkeitsklage. 

Andere  Gründe  berechtigen  lediglich  zur  Anfech- 
tung der  Ehe;  hier  ist  die  Ehe  an  und  für  sich  gültig 
und  erzeugt  die  vollen  Wirkungen  einer  gültigen  Ehe, 
nachträglich  kann  aber  die  Ehe  mit  ihren  Wirkungen 
aufgehoben  werden,  derart,  daß  sie  als  von  vornherein 
nichtig  betrachtet  wird. 

Die  Ehe  ist  nichtig  oder  anfechtbar  nur  aus  den  in 
dem  Gesetz  ausdrücklich  bestimmten  Gründen. 


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—     9     — 

§  1- 

Was  nan  die  Nichtigkeit  anbelangt,  so  kennt  das 
Gesetz  unter  den  Nichtigkeitsgrtinden  nicht  das  Vor- 
handensein von  seelischen  oder  körperlichen  Zwischen- 
stufen. Zunächst  bilden  nicht  einmal  körperliche  Zwischen- 
stufen, körperliche  Hermaphrodisie  oder  Pseudoherma- 
phrodisie  (Mißbildungen  an  den  Oeschlechtsteilen)  einen 
Nichtigkeitsgrund. 

Obgleich  körperliche  Zwitter  schon  lange  bekannt 
sind,  hat  es  das  B.G.B.  abgelehnt,  besondere  Bestim- 
mungen für  die  Zwitter  zu  treffen.  Das  preußische  Land- 
recht  (I,  1,  §§  19 — 23)  enthielt  verschiedene  Vorschriften 
hinsichtlich  der  Zwitter.  Andere  Gesetze,  wie  der  Code 
civil,  das  badische  Landrecht,  das  österreichische  Gesetz- 
buch, übergehen  sie.  Ihrem  Beispiel  folgt  das  B.G.B. 
Die  Motive  (Mugdan,  „Materialien  zum  Bürgerlichen  Ge- 
setzbuch", Einführungsgesetz  und  Allgemeiner  Teil  I, 
S.  370)  besagen: 

„Nach  dem  heutigen  Stande  der  medizinischen 
Wissenschaft  darf  angenommen  werden,  daß  es  weder 
geschlechtslose,  noch  beide  Geschlechter  in  sich  ver- 
einigende Menschen  gibt,  daß  jeder  sogenannte  Zwitter 
entweder  ein  geschlechtlich  mißbildeter  Mann  oder  ein 
geschlechtlich  mißbildetes  Weib  ist.  Der  im  bayerischen 
Landrecht  I,  3,  §  2^  und  sächsischen  Gesetzbuch  §  46 
aufgenommene  Satz  des  römischen  Rechtes  (1  10,  D  1,  5), 
daß  der  Zwitter  dem  bei  ihm  überwiegenden  Geschlecht 
zuzuzählen  sei,  trifft  das  Richtige,  folgt  aber  aus  der 
Sachlage  von  selbst;  sobald  die  eine  oder  die  andere 
Form  erkennbar  vorliegt,  handelt  es  sich  um  eine  durch 
Feststellung  dieser  Form  lösbare  Ungewißheit.  Aller- 
dings mögen  auch  Mißbildungen  nicht  schlechthin  aus- 
geschlossen sein,  bei  welchen  die  Feststellung  des  wahren 
verdeckten  Geschlechts  durch  Untersuchung  des  Lebenden 


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—     10    — 

sich  Dicht  bewirken  läßt.  Es  wird  jedoch  ratsam  sein, 
von  solchen  entfernten  Möglichkeiten,  mit  welchen  auch 
das  bisherige  Recht  nicht  rechnet,  abzusehen  und  es  da- 
bei zu  belassen,  daß,  wenn  bei  der  Beurteilung  von  Ver- 
hältnissen in  Frage  kommt,  ob  eine  Person  dem  einen  oder 
dem  anderen  Geschlecht  angehört,  der  Sachverhalt  aber 
nicht  in  Gewißheit  gesetzt  werden  kann,  diejenigen  Rechts- 
folgen eintreten,  welche  sich  nach  den  Umständen  aus  dem 
Zustande  der  Ungewißheit  bezw.  Unerweislichkeit  ergeben." 
Diese  Ausführungen  erscheinen  mir  zum  großen 
Teile  recht  bedenklich.  Wie  die  neueren  Forschungen 
bewiesen  haben,  gibt  es  gar  nicht  selten  Fälle,  wo  es 
schwer,  ja  unmöglich  ist,  das  Gescfilecht  zu  bestimmen, 
und  wo  beide  Organe,  das  eine  mehr  oder  weniger  ent- 
wickelt als  das  andere,  vorhanden  sind.  ^)  Aber  auch  da, 
wo  ein  Organ  entschieden  überwiegt  und  nur  verkümmerte 
Rudimente  des  anderen  bestehen,  genügt  doch  die  Tat- 
sache, daß  solche  Wesen  oft  jahrelang  dem  dem  geringer 
entwickelten  Organ  entsprechenden  Geschlecht  zugezählt 
werden  und  oft  auch  den  sexuellen  Trieb  dieses  Ge- 
schlechts verspüren,  um  zu  zeigen,  daß  es  eine  gewisse 

*)  Vgl.  vor  allem  die  bedeutsamen  Arbeiten  von  Neugebauer 
in  diesen  Jahrbüchern,  Bd.  IT,  IV  und  V,  ferner  Dr.  Theodor 
Landau,  Über  Hermaphroditen,  nebst  einigen  Bemer- 
kungen über  die  Erkenntnis  und  die  rechtliche  Stellung 
dieser  Individuen,  in  der  Berliner  Klinischen  Wochen- 
schrift, 13.  April  1903,  Nr.  15,  welcher  hervorhebt,  daß  es  oft  unmög- 
lich ist,  das  Geschlecht  eines  sogenannten  Hermaphroditen  zu  be- 
stimmen, und  es  für  unverständlich  erklart,  daß  das  B.G.B.  keine 
Bestimmung  über  Zwitter  triflPt.  Tatsächlich  träfen  die  Voraussetzungen 
der  Motive  nicht  zu  und  darum  liege  eine  offenkundige  Lücke  des 
Gesetzes  vor.  —  Vgl.  auch  die  daselbst  zitierten  Worte  von 
Virchow,  „es  gäbe  Leute,  bei  denen  überhaupt  keine  ausgeprägten 
Geschlechtsdrüsen  vorhanden  seien.  Es  existiere  wirklich  ein  Indi- 
viduum neutrius  generis.  Man  könne  sich  daher  anstellen  wie 
man  wolle,  so  werde  man  eben  doch  nicht  sagen  können,  es  sei 
eine  Frau  oder  ein  Mann." 


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—  11  — 

Willkür  bedeutet,  sie  einem  bestimmten  Geschlecht  ein- 
zureihen und  göltige  Ehen  solcher  Zwitter  wie  zwischen 
Mann  und  Frau  zuzulassen. 

Ebensowenig  wie  das  körperliche  Zwittertum  sind 
die  seelischen  Zwischenstufen  unter  den  Nichtigkeits- 
gründen aufgenommen. 

§2. 

Nun  gibt  es  allerdings  eine  ganze  Reihe  von  Gründen, 
die  im  Gesetz  nicht  aufgezählt  sind,  die  aber  das  Zu- 
standekommen einer  Ehe  hindern,  nämlich  alle  die  Fälle, 
wo  es  überhaupt  an  der  natürlichen  Grundlage  einer  Ehe 
fehlt,  wo  eine  Verbindung  vorliegt,  die  gar  nicht  An- 
spruch erheben  kann,  auch  nur  den  Schein  derjenigen  Ver- 
bindung zu  bieten,  welche  das  Gesetz  als  Ehe  verstanden 
haben  will,  so  z.  B.  eine  Ehe  zwischen  Kindern  unter 
7  Jahren  oder  eine  Ehe  zwischen  Männern,  da  die  Ehe 
ihrem  BegriflF  nach,  wie  ihn  das  Gesetz  kennt.  Erwach- 
sene und  Personen  verschiedenen  Geschlechts  voraus- 
setzt. In  allen  diesen  Fällen  bedarf  es  gar  keiner  Klage 
zur  Feststellung  der  Nichtigkeit,  es  liegen  nur  tatsächliche 
Verhältnisse  vor,  an  die  sich  irgend  welche  rechtlichen 
Folgen  nicht  knüpfen.  ^)  Demnach  wäre  z.  B.  eine  Ehe, 
die  ein  Homosexueller  mit  einem  anderen  Homosexuellen 
oder  mit  einem  Normalen  einginge,  z.  B.  in  Weiberklei- 
dung unter  Beibringung  falscher  Papiere  und  Täuschung 
des  Standesbeamten,  ganz  und  gar  nichtig.  Jedermann 
könnte  sich  trotz  des  vollzogenen  Trauaktes  auf  die 
Nichtigkeit  berufen,  einer  Feststellung  der  Nichtigkeit  be- 
dürfte es  nicht. 

Es  ließe  sich  nun  fragen,  ob  derartigen  Fällen  nicht 
die  Fälle,  wo  ein  Homosexueller  eine  Frau  heiratet, 
gleichzustellen  wären. 

*)  Vgl.  Endemann,  Einführung  in  das  Studium  des 
B.G.B.  Ein  Lehrbuch  des  bürgerlichen  Rechts,  Bd.  II, 
§  160,  Anm.  1. 


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—     12    — 

Im  Sinne  gewisser  Homosexueller,  die  sich  öfters 
als  drittes  Geschlecht  bezeichnen,  könnte  vielleicht  be- 
hauptet werden,  der  Homosexuelle  sei  gar  kein  wirklicher 
Mann,  folglich  läge  in  einer  Ehe  mit  einer  Frau  nur  ein 
tatsächliches  Verhältnis. 

Diese  Argumentation  wäre  völlig  unhaltbar.  Wenn 
es  sich  um  körperliche  Zwischenstufen  bezw.  körperliche 
Hermaphrodisie  handelt,  dann  kann  allerdings  der  Fall 
eintreten,  daß  Nichtigkeit  angenommen  wird,  wenn  z.  B. 
eine  Person,  die  für  einen  Mann  gehalten  wurde,  eine 
Frau  geheiratet  hatte  und  später  bei  genauerer  ärztlicher 
Untersuchung  als  dem  anderen  Geschlecht  zugehörig 
erkannt  wird.^)  In  solchen  Fällen  wird  auch  oft  das 
geschlechtliche  Fühlen  hermaphroditisch  sein  und  beiden 
Geschlechtem  zuneigen.  Eine  Ehe  wird  aber  in  solchen 
Fällen  als  nicht  vorhanden  angesehen  nicht  wegen  des 
geschlechtlichen  Fühlens,  sondern  weil  die  Person  auf 
Grund  ihrer  Geschlechtsorgane  dem  gleichen  Ge- 
schlecht wie  der  andere  Eheteil  zugerechnet  wird. 
An  und  für  sich  kann  dagegen  nicht  einmal  ohne 
Weiteres  bei  vorhandener  körperlicher  Herma-  oder 
Pseudohermaphrodisie  von  einer  Scheinehe  die  Rede  sein, 
wie  aus  den  oben  angeführten  Motiven,  welche  ausdrück- 
lich die  regelmäßige  Gültigkeit  von  Ehen  sog.  Zwitter 
anerkennen,  hervorgeht 

Die  Homosexualität  hat  nun  regelmäßig  mit  der 
Hermaphrodisie  überhaupt  nichts  zu  tun,  mag  auch  bei 
letzterer  manchmal  psychische  Hermaphrodisie  mit  der 
körperlichen  einhergehen. 


*j  Französische  Gerichte  haben  sogar  in  Fällen,  wo  die  Frau 
der  weiblichen  Geschlechtsorgane  fast  ganz  crmangelte,  trotzdem 
die  Gültigkeit  der  Ehe  angenommen,  andere  haben  allerdings 
wiederum  in  solchen  Fällen  die  Nichtigkeit  ausgesprochen.  (Vgl. 
Dalloz,  Mariage,  Suppldmcntdu  Repertoire,  Bd.  X,  No.  28 
und  29.) 


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—     13    — 

Der  konträre  Manii  und  das  konträre  Weib  weisen 
zwar  oft  eine  Anzahl  sekundärer  und  tertiärer  Geschlechts- 
Charaktere  des  Weibes  bezw.  des  Mannes  auf,  die  sich 
sogar  in  einem  an  das  entgegengesetzte  Geschlecht  er- 
innernden Gesamthabitus  äußern  können,  regelmäßig 
werden  sie  aber  die  Geschleclitsorgane  des  Mannes  bezw. 
des  Weibes  in  normalei'  Ausgestaltung  besitzen.  Nur 
auf  letzteren  Umstand  legt  aber  die  bisherige  Wissen- 
schaft, auf  der  das  Gesetz  auch  beruht,  Gewicht.  Wenn 
nun  das  Gesetz  sogar  bei  Mißbildungen  der  Geschlechts- 
organe, bei  vorhandenem  Zweifel  über  das  Geschlecht 
eines  angeblichen  körperlichen  Zwitters  eine  Ehe  nicht 
ohne  Weiteres  für  nichtig  hält,  wird  dies  noch  weit 
weniger  bei  der  Ehe  Homosexueller  der  Fall  sein.  Der 
bezw.  die  Homosexuelle,  mögen  sie  schließlich  noch  so 
weibisch  oder  männlich  sein,  gelten  als  Mann  bezw.  Weib 
und  die  Ehe  mit  einer  Frau  bezw.  Mann  gilt  als  Ehe 
zwischen  Personen  verschiedenen  Geschlechts.  Niemals 
wird  eine  solche  Ehe  einer  Scheinehe  zwischen  Personen 
desselben  Geschlechts  gleichgestellt  werden  dürfen. 

§  3. 

Die  Homosexualität  ist  zwar  kein  Nichtigkeitsgrund^ 
kann  aber  bei  der  Anfechtung  der  Ehe  bedeutsam  werden» 
Es  fragt  sich  nämlich,  ob  ein  Ehegatte,  dem  die  zur 
Zeit  der  Eheschließung  schon  vorhandene  Homosexualität 
des  anderen  Teiles  verborgen  geblieben  war,  wegen  Irr- 
tums die  Ehe  anfechten  und  somit  für  ungültig  erklären 
lassen  kann. 

a)  Bei  allen  noch  vor  Inkrafttreten  des  B.G.B.  — 
also  vor  1900  —  geschlossenen  Ehen  beurteilt  sich  die 
Frage  gemäß  Art  198  E.G.  z.  B.G.B.  nach  dem  bis- 
herigen Landesrecht. 

Nach  den  bis  1900  in  Geltung  befindlichen  einzelnen 
Landesrechten  war  die  Frage  der  Anfechtung  einer  Elift 


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—     14     — 

wegen  Irrtums  sehr  verschieden  normiert  und  überhaupt 
im  allgemeinen  ziemlich  streitig.^] 

Das  kanonische  Recht  berücksichtigt  als  trennendes 
Ehehindemis  nur  den  Irrtum  über  die  Person  und  den 
freien  Stand.  Dagegen  ist  nach  der  herrschenden  An- 
sicht der  Irrtum  über  Eigenschaften  der  Person  gleich- 
gültig. Auf  einem  ähnlichen  Standpunkt  steht  auch  das 
protestantische  Kirchenrecht.  Doktrin  und  Praxis  neigen 
aber  dazu,  einzelne  Fälle  des  Irrtums  über  persönliche 
Eigenschaften^  z.  B.  Schwangerschaft  oder  Mangel  der 
Virginität  der  Frau,  sowie  auch  Impotenz  als  Anfech- 
tungsgrund anzuerkennen.  Der  Code  civil  kennt  eine 
Ungültigkeit  wegen  Irrtums  über  Eigenschaften  nicht  und 
die  herrschende  Anschauung  erklärt  den  Irrtum  über 
bloße  Eigenschaften  für  belanglos^  während  eine  Anzahl 
Schriftsteller  allerdings  auch  den  Irrtum  über  soziale, 
moralische  und  sogar  physische  Eigenschaften  für  erheb- 
lich erachtet.^ 

Nach  diesen  Rechten  ist  demnach  jedenfalls  nach 
herrschender  Auffassung  auch  ein  Irrtum  über  die  Hetero- 
sexualität  bedeutungslos. 

Das  sächsische  Gesetzbuch  hat  die  Frage  ziemlich 
kasuistisch  geregelt.  Unter  anderem  gilt  die  Einwilligung 
beim  Eheabschluß  für  ausgeschlossen,  wenn  der  andere 
Ehegatte  schon  vor  der  Ehe  mit  gewissen  näher  bezeich- 
neten unheilbaren  geistigen  oder  körperlichen  Krank- 
heiten oder  Gebrechen  behaftet,  namentlich  unheilbar 
unfähig  zum  Beischlaf  gewesen  ist  oder  wenn  er  „wider- 
natürliche Unzucht"  mit  einem  Menschen  getrieben  oder 
wenn  der  eine  Ehegatte  erst  nach  der  Ehe  erfährt,  daß 
der   andere   nach   dem   vorangegangenen  Verlöbnis  eine 


*)  Mugdan,  Die  gesamten  Materialien  zum  Bürger- 
lichen Gesetzbuch,  Familienrecht,  S.  42  u.  43. 

»)  Vgl.  Zachariä-Crome,  Bd.  III,  §  437,  Anm.  1  u.  3. 


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—     15    — 

unzüchtige  Handlung  begangen  hat,  wegen  deren  die 
Ehescheidung  verlangt  werden  könnte.  In  Sachsen  würde 
demnach  ftir  Ehen,  die  vor  1900  geschlossen  sind,  die 
Homosexualität  die  Ungültigkeit  der  Ehe  rechtfertigen, 
wenn  sie  Impotenz  bewirkt  oder  wenn  sie  vor  der  Ehe 
zu  einer  gleichgeschlechtlichen  unter  §  175  fallenden 
Handlung  geführt  hat. 

Das  preußische  Landrecht  berücksichtigt  dagegen 
den  Irrtum  in  weiterem  Maß  und  erklärt  ihn  für  erheb- 
lich, wenn  er  sich  auf  solche  Arten  persönlicher  Eigen- 
schaften bezieht,  die  bei  Schließung  der  Ehe  vorausge- 
setzt zu  werden  pflegen. 

Welche  Eigenschaften  als  Anfechtungsgrund  aner- 
kannt werden,  erscheint  nicht  unzweifelhaft  Während  z.B. 
Förster^)  hervorhebt,  daß  der  Richter  sich  an  die  spe- 
ziellen, von  dem  protestantischen  Kirchenrecht  als  An- 
fechtungsgründe anerkannten  Fälle  (Mangel  der  Yirginität 
der  Frau,  unheilbare  Impotenz  des  Mannes,  unheilbare 
ekelerregende  Krankheit]  zu  halten  habe,  um  ein  all- 
zugroßes Arbitrium  zu  vermeiden,  scheint  das  Reichs- 
gericht*) keine  Spezialisierung  der  Fälle  für  notwendig 
zu  erachten  und  schließt  sich  der  Anschauung  der  Kirchen- 
schriftsteller an,  welche  ganz  allgemein  Mängel,  die  das 
Wesen  der  Ehe  unmittelbar  gefährden,  für  erheblich  er- 
achten und  als  Anfechtungsgrund  anerkennen  „die  Nicht- 
kenntnis  ungewöhnlicher,  die  Persönlichkeit  so  nahe 
angehender  Eigenschaften,  daß  man  aus  in  der  sitt- 
lichen Natur  .der  Ehe  beruhenden  Gründen  voraussetzen 
muß,  der  andere  Teil  würde,  wenn  er  über  jene  Eigen- 
schaften unterrichtet  gewesen  wäre,  in  die  Eheschließung 
nimmermehr  eingewilligt  haben.*' 


')  Theorie  und  Praxis  des  preußischen  Privatrechts, 
Bd.  111,  §  203,  S.  501. 

»)  R.G.,  Bd.  XVII,  S.  248. 


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—     16    — 

Demnach  dürfte  die  Anfechtung  wegen  Irrtums  über 
Eigenschaften  nach  preußischem  Recht  ungefähr  unter 
denselben  Voraussetzungen  zulässig  sein  wie  nach  dem 
B.G.B.  Die  folgenden  auf  das  B.G.B.  bezüglichen  Aus* 
fuhrungen  werden  daher  auch  im  großen  und  ganzen  von 
der  Anfechtung  nach  preußischem  Recht  gelten. 

b)  Bei  allen  seit  1900  geschlossenen  Ehen  findet 
lediglich  das  B.G.B.  Anwendung  und  zwar  behandelt 
§  1333  die  Frage  der  Anfechtung  einer  Ehe  wegen  Irr- 
tums.   Dieser  Paragraph  lautet: 

;^Eine  Ehe  kann  von  dem  Ehegatten  angefochten 
werden,  der  sich  bei  der  Eheschließung  in  der  Person 
des  anderen  Ehegatten  oder  über  solche  persönliche 
Eigenschaften  des  anderen  Ehegatten  geirrt  hat,  die  ihn 
bei  Kenntnis  der  Sachlage  und  bei  verständiger  Würdi- 
gung des  Wesens  der  Ehe  von  der  Eingehung  der  Ehe 
abgehalten  haben  würden." 

Bildet  nun  die  Homosexualität  eine  solche  Eigenschaft, 
wie  sie  der  zweite  Satz  dieses  Paragraphen  im  Auge  hat? 

Das  Gesetz  definiert  den  Begriff  der  „persönlichen 
Eigenschaft"  nicht,  ebensowenig  tun  dies  die  Motive. 
So  viel  steht  fest  und  erhellt  deutlich  aus  den  Proto- 
kollen, sowie  aus  den  Beratungen  der  Reichstagskommis- 
sion, welche  „die  Verhältnisse"  gestrichen  hat,  ^)  daß  per- 
sönliche Verhältnisse,  d.  h.  äußere  Umstände  im  Gegen- 
satz zu  persönlichen  Eigenschaften  nicht  unter  §  1333 
fallen,  d.  h.  nicht  eine  Eigenschaft  zur  persönlichen 
im  Sinne  des  Paragraphen  stempeln.  Aber  damit  ist 
noch  nicht  gesagt,  welche  Eigenschaften  als  persönliche 
zu  betrachten  sind.  Da  der  Begriff  „persönliche  Eigen- 
schaft" vom  Gesetz  nicht  begrenzt  ist,  so  hat  man  den- 
selben in  weitestem  Sinne  aufzufassen,  mit  der  Einschrän- 
kung,   daß   Eigenschaften,    welche   lediglich   durch  Um- 

*)  Mugdan,  Materialien  zum  B.G.B.,  Familienreclit> 
S.  713  u.  1210. 


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—     17     — 

stände  und  Verhältnisse  einer  Person  zukommen,  eben 
nicht  als  persönliche  im  Sinne  des  Gesetzes  zu  gelten 
haben.  So  sagt  denn  z.  B.  auch  Endemann :^]  ,, Unter 
persönlichen  Eigenschaften  sind  alle  geistigen^  sittlichen^ 
körperlichen  Eigenschaften  zu  verstehen",  femer:  „Der 
Ton  liegt  auf  dem,  was  die  Eigenart  der  Persönlichkeit 
ausmacht/' 

Die  Richtung  des  Geschlechtstriebes,  Hetero-  oder 
Homosexualität;  ist  nun  sicherlich  als  eine  persönliche 
Eigenschaft  zu  betrachten.  Hat  die  Homosexualität  Un- 
möglichkeit der  Erektion  beim  Weibe  und  daher  Unfähig- 
keit zum  normalen  Coitus  zur 'Folge,  so  wird  sie  schon 
dieser  Impotenz  wegen  einen  Änfechtungsgrund  abgeben. 
Denn  die  Impotenz  wird  allgemein  zu  den  die  Anfech« 
tung  begründenden  Mängeln  gerechnet.^ 

Aber  auch  dann,  wenn  trotz  der  Homosexualität  die 
Fähigkeit  zum  normalen  Verkehr  mit  dem  Weibe  besteht^ 
muß  die  Richtung  des  Geschlechtstriebes  als  persönliche 
Eigenschaft  aufgefaßt  werden.  Die  Homosexualität  ver- 
leiht dem  Homosexuellen  ein  eigenartiges  Gepräge,  sie 
wurzelt  in  seiner  Natur  und  bringt  nicht  bloß  auf  ge- 
schlechtlichem Gebiet,  sondern  im  gesamten  Fühlen, 
Denken  und  Wollen,  ja  sogar  im  äußeren  Habitus  eine 


')  Endemann,  oben  zitiert,  Bd.  II,  S.  65;  Anm.  8  nennt 
er  als  Beispiele:  VerschwendungsBucht ,  QuerulantenwahnBinn, 
quartalweise  auftretendes  Delirium,  Mangel  der  Jungfrauschaft, 
Schwangerschaft,  Impotenz,  geheime,  ekelhafte  Krankheiten.  — 
Vgl.  auch  Seidlmayer,  in  Jherings  Jahrbüchern,  2.  Folge, 
Bd.  X,  Heft  3  u.  4,  1903,  Über  Personen-  und  Eigenschafts- 
irrtum  bei  der  Eheschließung  nach  B.G.B.,  insbesondere 
S.  214  u.  215. 

•)  Vgl.  Die  Motive,  Mugdan,  S.  1210.  —  Ferner  Kuhlen- 
beck, B.G.B.,  zu  §  1333,  Anm.  2.  —  Staudinger,  B.G.B., 
zu  §  1338,  Anm.  2^  —  Endemann,  B.G.B.,  Bd.  11,  S.  65.  — 
Frühere  Bechte,  wie  z.  B.  das  sächsische  Landrecht,  erklärten 
ausdrücklich  den  Irrtum  über  die  Beischlaff&higkeit  für  erheblich. 
Jahrbuch  VI.  2 


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—     18     — 

Anzahl  von  Gestaltungen  hervor,  die  ihn  vom  normalen 
Manne  unterscheiden  und  ihn  geradezu  als  Zwischen- 
stufe zwischen  beiden  Geschlechtern  charakterisieren. 

Dabei  ist  es  einerlei,  ob  man,  wie  ich  es  tue,  die 
Homosexualität  lediglich  als  physiologische  Erscheinung 
betrachtet  oder  ob  man  sie  für  ein  krankhaftes  Symptom 
hält,  denn  zu  den  relevanten  Mängeln  persönlicher  Eigen- 
schaften sind  insbesondere  auch  geistige  Defekte  zu  zählen.  ^) 

Desgleichen  wird  §  1333  B.G.B.  Anwendung  finden 
können,  wenn  man,  den  bisherigen  Vorurteilen  folgend, 
die  Homosexualität  als  Laster  betrachtet,  sowie  in  den 
seltenen  Fällen,  wo  gleichgeschlechtlicher  Verkehr  Nor- 
maler vorliegt,  z.  B.  in  den  Fällen  der  Prostitution 
Normaler  aus  Gewinnsucht,  denn  auch  die  Eigenschaften 
des  Charakters  stellen  sich  als  persönliche  dar,  so  z.  B. 
schreibt  Endemann  gewissen  Handlungen,  welche  einen 
Rückschluß  auf  einen  verwerflichen  Charakter  zulassen, 
die  Bedeutung  bei,  daß  sie  die  Anfechtung  ermöglichen. 
Von  letzterem  Gesichtspunkte  aus  wird  man  überhaupt 
das  absichtliche  Verschweigen  der  Homosexualität  bei 
Abschluß  der  Ehe  —  ganz  ohne  Rücksicht  darauf,  ob 
man  die  Homosexualität  für  eine  physiologische  oder 
krankhafte  oder  lasterhafte  Erscheinung  hält  —  als  An- 
fechtungsgrund ansehen  können,  insofern  in  dieser  Ver- 
heimlichung oft  die  „persönliche  Eigenschaft«  der  un- 
ehrenhaften Gesinnung  zu  erblicken  ist.*) 

*)  Die  Protokolle,  vgl.  Mugdan,  Familienrecht,  S.  724,  er- 
wähnen ausdrücklich  gewisse  Krankheiten,  neben  Tuberkulose, 
Syphilis  auch  Epilepsie.  -—  Kuhlenbeck,  B.G.B.,  zu  §  1383, 
nennt  „geistige  Defekte,  Schwachsinn,  auch  geringeren  Grades, 
Geisteskrankheit  oder  Disposition  zu  einer  solchen,  Belastung  mit 
einem  Krankheitskeim,  der  sich  auf  die  Kinder  vererbt".  —  Ende- 
mann, B.GB.,  oben  S.  17,  Anm.  1  zitiert,  erwähnt  zeitweise  auf- 
tretendes Delirium,  Querulantenwahnsinn. 

*)  Planck,  zu  §  1383,  Anm.  2  a,  der  zu  den  persönlichen 
Eigenschaften  ausdrücklich  „Lauterkeit  des  Charakters"  zählt.  — 


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—     19     — 

Ein  Schriftsteller  Holder*)  definiert  den  Begriff  der 
„persönlichen  Eigenschaft'^  anders  als  die  herrschende 
Meinung,  Er  nimmt  solche  Eigenschaften  aus,  die  bei 
jedermann  mehr  oder  weniger  vorhanden  sind,  z.  B. 
Intelligenz,  Gedächtnis,  Klugheit  usw.  ,,Die  Bestimmung 
des  Gesetzes  umfasse  nicht  den  Irrtum  über  die  Art 
oder  die  Ausdehnung,  in  der  eine  bestimmte  Eigenschaft 
dem  anderen  Ehegatten  zukomme/^ 

Im  Sinne  von  Holder  könnte  man  deshalb  vielleicht 
geneigt  sein,  da  der  Geschlechtstrieb  bei  jedermann  be- 
steht, einen  Irrtum  über  seine  Gestaltung  für  belanglos 
zu  halten.  Man  könnte  vielleicht  um  so  eher  dazu  ge- 
langen, weil  Holder  insbesondere  Irrtum  über  körper- 
liche Mängel  —  ja  sogar  Impotenz  (worin  er  zweifellos 
Unrecht  hat)  —   nicht  als  Anfechtungsgrund  anerkennt. 

Die  ganze  Auffassung  Hölders  über  die  persönlichen 
Eigenschaften  halte  ich  aber  für  irrig.  Einmal  schränkt 
er  diesen  Begriff  in  unzulässiger  Weise  ein,  indem  er 
nicht  die  Eigenschaften  des  Körpers  und  Geistes  an  und 
für  sich  dazu  rechnet,  andererseits  dehnt  er  den  Begriff 
in  einer  dem  Gesetz  nicht  entsprechenden  Weise  aus, 
indem  er  auch  die  durch  äußere  Verhältnisse  bedingten 
Eigenschaften  dazu  zählt 

Selbst  aber,  wenn  man  die  Begriffsbestimmung  Höl- 
ders billigen  würde,  müßte  man  doch  immer  die  kon- 
träre Sexualempfindung  als  persönliche  Eigenschaft  im 
Sinne  des  §  1333  betrachten. 

Denn  nach  Holder  sind  persönliche  Eigenschaften 
solche,  „denen  Bedeutung  für  die  Persönlichkeit  ihres 
Inhabers  zukommt,  so  daß  diese  im  Falle  der  Existenz 

Ferner   Heymann,    Zum    persönlichen    Eherecht,    in    der 
Deutschen  Juristen-Zeitung,  Nr.  5,  1902,  S.  111. 

^)  Die  Anfechtung  der  Ehe  wegen  Irrtums  über  die 
Person,  in  Jherings  Jahrbüchern,  2.  Folge,  6,  Bd.  XLII, 
Heft  1—3. 


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—     20     — 

der  Eigenschaft  eine  andere  ist;  als  im  Falle  ihrer 
Abwesenheit",  Bei  der  Wichtigkeit  der  konträren  Sexaal- 
empfindung für  die  gesamte  Persönlichkeit  trifft  die  De- 
finition jedenfalls  auch  für  die  Homosexualität  zu. 

c)  Die  Anfechtung  findet  nur  statt,  wenn  bei  Ab- 
schluß der  Ehe  ein  Irrtum  des  einen  Ehegatten  über  die 
persönlichen  Eigenschaften  des  anderen  bestand.  Dabei 
ist  es  gleichgültig,  ob  der  getäuschte  Teil  den  Irrtum 
verschuldet  hat  oder  nicht,  also  ob  er  durch  Nach- 
forschungen oder  Erkundigungen  die  wahre  Natur  des 
anderen  hätte  entdecken  können.  Wenn  dagegen  der 
eine  Teil  die  konträre  Sexualempfindung  des  anderen 
kennt,  z.  B.  indem  der  Konträre  seine  Ehehälfte  vor  der 
Ehe  aufgeklärt  hat,  dann  ist  die  Anfechtung  nicht  zu- 
lässig. Zweifel  können  allerdings  über  die  Frage  ent- 
stehen, ob  eine  wirkliche  Aufklärung  stattfand,  z.  B.  sind 
bloße  Andeutungen  nicht  genügend,  die  tatsächlich  nicht 
verstanden  oder  mißverstanden  wurden,  mag  sie  der  Kon- 
träre auch  für  hinreichend  gehalten  haben,  dem  anderen 
Teil  über  die  wahre  Sachlage  Aufschluß  zu  geben. 

Unerheblich  ist  es  sodann,  ob  der  Mangel  einer  vor- 
ausgesetzten Eigenschaft  verschuldet  ist  oder  nicht.  Die 
erworbene  Homosexualität  in  Fällen,  wo  man  ihre  Ent- 
stehung bezw.  Entwicklung  auf  ein  Verschulden  des 
Homosexuellen  zurückführen  will,  ist  bezüglich.der  Frage 
der  Anfechtung  ebenso  zu  behandeln,  wie  die  angeborene 
Homosexualität,  desgleichen  kommt  es  an  und  für  sich 
nicht  darauf  an,  ob  die  Homosexualität  schon  vor  der 
Ehe  zu  gleichgeschlechtlichen  Handlungen  geführt  hatte 
oder  nicht.  An  und  für  sich  genügt  vielmehr  die  Tat- 
sache, daß  das  Gefühlsleben  ein  durchaus  abnormes  ist, 
im  Einzelfalle  kann  aber  die  Frage,  ob  etwa  vor  der 
Ehe  gleichgeschlechtlicher  Verkehr  gepflogen  worden  ist 
oder  nicht,  bei  der  Anwendung  des  §  1333  von  Bedcu« 
tung  werden  (s.  weiter  unten). 


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—     21     — 

Nicht  jeder  Irrtum  über  das  Geschlechtsgefühl  be- 
gründet aber  das  Recht  auf  Anfechtung  der  Ehe,  viel- 
mehr muß  der  Irrtum  ein  derartiger  sein,  daß,  wenn 
der  andere  Ehegatte  die  ihm  unbekannt  gebliebenen 
Fehler  gekannt  hätte,  dies  ihn  bei  verständiger 
Würdigung  des  Wesens  der  Ehe  von  deren  Ein- 
gehung, abgehalten  haben  würde. 

Bei  der  Prüfung  dieser  Voraussetzungen  ist  ent- 
scheidend „einmal  der  subjektive  Standpunkt  des  sich 
irrenden  Ehegatten;  von  ihm  aus,  für  seine  Verhältnisse, 
Bildungsgrad  usw.,  muß  der  Mangel  in  den  persönlichen 
Eigenschaften  des  anderen  Ehegatten  als  wesentlich  er- 
scheinen''. ^)  Hiermit  muß  sich  aber  außerdem  verbinden, 
„daß  nach  objektiver  Würdigung  der  Mangel  mit  der 
Erfüllung  der  sittlichen  Aufgaben  und  der  natürlichen 
Zweckbestimmung  der  Ehe  unvereinbar  wäre".^  Diese 
beiden  subjektiven  und  objektiven  Kriterien  werden  oft 
beim  Irrtum  über  die  HeteroSexualität  vorhanden  sein. 
Regelmäßig  würde  die  Kenntnis  von  der  bei  dem  einen 
Ehegatten  bestehenden  Homosexualität  den  anderen  von 
dem  Abschluß  der  Ehe  abgehalten  haben  und  durch- 
gängig wird  man  es  als  eine  verständige  Würdigung  des 
Wesens  der  Ehe  betrachten,  wenn  der  getäuschte  Teil 
wegen  der  homosexuellen  Natur  des  anderen  die  Ein- 
gehung der  Ehe  verweigert  hätte. 

Die  Homosexualität  ist  für  beide  Teile  von  so  ein- 
schneidender Bedeutung,  daß  sehr  oft  einem  Ehegatten 
nicht  zuzumuten  ist,  mit  einem  (oder  einer)  Homosexuellen 
zusammen  zu  leben.  Die  Homosexualität  bewirkt  eine 
Disharmonie  im  Denken,  Fühlen  und  Wollen  zwischen 
den  Ehegatten,  sie  zwingt  den  Homosexuellen,  mit  der 
Lüge,   durch  die  er  durch  das  Leben  geht,   in  die  Ehe 


*)  Endemann,  Familienrecht,  §  162,  Nr.  2,  S.  658. 
«)  Ibid. 


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—     22     — 

zu  treten  und  seine  geheime  und  wahre  Natur  seiner 
Ehehälfte  zu  verbergen,  sie  hindert  eine  seelische  Ge- 
meinschaft, wie  sie  das  Wesen  einer  echten  Ehe  voraus- 
setzt. Oft  wird  sie  auch  die  körperliche  Vereinigung 
unmöglich  machen,  stets  aber  den  Geschlechtsverkehr  für 
den  homosexuellen  Teil  als  lästige  Pflicht  erscheinen 
lassen  und  dem  anderen  mehr  oder  weniger  als  solche 
fühlbar  werden.  Die  konträre  Sexualempfindung,  indem 
sie  den  davon  Betroffenen  in  Gefahr  bringt,  seiner  Natur 
nachzugeben  und  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  zu  pflegen, 
bringt  femer  die  Gefahr  der  sozialen  Achtung  des  Homo» 
sexuellen,  ja  sogar  der  strafrechtlichen  Verfolgung  mit 
sich,  demnach  nicht  nur  die  Gefahr,  daß  die  inneren  Be- 
dingungen einer  glücklichen  Ehe  nicht  vorhanden  sind, 
sondern  auch,  daß  die  äußeren  durch  Schande,  soziale 
Vernichtung  und  Verlust  der  äußeren  Stellung  zerstört 
werden.  Endlich  besteht  auch  die  Möglichkeit  der  Ver- 
erbung der  Anomalie  in  derselben  oder  anderer  Form 
auf  die  Nachkommen. 

In  den  Fällen,  wo  die  Homosexualität  schon  seit 
der  Ehe  zu  gleichgeschlechtlichen  Handlungen  geflihrt, 
wo  sich  durch  greifbare  Tatsachen  die  Wichtigkeit  und 
Gefährlichkeit  der  Homosexualität  für  ein  ersprießliches 
eheliches  Zusammenleben  ergeben  hat,  wird  man  am 
ehesten  den  Irrtum  des  einen  Teils  über  die  Geschlechts- 
natur des  anderen  für  erheblich  erachten.  In  diesen 
Fällen  wird  ja  oft  auch  Ehescheidung  möglich  sein  und 
die  Wahl  zwischen  Ehescheidungs-  und  Anfechtungsklage 
bestehen,  es  können  aber  auch  wenigstens  die  Voraus- 
setzungen der  Ehescheidungsklage  fehlen  (z.  B.  bei  bloßer 
gegenseitiger  Onanie  oder  Homosexualität  des  Weibes 
und  Mangel  der  Voraussetzungen  des  §  1568  B.G.B.). 

Wenn  lediglich  vor  der  Ehe,  dagegen  nicht  mehr 
nach  der  Ehe  gleichgeschlechtlicher  Verkehr  stattge- 
funden hat,  bezw.  ein  solcher  Verkehr  nicht  mehr  nach- 


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—     23     — 

weisbar  ist,  werden  eher  Zweifel  über  die  Zulässigkeit 
der  Anfechtung  aufkommen.  Gerade  in  solchen  Fällen 
ist  §  1333  besonders  praktisch  wichtig,  da  hier  mangels 
nachweisbarer  homosexueller  Akte  seit  der  Ehe  eine  Ehe- 
scheidungsklage auf  Grund  der  Homosexualität  nicht  er- 
hoben werden  kann.  Bei  der  Entscheidung  dieser  Frage 
über  die  Anwendbarkeit  des  §  1333  wird  alles  auf  die 
Umstände  im  konkreten  Falle  ankommen.  Hier  haben 
die  Sätze  zu  gelten:  ,,Die  Gründe  haben  bloß  relative 
Bedeutung,  die  Umstände  des  Falles  entscheiden."^) 
„Die  Würdigung  ist  vom  Standpunkte  der  Individualität 
und  der  individuellen  Interessen  des  Irrenden  vorzu- 
nehmen."^ 

So  z.  B.  kann  es  vorkommen,  daß  die  Frau  durch 
Anzeige  eines  früheren  Geliebten  ihres  Ehemannes  von 
dessen  Homosexualität  und  früherem  gleichgeschlechtlichen 
Verkehr  erfährt  oder  daß  der  Homosexuelle  seiner  Frau 
seine  wahre  Geschlecbtsnatur  eingesteht.^  Seit  der  Ehe 
hat  aber  der  Homosexuelle  vielleicht  nicht  den  mindesten 
Verdacht  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  auf  sich  ge- 
laden und  durch  sein  Verhalten  die  Hoifnung  erweckt, 
seinem  Triebe  nicht  mehr  zu  erliegen.  Die  homosexuelle 
Natur  des  Gatten  hat  sich  nach  keiner  Richtung  hin 
störend  geltend  gemacht  und  auch  sonst  ist  das  Zusammen- 
leben vielleicht  kein  schlechtes  gewesen.  Hier  wird  nicht 
ohne  Weiteres  anzunehmen  sein,  daß  die  Ehefrau,  wenn 
sie  die  Homosexualität  gekannt  hätte,  die  Ehe  nicht 
eingegangen  wäre,  denn  ein  homosexueller  Trieb,  den  der 
Mann  insoweit  beherrschen  kann,  daß  er  auf  seine  Be- 
tätigung verzichtet,  und  der  ihn  andererseits  an  einem 

^)  EndemanD,  Familienrecht,  §  162. 

*)  Heymann,  ZumpersönlichenEhereclit,  inderDeut- 
schen  Juristen-Zeitung,  Nr.  5,  1902,  S.  112;  ebenso  Holder, 
B.G.B.,  §  119,  undinJherings  Jahrbüchern,  Bd.  XLII,  S.  29. 

^)  Ein  solches  freiwilliges  Bekenntnis  ist  mir  bekannt. 


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—     24     — 

bis  zur  zufälligen  Entdeckung  der  Anomalie  ertxäglichen 
Zusammenleben  mit  der  Frau  nicht  hindert,  kennzeichnet 
nicht  ohne  Weiteres  die  Ehe  als  ein  unhaltbares  Ver- 
hältnis. Hier  wird  der  Richter  insbesondere  zu  prüfen 
haben,  ob  nicht  etwa  der  andere  Teil  die  Entdeckung 
der  Homosexualität  als  Vorwand  benützt,  um  aus  sonstigen, 
an  und  für  sich  nicht  triftigen  Gründen  die  Anfechtung 
der  Ehe  herbeizuführen. 

Noch  größere  Schwierigkeiten  bietet  der  Fall,  wo 
der  Homosexuelle  überhaupt  noch  niemals  homosexuellen 
Verkehr  gepflogen  hat,  andererseits  die  Möglichkeit  eines 
normalen  Coitus  mit  der  Frau  besteht. 

Derartige  Homosexuelle  gibt  es,  die,  obgleich  über 
ihre  Natur  völlig  im  Unklaren,  aus  den  verschiedensten 
Gründen  Enthaltsamkeit  geübt  und  vielleicht  gerade 
zwecks  „Heilung"  geheiratet  haben.  Auch  hier  wird  die 
Elitscheidung,  ob  §  1333  Anwendung  zu  finden  habe 
oder  nicht,  davon  abhängen,  ob  und  inwiefern  die  kon- 
träre Sexualempfindung  des  einen  Gatten  störend  auf 
das  eheliche  Zusammenleben  eingewirkt  hat.  Eine  An- 
fechtung auf  Grund  des  §  1333  ist  keineswegs  ausge- 
schlossen, da  die  Anfechtungsgründe  durchaus  relativer 
Natur  sind  und  dem  subjektiven  Standpunkt  des  im  Irr- 
tum befindlichen  Ehegatten,  sowie  seinen  sittlichen  und 
religiösen  Anschauungen  eine  Hauptbedeutung  zukommt 

Die  eigenartige  Geschlechtsnatur  des  Homosexuellen 
kaim  z.  B.  schon  längst  eine  tiefe  Disharmonie,  eine 
völlige  Zerrüttung  des  ehelichen  Lebens  hervorgebracht 
haben.  Wenn  nunmehr  der  Ehegatte  nach  Entdeckung 
des  wahren  Grundes  des  gespannten  und  unbefriedigenden 
Ehelebens  —  der*  Homosexualität  des  anderen  Teiles  — 
die  Gewißheit  erlangt,  daß  er  für  immer  auf  ein  eheliches 
Zusammenleben,  das  den  Namen  eines  Ehebundes  ver- 
dient, verzichten  muß,  und  in  seinem  sittlichen  Gefühl 
durch  den  Gedanken  einer  lebenslänglichen  Verbindung 


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—     25     — 

mit  einem  dem  eigeDen  Geschlecht  in.  Liebe  zugewandten 
Gatten  aufs  tiefste  verletzt  wird,  so  vermag  sein  Irrtum 
über  die  Geschlechtsnatur  des  anderen  Teiles  die  An- 
fechtung der  Ehe  zu  rechtfertigen.^) 

Andererseits  wird  es  wieder  Fälle  geben,  wo  auch 
dann,  wenn  gleichgeschlechtliche  Handlungen  vor  oder 
sogar  nach  der  Ehe  vorgekommen  sind,  trotzdem  der 
Irrtum  über  die  Geschlechtsnatur  bedeutungslos  ist.  Z.  B. 
wenn  ein  homosexueller  Mann  mit  einer  homosexuellen 
Frau  einen  Ehebund  eingeht  oder  wenn  ältere  Leute 
sich  heiraten,  die  dabei  von  vornherein  eher  einen 
Freundschafts-,  als  einen  Ehebund  im  Auge  haben  und 
dem  Geschlechtsleben  sowie  den  auf  seinem  Boden  ent- 
springenden Gefühlen  keine  oder  nur  geringe  Bedeu- 
tung beimessen.  Hier  läßt  sich  oft  behaupten,  daß 
auch  die  Ehe  bei  verständiger  Würdigung  ihres  Wesens 
und  bei  Kenntnis  der  Sachlage  abgeschlossen  worden 
wäre. 

d)  Eine  besondere  Art  der  Anfechtung  der  Ehe 
wegen  Irrtums  ist  der  Fall  der  Anfechtung  wegen  arg- 
listiger Täuschung: 

§  13B4  bestimmt:  „Eine  Ehe  kann  von  dem  Ehe- 
gatten angefochten  werden,  der  zur  Eingehung  der  Ehe 
durch  arglistige  Täuschung  über  solche  Umstände  be- 
stimmt worden  ist,  die  ihn  bei  Kenntnis  der  Sachlage 
und  bei  verständiger  Würdigung  des  Wesens  der  Ehe 
von  der  Eingehung  der  Ehe  abgehalten  haben  würden." 


*)  Die  Anfechtung  einer  Ehe  wegen  sexueller  Anomalie  erkennt 
auch  an:  Ho  che  (Berlin  1901,  Verlag  Hirsch  wald)  in  seinem  Lehr- 
buch der  gerichtlichen  Psychiatrie  S.  345 :  „Die  sexuellen  Anomalien 
müssen  in  zweifacher  Hinsicht  gewürdigt  werden.  Einmal  wird  durch 
sie  die  sexuelle  Seite  des  Ehelebens  direkt  berührt  und  auch  auf  diese 
nimmt  das  Gesetz  Rücksicht;  und  dann  ist  zu  befurchten,  daß  bei 
erhaltener  Potenz  die  Anomalie  in  gleicher  oder  ähnlicher  Form 
bei  den  Deszendenten  auftritt." 


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—     26     — 

Während  §  1333  die  Anfechtung  der  Ehe  nur  wegen 
Irrtums  über  persönliche  Eigenschaften  gestattet,  läßt 
§  *  1 334  die  Anfechtung  zu  wegen  Irrtums  nicht  bloß 
über  persönliche  Eigenschaften,  sondern  über  alle  Um- 
stände, die  bei  Kenntnis  der  Sachlage  und  bei  verstän- 
diger Würdigung  des  Wesens  der  Ehe  von  der  Eingehung 
der  Ehe  abgehalten  haben  würden,  falls  der  Irrtum  durch 
arglistige  Täuschung  hervorgerufen  worden  ist. 

Insofern  es  sich  daher  um  Irrtum  über  eine  persön- 
liche Eigenschaft  handelt,  also  bei  der  Anfechtung  wegen 
Homosexualität,  ist  §  1334  praktisch  für  die  Anfechtung 
ohne  Bedeutung,  da  eine  Anfechtung  ohne  Rücksicht  auf 
arglistige  Täuschung  schon  auf  Grund  des  Irrtums  mög- 
lich ist. 

Würde  man  dagegen  die  Homosexualität  nicht  für 
eine  persönliche  Eigenschaft  im  Sinne  des  §  1333  halten, 
dann  wäre  die  Anfechtung  wegen  Irrtums  nur  beim  Vor- 
handensein der  Voraussetzungen  des  §  1334  zulässig, 
d.  h.  der  Irrtum  müßte  durch  arglistige  Täuschung 
hervorgerufen  sein.  Demnach  müßte  in  erster  Linie  der 
homosexuelle  Ehegatte  bei  Eingehung  der  Ehe  Kenntnis 
von  seiner  Homosexualität  gehabt  haben.  Nicht  immer 
aber  würde  schon  die  Tatsache  dieser  bloßen  Kenntnis 
auf  arglistige  Täuschung  schließen  lassen,  z.  B.  wenn 
der  Homosexuelle  sich  keine  deutliche  Rechenschaft  seiner 
Anomalie  und  ihrer  Wichtigkeit  für  das  Eheleben  gibt; 
sein  Verhalten  müßte  sich  vielmehr  als  eine  absicht- 
liche Täuschung  des  Willensentschlusses  des  Gegners 
durch  Vorspiegelung  falscher  oder  Entstellung  oder  Unter- 
drückung wahrer  Tatsachen  charakterisieren  (also  durch 
die  Vorspiegelung,  er  sei  heterosexuell,  durch  Unter- 
drückung der  Tatsache  seiner  Homosexualität.^) 


0  Vgl.  Endemann,  Bd.  1,  §  73,  S.  312. 


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—     27     — 

Kapitel  II. 
Ehescheidung. 

Die  Homosexualität  kann  von  besonderer  Wichtig- 
keit lür  die  Frage  der  Ehescheidung  werden.  Während 
eine  Aufhebung  der  Ehe  gemäß  §  1333  eine  Nichtig- 
keitserklärung der  Ehe  bedeutet,  d.  h.  bewirkt,  daß  die 
Ehe  als  nie  geschlossen  gilt,  hat  die  Ehescheidung 
nur  zur  Folge,  daß  die  Ehe  durch  das  Urteil  aufgelöst 
wird,  an  der  Gültigkeit  der  Ehe  bis  zur  Scheidung  wird 
dagegen  nichts  geändert.  Nichtigkeitserklärung  und  Schei- 
dung der  Ehe  haben  demgemäß  auch  verschiedene  prak- 
tische Wirkungen. 

Der  während  der  Ehe  gepflogene  gleichgeschlecht- 
liche Verkehr  bildet  einen  Scheidungsgrund  einmal  gemäß 
§  1565  B.G.B.,  wonach  ein  Ehegatte  auf  Scheidung  klagen 
kann,  wenn  der  andere  Ehegatte  sich  des  Ehebruchs 
oder  einer  nach  den  §§  171,  175  StG.B.  strafbaren  Hand- 
lung schuldig  macht.  Wird  ein  unter  §  175  fallender 
Verkehr  nachgewiesen,  so  muß  die  Ehescheidung  auf  An- 
trag des  anderen  Teiles  hin  ausgesprochen  werden,  denn 
die  in  §  1565  B.G.B.  angeführten  J'älle  stellen  absolute 
Scheidungsgründe  dar.  Da  nach  den  Entscheidungen  des 
Reichsgerichts  unter  widernatürlicher  Unzucht  im  Sinne 
des  §  175  SiG.B.  nicht  nur  inmissio  penis  in  anum,  son- 
dern auch  sogenannte  beischlafsähnliche  Handlungen  ge- 
meint sein  sollen,  so  müssen  auch  die  letzteren  Handlungen 
als  Scheidungsgrund  anerkannt  werden,  dagegen  wird 
gegenseitige  Onanie,  weil  nicht  unter  §  175  fallend,  keinen 
Scheidungsgrund  nach  §  1565  B.G.B.  abgeben.  Weil  femer 
die  Handlung  eine  solche  sein  muß,  die  den  Tatbestand 
des  §  175  erfüllt,  so  erfordert  sie  eine  schuldhafte  Be- 
gehung im  strafrechtlichen  Sinne;  wenn  demnach  auch 
eine  dem  objektiven  Tatbestand  des  §  175  entsprechende 


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-     28     — 

Handlung  vorliegt,  aber  die  subjektive  Seite,  z.  B.  wegen 
Unzurechnungsfähigkeit,  fehlt,  ist  die  Ehescheidung  auf 
Grund  §  1565  B.G.B.  unzulässig.  Hierbei  ist  aber  der 
Zivilrichter  an  eine  Entscheidung  des  Strafrichters,  welcher 
einen  Homosexuellen  des  Vergehens  gegen  §  175  St.G.B. 
lediglich  wegen  Unzurechnungsfähigkeit  freigesprochen 
hatte,  nicht  gebunden,  er  kann  vielmehr  die  subjektive  Seite 
frei  würdigen  und  zur  Annahme  gelangen,  daß  der  Be- 
klagte für  das  strafbare  Vergehen  gegen  §  175  verant- 
wortlich zu  machen  ist  und  daß  demgemäß  die  Voraus- 
setzungen des  §  1565  B.G.B.  gegeben  sind.  Ist  die  Tat  ver- 
jährt, d.  h.  sind  5  Jahre  seit  der  Begehung  verstrichen, 
und  hatte  der  klagende  Teil  keine  Kenntnis  von  der 
strafbaren  Handlung  des  Beklagten  (bezw.  hatte  er  noch 
innerhalb  6  Monate  nach  erlangter  Kenntnis  Eheschei- 
dungsklstge  erhoben,^)  so  kann  die  homosexuelle  Hand- 
lung trotzdem  noch  als  Ehescheidungsgrund  benutzt  wer- 
den, da  richtiger  und  herrschender  Auffassung  nach  die 
Verjährung  nur  den  Strafanspruch  des  Staates,  nicht  aber 
die  Rechtswidrigkeit  der  Handlung  beseitigt.*) 

Das  Becht  auf  Scheidung  ist  ausgeschlossen,  wenn 
der  Ehegatte  der  homosexuellen  Handlung  zugestimmt 
hat.  Diese  Zustimmung  kann  ausdrücklich  oder  still- 
schweigend erfolgen.  Eine  stillschweigende  Zustimmung 
ist  unter  Umständen  schon  dann  anzunehmen,  wenn  die 
Frau  den  fortgesetzten  homosexuellen  Verkehr  ihres 
Mannes  kennt  und  trotzdem  keinen  Einspruch  dagegen 
erhebt  und  nicht  auf  Abstellung  des  Verkehrs  drängt, 
ihn  also  geradezu  duldet. 


^)  Die  Scheidungsklage  muß  in  den  Fällen  der  §§  1565  bis 
1568  binnen  6  Monaten  von  dem  Zeitpunkte  an  erhoben  werden, 
in  dem  der  Ehegatte  von  dem  Scheidungsgrunde  Kenntnis  erlangt 
(§  1571,  Satz  1). 

*)  Liszt,  Lehrbuch  des  Strafrechts,  S.  263  (6.  Aufl.).  — 
Kries,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafprozeßrechts,  S.  8. 


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—     29     — 

Derartige  Ehen,  in  welchen  die  Frau  den  gleichge- 
schlechtlichen Verkehr  ihres  Mannes  kennt  und  aus  den 
verschiedensten  Motiven  (aus  Furcht  vor  Skandal,  aus 
Gleichgültigkeit  oder  aus  dem  Streben,  ihrerseits  freie 
Hand  zu  haben,  sogar  aus  Verständnis  für  die  Natur 
des  Mannes)  nicht  dagegen  einschreitet,  sind  nicht  selten. 

Die  Frau  kann  selbstverständlich  jeden  Augenblick 
ihre  Zustimmung  zurücknehmen,  bezw.  indem  sie  Ein- 
spruch erhebt,  ihre  Mißbilligung  zu  erkennen  geben.  Auf 
den  von  diesem  Angenblick  an  fortgesetzten  homosexuellen 
Verkehr  kann  sie  dann  die  Ehescheidungsklage  stützen. 
Sie  muß  aber  ernstlich  ihren  Willen  auf  Unterlassung 
des  Verkehrs  kundgetan  haben;  ihr  Protest,  der  nach 
längerer  frtiherer  Duldung  erfolgt,  darf  sich  nicht  als 
ein  bloß  formeller,  als  ein  lediglich  der  Ehescheidungs- 
klage halber  erhobener  Scheinprotest  darstellen. 

Die  homosexuelle  Handlung  kommt  dann  im  Ehe- 
scheidungsrecht noch  in  Betracht  im  Hinblick  auf  §  1568 
B.G.B.     Absatz  1  des  Paragraphen  lautet: 

„Ein  Ehegatte  kann  auf  Scheidung  klagen,  wenn  der 
andere  Ehegatte  durch  schwere  Verletzung  der  durch  die 
Ehe  begründeten  Pflichten  oder  durch  ehrloses  und  un- 
sittliches Verhalten  eine  so  tiefe  Zerrüttung  des  ehelichen 
Verhältnisses  verschuldet  hat,  daß  dem  Ehegatten  die 
Fortsetzung  der  Ehe  nicht  zugemutet  werden  kann." 

Dieser  Paragraph  ist  wichtig  für  diejenigen  Fälle, 
wo  ein  unter  den  §  175  StG.B.  fallender  Verkehr  nicht 
vorliegt,  bezw.  nicht  nachweisbar  ist,  sondern  lediglich 
gegenseitige  Onanie  feststeht;  ferner  in  allen  Fällen  homo- 
sexuellen Verkehrs  der  Ehefrau,  da  in  allen  diesen  Fällen 
ein  Ehescheidungsgrund  gemäß  §  1565  oder  einem 
sonstigen  Paragraphen  nicht  gegeben  ist 

Die  Vornahme  homosexueller  Handlungen  muß  zweifel- 
los mindestens  als  eine  schwere  Verletzung  der  durch  die 
Ehe  begründeten   Pflichten  betrachtet  werden,  da  jeder 


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—     30     — 

Ehegatte  durch  Eingehung  der  Ehe  zu  unverbrüchlicher 
Treue  dem  anderen  Ehegatten  gegenüber  und  zu  dem 
Verzicht  auf  irgend  welchen  außerehelichen  Geschlechts- 
verkehr sich  verpflichtet;  der  gleichgeschlechtliche  Ver- 
kehr des  verheirateten  Ehegatten  wird  aber  auch  meist 
als  ehrloses  und  unsittliches  Verhalten  zu  bezeichnen  sein. 
Eine  Pflichtverletzung  oder  ein  ehrloses  und  unsittliches 
Verhalten  liegt  nur  vor,  wenn  sie  verschuldet  sind,  also 
wenn  die  Handlung,  die  eine  solche  Bezeichnung  ver- 
dienen soll,  in  zurechnungsfähigem  Zustande  begangen 
worden  ist.  ^)  Freisprechung  des  homosexuellen  Ehe- 
gatten im  Strafprozeß  wegen  der  auf  der  Homosexualität 
gegründeten  Unzurechnungsfähigkeit  wird  gewöhnlich  auch 
den  Zivilrichter  veranlassen,  die  Verschuldung  zu  ver- 
neinen, prinzipiell  aber  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  der 
Zivilrichter  zu  einem  anderen  Schlüsse  gelangt  und  den 
Homosexuellen  für  die  Begehung  der  homosexuellen 
Handlung  als  verantwortlich  behandelt. 

Bei  dem  Begriff  „verschuldet  hat"  des  §  1568  darf 
man  selbstverständlich  nicht  die  Verschuldung  wegen  des 
Bestehens  der  Homosexualität  an  und  für  sich  für  aus- 
geschlossen erachten.  Die  Homosexualität  ist  allerdings 
nicht  verschuldet,  ebensowenig  wie  der  normale  Trieb  an 
sich,  aber  die  Handlungen,  die  während  der  Ehe  zur 
Befriedigung  des  homosexuellen  Triebes  vorgenommen 
werden,  sind  ebenso  verschuldet,  wie  die  Handlungen  des 
Heterosexuellen,  durch  welche  er  die  eheliche  Treue 
bricht.  Der  normale  Ehegatte  erhält  allerdings  in  der 
Ehe,  bei  deren  Eingehung  vorausgesetzt  wird,  daß  er 
eine  von  ihm  geliebte  Person  heiratet,  die  gesetzlich 
sanktionierte  Gelegenheit,  seinen  Trieb  in  einer  staatlich 


*)  Davidson,  Das  Recht  der  Ehescheidung  nach 
dem  B.G.B.,  S.  23,  Anm.,  und  die  dort  zitierten  Entscheidungen 
des  Reichsgerichts. 


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—     31     — 

anerkannten  Form  seiner  Natur  gemäß  zu  befriedigen, 
während  der  Homosexuelle  in  der  Ehe  nicht  diese  Ge- 
legenheit findet  und  die  Ehe  für  ihn  den  Charakter,  den 
sie  für  den  Normalen  hat,  gar  nicht  besitzen  kann.  Durch 
die  Eingehung  der  Ehe  bindet  er  sich  aber  freiwillig  und 
verspricht  eheliche  Treue;  seine  untreue  ist  yerschuldet, 
wenn  sie  auch  moralisch  entschuldbarer  erscheint,  als  der 
Ehebruch  des  Normalen. 

Durch  die  Verschuldung  muß  eine  so  tiefe  Zerrüt- 
tung des  ehelichen  Verhältnisses  herbeigeführt  worden 
sein,  daß  dem  Ehegatten  die  Fortsetzung  der  Ehe  nicht 
zugemutet  werden  kann.  Hiermit  ist  dem  richterlichen 
Ermessen  ein  weiter  Spielraum  gelassen;  es  besteht  kein 
Zwang  für  den  Richter,  im  Gegensatz  zu  §  1565,  bei 
einem  im  Rahmen  des  §  1568  in  Betracht  kommenden 
homosexuellen  Verkehr  wegen  des  letzteren  an  und  flir 
sich  die  Ehescheidung  auszusprechen,  sondern  nur  dann, 
wenn  die  in  §  1568  geforderte  Zerrüttung  der  Ehe  be- 
steht. Wann  eine  solche  anzunehmen  ist,  wird  ganz  von 
den  Umständen,  von  der  Häufigkeit  des  homosexuellen 
Verkehrs,  von  dem  Anlaß  der  Verübung  usw.  abhängen. 

Obgleich  der  homosexuelle  Verkehr  dem  Konträren 
weniger  zur  Schuld  anzurechnen  ist,  als  die  Untreue  eines 
Normalen  mit  einer  Frau,  so  wird  er  doch  in  der  Regel 
leichter  eine  Zerrüttung  der  Ehe,  wie  sie  §  1568  vor- 
sieht, hervorbringen.  Alle  oben  im  ersten  Abschnitt 
Kapitel  I  über  die  Wichtigkeit  der  Homosexualität  für 
den  Bestand  der  Ehe  entwickelten  Gesichtspunkte  sind 
auch  hier  in  Rücksicht  zu  ziehen.  Andererseits  wird 
sogar  mehrmaliger  gleichgeschlechtlicher  Verkehr  eines 
Homosexuellen  nicht  notwendigerweise  eine  die  Eheschei- 
dung rechtfertigende  Zerrüttung  zur  Folge  haben,  so 
z.  B.  könnte  es  sein,  daß  die  Anwendbarkeit  des  §  1568 
verneint  würde,  wenn  der  Homosexuelle  nur  zufällig  und 
bei  besonderen  Gelegenheiten  seinem  Triebe  unterlegen 


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—     32     — 

wäre,  seine  Schwäche  aber  bereute  und  stets  ernstlich 
gegen  seine  Neigung  angekämpft  hätte;  umgekehrt  liegt 
die  Möglichkeit  vor,  daß  man  bei  einem  auch  nur  ein- 
maligen gleichgeschlechtlichen  Verkehr  eines  Normalen, 
z.  B.  aus  Gewinnsucht,  die  Voraussetzungen  des  §  15C8 
als  gegeben  erachten  und  die  Scheidung  bewilligen 
würde. 

Bei  den  schon  vor  1900  geschlossenen  Ehen  ist  die 
Scheidung  wegen  einer  in  den  §§  1565 — 1568  B.G.B. 
bezeichneten  Verfehlung,  also  auch  wegen  gleichgeschlecht- 
lichen Verkehrs  nur  zulässig,  wenn  die  Verfehlung  auch 
nach  den  bisherigen  Gesetzen  einen  Scheidungsgrund 
bildet«  (Art.  201  E.G.  z.  B.G.B.). 

Der  gleichgeschlechtliche  Verkehr  war  nun  nach  den 
meisten  Rechten  dem  Ehebruch  gleichgestellt  und  galt 
wie  dieser  als  absoluter  Scheidungsgrund,  so  nach  dem 
preußischen  Landrecht,  dem  sächsischen  Landrecht,  der 
Doktrin  des  katholischen  und  protestantischen  Eirchen- 
rechts. 

Nach  dem  Code  civil  dagegen  bildet  gleichgeschlecht- 
licher Verkehr  keinen  absoluten  Scheidungsgrund,  jedoch 
fällt  er  meist  unter  den  Begriff  der  die  Scheidung  zu- 
lassenden „groben  Beleidigung''.  In  den  Fällen,  in  denen 
gleichgeschlechtliche  Handlungen  vom  Richter  als  Pflicht- 
verletzung oder  unsittliches  oder  ehrloses  Verhalten  nach 
§  1568  B.G.B.  aufgefaßt  werden,  wird  auch  so  gut  wie 
stets  eine  grobe  Beleidigung  im  Sinne  des  Code  civil 
vorliegen  und  daher  die  Ehescheidung  in  diesem  Falle 
statthaft  sein. 


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-     33     — 


Zweiter  Abschnitt 


Homosexualität  und  Entziehung  des 
Pflichtteils 

(bezw.  des  standesgemäTsen  Unterhalts). 

Die  Homosexualität  kann  eine  Rolle  spielen  bei  der 
Entziehung  des  Pflichtteils. 

Der  Pflichtteily  d.  L  die  Hälfte  des  gesetzlichen  Erb- 
teils^ die  Aszendenten  ihren  Abkömmlingen,  Kinder  ihren 
Eltern  und  der  eine  Ehegatte  dem  anderen  hinterlassen 
müssen,  kann  aus  gewissen  Gründen  den  Pflichtteils- 
berechtigten  entzogen  werden. 

unter  diesen  Gründen,  welche  den  Erblasser  zur 
Entziehung  des  Pflichtteils  gegenüber  einem  Abkömmling 
berechtigen,  wird  in  §  2333  Nr.  6  B.G.B.  der  Fall  genannt: 
„Wenn  der  Abkömmling  einen  ehrlosen  oder  unsittlichen 
Lebenswandel  wider  den  Willen  des  Erblassers  führf 
Nach  den  bisherigen  Auffassungen  über  gleichgeschlecht- 
lichen Verkehr  bedeutete  die  Vornahme  homosexueller 
Handlungen  eine  besonders  schwere  Unsittlichkeit,  ein 
scheußliches  Laster,  eine  von  Verrohung  und  Gemeinheit 
zeugende  Gesinnung,  eine  weit  schlimmere  Handlung,  als 
außereheliche  Geschlechtsakte  mit  Personen  des  anderen 
Geschlechts.  Im  Bannkreis  dieser  veralteten  Anschauungen 
'Würde  man  daher  wohl  geneigt  sein,  weit  leichter  in  der 
Begehung  homosexueller  Handlungen  einen  unter  den 
§  2333  Nr.  5  fallenden  unsittlichen  Lebenswandel  anzu- 
nehmen, als  wenn  es  sich  bloß  um  heterosexuelle  Dinge 
handelte;  ja  es  bestünde  wohl  die  Möglichkeit,  daß  man 
eine  einzelne  homosexuelle  Handlung,  namentlich  wenn 

Jahrbuch  VI.  3 


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—     84     — 

sie  za  einer  gerichtlichen  Verurteiiang  geführt  hätte,  für 
die  Anwendang  des  §  2838  Nr.  5  als  hinreichend  er- 
achten könnte. 

Bei  der  Auslegung  des  §  2833  Nr.  6  und  des  Be- 
griffes ,, unsittlicher  Lebenswandel'^  darf  man  nun  selbst- 
verständlich nicht  diese  veralteten  unrichtigen  Anschau- 
ungen zu  Grunde  legen  und  auch  letztwillige  Verfügungen 
von  Erblassern,  die,  mit  den  neueren  Forschungen  un- 
bekannt, in  diesen  Irrtümern  befangen  waren,  berück- 
sichtigen. Wenn  konträre  Sexualempfindung  des  Ab- 
kömmlings vorliegt,  so  ist  davon  auszugehen,  daß  die 
homosexuelle  Handlung  aus  der  homosexuellen  Natur 
fließt  und  nicht  anders  zu  beurteilen  ist,  als  die  hetero- 
sexuelle Handlung  des  Normalen.  Deshalb  wird  in  der  Vor- 
nahme einer  vereinzelten  homosexuellen  Handlung  kaum 
ein  unsittlicher  Lebenswandel  zu  erblicken,  insbesondere 
einer  Verurteilung  aus  §  175  St.G.B.  kein  besonderes  Ge- 
wicht für  die  Anwendung  des  §  2838  Nr.  5  B.G.B.  beizu- 
messen sein,  da  sie  keineswegs  einen  Beweis  fiir  einen 
unsittlichen  Lebenswandel  liefert;  denn  gerade  der  Un- 
erfahrene, der  Neuling,  der,  welcher  mit  der  homo- 
sexuellen Welt  unbekannt  ist,  wird  am  leichtesten  in 
strafrechtliche  Konflikte  geraten  und,  von  seinem  Triebe 
überwältigt,  am  ehesten  ohne  Überlegung  und  Berech- 
nung sich  vielleicht  an  einem  Normalen  vergreifen.^) 


^)  Wenn  Endemann,  B.G.B.,  Bd.  III,  S.  618,  Anm.  25,  sagt: 
Die  allgemeinen  Sittenanschauungen  müßten  maßgebend  sein  bei 
der  Entscheidung  der  Frage,  ob  ein  unsittlicher  Lebenswandel  im 
Sinne  des  §  2S83  Nr.  5  vorliegt,  so  ist  dies,  auf  die  Anschauungen 
über  Homosexualität  angewandt,  dahin  zu  berichtigen,  daß  die  auf 
veralteten  Vorurteilen  beruhenden  Anschauungen  nicht  maßgebend 
sind,  auch  wenn  sie  in  weiten  Kreisen  noch  herrschen.  Daher 
ist  auch  sein  Beispiel  für  die  Anwendung  des  §  233B  Nr.  5,  „näm- 
lich der  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  infolge  gerichtlichen 
Urteils'^  ^^r  den  Fall  nicht  im  allgemeinen  richtig,  daß  die  Ver- 
urteilung wegen  Vergehens  gegen  §  175  StG.B.  erfolgte.  —  Vgl. 


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—     86     — 

Ein  unsittlicher  Lebenswapodel  im  Sinne  des  §  2333 
Nr.  5  wird  ungefähr  unter  denselben  Voraussetzungen  an- 
zunehmen sein,  unter  denen  man  einen  solchen  bei  hetero- 
sexuellem Verkehr  bejahen  würde.  Also  z.  B.  wenn  der 
Homosexuelle  ohne  Rücksicht  auf  Stellung  und  Stand 
einen  fortgesetzten  ausschweifenden,  allgemein  Ärgernis 
erregenden  Verkehr  pflegt,  mit  verdächtigen  Burschen 
kneipt  und  zusammenlebt^  u.  dgl. 

Faßt  man  die  konträre  Sexualempfindung  mit  der 
herrschenden  Anschauung  als  krankhafte  Erscheinung  auf^ 
dann  wird  man  in  der  Beurteilung  eines  homosexuellen 
Lebenswandels  noch  milder  sein  und  das  Verhalten  des 
Homosexuellen  nicht  gleich  dem  des  Heterosexuellen^ 
sondern  weniger  streng  beurteilen;  denn  wenn  die 
Homosexualität  krankhaft  ist^  so  wird  man  weniger  leicht 
als  bei  Heterosexuellen  aus  einer  maßlosen,  zu  Exzessen 
fuhrenden  Betätigung  des  Geschlechtstriebes  von  einem 
unsittlichen  Lebenswandel  sprechen  dürfen. 

Unter  den  gleichen  Umständen ,  die  gemäß  §  2333 
Nr.  5  den  Erblasser  berechtigen,  den  Abkömmlingen  den 
Pflichtteil  zu  entziehen,  braucht  er  ihnen  gemäß  §  1611 
Abs.  2  auch  nur  den  notdürftigen,  anstatt  den  standes- 
gemäßen Unterhalt  zu  gewähren.  Hier  gilt  bezüglich 
,,de8  unsittlichen  Lebenswandels '^  das  eben  über  den 
§  2333  Nr.  5  Gesagte. 


auch  den  Aussprach  von  Heller  in  der  Deutschen  Juristen- 
Zeitung,  Nr.  5,  1902,  S.  246:  ^^Irrtümliche  Volksauffusungen  sind 
durch  Aufklärung  zu  hek&mpfen,  aher  nicht  in  der  Gesetzesaus- 
legung zu  berücksichtigen.^^ 


S* 


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—     36     — 


Dritter  Abschnitt. 


Homosexualität  und  Handlungsfähigkeit 

Die  Frage  des  Einflusses  krankhafter  Störung  der 
Geistestätigkeit  ist  im  Zivilrecht  keine  völlig  einheitliche, 
sie  macht  bei  allen  drei  Rechtsbegriffen,  Deliktsfähigkeit, 
Geschäftsfähigkeit  und  Entmündigung,  eine  besondere  Er- 
örterung notwendig.  Sie  läßt  sich  nicht  einfach  durch 
eine  Untersuchung  darüber  erschöpfen,  ob  Zurechnungs- 
oder Unzurechnungsfähigkeit  besteht.  In  jedem  Falle  ist 
zu  prüfen,  ob  die  konträre  Sexualempfindung  die  gesetz- 
lichen Erfordernisse  erfüllt,  welche  gerade  die  Delikts- 
fähigkeit oder  die  Geschäftsfähigkeit  ausschließen  oder 
die  Entmündigung  begründen.^) 


Kapitel  I. 

Die  Deliktsfähigkeit 

Wer  durch  eine  unerlaubte  Handlung,  wie  sie  die 
§§  823 — 826  B.G.B.  vorsehen,  einen  Schaden  verursacht 
(also  außerhalb  des  Vertragsrechts),  z.  ß.  Leben,  Gesund- 
heit, Eigentum  vorsätzlich  oder  fahrlässig  verletzt,  ist 
zum  Ersatz  des  Schadens  verpflichtet   Nach  §  827  B.G.B. 


')  Mit  Unrecht  erklären  manche  Autoren,  so  z.  B.  Holder, 
Kommentar  zum  B.G.B.,  Erläuterung  3  zu  §  104,  sowie  Stau- 
dinger, B.G.B.,  zu  §  6  lA  4d,  die  Voraussetzungen  der  Ent- 
schädigung wegen  Geisteskrankheit  für  die  gleichen  wie  diejenigen 
der  Geschäftsunfähigkeit 


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—     37     — 

ist  dagegen  derjenige  für  den  Schaden  nicht  yerantwort- 
lich^  welcher  im  Zustand  der  Bewußtlosigkeit  oder  in 
einem  die  freie  Willensbestimmung  ausschließenden  Zu* 
stand  krankhafter  Störung  der  Greistestätigkcit  einem  an- 
deren Schaden  zufügt  Der  Unzurechnungsfähige  braucht 
also  den  von  ihm  angerichteten  Schaden  grundsätzlich 
nicht  zu  ersetzen.^) 

Der  §  827  spricht  you  einem  Zustand  der  Bewußt- 
losigkeit und  Yon  einem  die  freie  Willensbestimmung 
ausschließenden  Zustand  krankhafter  Störung  der  Geistes- 
tätigkeit Die  Bewußtlosigkeit  als  Grund  für  die  An- 
nahme mangelnder  Verantwortung  werde  ich  nicht  weiter 
erörtern;  denn  eine  Bewußtlosigkeit  wird  die  Homo- 
sexualität an  und  für  sich  nie  erzeugen;  im  bewußtlosen 
Zustand  ausgeführte^  auf  der  Grundlage  der  konträren 
Sexualempfindung  beruhende  Handlungen  werden  nur  im 
alkoholischen  Rauschzustand  oder  im  epileptischen  Zu- 
stand vorkommen,  also  in  Fällen^  wo  diese  Zustände 
die  Ursache  der  Bewußtlosigkeit  bilden  und  letztere  nicht 
spezifisch  der  Homosexualität  zuzuschreiben  ist^ 

Dagegen  erfordert  der  im  §  827  weiter  vorgesehene 
Zustand  der  krankhaften  Störung  der  Geistestätigkeit 
welche  die  freie  Willensbestimmung  ausschließt,  eine 
nähere  Prüfung. 

Verlangt  wird:  1.  Eine  krankhafte  Störung  der 
Geistestätigkeit 

Sieht  man  in  der  konträren  Sexualempfindung  eine 
krankhafte  Erscheinung,  dann  ist  sie  auch  als  eine  krank- 
hafte Störung  der  Geistestätigkeit  zu  bezeichnen.     Die 


')  Die  Aasnahme  des  §  829,  wonach  der  Ersatz  des  Schadens 
gleichwohl  unter  bestimmten  Voraussetzungen  aus  dem  Vermögen 
des  unzurechnungsfähigen  Schädigers  verlangt  werden  kann,  än- 
dert an  dem  Prinzip  des  §  827  B.G.B.  an  und  für  sich  nichts  und 
ist  für  die  folgende  Untersuchung  nicht  weiter  von  Belang. 

*)  Vgl.  Moll,  Die  konträre  Sexualempfindung,  S.  478. 


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—     38     — 

meisten  Ärzte  geben  dies  auch  zu,  Moll  insbesondere, 
der  das  Vorkommen  der  Homosexualität  als  isoliertes 
Symptom  anerkennt^  faßt  sie  stets  als  Störung  der  Geistes- 
tätigkeit im  weiteren  Sinn  auf.  Der  Kontrektations- 
trieb  als  ein  psychisches  Symptom  falle  unter  den 
Begriff  der  Geistestätigkeit^  der  homosexuelle  Eontrekta- 
tionstrieb  sei  krankhaft,  deshalb  läge  krankhafte  Störung 
der  Geistestätigkeit  vor,  auf  eine  Störung  der  Intelligenz 
sei  der  Begriff  nicht  zu  beschränken,  i) 

Mit  der  Feststellung,  daß  eine  krankhafte  Störung 
der  Geistestätigkeit  vorliegt,  ist  aber  noch  nicht  die  Un- 
zurechnungsfähigkeit festgestellt,  yielmehr  muß  noch  das 
zweite  Erfordernis  des  §  827  hinzukommen^  nämlich  daß 
durch  die  Störung  die  freie  Willensbestimmung  ausge- 
schlossen werde. 

Die  meisten  Ärzte  sind  nun  der  Meinung,  daß  die 
konträre  Sezualempfindung  nur  selten  zur  yöUigen  Be- 
seitigung der  Zurechnungsfahigkeit  ftihre.  Sowohl  die- 
jenigen, welche  die  Homosexualität  nur  als  Symptom  eines 
Komplexes  krankhafter  Erscheinungen,  als  Zeichen  einer 
allgemeinen  Degeneration  betrachten,  als  auch  diejenigen, 
welche,  wie  Moll,  das  Vorkommen  der  konträren  Sexual- 
empfindung als  alleinige  krankhafte  Erscheinung  annehmen. 

Die  Möglichkeit  aber,  daß  die  Homosexualität 
unter  Umständen  die  Zurechnungsfähigkeit  ausschließe, 
wird  von  den  meisten  Ärzten  anerkannt.  So  haben  be- 
sonders Schaefer^  und  MoU^)  die  Ansicht  vertreten,  daß 

*)  Moll,Diekonträre  SexualempfiDduDg,S.473;Unter- 
Buchangen  über  die  Libido  sezualis,  Bd.  I,  Tl.  2,  S.  785. 

*)  Schaefer,  Über  die  forensische  Bedeutung  der 
konträren  Sezualempfindung,  in  der  Yierteljahrsschrift 
für  gerichtlicheMedizin  und  öffentlichesSanitätswesen, 
Bd.  XVII,  Heft  2,  S.  290—308. 

^}  Moll,  Die  konträre  Sexualempfindung,  S.  474,  und 
Untersuchungen  über  die  Libido  sexualis,  Bd.  I,  Tl.  2, 
S.  727—812. 


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—     39     — 

der  kontieren  Sexualem  pfindung  unter  Umständen  die 
Kraft  zukomme,  die  freie-  Willensbestimmung  auszu- 
schließen. Diese  Auffassung  hat  Moll  ganz  eingehend 
und  in  wissenschaftlich  schöner  Weise  entwickelt^) 


^)  Beide,  Schaefer  and  namentlich  Moll,  nehmen  solche  Un- 
zarechnuugsfähigkeit  infolge  konträrer  Sezualempfindung  nur  in 
seltenen  Ausnahmeföllen  an,  dahei  gehen  sie  davon  aus,  daß  efi 
sich  um  krankhaft  gesteigerte  Triebe  handeln  müsse.  Sie  betonen 
also  die  Krankhaftigkeit  der  Triebstarke,  demnach  schließt  eigent- 
lich auch  nach  ihnen  nicht  die  Homosexualität  an  und  für  sich  die 
Zurechnangsföhigkeit  aus.  Unter  Betonung  der  Notwendigkeit  der 
Feststellung  ganz  außergewöhnlicher  Triebstftrke  bin  auch  ich  der 
Ansicht,  daß  unter  Umstanden  solche  Stärke  des  Triebes  die  Un- 
zurechnungsfähigkeit zur  Folge  haben  kann,  nur  ist  dann  eben 
die  krankhafte  Erscheinung  die  Stärke  des  Triebes,  nicht  die 
Homosexualität  an  und  für  sich.  Solche  krankhafte  Triebstärke 
kann  aber  ebensogut  bei  normaler  Triebrichtung  vorkommen,  also 
ergibt  sich  wieder  das  Resultat,  daß  der  Grund  für  die  Annahme 
der  Unzurechnungsfähigkeit  nicht  in  der  Homosexualität  als  solcher 
zu  erblicken  ist. 

Eins  muß  allerdings  betont  werden,  daß  die  Homosexualität 
sich  durchschnittlich  mit  größerer  Stärke  geltend  macht,  als  die 
Heterosexualität  (was  wohl  zum  Teil  auf  die  infolge  der  allge- 
meinen Ächtung  des  gleichgeschlechtlichen  Triebes  vorhandene 
größere  Schwierigkeit  seiner  Befriedigung  zurückzuführen  ist),  und 
deshalb  Fälle  krankhaften  geschlechtlichen  Reizes  häufiger  bei 
Homosexuellen,  als  bei  Heterosexuellen  zu  finden  sein  mögen  oder 
mindestens  wegen  des  leichteren  Konflikts  der  Homosexuellen  mit 
dem  Gesetz  und  den  sozialen  Anschauungen  häufiger  bekannt  und 
eher  Anlaß  zur  Untersuchung  der  Frage  geben  werden. 

Wegen  dieser  größeren  Stärke  des  homosexuellen  Triebes 
darf  man  aber  den  Trieb  selbst  nicht  als  einen  krankhaften  be- 
trachten. Zwischen  Moll  und  mir  besteht  also  der  Unterschied, 
daß  er  den  homosexuellen  Trieb  als  solchen  für  krankhaft  hält 
und  daher  bei  vorhandener  anormaler  Stärke  dann  eher  zur  Prä- 
sumption  der  Unzurechnungsfähigkeit  gelangt,  während  er  bei  der 
normalen  Liebe  auch  beim  Vorhandensein  anormaler  Stärke  be- 
sonderen Nachweis  für  die  Unzurechnungsfähigkeit  verlangen  muß, 
weil  eben  hier  festzustellen  sind:  1.  krankhafte  Störung  der 
Geistestätigkeit,  2.  derartiger  Grad,  daß  die  freie  Willensbestim- 


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—     40     — 

Bei  dieser  Frage  nach  dem  Ausschluß  der  freien 
Willensbestimmung ^  wird  man  zunächst  nach  einer  Er- 
läuterung des  Begriffes  „Ausschluß  der  freien  Willens- 
bestimmung^'  suchen  müssen. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  die  Frage  der  Willens- 
freiheit und  -Unfreiheit,  des  Indeterminismus  und  Deter- 
minismus zu  erörtern. 

Der  Entscheidung  dieser  Streitfrage  bedarf  es  für 
den  Zweck  dieser  Arbeit  nicht.  Nur  muß  allerdings  ins 
Auge  gefaßt  werden,  daß  man  —  mag  man  dem  Deter- 
minismus oder  dem  Indeterminismus  huldigen  —  mit 
dem  Begriff  der  Freiheit  des  Willens,  der  freien  Willens- 
bestimmung nichts  oder  wenig  anfangen  kann.  Auch  die 
Umschreibungen  der  freien  Willensbestimmung  mit  regel- 
mäßiger Bestimmbarkeit  durch  Vorstellungen^)  oder  mit 
normalem,  vernunftgemäßem  Willen*)  ergeben  sehr  dehn- 
bare Definitionen  und  führen  zu  einer  allzu  häufigen  An- 


mung  aasgeschlossen  ist  Bei  der  Homosexualität  bedarf  Moll 
dagegen  nicht  des  besonderen  Nachweises  der  krankhaften  Stö- 
rung der  Geistestätigkeit,  sondern  nur  desjenigen  sub  2. 

Für  mich  müssen  nicht  nur  beim  hotero-,  sondern  auch  beim 
homosexuellen  Trieb  beide  Voraussetzungen  nachgewiesen  werden, 
also  auch  bei  der  Homosexualität  muß  Krankhaftigkeit  der  Trieb- 
stärke oder  sonstige  ausnahmsweise  Krankhaftigkeit  der  Homo- 
sexualität, die  eine  krankhafte  Störung  der  Geistestätigkeit  be- 
deutet, festgestellt  werden,  und  zwar  eine  solche,  welche  einen 
die  freie  Willensbestimmung  ausschließenden  Grad  aufweist. 

Praktisch  wird  der  Unterschied  nicht  groß  sein,  weil  ja  auch 
Moll  nur  in  seltenen  Ausnahmefällen  Unzurechnungsfähigkeit  in- 
folge konträrer  Sexualempfindung  annimmt  und  auch  er  eine  be- 
sondere Hyperästhesie  des  Triebes  fordert,  durch  welche  die 
Freiheit  des  Willens  beseitigt  wird. 

')  Liszt,  Lehrbuch  des  deutschenStrafrechts,  6.  Aufl., 
§  38,  S.  141.  —  Über  Liszts  Definition  vgl.  Mol  1s  Bedenken  in 
seinen  Untersuchungen  über  die  Libido  sexualis,  Bd.  I, 
Tl.  2,  S.  814  und  815. 

')  Endemann,  Lehrbuch  des  B.G.B.,  Bd.  I,  S.  149. 


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—     41     — 

nähme  der  ünzarechnangsf&higkeii  Am  besten  scheint 
mir  noch  die  von  Moll  gegebene  Begrifiisbestimmnng: 
Der  Ausschluß  der  freien  Willensbestimmung  durch  eine 
krankhafte  Störung  der  Geistestätigkeft  sei  dann  anzu- 
nehmen,  wenn  die  Störung  eine  solche  sei^  daß  die 
Gegenmotive^  welche  die  Handlung  unterdrücken^  nicht 
geweckt  werden  oder  nicht  wirken  können.^) 

Selbstverständlich  gibt  auch  diese  Umschreibung 
keine  Formel,  mit  welcher  alle  Schwierigkeiten  leicht  zu 
lösen  wären.    . 

Aber  diese  Definition  dürfte  doch  eine  Handhabe  von 
größerer  Sicherheit  gewähren  zur  Feststellang,  ob  Zu- 
rechnungsfähigkeit  besteht  oder  nicht  Zur  Lösung  der 
Frage  im  Ejinzelfall  kommen  dann  noch  folgende  Momente 
in  Betracht 

Zunächst  ist  zu  berücksichtigen  die  Art  und  der 
Grad  der  krankhaften  Erscheinung. 

Gewisse  Geisteskrankheiten  lassen  sofort  die  Unzu- 
rechnungsfähigkeit vermuten,  gewisse  tjrpische,  schwere 
Krankheitsbilder  schließen  unbedingt  die  Verantwortlich- 
«keit  aus.  Wenn  neben  oder  als  Teil  solcher  typischen, 
schweren  Erankheitsbilder,  einer  Paranoia,  einer  Mania, 
einer  progressiven  Paralyse,  Homosexualität  einhergeht,  so 
wird  Unzurechnungsfähigkeit  bestehen  wegen  der  typischen, 
die  Verantwortung  ausschließenden  Paranoia,  Mania  usw , 
nicht  wegen  der  Homosexnalität  Diese  Fälle  berühren 
uns  hier  nicht  Die  Homosexualität  kommt  aber  selten 
bei  solchen  Geisteskrankheiten  im  engeren  Sinne  vor,  viel- 
mehr bildet  sie  regelmäßig  höchstens  nur  eine  krankhafte 
Erscheinung  leichteren  Grades.  Derartige  geistige  Er- 
krankungen  leichteren  Grades,  wie  die  Homosexualität, 
werden  aber  nur  ganz  ausnahmsweise  die  Unzurechnungs- 


0  UnterBUchuDgen  über  die  Libido  sexnalis,  Bd.  T, 
Tl.  2,  S.  767. 


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-     42     - 

fähigkeit  nach  sich  ziehen.  Bei  ihr  muß  schon  eine  be- 
sondere Stärke  des  Triebes^  ein  impulsivähnlicher  Drang, 
eine  durch  die  Homosexualität  yöUig  beherrschte,  krank- 
hafte Psyche  vorhanden  sein,  welche  die  Handlungen  des 
Konträren  in  abnorm  starker  und  krankhafter  Weise  be- 
einflußt. Das  heißt  also:  Wenn  man  auch  anerkennt, 
daß  die  Deliktsfähigkeit  infolge  des  homosexuellen  Triebes 
bzw.  seiner  krankhaften  Steigerung  ausgeschlossen  sein 
kann,  so  wird  man  doch  niemals  von  einer  unbedingt 
und  in  abstracto  bestehenden  Unzurechnurigsfahigkeit  auf 
Grund  des  homosexuellen  Triebes  reden  dürfen,  vielmehr 
stets  nur  von  Fall  zu  Fall  bei  jeder  einzelnen  konkreten 
Handlung  die  Stärke  des  Triebes  und  seinen  Einfluß  auf 
die  Psyche  des  Handelnden  ins  Auge  zu  fassen  haben. 
Denn  nur  die  genaue  Berücksichtigung  der  tatsächlichen 
Umstände,  nicht  die  Psyche  des  Handelnden,  für  sich 
allein,  ermöglicht  die  Entscheidung  der  Frage  nach  der 
Zurechnungsfähigkeit  des  Homosexuellen.  So  kann  z.  B. 
trotz  des  gleichen  äußeren  Verstoßes  gegen  §  175  St.G.B. 
die  Zurechnungsßlhigkeit  des  einen  Homosexuellen  für 
seine  Handlung  ganz  anders  zu  beurteilen  sein  als  die- . 
jenige  eines  anderen  Homosexuellen.  Die  Zurechnungs- 
fähigkeit des  Homosexuellen,  der  in  einer  alle  Überlegung 
und  alle  Gegenmotive  zurückdrängenden  sinnlichen  krank- 
haften Erregung,  seinem  blinden  Drang  folgend,  sich  zu 
einem  geschlechtlichen  Angriff  hinreißen  läßt,  wird  viel- 
leicht zu  verneinen  sein,  während  sie  bei  einer  mit  kaltem 
Blut  und  kluger  Berechnung  ausgeführten,  planmäßigen 
Verführung  keinem  Zweifel  unterliegt. 

Aber  nicht  nur  die  Handlungen  verschiedener  Per- 
sonen, die  beide  homosexuell  sind,  sondern  auch  ver- 
schiedene Akte  ein  und  desselben  Homosexuellen  können 
in  dem  einen  Fall  in  dem  Zustand  der  ünzurecbnungs. 
fähigkeit,  in  dem  anderen  in  dem  Zustand  der  Zurech- 
nuDgsfähigkeit  begangen  worden  sein. 


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—     43     — 

Ich  weiß  wohl,  daß  die  Psychiatrie  im  allgemeinen 
abgeneigt  ist,  die  Verantwortung  ein  und  derselben  Person 
für  gewisse  Handlungen  anzunehmen  und  für  andere 
zu  leugnen.  Ich  stimme  jedoch  völlig  der  Ansicht  von 
Moll  bei,  daß  man  unbedingt  die  Möglichkeit  partieller 
Zurechnungsfähigkeit  (also  Zurechnungsfähigkeit  für  die 
einen,  Unzurechnungsfähigkeit  fbr  die  anderen  Hand- 
lungen) anerkennen  muß.^) 

Die  Möglichkeit  partieller  Zurechnungsfähigkeit 
dürften  insbesondere  folgende  Erwägungen  rechtfertigen: 
Die  Zurechnungsfähigkeit  ist  von  der  Motivation  abhängig 
und  reicht  soweit,  als  die  Gegenmotive  wirken  können. 
Diese  Gegenmotive  sind  je  nach  den  in  Betracht  kom- 
menden Handlungen  verschieden.  Demnach  ist  es  nicht 
auffällig,  wenn  auch  die  Zurechnungsfähigkeit  bei  der 
einen  Handlung  vorhanden  ist,  bei  der  anderen  fehlt 

Die  Motive,  die  von  der  Begehung  der  einen  Hand- 
lung abhalten  sollen,  können  mit  der  Krankheit  im  engsten 
Zusammenhang  stehen,  die  Krankheit  kann  gerade  nur 


^)  Diese  partielle  Zarechnungsf&higkeit  ist  wohl  za  anter- 
scheiden  von  der  verminderten  Zurechnangsfähigkeit,  welche  nicht 
den  AasBchluß  der  Zurecbnungsfahigkeit  in  gewissen  Fällen 
bedeutet,  sondern  das  Bestehen  der  ZurechnungsfKhigkeit  voraus- 
setzt und  nur  einer  Minderung  der  Zurechnungsf&higkeit  gleich- 
kommt 

Vgl.  die  Untersuchungen  über  die  Libido  sexualis, 
Bd.  I,  Tl.  2,  S.780n.  folg.  und  die  dort  S.  782,  Anm.  1  u.  2  u.  S.  780, 
AnuL  1 — 3  angeführte  juristische  Literatur.  Wegen  Anerkennung 
einer  „partiellen^*  Zurechnungsfähigkeit  auch  zu  vgl.  Dernburg, 
Pandekten,  T,  §  56  (letzter  Absatz).  —  Vgl.  auch  Holder,  Kom- 
mentar zum  B.G.B.,  Anm.  3  zu  §  104,  S.  241:  „Die  freie  Willens- 
bestimmung ist  ausgeschlossen,  je  nachdem  das  praktische  Be- 
dür&is  den  Ausschluß  rechtfertigt  oder  nicht**  —  Bolze,  Ent- 
scheidungen des  Reichsgerichts,  Bd.  IV,  S.  12,  Nr.  41  und 
Bd.  II,  S.  10,  Nr.  28;  femer  Dalloz,  Repertoire,  Dispositions 
entre  vifs  et  testaments,  Bd.  XYI,  Nr.  194,  und  Suppl.  du 
Repertoire,  Bd.  V,  Nr.  74. 


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—     44    — 

infolge  gewisser  bestimmter  Reize  eine  abnorme  Reaktion 
hervorrufen^  während  sie  sich  bei  anderen  Reizen  nicht 
geltend  macht  und  das  Verhalten  des  Kranken  nicht 
beeinflußt  oder  kaum  anders  als  das  des  Normalen. 

Wenn  man  nun  schon  anerkennt,  daß  im  Strafrecht 
die  UnzurechnuDgsfä.higkeit  eines  Eonträrsexuellen  für 
eine  gegen  §  175  yerstoßende  Handlung  nicht  notwen- 
digerweise die  Unzurechnungsfähigkeit  ßir  eine  andere 
Handlung  zur  Folge  hat,  so  wird  man  noch  viel  weniger 
die  von  einem  Eonträrsexuellen  begangene  schädliche 
Handlung  im  Zivilrecht  bei  der  Frage  des  Schaden- 
ersatzes als  die  Handlung  eines  unzurechnungsfähigen 
betrachten  müssen,  auch  wenn  der  Betreffende  im  Straf- 
prozeß wegen  Vergehens  gegen  §  175  auf  Grund  des 
§  51  StG.B.  freigesprochen  worden  ist 

Die  verschiedenartige  Beurteilung  des  Geisteszustan- 
des des  Homosexuellen  im  Straf-  und  Zivilprozeß  kann 
zunächst  überhaupt  seinen  Grund  in  prozessualen  Ge- 
sichtspunkten haben. 

Der  Zivilrichter  ist  an  das  Urteil  des  Strafrichters 
nicht  gebunden,  er  hat  die  gesamte  Sachlage  nach  seinem 
Ermessen  zu  prüfen,  er  kann  neue  Gutachten  über  den 
Geisteszustand  der  homosexualen  Partei  anordnen  und 
zur  Annahme  der  Zurechnungsfähigkeit  gelangen,  trotz- 
dem der  Strafrichter  das  Gegenteil  feststellte.  Sodann 
ist  die  Stellung  des  Konträren  im  Zivilprozeß  eine  andere 
als  im  Strafprozeß.  In  letzterem  ist  er  Angeklagter  und 
es  gilt  zu  seinen  Gunsten  der  Satz:  „In  dubio  pro  reo". 
Im  Falle  von  Zweifeln  über  die  Zurechnungsfähigkeit 
müssen  ihm  die  Zweifel  zu  gute  kommen,  was  Frei- 
sprechung zur  Folge  hat  Im  Zivilprozeß  ist  er  dagegen 
lediglich  beklagte  Partei,  der  die  klagende  Partei  gegen- 
übersteht Wenn  er  Schaden  angerichtet  hat  und  des- 
halb auf  Schadenersatz  belangt  wird,  so  muß  er,  um 
sich  zu  befreien,  beweisen,  daß  er  unzurechnungsfähig 


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—     45     — 

war,  daß  die  Voraussetzuligen  des  §  827  zur  Zeit  der 
schädigenden  Handlang  gegeben  waren. 

Der  Satz  „in  dubio  pro  reo"  hat  im  Zivihrecht 
keinen  Sinn^  wo  es  keinen  Angeklagten  gibt;  bloße 
Zweifel  an  der  Zurechnungsfähigkeit  können  den  vollen, 
im  Zivilprozeß  regelmäßig  dem  beklagten  Schädiger  ob- 
liegenden Beweis  der  Unzurechnungsfähigkeit  nicht  er- 
setzen. 

Eine  abweichende  Beurteilung  der  Zurechnungs- 
fähigkeit im  Straf-  und  Zivilrecht  kann  aber  auch  in 
der  Verschiedenheit  der  in  Betracht  kommenden  Motive 
zu  suchen  sein.  So  wird  im  Zivilrecht  insbesondere  der 
Gesichtspunkt  der  ,,Schädlichkeit'<  der  Handlung  im 
Vordergrund  stehen  und  die  Frage  sich  auf  werfen^  ob 
nicht  das  Bewußtsein,  daß  aus  der  Handlung  für  den 
anderen  ein  körperlicher  Schaden  entstehen  konnte^  ein 
wirksames  Motiv  gegen  die  Befriedigung  des  Triebes 
hätte  bilden  und  die  aus  ihm  resultierende  Handlung 
hätte  verhindern  müssen. 

Deshalb  steht  z  B.  die  Tatsache,  daß  die  Zurech- 
nungsfähigkeit im  Strafrecht  bezüglich  der  Begehung 
einer  beischlafähnlichen  Handlung  verneint  worden  ist, 
nicht  der  zivilrechtlichen  Haftung  des  Freigesprochenen 
für  einen  durch  Paedicatio  einem  Dritten  zugefügten 
Schaden  entgegen,  weil  die  Triebstärke  vielleicht  nicht 
derart  war,  daß  diese  gefährlichere  Handlung  nicht  hätte 
unterbleiben  und  die  Einsicht  in  diese  Gefährlichkeit 
nicht  als  geeignetes  Gegenmotiv  hätte  wirken  können. 

Sodann  aber  sind  überhaupt  nicht  nur  die  objek- 
tiven, sondern  auch  die  subjektiven  Voraussetzungen  für 
die  Haftbarkeit  wegen  zugefügten  Schadens  im  Zivil- 
recht andere,  als  diejenigen  für  die  Strafbarkeit  wegen 
homosexueller  Handlungen.  Die  Haftbarkeit  tritt  auch 
schon  bei  bloßer  Fahrlässigkeit  ein.  Daher  kann  straf- 
rechtlich zwar  der  Vorsatz  verneint  werden,  nichtsdesto- 


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-     46     — 

weniger  ist  es  möglich,  daff  derselben  Handlang  eine 
Fahrlässigkeit  zu  Grande  liegt;  eine  solche  genügt  aber 
in  dem  Fall  des  §  828  B.G.B.,  um  den  Täter  für  den 
Ersatz  des  Schadens  haftbar  zu  machen. 

Bei  dieser  Frage  der  zivilrechtlichen  Verantwortung 
für  die  Folgen  einer  schädigenden  Handlung  sind  zwei 
Arten  von  Fällen  zu  unterscheiden.  Erstens  die  Fälle^ 
wo  die  Handlung  direkt  zur  Befriedigung  des  homo- 
sexuellen Triebes  oder  im  Gefolge  dieser  Befriedigung 
vorgenommen  wird^  wo  sie  aus  dem  organischen  Drang 
des  Eontrektations-  und  Detumeszenztriebes  hervorgeht, 
z.  B.  ein  Homosexueller  steckt  einen  anderen  Mann 
syphilitisch  an  oder  verursacht  durch  eigentliche  Pae- 
dikatio  eine  körperliche  Verletzung.  Hier  ist  die  schä- 
digende Handlang  direkter  Ausfluß  der  Homosexualität, 
und  hier  wird  man  daher  den  krankhaften  Trieb,  aus 
dem  die  Handlung  hervorging,  unter  Umständen  für  ge- 
eignet erachten,  auch  die  Willensfreiheit  bei  Begehung 
der  Handlung  auszuschließen. 

Zweitens  die  Fälle,  wo  die  schädigende  Handlung 
nicht  zur  direkten  Befriedigung  des  Triebes  oder  in  deren 
Gefolge  vorgenommen  wird,  sondern  nur  mittelbar  mit 
dem  Trieb  und  dessen  Befriedigung  zusammenhängt;  so 
z.  B.  die  Fälle,  in  denen  ein  Homosexueller  einen  Neben- 
buhler aus  homosexueller  Eifersucht  verletzt. 

Während  die  Fälle  der  ersteren  Art  direkten  Aus- 
fluß der  Homosexualität  bilden,  während  bei  ihnen  die 
Befriedigang  des  Triebes  die  direkte  und  unmittelbare 
Ursache  der  Tat  darstellt  und  der  Detumeszenz-  und 
Eontrektationstrieb  oft  mit  fast  organischem  Zwang  zur 
Handlung  drängen,  besteht  in  der  zweiten  Eategorie  von 
Fällen  dieser  unmittelbare  Eausalzusammenhang  zwischen 
Trieb  und  Handlung  nicht,  resultiert  die  Handlung  nur 
aus  homosexuellen  psychischen  Motiven,  die  in  der  BrCgel 
kaum   anders   zu   beurteilen   sein  werden,   als  wenn  sie 


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—     47     — 

aas  heterosexuellen  Mothen  begangen  worden  wäre; 
deshalb  wird  in  den  ersten  Fällen  die  Znrechnungs* 
fähigkeit  weit  eher  zu  verneinen  sein^  als  in  den  zweiten. 

Allerdings  kann  auch  je  nach  den  Umständen  in  der 
zweiten  Kategorie  von  Fällen  das  homosexuelle  Motiv^ 
aus  dem  die  Handlung  entsprangt  wegen  des  krankhaften 
und  gesteigerten  Trieblebens  Unzurechnungsfähigkeit  be«- 
dingen^  aber  wohl  nur  äußerst  selten. 

Endlich  wird  eine  Unzurechnungsfähigkeit  wegen 
Homosexualität  überhaupt  nicht  in  Frage  kommen  können 
in  den  Fällen^  wo  gar  kein  homosexuelles  Motiv  mit- 
gewirkt hat,  also  bei  irgend  welchen  schädigenden  Hand- 
lungen einea  Homosexuellen,  die  mit  dem  Trieb  in  gar 
keinem  Zusammenhang  stehen. 

Ein  Schriftsteller,  Wachenfeld,  den  ich  bisher 
nicht  erwähnt  habe,  will  die  konträre  Sexualempfindung 
bei  Handlungen,  die  nach  §  175  strafbar  sind,  ganz  all- 
gemein als  Schuldausschließungsgrund  gemäß  §  51  StG.B. 
gelten  lassen.  Wachenfeld  nimmt  in  seiner  Schrift  „Homo- 
sexualität und  Strafgesetz^'  (Leipzig,  Dieterichsche  Verlags- 
bachhandlung  1901)  S.  97 — 105  an,  daß  jeder  wirkliche 
Konträr-Sexuale  (worunter  er  nur  den  versteht^  bei  welchem 
völlige  Unmöglichkeit  des  heterosexuellen  Geschlechtsver- 
kehrs besteht)  bei  Vergehen  gegen  §  175  als  unzurechnungs- 
fähig zu  betrachten  und  daher  freizusprechen  sei.  Die  kon- 
träre Sexualempfindung  sei  ein  krankhafter  Geisteszustand 
und  hindere  den  Konträrsexuellen  an  der  Strafeinsicht 
homosexueller  Handlungen,  demnach  lägen  die  Voraus- 
setzungen des  §  51  StG.B.  vor.  Diese  Auffassung  halte 
ich  für  durchaus 'unrichtig.  Nicht  auf  das  Vorstellungs- 
vermögen ausschließlich,  nicht  auf  die  Strafeinsicht  kommt 
es  an,  wie  Wachenfeld  meint,  sondern  auf  das  Willens- 
vermögen, welches  durch  mangelnde  Strafeinsicht  nicht 
aufgehoben  zu  sein  braucht,  andererseits  durch  Anomalien 
des  Gefühls  und  Trieblebens  beseitigt  sein  kann. 


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—     48     — 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort^  die  Ansicht  Wachenfelds 
des  Näheren  zu  widerlegen,  ich  verweise  in  dieser  Be- 
ziehung auf  meine  eingehende  Besprechung  des  Wachen- 
feldschen  Werkes  in  dem  Jahrbuch  IV,  insbesondere  auf 
S.  729—736.  Hier  sollen  nur  die  für  das  Zivilrecht  aus 
der  Wachenfeldschen  Auffassung  sich  ergebenden  Eonse- 
quenzen hervorgehoben  werden. 

Da  nach  Wachenfeld  für  die  Frage  der  Zurechnungs- 
fähigkeit die  Strafeinsicht  maßgebend  ist,  so  folgert  er 
mit  Recht,  daß  der  Konträre  für  alle  sonstigen  Delikte, 
abgesehen  von  denen  gegen  §  175,  zurechnungsfähig  ist, 
da  seine  konträre  Sexualempfindung  seine  Strafeinsicht 
bei  den  übrigen  strafbaren  Handlungen  nicht  aufhebe. 
Um  so  mehr  müßte  dann  angenommen  werden,  daß  der 
Konträre  für  schädigende  Handlungen,  mögen  sie  auch 
unter  dem  Einfluß  der  konträren  Sexualempfindung  be- 
gangen worden  sein,  zivilrechtlich  stets  verantwortlich  sei 
und  niemals  sich  auf  Unzurechnungsfähigkeit  berufen 
könne.  Denn  im  Zivilrecht  kommt  die  Strafeinsicht  gar 
nicht  in  Betracht  Läßt  man  das  Vorstellungsvermögen 
für  die  Frage  der  Zurechnungsfähigkeit  ausschließlich 
entscheiden,  dann  ist  maßgebend,  ob  der  Konträre  bei 
schädigenden  Handlungen  die  Einsicht  in  die  Schädlich- 
keit der  Handlung  besitzt,  diese  ist  aber  von  der  kon- 
trären Sexualempfindung  unberührt  und  wegen  des  anor- 
malen Trieblebens  nicht  beseitigt 


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—     49     — 

Kapitel  IL 
Die  Gesohäftsfähigkeit.') 

Die  Frage  des  Einflusses  geistiger  Störungen  stellt 
sich  bei  der  Geschäftsfähigkeit  etwas  anders  als  bei  der 
Verantwortung  für  unerlaubte  Handlungen  dar. 

Nach  §  104,  No.  2  B.G.B.  ist  geschäftsunfähig: 

„Wer  sich  in  einem  die  freie  Willensbestimmung  aus- 
schließenden Zustand  krankhafter  Störung  der  Geistes- 
tätigkeit befindet,  sofern  nicht  der  Zustand  seiner  Natur 
nach  ein  vorübergehender  ist" 

Während  bei  der  Deliktsfähigkeit  von  Fall  zu  FaU 
untersucht  werden  muß^  ob  für  die  einzelne  Handlung 
die  Zurechnungsfähigkeit  durch  einen  die  freie  Willens- 
bestimmung ausschließenden  Zustand  krankhafter  Störung 
der  Geistestätigkeit  beseitigt  ist  oder  nichts  wird  im  §  104 
die  Geschäftsunfähigkeit  ganz  allgemein  unabhängig  von 
einer  bestimmten  Handlung  normiert.  Hier  wird  für  die 
Geschäftsunfähigkeit  keine  Beziehung  zu  einer  bestimmten 
Handlung  erfordert,  femer  reicht  nicht  der  Nachweis 
einer  krankhaften  Störung  aus,  sondern  es  muß  ein 
dauernder  Zustand  der  Unzurechnungsfähigkeit  bestehen. 
Wird  solch  ein  dauernder,  die  Zurechnungsfähigkeit  aus- 
schließender Zustand  festgestellt,  dann  liegt  Geschäfts- 
unfähigkeit vor. 

Die  Willenserklärung  eines  solchen  Geschäftsun- 
fähigen ist  aber  nach  §  105^  Abs.  1  nichtig. 

Die  konträre  Sexualempfindung  mag  nun  zwar  an 
und  für  sich  als  ein  krankhafter  dauernder  Zustand 
aufgefaßt  werden,  jedenfalls  aber  läßt  sich  dieser  Zustand 


0  Nach  den  Regeln  über  die  Geschftftsfähigkeit  beurteilt 
sich  auch  die  Frage  der  Testierfäbigkeit,  die  nur  eine  Art  der 
GeschäftB^Oiigkeit  darstellt 

Jahrbuch  VI.  4 


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—     50     — 

nicht  als  ein  die  freie  Willenserklärung  dauernd 
ausschließender  betrachten.  Die  Homosexualitö.t  mag 
unter  Umständen  die  Unzurechnungsfähigkeit  fär  gewisse 
Handlungen  zur  Folge  haben,  niemals  aber  ist  sie  dazu 
angetan,  die  Nichtigkeit  aller  und  jeder  Willenserklärungen 
des  Homosexuellen  zu  rechtfertigen. 

Wenn  nun  auch  die  konträre  Sexualempfindung  eine 
absolute  Geschäftsunfähigkeit  nie  nach  sich  zieht,  so  be- 
steht doch  die  Möglichkeit,  daß  man  im  Einzelfall  ge- 
wisse Willenserklärungen  infolge  der  Homosexualität  für 
nichtig  erklärt  und  zwar  auf  Grund  des  §  105,  Abs.  2, 
der  lautet: 

„Nichtig  ist  auch  eine  Willenserklärung,  die  im  Zu- 
stande der  Bewußtlosigkeit  oder  vorübergehender 
Störung  der  Geistestätigkeit  abgegeben  wird.'' 

Im  Gegensatz  zu  §  104  erfordert  §  105,  Abs.  2  keinen 
dauernden  und  keinen  krankhaften  Zustand. 

Sodann  spricht  §  105,  Abs.  2  auch  nicht  einmal  von 
einer  die  freie  Willensbestimmung  ausschließenden 
Störung.  Aus  der  Entstehungsgeschichte  des  Paragraphen 
ergibt  sich  aber,  daß  nur  ein  redaktioneller  Fehler  vor- 
liegt und  auch  in  §  105,  Abs.  2,  ebenso  wie  in  §  104  eine 
die  freie  Willensbestimmung  ausschließende  Störung 
verlangt  wird.^) 

*)  Aus  den  Protokollen  —  vgl.  Mugdan,  Materialien,  All- 
gemeiner Teil,  S.  674  —  geht  hervor,  daß  man  von  den  nach 
§  104  Unzurechnungsfähigen  lediglich  diejenigen  ausnehmen  wollte, 
bei  denen  die  Unzurechnungsfähigkeit  nur  eine  vorübergehende 
ist,  um  diese  bezüglich  des  Zugehens  einer  Willenserklärung 
nicht  auf  die  gleiche  Stufe  mit  den  dauernd  Unzurechnungsfähigen 
zu  stellen.  Dagegen  sollte  nicht  ein  Gegensatz  geschaffen  werden 
zwischen  solchen,  deren  Willensfreiheit  ausgeschlossen  ist,  und 
solchen,  bei  denen  nur  eine  bloße  Störung  der  Geistestätigkeit 
geringeren  Grades  besteht  In  beiden  Fällen,  sowohl  des  §  104, 
als  auch  des  §  105,  Abs.  2  muß  die  Störung  einen  Grad  erreichen, 
der  den  Ausschluß  der  freien  Willensbestimmung  zur  Folge  hat. 


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—     51     — 

Za  einem  weiteren  Bedenken  gibt  §  105,  Abs.  2 
noch  aus  einem  anderen  Grunde  Anlaß. 

Da  der  Paragraph  nur  von  einer  vorübergehen- 
den Störung  spricht^  so  läßt  sich  fragen,  ob  denn  die 
Homosexualität,  die  jedenfalls  keinen  vorübergehenden, 
sondern  einen  dauernden  Zustand  bildet,  unter  eine 
Störung  im  Sinne  des  §  105,  Abs.  2  rubriziert  werden  darf. 

Diese  Frage  wird  man  aber  bejahen  müssen,  nament- 
lich wenn  man  (wie  ich  es  auch  tue)  eine  partielle  Zu- 
rechnungs-  und  Unzurechnungsfähigkeit,  eine  partielle 
Geschäftsfähigkeit  und  Geschäftsunfähigkeit  anerkennt^) 

Denn  wenn  auch  §  105,  Abs.  2  in  erster  Linie 
vorübergehende  Störungen,  wie  Fieber,  Delirien,  Schlaf- 
trunkenheit, im  Auge  hat,  so  muß  der  Paragraph  doch 
auch  auf  einen  dauernden  krankhaften  Zustand  in  An- 
wendung gebracht  werden,  insofern  dieser  Zustand  nur 
vorübergehende  Unzurechnungsfähigkeit,  ako  nur  Un- 
zurechnungsfähigkeit filr  einzelne  Willenserklärungen 
nach  sich  zieht,  sonst  würde  das  Ergebnis  das  sein,  daß 
weder  nach  §  104,  noch  nach  §  105  eine  Nichtigkeit  der 

—  Goaak,  Lehrbuch  des  Deutschen  Bürgerlichen  Rechtes 
auf  den  Grundlagen  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches, 
Bd.  I,  S.  162,  §  55,  Nr.  4,  definiert  gleichfalls  die  Unzurechnungs- 
fähigkeit des  §  105,  Abs.  2  als  einen  Zustand,  bei  dem  die  freie 
Willensbestimmung  ausgeschlossen  ist.  —  Auch  Schnitze,  in 
dem  Lehrbuch  der  gerichtlichen  Psychiatrie,  herausge- 
geben von  Hoche,  Tl.  1,  Abschnitt  2,  Kap.  II,  S.  200,  hält  es  fUr 
selbstverständlich,  daß  in  §  105,  Abs.  2  gleichfalls  eine  die  freie 
Willensbestimmung  ausschließende  Störung  der  Geistestätig- 
keit gemeint  ist. 

^)  Über  partielle  Unzurechnungsfähigkeit  s.  oben  S.  48;  femer 
wegen  partieller  Geschäfts-  und  Testierfähigkeit  die  Zeitschrift 
Das  Recht,  25.  Januar  1908:  „Eine  geistige  Erkrankung  des 
Erblassers  steht  der  Gültigkeit  seiner  letztwilligeu  Verfügung 
nicht  entgegen,  wenn  diese  von  der  Erkrankung  nicht  beeinflußt 
isf  (Urteil  des  Bayerischen  Oberlandesgerichts  vom  27.  No- 
vember 1902.) 

4* 


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—     52     — 

während  Torübergehender  Unzurechnangsfähigkeit  bei 
dauerndem  krankhaften  G^isteszastand  abgegebenen 
Willenserklärnngen  bestünde  und  solche  Willenserklä- 
rungen  als  gültig  angesehen  werden  müßten.  Mit  an- 
deren Worten:  Man  muß  einen  Hauptunterschied  zwischen 
§  104  und  §  105,  Abs.  2  darin  sehen,  daß  §  104  den 
dauernden  Ausschluß  der  freien  Willensbestimmung, 
§  105,  Abs.  2  nur  den  vorübergehenden  Ausschluß  be- 
tri£Ft,  und  diese  dauernde  oder  vorübergehende  Unzu- 
rechnungsfähigkeit deckt  sich  nicht  mit  der  £Vage  der 
dauernden  oder  vorübergehenden  Störung  der  Geistes- 
tätigkeit, da  Störung  der  Geistestätigkeit  noch  nicht 
Ausschluß  der  freien  Willensbestimmung  bedeutet.^) 

Die  Fälle  nun,  in  denen  die  konträre  Sexualempfindung 
bei  Abgabe  einer  Willenserklärung  Ausschluß  der  freien  Wil- 
lensbestimmung nach  sich  zieht,  werden  äußerst  selten  sein. 

Hier  gilt  das  Gleiche,  wie  das  oben  bezüglich  der 
zweiten  und  dritten  Art  der  unerlaubten  Handlungen  Aus- 
geführte. Hier  in  gleichem  Maße  wie  dort  besteht  kein 
direkter  Zusammenhang  zwischen  Handlung  und  Trieb. 

Es  werden  also  z.  B.  Schenkungen  oder  letztwillige 
Verfügungen  eines  Homosexuellen  an  einen  Geliebten, 
auch  wenn  man  die  Homosexualität  als  krankhafte  Er- 
scheinung betrachtet,  nicht  ohne  weiteres  wegen  der  kon- 
trären Sexualempfindung  nichtig  sein.  Je  näher  das 
homosexuelle  Motiv  liegt,  je  größer  seine  Stärke,  um  so 
eher  wird  man  zur  Verneinung  der  Zurechnuugsfähigkeit 
gelangen  können ;  wo  ein  homosexuelles  Motiv  ganz  fehlt, 

>)  Planck  (B.6.B.,  zu  §  104)  wül  §  105  nur  auf  Zustande 
vorübergehender  Geistesstömngen,  die  nicht  auf  Geisteskrankheit 
beruhen ,  wie  Fieberdelirien  usw.,  anwenden,  dagegen  nicht  auf 
vorübergehende  Unzorechnungsföhigkeit,  die  auf  krankhafter 
Psyche  beruht,  indem  er  leugnet,  daß  das  B.G.B.  partielle  Ge- 
schäftsfähigkeit kenne.  —  Vgl.  dagegen  Endemann,  Bd.  I,  §  30, 
Nr.  5  und  §  85. 


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—     53     — 

wird  auch  von  vornherein  die  Frage  der  Unzurechnungs- 
fähigkeit wegen  Homosexualität  zu  verneinen  sein. 

Wenn  auch  der  Triebe  bezw.  seine  Befriedigung  das 
Motiv  des  Rechtsgeschäfts  bildet»  z.  B.  bei  Schenkungen 
an  einen  Oeliebten,  Verkäufen^  um  sich  die  Mittel  zur 
Befriedigung  der  homosexuellen  Leidenschaft  zu  ver- 
schaffen usw.,  so  handelt  es  sich  doch  in  erster  Linie 
um  einen  psychologischen  Vorgang,  nicht  um  direkte  or- 
ganische Befriedigung  des  Eontrektations-  und  Detumes- 
zei^ztriebes,  weshalb  hier  die  konträre  Sexualempfindung 
kaum  eine  andere  Rolle  wie  andere  Leidenschaften,  z.  B. 
die  heterosexuelle  Liebe,  spielt^] 

Ebenso  wie  man  allgemein  anerkennt,  daß  eine 
Leidenschaft  nicht  berechtigt,  die  Unzurechnungsfähig- 
keit anzunehmen,  muß  man  auch  davon  ausgehen,  daß 
die  konträre  Sexualempfindung  nicht  Ausschluß  der  freien 
Willensbestimmung  bewirkt  Immerhin  wird  man  aber, 
wenn  auch  nicht  häufig,  doch  unter  Umständen  bei 
Willenserklärungen,  die  unter  dem  Einfluß  der  konträren 
Sexualempfindung  abgegeben  worden  sind,  eher  als  in 
den  Fällen,  wo  sonstige  Leidenschaften  die  Erklärung 
veranlaßten,  zur  Annahme  der  Unzurechnungsfähigkeit 
gelangen,  wenn  man  die  konträre  Sexualempfindung  als 
eine  krankhafte  Erscheinung  betrachtet 


^)  Vgl.  auch  Moll,  Untersuchungen  über  die  Libido 
sexualis,  Bd.I,  Tl. 2,  S.696:  „Es  kommt  in  Frage,  ob  Schenkungen 
usw.  schließlich  anfechtbar  sind,  wenn  eine  homosexuelle  Leiden- 
schaft Veranlassung  dazu  gegeben  hat.  Es  sei  aber  bemerkt,  daß 
im  heterosexuellen  Verkehr  tSglich  dasselbe  vorkommt  Die  Streit- 
frage, wann  die  Liebe  anfängt,  pathologisch  zu  werden,  ist  zu 
diffizil,  als  daß  ich  sie  an  dieser  Stelle  erledigen  könnte.'^  —  Vgl. 
auch  Dalloz,  Repertoire,  Dispositions  entre  vifs  et  testa- 
ments,  No.  288—242,  wo  in  konstanter  Rechtsprechung  anerkannt 
wird,  daß  bloße  Leidenschaften  regelmäßig  keine  Ungültigkeit  der 
Willenserklärungen  bewirken,  so  auch  Dalloz,  Nouyeau  R^p., 
Obligations,  No.  850. 


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—     54     — 

Im  Gegensatz  zum  Strairecht  ist  auch  bei  Willens- 
erklärangen^  ebenso  wie  bei  den  unerlaubten  Handlungen^ 
der  Beweis  des  Ausschlusses  der  freien  Willensbestim- 
mung erschwert,  eine  Anwendung  des  im  Strafrecht  maß- 
gebenden Grundsatzes  „in  dubio  pro  reo"  kann  nicht  in 
Frage  kommen,  ein  dem  äußeren  Anschein  nach  gültiges 
Geschäft  wird  bis  zum  Beweis  des  Gegenteils,  den  der- 
jenige, welcher  sich  auf  die  Nichtigkeit  beruft,  genau  zu 
erbringen  hat,  als  zu  Recht  bestehend  angesehen.^) 


Kapitel  IIL 
Die  Entinündigung. 

Die  Entmündigung  kann  erfolgen  wegen  Geistes- 
krankheit, Geistesschwäche,  Verschwendung  oder  Trunk- 
sucht (§  6,  Nr.  1 — 3  B.G.B.).  Hier  interessieren  nur  die  in 
§  6,  Nr.  1  erwähnten  Fälle  der  Entmündigung  wegen 
Geisteskrankheit  und  wegen  Geistesschwäche.  Das  Ge- 
setz sagt:  „Entmündigt  kann  werden,  wer  infolge  von 
Geisteskrankheit  oder  Geistesschwäche  seine  Angelegen- 
heiten nicht  zu  besorgen  vermag." 

Eine  Bezugfiahme  auf  die  freie  Willensbestimmung 
findet  hier  nicht  statt.  Es  kommt  lediglich  darauf  an, 
ob  die  Geisteskrankheit  oder  die  Geistesschwäche  Un- 
fähigkeit des  Kranken  zu  der  Besorgung  seiner  Ange- 
legenheiten bewirkt.  Der  Unterschied  zwischen  beiden 
Arten  der  Entmündigung  (Geisteskrankheit  und  Geistes- 
schwäche) besteht  darin,  daß  der  wegen  Geisteskrankheit 
Entmündigte  völlig  geschäftsunfähig  ist,  d.  h.  alle  seine 
Willenserklärungen  sind  völlig  nichtig,  während  der  wegen 


*)  Vgl.  Crome,   Allgemeiner  Teil   des    Bürgerlichen 
Gesetzbuchs,  S.  363,  Anm.  8. 


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—     55     — 

Geistesschwäche  Entmündigte  nur  eine  Beschränkung  in 
seiner  G-eschäftsfähigkeit  erleidet  und  lediglich  einem 
Minderjährigen  über  7  Jahren  (zwischen  7  und  21  Jahren] 
gleichgestellt  wird^  d.  h.  seine  Willenserklärungen  sind 
nicht  nichtige  sondern  bedürfen  nur,  um  vollgiiltig  zu 
werden,  der  Genehmigung  des  Vormundes.  Die  Zustände 
der  Geisteskrankheit  und  Geistesschwäche,  an  welche  so 
verschiedene  Folgen  geknüpft  werden,  sind  medizinisch 
nicht  scharf  getrennt;  die  beiden  Begriffe  erscheinen  vom 
psychiatrischen  Standpunkt  nicht  einmal  als  brauchbar 
und  nicht  als  dazu  angetan^  einen  Unterschied,  wie  den- 
jenigen im  Gesetz  gemachten,  zu  rechtfertigen.  Denn 
jede  Geistesschwäche  ist,  psychiatrisch  gesprochen,  eine 
Geisteskrankheit.  Das  Gesetz  hat  jedoch  nicht  eine  medi- 
zinisch völlig  richtige  Begriffsbestimmung  angestrebt,  son- 
dern lediglich  den  Unterschied  nach  dem  für  das  Ver- 
halten des  zu  Entmündigenden  im  praktischen  Leben 
mehr  oder  weniger  wichtigen  Charakter  der  Krankheit 
aufgestellt.  Es  kommt  darauf  an,  wie  die  Motive  sagen, 
ob  die  Krankheit  nach  der  gewöhnlichen  Auffassung  des 
Lebens  als  Geisteskrankheit  oder  Geistesschwäche,  d.  h. 
nach  dem  Gesamtverhalten  des  Betreffenden  als  eine 
Krankheit  höheren  oder  niederen  Grades  sich  darstellt 
Bei  der  Entmündigung  wegen  geistiger  Störungen  ist  zu 
berücksichtigen,  welche  Wirkung  die  Entmündigung  wegen 
Geisteskrankheit  und  welche  diejenige  wegen  Geistes- 
schwäche nach  sich  zieht;  der  Sachverständige  hat  sich 
zu  fragen,  ob  der  Kranke  noch  die  Keife  eines  Kindes 
über  7  Jahren  besitzt,  ob  er  noch  insoweit  im  Besitz  seiner 
geistigen  Fähigkeiten  ist  oder  ob  er  sogar  dieser  Reife 
ermangelt  und  seine  geistigen  Fähigkeiten  schon  soweit 
eingebüßt  hat,  daß  es  sich  rechtfertigt,  ihm  einen  gültigen 
Willen  abzusprechen.  „Es  muß  lediglich  der  graduelle 
Unterschied  in  der  Schwere  der  Geistesstörung  und  deren 
Einwirkung  auf  die  soziale  Stellung  des  Erkrankten  die 


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—     56     — 

Frage  eDtscheiden ,  ob  G-eisteskrankheit  oder  Geistes- 
schwäche vorliegt.  Aus  der  Stärke  der  im  Interesse  des 
zu  Entmündigenden  anzustrebenden  Schutzwirkung  wird 
ein  Rückschluß  auf  die  Stärke  der  Ursache  gemacht/'*) 

Die  Homosexualität  ist  nun  jedenfalls  höchstens  nur 
eine  geistige  Anomalie  geringeren  Grades,  bei  welcher 
regelmäßig  die  Intelligenz  völlig  intakt,  ja  manchmal  be- 
sonders hervorragend  ist;  sie  weist  keinen  derartigen 
Defekt  auf,  daß  der  Homosexuelle  einem  Kinde  unter 
7  Jahren  gleichzustellen  wäre.  Demnach  wird  überhaupt 
die  Frage,  ob  die  Homosexualität  die  Entmündigung 
wegen  Geisteskrankheit  nach  sich  ziehen  könnte,  nicht 
aufzuwerfen  sein. 

Es  wäre  lediglich  zu  fragen,  ob  eine  Entmündigung 
wegen  G-eistesschwäche  zulässig  sein  könnte. 

Wenn  man  nun  die  Homosexualität,  entsprechend 
der  Ansicht  der  meisten  Ärzte,  für  eine  krankhafte  Er- 
scheinung hält,  dann  muß  man  auch,  da  §  6,  Nr.  1  B.G.B. 
unter  Geistesschwäche  alle  nicht  als  Geisteskrankheit  im 
engeren  Sinne  zu  betrachtenden  geistigen  Defekte  mit 
umfassen  will^  den  Schluß  ziehen,  daß  bei  der  Homo- 
sexualität die  eine  der  in  §  6,  Nr.  1  aufgestellten  Voraus- 
setzungen für  die  Entmündigung  —  nämlich  die  Voraus- 
setzung der  Geistesschwäche  im  Sinne  dieses  Paragraphen 
—  zutrifft.  Hiermit  ist  nun  aber  nicht  gesagt,  daß 
Entmündigung  einzutreten  hat,  vielmehr  ist  es  nötig, 
daß  die  andere  Voraussetzung  gegeben  sei,  nämlich  die, 
daß  infolge  der  Geistesschwäche  Unfähigkeit  des 
Kranken  zur  Besorgung  seiner  Angelegenheiten 
bestehe. 

')  £rn8t  Schultze,  Die  Stellungnahme  des  Reichs- 
gerichts zur£ntmündigang  wegen  Geistes k rankheit  oder 
Geistesschwäche  und  zur  Pflegschaft  nebst  kritischen 
Bemerkungen  (Halle  1903,  Marhold).  —  Ferner  Entschei- 
dungen des  Reichsgerichts,  Bd.  L,  S.  208—207. 


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—     57     — 

Unter  „ADgelegenheiten"  sind  nicht  bloß  Vermögens- 
angelegenheiten zu  verstehen.  Darüber  herrscht  Ein- 
stimmigkeit 

Vielmehr  umfaßt  der  BegriflF  die  gesamten  Lebens- 
verhältnisse, z.  B.  die  Sorge  für  die  eigene  Person,  die 
Sorge  für  die  Angehörigen,  die  Erziehung  der  Kinder  usw.  ^) 

Zweifelhaft  ist  jedoch,  wie  weit  der  Begriff  „An- 
gelegenheiten*'  auszudehnen  ist,  insbesondere  ob  auch 
öffentliche  Interessen,  speziell  Gemeingefährlichkeit  odör 
Gefahr,  mit  dem  Strafgesetz  in  Konflikt  zu  geraten,  in 
Betracht  zu  ziehen  sind. 

Würde  man  in  letzterem  Sinne  den  §  6  auslegen,*) 
so  käme  man  bei  den  dem  Damoklesschwert  des  §  175 
stets  ausgesetzten  Homosexaellen ,  namentlich  in  den 
Fällen,  wo  etwa  tatsächlich  eine  Verurteilung  schon 
stattgefunden  hat,  leichter  dazu,  die  Voraussetzungen  für 
die  Entmündigung  anzunehmen,  als  dann,  wenn  man 
diesen  öffentlichen  rechtlichen  Gesichtspunkt  bei  der  Aus- 
legung des  §  6  gar  nicht  gelten  läßt 

Aber  auch  bei  der  ausdehnenden  Interpretation  des 
§  6  wird  man  niemals  lediglich  wegen  der  Möglichkeit 
oder  des  Eintritts  eines  strafrechtlichen  Konflikts  die 
Entmündigung  für  zulässig  erachten  können;  denn  für 
die  Entmündigung  genügt  es  nicht,  daß  eine  Unfähigkeit 
zur  Besorgung  einzelner  Angelegenheiten  oder  eines 
bestimmten  Kreises  von  Angelegenheiten  besteht,  also 


^)  Vgl.  Verfügung  des  preußischen  Ministeriums 
(Zeitschrift  Das  Recht,  1900,  S.  15).  —  Silberschmid,  Zur 
Auslegung  des  §  6,  in  Das  Recht,  1901,  S.  558.  —  Ende- 
mann, Bd.  I,  S.  145.  —  Planck  (3.  Auflage),  zu  §  6,  Nr.  2a.  — 
Kuhlenbeck,  zu  §  6,  Nr.  1,  Anm.  4. 

*)  So  Endemann,  Bd.  I,  S.  145  und  Obwlandesgericht  Dres- 
den (Sächsische  Annalen,  Bd.  XXIII,  S.  125).  Siehe  dagegen 
Silberschmid,  Zur  Auslegung  des  §6,  in  der  Zeitschrift 
Das  Recht,  S.  553,  1901,  der  bestreitet,  dafi  Gemeingeföhrlich- 
keit  die  Entmündigung  rechtfertigen  könne. 


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—     58     ~ 

insbesondere  nicht,  daß  lediglich  eine  Unfähigkeit  zur 
Beobachtung  des  —  überdies  durch  eine  unaufgeklärte 
öffentliche  Meinung  und  ein  rückschrittliches  Gesetz  den 
Homosexuellen  auferlegten  —  Gebotes  sexueller  Abstinenz 
Torliegt,  yielmehr  muß  eine  Unfähigkeit  zur  Besorgung 
aller  oder  wenigstens  so  vieler  Angelegenheiten  fest- 
gestellt werden,  daß  yemünftigerweise  der  Schutz  des 
£[ranken  gegen  sich  selbst  in  Form  der  Entmündigung 
geboten  ist^) 

Die  Homosexualität  darf  nicht  lediglich  eine  Störung 
der  Lebensverhältnisse  des  Kranken  auf  strafrechtlichem 
Gebiet  hervorrufen,  vielmehr  muß  die  privatrechtiiche, 
vermögensrechtliche,  familienrechtliche  Sphäre  in  Mit- 
leidenschaft gezogen  werden,  derart,  daß  eine  Fähigkeit, 
die  diesen  Sphären  entspringenden  Geschäfte  und  Be- 
ziehungen vernünftigerweise  zu  besorgen  und  zu  regeln, 
nicht  mehr  in  genügendem  Maße,  infolge  der  Homo- 
sexualität, besteht  und  eine  Stütze  des  Homosexuellen 
durch  einen  Vormund  erforderlich  erscheint  Eine  Entmün- 
digung könnte  man  vielleicht  in  Erwägung  ziehen,  wenn 
z.  B.  der  Homosexuelle  infolge  seiner  Leidenschaft  seinen 
Beruf  vernachlässigt,  unsinnige  Ausgaben  für  Geschenke 
an  Geliebte  macht,  sich  mit  männlichen  Prostituierten 
offen  umhertreibt,  sich  durch  sein  Benehmen  leichtsinnig 
kompromittiert,  keinerlei  Rücksichten  mehr  auf  Ruf, 
Stand  und  Familie  nimmt  und  schließlich  in  frivoler 
Weise  sich  eine  strafrechtliche  Verfolgung  zuzieht  u.  s.  w. 

^)  Vocke,  Entmündigung  wegen  Geisteekrankheit 
und  Geistesschwäche  (Vortrag,  gehalten  auf  der  ersten  Jahres- 
versammlung des  Vereins  Bayerischer  Psychiater  zu  München  am 
25.  Mai  1903),  in  Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie  u. 
psychiatrisch-gerichtliche  Medizin,  Bd. LX,Heft5,S. 724 fd., 
betont  ausdrücklich,  daß  jedenfalls  in  den  Fällen,  wo  bei  sonst 
intakter  Geschäftsfähigkeit  nur  Sittlichkeits vergehen,  wie  z.  B. 
Päderastie,  in  Betracht  kommen,  die  Gemeingeföhrlichkeit  nicht 
als  Entmfbidigungsgrund  anzuerkennen  sei. 


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—     59     — 

Scheidet  man  bei  der  Frage  der  Entmündigung  die 
öffentlich  rechtlichen  Gesichtspunkte^  insbesondere  die 
Gefahr  strafrechtlicher  Verwicklungen,  ganz  aus,  so  wird 
man  das  ausschließliche  Gewicht  auf  die  privatrechtlichen 
Angelegenheiten  legen.  Die  Gemeingefährlichkeit  oder 
Straffalligkeit  des  Kranken  wird  nicht  mehr,  wie  es  viel- 
leicht sonst  der  Fall  wäre,  die  Wagschale  nach  der  Seite 
der  Entmündigung  hin  sinken  lassen,  vielmehr  muß  die 
Unfähigkeit,  die  Angelegenheiten  zu  besorgen,  auf  dem 
geschäftlichen  und  familienrechtlichen  Gebiete  so  stark 
sein,  daß  lediglich  wegen  dieser  Mängel  die  Ent- 
mündigung sich  rechtfertigt. 

Wie  man  sich  aber  auch  zur  Frage  nach  den  Voraus- 
setzungen für  die  Entmündigung  stellt,  so  viel  ist  gewiß, 
daß  die  Entmündigung  wegen  Homosexualität  nur  selten 
ausgesprochen  werden  kann. 

Mag  man  auch  die  Homosexualität  als  krankhaft 
und  daher  als  Geistesschwäche  im  Sinne  des  §  6  auf- 
fassen, so  wird  doch  für  sie  in  erster  Linie  zu  gelten 
haben,  was  Samter  für  die  unter  dem  Begriff  der  so- 
genanüten  „fixen  Ideen''  zusammenzufassenden  Geistes- 
krankheiten hervorhebt,  nämlich:  daß  sie  regelmäßig 
nicht  mehr  zur  Entmündigung  zu  führen  haben.  Denn 
der  Homosexualität  ist,  ebenso  wie  diesen  sogenannten 
fixen  Ideen,  regelmäßig  eigen,  daß  sie  „die  Fähigkeit 
zum  Beruf,  zum  Amte,  zur  Besorgung  aller  Angelegen- 
heiten völlig  intakt  läßt  und  nur  das  Vorhandensein  einer 
Zwangsidee  zeitigt,  welche  bei  der  betreffenden  Persön- 
lichkeit auch  nicht  mittelbar  mit  der  Fähigkeit  zur  Be- 
sorgung ihrer  Angelegenheiten  sich  berührt  *) 

Im  allgemeinen  wird  der  Homosexuelle  wohl  nicht 


*)  Samter,  Streitpunkte  aus  dem  Gebiet  des  Entmün- 
digungsverfahrens und  des  Irrenwesens,  in  Gruchots 
Sammlung,  6.  Folge,  Bd.  V,  1901,  S.  Iflgd. 


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-     60     — 

die  Entmündigung  wegen  seiner  Homosexaalität  zu  be- 
fürchten haben.  Immerhin  kann  aber  dennoch  im  Einzel- 
fall der  eine  oder  andere  Homosexuelle  die  Entmündigung 
zu  gewärtigen  haben^  namentlich  wenn  Richter  und  Sach« 
verständige  etwa  dem  von  Endemann  und  vom  Oberlandes - 
gericht  Dresden  betonten  Gesichtspunkt  der  Gemein- 
gefährlichkeit besondere  Bedeutung  beimessen.  Gerade 
bei  der  Frage  der  Entmündigung  zeigt  es  sich  also^  wie 
gefährlich  die  Theorie  der  Krankhaftigkeit  der  Homo- 
sexualität für  die  Freiheit  einer  ganzen  Klasse  von 
Menschen  -^  der  Homosexuellen  —  werden  kann  und 
welche  praktische  Wichtigkeit  es  hat,  ob  man  die  kon- 
träre Sexualempfindung  als  krankhafte  oder  physiologische 
Erscheinung  betrachtet^) 

Hält  man  die  Homosexualität  nicht  für  krankhaft, 
dann  kann  eine  Entmündigung  beim  Homosexuellen 
wegen  seines  Triebes  höchstens  nur  insofern  in  Betracht 
kommen,  als  etwa  der  Konträre  durch  seine  Leiden- 
schaft zur  Verschwendung  gebracht  wird,  derart,  daß 
die  Voraussetzungen  für  die  Entmündigung  wegen  Ver- 
schwendung gegeben  sind.  Der  Homosexuelle  wird  dann 
nicht  schlechter  und  nicht  besser  behandelt,  als  der 
wegen  Verschwendung  zu  entmündigende  Normale  und 
die  homosexuelle  Geschlechtsrichtung  spielt  dabei  keine 
andere  Bolle,  als  etwa  die  Liebesleidenschaft  des  Hetero- 
sexuellen, der  durch  sie  zum  Verschwender  wird.  Die 
Wirkungen  der  Entmündigung  wegen  Verschwendung 
sind  dieselben,  wie  diejenigen  wegen  Geistesschwäche, 
ihre  Voraussetzungen  aber  andere.    Es  genügt  hier  nicht 


^)  Der  Prinz  von  Bragansa,  der  im  Jahre  1903  wegen  an- 
geblicher Begehung  homosexueller  Handlangen  vor  Gericht  ge- 
stellt (aber  freigesprochen)  worden  war,  soll  Zeitungsberichten  zu- 
folge inzwischen  entmündigt  worden  sein.  Vielleicht  ist  dieser 
Fall  ein  praktisches  Beispiel  von  Entmündigung  wegen  Homo- 
sexaalität 


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—     61     — 

die  Unfähigkeit  zur  Besorgung  seiner  Angelegenheiten, 
sondern  es  müssen  dem  Homosexuellen  zweck-  und  sinn- 
lose,  in  keinem  Verhältnis  zu  seinem  Vermögen  stehende 
Ausgaben  nachgewiesen  werden ,  derart,  daß  er  durch 
seine  Verschwendung  sich  oder  seine  Familie  der  Gefahr 
des  Notstandes  aussetzt,  ^^es  muß  ein  die  wirtschaftliche 
Existenz  der  betreffenden  Person  bedrohendes  Verhalten 
vorliegen,  welches  einen  Hang  zur  Vermögensverschwen- 
dung  erkennen  lässt^^^) 


>)  R.G.E.,  Bd.  XXI,  S.  167. 


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Der  Uranier 

vor 

Kirche  und  Schrift. 

Eine  Studie 
vom  orthodox-evangelischen  Standpunkt 

Von 

Prof.  Caspar  Wlrz,  V.  ».  M. 


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Es  ist  kaum  ein  halbes  Jahrhundert  verflossen,  seit 
die  Wissenschaft  angefangen  hat,  vor  die  ebenso  alten 
als  verhängnisvollen  Vorurteile  über  die  umische  Ge- 
schlechtsrichtung ihre  starken  Fragezeichen  zu  setzen. 
Mit  raschen  Schritten  ist  sie  dann,  unbekümmert  um  das 
kritiklose  Gerede  der  großen  Menge,  weitergegangen  in 
ihrer  erlösenden  Tat,  an  Stelle  der  Perversität  mußte  die 
Bezeichnung  Perversion  treten  und  endlich  rang  sich 
auf  empirischem  Wege  die  Gewißheit  durch,  daß  die 
Homosexualität  eine  bloße  Anomalie  der  natürlichen  und 
unveränderlichen  Veranlagung  von  gleicher  Existenz- 
berechtigung wie  so  manche  andere  sei.  Niemand  darf 
heute  leugnen,  daß  eine  gewaltige  Summe  von  Arbeit 
von  Seiten  der  Mediziner  zur  Feststellung  der  genannten 
Errungenschaften  aufgewendet  wurde,  und  wenn  auch 
zugegeben  werden  muß,  daß  die  Diskussion  über  die 
Frage,  ob  pathologisches  Phänomen  oder  Normalzustand, 
heute  noch  offen  steht,  so  hat  die  medizinische  Wissen- 
schaft doch  bereits  von  ersterem  Standpunkte  aus  die 
praktischen  Konsequenzen  zu  ziehen  begonnen  und  die 
Jurisprudenz  zum  Kampfe  herausgefordert;  denn  bisher 
über  alle  Zweifel  erhabene  gesetzliche  Bestimmungen 
müssen,  wenn  die  neugewonnenen  Thesen  richtig  sind, 
nicht  nur  als  unhaltbar,  geradezu  als  lächerlich  erscheinen 
in  der  Theorie,  barbarisch  in  der  Praxis.  Freunde  der 
Wahrheit  sehen  mit  wohltuender  Befriedigung,  wie  rasch 

Jahrbuch  VI.  5 


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—     66     — 

die  Phalanx  durchbrochen  wurde,  die  Gegner  immer 
mehr  vor  der  Macht  der  Tatsache  sich  zurückziehen, 
indem  sie  damit  selbst  ihrem  eigenen  Gerechtigkeitssinn 
das  schönste  Zeugnis  ausstellen.  Noch  ist  der  Kampf 
nicht  zu  Ende,  aber  er  wird  ruhig  geführt,  und  es 
scheint,  als  ob  es  sich  mehr  noch  um  Bereinigung 
von  Mißverständnissen  als  um  prinzipielle  Differenzen 
handelte. 

Daß  die  Mediziner  an  den  Theologen  kalt  vorüber- 
gegangen sind,  kaum  hie  und  da  sie  leise  streifend,  darf 
uns  nicht  wundern;  leben  wir  doch  in  einer  Zeit,  in  der 
die  drei  anderen  Fakultäten  die  theologische,  die  früher 
an  der  Spitze  marschierte,  als  Aschenbrödel  nur  von  der 
Seite  anzusehen  pflegen.  Die  Theologen  selbst  haben 
sich  bis  jetzt  ziemlich  ruhig  in  der  Sache  verhalten, 
es  sei  denn,  daß  man  die  Beschlüsse  von  einigen  Sitt- 
lichkeitskongressen als  ernste  Kundgebungen  auffassen 
wolle. 

Und  doch  wäre  es  zu  wünschen,  ja  notwendig,  daß 
die  Theologen  die  Frage  der  Homosexualität  aufgriffen, 
um  sie  ernst  und  würdig  zu  untersuchen  und  zu  erörtern ; 
denn  nicht  bloß  ist  der  Einfluß  der  Geistlichen  auf  das 
Volk  noch  immer  ein  so  großer,  daß  man  sie  mit  ver- 
antwortlich machen  kann  für  den  Geist  der  Zeit,  son- 
dern es  gibt  auch  in  unseren  glaubensarmen  Tagen  eine 
viel  größere  Zahl  christlich,  gesinnter  Menschen,  als  man 
oft  annimmt,  und  unter  ihnen  einen  ebenso  starken 
Prozentsatz  homosexuell  Veranlagter  als  unter  den  so- 
genannten Ungläubigen;  ihr  Gewissen  seufzt  aber  unter 
dem  Banne,  welcher  heute  noch  auf  dem  größeren  Teil 
der  Gesellschaft  in  Bezug  auf  die  Homosexualität  ruht, 
ihr  Glaube  ist  in  Gefahr,  ihr  zeitliches  Glück  und  ihr 
ewiges  Heil  hängt  von  dem  Ausgang  des  Streites  ab. 
Ich  meine  Christen,  die  in  ihrem  Innern  Triebe  und 
Neigungen    verspüren,    die    sie   zurück  bis  in   die  Jahre 


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—     67     - 

ihrer  zarten  Kindheit  verfolgen  können^  die  mit  ihnen 
groß  gewachsen^  die  allem  ehrlichen  Kämpfen  und  Ringen 
zum  Trotze  immer  aufs  neue  in  ihnen  sich  geltend  machten 
und  denen  gegenüber  sie  nicht  immer  die  nötige  Kraft 
fanden,  sie  zu  unterdrücken,  gegen  deren  wuchtigen*  An- 
drang sie  alle  geistlichen  Waffen  ehrlich  gebrauchten 
und  doch  vielleicht  erlagen.  Triebe,  die  ihrer  Natur  tief 
eingewurzelt  sind  und  die  doch  von  allen  um  sie  her, 
von  Eltern  und  Geschwistern,  Lehrern,  Geistlichen,  selbst 
vom  Gesetzgeber  als  widernatürlich  und  schändlich  be- 
zeichnet werden  und  um  deretwillen  sie  vom  Himmel 
ausgeschlossen  sein  sollen.  So  macht  man  sie  glauben 
und  treibt  sie  damit  auf  Irrwege. 

Die  Schwächern  unter  ihnen,  die  sich  mit  ihrer  Natur 
nicht  abzufinden  verm(')gen,  laufen  Jahre,  Jahrzehnte  als 
Heuchler  auf  dem  Lebensmarkte  herum.  Eine  falsche  Eti- 
kette deckt  sie  vielleicht  vor  den  Menschen,  während  eine  un- 
verständige Kirchenlehre  sie  zu  einem  unablässigen,  qual- 
vollen ßüßerleben  nötigt  und  sie  nimmer  zur  Freudigkeit 
eines  mit  Gott  versöhnten  Herzens  durchdringen  läßt 
Woher  soll  da  die  Kraft  noch  kommen  zum  Kampfe  mit 
Fleisch  und  Blut,  und  sind  sie  einmal  gefallen,  tilgt  oft 
Selbstmord  die  Schande,  die  eine  ungerechte  Welt  und 
eine  unvernünftige  Kirche  auf  sie  geladen. 

Die  Stärkeren,  von  der  Natürlichkeit  ihrer  homo- 
sexuellen Triebe  durchdrungen,  lernen  mit  der  Zeit 
das  Urteil  der  Menge  verachten,  sie  suchen  und  finden 
zunächst  in  sich  selbst  den  Halt  für  den  Glauben . 
an  ihre  moralische  Existenzberechtigung,  aber  nicht  in 
Gott.  Der  Kirche  kehren  sie  den  Rücken,  denn  sie 
mögen. nicht  heucheln,  die  Bibel  lassen  sie  ungelesen, 
denn  sie  mögen  nicht  immer  ihr  eigenes  Verdammungs- 
urteil  vernehmen,  ihr  Gebet  verstummt  und  damit  steht 
der  Puls  ihres  geistlichen  Lebens  still.  In  kalter  Gott- 
entfremdung führen  sie  ihr  Leben  weiter,  indem  sie  sich 


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—    68    — 

m 

selbst  irgend  eine  LebeasphUosophie  zurechtzimmern. 
Was  Wunder,  wenn  ihnen,  die  keinen  rechten  Grund 
mehr  unter  den  FüSen  haben,  auch  die  Moral  sachte 
entschwindet!  So  leiden  gar  manche  Homosexuelle  Schiff- 
bruch an  dem  Glauben  ihrer  Kindheit,  weil  ihnen  niemand 
einen  anderen  Ausweg  weist,  für  den  sie  so  sehr  em- 
pfanglich und  dankbar  wären. 

Ein  Missionsverein  hat  es  sich  zur  besonderen  Auf- 
gabe gesetzt,  die  Frauen  und  Mädchen  Indiens  aus  ihrer 
gedrückten  und  rechtlosen  sozialen  Stellung  zu  befreien. 
Ein  edles  Bestreben,  ohne  Zweifel  würdig  des  christ- 
lichen Bekenntnisses;  aber  nicht  minder  dringend  und 
nicht  minder  christlich  wäre  die  Befreiung  einer  zahl- 
reichen Klasse  von  Menschen,  die  sich  mitten  in  der 
Christenheit  ihrer  Rechte  beraubt  und  von  der  öffent- 
lichen Meinung  für  vogelfrei  erklärt  sieht,  weil  sie  so  ist, 
wie  sie  ist  Christen  fühlen  Mitleid  mit  Heiden,  sorgen 
für  entlassene  Sträflinge,  nehmen  sich  gefallener  Frauen- 
zimmer hilfreich  an^  nur  fiir  den  Uranier  haben  sie  kein 
Herz,  und  ich  meine  doch,  besseres  Verständnis  sollte 
die  Gegensätze  versöhnen:  Die  Christen  müßten  milder 
urteilen,  erkennen,  daß  die  Uranier  Fleisch  und  Blut  von 
ihrem  Fleisch  und  Blute  sind,  und  bei  diesen  müßte  das 
Geschrei  über  Pfaflen  und  Mucker  verstummen.  Sollte 
die  evangelische  Kirche  hinter  den  Medizinern  und  Ju- 
risten zurückbleiben  und  ihrer  Pflicht  gegenüber  den 
Homosexuellen  sich  erst  erinnern  wollen,  wenn  man  der 
•  Kirche  nicht  mehr  bedarf? 

Die  ersten  Versuche,  die  homosexuelle  Frage  vom 
christlichen  Standpunkte  aus  zu  prüfen,  haben  in  gleich 
vorzüglicher  Weise  ein  katholischer  und  ein  protestantischer 
Geistlicher  im  Jahrbuch  II  und  IV  unternommen.  Wenn  es 
ihnen  nicht  gelungen  ist,  die  Aufgabe  ganz  zu  lösen,  so 
haben  sie  wenigstens  das  Verdienst,  die  erste  Anregung 
gegeben  zu  haben,  und  jeder  weitere  Versuch,  so  auch 


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—     69     - 

der  vorliegende^  wird  uns  hoffentlicli  dem  Ziel  etw£|,s 
näher  bringen.  Wenn  ich  meine  Aufgabe  ausschließlich 
Yon  konfessionell- protestantischer  statt  von  allgemein- 
christlicher Seite  auffasse ,  so  geschieht  es ,  weil  die 
Uranier  sich  vor  zwei  Instanzen  mit  der  Frage  über 
Sein  oder  Nichtsein  zu  stellen  haben,  vor  dem  Forum 
der  Kirche  und  demjenigen  der  heiligen  Schrift,  diese 
beiden  Instanzen  aber  nach  protestantischer  Auffassung«-, 
nicht  zu  identifizieren^  einander  nicht  koordiniert  sind, 
sondern  erstere  als  der  zweiten  unbedingt  subordiniert 
erscheint  Da  ich  meinen  Standpunkt  unter  den  kirch- 
lichen Parteien  auf  der  äußersten  Rechten  einnehme, 
dürfte,  meine  Lösung  des  zweiten  Teils,  falls  sie  gelingt, 
für  Katholiken  wie  für  Protestanten  genügen. 


Was  heute  unter  dem  gemeinsamen  Namen  pro- 
testantische Kirche  zusammengefaßt  wird,  teilt  sich  in 
der  Praxis  in  die  lutherische  und  reformierte  und  dann 
wieder  in  zahhreiche  Fraktionen,  die  sich  im  Lauf  der 
Zeit  aus  beiden  herausgebildet  haben.  Von  diesen  gilt 
vor  allem  der  Satz:  Da  ist  keine  Kirche,  die  gerecht 
sei,  auch  nicht  eine.  ^)  Der  Protestantismus  kennt  keine 
unfehlbare  Kirche  und  keinen  unabänderlichen  kirchlichen 
Lehrbegriff.  Die  Autorität  hat  in  ihm  nur  Wert  als  Be- 
stätigung unseres  inneren  Bewußtseins. 

Ein  eigentliches  Verdammungsurteil  enthält  nun 
weder  die  lutherische,  noch  die  reformierte  alte  Kirchen- 
lehre über  die  Homosexualität,  weder  die  Wittenberger, 
noch  die  Züricher,  noch  die  Genfer  Theologen  haben 
sich  im  Besonderen  mit  dieser  Frage  beschäftigt.  Was 
die  einzelnen  Reformatoren,  in  den  Irrtümern  ihres  Zeit- 


1)  Rom.  3,  10. 


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-     70     — 

alters  befangen,  gelegentlich  darüber  Ungünstiges  äußerten, 
ist  derart,  daß  ihre  Ausdrücke  vor  dem  Licht  der  heu- 
tigen Wissenschaft  sich  gänzlich  verflüchtigen.  Gesetzt 
aber,  sie  hätten  wirklich  ein  klares  und  bestimmtes  Ver- 
dikt abgegeben,  so  könnte  uns  das,  da  sie  alle  fehlbare, 
sündige  Menschen  waren,  nicht  alterieren,  und  wollte  die 
heutige  Kirche  schroffer  werden  als  ihre  Begründer,  das 
heißt  homosexuell  identisch  erklären  mit  verkommen, 
entartet,  gefallen,  verirrt,  so  trösteten  sich  die  so  Gebrand- 
raarkten  mit  dem  Hinweis  darauf,  daß  bis  auf  unsere 
Tage  angesehene  und  auch  hochbedeutende  Theologen 
und  Historiker  aus  dem  römischen  Lager  einen  Luther, 
Zwingli  und  Calvin  zu  lüsternen,  unkeuschen  Menschen, 
Dienern  des  Fleisches  und  der  Wollust  zu  stempeln  be- 
lieben, ja  das  ganze  Reformationswerk  auf  seiner  Urheber 
unbezähmbare  Sinnlichkeit  zurückführen.  Mit  einer  ge- 
wissen Meisterschaft  behaupten  sie  diese  Position,  und 
wer  es  glauben  will  —  glaubt  es  ihnen  eben.  Niemand 
kann  mehr  als  ich  von  der  Haltlosigkeit  der  Verun- 
glimpfungen unserer  Reformatoren  tiberzeugt  sein,  aber 
in  der  Allgemeinheit  und  Kühnheit,  mit  der  die  Angriffe 
gegen  dieselben  gerade  in  neuerer  Zeit  sich  geltend 
machen,  glaube  ich  doch  etwas  Providentielles  erblicken 
zu  dürfen,  ein  Memento  an  die  heutige  ganze  protestan- 
tische Kirche,  daß  man  sich  hüten  muß  vor  dem  Richten, 
welches  so  leicht  zum  Lästern  wird. 

Die  abendländische  Kirche  fing  an,  die  Homo- 
sexuellen zu  verdammen  in  derselben  Zeit,  da  das  Zeter- 
geschrei eines  unwissenden  und  fanatischen  Priester- 
heeres, helldenkenden  und  frommen  Männern  zum  Trotz, 
das  Unheil  der  Hexenprozesse  heraufbeschwor.  Die 
Kirche,  die  Hunderttausende  von  Unschuldigen  zum 
Tode  beförderte,  hat,  vom  hl.  Stuhl  dazu  aufgefordert, 
ein  vollständiges  Hexenprozeßrecht  ausgebildet,  und  die 
protestantische  Kirche  steht  in  diesem  Stück  leider  nicht 


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—     71     - 

viel  besser  da  als  die  katholische.  Beide  haben  die 
Hexenprozesse  geduldet  und  die  namenlose  Schande  über 
sich  gebracht,  daß  der  Geist  der  Revolution  dem  soge- 
nannten christlichen  Geiste  am  Zeuge  flicken  mußte. 
Earchen,  die  so  menschlich  schwach  sich  zeigten,  haben 
alle  Ursache,  behutsam  zu  sein,  ehe  sie  dem  weltlichen 
Arm  gegen  eine  ganze  zahlreiche  Klasse  ihrer  Ange- 
hörigen das  Schwert  wieder  in  die  Hand  drücken  im 
Namen  Christi  und  seines  hl.  Evangeliums  Die  Uranier 
müßten  einer  solchen  Kirche  den  Scheidebrief  geben  und 
ihr  entgegenhalten :  Du  sollst  den  Namen  Gottes,  deines 
Herrn,  nicht  mißbrauchen,  denn  der  Herr  wird  dich  nicht 
ungestraft  lassen,  wenn  du  seinen  Namen  leichtfertig  zum 
Richten  in  den  Mund  nimmst  Wenn  von  vielen  Seiten 
behauptet  wird,  die  Kirche  als  solche  hätte  ein  Recht, 
ja  die  Pflicht,  fllr  die  Erhaltung  oder  Einführung  von 
Gesetzesbestimmungen  einzustehen,  welche  dem  Uranier 
geschlechtliche  Betätigung  verbieten,  so  ist  das  eine  große 
Täuschung.  Vor  allem  mache  ich  darauf  aufmerksam, 
was  nicht  bloß  ungebildete  Laien,  sondern  auch  Theo- 
logen immer  und  immer  wieder  übersehen,  daß  nämlich 
ein  Moralkodex  und  ein  bürgerlicher  Strafkodex  nicht 
dasselbe  sind.  Wir  können  über  einen  Satz  der  christ- 
lichen Ethik  vollkommen  einig  sein,  aber  ob  sich  der- 
selbe zu  einem  Artikel  des  Strafgesetzes  eigne,  ist  damit 
nicht  entschieden.  Prüfen  wir  übrigens  die  Richtigkeit 
meiner  Behauptung  an  der  Praxis,  welche  die  Kirche 
übt.  Der  Eid  ist  im  neuen  Testament  deutlich  verboten 
und  diesem  Verbot  zum  Trotz  hat  ihn  die  Gesetzgebung 
der  christlichen  Länder  in  ihren  Dienst  genommen,  und 
wenn  man  zusieht,  wie  fabrikmäßig  bei  uns  die  Eides- 
leistung oft  betrieben  wird,  so  möchte  es  nicht  bloß  vor 
den  Juden,  sondern  vor  manchen  heidnischen  Völkern 
ein  Greuel  erscheinen.  Bekannt  ist  das  ausdrückliche 
Verbot  Jesu  über  die  Wiederverehelichung  der  Geschie- 


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—     72     — 

denen,  und  doch  ist  diese  nach  den  Gesetzgebungen 
sämtlicher  protestantischer  Länder  gestattet,  ja  während 
die  katholische  Kirche  in  solchen  Fällen  entschieden 
ihre  Sanktion  verweigert,  läßt  sich  die  protestantische 
sogar  heute,  wo  ihre  Diener  nicht  mehr  Zivilstandes- 
beamte sind,  alles  zumuten.  Die  außereheliche  Ge- 
schlechtsbetätigung, d.  h.  die  weibliche  Prostitution,  wird 
so  ziemlich  in  allen  christlichen  Staaten  geduldet.  An 
die  widernatürliche  Unzucht  in  allen  Formen,  wie  sie 
auch  innerhalb  der  Ehe  vorkommt,  wagt  man  nirgends 
zu  rühren.  Die  Beispiele  könnten  noch  vermehrt  werden, 
welche  zeigen,  daß  die  evangelische  Kirche  auf  vielen 
Gebieten  Gelegenheit  hätte,  sich  ihres  Rechtes  und  ihrer 
Pflicht  zu  erinnern,  indem  sie  Stellung  nähme  gegen  die 
Rechtsnormen  des  Staates,  und  wenn  sie  es  nicht  tut,  so 
liegt  der  Grund  daran,  daß  entweder  ihr  Gewissen  nicht 
scharf  genug  ist  oder  daß  es  ihr  an  Mut  dazu  fehlt. 
Wenn  man  dann  aber  hört  und  liest,  wie  vereinzelte 
Theologen  Feuer  und  Schwefel  vom  Himmel  über  die 
armen  üranier  regnen  lassen  mochten^  so  mutet  einen 
das  widerwärtig  an  und  man  fragt  sich  unwillkürlich, 
ob  diese  Herren,  die  päpstlicher  als  der  Papst  sein  wollen, 
ebensoviel  „Gewissen"  und  „Mut"  besäßen,  wenn  sie 
eine  Ahnung  davon  hätten,  wie  vielen  hoch  über  ihnen 
stehenden  Männern  sie  das  Urteil  sprechen. 

Gegen  eine  schroife  Stellungnahme  der  evangelischen 
Kirche  spricht  übrigens  noch  ein  anderer  Grund.  Ge- 
rade die  positiven  Elemente  unserer  Kirche  dürfen  heute 
auch  als  Missionskirche  bezeichnet  werden,  müssen  also 
wissen,  was  für  Kompromisse  unsere  Gesellschaften 
draußen  in  der  Heidenwelt  abzuschließen  sich  genötigt 
sehen.  Nicht  nur  in  Sachen  der  Ehescheidung,  auch 
betreffs  Sklaverei  als  Rechtsinstitut,  Polygamie,  Kinder- 
ehen usw.,  deren  Unzulässigkeit  der  Kirche  wie  den  Ge- 
sellschafben prinzipiell  außer  allem  Zweifel  steht,  müssen 


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—     73     - 

da  und  dort  Konzessionen  gemacht  werden  und  werden 
tatsächlich  gemacht,  nicht  aus  moralischer  Laxheit^  son- 
dern aus  ßücksicht  auf  die  unüberwindliche  Macht  tief 
eingewurzelter,  nationaler  Gewohnheiten,  vor  denen  ihre 
Gemeindeordnungen  ebensogut  wie  die  Gesetze  der  euro- 
päischen Kolonialmächte  Halt  zu  machen  sich  gezwungen 
sehen.  Wenn  es  nun  der  Kirche  nach  neunzehnhundert- 
jährigem Bestände  nicht  gelungen  ist,  in  unseren  Län- 
dern den  Zwiespalt  zwischen  dem  bürgerlichen  Recht 
und  der  christlichen  Ethik  ganz  zu  tilgen,  wenn  auch 
die  evangelische  Kirche  ihren  Missionsgesellschaften 
draußen  gegenüber  den  Heiden  ein  gewisses  Akkommo- 
datiousrecht  einräumt,  warum  sollte  diese  Kirche  nicht 
in  der  Heimat  zu  Konzessionen  sich  bereit  finden  lassen 
gegenüber  so  vielen  ihrer  Glieder,  bei  denen  es  sich  nicht 
bloß  um  eingewurzelte  Gewohnheiten  und  Mißstände, 
sondern  um  viel  tiefer  liegende,  unausrottbare,  weil  ein- 
geborene Triebe  handelt? 

Die  Theologen  müßten  vor  allem  sich  Rechenschaft 
darüber  geben,  was  dem  Uranier  Sünde  sei  und  was 
nicht;  denn  für  einmal  stecken  sie  ausnahmslos  noch 
ganz  in  demselben  Labyrinth  von  Unklarheiten  und  In- 
konsequenzen wie  die  Juristen,  die  feststellen  sollten, 
was  strafbar  an  dem  Uranier  sei  und  was  nicht,  und 
dabei  eine  Verwirrung  in  der  heutigen  Rechtspraxis  her- 
beigeführt haben,  die  an's  Tolle  grenzt.  Die  Aufgabe 
des  Theologen  gestaltet  sich  noch  viel  schwerer,  weil  er 
sich  nicht  an  die  grobsinnliche  Seite  der  Homosexualität 
halten  kann,  mit  der  die  Polizei  allein  sich  zu  beschäftigen 
hat  Für  ihn  hat  die  leiseste  Betätigung,  jedes  Wort, 
ja  selbst  der  Blick  und  der  Gedanke  Gewicht  Es  gibt 
Geistliche,  die  kurzweg  von  dem  Uranier  verlangen,  daß 
er  sich  völHg  enthalte.  Warum?  Weil  es  widernatür- 
lich wäre,  wenn  sich  der  Uranier,  dem  es  unmög- 
lich ist,  ein  Weib  zu  berühren,  seiner  Natur  gemäß 


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—     74     — 

betätigte.  Ich  überlasse  es  jedem  verständigen  Theologen, 
sich  selbst  mit  dieser  Logik  der  öffentlichen  Meinung 
abzufinden.  Ob  die  Berufung  auf  Schriftworte  begründeter 
sei,  wird  weiter  unten  gezeigt  werden.  Uranier,  die  sich 
gänzlich  enthalten  von  jeder  Betätigung,  gibt  es  manche, 
ja  verhältnismäßig  vielleicht  mehr  als  unter  den  Hetero- 
sexuellen, von  denen  Tausende  ohne  dringendes  Bedürfnis 
zur  Ehe  schreiten  und,  wenn  sie  einmal  darin  sind,  dann 
auch  eine  Betätigung  nicht  verschmähen,  die  sich  so  leicht 
darbietet,  deren  sie  ohne  großen  Kampf  hätten  entraten 
und  dadurch  vollkommen  werden  können.  Daß  gemein- 
hin der  christliche  Uranier,  der  sein  ganzes  Leben  der 
völHgen  Enthaltsamkeit  sich  zu  befleißigen  die  Gnade 
hatte,  als  ein  Heiliger  erscheinen  muß,  ist  nach  Apo- 
kalypse 14,  4  unbestreitbar.^)  Wenn  einzelne  Theologen 
von  allen  üraniern  diesen  höchsten  Grad  der  Heiligung 
verlangen,  so  begreife  ich  das  nicht,  am  wenigsten,  wenn 
das  strenge  Ansinnen  salbungsvoll  aus  dem  Munde  solcher 
ertönt,  die  Frau  und  Kinder  haben  oder  gar  zum  zweiten- 
und  drittenmale  in  die  Ehe  zu  treten  für  angezeigt  er- 
achteten. Mit  dergleichen  heuchlerischen  Splitterrichtem 
zu  rechten,  habe  ich  keine  Lust;  wer  aber  die  Gewalt 
des  menschlichen  Geschlechtstriebes  nicht  aus  eigner 
Erfahrung  kennt,  der  hole  sich  Belehrung  aus  den 
Schriften  eines  Augustin,  Luther  und  so  vieler,  die  uns 


^)  Der  Bibel  lesezettel  im  Losnngsbüchlein  der  Brüdeigemeinde 
gibt  für  den  21.  November  1903  an  Offenb.  14,  1—3,  5—14.  In 
dem  ganzen  Abschnitt,  der  von  den  Auserwäblten  des  Lammes 
Gottes  redet,  sollte  Vers  4,  der  sagt,  das  seien  diejenigen,  welche 
sich  nicht  mit  Weibern  befleckt  haben,  übersprangen  werden, 
wohl  damit  nicht  etwa  ein  Familienvater  vor  den  Augen  der 
Seinigen  erröten  mOsse.  Ich  gebe  gern  za,  der  Vers  lasse  sich 
in  modernes  Deutsch  übersetzen:  Diejenigen,  welche  sich  in  keiner 
Weise  geschlechtlich  betätigt  haben;  denselben  aber  umgehen, 
wie  die  Unitätsdirektion  tut,  ist  unstatthaft  und  zeigt,  wie  über- 
triebene Prüderie  leicht  zu  Schriftfalschung  führt 


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—     75     — 

Autoritäten  sind,  und  er  wird  aufhören,  einen  anderen 
sittliclien  Maßstab  an  die  Homosexuellen  anzulegen  als 
an  die  Heterosexuellen,  bloß  weil  die  Eichtung  des  von 
Gott  in  sie  gelegten  Triebes  bei  den  ersteren  eine  andere 
ist,  als  bei  den  letzteren.  Daß  prüde  erzogene  Männer 
und  namentlich  Frauen  auch  den  sogenannten  natürlichen 
Geschlechtsakt  innerhalb  der  Ehe  oft  schon  vor,  nament- 
lich aber  nach  dem  Vollzüge  als  sündhaft  empfinden,  ist 
bekannt  Was  ich  aber  als  Sünde  empfinde,  ist  mir 
Sünde,  ein  geschlechtlicher  Akt,  den  mir  mein  Gewissen 
verbietet,  ist  für  mich  Sünde,  ob  er  in  der  Ehe  oder 
außer  der  Ehe,  ob  in  heterosexueller  oder  homosexueller 
Weise  vollzogen  werde.  Kein  Theologe,  der  sich  über 
das  Wesen  des  Uranismus  gründlich  orientiert  hat,  kann 
weiter,  ohne  ungerecht  zu  werden,  eine  verschiedene 
Ethik  aufstellen  wollen  für  den  Homosexuellen  und  für 
den  Heterosexuellen.  Daß  die  gegen  den  Uranier  ge- 
richteten gesetzlichen  Bestimmungen  ihren  Zweck  nicht 
erreicht  haben,  weil  sie  weder  sühnen,  noch  bessern,  noch 
abschrecken,  daß  sie  statt  dessen  viel  Unheil  stiften, 
indem  sie  falsche  Vorurteile  im  Volke  bestärken  und 
eine  der  schlimmsten  Verbrecherklassen,  die  der  Erpresser, 
großziehen  helfen,  daneben  Tausende  in  qualvolle  Seelen- 
kämpfe und  so  viele  zur  Verzweiflung  treiben,  daß  wohl 
an  keinem  Gesetze  so  viel  Blut  hängt,  wie  gerade  an 
diesem,  —  das  ist  eine  Tatsache,  die  durch  ein  er- 
drückendes Beweismaterial  von  Juristen  und  Medizinern 
festgestellt  worden  ist.  Diese  Tatsache  nicht  zu  kennen, 
gereicht  heute  einem  Theologen  nicht  mehr  zur  besonderen 
Ehre,  sie  aber  kennen  und  trotzdem  im  Namen  der  Kirche 
die  Uranier  des  Rechtsschutzes  berauben  wollen,  hieße 
gegen  Gott  selbst  eifern,  der  Homosexuelle  wie  Hetero- 
sexuelle geschaffen  hat  und  über  beide  Sonnenscliein  und 
Regen  spendet,  hieße  ein  schweres  Unrecht  begehen  und 
vergessen,   daß   der  Apostel  Paulus   in   der  Liste  derer, 


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—     76     — 

welche  er  vom  Himmelreich  ausschließt,  jeweilen  nicht 
die  Päderasten  voranstellt,  nicht  einmal  die  Hurer  und 
Ehebrecher,  sondern  die  Ungerechten.^) 

Bis  jetzt  hat  übrigens,  ich  betone  es  nochmals,  die 
protestantische  Kirche  gar  nirgends  offiziell  Stellung  zu 
der  homosexuellen  Bewegung  genommen,  und  jener  von 
vornherein  eine  feindliche  Gesinnung  zu  unterschieben, 
ist  einstweilen  niemand  berechtigt.  Ein  solches  Vorgehen 
der  Kirche  wäre  ja  auch  unklug;  denn  nicht  bloß  würde 
sie  damit  manches  zarte  Pflänzchen  in  ihrem  eigenen 
Garten  zertreten,  auch  mancher  starke  Stamm,  der  als 
kräftiger  Pfeiler  ihres  Gebäudes  dient,  würde  damit  zum 
Wanken  gebracht,  und  die  heutige  Kirche  hat  wahrlich 
nicht  Ursache,  sich  selbst  zu  schwächen. 

Auf  die  Frage:  Wie  steht  der  Uranier  zur  Kirche? 
antworte  ich  also:  So  lange  die  Kirche  ihn  nicht  aus- 
schließt —  und  das  hat  sie  nicht  getan  und  wird  sie 
nie  tun  —  hat  er  keinen  Grund,  sich  selbst  auszu- 
schließen. Alle  Gnadenmittel  derselben  sind  auch  für 
ihn  da.  Der  Uranier  geht  zum  Gottesdienste^  nicht  um 
seine  Naturanlage  zu  bemänteln,  aber  auch  nicht,  um  für 
diese  Buße  zu  tun,  sondern  lediglich  um  sich,  wie 
jeder  andere,  vor  Gott  und  Menschen  als  Sünder  zu  be- 
kennen, am  Gotteswort,  im  gemeinsamen  Gebet  und  Ge- 
sang sich  zu  erbauen.  Aber  bei  dem  höchsten  Weihe- 
akte unserer  Kirche,  wie  soll  er  sich  da  verhalten?  Darf 
er  da  hinzutreten,  wo  vom  Altare  das  ernste  Mahn  wort 
ihm  entgegentönt:  „Der  Mensch  bewähre  sich  selbst  und 
also  esse  er  von  diesem  Brote  und  trinke  von  diesem 
Kelche"?  Ich  empfinde  voll  und  ganz,  daß  es  heiliger 
Boden  ist,  auf  den  ich  mich  hier  hinauswage;  aber  mit 
freudiger  Gewißheit  drängt  es  mich,  auch  hier  dem  ge- 
hetzten und  verscheuchten  Wilde  Mut   einzuflößen   und 


»)  1.  Cor.  6,  9;  1.  Thim.  1,  10. 


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—     77     — 

ein  „sursum  cordal'^  zuzurufen.  Kommunion  ist  nicht 
bloB  Oemeinschaft  mit  den  Menschen,  sondern  insbe- 
sondere Gemeinschaft  mit  dem  Herrn.  So  wenig  der 
Uranier  zum  heiligen  Abendmahl  kommt  und  den  funktio- 
nierenden Geistlichen  als  verheirateten  Mann  kennt,  sich 
Gedanken  machen  darf,  ob  dieser  Mann,  der  ihm  das 
Brot  bricht  und  den  Kelch  reicht,  kurz  vorher,  vielleicht 
in  der  letzten  Nacht,  mit  seinem  Eheweibe  getan  haben 
möchte,  was  ihn,  den  üranier,  mit  tiefem  WiderwiUen 
erfüllt,  so  wenig  darf  und  wird  der  Geistliche,  wenn 
anders  er  ein  wahrhaft  gläubiger  Mann  ist,  den  Dränier, 
den  er  als  solchen  kennt,  zurückweisen,  sondern  sich  sagen : 
„In  diese  mir  unergründlichen  Geheimnisse  der  Natur 
will  ich  nicht  hineinreden,  vielmehr  das  Richten  dem 
überlassen,  der  in  der  Menschen  Herz  hineinsieht^' ;  der 
aber  fragt  glücklicherweise  nicht,  was  für  einem  Natur- 
triebe wir  unterworfen  seien,  sondern  ob  er  Demut  und 
Glauben  bei  uns  treffe. 

Wenn  ich  das  Verbleiben  des  Uraniers  in  der 
Kirche  begründet  und  gerechtfertigt  finde,  so  tritt  jetzt 
noch  eine  Frage  an  mich  heran,  die,  ob  der  Uranier 
Theologe  sein  und  kirchliche  Ämter  bekleiden  könne. 
Und  darauf  glaube  ich  mit  einem  entschiedenen  Nein 
antworten  zu  müssen.  Ja,  es  wäre  nach  meinem  Da^- 
fürhalten  ein  Glück,  könnte  das  w.  h.  Komitee  durch 
fortgesetzte  .Enqueten  alle  homosexuell  veranlagten  Stu- 
.denten  der  Theologie  über  ihre  Lage  aufklären  und  sie 
rechtzeitig  auf  die  große  Gefahr,  der  sie  sich  aussetzen, 
aufmerksam  machen.  Ist  der  Uranier  im  Amte,  so  sieht 
er  sich  unverhofft  im  Konflikt  nicht  mit  der  Kirche  als 
solcher,  nicht  mit  dem  Worte  Gottes,  nicht  mit  dem 
eigenen  Gewissen,  wohl  aber  mit  der  öffentlichen  Meinung. 
Von  der  Möglichkeit  einer  Betätigung  will  ich  gar  nicht 
reden,  wenn  nicht  tausend  Seelenängste  folgen  sollen. 
Auch    ein   Schatten    einer  Betätigung    in  Worten   oder 


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—     78     — 

Handlungen^  die  an  und  für  sich  harmlos  wären^  jeden- 
falls nichts  Ungesetzliches  enthielten^  genügt  heutzutage 
noch,  um  die  Lästerzungen  in  Bewegung  zu  bringen,  die 
heikelste  Situation  zu  schaffen  und  die  Stellung  eines 
solchen  Mannes  unmöglich  zu  machen.  Und  wenn  er 
geht,  so  folgt  ihm  die  böse  Fama  nach,  wie  eine  Furie 
heftet  sie  sich  an  seine  Fersen  und  läßt  ihn  nicht  mehr 
zur  Ruhe  kommen.  Meine  ersten  kirchengeschichtlichen 
Arbeiten  über  eine  kleine  Landeskirche  gaben  mir  Ver- 
anlassung, von  der  Reformation  bis  zur  Gegenwart  auf 
eine  lange  Reihe  von  Geistlichen  zu  stoßen,  die  ihrer 
uranischen  Veranlagung  erlagen.  Gehe  ich  in  meiner 
Erinnerung  40  Jahre  zurück  und  denke  an  die  Geistlichen, 
Verwalter  von  Rettungsanstalten,  Vorsteher  von  Werken 
der  innern  und  äußern  Mission,  welche  sich  selbst  nicht 
kannten  und  als  Uranier  durch  einen  vielleicht  geringen 
„Fehltritt"  Anlaß  zu  Skandal  wurden,  so  ist  deren  Reihe 
eine  lange  und  zum  Selbstmorde  habe  ich  mehr  als  einen 
ZuÜucht  nehmen  sehen.  Der  Skandal  aber  schadet  nicht 
bloß  dem  Opfer,  sondern  der  Kirche,  der  Sache;  die 
Gläubigen  nehmen  schweres  Ärgernis,  die  Ungläubigen 
schreien  Hailoh!  Selbst  wenn  die  Veranlagung  ein  Ge- 
heimnis bliebe  und  deren  l^äger  die  seltene  Gnade  be- 
säße, sich  völlig  zu  beherrschen,  er  wird  doch  öfter  in 
die  Lage  kommen,  wie  Petrus  in  Antiochia,  zu  heucheln. 
Meine  Ansicht  geht  dahin,  wer  es  kann,  tut  besser,  die 
Theologie  zu  meiden,  für  einstweilen,  d.  h.  so  lange  die 
Dinge  liegen,  wie  sie  liegen. 

IL 

So  wenig  ich  die  Kirche  und  ihre  Lehre  als  unbe- 
dingt bindend  für  das  Gewissen  des  Uraniers  hätte  gelten 
lassen  können,  so  unbedingt  hat  er  sich  dagegen  zu 
beugen  unter  die  hl.  Schrift,  die  als  Gotteswort  wie 
die    unumstößliche   Grundlage    unsres   Glaubens,    so    die 


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—     79     — 

unveränderlichen,  ewigen  und  allgemeingültigen  Normen 
für  unsere  Ethik  gibt.  Freilich,  wenn  dem  Uranier  das 
strenge  Gebot  gilt,  nichts  dazu  zu  setzen  und  nichts 
davon  zu  tun,^)  so  gilt  es  nicht  minder  seinen  Gegnern. 
Wie  der,  welcher  bloß  mit  einem  philologischen  Apparate 
ausgerüstet  an  die  Schrift  herantritt,  überall  Steine  des 
Anstoßes  finden  wird,  über  die  er  strauchelt,  so  hat  der, 
welcher  nach  einem  bestimmten  philosophischen  System 
seine  Schröpf hömer  an  die  Schrift  setzt,  um  ihr  das 
Blut  abzuzapfen,  bald  den  wohlfeilen  Triumph  erreicht, 
mit  dem  Finger  auf  sie  hinweisen  zu  können  als  auf 
einen  entseelten  Körper,  einen  überwundenen  Standpunkt, 
darf  sich  aber  nicht  verwundern,  daß  der  Kadaver  wieder 
aufersteht,  während  sein  System  längst  der  Geschichte 
angehört,  daß  die  Schrift  durch  alle  Jahrhunderte  hin- 
durch sich  als  unüberwindliclie  Festung  erweist.  Wer 
mit  starren  dogmatischen  Begriffen  an  dieselbe  heran- 
tritt, läuft  Gefahr,  den  edlen,  reinen  Text  so  zu  verun- 
stalten, daß  er  alle  entscheidende  Kraft  verliert  Die 
Bibel  ist  eben  ein  Unikum  unter  den  Büchern,  man 
darf  nie  sich  selbst  in  dieselbe  hineinlesen.  Ein  Geist 
durchzieht  sie  von  der  Genesis  bis  zur  Apokalypse,  und 
wer  sich  nicht  demütig  diesem  Geiste  unterstellt,  kommt 
in  Versuchung,  seine  vorgefaßte  Meinung  in  dieselbe 
liineiiizulesen,  anstatt  sein  Urteil  an  derselben  zu  bilden. 
Es  ist  aber  auch  ebenso  unstatthaft,  aus  der  Schrift 
eine  Erzählung  oder  ein  paar  Verse  herauszuheben  und 
von  diesen  in  ihrer  Isoliertheit  ein  Dogma  ableiten  zu 
wollen.  Jede  Stelle  soll  in  ihrem  Zusammenhang  auf- 
gefaßt, die  Schrift  durch  die  Schrift  erklärt  werden. 

Daß  man  jahrhundertelang  mit  dogmatischen  Vor- 
urteilen an  die  Stellen  der  Schrift,  welche  gegen  die 
Betätigung     gleichgeschlechtlicher     Liebe     zu     sprechen 

»)  Offenb.  22,  18,  19. 


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—     80     — 

scheinen,  herantrat  und  sie  immer  wieder  nach  derselben 
Schablone  auslegte,  darf  uns  nicht  wundem,  wenn  wir 
bedenken,  daß  es  gerade  für  den  sittlichen  Menschen 
nichts  Peinlicheres  gibt^  als  wenn  er  den  einzelnen  Akten 
der  geschlechtlichen  Betätigung  nahetreten  soll.  So  kam 
es,  daß  von  der  Reformation  bis  zur  Gegenwart  die  Exe- 
geten  gleichsam  mit  den  Fingern  vor  den  Augen  an  diesen 
Stellen  vortibereilten  und  im  Vorbeigehen  mit  den  land- 
läufigen Ausdrücken:  Sodomiterei,  Päderastie,  widernatür- 
liche Unzucht,  unnennbare  Laster  u.  a.  m.  wie  mit  Schnee- 
ballen um  sich  warfen,  ohne  daß  sich  aach  nur  einer  über 
seine  Terminologie  klar  zu  werden  die  Zeit  genommen  hätte. 
Schlagen  wir  denn  unsere  Bibel  auf,^)  so  treflFen 
wir  gleich  im  ersten  Buch  Moses,  Kap.  19,  auf  eine  Er- 
zählung, welche  stets  gegen  die  üranier  ins  Feld  geführt 
wird,  um  ihnen  zu  zeigen,  wie  sehr  sie  ein  Greuel  seien. 
Man  hat  sogar  ein  besonderes  Wort  von  diesem  Ereig- 
nisse abgeleitet,  „Sodomiterei**,  von  dem  freilich  niemand 
recht  weiß,  was  es  bedeuten  soll,  ob  Päderastie  oder 
Bestialität;  der  Phantasie  bleibt  dabei  ein  großer  Spiel- 
raum, und  diese  malt  gewöhnlich  ins  Aschgraue.  In 
besagter  Erzählung,  welche  ich  nicht  etwa  als  Mythus, 
sondern  als  geschichtliche  Tatsache  auffasse,  wird  uns 
mitgeteilt,  daß  der  Sünde  Sodoms  und  Gomorrhas 
vor  Gott  gedacht  wurde  und  ein  Gericht  über  sie  herab- 
kam, dessen  Widerhall  durch  alle  Zeiten  ertönte,  sodaß 
wir  die  Propheten,  die  apokryphischen  Schriften  des 
Alten  Testamentes,  Jesus  und  die  Apostel  auf  dasselbe 
Bezug  nehmen  sehen.  Nun  kommt  alles  darauf  an,  zu 
wissen,  worin  die  Sünde  der  Bewohner  von  Sodom  und 


^)  Von  Kommentaren  habe  ich  hauptsfichlich  benutzt:  Die 
Werke  Luthers,  Calvins  und  Zwingiis;  M.  Baumgarten, 
Theo!.  Kommentar  zum  Pentateuch;  Keil  und  Dclitsch, 
Pentateuch;  La  Blble  annot^e;  J.  J.  Heß,  Geschichte 
Israels;  Bengels  Gnomon. 


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—     81     - 

Gomorrha  bestand,  durch  welche  die  strafende  Gerechtig- 
keit in  80  erschütternder  Weise  herausgefordert  wurde. 
Die  vulgäre  Auslegung  begnügt  sich  damit,  den  bestimmten 
Modus,  unter  welchem  die  Sodomiter  ihren  Geschlechts- 
trieb zu  betätigen  verlangt  haben  sollen,  als  den  Haupt- 
grund ihres  Untergangs  anzunehmen.  Ganz  ähnlich 
verfährt  der  gewöhnliche  Bibelleser  bei  dem  Falle  Bath- 
seba,^)  „David",  sagt  er,  „hat  sich  geschlechtlich  verfehlt, 
darum  wurde  der  Prophet  zu  ihm  geschickt  und  Gottes 
Gericht  über  ihn  verhängt",  wiewohl  der  Prophet  nichts 
von  des  Königs  geschlechtlicher  Betätigung  erwähnt,  nur 
von  der  Ungerechtigkeit  und  Grausamkeit  spricht,  zu 
der  er  sich  durch  seine  Sinnenlust  hat  fortreißen  lassen. 

Wenn  nun  die  Sünde  der  Sodomiter  geschlechtlicher 
Natur  war,  so  mufi  dieselbe  bei  ihnen  entweder  die 
Frucht  eines  ihnen  angeborenen  Triebes,  d.  h.  sie  müssen 
alle  zusammen  homosexuell  veranlagt  gewesen  sein;  dann 
stimmt  es  aber  mit  dem  Begriffe  von  Gottes  Gerechtig- 
keit nicht  überein,  daß  er  sie,  die  doch  nichts  dafür 
konnten,  daß  sie  so  waren,  mit  Feuer  und  Schwefel  aus- 
rottete. Oder  ihr  sündliches  Verlangen  entsprang  einem 
erworbenen  Laster,  einer  sittlichen  Verkommenheit,  an 
der  sie  alle  ohne  Ausnahme  krankten.  Daß  die  letztere 
Theorie,  die  in  der  Tat  bisher  der  christlichen  Gedanken- 
losigkeit bei  der  Auslegung  unserer  Erzählung  als  Richt- 
schnur gedient  hat,  unhaltbar  ist,  wird  unschwer  nach- 
zuweisen sein.  Doch  lassen  wir  sie  einen  Augenblick 
zu  Recht  bestehen  und  nötigen  wir  ihre  Vertreter,  sie 
konsequent  im  Detail  durchzuführen. 

Es  ist  mir  kein  protestantischer  Theologe  bekannt, 
der  es  versucht  hätte,  das  Ereignis  nachzuerzählen,  außer 
Joh.  Jac.  Heß.  Der  sonst  so  geniale  Darsteller  biblischer 
Geschichte   steht  hier   unter   dem  Eüntiusse   der  phari* 


1)  Sam.  11,  12. 

Jahrlmch  VI. 


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—     82     — 

säischen  Prüderie  seiner  Zeit  und  seiner  kleinstädtischen 
Umgebung,  er  will  sich  gegen  seine  Gewohnheit  der 
Knappheit  befleißigen  und  fällt  dabei  ins  Unnatürliche. 
Folgen  wir  seiner  Leitung  und  gehen  wir  noch  etwas 
mehr  auf  die  Einzelheiten  des  Ereignisses  ein:  Wir 
werden  nach  Sodom  versetzt,  eine  wohlhabende,  heid- 
nische Stadt  im  fruchtbaren  Siddimtale,  deren  Ein- 
wohner durch  ihre  Sittenlosigkeit  weit  und  breit  bekannt 
sind.  Es  ist  Abend  geworden ,  unter  .  dem  Tore  der 
Stadt  —  dem  Orte,  der  zu  politischen  Versammlungen 
und  G-erichtsverhandlungen  benützt  wird,  aber  auch  den 
Männern  als  Rendezvous  dient  für  Unterhaltung  und 
Klatsch,  nach  Art  unserer  modernen  Kaffeehäuser  — 
sitzen  einige  müßige  Bürger,  unter  ihnen  auch  Loth,  der 
Vetter  Abrahams,  der  einzige  Nichtheide  in  Sodom.  Zwei 
Fremde  kommen  an  das  Tor,  -man  sieht  ihnen  schon  von 
weitem  an,  das  sind  keine  Handwerksburschen,  es  sind 
vornehme  Menschen  von  seltener  Schönheit,  wahrhaft  er- 
habene EIrscheinungen.  Trotzdem  läßt  man  sie  unfreund- 
lich stehen;  nur  Loth  erhebt  sich,  um  sie  mit  tiefer 
Ehrfurcht  zu  begrüßen  und  ihnen  das  Gastrecht  in 
seinem  Hause  anzubieten.  Nach  einigem  Zögern  ihrer- 
seits und  wohlbegründetem  Drängen  von  Seiten  Loths 
kommen  sie  unter  sein  DacL  Inzwischen  hat  sich  wie 
ein  Lauffeuer  das  Gerücht  durch  die  ganze  Stadt  ver- 
breitet, zwei  prächtige  Jünglinge,  „engelschön",  sagt 
Heß,  seien  da  und  bei  Loth  eingekehrt.  Das  ist  zwar 
mehr  als  griechisch  gedacht,  aber  fahren  wir  weiter. 
Diese  Kunde  entflammt  im  Nu  die  ganze  Einwohner- 
schaft zu  solch  wahnsinniger  Liebe  für  die  zwei  noch 
nicht  geschauten  Schönheiten,  daß  die  gesamte  männ- 
liche Bevölkerung  dieselben  zu  notzüchtigen  begehrt. 
Man  bemerke  wohl,  es  sind  nicht  etwa  Einzelne,  welche 
sich  vor  Loths  Hause  zusammenfinden,  nein,  das  ganze 
Nest  ist  auf  den  Beinen,   nicht   bloß   die   ausgelassene 


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—     83     — 

Jagend,  auch  das  besonnene  Alter,  alles,  ganz  Sodom  ver- 
langt die  Herausgabe  der  beiden  Fremden.  Was  weiter 
folgt,  ist  bekannt  und  können  wir  es  übergehen;  doch 
sei  mir  gestattet,  zwei  Fragen  zu  stellen. 

Was  ist  von  einem  Vater  zu  halten,  der^  um  zwei 
Gäste,  die  auf  etliche  Stunden  bei  ihm  und  seiner  Familie 
Herberge  genommen,  vor  einem  rohen  Pöbel  zu 
retten,  diesem  nicht  etwa  ein  paar  seiner  Sklavinnen, 
nein,  seine  eignen,  unbescholtenen  Töchter  vor  die  Türe 
werfen  will?  Konsequenter  Weise  wird  man  uns  nicht 
etwa  sagen,  das  sei  ein  Beweis  dafür,  wie  hoch  und 
heilig  das  Gastrecht  in  jener  Zeit  gehalten  wurde,  sondern, 
dieser  Loth  sei  eben  auch  ein  unsittlicher  Mensch  ge- 
wesen. Die  Reformatoren  z.  B.  sehen  in  diesem  Akt 
ein  Stück  von  Sodoms  Verkommenheit  in  Loth.  Ich 
hätte  auch  so  geurteilt,  nach  meinen  modernen  Begriffen 
von  Sittlichkeit,  die  ich,  in  streng  protestantischer  Lufk 
erzogen,  von  Jugend  auf  eingesogen  habe,  wenn  mir  die 
Schrift  nicht  entgegenhielte:  „Aber  Loth  war  ein  Ge- 
rechter vor  dem  Herrn"  ^)  und  wenn  ich  nicht  wüßte, 
daß  derselbe  Herr,  welcher  die  Perlen  nicht  vor  die 
Schweine  wirft,  seine  Boten  nicht  dem  Hause  eines  solch 
wüsten  Menschen  anvertraut  haben  würde. 

Ich  will  die  oberflächlichen  Bibelausleger  weiter 
fragen:  Glauben  Sie  nicht,  daß  das  furchtbare  Strafgericht 
von  Sodom  den  wenigen  Geretteten  wie  ein  heilsamer 
Schrecken  in  allen  Gliedern  nachzittern  mußte?  Und 
trotzdem  bekommen  wir  von  den  beiden  Töchtern  Loths, 
den  einzigen,  die  mit  ihrem  Vater  dem  Verderben  ent- 
ronnen waren,  zu  hören,  daß  sie  sich  unmittelbar  nachher 
eines  argen  Sittlichkeitsvergehens  unter  erschwerenden 
umständen  nach  §  173  des  deutschen  Strafgesetzes 
schuldig   machten,   und   doch  sind  diese  zwei  nach  mo- 


»)  2.  Petri  2,  7. 


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—     84     — 

dernen    Sittlichkeitsbegriffen    so    abscheulichen    Weibs- 
personen nicht  zu  Salzsäulen  geworden. 

Man  wird  zugeben,  daß  in  einer  Zeit,  in  der  die 
geschlechtlichen  Verhältnisse  noch  so  wenig  geregelt 
waren  wie  damals,  das  Hauptgewicht  von  Sodoms  Schuld 
nicht  in  der  beabsichtigten  geschlechtlichen  Handlung, 
ob  solche  eine  perverse  oder  normale  heiße,  zu  suchen 
ist.  In  der  Tat  stimmen  denn  auch  alle  Theologen  vom 
Fache,  die  jüdischen,  katholischen  und  protestantischen, 
darin  überein,  daß  sie  bei  den  Sodomitem  zwar  eine  ge- 
schlechtliche Yerirrung  konstatieren  zu  müssen  glauben, 
keiner  aber  in  derselben  den  alleinigen  Grund  für  das 
nachfolgende  Strafgericht  Gottes  zu  erkennen  vermag, 
sondern  nur  ein  begleitendes  Moment,  welchem  die  einen 
mehr,  die  andern  weniger  Gewicht  beilegen.  Ob  sie  nun 
die  geschlechtliche  Sünde  von  Sodom  in  den  Vordergrund 
stellen  oder  mehr  zurücktreten  lassen,  immerhin  halten 
sie  die  Annahme  fest,  als  ob  die  gesamte  Bevölkerung 
Sodoms  und  der  andern  zerstörten  Städte  einem  per- 
versen Geschlechtstriebe  verfallen  gewesen  wäre.  Luther 
spricht  von  „stummer  Sünde",  und  darin  sind  die  meisten 
übrigen  Bibelausleger  ungefähr  einig.  Nun  wird  aber 
eine  solche  Annahme  einer  näheren  Prüfung  kaum  stand- 
halten können.  Abgesehen  von  den  Frauen,  welche  in 
diesem  Falle  als  unschuldig  und  als  ungerechtei-weise 
mit  den  Männern  zusammen  gestraft  erschienen,  wird 
man  auch  von  den  letzteren  nicht  behaupten  dürfen,  daß 
sie  alle  ohne  Ausnahme  an  derselben  moralischen  Krank- 
heit gelitten  haben.  Loth  selbst  ist  der  beste  Zeuge  da- 
gegen; denn  wenn  er  alle  für  pervers  gehalten  hätte, 
würde  er  es  für  fruchtlos  angesehen  haben,  ihnen  seine 
Töchter  anzubieten.  Die  kräftigsten  Gegenbeweise  liefert 
übrigens  das  Gebiet  geschlechtlicher  Verimingen  selbst, 
das  ich  gegen  meinen  Willen  jetzt  betreten  muß,  um  die 
„Widematürlichkeit"  der  landläufigen  Exegese  bloßzulegen. 


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—    85    — 

Es  gibt  in  ünsern  großen  Städten  öffentliche  Häuser, 
in  denen  der  natürliche  Gebrauch  des  Weibes  zu  den 
Seltenheiten  gehört  und  ganz  anderer  Befriedigung  ge- 
fröhnt  wird.  In  solchen  Häusern  wird  man  kaum  je 
einen  Homosexuellen  treffen.  Aber  auch  von  den  Hetero- 
sexuellen, die  außerehelichen  Verkehr  suchen,  darf  nicht 
angenommen  werden,  daß  sie  alle  oder  auch  nur  der 
Mehrzahl  nach  diese  Häuser  frequentieren,  aus  dem  ein- 
fachen Grunde,  weil  ihnen  ein  derartiger  Geschlechts- 
verkehr nicht  behagt  Geistliche  und  Ärzte  wissen,  wie 
viele  verheiratete  Männer  in  Stadt  und  Land  es  gibt, 
welche  ihre  Ehefrauen  mit  oder  gegen  deren  Willen  zur 
unnatürlichen  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  an- 
halten, und  doch  ist  es  auch  unter  den  Ehemännern  nur 
die  Minderzahl,  weil  den  meisten  ein  solcher  Verkehr 
nicht  etwa  gegen  das  Gewissen,  wohl  aber  gegen  die 
Natur  geht. 

Wenn  in  unserer  Zeit  der  Überkultur  in  den  großen 
Städten,  die  gewiß  an  sittlichem  Zerfall  nichts  zu  wün- 
schen übrig  lassen,  die  Wüstlinge,  welche  auf  allerlei 
künstliche  Mittel  zur  Befriedigung  ihrer  sinnlichen  Lust 
geraten,  leicht  zu  finden  sind,  so  bilden  sie  doch  immer 
nur  eine  geringe  Minderheit  unter  der  Gesamtbevölkerung 
und  in  einer  kleinen  Frovinzialstadt,  wie  Sodom  es  war, 
die  sämtlichen  männlichen  Bewohner  derselben  als  Wüst- 
linge sich  zu  denken,  ist  auch  der  schmutzigsten  Phan- 
tasie nicht  möglich.  Wir  müßten  analoge  Erscheinungen 
in  der  Geschichte  der  Menschheit  treffen  und  Orte  an- 
geben können,  wo  geschlechtliche  Perversitäten  so  all- 
gemein verbreitet  waren,  daß  davon  ganze  Gemeinde- 
wesen vom  ersten  bis  zum  letzten  Mann  angesteckt  ge- 
wesen wären.  Ein  nur  entfernt  ähnliches  Beispiel  aber 
findet  sich  weder  in  der  alten  noch  in  der  neueren  Ge- 
schichte, weder  bei  Barbaren  noch  bei  Kulturvölkern. 

Zwingli    fühlt    das   Unzulängliche   dieser  Annahme 


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—     86     — 

und  meinte  es  habe  in  Sodom  niemand  dem  von  einzelnen 
beabsichtigten  Bösen  widersprochen,  dann  ist  es  aber 
ebenso  unzulässig,  daraus,  wie  es  der  Reformator  tut, 
eine  Schuld  aller  abzuleiten.  Eine  Tat,  die  einzelne,  sei 
es  aus  perversem  Naturtrieb  oder  aus  Lasterhaftigkeit, 
begehen  oder  gar  nur  begehen  wollen,  kann  nicht  das 
Gericht  über  alle  bringen;  denn  zehn  Gerechte  genügten, 
um  die  Stadt  zu  retten.^)  Daß  alle  umkamen,  nötigt 
uns,  nach  einer  Schuld  zu  suchen,  an  der  alle,  Männer 
und  Fraaen,  beteiligt  waren,  und  zwar  direkt,  nicht  bloß 
nach  dem  Sprich  worte:  „Mitgefangen,  mitgehangen'';  denn 
bei  einem  ähnlichen  Volksanflaufe  kann  es  wohl  der 
Polizei  passieren,  daß  sie  mit  den  Beteiligten  auch  einige 
unschuldige  Gaffer  faßt,  bei  Gottes  Gerichten  aber  sind 
solche  Mißgriffe  ausgeschlossen. 

Die  Gelehrten  suchen  in  yerschiedener  Richtung 
diese  Schuld.  Sie  sehen  die  Verworfenheit  der  Sodomiter 
teils  in  der  frechen  Verletzung  des  Gastrechtes,  teils  in 
der  Brutalität,  mit  welcher  dieselben  geschlechtliche  Ex- 
zesse zu  begehen  wagten.  In  der  Tat  tritt  bei  dem 
ganzen  Hergang  die  empörende  Frivolität  in  den  Vorder- 
grund, womit  ein  Verbrechen  der  Notzucht  unter  An- 
wendung brutalster  Gewalt  versucht  wird  und  wobei  es 
Nebensache  ist,  ob  der  schändliche  Akt  gegen  das  eine 
oder  andere  Geschlecht  geplant  war.  Die  Untat  sollte 
mitten  in  ihrer  Stadt,  öffentlich,  vollzogen  werden,  unter 
dem  Beifall  der  ganzen  Bevölkerung,  von  Alt  und  Jung, 
mit  Hintansetzung  des  letzten  Restes  menschlichen 
Schamgefühls  und  obendrein  noch  an  edlen,  gesitteten 
Fremden,  die  das  Gastrecht  bei  Loth  genossen.  Es  ist 
bekannt,  wie  heilig  dieses  Recht  dem  Morgenländer  zu 
allen  Zeiten  war  und  welch  einen  Abscheu  die  Verletzung 
desselben  einflößte.    In  Sodom  Wird  solches  den  Fremden 


>)  Genes.  .18,  32. 


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—     87    — 

mcht  bloB  nicht  gewährt^  yielmehr  wenn  ein  Hintersasse 
die  heilige  Pliicht  aasüben  will,  lehnen  sie  sich  gegen- 
über diesem  ,JU[ucker*'  in  ihrer  Mitte  auf.  So  erproben 
sie  sich  durch  die  Tat  als  des  Geschreies,  welches  vor 
Gott  gekommen  war,  würdig,  als  die  ruchlosesten 
Schänder  des  Gastrechtes,  und  liefern  den  Beweis,  daß 
kein  Fremder  ihre  Stadt  betreten  kann,  ohne  sich  ihrer 
rohen  Zügellosigkeit  ausgesetzt  zu  sehen. 

Bei  dieser  Auslegung  bleibt  immer  die  geschlecht- 
liche Verirrung  als  mitwirkend  anerkannt  Alle  Ausleger 
fühlen  die  Schwierigkeit,  keiner  überwindet  sie  ganz, 
weil  keiner  sich  gedrungen  sah,  keiner  ein  persönliches 
Interesse  hatte,  eine  gründliche  Lösung  zu  suchen.  Wo 
es  sich  um  Legitimation  der  Theologenehe  handelt,  sind 
Luther,  Zwingli  und  Calvin  gleich  erfinderisch,  sie  unter- 
werfen das  Problem  dem  eingehendsten  Studium  und 
finden  zwar  nicht  aus  dem  Wortlaute,  aber  aus  dem 
Sinn  und  Geist  der  Schrift  eine  glückliche  Lösung,  die 
ich  weit  entfernt  bin  ihnen  als  Sophisterei  auslegen  zu 
wollen.  Ich  anerkenne  sie  als  rein  evangelisch,  gönne 
sie  ihnen  und  protestiere  dagegen,  wenn  man  den  Re- 
formatoren die  Absicht  unterschiebt,  als  hätten  sie  damit 
nur  eine  Entschuldigung  für  die  Betätigung  ihres  Ge- 
schlechtstriebes gesucht;  aber  ebenso  begreife  ich  auch, 
daß  es  jedem  üranier  in  der  Seele  wehe  tun  muß,  immer 
und  immer  wieder  zu  hören,  daß  man  seine  gleichge- 
schlechtliche Liebe  mit  einem  solch  wüsten  Skandal,  wie 
er  in  Sodom  passierte,  auf  gleiche  Linie  stellt  Wenn 
unter  den  Eeformatoren  einer  homosexuell  gewesen  wäre 
oder  wenn  die  Anschuldigungen,  welche  gegen  Beza  er- 
hoben werden,  auf  Wahrheit  beruhten,  sähe  man  sich 
heute  der  Mühe  überhoben,  die  Geschichte  Sodoms  weiteren 
Erwägungen  zu  unterwerfen.  So  unangenehm  die  Sache 
ist,  jetzt  muß  es  geschehen  im  Interesse  der  Wahrheit 
und  zum  Schutze  von  Tausenden. 


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—     88     — 

Bei  der  großen  Unsicherheit,  die  sich  durch  alle 
Auslegungen  hindurchzieht,  darf  man  sich  wohl  die  Frei- 
heit nehmen^  einmal  eine  Darstellung  des  Ereignisses  zu 
Tersuchen^  die  auf  eine  von  der  landläufigen  abweichende 
Erklärung  desselben  führt   Ich  tue  es  in  folgender  Weise: 

Loth  sitzt  unter  dem  Stadttor  mit  den  Sodomitem, 
da  die  Fremdlinge  kommen.  Keiner  der  etwa  anlesen- 
den Wüstlinge  und  Lebemänner  fühlt  bei  ihrem  Anblick 
das  Blut  in  Wallung  geraten,  daß  es  ihn  gelüstete,  an 
den  zwei  schönen  Menschen  sich  zu  vergreifen.  Keiner 
von  ihnen  dachte  auch  nur  daran,  sie  in  sein  Haus  ein- 
zuladen, um  leichter  Gelegenheit  zu  finden,  seine  Geilheit 
an  ihnen  zu  befriedigen.  Aber  ebensowenig  macht  einer 
von  den  interessierten^  selbstsüchtigen  Bürgern  Miene, 
das  primitivste  G^bot  der  Nächstenliebe  nach  der  Sitte 
jener  Zeit  zu  erfüllen  und  den  Fremdlingen  Herberge 
anzubieten.  Diese  „christliche'^  Tat  überläßt  man  dem 
wohlhabenden  Loth.  Er  läßt  sich  auch  nicht  erst  bitten, 
denn  er  erkennt  in  den  Ankömmlingen  Engel,  die  Boten 
seines  Gottes.  Daher  erhebt  er,  der  vornehme,  ange- 
sehene Mann,  dessen  Oheim  vor  kurzem  ganz  Sodom 
aus  der  Hand  Eedar-Laomers  befreit  hat,  sich  alsobald 
von  seinem  Sitze,  geht  ihnen  entgegen,  verbeugt  sich 
demütig  vor  den  Engeln  bis  zur  Erde  nieder  und  ladet 
sie  ein  zur  Einkehr  unter  sein  Dach.  Die  Sodomiter 
sind  zwar  Heiden,  aber  was  sie  von  Loth  hören,  be- 
stätigen ihnen  ihre  eignen  Augen;  sie  merken,  daß  es 
sich  da  um  höhere  Wesen  handelt.  Es  verbreitet  sich 
die  Kunde  in  alle  Häuser,  daß  Boten  des  Gottes  Loths 
in  der  Stadt  sind  in  Menschengestalt,  sichtbar,  greifbar. 
Daher  die  Parole,  die  alle  entflammt:  „Heraus  mit  diesen, 
daß  wir  sie  in  unsem  Tempel  bringen,  wo  Götter  sich 
mit  Menschen  paaren!  Diese  Gelegenheit  entrinne  uns 
nicht,  sie  sollen  noch  diese  Nacht  mit  unserm  Geschlechte 
sich  verbinden!^'    Ob  die  Fremdlinge  nur  Männern  oder 


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—     89     — 

auch  Weibern  preisgegeben  werden  sollten,  ist  Nebensache; 
genug,  die  unzüchtigen  Orgien  des  Heidentums  sollten 
einen  Anlaß  seltener  Verherrlichungen  ßnden.  Loth  ist 
der  einzige,  der  weiß  und  glaubt,  daß  es  teuflisch  sei, 
fleischliche  Verbindung  mit  Wesen  anderer  Art  {irigcc 
aäg^)^)  zu  begehren.  Er  ist  zwar  noch  nicht  an  Wunder 
gewöhnt  und  sein  Olaabe  ist  noch  dunkel;  aber  in  diesem 
seinem  kindlichen  Glauben  ist  er  entschlossen,  zum 
Schutze  der  Grottesboten  das  Äußerste  zu  opfern,  sein 
eigen  Fleisch  und  Blut  preiszugeben,  in  der  freilich  ver- 
geblichen Hoffnung,  das  sinnliche  Element  möchte  bei 
der  tobenden  Menge  über  das  dämonische  Verlangen 
den  Sieg  davontragen.  Er  irrt  sich,  es  ist  nicht  die 
wildschäumende  Jugend,  die  das  Wort  führt,  die  Alten 
und  Besonnenen  stehen  zuvorderst  und  drohen,  über  die 
Leiche  Loths  hinweg  ihr  Vorhaben  auszuführen,  sie 
wollen  sich  an  dem  Gotte  Abrahams  und  Loths  selbst 
vergreifen.  Da  treten  die  Engel  ins  Mittel  und  setzen 
den  Rasenden  Schranken.  Loth  hat  sich  in  heißer  Probe 
glänzend  bewährt,  seine  Tat  ist  die  Glaubenstat  eines 
Gerechten,  sein  Lohn  die  Rettung  für  ihn  und  sein  Ge- 
schlecht. Daß  seine  Töchter  nachher  begehrten,  nur  den 
Samen  dieses  einzigen  Gerechten,  der  weit  und  breit 
unter  den^ännem  sich  fand,  zur  Welt  zu  bringen,  be- 
greift, wer  das  Weib  als  solches  versteht. 

So  tritt  die  Verletzung  des  Gastrechtes  zurück  und 
der  geschlechtliche  Akt  kommt  wieder  in  den  Vorder- 
grund zu  stehen.  Dieser  Darstellung  aber  wird  durch 
kein  einziges  Woi*t  im  Texte  Schwierigkeit  bereitet;  daß 
sie  dem  Sinn  und  Geiste  der  Schrift  entspricht,  zeigt 
mir  der  Brief  Judä,  der  im  7.  Verse  die  Bestrafung 
Sodoms  der  Bestrafung  der  Engel,  welche  in  Vers  6 
erwähnt  sind,  gleichstellt     Setzen  wir  letzteren  Vers  in 


^)  Judae  7. 


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—     90    — 

Beziehung  mit  Genesis  6,  wo  von  den  Söhnen  Gottes 
die  Bede  ist,  welche  mit  den  Töchtern  der  Menschen 
fleischliche  Verbindungen  eingingen  und  damit  das  Gottes- 
gericht herausforderten,  so  liegt  die  Annahme  sehr  nahe, 
daß  die  Sodomiter  etwas  Ähnliches  auf  umgekehrtem 
Wege  erzwingen  wollten,  eine  fleischliche  Verbindung 
mit  göttlichen  Wesen,  vielleicht  auch  um  „Gewaltige*' unter 
ihrer  Nachkommenschaft  zu  haben. 

Zu  dieser  Auffassung  stimmt  dann,  wenn  im  Deute- 
ronomium  32,  32  von  dem  götzendienerischen  Israel  ge- 
sagt wird,  sein  Weinstock  sei  von  dem  Weinstock  Sodoms 
und  Yon  den  Feldern  Gomorrhas,  wenn  Ezechiel  (16, 
48 — 50)  die  Sünde  Sodoms  als  Hochmut  bezeichnet 
Durch  den  Hochmut  hat  Satan  gegen  Gott  sich  aufgelehnt 
und  wurde  verstoßen;  durch  den  Hochmut  verfielen  die 
Menschen  auf  den  Turmbau  zu  Babel  und  wurden  in 
alle  Welt  zerstreut;  durch  den  Hochmut  ließ  sich  die 
Stadt  Sodom,  Alt  und  Jung,  Mann  und  Weib,  verleiten, 
sich  an  Gottesboten  zu  vergreifen.  Ihr  heidnischer  Aber- 
glaube hatte  sie  dazu  gebracht,  auf  das  Fleisch  zu  säen 
und  vom  Fleische  ernteten  sie  das  Verderben. 

Will  man  in  der  ähnlichen  Erzählung  im  Buche 
der  Richter,  Kap.  19,  die  Schuld  der  Bewohner  Gibeas 
in  der  Verletzung  des  Gastrechtes  erkennen,,  wozu  man 
auf  den  ersten  Blick  versucht  sein  möchte,  so  fällt  deren 
perverses  Verlangen  wiederum  außer  Betracht  oder  wird 
wenigstens  ganz  nebensächlich.  Doch  sehe  ich  gerade 
in  diesem  Ereignis  eine  vollständige  Parallele  zu  Sodom, 
weil  die  Frevler  in  Gibea  Kinder  Baals  genannt  werden 
und  ihr  Attentat  gegen  einen  Mann  gerichtet  ist,  den 
sie  als  Leviten,  einen  Diener  des  Tempels  Jehovas, 
kennen.  Auch  bei  ihnen  handelt  es  sich  zunächst  um 
Tempelprostitution,  auch  ihr  Verlangen  ist  ein  dämoni- 
sches, wie  bei  den  Bewohnern  Sodoms,  doch  mit  dem 
Unterschiede,  daß  sie  sich  nicht  an  einem  höheren  Wesen 


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•      —    91     — 

selbst,  sondern  nur  an  einem  Geweihten  des  Gk>ttes  Israels 
yergreifen  konnten  und  daher  beim  Anblick  des  darge- 
botenen jungen  Weibes  das  sinnliche  Element,  das  so 
heterosexuell  wie  bei  den  Sodomitem  war,  die  Oberhand 
gewann,  d«  h.  die  fleischliche  Erregung  den  Sieg  über 
den  religiösen  Fanatismus  davontrug. 

Eine  zweite  Erzählung,  Genesis  88,  8 — 10^  genügt 
es,  kurz  zu  streifen,  um  zu  konstatieren,  daß  sie  mit 
unserm  Thema  in  keiner  direkten  Beziehung  steht  Onan 
hat  mit  dem  üranismus  als  solchem  nichts  zu  tun.  Es 
ist  auch  die  Ableitung  des  Wortes  zur  Bezeichnung  der 
Selbstbefleckung  von  seinem  Namen  eine  ebenso  unglück- 
liche und  yerwirrende,  wie  die  ähnliche  des  Wortes 
Sodomiterei.  Bei  Onan  ist  keine  Rede  von  Masturbation, 
noch  weniger  von  einer  homosexuellen  Handlung.  £^ 
hat  als  echter  Heterosexueller  den  sogenannten  natür- 
lichen Beischlaf  mit  der  Thamar  vollzogen,  aber  unter- 
brochen, weil  ihm  die  von  dem  Gott  Israels  verordnete 
Leviratsehe  nicht  behagte.  Sein  Wille  war  mit  Gottes 
Willen  in  Widerspruch,  d.  h.  seine  Sünde  war  der  Un- 
gehorsam, ein  Durchbrechen  der  für  eine  gewisse  Zeit 
geltenden  Ordnung  Gottes,  und  diese  Sünde  mußte  um 
des  Beispieles  willen  streng  geahndet  werden. 

Die  Stellen  des  Alten  Testamentes,  welche  am  deut- 
lichsten gegen  eine  Betätigung  homosexueller  Triebe  zu 
sprechen  scheinen,  sind  Leviticus  18,  22  und  20,  13, 
wo  es  heißt:  „Du  sollst  nicht  beim  Manne  liegen.'' 
Luthers  Übersetzung:  „Beim  Knaben"  ist  zu  schwach 
und  wird  dem  Grundtexte  nicht  völlig  gerecht  Der 
Zusatz:  „Wie  beim  Weibe"  zeigt,  daß  nicht  von  jeder 
Art  gleichgeschlechtlicher  Betätigung,  sondern  nur  von 
der  Paedicatio  und  wieder  nur  von  Paedicatio  zwischen 
Männern  die  Rede  ist.  Nun  bestätigen  aber  mit  seltener 
Übereinstimmung  fast  alle  neueren  Forscher  auf  dem 
Gebiete   des   sexuellen   Lebens,    daß    gerade   diese   Art 


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—    92    —       • 

geschlechtlicher  Betätigung  bei  den  üraniem  selten  ge- 
troffen werde^  jedenfalls  nicht  mehr  als  bei  Heterosexuellen. 
Daß  auch  bei  den  genannten  zwei  Stellen  an  einen  Zu- 
sammenhang mit  den  heidnischen  Mysterien  zu  denken 
sei,  ist  nicht  direkt  nachzuweisen,  doch  liegt  die  Ver- 
mutung nahe  und  findet  Unterstützung  in  der  engen 
Verbindung,  in  welcher  diese  Worte  stehen  mit  der  Er- 
wähnung des  Molochdienstes  ^  sowie  durch  den  Hinweis 
auf  die  Heiden,  welche  dergleichen  Greuel  getan  haben, 
während  von  derselben  Handlung,  am  Weibe  begangen, 
sowie  jedem  anderen  geschlechtlichen  Verkehr  zwischen 
Männern  oder  von  Weibern  mit  Weibern  nicht  die  Rede 
ist.  Da  die  Verbote  unter  einer  langen  Reihe  anderer 
aufgeführt  werden,  welche  Dinge,  die  uns  ganz  gleich- 
gültig sind,  als  Greuel  bezeichnen  und  mit  dem  Tode 
bedrohen,  während  sie  heute  nicht  einmal  als  Vergehen 
oder  Übertretungen  angesehen  werden,  scheint  die  An- 
nahme gerechtfertigt,  daß  sie  mit  allen  andern  auf  die 
Reinigung  Israels  vom  Heidentume  abzielenden  Ver- 
ordnungen, in  deren  Mitte  sie  stehen,'  nur  für  den  alten 
Bund  Geltung  haben. 

Ich  bin  weit  davon  entfernt,  die  Paedicatio,  inner- 
halb oder  außerhalb  der  Ehe  vollzogen,  in  Schutz  zu 
nehmen,  nur  will  mir  dünken,  die  eine  mit  dem  Tode 
zu  bedrohen,  die  andere  dagegen  ungestraft  zu  lassen, 
sei  eine  Inkonsequenz,  die  sich  wohl  gedankenlose  Gesetz- 
geber der  Neuzeit  zu  leisten  imstande  sind,  der  aber, 
welcher  das  mosaische  Gesetz  inspiriert  hat,  kann  nicht 
ohne  besonderen  Grund  so  verfahren  sein,  und  dieser 
Grund  wird  an  einer  andern  alttestam'entlichen  Stelle,  zu 
welcher  wir  uns  noch  zu  wenden  haben,  unzweideutig 
angegeben.  Im  Deuteronomium  23,  17  nämlich,  wo 
es  heißt:  „Unter  den  Töchtern  Israels  soll  keine  Hure 
und  unter  den  Söhnen  Israels  soll  kein  Hurer  sein/' 
Der    hier    gebrauchte    hebräische   Ausdruck    für   Hurer 


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—     93     — 

icn^  läßt  keine  andere  Übersetzang  zn  als  der  ,,6eheiligte'S 
d.  h.  eben  der  zur  Kultusprostitution  Geweihte.  Dasselbe 
ist  der  Fall  in  der  letzten  Stelle,  der  wir  im  Alten 
Testament  begegnen,  L  Könige  14,  24,  die  von  sitt- 
lichem Zerfall  unter  Behabeam  spricht^  dem  Könige, 
welcher  die  Götzendienste,  namentlich  den  Astartedienst, 
wieder  eingeführt  habe,  und  dann  fortfahrt:  „Es  waren 
auch  Hurer  im  Lande,  die  taten  nach  allen  Greueln  der 
Heiden."  Es  sind  dieselben,  für  welche  Paulus  das  Wort 
äQfTtvoxoirai^)  gebraucht,  über  dessen  genauere  Be- 
deutung weder  die  Beformatoren  noch  die  späteren  Aus- 
leger sich  die  Mühe  nahmen,  Eechenschaft  zu  geben; 
man  begnügte  sich  zu  allen  Zeiten  damit,  oberflächlich 
solche  Stellen  mit  „Schweinerei",  „widernatürliche  Unzucht'' 
abzutun.  Luther  übersetzt  beide  Mal  äQGWoxoixai  mit 
Knabenschänder^  Calvin  gibt  dafür  das  eine  Mal  paede- 
rastae,  das  andere  Mal  masculinorum  concubitores,  welch 
letzterer  Ausdruck  allein  sich  mit  dem  griechischen  deckt. 
Li  allen  Fällen  ist  im  Alten  Testamente  zu  denken  an 
Personen,  welche  mit  unzüchtigen  Gottesdiensten  in  Ver- 
bindung stehen. 

Auf  dieselbe  Stufe  mit  der  Hurerei,  weil  wieder  in 
Beziehung  zum  Götzendienste,  werden  im  Gesetze  Moses 
noch  andere  Handlungen  gestellt:  Zauberei  und  Wahr- 
sagerei, das  runde  Scheren  des  Haupthaares,  das  Ge- 
nießen des  Blutes  und  anderes  mehr.*)  Daß  der  Götzen- 
dienst selbst,  wie  jedes  Sicheinlassen  mit  den  Pro- 
stituierten des  Tempeldienstes,  das  die  völlige  Hingebung 
an  die  Götter  der  Heiden  bedingt,  als  Hurerei  bezeichnet 
wird,  ist  bekannt  Nun  waren  alle  Völker,  in  deren 
Mitte  Israel  stand,  der  Naturreligion  ergeben,  die  heid- 
nische Welt  glaubte  die  Natur  mit  einer  Unzahl  dämo- 


M  I.  Cor.  6,  9;  I.  Thim.  1,  10. 
■)  Leviticufl  19,  26—81. 


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—     94    — 

Bischer  Wesen  erflillt,  alles  sah  man  für  durch  Geister 
belebt  an  und  dachte  die  Götter,  welche  man  sich  nach 
menschlicher  Art  gestaltete,  als  Naturwesen  dem  Natur- 
gesetze unterworfen.  In  deren  Dienst  trat  von  frühester 
Zeit  an  vom  Orient  bis  zum  Okzident  die  Magie  mit 
ihren  Metamorphosen,  Wundertränken,  Wunderkräutem, 
Zauberstäben,  Zaubergürteln  usw.,  dann  gesellten  sich 
die  Mysterien  der  Geheimkulte  dazu,  welche  die  Wollust- 
pflege zum  Mittel-  und  Höhepunkt  der  Gottesyerehrung 
machten  als  Abbild  der  zeugenden  Kraft  im  vergöttlichten 
Naturleben,  unsere  Missionare  können  erzählen  von  der 
Macht,  womit  der  Naturdienst  die  Menschen  zu  ergreifen 
und  zu  beherrschen  vermag ,  und  die  Geschichte  des 
Altertums  gibt  uns  Zeugnis  davon  in  den  Beschreibungen 
von  Hekatomben,  Menschenopfern,  Entmannungen  und 
Prostitution.  In  Ägypten  war  der  Tierdienst  mit  allen 
seinen  Ausartungen  zum  Yolkskultus  geworden,  in  Kanaan 
forderte  der  Moloch  die  Opfer  der  Unmündigen  und  die 
Astarte  machte  den  Geschlechtsgenuß  bis  zur  Prostitution 
zum  heiligen  Gesetz.  War  Israel  in  Ägypten  weniger 
der  Gefahr  ausgesetzt,  von  den  Landesbewohnem  zu  ihrer 
Abgötterei  verführt  zu  werden,  weil  es  in  ihren  Augen 
als  ein  unreines  und  daher  für  die  Teilnahme  am  Kultus 
unfähiges  Volk  galt,  so  sehen  wir  den  Reiz  der  Mysterien 
auf  dasselbe  in  Kanaan  um  so  unwiderstehlicher  wirken. 
Gott  ließ  die  Heiden  ihre  Wege  gehen,*)  aber  Israel 
sollte  in  Lebensgemeinschaft  bleiben  mit  seinem  Gott, 
der  nicht  des  Volkes  eigne  Machenschaft  war,  wie  die 
Götter  der  Heiden,*)  und  nicht  ein  Produkt  seines  Denkens, 
sondern  sich  selbst  Israel  offenbarte.  Die  Grundlage 
dieser  Offenbarung  war  die  Heiligkeit  Gottes,  auf  den 
die  Kreatur  ihr  eignes  Denken  und  Tun  nicht  übertragen, 


0  Act.  14,  16. 

^  Jes.  40,  19,  20;  44„9— 21.    Act.  17, 


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—     95    — 

von  dessen  Dienst  alles  Sinnliche  ausgeschlossen  sein 
sollte,  als  mit  seinem  Wesen  unvereinbar.  G-eschlechÜiche 
Handlungen  aber,  die  an  und  für  sich  nichts  Sündliches 
enthalten,  entspringen  immer  der  niedrigeren  Sphäre  der 
menschlichen  Natur,  dürfen  also  in  keine  Beziehung  zur 
Verehrung  Jehovas  gebracht  werden.  Der  Monotheismus 
Israels  soll  dem  Natnrdienste  in  keiner  Richtung  sich 
anpassen,  ihm  nicht  die  geringsten  Konzessionen  machen. 
.Daher  geht  die  Tendenz  der  ganzen  mosaischen  Gesetz- 
gebung darauf  hin,  Israel  auszusondern  und  rein  zu 
halten  yon  aller  heidnischen  Vermischung,  weil  es  dazu 
prädestiniert  war,  Träger  der  Offenbarung  des  allein 
wahren  Gottes  zu  sein.  Mit  protestantisch-puritanischen 
Sittlichkeitsbegriffen  kommt  man  bei  Moses  schlecht  weg. 
Während  bei  den  ersten  Menschen,  bei  den  Patriarchen 
und  dem  Volke  Israel  geschlechtliche  Handlungen  immer 
als  Adiaphora  gelten,  es  sei  nur  erinnert  an  die  Tat 
der  Töchter  Loths,  die  Vielweiberei,  die  nicht  nur  ge- 
duldet, sondern  yon  Moses  sanktioniert  war,  und  anderes 
mehr,  treten  dieselben  Handlungen  sofort  in  ein  anderes 
Licht,  sobald  sie  mit  dem  Heidentum  als  solchem,  mit 
dessen  Mysterien,  mit  der  Tempelprostitution  zusammen- 
hängen, weil  mit  letzteren  der  Begriff  des  Dämonischen 
verbunden  war. 

Damit  können  wir  den  Boden  des  Alten  Testaments 
verlassen,  indem  wir  mit  aller  Entschiedenheit  sagen :  Es 
findet  sich  keine  Stelle  in  demselben,  welche  den  Ura- 
nismus verdammt  Wenn  ich  zum  Neuen  Testamente 
übergehe,  das  ja  für  uns  als  Christen  unzweifelhaft  maß- 
gebend ist  und  an  dessen  Geboten  wir  nicht  rütteln 
dürfen,  so  werden  wohl  manche  triumphieren :  Hier  stoßest 
Du  auf  eine  Klippe,  an  der  Du  nicht  vorüberkommst 
Ich  kenne  diese  Klippe.  Sie  liegt  im  Römerbrief,  aber 
zu  diesem  geht  es  über  die  Evangelien;  erst  kommt  der 
Meister,  dann  seine  Jünger. 


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—     96    — 

Nun  ist  allerdings  kein  einziges  Wort  aus  Jesu 
Munde  bekannt,  womit  er  unsere  Frage  entschieden  hätte. 
Ob  er  Kenntnis  gehabt  habe  von  der  Existenz  solcher 
Wesen,  die  gleichgeschlechtlich  fühlen?  Ich  glaube,  ja. 
Jesus,  der  in  allen  Stücken  als  ein  Mensch  erfunden 
wurde,  gleich  wie  wir,  nur  ohne  Sünde,  er  hat  auch  ge- 
liebt, und  ich  meine  damit  nicht  jene  göttliche  Liebe, 
mit  der  er  die  ganze  Welt  und  sterbend  selbst  seine 
Feinde  umfing,  sondern  eine  persönliche  Zuneigung 
innigster,  edelster,  zartester  Art,  die  seinem  menschlichen 
Herzen  Bedürfnis  war.  Elntstellungen  des  Lebens  Jesu, 
wie  sie  ein  Renan,  ein  Bovio  sich  herausnehmen,  er- 
scheinen mir  als  Blasphemien;  aber  daß  Johannes  der 
Jünger  war,  den  der  Herr  lieb  hatte,  daß  Jesus  sie  alle 
liebte,  aber  dieser  eine  ihm  näher  stand  als  die  andern, 
daß  Johannes  an  seiner  Brust  lag,  das  sage  nicht  ich, 
das  sagt  die  heilige  Schrift.^]  Johannes,  der  keineswegs 
die  zarte  jungfräuliche  Erscheinung  ist,  welche  die  Le- 
gende aus  ihm  gemacht  hat,  sondern  der  begabte,  tief- 
sinnige, jugendliche  Prachtmensch,  der  mit  ganzer  Seele 
die  Größe  seines  göttlichen  Meisters  erfaßt,  dessen  Ehr- 
geiz Jesus  zwar  zu  dämpfen,')  dessen  fleischlichen  Eifer 
er  in  die  richtigen  Schranken  zu  weisen  hat,^  dessen 
Eraftnatur  aber  seine  Anerkennung  findet  in  der  Be- 
nennung „Donnerssohn",*)  Johannes  genoß  sein  Vorrecht 
noch  am  letzten  Abend  vor  der  Kreuzigung  und  holte 
an  der  Brust  seines  Meisters  die  Kraft  und  Charakter- 
festigkeit, ihm  allein  unter  allen  Jüngern  zu  folgen  bis 
vor  Gericht  und  auf  Golgatha,  ihn  nicht  zu  verlassen, 
ihm  die  menschliche  Treue  zu  beweisen,  die  dem  Menschen- 
sohne so  wohl  tat,  daß  er  diesen  seinen  Liebling  würdig 

*)  Joh.  13,  23;  21,  20. 
«)  Marc  10,  35—46. 
•)  Luc.  9,  52—56. 
*)  Marc  3,  17. 


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—     97     — 

fand^  sein  TestaioentsYollstrecker  zu  werden  in  der  einzigen 
Angelegenheit^  die  er  für  diese  Welt  zu  besorgen  übrig 
ließ,  der  Unterstützung  seiner  Mutter. 

Das  Verbot  des  Ehebruchs  vertieft  Jesus,  indem  er 
selbst  den  lüsternen  Blick  nach  der  Frau  eines  andern 
der  vollendeten  Tat  gleichstellt.^)  Der  Verführer  der 
Unmündigen  verdient  nach  seiner  Ansicht,  im  Meere  er- 
tränkt zu  werden.*)  Anderer  geschlechtlicher  Verhält- 
nisse erwähnt  er  mit  keiner  Silbe,  trotzdem  sie  ihm  wohl 
alle  bekannt  waren.  Er,  der  nicht  nötig  hatte,  daß  ihm 
jemand  sage,  was  in  den  Menschen  sei,  kannte  eben 
auch  die  Mannigfaltigkeit  ihrer  Veranlagung,  wußte  auch, 
daß  nicht  alle,  ja  daß  nur  ganz  wenige  Verschnittene 
vom  Mutterleib  an  sind,')  Er  redet  vom  Augenausreißen, 
vom  Handabhauen,  aber  nicht  vom  Ausrotten  von  Trieben, 
die  Gott  in  den  Menschen  gelegt  hat,  nicht  der  Teufel. 
Er  schlägt  das  Geschlechtsleben  der  Menschen  überhaupt 
nicht  so  hoch  an  wie  die  Schriftgelehrten  und  Pharisäer, 
und  wo  sie  eifern  um  das  Gesetz  und  streng  zu  strafen 
bereit  sind,  zeigt  er  sich  selbst  in  dem  Falle  der  Ehe- 
brecherin, bei  dem  es  sich  doch  noch  um  Rechte  eines 
Dritten,  des  betreffenden  Gatten,  handelt,  außerordentlich 
mild  und  tolerant.*)  Sollte  ich  die  Geschichte  von  Sodom 
und  Gomorrha  nicht  richtig  ausgelegt  haben,  so  sei  hier 
daran  erinnert,  daß  Jesus  dennoch  für  jene  Leute  eine 
Hoffnung  für  die  Zeit  des  Gerichtes  offen  läßt,  wenn  er 
sagt,  Sodom  und  Gomorrha  werde  es  besser  als  denen 
ergehen,  welche  ihn  verwerfen.*)  Ob  zwei,  ob  drei  Ge- 
schlechter vorhanden  sind,  darüber  hat  Jesus  sich  nicht 
geäußert,   aber   von   großer  Tragweite   ist,    daß    er   von 


')  Math.  5,  28. 
»y  Marc.  9,  42. 
•)  Math.  19,  12. 
*)  Joh.  8,  1—11. 
*)  Math.  11,  23,  24. 
Jahrbuch  VI. 


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seiDem  erhabenen  Standpunkte  aus  überhaupt  alle  ge- 
schlechtlichen Unterschiede  nur  für  etwas  Akzidentelles 
am  Menschen  betrachtet,  das  nur  für  diese  Welt  Geltung 
hat;  denn  in  der  andern  Welt,  sagt  er,  wird  weder  zur 
Ehe  genommen,  noch  zur  Ehe  gegeben.^)  Da  ist  weder 
Mann  noch  Weib  und,  setze  ich  kühn  hinzu,  weder 
Heterosexueller  noch  Homosexueller;  sie  sind  allzumal 
einer  in  Christo  Jesu.*) 

Damit  sind  wir  bei  dem  gefürchteten  Paulus  an- 
gekommen. Diesen,  wie  in  neuester  Zeit  versucht  wurde, 
zum  Homosexuellen  zu  stempeln,  ist  unstatthaft  Paulus 
denkt  und  fühlt  ganz  heterosexuell,  und  wenn  er,  der 
sich  selbst  um  des  Reiches  der  Himmel  willen  ver- 
schnitten hatte,  die  Kraft  dazu  nicht  in  sich  fühlte,  so 
würde  er  sich  einfach  verheiratet  haben,  wie  Petrus  und 
andere  getan.  *) 

und  nun  zu  dem  Briefe  dieses  Apostels  an  die 
Römer.  Es  handelt  sich  um  die  Stelle  Kap.  1 ,  Vers  26 
und  27,  mit  der  wir  uns  unter  allen  Umständen  ab- 
finden müssen.  Selbst  wenn  wir  der  äußersten  Linken 
angehörten,  könnte  uns  die  Kritik  des  Neuen  Testaments 
nicht  darüber  hinweghelfen;  denn  die  Authentizität  des 
Römerbriefes  ist  bis  auf  die  zwei  letzten  Kapitel  von 
niemandem  im  Ernste  angefochten  worden.  Dem  Paulus 
die  richtige  Kenntnis  der  Naturwissenschaft  abzusprechen, 
wie  das  im  II.  Bande  des  Jahrbuchs  geschieht,  geht 
wieder  nicht  an,  ohne  die  Inspirationslehre  preiszugeben. 
Einer  meiner  theologischen  Lehrer  hat  mit  Recht  ein- 
mal gesagt:  Der  Geist  Gottes  bewahrt  die  Menschen  vor 
Dummheit.  Wenn  Paulus,  wie  ich  glaube,  bei  der  Ab- 
fassung aller  seiner  Briefe,   also   auch  desjenigen  an  die 


')  Math.  22,  30. 
•-'j  Gal.  3,  28. 
")  I.  Cor.  9,  5. 


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—     99     — 

Römer,  unter  der  Leitung  des  Geistes  Gottes  stand, 
durfte  er  sich  in  diesem  Briefe  keine  Albernheit  und 
keinen  Verstoß  gegen  die  Naturgesetze  zu  schulden  kom- 
men lassen,  um  dann  aus  solchem  Irrtum  einen  allgemein 
yerbindlichen  ethischen  Grundsatz  abzuleiten,  eine  ganze 
große  Klasse  gottgeschafifener  Wesen  zu  verdammen  and  yon 
ihnen  zu  erklären,  daß  sie  für  diese  und  jene  Welt  gerichtet 
wären  und  vor  Gott  nicht  bestehen  könnten.  Seien  wir 
ruhig,  eben  weil  Paulus  unter  der  Leitung  des  Geistes 
Gottes  stand,  hat  er  so  geschrieben,  daß  wir  nicht  heute 
zu  sagen  brauchen:  Wenn  er  im  19.  oder  20.  Jahrhun- 
dert gelebt  hätte,  so  vrürde  er  es  besser  gewußt  und 
nicht  so  geschrieben  haben,  wie  er  schrieb.  Auch  bei 
unserem  Jahrhundert  mit  seiner  Aufklärung  braucht 
Paulus  nicht  in  die  Schule  zu  gehen. 

Um  die  Stelle  im  Römerbrief  zu  verstehen,  haben 
wir  uns  Rechenschaft  darüber  zu  geben,  wann  und  an 
was  für  Leute  dieser  Brief  geschrieben  wurde.  Paulus 
stand  zu  seiner  Zeit  der  ganzen  Macht  des  ungebrochenen 
Götzendienstes  gegenüber,  der  im  römischen  Reich  durch 
die  synkretistische  Vermengung  abendländischer  mit  orien- 
tali&(chen  Gottheiten  überaus  polytheistisch  geworden  war, 
der  heidnischen  Welt  mit  all  ihrem  ungöttlichen  Wesen 
und  ihren  Entartungen  der  menschlichen  Natur.  Noch 
kannte  er  Rom  nicht  aus  eigener  Anschauung,  nur  aus 
den  Berichten  seiner  Glaubensgenossen,  wie  z,  B.  Aquilas 
und  Priscillas.  Was  ihm  diese  und  andere  schlichte  und 
einfache,  sittenstrenge,  in  jüdisch-pharisäischem  Geiste 
aufgewachsene  Zeugen  über  den  Sittenzustand  der  Haupt- 
stadt mitteilten,  mußte  ihn  zu  tiefem  Nachdenken  an- 
regen. Das  kleine  Häuflein  von  Christen  erschien  ihm 
wie  eine  Oase  in  dieser  großen  sittlichen  Wüstenei  und 
er  legte  sich  die  Frage  vor:  Welches  ist  das  Pfund,  das 
der  Herr  dieser  seiner  Gemeinde  gegeben,  welche  be- 
sondere Aufgabe  hat  dieselbe  in  ihrer  Sonderstellung  im 


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—     100     — 

Herzen  des  Weltreichs?  Diese  Frage,  nicht  das  eitle 
Begehren,  eine  Weltstadt  zu  sehen,  ließ  ihn  so  dringend 
wünschen,  selbst  nach  Rom  zu  kommen,  und  als  seine 
Reise  sich  verzögerte,  unternahm  er  es,  in  großen  um- 
rissen jener  Gemeinde  ihre  Bedeutung  und  Aufgabe 
schriftlich  klar  zu  machen. 

Zur  Zeit  des  Paulus  treffen  wir  in  Rom  die  größte 
Zivilisation,  aber  auch  das  sittliche  Verderben  hatte 
unter  den  Kaisem  seinen  Kulminationspunkt  erreicht 
Freiheitssinn,  Gerechtigkeit,  Charakterstärke,  Seelenadel, 
Treue  und  Ehrlichkeit,  sittliche  Mäßigung  und  Enthalt^ 
samkeit  waren  seltene  Güter  geworden;  die  ganze  Tiefe 
der  Laster  und  Gebrechen  jener  Zeit  zu  schildern,  wollen 
wir  der  Kulturgeschichte  überlassen.  Auch  die  sexuellen 
Exzesse  nahmen  überhand.  Wie  jeder  Genuß  des  Lebens, 
so  war  auch  das  Geschlechtsleben  ausgeartet  und  das 
Lasterleben  der  Heterosexuellen  hatte  sich  als  Produkt 
der  Degeneration  mit  Schamlosigkeit  gepaart  Die  Ver- 
derbnis Babels,  die  großstädtische  Verkommenheit  war 
das  Gepräge  der  Kaiserstadt;  denn  mit  dem  Abfall  von 
dem  lebendigen  Gott  geht  immer  die  Versinnlichung  der 
Menschen  Hand  in  Hand;  und  je  größer  die  materiellen 
Mittel  sind,  welche  jener  zu  Gebote  stehen,  desto  raffi- 
nierter .wird  der  Genuß. 

Wieder  steht  die  christliche  Welt  im  Zeichen  der 
Überkultur.  Schon  vor  50  Jahren  fing  man  an,  Paris 
um  seiner  vielen  Lebemänner  und  Wüstlinge  willen  das 
Seinebabel  zu  nennen,  mußte  aber  bald  zugeben,  daß 
diese  Bezeichnung  auch  anderswo  Anwendung  finden 
könnte.  Wo  immer  in  großen  Städten  es  den  oberen 
Zehntausend  zu  wohl  geht  und  sie  zu  Heiden  werden, 
da  nimmt  die  Prostitution  mächtig  überhand  und  die 
degenerierte  Männerwelt  feiert  mit  ihren  bezahlten  Wei- 
bern wüste  und  schamlose  Orgien  im  Themse-,  Spree-, 
Donau-  und  in  anderen  Babel.     Dagegen   helfen  weder 


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—     101     — 

Predigten  noch  Gesetze  ^  solche  Ei*8cheinungen  sind 
Früchte  an  einem  faulen  Baume,  dem  von  einer  höheren 
Hand  jeweilen,  wenn  es  Zeit  ist,  die  Axt  an  die  Wurzel 
gelegt  mrd, 

Nar  grobe  Unwissenheit  und  blinder  Eifer  können 
gleichgeschlechtliches  Empfinden  ^  das  ein  eingeborener 
Zustand,  ein  Naturtrieb  ist,  in  einen  Topf  werfen  mit 
solcher  Degeneration,  mit  Entartung  und  sittlicher  Ver- 
kommenheit, sei  es  im  alten  Rom,  sei  es  in  unsern 
Tagen.  Wenn  aber  ein  blinder  Eiferer  die  Absicht 
hätte,  von  der  Kanzel  aus  oder  in  einer  Druck- 
schrift die  Sittenlosigkeit  unserer  Großstädte  zu  geißeln, 
würde  er  wohl  aus  der  langen  Liste  der  Laster  gerade 
das  der  sogenannten  widernatürlichen  Unzucht  heraus» 
heben  und  bis  ins  Detail  verfolgen,  nur  um  ein  Beispiel 
zu  geben  unter  vielen  anderen?  Und  wenn  er  es  täte, 
so  liefe  er  Gefahr,  bei  seinen  Hörern  und  Lesern  in 
den  Verdacht  zu  kommen,  daß  er  gerne  in  diesem 
Schmutze  sich  wälze,  zum  mindesten  würde  man  ihn  als 
sehr  plumpen  Redner  oder  Schriftsteller  bezeichnen. 
Wer  nun  meint,  daß  Paulus  hier  aus  der  Sittenlosigkeit 
Roms  ohne  weiteres  ein  Beispiel  herausgegrififen  habe,, 
um  dieses  bestimmte  Laster  zu  verdammen,  erhebt  gegen 
ihn  den  Vorwurf  der  Unschicklichkeit  und  der  Plumpheit 
zugleich.  Die  Verse  Römer  1,  26,  27  aus  ihrer  Um- 
gebung herausgenommen  könnten  ja  wohl  zu  jener 
Meinung  führen;  lassen  wir  sie  aber  in  ihrem  Zu- 
sammenhange stehen,  so  tönen  sie  ganz  anders,  und 
Paulus  erscheint  nicht  mehr  als  ungeschickter  Stümper,. 
zu  dem  ihn  oberflächliche  Ausleger  machen,  der  nichts 
Besseres  zu  schreiben  gewußt  hätte,  als  allerhand  sittliche 
Ermahnungen  kunterbunt  aneinander  zu  reihen.  Er  hätte 
in  diesem  Falle  ganz  gewiß  nicht  die  Frauen  voran- 
gestellt, er,  der  nicht  gewöhnt  ist,  die  Frau  als  Krone 
der  Schöpfung   zu   bezeichnen.     Ein  Apostel  Jesu,   der 


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—     102     — 

wie  jeder  sitÜicbe  Mensch  geschlechtliche  Verhältnisse 
lieber  umgeht,  hätte  uns  keine  derartige  Stelle  hinter- 
lassen, die  weder  seine  Römer,  noch  wir  heute  in  gemisch- 
ter Gesellschaft  vorzulesen  wagten,  bloß  damit  er  sagen 
könnte,  es  kommen  auch  solche  Dinge  vor.  Der  Brief, 
9.US  dem  ungeschickte  Menschen  die  zwei  Verse  unbe- 
fagterweise  herausschneiden,  ist  nach  einem  bestimmten, 
wohl  durchdachten  Plane  angelegt,  er  erörtert  die  Stel- 
lung der  Heiden  und  Juden  zam  Evangelium,  und  in 
der  Einleitung  zeigt  Paulus,  welche  Macht  das  Heiden- 
tum über  die  Gemüter  habe,  indem  es  die  Menschen 
bis  zu  dem  Grade  beherrsche,  daß  sie  gegen  ihren 
eigenen  Willen  und  Trieb  geschlechtliche  Handlungen 
ausüben,  in  der  Meinung,  damit  ihren  Göttern  zu  dienen. 
Von  geschlechtlichen  Verirrungen  ist  die  Rede,  ja,  aber 
nicht  von  vereinzelten,  sondern  von  habituellen,  tiefer 
begründeten,  prinzipiellen,  von  verirrter  Ethik,  hervor- 
gegangen aus  verirrter  Dogmatik.  Wie  im  10.  Kapitel 
des  ersten  Korintherbriefes,  das  von  der  Beteiligung  der 
Christen  am  Götzendienst  handelt  und  in  Vers  8  auf  das 
Ereignis  hinweist,  wo  Israel  der  Verführung  der  moabi- 
tischen Tempelprostitution  erlag,  ^)  so  denkt  Paulus  im 
Römerbrief  an  die  geschlechtlichen  Kultushandlungen  und 
nimmt  gegen  diese  Stellung,  mit  derselben  Strenge,  wie 
der  alte  Bund  und  der  Apostelkonvent,  indem  er  sie  für 
ungöttlich  und  unchristlich  erklärt  und  den  Beweis  da- 
für erbringt.  Die  heidnischen  Mysterien  eines  Priap, 
Bachus,  einer  Flora,  Venus,  Isis  stehen  dem  Paulus 
vor  Augen,  deren  tiefere  Mystik  er  nicht  verkennt, 
deren  Ursprung  er  darum  als  dämonisch  und  dem 
wahren  Gott  zuwider  auffaßt  Judentum  und  Heiden- 
tum stellt  er  im  Römerbriefe  einander  gegenüber,  um  zu 
zeigen,  daß  beide  des  Heils  in  Christo  bedürfen.     Rom, 


M  Numeri  25. 


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—     103     - 

die  Hauptstadt,  repi^sentiert  ihm  das  ganze  Heidentum, 
das  er  nicht  mit  beschränkter  und  ungerechter  jüdischer 
Voreingenommenheit  beurteilt,  soiKlem  von  dem  Stand- 
punkte aus,  den  sein  Meister  eingenommen.  Aus  den 
Evangelien  wissen  wir  nämlich,  daß  die  Pharisäer  der 
gröberen  heidnischen  Magie  eine  feinere  jüdische  gegen- 
übergestellt hatten,  mit  Engel  Verehrung  und  Dämonen- 
beschwörung. Jesus  selbst  bestritt  weder  die  Existenz 
noch  den  EinÜuB  einer  solchen  Greisterwelt,  bekämpfte 
nur  die  abergläubische  Verehrung  der  Engel  und  die 
magische  Beschwörung.  Ganz  so  Paulus.  Er  faßt  das 
Reich  Gottes  auf  als  eine  Vereinigung  aller  persiinlichen 
Geschöpfe  im  Himmel  und  auf  Erden  in  Christo,  als  die 
Herstellung  einer  Harmonie  im  Universum,  der  Einzelne 
wird  durch  die  Sakramente  geheimnisvoll  Christo  ein- 
verleibt und  durch  den  Glauben  wird  Christus  selbst  das 
Prinzip,  welches  in  den  Seinigen  lebt.  Dem  Gottesreich 
gegenüber  sieht  Paulus  ein  Reich  der  Finsternis  unter 
Satan,  eine  Macht,  k^ovcria,  als  eine  Mehrheit  von  bösen 
Geistern.  Diese  Macht  ist  zwar  prinzipiell  durch  Jesu 
Tod  überwunden,  aber  der  Kampf  dauert  noch  fort  bis 
zu  seiner  Parusie.  ..rj 

Das  ist  der  große  Gesichtspunkt,  unter  dem  Paulus 
seinen  Römerbrief  schrieb.  Nicht  von  griechischer  Liebe 
und  nicht  von  lesbischer  Liebe  redet  er  darin,  sonst  hätte 
er  sich  in  diesem  Sinne  eher  an  die  Korinther  oder  an 
eine  der  kleinasiatischen  Gemeinden  gewandt  mit  seinen 
Warnungen.  Nicht  an  eine  einzelne  sündige  Handlung 
denkt  er,  wenn  er  von  den  Weibern  sagt,  daß  sie  den 
natürlichen  Gebrauch  in  den  unnatürlichen  verwandelt 
haben,  sondern  an  die  gottesdieustlichen  Orgien,  bei 
denen  die  Weiber  zahlreicher,  vielfach  allein  beteiligt 
waren.  Darum  erwähnt  er  sie  zunächst  und  dann  erst 
die  Männer,  die  ein  Gleiches  tun.  Ihre  geschlechtlichen 
Handlungen  sind  widernatürlich,  weil  sie  von  heterosexuell 


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—     104     — 

empfindenden  Weibern  und  Männern  vollzogen  werden 
gegen  ihren  Naturtrieb,  in  dem  falschen  Wahne,  der  Gottheit 
wohlzugefallen.  Aus  der  Verkehrung  der  letzteren  leitet 
Paulus  die  Verkehrung  der  Gottesverehrung  ab.  Wenn 
im  Reiche  des  wahren  Gottes  fromme  Menschen  beiderlei 
Geschlechtes  ihr  Fleisch  samt  seinen  Lüsten  und  Be- 
gierden kreuzigen  durch  den  Geist,  um  dem  Gott,  der 
ein  Geist  ist,  zu  gefallen,  und  niemals  sich  einfallen 
lassen,  diesen  Gott  durch  eine  fieischliche  Handlung 
irgend  einer  Art  verehren  zu  wollen,  so  hat  nach  Paulus 
die  Verirrung  des  Heidentums,  dem  die  EJrkenntnis  der 
Heiligkeit  Gottes  fehlt  und  welches  es  nicht  als  Frevel 
empfindet,  das  Bild  des  unvergänglichen  Gottes  in  das 
Bild  von  vergänglichen  Menschen  und  von  Tieren  zu 
verwandeln,  zur  Folge,  daß  seine  Mysterien  tierisch- 
menschlich sich  gestalten,  zu  einem  fleischlichen  Ritus 
führen,  der  seinen  Priesterinnen  und  Priestern  den  gleich- 
geschlechtlichen Verkehr,  der  ihrer  Natur  entgegen  ist, 
als  ein  Opfer  auferlegt,  die  Tempelprostitution  gebietet. 
Solche  Unziemlichkeiten  sind  der  Lohn,  der  den  Heiden 
aus  ihrer  Gottesverkennung  erwächst,  an  die  sich  dann, 
wie  Paulus  weiter  fortfährt,  alle  andern  unchristlichen 
Eigenschaften  anreihen. 

Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  daß  unsere  Stelle 
einzig  und  allein  auf  das  alte  Rom  oder  die  Zeitgenossen 
des  Paulus  Bezug  habe.  Die  Verkehrung  des  wahren 
GottesbegriflFes  hatte  durch  einzelne  Irrlehrer  bereits  im 
Morgenlande  wie  im  Abendlande  bei  den  jungen  Ge- 
meinden Eingang  gefunden  und  es  war  für  die  Apostel 
keine  leichte  Sache,  das  christliche  Bewußtsein  rein  zu 
erhalten  gegen  derartige  heidnische  Verirrungen.  An 
solche  ist  wohl  zu  denken  bei  den  Werken  der  Nikolaiten,*) 
gegen  solche  eifert  der  Brief  Judä  und  der  zweite  Petri- 


M  Offeiib.  2,  14,  15. 


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—     105     — 

brief.  Uns  erscheint  daR  Heidentum  mit  seinen  schreck- 
lichen Gestalten  und  Folgen  in  einem  zu  fernen  und 
schwachen  Lichte,  um  seine  Wichtigkeit  zu  erkennen, 
wir  müssen  unsere  Missionare  darüber  befragen,  um  eine 
richtige  Vorstellung  zu  gewinnen;  aber  an  der  Hand  der 
Kirchengeschichte  ließe  sich  leicht  nachweisen,  wie  oft 
und  bis  wie  weit  hinunter  die  christliche  Kirche  sich 
bedroht  sah  von  dem  Eindringen  heidnischer  Mysterien, 
sodaß  immer  wieder  die  Frage  des  Paulus  ertönen 
mußte:  Wie  stimmt  Christus  mit  Belial?  Nachklänge 
dieser  Mysterien  sind  in  späterer  Zeit  die  Verirrungen 
des  Templerordens,  und  daß,  wo  die  innere  Gott- 
entfremdung zu  frechem  Unglauben  oder  dunklem  Aber- 
glauben führt,  bald  auch  der  Kultus  des  Fleisches  seine 
wüsten  Orgien  feiert,  zeigen  Erscheinungen  unserer  Tage 
wie  die  „schwarze  Messe"  und  Ähnliches. 

Ob  Paulus  jemals  sich  vor  die  Frage  der  Homo- 
sexualität gestellt  sah,  ob  ihm  jemals  konkrete  Fälle 
gleichgeschlechtlichen  Empfindens  vor  die  Augen  traten 
und  ob  er  sich  über  dieselben  klar  zu  werden  versuchte, 
oder  ob  er  daran  als  an  einem  unlösbaren  Katsel  vor- 
überging, wer  kann  das  sagen?  Über  die  Zügellosigkeit 
im  geschlechtlichen  Verkehr,  über  die  Verletzung  des 
Schamgefühles  hat  Paulus  sich  deutlich  geäußert  und 
den  Wüstlingen  spricht  er  unzweideutig  das  Urteil  an 
mehr  als  einer  Stelle  in  seinen  Briefen.  Das  darf  ein 
Mann  wie  er,  der  sich  aller  und  jeder  geschlechtlichen 
Betätigung  um  des  Reiches  Gottes  willen  enthält  Der- 
selbe Paulus  verlangt  aber  nicht  von  allen  gleiche  Voll- 
kommenheit, wie  er  sie  besitzt,  weil  er  weiß,  wie  ver- 
schiedenen Temperamentes  die  Menschen  sind  und  wie 
schwach  das  Fleisch  ist.  Die  Christen  zu  Korinth  legten 
ihm  die  Frage  vor,  was  besser  sei,  heiraten  oder  Brunst 
leiden,  und  Paulus  entschied  in  seiner  weitherzigen 
Toleranz  für  das  erstere,  d.  h.  er  erkannte  es  für  besser, 


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—     106     — 

daß  der  Mensch  seine  Triebe,  welche  der  Schöpfer  in 
ihn  gelegt  hat^  betätige^  als  in  fortwährendem  Kampfe 
mit  Fleisch  und  Blut  sich  selbst  aufzureiben^  als  sich  eia 
Gewissen  zu  machen  aus  etwas,  was  an  und  für  sich  keine 
Sünde  ist  Man  lese  nur  das  7.  Kapitel  im  I.  Korinther- 
Brief,  um  die  Weitherzigkeit  des  Apostels  zu  erkennen. 

So  wenig  Paulus  die  heterosexuelle  Liebe  und  deren 
geordnete  Betätigung  verdammt,  sondern  letztere  aus- 
drücklich erlaubt,  zur  Vermeidung  von  Ausschweifungen, 
so  wenig  kennt  er  Verbote  für  die  Betätigung  der  gleich- 
geschlechtlichen Liebe.  Mochte  er  die  Ausschreitungen 
der  einen  wie  der  anderen  kennen,  er  tritt  auf  Einzel- 
heiten nicht  ein,  sondern  faßt  alles  unter  demselben 
Namen  „Unzucht"  zusammen  und  stellt  dieser  ein  ge- 
ordnetes Geschlechtsleben,  welches  das  Schamgefühl 
nicht  verletzt  und  keinen  öffentlichen  Anstoß  erregt,  als 
Schutzmittel  gegenüber. 

Über  gewisse  Dinge  spricht  ein  züchtiger  Mensch 
nicht,  auch  wenn  er  sie  tut  und  ohne  Gewissensskrupel 
tut  (das  wissen  Eheleute  am  besten);  aber  wenn  wir  nun 
Paulus  die  Frage  vorlegen  könnten:  Was  soll  der  tun, 
der  Brunst  leidet,  dem  es  aber  gegen  seine  ganze  Natur 
ginge,  wenn  er  beim  andern  Geschlechte  Befriedigung 
suchen  müßte,  weil  er  homosexuell  empfindet,  ist  einem 
solchen  gleichgeschlechtliche  Betätigung  erlaubt,  inner- 
halb der  Schranken  der  Schamhaftigkeit  und  des  An- 
standest, so  wissen  wir  nicht,  wie  er  diese  Frage  be- 
antworten würde.  Die  einen  legen  ihm  ein  ruhiges  und 
bestimmtes  „Ja"  in  den  Mund,  die  andern  ein  ebenso 
bestimmtes  „Nein",  noch  andere  wagen  gar  nichts  zu  ent- 
scheiden. In  jedem  Falle  werden  wir  auf  individuelle 
Ansichten,  auf  persönliche  Meinungen,  die  stark  unter 
dem  Einflüsse  des  eignen  Naturtriebes  stehen,  angewiesen 
sein;  wo  aber  nur  Meinungen  und  Ansichten  zur  Geltung 
kommen,  muß  an  der  Regel  festgehalten  werden :  Keiner 


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—     107     — 

richte  den  andern.  Panlus  die  Absicht  nnterschieben^ 
daß  er  den  Uraniern  ein  anderes^  strengeres  Gesetz  für 
ihr  Geschlechtsleben  als  den  Heterosexuellen  habe  auf- 
erlegen und  sie  um  der  Betätigung  ihrer  natürlichen 
Liebe  willen  zur  Steinigung,  zum  Scheiterhaufen  oder 
zum  Gefängnis  in  diesem  Leben  verurteilt,  im  Jenseits 
ewig  verdammt  wissen  wollen,  das  hieße  doch  seine 
Worte  nicht  auslegen,  sondern  verdrehen,  die  eigene  In- 
toleranz dem  Apostel  unterschieben  und  den  zu  einem 
christlichen  Ungeheuer  stempeln,  der  in  geschlechtlichen 
Dingen  so  milde  Toleranz  übte  wie  sein  göttlicher  Meister. 
Ich  schließe,  indem  ich  der  festen  Überzeugung 
Ausdruck  gebe,  der  üranier  habe  sich  nicht  gegen  die 
heilige  Schrift  zu  verteidigen,  nicht  gegen  eine  einzige 
Stelle  derselben,  nur  gegen  eine  althergebrachte  Aus- 
legung. Die  heutige  Christenheit  steht  dem  Heidentume 
ferne,  sie  kommt  höchstens  noch  an  der  Peripherie  mit 
demselben  in  Berührung,  daher  denken  wir  nicht  an  die 
Beziehung  vieler  Schriftstellen  zu  demselben;  Paulus 
aber  wie  Moses  lebten  mitten  in  jener  argen  Welt  und 
eiferten  für  die  Reinhaltung  des  Volkes  Gottes  von 
allen  dämonischen  Einflüssen.  Indem  ich  mich  in  die 
Lage  der  beiden  Gottesmänner  hinein  zu  versetzen  ver- 
suchte, glaube  ich  den  richtigen  Sinn  der  in  Frage 
kommenden  Abschnitte  gefanden  zu  haben.  Auch  wenn 
es  mir  nicht  gelungen  sein  sollte,  hoffe  ich  wenigstens, 
mit  so  viel  Ernst  an  die  Frage  herangetreten  zu  sein, 
daß  niemand  mir  vorwerfen  wird,  ich  mache  mich  da- 
mit zum  Apostel  der  Unsittlichkeit,  wenn  ich  die  weit- 
gehendste Toleranz  auf  christlichem  Boden  vertrete.  Wie 
man  sich  seiner  Aufklärung  rühmen  und  doch  sehr  be- 
schränkte Lebensanschauungen  haben  kann,  wie  man 
nicht  orthodox  zu  sein  braucht,  um  doch  bis  über  die 
Ohren  in  pharisäischen  Vorurteilen  zu  stecken,  so  läßt 
sich  andererseits  das  strengste  Bibelchristentum  gar  wohl 


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—     108     — 

mit  großer  Weitherzigkeit  yerbinden.  Mein  Alter,  viele 
Reisen  und  jahrelanger  Aufenthalt  in  fremden  Ländern 
haben  meinen  Glauben  nicht  verändert,  aber  meinen 
Gesichtskreis  erweitert,  und  als  ich  an  diese  sehr  deli- 
kate Frage  herantrat,  da  tat  ich  es  im  klaren  Bewußt- 
sein meiner  Verantwortung  vor  Gott.  Daß  ich  sie  ganz 
gelöst  habe,  schmeichele  ich  mir  nicht,  der  Versuch  aber 
war  ein  Akt  der  Anerkennung  fär  das  wissenschaftlich- 
humanitäre  Komitee,  dessen  Wirksamkeit  mir  als  eine 
Wohltat  für  Tausende  erscheint,  als  ein  Werk  der  inneren 
Mission,  das  der  Unterstützung  nicht  bloß  von  Seiten  der 
Homosexuellen  —  wo  käme  dieses  kleine  Häuflein  allein 
hin?  —  sondern  auch  der  Heterosexuellen  bedarf  und 
würdig  ist  der  Hilfe  aller,  denen  an  der  Wahrheit  ge^ 
legen  ist 


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Das  Ergebnis 
der  statistischen  Untersuchungen  über 
den  Prozentsatz  der  Homosexuellen. 

Von 

Dr.  Magnus  Htrschfeld. 


Motto:  „Ihren  Höhepankt  erreicht  die 
Aufgabe  der  Statistik  in  der  Entdeckung 
von  Regelmäßigkeiten  und  Gesetzen. '* 

Dr.  Max  Haushofer. 

Prof.  an  der  k.  teohn.  Hochschule  su  MQnchen. 

(Lehr-  u.  Handbuch  d.  Statistik,  2.  AufL,  S.  57.) 


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Die  Frage  nach  der  Zahl  der  Homosexuellen  ist  oft 
aufgeworfen,  die  Wichtigkeit  ihrer  Beantwortung  wiederholt 
hervorgehoben  worden.  So  betonte  Groß^)  vor  einigen  Jahren 
die  Bedeutung  einer  zahlenmäßigen  Feststellung;  er  meinte, 
,^man  müsse  feste  Anhaltspunkte  über  die  Zahl  der  Kon- 
trären und  die  Begehung  homosexueller  Handlungen, 
nötigenfalls  unter  Beihilfe  der  Homosexuellen,  gewinnen, 
um  die  Zahl  der  Gesetzesübertretungen  und  die  Anzahl 
der  tatsächlich  erfolgten  Verurteilungen  vergleichen  zu 
können.  Wenn  die  Prozentzahl  der  gesühnten  Verbrechen 
gegen  die  Zahl  der  begangenen  verschwindend  klein  sei, 
so  sei  der  Strafzweck  nicht  erreichbar;  eine  Bestrafung 
einer  winzigen  Anzahl  von  Fällen  verfalle  dem  Fluche 
der  Lächerlichkeit  Bei  der  Zweifelhaftigkeit  der  Straf- 
barkeit homosexueller  Handlungen  bilde  dies  dann  einen 
Grund  mehr  für  die  Straflosigkeit" 

Einen  ähnlichen  Gedankengang,  wie  den  von  Groß 
entwickelten,  stellte  bereits  im  Jahre  1869  ein  un- 
bekannter Autor^]  in    einer   ganz  ausgezeichneten,  jetzt 


*)  Groß,  Besprechung  des  Baches  von  Wachen  fehl, 
Homosexualität  und  Strafrecht,  Archiv  für  Kriminal- 
anthropologie etc.,  Bd.  VI,  Heft  3  u.  4,  1901,  S.  361— 365. 

*)  Der  Verfasser  —  ein  Arzt  —  nannte  sich  als  Schrift- 
steller sonst  M.  Kertbeny.  Er  ist  —  so  weit  ich  sehe  —  der 
Präger  des  Wortes  „homosexuaP^  Dieses  jetzt  so  viel  angewandte 
Wort  findet  sich  zum  ersten  Male  auf  S.  48  der  oben  zitierten 
Schrift  in  folgendem  Satze:  ,,Neben  dem  normalsexuellen 
Triebe  der  gesamten  Menschheit  und  des  Tierreiches  scheint  die 
Natur  in  ihrer  souveränen  Laune  bei  Mann  wie  Weib  auch  df^n 


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—     112     — 

fast  verschollenen  Monographie  an,  welche  ^en  Titel 
führt:  „§  143  des  Preußischen  Strafgesetzbuches  vom 
14.  April  1851  und  seine  Aufrechterhaltung  als  §  152 
im  Entwürfe  eines  Strafgesetzbuches  iiir  den  Norddeutschen 
Bund.  Offene  y  fach  wissenschaftliche  Zuschrift  an  Seine 
Exzellenz  Herrn  Dr.  Leonhardt,  kgl.  preußischen  Staats- 
und Justizminister''  (Leipzig,  Serbes  Kommissionsverlag^ 
1869).  Der  offenbar  sehr  gut  unterrichtete  Verfasser 
rechnet  in  seiner  Schrift  auf  die  700000  Einwohner, 
welche  Berlin  damals  zählte,  10000  Homosexuelle.  (Das 
wären  1,425  7o*)  ^f  nimmt  an,  daß  diese  sich  einmal 
die  Woche  zu  Handlungen  verleiten  lassen,  die  der  Q-e- 
fahr  der  durch  §  143  angedrohten  Verfolgung  ausgesetzt 
sind.  Diesen  520000  Fällen  jährlich,  „welche  Sühne  zu 
fürchten  haben'^,  standen  im  Jahre  1867  57  Fälle  gegen- 
über, welche  zur  Anzeige  gekommen  sind;  zu  einer  Ver- 
urteilung kam  es  nur  in  18  Fällen,  in  35  wurde  das 
Verfahren  eingestellt,  4  blieben  „unerledigt".  Im  Jahre 
1868  kam  in  ganz  Berlin  bloß  ein  Fall  „widernatürlicher 
Unzucht"  zur  Anzeige. 

Der  Verfasser  von  §  143  fährt  nach  diesen  Gegen- 
überstellungen wörtlich  weiter: 

„Dehnt  man  diesen  approximativen  Kalkül  auf  alle 


homosexualen  Trieb  gewissen  männlichen  oder  weiblichen  In- 
dividuen bei  der  Geburt  mitgegeben,  ihnen  eine  geschlechtliche 
Gebundenheit  verliehen  zu  haben,  welche  die  damit  Behafteten 
sowohl  physisch  als  geistig  unfähig  macht,  auch  bei  bestem  Willen 
zur  normalsezualen  £rektion  zu  gelangen,  also  einen  direkten 
Horror  vor  dem  Gegengeschlechtlichen  voraussetzt  und  es  den 
mit  dieser  Leidenschaft  Behafteten  ebenso  unmöglich  macht,  sich 
dem  Eindruck  zu  entziehen,  welchen  einzelne  Individuen  des 
gleichen  Geschlechts  auf  sie  ausüben."  Der  Verfasser  bildet 
weiter  die  Worte:  „Homosexualist",  „Homosexualistin",  „Homo- 
sexualismus" und  „Homosexualität".  Das  Wort  „heterosexual" 
wird  nicht  gebraucht,  dagegen  —  auch  wohl  zum  ersten  Male  — 
die  Bezeichnung  „monosexual". 


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—     113     — 

1212  größere  und  mittlere  Städte  Preußens  aus,  je  nach 
der  Höhe  ihrer  Bevölkerung  —  die  ganz  kleinen  Städte 
und  die  ungemein  größere  Anzahl  der  Landbewohner 
Töllig  außer  Acht  lassend  —  so  erhalten  wir  ein  Zahlen- 
resultat über  wahrscheinlich  verübte,  jetzt  noch  straf- 
bedrohte Handlungen,  gegen  welche  die  wirklich  straf- 
rechtlich verfolgten  Fälle  sich  verhalten  wie  eine  Mücke 
zu  einem  Elefanten!  Also  Tausende  und  Tausende  be- 
gehen stündlich,  täglich  Taten^  welche  heute  noch  straf- 
bedroht sind,  aber  dem  Gesetze  verfallen  jährlich  von  all 
diesen  Tätern  kaum  drei,  vier  Dutzend!  Und  diese  nicht 
etwa,  weil  sie  das  straf  bedrohte  Vergehen  so  arg  übertrieben, 
im  Gegenteile,  nur,  weil  sie  so  unglücklich  oder  so  unklug 
waren,  sich  zu  sehr  zu  exponieren,  weil  sie  der  Denunzia- 
tion unterlagen,  zumeist  wohl,  weil  sie  zu  mittellos  waren, 
um  streng  verschlossene  Gemächer,  treue  Diener,  willige 
Kreaturen  zu  haben,  ihres  Geliebten  wie  aller  Mitwisser 
Schweigen  zu  erkaufen,  oder  weil  sie  sozial  zu  niedrig 
standen,  als  daß  man  mit  ihnen  so  viel  „Federlesens'' 
gemacht  hätte.  Diese  so  namenlos  geringe  Minorität  ist 
also  jährlich  der  schwerbestrafte  Martjr  des  Paragraphen, 
das  Opfer  der  straflos  ausgehenden  immensen  Majorität, 
der  Sündenbock  des  Gerechtigkeitsprinzipes!'' 

Von  ähnlichen  Gesichtspunkten  ging  auch  Bebel 
aus  —  und  zwar  stellten  die  drei  genannten  Gewährs- 
männer ihre  Betrachtungen  völlig  unabhängig  von  ein- 
ander an  —  als  er  in  seiner  ersten  ßeichstagsrede  über 
den  §  175^)  sagte,  daß,  wenn  ein  Strafgesetz  nur  aus- 
nahmsweise gehandhabt  werden  kann  oder  gehandhabt 
wird,  die  Frage  entsteht,  ob  die  Strafbestimmung  noch 
aufrecht  zu  erhalten  ist 

Läßt    sich    aus    dem    zahlenmäßigen    Mißverhältnis 


^)  Vgl.  Jahrbuch  fUr  sexuelle  Zwischenstufen,  Bd.  I, 
S.  274. 

Jahrbuch  VI.  8 


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—     114     — 

zwischen  begangenen  und  yerurteilten  Handlungen, 
zwischen  bestraften  und  straffreien  Tätern  die  Ungerech- 
tigkeit des  heutigen  Rechtes  erweisen,  so  wird  diese  Un- 
gerechtigkeit um  so  größer,  wenn  das  Recht  an  sich  ein 
Unrecht  ist. 

Wir  wissen  aus  der  Geschichte  und  haben  es  mit- 
erlebt, mit  welchem  Eifer  sich  edle  Männer  und  mit 
ihnen  bedeutende  Menschenscharen  einer  einzigen  Per- 
sönlichkeit annahmen,  von  der  sie  glaubten,  daß  sie 
unschuldig  verurteilt  sei,  und  wahrlich,  es  ist  besser, 
daß  Hunderte  schuldbeladen  frei  herumgehen,  als  daß 
einer  schuldlos  der  Freiheit  beraubt  ist. 

Denken  wir,  wie  rastlos  Voltaire^)  sich  für  den  1761 
hingerichteten  Jean  Calas  verwandte,  bis  König  und  Rat 
den  Fall  einer  nochmaligen  Prüfung  unterzogen,  Calas 
einstimmig  für  unschuldig  erklärten  und  der  unglücklichen 
Familie  die  eingezogenen  Güter  und  vor  allem  ihre  Ehre 
zurückgaben,  —  rufen  wir  uns  zurück,  wie  Egidy  für  das 
Wiederaufnahmeverfahren  in  Sachen  Zieten  stritt,  bis 
der  Tod  erst  den  einen  und  bald  den  anderen  hin  weg- 
nahm, —  erinnern  wir  uns,  was  Zola  für  Dreyfus  tat,  wie 
sich  fast  die  ganze  gebildete  Welt  mit  der  Schuldfrage 
dieses  einen  als  Person  gewiß  nicht  beachtenswerten 
Mannes  beschäftigte  —  in  Sachen  der  Homosexuellen 
aber  handelt  es  sich  nicht  um  einen,  der  möglicherweise 
zu  Unrecht  im  Gefängnis  schmachtet,  sondern  um  Hunderte, 
nicht  um  Hunderte,  die  ihr  Leben  lang  in  Gefahr 
schweben,  möglicherweise  schuldlos  einem  Gesetze  zu  ver- 
fallen, das  über  dem  Richter  steht,  sondern  um  Tausende 
und  Abertausende. 

Gewiß  ist  es  daher  für  die  Beurteilung  unserer 
Forderungen    von    hohem    Belang,    wenn  wir   den  stati- 

*)  Dryander,  Der  Prozeß  Calas  und  die  Toleranz, 
Barmen  1887,  sowie  vor  allem  Voltaire,  Sur  la  tolerance  k 
cause  de  la  mort  de  Jean  Calas. 


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—     115     — 

stischen  Nachweis  führen  können,  wie  groß  der  Prozent- 
satz der  Beyölkerang  ist,  deren  Wohl  und  Wehe  hier  auf 
dem  Spiele  steht. 

Aber  auch  für  die  Bewertung  des  Uranismus  selbst 
ist  es  unerläßlich^  daß  wir  über  die  Ausdehnung  unter- 
richtet sind,  welche  er  im  Volkskörper  einnimmt  Bloch  ^) 
bemerkt  ganz  richtig:  „Das  Urningtum  würde  tatsächlich 
soziale  Bedeutung  besitzen,  wenn  die  von  einzelnen  Homo- 
sexuellen gemachten  Angaben  über  die  große  Zahl  der 
Homosexuellen,  speziell  derjenigen  mit  angeborener  kon- 
trärer Sexualempfindung,  richtig  wären." 

Viele  wissenschaftliche  Unterfragen  lassen  sich  auf 
diesem  Gebiet  ohne  statistisches  Fundament  überhaupt 
nicht  sicher  beantworten,  so  die  Frage,  ob  —  wie  oft 
behauptet  —  die  Homosexuellen  in  nennenswerter  Weise 
der  Überyölkerung  entgegenwirken,*)  ferner,  ob  die  Ziffer 
geborener  Urninge  einen  konstanten  Quotienten  darstellt, 
ähnlich  der  Verhältniszahl  männlicher  und  weiblicher  Ge- 
burten, ein  Umstand,  der,  wenn  statistisch  nachweisbar,  gewiß 
für  die  Fortpflanzungsbiologie  höchst  beachtenswert  wäre.  *) 


^)  Beiträge  zur  Ätiologie  der  Psychopathia  sexua- 
lis,  Tl.  1,  S.  215,  Verlag  Dohm  in  Dresden. 

*)  Dr.  Hans  Fischer,  Nervenarzt  in  München,  Homo- 
sexualität eine  physiologische  Erscheinung?  Berlin  1903, 
Gnadenfeld  u.  Co.  In  dieser  kleinen,  aber  wertvollen  Schrift 
heißt  es  auf  S.  11:  „Mir  scheint  vielmehr  —  es  ist  freilich  eine 
Hypothese,  welche  ich  aufstelle,  für  welche  ich  schon  deshalb, 
weil  selbstredend  eine  nur  halbwegs  brauchbare  Statistik  über  die 
Häufigkeit  des  Homosexualismus  fehlt,  keinen  anderen  Beweis,  als 
den  in  vorstehenden  Ausfuhrungen  enthaltenen  Induktionsbeweia 
bringen  kann  —  mir  scheint  die  Homosexualität  eine  Selbsthilfe 
der  Natur  gegen  die  Übervölkerung  in  solchen  Gegenden,  in 
denen  die  Dichtigkeit  der  Menschen  eine  solche  befürchten  läßt.*' 

»)  Vgl.  Dr.  med.  E.  Rüdin,  Zur  Rolle  der  Homo- 
sexuellen im  Lebensprozeß  der  Rasse,  im  Archiv  für 
Rassen-  und  Gesellschaftsbiologie,  herausgegeben  von 
Dr.  A.  Plötz,  Jahrg.  I,  Heft  1,  Januar  1904,  S.  102 ff. 

8* 


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—     116     — 

Es  ist  nun  yon  Yomherein  klar,  daß  einer  Ermittelung 
der  Anzahl  der  Homosexuellen  außerordentlich  große 
Schwierigkeiten  entgegenstehen,  die  mir  früher  selbst  un- 
überwindlich erschienen. 

Die  Volkszählung  kennt  nur  zwei  scharf  umgrenzte 
Geschlechter.  Die  Angaben  der  Eriminalstatistik  sind 
völlig  unbrauchbar.  Diejenigen  Homosexuellen,  welche 
zur  Anzeige  und  Aburteilung  gelangen,  bilden  erfahrungs* 
gemäß  und  naturgemäß  einen  so  verschwindend  kleinen 
Bruchteil  der  wirklich  vorhandenen,  daß  ihre  Zahl  für 
unsere  Zwecke  nicht  verwertbar  ist.  Gelangten  doch 
nach  der  obigen  Berechnung  1867  nur  0,011  und  1868 
gar  nur  0,00019^0  der  wahrscheinlich  vorgekommenen 
Fälle  zur  Anzeige.  Ungleich  mehr  Homosexuelle,  als 
in  die  Hände  der  Richter,  geraten  jedenfalls  in  die  Arme 
der  Erpresser,  aber  auch  deren  Erfahrungen  fallen  für 
die  Statistik  aus.  Ebensowenig  bieten  die  in  die  Polizei- 
listen eingetragenen  Homosexuellen  ein  schlüssiges  Mate- 
rial. Diese  Listen,  welche  eingerichtet  wurden,  um  „in 
vorkommenden  Fällen"  Anhaltspunkte  zu  besitzen,  um- 
fassen zwar  in  Berlin  mehrere  tausend  Nummern;  sie 
entstehen  in  der  Weise,  daß  zuständige  Beamte  die  Namen 
derjenigen  angeben,  von  welchen  sie  direkt  oder  indirekt 
erfahren  haben,  daß  sie  homosexuell  sind.  Es  liegt  aber 
auf  der  Hand,  daß  die  Eintragungen  nicht  nur  unzuver- 
lässig, sondern  auch  unvollständig  sein  müssen  ^) 

Wenn  wir  uns  von  den  Juristen  an  die  Mediziner 
wenden,  so  bleiben  auch  diese  die  Antwort  schuldig. 
Völlig  zutreffend  schreibt  Merzbach:*)  „Die  Homosexuellen 


^)  Ich  verdanke  diese  Angaben  dem  verstorbenen  Kriminal- 
direktor  v.  Meerscheidt-Hüllessem. 

*)  Die  Lehre  von  der  Homosexualität  als  Gemein- 
gut wissenschaftlicher  Erkenntnis,  von  Dr.  Georg  Merz- 
bach, Arzt  für  Haut-  and  Geschlechtsleiden  in  Berlin,  in  der 
Monatsschrift  für  Harnkrankheiten  u.  sexuelle  Hygiene, 


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—     117     - 

sind  zwar  allerorteD,  auf  dem  Lande  und  in  den  Städten, 
in  der  Hütte  und  in  den  Palästen,  bei  den  Eultuvolkern 
wie  bei  den  wilden  Stämmen  in  nicht  eben  kleiner  Zahl 
anzutreffen,  aber  es  dürfte  doch  nur  wenige  Arzte  geben, 
denen  sich  Homosexuelle  in  dieser  Eigenschaft  als 
Patienten  anvertraut  haben.  Diesen  Umstand  erklärt 
einesteils  die  begreifliche  Scheu  des  Homosexuellen,  sich 
selbst  dem  Arzte  in  einem  Zustand  anzOTertrauen,  den 
die  Gesellschaft  mit  Ächtung  und  das  Gesetz  mit  harter 
Strafe  bedroht,  anderenteils  ihr  Bewußtsein,  daß  sie  der 
Arzt  entweder  nicht  versteht  oder  ihnen  Rat  und  Heilung 
doch  nicht  zu  bieten  imstande  ist." 

Was  hier  Merzbach  ausführt,  gilt  nicht  nur  für 
den  einfachen  praktischen  Arzt,  sondern  auch  für  den 
Spezialarzt,  sowohl  den  für  Geschlechtsleiden,  als  auch 
den  für  Seelenstörungen.  Seitdem  hervorragende  Ge- 
richtsärzte und  Psychiater  wie  Casper,^)  Westphal,^ 
Krafft-Ebing^  in  den  sechziger  und  siebziger  Jahren  des 
letzten  Jahrhunderts  dem  Gegenstande  ihre  Aufmerksam- 
keit zugewandt  haben,  haben  sich  die  Psychiater  für 
besonders     qualifiziert     erachtet,  «  nicht    nur    über    das 


Heft  1,  Jahrg.  I,  1904.  Unter  Mitwirkang  hervorragender  Mit- 
arbeiter herausgegeben  von  Dr.  med.  Karl  Ries.  Verlag  Malende, 
Leipzig. 

*)  1863.  Joh.  Lndw.  Casper,  Klinische  Novellen  zur 
gerichtlichen  Medizin^  Nach  eigenen  Erfahrungen,  S.  33—52, 
Berlin. 

")  1870.  C.  Westphal,  Die  konträre  Sexualempfin- 
dung, Archiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten, 
Bd.  II,  S.  73. 

")  1877  erschien  die  erste  Arbeit  Krafft-Ebings  über  die 
Homosezualit&t  unter  dem  Titel:  Über  gewisse  Anomalien 
des  Geschlechtstriebes  und  die  klinisch-forensische 
Verwertung  derselben  als  eines  wahrscheinlich  funk- 
tionellen Degenerationszeichens  des  zentralen  Nerven- 
systems, Archiv  f.  Psychiatrie  u.  Nervenkrankheiten, 
Bd.  VII,  8.  291. 


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—     118     — 

Wesen,  sondern  auch  über  die  Zahl  der  Homosexuellen 
selbstäpdige  Urteile  abzugeben.  Entsprechend  ihrer  Er- 
fahrung erklären  fast  alle^]  die  Homosexualität  für  ein 
außerordentlich  seltenes  Vorkommnis.  Es  ist  ein  ganz 
besonderes  Verdienst  von  Näcke,*)  hervorgehoben  zu 
haben,  daß  die  meisten  dieser  Autoren  keine  genügenden 
Sachverständigen  seien,  weil  ihr  Material  viel  zu  gering 
und  gewöhnlirfi  unter  abnormen  Verhältnissen  beobachtet 
sei.  Daß  aber  von  den  sechs  Autoren,  welche  Näcke 
als  wirkliche  Sachverständige  auf  dem  Gebiete  der  Homo- 
sexualität aufzählt,  kein  einziger  eine  bestimmte  Meinung 
über  die  Anzahl  der  Homosexuellen  äußert,  ist  sicher- 
lich kein  Zufall.  Mit  der  Erfahrung  wächst  die  Vor- 
sicht im  Urteil.    So  schreibt  MoU:^  „Was  die  Zahl  der 


*)  Bei  Psychiatern  und  Gerichtsärzten  finden  sich  Angaben 
über  die  Menge  der  Homosexuellen: 

a)  1887.  Kräpelin,  Kurzes  Lehrbuch  der  Psychiatrie, 
Leipzig,  S.  581:  ,,1  auf  200  (Ulrichs)  wahrscheinlich  beträchtlich 
übertrieben/'  Ibidem:  „Bisherige  Kasuistik  umfaßt  noch  nicht 
50  Fälle." 

b)  1896.  Straßma»nn,  Lehrbuch  der  gerichtlichen 
Medizin,  8.  119:  „Angaben  von  Ulrichs  zu  hoch.'^ 

c)  1899.  Wollenberg,  Über  die  Grenzen  der  straf- 
rechtlichen Zurechnungsfähigkeit  bei  psychischen 
Krankheitszuständen,  in  Neurologisches  Centralblatt, 
Nr.  9 :  „Große  Überschätzung  der  Zahl  der  echten  Homosexuellen." 
(Mach  Bloch,  a.  a.  0.,  S.  218.) 

d)  1900.  Gramer,  Gerichtliche  Psychiatrie.  Jena, 
S.  279—280:  „Zahlen  der  Literatur  zu  hoch." 

e)  1902.  Hoche,  Handbuch  der  gerichtlichen  Psy- 
chiatrie, Berlin,  S.  494:  „Die  Häufigkeit  wird  wohl  überschätzt" 

*)  Dr.  P.  Näcke,  Die  Probleme  auf  dem  Gebiete  der 
Homosexualität,  in  der  Allgemeinen  Zeitschrift  für 
Psychiatrie  und  psychiatrisch-gerichtliche  Medizin, 
Bd.  LIX,  Heft  6,  S.  805—829. 

^)  Dr.  Albert  Moll,  Die  konträre  Sexualempfindung, 
HL  Aufl.,  S.  144,  Berlin  1899,  W.  Fischers  medizinische  Buch- 
handlung. 


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—     119     — 

Urninge  betrifft,  so  ist  es  unmöglich,  genau  anzugeben, 
welchen  Prozentsatz  der  Bevölkerung  sie  ausmachen"; 
und  etwas  weiter:  ,,Ich  habe  selbst  in  Berlin  etwa 
6 — 700  Urninge  gesehen  und  beobachtet  und  von  etwa 
250 — 350  gehört  Nach  diesem  ungefähren  Bilde  kann 
ich  feststellen,  daß  sich  die  Zahl  der  Berliner  Urninge 
mindestens  auf  900  beläuft.  Daß  aber  in  Wirklichkeit 
diese  Zahl  wesentlich  tiberschritten  wird,  kam  ich  mit 
größter  Wahrscheinlichkeit  sagen.  Ob  es  3000  oder 
10000  oder  sogar,  was  ich  nicht  für  ausgeschlossen 
halte,  noch  mehr  Homosexuelle  in  Berlin  gibt,  darüber 
kann  icli  mit  Sicherheit  nicht  urteilen."  Ich  selbst 
habe  bis  jetzt  (1.  März  1904)  1892  homosexuelle  Männer 
und  207  homosexuelle  Frauen  persönlich  kennen  gelernt, 
sehe  fast  täglich  neue,  würde  es  aber  für  gänzlich  ver- 
fehlt halten,  wenn  ich  auf  Grund  eigener  Beobachtung 
und  Erfahrung  eine  Ansicht  über  den  Prozentsatz  der 
Homosexuellen  äußern  wollte.^) 

Auch  die  Anzahl  der  Homosexuellen,  welche  mit 
dem  wissenschaftlich-humanitären  Komitee  in  Beziehungen 
stehen,  lassen  keinen  Schluß  auf  die  Gesamtmenge  der 
deutschen  Uranier  zu.  Wir  betonen  dies  besonders  gegen- 
über Dühren-Bloch,  ^)  welcher  die  dem  Komitee  bekannten 


^)  Da  ein  Kritiker  meines  Buches  Der  urnische  Mensch 
meinte,  ich  hfttte  die  Homosexuellen  vielleicht  ohne  heterosexuelles 
Vergleichsmaterial  studiert,  bemerke  ich,  daß  ich  eine  allgemeine 
ärztliche  Praxis  ausübe,  in  der  ich  durchschnittlich  im  Tage  SO 
Personen  sehe  bezw.  untersuche,  von  denen  nur  durchschnittlich 
3  homosexuell  sind. 

«)  Dr.  E.  Dühren,  Das  Geschlechtsleben  in  England 
mit  besonderer  Beziehung  auf  London,  Bd.  III,  S.  4  (Berlin 
bei  Lilieuthal  1903)  schreibt: 

„Gegenüber  den  früheren  übertriebenen  Angaben  ist  eine  Stelle 
in  der  neuerdings  vom  „Wissenschaftlich-humanitären  Komitee" 
anläßlich  der  Anschuldigungen  gegen  Krupp  veröffentlichten 
„Erklärung"  bedeutsam,  in  welcher  dieses  Komitee,  das  sicherlich 


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—     120     — 

Homosexuellen   für  „den   größten  Teil  der  in  Deutsch- 
land lebenden  Homosexuellen"  hält 

Abgesehen  von  den  vielen  Menschen,  welche 
nach  dem  Gesetz  der  Trägheit  trotz  starker  Anstoße 
nicht  aus  dem  Indifferenzzustand  herauszubringen  sind, 
gibt  es  zahlreiche  Homosexuelle,  die  in  übergroßer  Ängst- 
lichkeit völlig  grundlos  fürchten,  sie  könnten  „bekannt 
.werden",  wenn  sie  mit  dem  Komitee  in  Verbindung  treten; 
es  ist  psychologisch  nicht  uninteressant,  daß  häufig  gerade 
diejenigen,  welche  „bekannt  sind",  von  dieser  Besorgnis 
erfüllt  sind.  Von  den  älteren  meinen  viele,  wenn  sie  das 
Martyrium  so  lange  ertragen  haben,  wollen  sie  nun  auch 
noch  den  Rest  über  sich  ergehen  lassen,  sie  würden  es 
ja  doch  nicht  mehr  erleben,  daß  es  anders  wird;  das, 
was  vielen  Normalsexuellen  ein  Antrieb  zum  Kampfe  ist, 
es  möge  ihren  direkten  Nachkommen  ein  besseres  Los  als 
ihnen  selbst  beschieden  sein,  fällt  bei  den  meisten  Homo- 
sexuellen fort.  Nicht  wenige  meinen  durch  ihre  Stellung, 
ihre  Reichtümer,  ihre  Klugheit  in  allen  Fährnissen  ge- 
nügend geschützt  zu  sein  und  wieder  andere  bleiben  aus 
Bescheidenheit  fern,  da  sie  doch  nichts  bieten  und  leisten 
könnten;  manchen  ist  in  ihres  Lebens  Qual  die  Hoffnung, 
anderen  das  Ehrgefühl,  manchen  das  Vertrauen  und 
anderen  wiederum  die  Opferwilligkeit  abhanden  ge- 
kommen; auch  aus  Nörgelsucht  schließen  sich  viele  nicht 


über  die  Zahl  der  Homosezaellen  in  Deutschland  auf  das  genaueste 
orientiert  ist,  von  „1500  ihm  bekannten"  Homosexuellen  spricht 
Da  anzunehmen  ist,  daß  das  Komitee,  welches  den  reformbedürf- 
tigen §  175  des  Reichsstrafgesetzbnchs  (Bestrafung  des  homo- 
sexuellen Verkehrs  mit  Gefängnis)  gänzlich  abgeschafft  wissen  will, 
den  größten  Teil  der  in  Deutschland  lebenden  Homosexuellen  für 
seine  Bestrebungen  herangezogen  hat,  so  ist  daraus  wenigstens 
der  Schluß  erlaubt,  daß  bei  einer  Bevölkerung  von  55  Millionen 
die  wirkliche  Zahl  der  Homosexuellen  in  Deutschland  eine  ver- 
schwindend geringe  ist/* 


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—     121     — 

an:  ^^Dieser  Schritt  des  Komitees  sei  Dicht  richtig  gewesen 
und  das  hätte  ganz  anders  gemacht  werden  müssen.^' 
Gerade  nnter  den  üraniem  gibt  es  so  manchen  ,,Oeist, 
der  stets  yemeint";  ja  eine  nicht  ganz  kleine  Schar  steht 
der  Aufklärungsarbeit  auf  diesem  Gebiete  überhaupt 
feindselig  gegenüber,  früher  wäre  es  gar  nicht  so  sehr 
aufgefallen,  wenn  sie  mit  einem  Freunde  einer  anderen 
Alters'-  und  Gesellschaftsschicht  viel  zusammengewesen 
seien,  jetzt  aber  wüßten  viele  Bescheid  und  könnten 
Argwohn  schöpfen.  Endlich  ist  auch  zu  berücksichtigen, 
daß  sehr  viele  Urninge  der  untersten  und  wohl  auch  der 
mittleren  Volkskreise  naturgemäß  von  dem  Vorhanden- 
sein des  Komitees  überhaupt  nichts  wissen,  weil  ihnen 
der  direkte  oder  indirekte  Kontakt  mit  der  wissenschaftlichen 
oder  auch  mit  der  Tagesliteratur  fehlt.  So  gibt  es  viele 
Gründe,  die  es  begreiflich  machen,  daß  auch  dem  wissen- 
schaftlich-humanitären Komitee  nur  ein  kleiner  Bruchteil 
der  Homosexuellen  bekannt  ist. 

Die  Sammelplätze  Homosexueller,  die  umischen 
Kneipen,  Bäder,  Klubs,  die  sogenannten  Striche  geben 
ebenfalls  kein  richtiges  Bild.  Die  übergroße  Mehrzahl 
der  Urninge  lebt  gänzlich  zurückgezogen  für  sich  oder 
mit  einem  Freunde,  bemüht,  ihre  „Schwäche"  als  tiefstes 
Geheimnis  vor  der  Welt  zu  bewahren,  insonderheit  auch 
vor  Schicksalsgenossen,  bei  denen  doch  die  Möglich- 
keit eines  Skandals  nie  ganz  ausgeschlossen  ist.  Andere 
haben  wohl  einige  homosexuelle  Bekannte,  hüten  sich 
aber  wohl,  Örtlichkeiten  aufzusuchen,  die  als  TrefiFpunkte 
umischer  Personen  gelten.  Immerhin  ist  es  beachtens- 
wert, daß  es  in  Berlin  18 — 20  Restaurants,  verschiedene 
Bäder  und  Pensionsanstalten  gibt,  die  fast  nur  von 
Homosexuellen  aufgesucht  werden,  und  daß  alle  Zusammen- 
kunftsstätten meist  stark  frequentiert  sind;  auf  einem  der 
häufig  stattfindenden  ümingsbälle,  den  ich  vor  einigen 
Wochen  mit  mehreren  Gerichtsärzten  besuchte,  befanden 


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—     122     — 

sich  nicht  weniger  als  6 — 700  Homosexuelle,  von  denen 
ich  höchstens  50  dem  Aussehen  nach  kannte. 

Einige  Autoren  haben  Mitteilungen  veröffentlicht^ 
welche  ihnen  Urninge  selbst  über  die  Anzahl  der  Homo- 
sexuellen gegeben  haben,  teils  über  die  Menge,  welche  sie 
überhaupt  kennen  gelernt  haben,  teils  über  diejenigen, 
welche  ihnen  in  der  Stadt,  in  der  sie  lebten,  bekannt  ge- 
worden sind.  Ein  Patient  Krafft-Ebings  ^)  kennt  in  einer 
Stadt  von  13000  Einwohnern  14  Urninge,  in  einer  andern 
von  60000  Einwohnern  wenigstens  80,  ein  Urning  hat 
Moll  ^  mitgeteilt,  daß  ihm  in  Magdeburg  70,  ein  anderer,  daß 
jemandem  in  einer  Stadt  von  60000  Einwohnern  50  Homo- 
sexuelle bekannt  seien,  ein  anderer  hat  in  einer  Stadt 
von  350000  Einwohnern  mit  250  Männern  Beziehungen 
gehabt,  ein  anderer,  der  sehr  viel  gereist  ist  und  sich 
genaue  Aufzeichnungen  gemacht  hat,  will  in  20  Jahren 
gar  mit  965  Männern  sexuell  verkehrt  haben.  Auch  ich 
besitze  eine  Reihe  ähnlicher  MitteiluDgen,*)  halte  aber 
alle  diese  Angaben  für  eine  Statistik  über  die  Homo- 
sexualität  unverwertbar,   da  es  sich  aus  den  bereits  ge- 


M  Psychopathia  sexualis,  1903,  S.  250— 251. 

*)  Konträre  SexuaJempfindung,  1899,  S.  145— 146. 

*)  Aus  folgenden  Städten  liegen  mir  Nachrichten  von  Homo- 
sexuellen über  die  Ziffer  der  ihnen  am  Platz  bekannten  Ur- 
ninge vor: 

Agram  7,  Bern  10,  Berlin  300—400,  Braunschweig  82,  Char- 
lottenburg 20,  Cilli  20,  Danzig  über  100  (ein  anderer  kennt  50), 
Dortmund  20,  Düsseldorf  200,  Elberfeld  30,  Eutin  4,  Flensburg  25, 
Görlitz  10,  Halle  10,  Hamburg  60  (ein  anderer  kennt  14),  Hildes- 
heim  15  (ein  zweiter  kennt  8),  Preuß.  Holland  4,  Innsbruck  20, 
Kiel  40,  Köln  einige  Hundert,  Königsberg  10,  Landau  (Pfalz)  3, 
Langensalza  6,  Lübeck  2,  Mannheim  gegen  1000  (?),  Meißen  15, 
Metz  20,  München  100  (ein  zweiter  will  „mehrere  Tausend"  kennen), 
Neu-Ruppin  2,  Ober-Zauche  (Kreis  Glogau)  6,  PfuUingen  2,  Pots- 
dam 40,  Radebeul  2,  Remscheid  3,  Straßburg  40—50,  Stuttgart  130 
(ein  zweiter  gibt  40,  ein  dritter  25  an),  Triest  24,  Weimar  10, 
Wien  400. 


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—     123     — 

nannten  Gründen  doch  immer  nur  um  eine  beschränkte 
Gruppe  handelt,  die  einem  Urning  direkt  oder  indirekt 
bekannt  geworden  ist,  namentlich  die  meines  Erachtens 
zahlreicheren  monogam  veranlagten  Urninge  werden  selten 
bekannt,  auch  entsprechen  die  Gerüchte,  die  über  die 
Homosexualität  dieser  oder  jener  Person  im  Umlauf  sind, 
keinesfalls  immer  der  Wahrheit.  Zweifelsohne  wohnt  auch 
vielen  Urningen  die  Neigung  inne,  die  Menge  ihrer  Leidens- 
gefährten zu  hoch  zu  beziffern,  doch  kommt  auch  das 
Gegenteil  vor;  so  beruft  sich  Bloch, ^)  nachdem  er  soeben 
„die  Übertreibungen  der  Urninge  gegeißelt"  hat,  selbst 
auf  einen  urnischen  Gewährsmann,  den  Grafen  Cajus, 
welcher  annimmt,  daß  auf  10000  Männer  1  Homosexueller 
kommt,  und  mit  vollem  Recht  hebt  Moll*)  hervor,  daß 
sich  Ulrichs^  „kaum  einer  Übertreibung,  eher  einer 
ünterschätzung  schuldig  gemacht  hat.  wenn  er  auf 
2000  Seelen  oder  500  erwachsene  Männer  durchschnitt- 
lich einen  erwachsenen  Urning  rechnet",  demnach  zu  der 
Zeit,  als  er  dies  schrieb  (1868),  in  Deutschland  etwa  25  000, 
in  Preußen  10—12000,  in  Berlin  500—1000  Urninge. 

Bei  der  völligen  Unzulänglichkeit  der  geschilderten 
Unterlagen  ist  es  nur  zu  begreiflich,  daß  die  Meinungen 
über  die  Menge  der  Homosexuellen  ganz  außerordentlich 
weit  auseinandergehen.  Sie  bewegen  sich  zwischen  1  auf 
50^)  und  1  auf  10000,  also  zwischen  2  pro  cent  und 
0,1  pro  mille.     Für  das  gegenwärtige  ca.  2,5  Millionen 


1)  A.  a.  0.,  Bd.  I,  S.  218. 

«)  A.  a.  0.,  S.  146. 

^)  Ulrichs  hat  seine  Ansicht  im  Gladius  furens,  1868, 
Vorbemerkung,  im  Memnon,  1868,  I,  S.  8,  im  Incubus,  1869, 
S.  5 — 6,  im  Argonauticus,  1869,  S.  4,  und  Prometheus,  1870, 
S.  4,  niedergelegt 

*)  Gustav  Jäger,  Entdeckung  der  Seele,  3.  Aufl.,  Bd.  I, 
8.  257,  Leipzig  1884,  berichtet,  daß  ein  Gewährsmann  von  ihm 
auf  50  Männer  1  Homosexuellen  annimmt. 


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—     124     — 

Einwohner  zählende  Groß-Berlin ^)  würde  somit  der 
eine  51682,  der  andere  258  üranier  rechnen. 
Nach  Ulrichs  würde  Berlin  zur  Zeit  1292  (bei  1  auf 
2000  oder  0,05  7o)»  nach  dem  Verfasser  von  §  143 
86694  (bei  1,42 7^)  Uranier  beherbergen.^ 

Die  übrigen  Autoren  begnügen  sich  damit,  die 
Homosexualität  entweder  für  ein  häufiges,  oder  für  ein 
seltenes  Vorkommnis  zu  erklären,  ohne  allerdings  ihre 
Vermutungen  des  näheren  zu  begründen.  Wenn  Voltaire") 


*  ')  Die  Bevölkerung  der  Reichehauptstadt  betrug  Ende  1903 
1893665,  die  der  zu  Groß- Berlin  gerechneten  Vororte  691275,  zu- 
sammen 2  584140  Einwohner. 

^  In  einer  anonymen,  ca.  1877  bei  Max  Marcus  in  Berlin 
erschienenen  Schrift  Die  Geheimnisse  der  Berliner  Passage 
ist  die  Zahl  der  „Berliner  Männerfreunde  oder  Päderasten"  auf 
10000  beziffert. 

')  Die  Stelle  bei  Voltaire  findet  sich  im  Dict.  philos., 
S.  285,  und  lautet: 

„Ce  vice  est  tr^s-rare  parmi  nous,  et  il  y  serait  presqu'in- 
connu  Sans  les  d^fauts  de  l*^ducation  publique.  Montesquieu 
pr^tend  qu'il  est  commun  chez  quelques  nations  mahom^tanes,  k 
cause  de  la  facilit^  d'avoir  des  femmes;  nous  croyons  que  c*est 
difficult^  qu^il  faut  lire." 

Kurz  vorher,  S.  277— 278,  Dict.  philos.,  52,  sagt  er: 

„On  n'ignore  pas  que  cette  m^prise  de  la  nature  est  beau- 
coup  plu$  commune  dans  les  climats  douz  que  dans  les  glaces  du 
Septentrion,  parce  que  le  sang  y  est  plus  allume,  et  Toccasion 
plus  fr^quente:  aussi  ce  qui  ne  parait  qu'une  faiblesse  dans  le 
jeune  Alcibiade,  est  une  abomination  degoütante  dans  un  matelot 
hollandais,  et  dans  un  vivandier  moscovite.'^ 

Die  Ansicht  Montesquieus,  auf  die  Voltaire  sich  beruft, 
findet  sich  im  Esprit  des  lois,  livre  XII,  chap.  VI,  p.  286 
(vol.  I),  und  heißt: 

„Je  dirai  bien  que  le  crime  contre  nature  ne  fera  jamais 
dans  une  soci^te  de  grands  progrös,  si  le  peuple  ne  s'y  trouve 
port^  d^ailleurs  par  quelque  coutume,  comme  chez  les  Grecs,  oü 
les  jeunes  geus  faisaient  tous  leurs  exercices  nus;  comme  chez 
nous,  oüi  r^ducation  domestique  est  hors  d'usage;  comme  chez  les 
Asiatiques,  oüi  des  particuliers  ont  un  grand  nombre  de  femmes 


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_     125     — 

von  ihr  sagt:  „Ce  yice  est  tres-rare  parmi  nous",  wenn 
Havelock  Ellis  ^)  die  echte  Homosexualität  ein  ^^compara- 
tively  rare  phenomenon"  nennt  und  vollends  Bloch*) 
schreibt:  „Wenn  behauptet  wird,  daß  auf  50  Männer 
1  Homosexueller  komme,  so  ist  das  natürlich  barer  Un- 
sinn" —  so  schweben  alle  diese  unbestimmten  und  un- 
sicheren Behauptungen  genau  so  sehr  in  der  Luft,  als 
wenn  der  alte  Casper^)  „die  Päderasten  aus  angeborenem 
Triebe  als  eine  zahlreiche  Klasse"  bezeichnet  oder  de 
Joux^)  von  einer  „ungeheuerlichen  Statistik  des  Misch- 
geschlechts" spricht. 

Ich  glaube,  es  erhellt  aus  dem  Gesagten,  daß  als 
wissenschaftlich  haltbar  bisher  nur  das  angesehen  werden 
konnte,  was  kürzlich  Fischer '^j  in  den  Satz  kleidete:  „Der 
Prozentsatz  der  Homosexuellen  läßt  sich  nicht  einmal 
schätzungsweise  angeben",  und  was  ich  selbst  in  meiner 
ersten  Arbeit  über  den  Uranismus *^  äußerte:  „Bei  dem 
dichten  Schleier,  der  geheimnisvoll  das  Geschlechtsleben 
des  Menschen  umgibt,  entzieht  es  sich  jeglicher  Berech- 
nung, in  welchem  Zahlenverhältnis  diese  drei  Menschen- 
klassen (gemeint  sind  die  Heterosexuellen,  Bisexuellen  und 
Homosexuellen)  zu  einander  stehen;  alle  bisherigen 
Untersuchungen  und  Schätzungen  selbst  nam- 
hafter Forscher  sind  mehr  oder  weniger  unzu- 
verlässige Vermutungen." 


qu'ils  m^prisent,  tandis  que  ces  autres  n'en  peuvent  avoir.  Qae 
Ton  ne  pr^pare  point  ce  crime,  qu'on  le  proscrive  par  une  police 
ezacte,  comme  toutes  les  violations  des  moeurs;  et  Ton  verra  sou- 
daiu  ]a  nature,  ou  d^fendre  ses  droits,  ou  lee  reprendre." 

^)  Havelock  Ellis,  Sexual  Inversion,  2n.  edition,  S.  1. 

»j  Bloch,  a.  a.  0.,  Bd.  I,  S.  215. 

^  Casper,  Klinische  Novellen,  S.  82,  Berlin  1863. 

*)  Otto  de  Joux,  Die  Enterbten  des  Liebesglücks. 
Ein  Beitrag  zur  Seelenkunde,  S.  124,  Leipzig  1893. 

»)  A.  a.  0.,  S.  5. 

^  Hirschfeld,  Sappho  und  Sokrates,  S.  8,  H. Aufl.,  1902. 


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—     126     — 

Um  zuverlässigere  statistische  Unterlagen  zu  erzielen, 
wandten  wir  zwei  Mittel  an:  Stichproben  und  Rund- 
fragen. Wir  schlössen,  damit  wir  keine  zu  hohen  Zahlen 
erhielten,  bei  beiden  Methoden  von  vornherein  Gruppen 
aus,  von  denen  man,  wie  etwa  bei  den  Schauspielern, 
Damenschneidern  und  anderen  Berufen,  vielfach  und  teil- 
weise wohl  auch  mit  Recht  behauptet,  daß  unter  ihnen 
das  homosexuelle  Element  besonders  stark  vertreten  ist. 
Auch  von  Kreisen  adeliger  Personen  nahmen  wir  —  mit 
Ausnahme  von  Stichprobe  I  und  teilweise  auch  XXI  — 
aus  demselben  Grunde  vorläufig  Abstand.  Es  würde 
sich  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  wohl  em- 
pfehlen, bei  allen  diesen  Gruppen  später  Untersuchungen 
anzustellen,  vorderhand  lag  uns  daran.  Minimalzahlen 
zu  gewinnen,  und  zwar  lieber  zu  niedrige  als  zu  hohe 
Ziffern;  deshalb  suchten  wir  uns  namentlich  bei  den 
Rundfragen  Kreise  aus,  von  denen  man  theoretisch  an- 
nehmen durfte,  daß  in  ihnen  die  Anzahl  der  Homo- 
sexuellen keineswegs  größer,  eher  kleiner  sein  würde, 
als  in  der  übrigen  Bevölkerung,  das  eine  Mal  Studie- 
rende technischer  Fächer,  das  andere  Mal  Metallarbeiter, 
beides  also  zwei  besonders  „männliche**  Berufe.  Von  Inter- 
esse ist  nach  dieser  Richtung  der  folgende  Brief  eines 
süddeutschen  Ingenieurs,  den  wir  im  Anschluß  an  unsere 
erste  Enquete  erhielten. 

„Selbst  Techniker,  sogar  früherer  Studierender  der 
Techn.  Hochschule  Charlottenburg,  habe  ich,  was  die 
technisch  Gebildeten  angeht,  mir  über  den  Beitrag,  den 
diese  Männer  zur  Gemeinde  der  Homosexuellen  stellen, 
schon  seit  lange  ein  selbständiges  Urteil  gebildet  Der- 
selbe ist  äußerst  klein!  —  Aus  freien  Stücken  wird  wohl 
höchst  selten  ein  Uranier  den  Ingenieurberuf  erwählen, 
einen  Beruf,  der  wie  kaum  ein  zweiter  ganze  Männer 
braucht,  der  Produktivität,  Energie,  Tatkraft,  Umsicht, 
einen  weiten  Blick,  Organisationstalent  und,  last  not  least. 


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—     127     — 

Mathematik,  viel  Mathematik  (auch  mir  ein  Buch  mit 
sieben  Siegeln!)  verlangt.  Mich  persönlich  haben  brutale 
äußere  umstände  veranlaßt,  diesen  meinem  ganzen  Wesen 
widerstrebenden  Beruf  zu  ergreifen,  und  ich  glaube  und 
weiß  z.  T.,  wie  mir,  so  erging  es  sehr  vielen  meiner 
nmischen  Kollegen.  Hätten  Sie  unter  den  Studierenden 
der  Universität  zu  Berlin  oder  unter  den  Musensöhnen 
einer  Malerakademie  oder  Musikhochschule  etc.  eine  Bm- 
frage gehalten,  so  hätten  Sie  ohne  Zweifel  einen  wesent- 
lich höheren  Prozentsatz  konstatieren  können.  Das  Mittel 
aus  beiden  dürfte  dann  m.  E.  dem  wahren  Sachverhalt 
am  nächsten  kommen.  Da  also  das  technische  Fach  dem 
Urning  im  allgemeinen  nicht  liegt,  dagegen  andere  Berufe 
zugestandenermaßen  sehr,  so  darf  man  von  den  wenigen 
Homosexuellen  der  T.  H.  zu  Ch.  nimmermehr  einen 
Schluß  auf  die  relative  Seltenheit  der  Uranier  im  all- 
gemeinen ziehen." 


A.  Stichproben. 

Bei  den  Stichproben  legten  wir  besonderen  Wert 
darauf,  daß  es  sich  um  gemischte,  möglichst  indifferente 
und  nicht  zu  kleine  Gruppen  handelte,  vor  allem  auch 
nicht  um  den  Bekanntenkreis  einer  Persönlichkeit,  in 
welchem  möglicherweise  die  Menge  der  gleichgeschlechtlich 
Empfindenden  hätte  überwiegen  können. 

Wir  lassen  nun  eine  Reihe  von  Ermittelungen  folgen, 
wobei  wir  bemerken,  daß  sämtliche  Angaben  von  Personen 
herrühren,  die  uns  als  unbedingt  zuverlässig  bekannt  sind. 
Die  Berichterstatter  sind,  soweit  sie  selbst  Urninge  sind, 
stets  mit  eingerechnet  Es  braucht  wohl  kaum  hervor- 
gehoben zu  werden,  daß  nicht  der  Geschlechtsakt,  sondern 
der  Geschlechtstrieb  in  jedem  Fall  als  das  entscheidende 
Moment  angesehen  wurde. 


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—     128     — 

L  Unter  einer  Gruppe  von  im  Ganzen  etwa  40  Per- 
sonen,  welche  dem  höchsten  europäischen  Adel  an- 
gehören, befinden  sich  nach  absolut  zuverlässigen  In- 
formationen zwei^  deren  Uranismus  außer  Zweifel  steht. 
Es  ist  bemerkenswert,  daß  ein  ungefähr  eben  so  hoher 
Prozentsatz  nur  noch  in  den  Stichproben  VIII,  XVI, 
XXI  und  XXn  vorkommt 

•  2  von  40  ^  57o. 

IL  Ein  lungenkranker  urnischer  Arbeiter  (Stein- 
metz) war  ein  Vierteljahr  in  einer  Berliner  Lungenheil- 
stätte. In  dieser  Zeit  verweilten  in  der  Anstalt  190 
Arbeiter,  unter  denen  er  zwei  als  homosexuell  erkannte. 
Beide  gaben  im  Laufe  näherer  Bekanntschaft  ihre  Ver- 
anlagung zu.  Es  läßt  sich  wohl  annehmen,  daß  unter 
den  allen  Arbeiterklassen  entstammenden  Phthisikem  der 
Prozentsatz  der  Urninge  schwerlich  größer  sein  wird, 
als  unter  der  übrigen  Bevölkerung. 

3  von  190=  1,578  7^,. 

in.  Ein  umischer  Offizier  kennt  560  Offiziere  aus 
10  verschiedenen  Regimentern;  unter  diesen  befinden 
sich  14  Homosexuelle,  ziemlich  proportional  auf  alle 
Chargen  verteilt. 

14  von  560  =  2,5  7^. 

IV.  Ein  Einjähriger  eines  ostpreußischen  Infan- 
terieregiments gibt  an,  in  seiner  Kompagnie  4  Homo- 
sexuelle verschiedener  Chargen  gefunden  zu  haben. 

4  von  125  =  3,2  7^. 

V.  Ein  zu  einer  achtwöchentlichen  Waffentibung 
eingezogener  umischer  Ingenieur  fand  in  seiner  Kom- 
pagnie außer  sich  2  Urninge,  einen  Unteroffizier  und 
einen  Gemeinen. 

3  von  125  =  2,47,,. 


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—     129     — 

VI.  Ein  urnischer  Briefträger  hat  unter  ca.  1000 
Postbeamten  eines  der  größten  Berliner  Postämter  in 
mehreren  Jahren  18  kennen  gelernt^  yon  denen  er  mit 
einer  an  Sicherheit  grenzenden  Wahrscheinlichkeit  aus- 
sagen kann,  daß  sie  ,,so''  sind. 

18  von  1000  =  1,8  7^. 

YIL    Ein    Eisenbahnbeamter    kennt    unter   800 
Beamten  seines  Distrikts  8  Homosexuelle. 
8  Ton  800  =  17^. 

VIII.  Ein  Marineoffizier,  der  sehr  zahlreiche  und 
sorgfältige  Beobachtungen  angestellt  hat,  taxiert  den 
Prozentsatz  der  Homosexuellen  in  seinem  Stande  auf  5 
unter  100. 

5  Ton  100  =  57o. 

IX.  Ein  Bankbeamter  aus  einer  größeren  deutschen 
Provinzialstadt  gibt  an,  daß  sich  unter  50  Kollegen  2 
homosexuell  yeranlagte  befanden. 

2  von  60  =  47^. 

X.  Ein  anderer  Bankangestellter  fand  unter  ca. 
100  in  einer  Berliner  Bank  beschäftigten  Personen  2 
Uranier. 

2  von  100  =  27^,. 

XL   Ein  in  einer  bekannten  Eunstanstalt  seit  8 
Jahren  beschäftigter  Urning  kennt  unter  400  Zeichnern, 
Ätzern  und  Setzern  usw.  7  Homosexuelle  (sich  einbegriffen). 
7  von  400  =  1,75  7o. 

XII.  In  einem  Berliner  Warenhause  befinden  sich 
unter  ca.  400  im  Lager  beschäftigten  Personen  6  unter 
einander  bekannte  Urninge. 

6  von  400  =  1,5  7o. 

Jahrbaoh  VL  9 


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—     130     — 

XTTL   Ein  Nichturning    kennt  unter  ca.  200  An- 
gestellten seines  Geschäftshauses  zwei  Homosexuelle. 
Auch  einer  der  beiden  Chefs  des  Hauses  gilt  als  Urning. 
2  von  200«  17^. 

XIV.  Unter  dem  gesamten  Personal  einer  großen 
deutschen  Firma,  etwa  1000  Personen,  waren  10  Homo- 
sexuelle beschäftigt. 

10  von  1000  «  l7o. 

XV.  Ein  Student  fand  in  einer  größeren  Verbindung 
von  durchschnittlich  100  Aktiven  im  I.  Semester  2  Homo- 
sexuelle, im  n.  Semester  2  Homosexuelle,  im  III.  Semester 
3  Homosexuelle,  im  IV.  Semester  4  Homosexuelle,  im 
V.  Semester  2  Homosexuelle,  im  VI.  Semester  1  Homo- 
sexuellen, im  VII.  Semester  2  Homosexuelle,  durch- 
schnittlich untei:  100  Studenten:  2,28  Homosexuelle. 

2  von  100  =  27^. 

XVI.  Ein  Korpsstudent  kannte  unter  35  Mitgliedern 
seiner  Korporation  2  Uranier. 

2  von  35  «5,717^. 

XVII.  Ein  homosexueller  Lehrer  berichtet,  daß  sich 
unter  90  Zöglingen  eines  Lehrerseminars  —  Internats 
—  2  Homosexuelle  befanden,  die  es  auch  jetzt  noch  sind.  *) 

2  von  90  =.  2,22  7o. 

XVni.  Unter  50  Schülern  einer  Präparanden- 
anstalt  (15 — 17jährigen)  waren  —  und  blieben  —  2  aus- 
gesprochen homosexuell. 

2  von  50  =  4,0  7^. 

^)  Derselbe  Gewährsmann  kannte  in  dem  Lehrerkollegium 
des  Gymnasiums  einer  ostpreußischen  Stadt,  welches  aus  12  Lehr- 
kräften bestand,  einen  Oberlehrer  (Theologen)  und  einen  Zeichen- 
lehrer, die  urnisch  waren,  in  einer  Berliner  Gemeindeschule  unter 
19  Lehrern  während  einer  Zeit  2  Urninge. 


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—     131     — 

XIX.  Ein  Ingenieur  wurde  in  einer  großen  Er- 
ziehungsanstalt im  Ausland  erzogen,  welche  850 
Schüler  aus  verschiedenen  Ländern  umfaßte.  Mutuelle 
Onanie  und  andere  sexuelle  Akte,  auch  mit  Mädchen, 
waren  stark  yerbreitet  Sieben  der  Zöglinge  waren 
meinem  Gewährsmann  schon  damals  als  homosexuell 
bekannt 

7  von  350  =  27^. 

XX.  Von  3  der  ca.  200  Schüler,  mit  denen  ich  selbst 
das  Domgymnasium  meiner  Vaterstadt  besuchte,  weiß  ich 
jetzt  mit  Sicherheit,  daß  sie  homosexuell  sind.  Sexuelle 
Akte  waren  auf  dieser  Schule  verhältnismäßig  selten, 
traten  jedenfalls  nicht  sichtlich  hervor.  Von  den  drei 
Schülern  war  mir  damals  nichts  bekannt,  einer  führte 
einen  Mädchen-Spitznamen,  die  beiden  anderen  waren 
sehr  befähigt  und  beliebt  und  wichen  in  mannigfacher 
Hinsicht  von  dem  Wesen  der  übrigen  Knaben  ab. 

3  von  200  =:=  1,5  7^. 

XXI.  Diese  Ermittelung  bezieht  sich  zufälligerweise 
auf  dieselbe  Klosterschule  B.,  auf  welcher  Roche ^) 
seine  in  der  Fachliteratur  wiederholt  zitierten  Be- 
obachtungen über  die  Liebesverhältnisse  zwischen  Pri- 
manern als  Amantes  und  Tertianern  als  Amati  an- 
gestellt hat.  Hoche,  welcher  noch  in  seinen  letzten 
Veröffentlichungen  dem  Angeborensein  des  homosexuellen 
Triebes  widerspricht,  sucht  seine  Theorie  dadurch 
zu  stützen,  daß  er  auf  die  „Liebesverhältnisse^^  zwischen 
Schülern  hinweist,  die  später  ganz  normalsexuell  würden. 
Trotz  „schwärmerischer,  lyrischer  Ergüsse,  Mondschein- 
promenaden, glühender  Liebesbriefe,  feuriger  Umarmungen 


^)  fioche,  Zur  Frage  der  forensischen  Bearteilung 
sexueller  Vergehen,  im  Neurologischen  Centralblatt, 
1896,  S.  517—568. 

9* 


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—     182     — 

und  Küsse,  gelegentlichen  Zusammentreffens  im  Bett,  selten 
mit  Onanie,  nie  mit  Päderastie,  entwickelte  sich  später 
der  Primaner  als  durchaus  normaler  Mensch  weiter  und 
der  Tertianer  wurde  in  Prima  selbst  wieder  ein  Amans.  ^) 
Ich  verdanke  einem  urniscben  Mitschüler  Hoches, 
dem  Grafen  S.,  einen  ausführlichen  Bericht  über  das 
Leben  und  Treiben  auf  dem  altberühmten  Erziehungs- 
institut, welches  1554  in  dem  alten  Cisterzienser  Nonnen- 
kloster unter  der  Schutzherrschaft  der  Familie  von  W. 
eingerichtet  wurde  und  zur  Zeit,  als  Graf  S.  das- 
selbe besuchte,  von  Quarta  bis  Prima  gegen  130  Schüler 
zählte.  Die  Hälfte  davon  waren  Adelige,  Gutsbesitzers- 
und Offizierssöhne,  die  andern  zum  großen  Teil  prote- 
stantische Pfarrers-  und  Domänenpächterssöhne,  fast  alle 
aus  Sachsen,  Brandenburg,  Schlesien,  Pommern  und  Posen. 

Graf  S.  bestätigt,  daß  zwischen  Älteren  und  Jüngeren 
Verhältnisse  bestanden,  die  aber  trotz  Liebkosungen, 
großen  Vertraulichkeiten  und  Eifersuchtsanwandlungen 
meist  unschuldiger  Natur  waren,  hie  und  da  kam  es 
wohl  zu  sexuellen  Akten,  die  jedoch  mehr  jugendlichem 
Gefühlsüberschwang  im  sexuell  noch  wenig  differenzierten 
Übergangsstadium,  als  wirklichen  homosexuellen  Neigungen 
entsprangen.  Bei  den  meisten  älteren  Schülern  zeigten 
sich  bereits  deutliche  Äußerungen  ihrer  heterosexuellen 
Natur^  denen  gegenüber  sogar  die  Mägde  der  Professoren 
und  Lehrer  im  Anstaltsgebäude  oift  einen  harten  Stand 
hatten.  Alle,  die  heterosexuell  waren,  sind  heterosexuell 
geblieben  und  zum  Teil  sehr  glückliche  Ehemänner  ge- 
worden 

Von  7  seiner  früheren  Schulkollegen  weiß  Graf  S., 
daß  sie  jetzt  homosexuell  sind,  und  zwar  betont  unser 
Gewährsmann,  daß  gerade  bei  diesen  die  von  Hoche  ge- 
schilderten äußeren  Liebesbezeugungen  viel  weniger  sicht- 

»)  Vgl.  auch  Bloch,  a  a.  0.,  S.  181. 


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—     183    — 

lieh  heryortraten,   was   er  auf  eine  gewisse  Scheu  und 
Scham    zorückf&hrt^    wie    sie    gleichgeschlechtlich    Em- 
pfindenden oft  schon  in  der  Schule  eigen  zu  sein  pflegt 
7  von  130  =  5,37^. 

XXn.  Ein  18  jähriger  intelligenter  Kaufmann  war 
unter  52  ca.  14  jährigen  Bürgerschülem  der  Oberklasse 
mit  zweien  befreundet,  welche  wie  er  durch  ihr  weib- 
liches Wesen  eine  gewisse  Sonderstellung  unter  den  Mit- 
schülern einnahmen.  Alle  drei  befinden  sich  jetzt  in 
kaufmännischen  Stellungen  und  yerkehren  ausschließlich 
homosexuell. 

3  von  52  =  5,757^. 

XXIII.  In  einer  kleinen  Stadt  Oberschlesiens  waren 
—  und  blieben  —  von  120  Schülern  2  homosexuell 

2  von  120  ^  1,667^. 

XXIV.  In  einer  größeren  Stadt  der  Schweiz  befanden 
sich  unter  ca.  120  Gymnasiasten  3  Urninge,  von  denen 
2  Vetter  waren. 

3  von  120  =  2,57^. 

XXV.  Ein  urnisch  veranlagter  evangelischer  Pastor 
teilt  mit,  daß  er  unter  seinem  geistlichen  Bekanntenkreis, 
der  87  Herren  umfaßt,  zwei  Homosexuelle  kenne.  Dem 
einen  von  beiden  gestand  er,  um  sich  mit  ihm  zu  beraten, 
seine  geschlechtliche  Eigenart  und  erfuhr  zu  seiner  Über- 
raschung» daß  derselbe  sich  in  der  gleichen  Lage  wie  er 
selbst  befände.  Die  Homosexualität  des  anderen  verriet 
ihm  ebenfalls  ein  unzweideutiges  Selbstbekenntnis. 

3  von  88  =  3,47^. 

XXVI.  Ein  Priester  hat  unter  95  katholischen 
Geistlichen,  die  er  näher  kennen  lernte,  2  Urninge  ge- 
troffen. „Beide  haben  es  mir  selbst**  —  so  schreibt  er  — 
>^(extrasakramental)  eingestanden,  der  eine  ausdrücklich. 


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—     134    — 

der  andere  so  gut  wie  ansdrücklich.  Ein  Zweifel  ist 
ausgeschlossen.^'  Der  Gewährsmann  fügt  hinzu^  daß  nach 
seiner  Meinung  die  Homosexualität  unter  der  katholischen 
Geistlichkeit  stärker  vertreten  sei,  als  in  irgend  einem 
anderen  Beruf. 

3  von  95  =  3,157^. 

XXVn.  Ein  homosexueller  27jähriger  Schlächter- 
geselle kennt  110  Schlächtermeister  und  Gesellen.  Da- 
runter sind,  ihn  eingerechnet,  ganz  sicher  4  Urninge, 
1  Meister  und  3  Gesellen  zwischen  25  und  30  Jahren. 
Sämtliche  haben  unserem  Gewährsmann  ihre  rein  homo- 
sexuelle Neigung  zugegeben. 

4  von  110  =  3,63  7o. 

XXVin.  Ein  Urning,  der  regen  gesellschaftlichen 
Verkehr  pflegte,  machte  die  Wahrnehmung,  daß  sich  in 
jeder  größeren  Familie  innerhalb  dreier  Generationen, 
also  unter  ca.  30  Personen,  ein  Homosexueller  findet 
Es  stimmt  das  mit  der  Beobachtung  überein,  die  ich 
aus  der  Kenntnis  zahlreicher  homosexueller  Namen  ge- 
macht habe,  daß  es  vom  höchsten  Adel  an  kaum  eine 
deutsche  Standesfamilie  gibt,  die  nicht  unter  ihren  Agnaten 
einen  Homosexuellen  zählt. 

1  von  30  =  3,3  7^,. 

XXIX.  Wir  wiesen  oben  darauf  hin,  daß  die  Zahl 
der  Homosexuellen,  welche  ein  Urning  innerhalb  einer 
Stadt  kennt,  für  die  Statistik  nicht  verwertbar  ist.  Anders 
ist  es  in  ganz  kleinen  Ortschaften  oder  Bezirken,  wo 
jemand  alle  Bewohner  kennt.  Es  liegen  hier  zwei 
brauchbare  Angaben  vor.  Ein  Volksschullehrer,  der  aus 
einem  Dorfe  von  300  Einwohnern  stammt,  kennt  unter 
den  80  erwachsenen  Männern  seiner  Heimat  außer  sich 
selbst  noch  einen  Urning. 

2  von  80  «  2,57^. 


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—     185    — 

XXX.  Ein  urnischer  Herr^  welcher  seit  langem  in 
einem  Häuserblock  wohnte^  der  10  Häuser  mit  93 
Parteien  und  872  Personen  umfaßte^  ermittelte  unter 
diesen  im  Laufe  der  Zeit  einen  umischen  Materialwaren- 
händler, einen  urnischen  Fleischergesellen,  einen  umischen 
Zigarrenverkäufer  und  einen  umischen  Musterzeichner. 
Er  erkannte  sämtliche  an  ihrem  Benehmen,  drei  Tor 
allem  an  ihren  Bewegungen,  und  es  bestätigten  sich  seine 
Vermutungen  nach  genauerer  Bekanntschaft 
5  von  372  «  1,347^. 

Zusammenstellung  der  Stichproben. 


L  Hochadel 

2  Ton 

40  =  5,6  7o, 

n.  Lungenkranke 

8   „ 

190  =  1,5  „ 

TTT.  Offiziere 

14   „ 

560  =  2,5  „ 

IV.  Eompagniemannschaft 

4   „ 

125  =  3,2  „ 

V. 

3   „ 

125  =  2,4  „ 

VI.  Postbeamte 

18   „ 

1000  =  1,8  „ 

Vn.  Eisenbahnbeamte 

8   „ 

300  =  1,0  „ 

VIIL  MarineofKziere 

6   „ 

100  =  5,0  „ 

IX.  Bankbeamte 

2   „ 

50  =  4,0  „ 

X.  Bankangestellte 

2    ., 

100  =  2,0  „ 

XL  Eunstanstaltspersonal 

7    „ 

400-  1,7  „ 

XII.  Warenhanspersonal 

6    „ 

400  =  1,5  „ 

XTIT.  Gesch&flahansangestellte   2   „ 

200  =  1,0  „ 

XIV.  Firmenperaonal 

10    „ 

1000  =  1,0  „ 

XV.  Verbindungsstudenten 

2   » 

100  =  2,0  „ 

XVI.  Kouleurstudenten        ' 

2   „ 

35  -  5,7  „ 

XVII.  Seminaristen 

2   ,, 

90  =  2,2  „ 

XVIII.  Präparanden 

2   „ 

50  =  4,0  „ 

XTX.  Zöglinge 

7    » 

350  =  2,0  „ 

XX.  Gymnasiasten 

3   „ 

200  =  1,5  „ 

XXI.  ElosterschOler 

7    „ 

130  =  5,3  „ 

106  von 

5545. 

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—    186    — 


106  Ton 

6546. 

XXII.  Bürgerschüler 

3   „ 

52  =  5,7  %. 

XXm.  Stadtschüler 

2   „ 

120  =  1,6    „ 

XXTV.  Gymnasiaaten 

3   „ 

120  =  2,5    „ 

XXV.  Protestantische  P&rrer 

3   „ 

87  =  3,4    „ 

XXVI.  Katholische  Geistliche 

3   „ 

95  =  3,15  „ 

XXVII.  Fleischer 

4  „ 

110  =  8,6    „ 

XXVm.  Familienmitglieder 

1    ,. 

•  30  =  3,3    „ 

XXIX.  Dorfbewohner 

2  „ 

80  =  2,5    „ 

XXX.  Bezirksbewohner 

5   „ 

372  =  1,3    „ 

I 


132  von  6611  =  1,99  7^. 


B.  Umfragen. 


I.  Die  Charlottenburger  Studentenenquete. 

Den  Gegenstand  unserer  ersten  Rundfrage  bildeten 
3000  Studierende  der  Technischen  Hochschule  zu  Ghar- 
lottenburg.  Es  handelte  sich  hier  um  eine  abgegrenzte, 
in  vieler  Hinsicht  gleichartige,  verhältnismäßig  auf  hoher 
geistiger  Stufe  stehende  Personengruppe,  deren  Tätigkeit 
ebenso  sehr  im  wissenschaftlichen,  wie  im  praktischen 
Leben  wurzelt,  ein  im  allgemeinen  gesunder,  kräftiger, 
unverkünstelter  Menschenschlag,  der  daher  für  eine 
voraussetzungslose  naturwissenschaftliche  Untersuchung 
besonders  geeignet  erschien. 

Wir  sandten  in  geschlossenem  undurchsichtigen 
Umschlag,  an  jeden  persönlich  adressiert,  an  sämtliche 
Personen  mit  gleicher  Post  das  folgende  Schreiben  ab: 


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—     137     — 

Rundfrage  des  wiBsenschaftlich-hnmanit&ren  Komitees. 

Charlottenbarg,  Dezember  1908. 

Sehr  geehrter  Herr! 

Das  unterzeichnete  Komitee  hat  sich  die  Aufgabe  gestellt, 
einige  Fragen  auf  dem  Gebiete  der  Sexualpsychologie  wissen- 
schaftlich zu  erforschen. 

Die  Ergebnisse  unserer  Enquete  werden  voraussichtlich  nicht 
nur  von  theoretischem  Interesse,  sondern  auch  von  praktischer 
Bedeutung  sein,  da  sie  früher  oder  später  auf  die  Gesetzgebung, 
auf  das  soziale  Urteil  und  somit  auf  das  Schicksal  eines  erheblichen 
Teiles  imserer  Bevölkerung  von  Einflufi  sein  werden. 

Da  es  sich  um  eine  statistische  Feststellung  handelt,  so  kann 
die  Aufgabe  nur  auf  dem  Wege  der  Sammel forsch ung  gelöst 
werden,  und  da  das  Objekt  der  beabsichtigten  Feststellung  im 
subjektiven  Empfindungsleben  liegt,  so  muß  eine  für  die  Zwecke 
der  Statistik  hinreichende  Zahl  von  Personen  zu  freiwilliger  und 
wahrheitsgemäßer  Auskunft  tlber  den  Inhalt  ihres  intimen  Trieb- 
lebens gewonnen  werden. 

Wenn  wir  uns  mit  dieser  Rundfrage  zuvörderst  an  die  aka- 
demische Jugend  wenden,  so  geschieht  es,  weil  wir  bei  ihr  den 
sittlichen  Ernst,  die  Bereitwilligkeit  und  die  Fähigkeit  sicher 
voraussetzen  dürfen,  auf  welche  wir  bei  dieser  Enquete  unbedingt 
rechnen  müssen. 

Die  Hauptfrage,  welche  wir  Ihnen  vorlegen,  ist  folgende: 

Richtet  sich  Ihr  Liebestrieb  (Geschlechtstrieb)  auf 
weibliche  (W),  männliche  (M)  oder  weibliche  und  männ- 
liche (M+  W)  Personen? 

Wir  bitten  Sie,  diese  Frage  auf  einliegender  Postkarte 
durch  bloßes  Durchstreichen  und  Unterstreichen  der  Buchstaben 
^  und  M  möglichst  bald  und  vor  allem  streng  wahrheits- 
gemäß zu  beantworten.  Namen  bitten  wir  nicht  zu  nennen,  da- 
gegen das  Alter  durch  Unterstreichen  der  zutreffenden  Zahl  zu 
bezeichnen. 

Zu  besonderem  Dank  würden  Sie  uns  durch  anderweitige 
briefliche  Mitteilungen  aus  Ihrem  Sexualleben  verpflichten,  be- 
sonders wenn  Sie  glauben,  daß  dieses  von  der  Norm  abweicht 
und  daher  von  wissenschaftlichem  Interesse  ist  Wir  bitten  jedoch 
auch  in  diesem  Falle  um  baldigste  Ausfüllung  und  Absendung 
der  beigefügten  Karte. 


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—     188     — 

Indem  wir  hoffen,  daß  Sie  die  kleine  Mühe  nicht  scheuen 
werden,  zur  wissenschaftlichen  Lösung  dieser  Probleme  beizutragen, 
zeichnet,  auf  Wunsch  gern  zu  weiteren  Auskünften  erbötig,  unter 
Zusicherung  strengster  Diskretion 

Hochachtungsvoll 

für 

das  Wissenschaftlich-humanitäre  Komitee 

Dr.  med.  Hirschfeld. 

Die  beigefügte  Antwortkarte,  welche  weder  auf  der 
Vorder-,  noch  aaf  der  Rückseite  mit  geheimen  Zeichen 
versehen  war,  hatte  folgendes  Aussehen: 


W.  M.  W.  +  M. 


16,  17.  18.  19.  20.  21.  22.  23.  24.  25.  26.  27.  28.  29.  30. 


Von  den  3000  Briefen  kamen  103  als  unbestellbar 
(„unbekannt  verzogen",  „nicht  zu  ermitteln")  zurück,  von 
den  2897  Herren,  welche  in  den  Besitz  der  Anfrage  ge- 
langten, trafen  1756  Autwortkarten  ein;  von  diesen 
mußten  60  als  fraglich  oder  unbrauchbar  ausgeschieden 
werden,  von  den  übrigen  1696  hatten  1593  das  W.,  26 
das  M.,  77  das  W.  +  M.  in  völlig  einwandfreier  Weise 
unterstrichen;  das  W,  +  M.  war  von  den  meisten  gleich- 


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—     139     — 

mäßig  unterstricheiiy  Yon  einigen  wenigen  war,  ohne  daß 
danach  gefragt  war,  daa  W.  oder  das  M.  durch  zwei 
oder  mehrere  Striche  stärker  hervorgehoben  worden.  Es 
erklärten  sich  demnach  als 

heterosexuell  1593  von  1696  ==  94,0^0» 

homosexuell  26     „     1696  =     1,5  „ 

bisexuell  77     „     1696  «    4,5  „ 

abweichend  103     „     1696=    6,0  „. 

Es  mußte  uns  von  Tornherein  klar  sein,  daß  trotz 
größter  Vorsicht  unser  Schritt  —  der  einzig  gangbare 
und  mögliche  Weg  zur  Erhaltung  zuverlässiger  Resultate 
—  auf  Verkennungen  und  Widerstände  stoßen  würde. 
In  der  Tat  blieben  Anfeindungen  nicht  aus.  Namentlich 
die  reaktionäre  Presse  schleuderte  heftige  Angriffe  gegen 
uns,  bezeichnete  die  Bundfrage  als  eine  „Unverschämt- 
heit", als  eine  ,3el6idigung",  „Belästigung",  „Verführung" 
der  akademischen  Jugend.  Die  „Staatsbürgerzeitung" 
(Tom  11.  Dezember  1903)  schrieb:  „Dr.  Hirschfeld  er- 
dreistet sich  in  dem  Bundschreiben,  die  jungen  Leute, 
die  Gott  sei  Dank  bisher  gar  keine  Ahnung  von  solchen 
widernatürlichen  Dingen,  hatten,  erst  darauf  zu  bringen, 
sie  zum  Nachdenken  anzureizen,  und  die  weiteren  Folgen 
kann  man  sich  dann  wohl  von  selbst  ausmalen."  Die 
„Deutsche  Tageszeitung"  (12.  Dezember  1903)  schrieb: 
„Wir  sind  der  Meinung,  daß  in  einer  solchen  Anfrage 
eine  Beleidigung  enthalten  ist  und  daß  die  Studenten 
gegen  das  „Wissenschaftlich-humanitäre  Komitee"  Klage 
erheben  sollten,  damit  diesem  unerhörten  Unfug  ein 
Ende  bereitet  werde."  Dabei  kam  es  den  Blättern  auf 
sachliche  Unrichtigkeiten  wenig  an,  so  berichteten  sie, 
die  Bundfrage  sei  „anscheinend  in  Hunderttausenden 
von  ikemplaren",  ferner,  sie  sei  „der  Billigkeit  wegen 
natürlich  in  offenem  Umschlag"  verschickt  worden.    Ein 


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—     140    — 

Volksredner  drückte  sein  Erstaunen  ans,  daß  ,;die 
Studenten  nicht  dem  Dr.  Hirschfeld  die  Fenster  einge- 
worfen hätten",  das  Stärkste  aber  leistete  sich  ein  Pastor 
Philipps,  welcher  in  einer  von  ihm  zum  Kampfe  gegen 
die  Unsittlichkeit  einberufenen  Studentenversammlung  im 
Langenbeckhause  (dem  Hause,  das  nach  dem  Arzte  seinen 
Namen  führt,  welcher  sich  mit  Virchow  als  einer  der 
ersten  und  eifrigsten  gegen  die  Bestrafung  der  Homo- 
sexuellen gewandt  hatte)  „zwei  Attentate  auf  die  studen-  . 
tische  Ehre"  zur  Sprache  brachte;  das  eine  rühre  von 
einem  gevdssen  Dr.  Hirschfeld  her,  welcher  an  die 
Studentenschaft  einen  Fragebogen  verschickt  habe,  auf 
dem  die  Adressaten  angeben  sollten,  ob  sich  ihre  Neigung 
in  natürlicher  oder  nicht  vielmehr  in  unnatürlicher 
Bichtung  bewege,  das  andere  Attentat  sei  das  massen- 
hafte Angebot  einer  Firma,  welche  ein  Vorbeugungs- 
mittel gegen  ansteckende  Krankheiten  fabriziere.  „Die 
Versammlung  erhebt"  —  so  heißt  es  in  dem  veröffent- 
lichten Protest  —  „gegen  die  Zusendung  solcher  Schänd- 
lichkeiten einmütig  und  feierlich  den  allerentschiedensten 
Widerspruch  und  fordert  sämtliche  Kommilitonen,  denen 
solche  ehrenrührige  Sendungen  zugegangen  sind,  dringend 
auf,  dem  Vorstand  des  Akademischen  Vereins  Ethos, 
Charlottenburg,  Schlüterstraße  70,  ihre  Namen  mitzuteilen, 
um  dann  gemeinschaftlich  bei  der  Kgl.  Staatsanwaltschaft 
gegen  die  Urheber  der  Sendungen  die  Beleidigungsklage 
zu  erheben,  damit  in  Zukunft  solchem  schnöden  Treiben 
wirksam  vorgebeugt  werde." 

Es  waren  diese  und  ähnliche  Angriffe  gewiß  recht 
schmerzhafte  Nebenwirkungen,  doch  durfte  ich  mir  nicht 
verhehlen,  daß  sich  Wahrheitssucher  oft  zur  Erreichung 
ihres  Zieles  ungleich  größeren  Widrigkeiten  aussetzen 
mußten.  Was  haben  Forschungsreisende  auf  sich  ge- 
nommen, um  ein  neues  Stück  Land  dem  Wissen  zu  er- 
schließen,   und    war    nicht    auch    unser  Vorgehen   eine 


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—     141     — 

Forschungsreise  in  ein  bisher  der  Kenntnis  entzogenes 
Gebiet?  Vor  allem  dachte  ich  an  Semmelweis  (1818 
bis  1865),  dessen  statistische  Ermittelungen  über 
die  Ursache  des  Eindbettfiebers  —  eine  Veröffentlichung, 
die  Tausenden  das  Leben  rettete  —  als  ;,Denunziation<< 
erklärt  wurden.  Die  Hebeammen  und  Ärzte,  deren 
schlecht  gereinigten  Händen  und  Instrumenten  er  die 
Hauptschuld  an  der  großen  Verbreitung  der  Krankheit 
beimaß,  ruhten  nicht  eher,  als  bis  der  kühne  Forscher 
seines  Amtes  entsetzt  wurde.  Als  er  tot  war,  erkannte 
man  das  außerordentliche  Verdienst  des  Mannes  an,  die 
Fachgenossen  setzten  ihm  ein  Denkmal  und  Hegar^) 
prägte  auf  ihn  das  Trostwort:  ,,DerWert  und  das  Verdienst 
einer  jeden  neuen  Wahrheit  ist  um  so  größer,  je  weiter 
sie  über  das  Niveau  der  zur  Zeit  ihrer  Entdeckung 
herrschenden  Ansichten  und  Lehren  hinausgeht«') 

Ich  gestehe  offen,  daß  mich  diese  und  ähnliche  Er- 
innerungen weniger  emporhoben  als  niederdrückten.  Wohl 


^)  A.  Hegar,  L  F.  Semmelweis,  Sein  Leben  und  seine 
Lehre,  Freiburg  i.  B.,  1882.  Vgl.  auch  Brack,  Ignai  Philipp 
Semmelweis,  Wien  u.  Teschen,  1887,  sowie  vor  allem  Semmel- 
weis* viel  angefeindetes  Hauptwerk  Die  Ätiologie,  der  Be- 
griff and  die  Prophylaxis  des  Kindbettfiebers,  1861. 
Seine  Fachgenossen  gelangten  erst  durch  die  Pasteurschen  Ent- 
deckangen  and  List  er  sehen  Lehren  dahin.  Semmelweis*  grofi- 
artige  wissenschaftliche  Leistungen  voll  zu  würdigen. 

*)  Ab  ich  Obiges  schrieb,  war  ich  noch  nicht  wegen  der 
Enquete  in  Anklagezustand  versetzt  worden.  Erst  nach  Fertig- 
stellung des  Manuskripts,  dessen  Text  daraufhin  nicht  geändert 
ist,  hat  die  Staatsanwaltschaft  auf  Antrag  der  Studenten  Walter 
Gh>etze,  K.  Lange,  B.  Senkpiel,  W.  Jakobi,  Hans  Heinze  und 
Hans  Wrede  (6  von  8000  Befragten)  die  Anklage  erhoben,  indem 
sie  in  dem  mitgeteilten  Rundschreiben  eine  Beleidigung  und  Ver- 
breitung unzüchtiger  Schriften  erblickte.  Wie  das  Urteil  aus- 
fallen wird,  weiß  ich  nicht,  das  aber  weiß  ich,  daß  dieses  Urteil 
nicht  bloß  mir,  sondern  auch  dem  entscheidenden  Gerichtshof  und 
der  Zeitepoehe  gesprochen  wird. 


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—     142     — 

wußte  ich  zur  Ehre  meiner  Widersacher,  daß  ihre  Trieb- 
feder nicht  böser  Wille,  sondern  mangelnde  Erkenntnis 
ist,  aber  ich  wußte  auch,  daß  nur  zu  oft  Ignoranten  und 
Obskuranten  die  Werke  der  Wahrheitssucher  störten  und 
zerstörten.  Ich  will  aus  den  Beschimpfungen  meiner 
Gegner  herauslesen,  was  an  tatsächlichen  Einwendungen 
in  ihnen  enthalten  ist,  um  zu  zeigen,  wie  ungerechtfertigt 
ihre  Schlüsse  sind. 

Die  Bundfrage  soll  eine  Beleidigung  sein. 

Schließt  nicht  der  ernste  und  wissenschaftliche 
Charakter  unserer  Fragen,  ihre  sorgsame  Begründung, 
schließt  nicht  der  Name  und  die  Tätigkeit  des  wissen- 
schaftlich-humanitären Komitees  diese  Annahme  Ton  vorn- 
herein aus?  Wir  fragten  auch  nicht  nach  der  Betätigung, 
nach  einer  strafbaren  Handlung,  sondern  lediglich  nach 
der  EichtuDg  des  Geschlechtstriebes,  nach  der  wirk- 
lichen Zuneigung.  Es  kommt  hinzu,  daß  die  Ant- 
wortkarten auf  die  geschlossen  versandten  Briefe  ohne 
Namennennung,  ohne  jedes  Schriftzeichen  zurück- 
erbeten wurden,  sodaß  vollkommen  die  Möglichkeit  ge- 
nommen war,  die  abweichend  gearteten  Persönlichkeiten 
herauszukennen.  Nahm  trotzdem  und  alledem  der  eine 
oder  andere  Herr  ein  Ärgernis,  so  war  dies  gewiß  zu 
bedauern;  wie  kleinlich  mußte  aber  dieses  Gefühl  der 
Kränkung  gegenüber  einer  Arbeit  erscheinen,  von  der 
ein  Biologe  sagte  —  ob  mit  Recht,  wage  ich  nicht  zu 
entscheiden  —  daß  ihre  Ergebnisse  in  der  Geschichte 
der  Anthropologie  —  der  Wissenschaft  vom  Menschen  — 
eine  dauernde  Stätte  behalten  werden.  Eine  besondere 
Freude  gewährte  es  uns,  daß  viele  studentische  Kreise, 
vor  allem  auch  die  „Allgemeine  deutsche  üniversitäts- 
zeituDg'',  die  Bedeutung  der  Rundfrage  voll  anerkannten; 
so  schrieb  in  No.  3  derselben  (1.  Februar  1904)  ein  Jurist 
unter  anderem:  „Laut  der  Charlottenburger  Enquete  er- 
klärten sich  über  47,7^  flLr  bisexuell  und  über  lVi7o 


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—     143     — 

für  homosexuell,  also  6,0  7o  ^  anormal  oder  fast  ^/^^ 
der  Auskunftgeber.  Bei  uDgefähr  60  Millionen  Ein- 
wohnern des  Deutschen  Reiches,  wovon  knapp  30  Millionen 
männlich  sind,  ergäbe  ^/^^  fast  2  Millionen.  Nach  Abzug 
der  Kinder  und  alten  Leute  verbliebe  eine  Million,  sogar 
reichlich.^)  Soll  diese  warten,  bis  die  hinter  die  Re- 
vision der  neueren  Strafjprozeßordnung  wunderbarerweise 
zurückgesetzte  viel  nötigere  Revision  des  viel  älteren 
Strafgesetzbuchs  den  §  175  verbessert  oder  beseitigt? 
Man  schätzt  diese  Zeit  auf  15  Jahre.  Inzwischen  wandern 
Tausende  ins  freiere  Ausland,  Holland,  Fraukreich, 
Italien  usw.  aus  oder  sterben  Hunderttausende  im  geheimen 
Groll  gegen  das  sie  knechtende  Vaterland.  Mein  Vor- 
schlag geht  daher  dahin:  „Inzwischen  möge  die  juristische 
Theorie  und  Praxis,  vor  allem  das  Reichsgericht,  seine 
weite  Auslegung  des  §  175  aufgeben  und  zu  derjenigen 
engeren  des  früheren  höchsten  preußischen  Oerichtshofes, 
des  Obertribunals,  über  denselben  §  175  zurückkehren, 
wie  sie  in  den  Entscheidungen  des  Obertribunals  vom 
6.  und  28.  November  1873  ersichtlich  ist.  (Zu  finden  in 
„Deutsche  Strafrechtspraxis  von  Pezold,  Stiegele  und  Köbn", 
Stuttgart  1877,  Bd.  I,  S.  152,  Note  2  zu  §  175.)'"*  Wenn  der 
akademische  Verein  Ethos  inCharlot'enbnrg  seinen  Protest 
gegen  die  Enquete  im  Namen  der  „Berliner  Studenten- 
schaft" erhebt,  so  ist  das  um  so  unverständlicher  gegen- 
über solchen  Zustimmungen  und  gegenüber  der  Tatsache, 
daß  weit  über  die  Hälfte  der  angefragten  Studenten 
(1696  von  2897  =  58,5  7^)  unsere  Frage  in  völlig  sach- 
gemäßer, korrekter  Weise  beantwortete  und  nur  von  60 


*)  Hier  fugt  der  Heraasgeber,  Geh.  SanitÄtarat  Dr.  Konrad 
Küster,  hinzu:  „Die  Zahl  der  Gleichgeschlechtlichen  ist  noch 
eine  viel  größere,  da  das  weibliche  Geschlecht  außer  Betracht 
gelassen  ist.  Auch  bei  diesem  sind  viele  Homosexuelle  vorhanden. 
Die  Gesetzgebung  hat  sie  glücklicherweise,  wohl  aus  Unkenntnis, 
unberücksichtigt  gelassen." 


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—     144     — 

(8,4  7o  der  Auskunftgeber  =  60  von  1756  und  2,0  7^ 
der  Angefragten  =  60  von  2897)  unbrauchbare  Ant- 
worten einliefen,  darunter  nur  wenige  ungeziemenden 
oder  unanständigen  Inhalts. 

Die  Umfrage  soll  eine  Verführung  der  Jugend  in- 
volvieren, junge  Leute  sollen  durch  die  Enquete  erst  auf 
die  Homosexualität  gebracht  werden. 

Ob  wohl  durch  eine  Statistik  über  die  Verbreitung 
der  Farbenblindheit  schon  jemand  farbenblind  geworden 
ist?  Solange  dies  nicht  der  Fall,  halte  ich  es  für  aus- 
geschlossen, daß  jemand  durch  die  Frage,  ob  er  homo- 
sexuell sei,  homosexuell  geworden  ist  Man  muß  sehen, 
mit  welcher  Bestimmtheit  und  Sicherheit  die  94  ^^/^  der 
Studenten  und  die  96^0  der  Metallarbeiter  ihr  TT  unter- 
streichen, wie  viele  ihr  äußerstes  Erstaunen  über  die 
bloße  Denkbarkeit  einer  anderen  Richtung  äußern,  mit 
welcher  Entschiedenheit  und  Einfachheit  auf  der  anderen 
Seite  die  67o  bezw.  4%  das  M  oder  M+W  markieren, 
um  inne  zu  werden,  daß  es  die  Stimme  der  Natar  ist, 
die  uns  hier  entgegentritt 

Wäre  tatsächlich  die  Richtung  des  Oeschlechtstriebes 
etwas  so  Schwankendes,  daß  sie  durch  eine  Anfrage  um- 
gewandelt werden  könnte,  so  wäre  wohl  niemand  froher, 
als  der  Homosexuelle,  der  dann  gewiß  alle  Aussicht 
hätte,  seine  ihm  so  beschwerliche  Triebrichtung  loszu- 
werden. In  Wirklichkeit  aber  verhält  es  sich  anders, 
in  Wirklichkeit  ist  die  HeteroSexualität  etwas  absolut 
Konstantes,  ebenso  wie  die  Homo-  und  Bisexualität, 
konstant  nicht  nur  für  die  Einzelperson,  sondern  höchst- 
wahrscheinlich auch  für  die  Gesamtbevölkerung. 

Die  Tatsache,  daß  bei  unserer  zweiten  Enquete  die 
Fragestellung  im  Perfectum  („Hat  sich  Ihr  Trieb  ge- 
richtet?") den  Prozentsatz  derjenigen,  welche  sich  für 
beide  Geschlechter  bekannten,  nicht  vermehrte  gegenüber 
unserer   ersten  Enquete,   bei  der  im  Präsens  („Richtet 


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—     145     - 

sich  Ihr  Trieb?'')  angefragt  war,  dieses  Ergebnis  ist  ein 
weiterer  Beweis  dafbr,  daß  der  sexuelle  Ergänzungstrieb 
eine  in  ihrer  Richtung  der  Persönlichkeit  Ton  Geburt 
an  adhärente^  unveräußerliche  Eigentümlichkeit  ist,  welche 
weder  dadurch^  daß  man  sie  erklärt^  noch  dadurjh,  daß 
man  sie  statistisch  feststellt,  geändert  wird. 

Die  Antworten  sollen  unzuverlässig,  der  Wahrheit 
nicht  entsprechend,  nicht  ernst  zu  nehmen  sein. 

Wir  bemerken  hierzu,  daß  sämtliche  Karten,  die 
auch  nur  im  geringsten  zweifelhaft  erschienen,  außer 
Berücksichtigung  gestellt  worden  sind.  Es  wurden  nur 
diejenigen  in  Berechnung  gezogen  —  und  das  war 
die  übergroße  Mehrzahl,  96,4^/^  —  welche  die  Buch- 
staben in  gewünschter  Weise  mit  Strichen  versehen 
hatten,  femer  solche,  welche  das  Zeichen  ihrer  Neigung 
—  und  zwar  war  dieses  fast  ausnahmslos  das  W  —  an- 
statt einfach  doppelt  bis  zehnfach  unterstrichen  oder 
umrahmt  hatten,  endlich  auch  die,  welche  Zusätze  bei- 
fügten (etwa:  „Vivant  omnes  virgines!"  oder  „3f  mir 
einfach  unverständlich''),  aus  denen  die  beabsichtigte 
Antwort  sicher  hervorging.  Wer  sich  einen  Witz  er- 
lauben wollte,  gab  dies  auch  in  mehr  oder  minder 
gelungener  Form  deutlich  zu  erkennen,  ein  Spaß,  der 
lediglich  darin  bestanden  hätte,  auf  einer  anonymen  Karte 
den  Strich  unter  einem  nicht  der  Wahrheit  entsprechenden 
Buchstaben  .anzubringen,  erscheint  schon  deshalb  aus- 
geschlossen, weil  einem  solchen  Scherz  jedes  charakteri- 
stische Zeichen  eines  Witzes  mangeln  würde  und  der  Zweck, 
Heiterkeit  zu  erzielen,  unmöglich  erreicht  werden  könnte. 
Die  völlig  sachgemäße  und  ernste  Art  der  Beantwortung 
bei  58,5  %  entsprach  nicht  nur  der  ernsten  Art  der  Frage, 
sondern  auch  der  Aufnahme,  welche  nach  unseren  ein- 
gehenden Erkundigungen  die  Rundfrage  bei  der  über- 
großen Majorität  der  Studenten  gefunden  hatte.  Oerade 
die  Karten   heterosexueller  Studenten   enthielten   häufig 

Jfthrbueh  VI.  10 


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-     146     — 

Zusätze,  wie  ,,Den  menBchenfreandlichen  Bestrebungen 
wünsche  vollen  Erfolg!"  oder  „Wünsche  Ihrer  humanitären 
Enquete  die  besten  Erfolge'*;  in  ähnlichem  Sinne  äußerte 
sich  auch  eine  Beihe  von  Zuschriften  aus  den  Kreisen 
der  Befragten,  vor  allem  aber  teilten  uns  zahlreiche 
Studenten,  in  erster  Linie  zwei  Assistenten  der  Techni- 
schen Hochschule  mit,  daß  in  den  Hör«  und  Zeichensälen, 
innerhalb  der  Verbindungen,  an  Stammtischen^  in  Kneipen 
und  Studentenheimen  die  Rundfrage  sehr  viel  besprochen 
wurde,  und  zwar  häufig  scherzhaft,  daß  aber  doch  fast 
überall  auch  der  Ernst  des  Gegenstandes  und  die  Pflicht 
hervorgehoben  wurde,  wahrheitsgemäße  Antworten  zu  er- 
teilen. ^) 


^)  Wie  die  Enquete  in  Arbeiterkreisen  aufgenommen  wurde, 
zeigt  u.  a.  der  Brief  eines  Metallarbeiters,  aus  dein  ich  die  Haupt- 
stelle gleich  hier  wiedergeben  möchte: 

„Nun  habe  ich  in  diesen  Tagen  durch  die  Tageszeitungen 
erfahren  müssen,  daß  die  Enquete  zu  einer  Klage  gegen  Sie  Ver- 
anlassung gegeben  hat,  weil  die  Leute  durch  Ihre  diskrete  Anfrage 
in  ihrem  SittlichkeitsgefÜhl  verletzt  sein  wollen.  Ich  möchte  hier 
ab  Arbeiter  mit  Huß  sagen:  „0  heilige  Einfalt !'^  Wie  glücklich 
in  dieser  Beziehung  sind  doch  wir  „einfältige^'  Arbeiter;  denn 
ich  kann  wohl  sagen,  daß  die  Enqaete  unter  den  Arbeitern  durch- 
wegs als  das  gewürdigt  wurde,  was  sie  sein  soll  und  ist.  nämlich : 
Eine  wissenschafüiche  Forschung. 

Mein  Bekanntenkreis  unter  den  von  der  Enquete  betro£feneu 
Arbeitern  ist  ein  ziemlich  großer  und  ich  kann  wobl  sagen,  daß 
unter  diesen  allen  sich  auch  kaum  einer  gefunden  hat,  der  nach 
dem  übersandten  Anschreiben  der  Enquete  so  verständnislos 
gegenübergestanden  hätte,  daß  er  diese  nicht  als  eine  wissenschaft- 
liche Arbeit  angesehen  und  bezeichnet  hätte.  Wohl  fanden  sich 
einige,  welche  es  für  die  Arbeiterschaft  als  überflüssig  be- 
zeichneten, solche  Feststellungen  vorzunehmen,  jedoch  haben  Ihre 
7t  stündigen  Ausführuugen  in  der  Dreher  Versammlung,  sowie  kurze 
erläuternde  Diskussionen  von  den  Kollegen,  welche  von  der 
Wichtigkeit  der  homosexuellen  Frage  schon  einmal  rauschen  hörten, 
diese  Zweifler  in  fast  allen  Fällen,  die  mir  zu  Gehör  kamen, 
schnell  überzeugt,  so  daß  ich  wohl  behaupten  kann,  die  denkende 


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—     147     — 

Wenn  gleichwohl  ein  verhältnismäBig  nicht  kleiner 
Teil  der  Studenten,  nämlich  1141  von  2897  »  39,3  7^, 
überhaupt  keine  Antwort  erteilte,  so  läßt  sich  dies  aus 
Indifferenz,  Abneigung,  Unverständnis,  Nachlässigkeit 
( —  wollten  antworten,  aber  kamen  nicht  dazu,  verlegten 
die  Karte,  vergaßen,  sie  in  den  Kasten  zu  stecken  usw.  — ) 
und  vor  allem  aus  dem  Mißtrauen  der  Befragten  erklären, 
Eiigenschaften,  mit  denen  bei  jeder  Enquete  gerechnet 
werden  muß.  Ein  erfahrener  Statistiker  teilte  mir  mit, 
daß  bei  den  harmlosesten  Umfragen  —  es  gilt  dies  bei- 
spielsweise  auch  bei  Arbeitslosen-Statistiken  —  bei  nicht 
wenigen  der  Beteiligten  ein  unüberwindlicher  Verdacht 
besteht,  es  könnten  ihnen  aus  der  Antwort  Weiterungen 
irgend  welcher  Art  erwachsen.  Das  anonyme  Verfahren 
schließt  diesen  Argwohn  nicht  ans;  so  meinten  Ver- 
schiedene, die  Karten  könnten  in  unauffälliger  Weise 
gekennzeichnet,  etwa  nummeriert  sein.  Ein  Herr  schrieb: 
„Das  Wasserzeichen  in  Ihrer  geehrten  Postkarte  werden 
wohl  manche  als  geheimes  Erkennungszeichen  ansehen.^' 
Tatsächlich  hatten  alle  unsere  Karten  das  gleiche  von 
der  Behörde  vorgesehene  Wasserzeichen.  Ein  umischer 
Student  schrieb  am  Tage  nach  der  Versendung  sehr 
verängstigt,  wer  uns  denn  seine  Adresse  und  Anlage 
verraten  hätte.  Will  man  die  Möglichkeit  einer  gelegent- 
lichen falschen  Angabe  aufrecht  erhalten,  so  ist  es  jeden- 
falls naheliegender,  daß  einmal  ein  Homosexueller  in 
seiner  Furcht  das  W  unterstreicht,  als  daß  ein  Normal- 
sexueller sich  für  mannliebend  erklärt. 

Man  kann  aus  der  Scheu  und  Ängstlichkeit,  die  bei 
den  Homosexuellen  ganz  sicher  ungleich  größer  ist,  als  bei 

Arbeiterschaft  Berlins  versteht,  was  wissenschaftliche'  Arbeit  ist, 
und  wird  stets  geneigt  sein,  die  Wissenschaft  durch  ihre  Mitarbeit, 
soweit  dies  möglich  ist,  zu  unterstützen,  und  das  dürfte  nicht  zu 
unterschätzen  und  speziell  für  Sie  und  Ihr  humanitäres  Streben 
nicht  ohne  Interesse  sein.'^ 

10* 


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—     148     — 

den  Normalen,  mit  Recht  folgern,  daß  sich  auch  unter 
den  Schweigsamen  noch  eine  ganze  Anzahl  verschämter 
Urninge  befindet;  einen,  der  die  Rundfrage  nicht  beant- 
wortete, weil  er  seinen  Argwohn  nicht  überwinden  konnte, 
haben  wir  später  persönlich  kennen  gelernt. 

Es  ist  dieser  umstand  wohl  zu  beachten  gegenüber 
dem  Einwand,  der  erhoben  wurde,  daß  die  Zahl  der 
Nichtbeantworter  den  Wert  der  Enqueten  erheblich 
herabdrücke  und  daß  es  nicht  angängig  sei,  die  gefundene 
Prozentziffer  auf  die,  welche  keine  Auskunft  gaben,  zu 
übertragen. 

Auf  den  ersten  Blick  will  es  allerdings  scheinen, 
als  ob  die  Nichtbeantworter  sämtlich  heterosexuell  sein 
dürften,  da  die  Homosexuellen,  in  deren  Interesse  die 
Enquete  veranstaltet  wurde,  gewiß  alle  freudig  die  Ge- 
legenheit wahrnehmen  würden,  sich  einmal  in  so  ungefähr- 
licher Weise  zu  ihrer  Natur  zu  bekennen.  Wäre  dieses 
der  Fall,  wären  also  alle  Nichtbeantworter  normal,  dann 
müßten  wir  die  Zahl  der  Abweichenden  mit  der  Gesamt- 
zahl der  Befragten  verrechnen.  Auch  so  kämen  noch 
erkleckliche  Prozentzahlen  heraus,  nämlich: 

Homosexuell    26  von  2897  =  0,897^, 
bisexuell  77     „     2897  =  2,65  „ 

abweichend     103     „     2897  =  8,54  „  . 

Gegen  diese  Art  der  Berechnung  spricht  aber  außer 
der  obigen  Erwägung  noch  eine  weitere  Beobachtung. 
Würden  sich  die  Homosexuellen  in  der  Tat  so  unbe- 
denklich an  unseren  Feststellungen  beteiligen,  so  müßte 
der  Prozentsatz  der  M  sowie  der  if  +  TT  in  den  ersten 
Tagen  nach  Versandt  der  Karten,  deren  umgehende 
Rücksendung  erbeten  wurde,  besonders  hoch  sein;  er 
müßte  dann  nach  und  nach  entsprechend  dem  zu- 
nehmenden Übergewicht  der  W  bis  zum  Ende  des  Ein- 


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—     149    — 

laufes  der  Antworten  sinken.  Dies  ist  nun  aber  ganz 
nnd  gar  nicht  der  Fall,  wie  sich  aus  folgender  Vergleichung 
ergibt: 

L  Enquete. 
(Versandt  erfolgte  am  8.  XII.  1908.) 


Datum 


il 


M 


M 


M+  W 


Abnorme 


bi8l4.XII.0d. 
bis  1.  I.  04. 


1566 
1696 


1474  =  94,1% 
1593-94,0<»/o 


22-1,4«/, 

26  =  l,57o 


70-4,4Vo 
77  =  4,67o 


99  =  5,8% 
103  =  6,0% 


Der  besseren  Übersicht  halber  fügen  wir  hier  gleich 
eine  spezialisierte  Tabelle  bei,  welche  das  Steigen  und 
Sinken  der  Prozentzahlen  bei  unserer  zweiten  Enquete 
veranschaulicht 

n.  Enquete. 
(Versandt  erfolgte  am  27.  II.  1904.) 


Datum 

ZaU  der 

%  d.  Homo- 

% der 

•/o  der  Ab- 

Antworten 

sexuellen 

Bisexuellen 

weichenden 

29.    IL 

492 

1,42 

2,84 

4,26 

1.  III. 

918 

1,10 

2,42 

3,52 

2.  III. 

1244 

1,04 

2,64 

3,68 

4.  III. 

1568 

0,89 

2,93 

3,82 

8.  III. 

1800 

0,94 

2,98 

8,92 

11.  III. 

1845 

1,03 

2,98 

4,01 

16.  ra. 

1884 

1,17 

8,08 

4,25 

22.  m. 

1912 

1,15 

8,19 

4,84 

Betrachten  wir  diese  Tabellen,  so  sehen  wir,  wie 
beide  Male  vor  Abschluß  der  Enquete  die  Anzahl  der 
Abweichenden  etwas  in  die  Höhe  geht;   namentlich  bei 


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—     150     — 

den  Metallarbeitern  —  und  bei  den  Studenten,  wo  nicht  so 
genaue  Yergleichszahlen  aufgenommen  wurden,  war  es  nicht 
anders  —  zeigt  es  sich  deutlich,  daß  der  Prozentsatz  der  . 
Abweichenden  zuerst  ein  verhältnismäßig  hoher  ist,  daß  er 
dann  längere  Zeit  abnimmt,  um  gegen  Ende  wieder  er- 
heblich zu  steigen.  Daraus  geht  hervor,  daß  wir  bei  den 
Homo-  und  Bisexuellen  zwei  G^ruppen  unterscheiden 
können,  eine,  die  in  der  Tat  sofort  ihre  Karte  ausftillt 
und  absendet,  eine  andere,  die  zögert ,  zaudert  und 
zweifelt,  bis  sie  nach  tagelangem  Schwanken  zu  einem 
positiven  Entschluß  gelangt.  Dürfen  wir  danach  nicht 
annehmen,  daß  es  noch  eine  Beihe  von  Homosexuellen 
gibt,  bei  denen  die  Entscheidung  schließlich  nach  der 
negativen  Seite  ausschlägt? 

Man  wird  nach  allem  schwerlich  einen  Fehler  be- 
gehen, wenn  man  die  Prozentsätze  der  abweichend  ver- 
anlagten Personen  von  den  Auskunftgebern  auf  die 
Befragten  überträgt  Im  übrigen  mag  gern  zugegeben 
werden,  daß  die  Genauigkeit  der  Feststellungen  durch 
die  Zahl  der  Nichtbeantworter  leidet.  Wer  aber  darauf- 
hin unseren  Enqueten  den  Vorwurf  der  Ungenauigkeit 
macht,  dem  ist  zu  antworten,  daß  es  hier  auf  so  genaue 
Resultate  gar  nicht  ankommt.  E^n  recht  beherzigenswertes 
Motto,  das  den  fünfstelligen  Logarithmentafeln  Theodor 
Wittsteins  vorgedruckt  ist,  lautet:  ,)Der  Maugel  an  mathe- 
matischer Bildung  gibt  sich  durch  nichts  so  auffallend 
zu  erkennen,  als  durch  maßlose  Schärfe  im  Zahlenrechnen.'' 
Für  den  vorliegenden  Fall  ist  es  ziemlich  gleichgültig, 
ob  sich  der  Prozentsatz  der  Homosexuellen  etwas  über 
oder  unter  IVsVo  hefindet,  ob  der  der  Bisexuellen  ein 
Geringes  über  oder  unter  S^o  h^gt. 

Hätte  man  früher  die  Frage  aufgeworfen,  ob  die 
Zahl  der  Homosexuellen  nach  Hunderten  oder  Tausenden 
betrage,  so  hätte  niemand  darauf  eine  Antwort  geben 
können,   die  mehr  als  eine  unsichere  oder  höchst  will- 


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—     151     — 

kürliche  AnDahme  gewesen  ^äre.  Jetzt  wissen  wir,  daß 
wir  das  Verhältnis  der  Abweichenden  zu  den  sogenannten 
Normalen  nicht  nach  Promillen,  sondern  nach  Pro- 
zenten zu  beziffern  haben.  Das  Ergebnis,  daß  bei  allen 
Rundfragen  und  Stichproben  stets  eine  Zahl  gefanden 
wird,  die  innerhalb  derselben  Größenordnung, 
sogar  immer  in  der  Nähe  von  1,5^  1^,  gelegen  ist,  diese  außer- 
ordentliche Übereinstimmung  kann  unmöglich  auf  einem 
Zufall  beruhen,  sondern  muß  yon  einem  Gesetz  abhängig 
sein,  7on  dem  Naturgesetz,  daß  nur  90— 95^/^  der 
Menschen  als  normalsexuell  geboren  werden,  daß  ca.  V/^ 
bis  27o  Homosexuelle  —  also  in  Deutschland  ungefähr 
eine  Million  — ,  eine  für  die  Fortpflanzung  der  Art  unge- 
eignete besondere  Gruppe  der  Bevölkerung  bilden  und  daß 
als  Übergang  zwischen  den  Hetero-  und  Homosexuellen 
etwa  4^0  Bisexuelle  restieren. 


n.  Drs.  V.  Römers  Amsterdamer  Enquete. 

Ganz  besonders  auffallend  ist  die  Übereinstimmung 
unserer  Rundfrage  mit  den  Resultaten  einer  Enquete, 
welche  bereits  zwei  Jahre  zuvor  Dr".  v.  Römer,  als  er 
selbst  noch  in  Amsterdam  studierte,  in  etwas  anderer 
Form  und  bedeutend  kleinerem  Umfange  unter  seinen 
Kommilitonen  veranstaltete,  v.  Römer  legte  595  Studenten 
fünf  Fragen  vor,  unter  denen  die  vierte  lautete:  Fühlen 
Sie  geschlechtlich  für  Weiber,  Männer  oder  beide?  Die 
übrigen  Fragen  bezogen  sich  auf  das  Alter  der  Befragten, 
sowie  darauf,  ob  sie  der  Onanie  ergeben  waren,  ob  sie 
im  Pubertätsalter  gleichgeschlechtliche  Akte  verübt  hatten, 
endlich  ob  die  Neigung  bestand,  Freunde  zu  küssen. 
Hierzu  ist  zu  bemerken,  daß  der  Kuß  unter  männlichen 
Personen  in  Holland  ein  viel  selteneres  und  daher  be- 


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—     152     — 

deutungSYolleres  Vorkommnis  ist^  als  in  Deutschland. 
Die  Antworten  waren  mit  denselben  Ziffern  wie  die 
Fragen  versehen  und  sollten  durch  Unterstreichen  be- 
stimmter Antwortsmöglichkeiten  (wie  „ja",  „nein"  usw.) 
gegeben  werden. 

Von  595  antworteten  308  =  51,77^,  bei  uns  58,5  7^. 

Von  diesen  erklärten  sich  für 

heterosexuell  290  =  94,1 7^,  bei  uns  94,07^  oder  0,1 7o 

weniger, 
homosexuell     6=    1,97^,  bei  uns  1,57^  oder'0,47o 

weniger, 
bisexuell    12  =    3,9  7^,  bei  uns  4,5 7^  oder  0,67^ 

mehr, 
abweichend   18=    5,87^,  bei  uns  6,0 7^  oder  0,8 7^> 

mehr. 

Würde  man  annehmen,  daß  alle  Schweigenden 
heterosexuell  wären,  was  aber  bestimmt  nicht  zutrifft, 
wie  denn  auch  v.  Römer  selbst  später  unter  den  Nicht- 
beantwortern  Urninge  kennen  gelernt  hat,  so  wäre  das 
Zahlenverhältnis : 

Homosexuell  1,027^,  bei  un8  0,897o  oder 0,2 7^  weniger, 
bisexuell         2,01 7^,  bei  uns 2,65 7^  oderO,67^,   mehr, 
abweichend    3,037^,  bei  uns3,547o  oder 0,5 7^   mehr. 

Die  Übereinstimmung  zwischen  der  Charlottenburger 
und  Amsterdamer  Studentenenquete  beträgt  somit  über 
997o>  die  Abweichungen  an  keiner  Stelle  1,0  7o>  bei  den 
meisten  Zahlen  kaum  ^I^^/q.  Ich  meine,  wer  hier  von 
einem  Zufall  sprechen  wollte,  könnte  mit  dem  gleichen 
Recht  die  Ähnlichkeit  eineiiger  Zwillinge  für  eine  bloße 
Zufälligkeit  erklären,   welche  von  dem  Naturgesetz  der 


1 


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—     153     — 

Vererbung  unabhängig  seL  Dabei  legen  wir  natürlich 
kein  Gewicht  darauf,  daß  die  Abweichungen  so  außer- 
ordentlich geringfügig,  noch  nicht  einmal  YjVo  ^i^*^- 
Das  wird  wohl  Zufall  sein.  Die  Gesetzmäßigkeit  bliebe 
bestehen,  selbst  wenn  die  Abweichungen  zehnmal  so 
groß  wären.  Auch  bei  dem  yon  Oesterlen  an  59351000 
Geburten  ermittelten  Sexual  Verhältnis^)  von  106,3 
Knaben  zu  100,0  Mädchen  kamen  in  den  verschiedenen 
europäischen  Staaten  Schwankungen  von  107,2  bis  105,2 
zu  100,0  vor.  Was  will  dieser  kleine  Spielraum  von 
27o  besagen  gegenüber  der  imposanten  Eonstanz  dieser 
so  bedeutsamen,  in  ihren  Grundursachen  uns  noch  so 
völlig  unverständlichen  Verhältniszahl! 


m.  Metallarbeiterenquete. 

Hatten  wir  uns  mit  unserer  ersten  Rundfrage  an 
akademische  Kreise  gewandt,  so  traten  wir  mit  unserer 
zweiten  Enquete  an  die  Arbeiterklasse  heran.  Wir 
wünschten,  eine  Bevölkerungsschicht  zu  untersuchen, 
von  der  man  im  aligemeinen  annahm,  daß  in  ihr  das  homo- 
sexuelle Element  nur  schwach,*)  jedenfalls  sehr  viel 
weniger  vertreten  sei,  als  in  mittleren  und  höheren  Volks- 


^)  Als  Sexual  Verhältnis  bezeichnet  man  das  durch  die  Sta- 
tistik festgestellte  Verhältnis  der  geborenen  Knaben  und  Mädchen. 
Man  vgl.  besonders  Oesterlen,  Handbuch  der  medizinischen 
Statistik;  Goehlert,  Über  das  Sexualverhältnis  der  Ge- 
borenen, Sitzungsbericht  der  k.  Akademie  der  Wissen- 
schaften, XII,  Wien  1854;  auch  Sadler,  Law  of  population, 
London  1880.  Eine  gute  Literaturubersicht  über  den  Gegenstand 
findet  sich  in  dem  Artikel  Sexualverhältnis,  in  £ulenburgB 
Eeal-Encyklopädie,  IIL  Aufl.,  Bd.   XXII,  S.  417. 

•)  Vgl.  u.  a.  Näcke,  Jahrbuch  V,  I,  S.  197—198. 


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—     154     — 

schichten.  Aus  der  Erlasse  der  Lohnarbeiter  in  Marxschem 
Sinne  griffen  wir  die  in  Berliner  Fabriken  beschäftigten 
Eisen-,  Metall-  und  Eevolverdreher  heraus.  Wir 
wollten  eine  Abteilung  nehmen,  deren  Arbeit  so  be- 
schaffen ist,  daß  sie  der  darchschnittlichen  urnischen 
Konstitution  und  Individualität  nicht  besonders  Terlockend 
erscheinen  kann.  Beispielsweise  wäre  in  dieser  Hinsicht 
der  Goldarbeiter  ganz  anders  zu  bewerten  gewesen,  als 
der  Eisenarbeiter.  Gewerkschaftlich  organisierte  Männer 
hatten  zudem  den  Vorzug,  daß  bei  ihnen  eine  ernstere 
Lebensauffassung  yorausgesetzt  werden  durfte. 

Ein  bemerkenswerter  Unterschied  gegenüber  unserer 
ersten  Enquete  lag  in  dem  Umstände,  daß  es  sich  dieses 
Mal  nicht  um  eine  eng  begrenzte  Grappe  ziemlich  alters- 
gleicher, fast  ausnahmslos  lediger  Personen,  wie  bei  den 
Studenten,  handelte,  sondern  um  yerheiratete  und  un- 
verheiratete Leute  jeden  Alters,  vom  achtzehnten  bis 
über  das  sechzigste  Lebensjahr  hinaus. 

Ferner  fragten  wir  bei  dieser  zweiten  Umfrage  — 
es  geschah  dies  nach  sehr  eingehenden  Überlegungen  — 
nicht  wie  bei  der  ersten  im  Präsens  nach  der  Richtung 
des  Geschlechtstriebes,  sondern  zogen  die  Vergangenheit 
mit  in  die  Frage  hinein,  um  zu  ermitteln,  ob  sich  da- 
durch etwa  die  Zahl  derer,  welche  W  +  M  unterstrichen, 
erheblich  steigern  würde,  wie  das  von  denjenigen  unserer 
Freunde,  welche  der  Bisexualität  eine  besonders  große 
Rolle  zuschreiben,  vorausgesetzt  wurde. 

So  richteten  wir  denn  an  5721  Eisendreher,  deren 
Adressen  uns  von  dem  Verbände  deutscher  Metallarbeiter 
in  sehr  dankenswerter  Weise  zur  Verfügung  gestellt 
waren,  das  folgende  Anschreiben: 


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—     155     — 

Bundschreiben  des  WiBBenschaftlich-humanitären 
Komitees. 

Charlottenburg,  im  Februar  1904. 

Sehr  geehrter  Herr! 

Hiermit  erlaubt  sich  das  unterzeichnete  Komitee,  Sie  höflichst 
um  Ihre  Mitwirkung  bei  der  Beantwortung  einer  wissenschaftlichen 
Frage  zu  bitten. 

£s  ist  Ihnen  vermutlich  bereits  bekannt,  daß  sich  der  Liebes- 
trieb (Geschlechtstrieb)  zahlreicher  Männer  nicht  ausschließlich  auf 
Frauen,  sondern  teilweise  und  mitunter  sogar  ausschließlich  auf 
männliche  Personen  richtet.  Man  bezeichnet  solche  Männer  als 
teilweise  oder  gänzlich  „homosexuell'*  (gleichgeschlechtlich  ver- 
anlagt) und  nennt  die  Veranlagung  selbst  „Homosexualität"  (gleich- 
geschlechtliche Veranlagung).  Die  entsprechende  Erscheinung 
kommt  auch  unter  Frauen  vor. 

Während  wir  heute  wissen,  daß  die  Homosexualität  eine  an- 
geborene Eigentümlichkeit  darstellt,  welche  ebenso  unverschuldet 
wie  im  Allgemeinen  auch  unschädlich  ist,  und  während  im  Alter- 
tum diese  Liebe  mehr  oder  minder  öffentlich  anerkannt  und  bei- 
spielsweise von  griechischen  und  römischen  Dichtem  ebenso  un- 
befangen besungen  wurde  wie  die  Frauenliebe,  hat  sich  im  Mittel- 
alter der  Aberglaube  der  Sache  bemächtigt  und  sie  völlig  ver- 
dunkelt. Die  unwissenschaftlichen  Anschauungen  jener  Zeit  bildeten 
den  Ausgangspunkt  für  eine  ganz  übertriebene  Verpönung  der 
gleichgeschlechtlichen  Liebe  (Homosexualität),  deren  gröbere 
Formen  nach  dem  Aberglauben  jener  Jahrhunderte  Erdbeben,. 
Pest  und  andere  Himmelsstrafen,  wie  besonders  dicke,  gefräßige 
Feldmäuse,  erzeugen  sollten.  Daher  standen  auf  dem  homosexuellen 
Verkehr,  dem  sogenannteu  „Verbrechen  wider  die  Natur*',  die 
allerschwersten  Strafen,  in  Frankreich  der  Feuertod,  der  sonst 
nur  noch  wegen  zweier  anderer  eingebildeter  Verbrechen,  nämlich 
wegen  Ketzerei  und  wegen  Hexerei  verhängt  wurde.  Nach  dem 
friesischen  Bechte  wurde  zwischen  Selbstentmannung,  Lebendig- 
begraben und  Verbrennen  die  Wahl  gelassen. 

Die  Aufklärung  der  französischen  Revolution  hat  mit  jenen 
Paragraphen  aufgeräumt.  Sie  fehlen  bereits  in  den  Strafgesetz- 
büchern derjenigen  Länder,  in  denen  das  bleibende  gesetzgeberische 
Ergebnis  der  großen  Revolution,  der  „Code  Napoleon  (das  Napo- 
leonische Gesetzbuch),  Eingang  gefunden  oder  Einfluß  ausgeübt 
hat    In  anderen  Ländern,  wie  auch  in  Deutschland,  finden  sich 


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—     156     — 

jedoch  noch  Überreste  jener  vom  Aberglauben  erzeugten  Straf- 
androhungen vor,  obwohl  es  doch  klar  ist,  daß  durch  den  homo- 
sexuellen Verkehr  selbst  in  seinen  gröbsten,  nur  selten  vor- 
kommenden Formen  —  wenn  es  sich  um  freiwillige  Handlungen 
erwachsener  Personen  handelt  —  Niemandes  Rechte  verletzt 
werden  und  der  in  Wirklichkeit  angerichtete  Schaden  sogar  ge- 
ringer ist,  als  der  durch  den  außerehelichen  Geschlechtsverkehr 
mit  Frauen  entstehende.  Denn  dieser  vernichtet,  in  Verbindung 
mit  unseren  Sittlichkeitsanschaaungen,  zahlreiche  Frauenexistenzen 
und  ist  femer  die  Hauptqaelle  für  die  Verbreitung  der  Geschlechts- 
krankheiten. 

Die  Strafandrohung  des  §  175 ')  hat  praktisch  nur  die  Folge, 
daß  ein  besonderes  Erpressertum  großgezüchtet  worden  ist  und 
daß  jährlich  zahlreiche  Männer  aller  Bevölkerungsklassen  —  Männer, 
die  Niemandem  Etwas  zu  Leide  getan  haben  —  durch  Furcht 
vor  Schande  und  entehrender  Gefängnisstrafe  in  Verzweiflung  und 
nicht  selten  in  den  Tod  getrieben  werden. 

Mit  Eecht  sind  daher  viele  Blätter,  unter  ihnen  auch  die 
gesamte  Arbeiterpresse,  für  die  endliche  Ausmerzung  jenes  mittel- 
alterlichen Überbleibsels  eingetreten. 

Das  unterzeichnete  Komitee,  welches  sich  die  Aufgabe  ge- 
stellt hat,  das  Liebes-  und  Geschlechtsleben  des  Menschen,  ein- 
schließlich der  Homosexualität,  allseitig  und  vorurteilsfrei  wissen- 
schaftlich zu  erforschen,  wünscht  nun  gegenwärtig  vor  allem  die 
ungefähre  Zahl  der  Homosexuellen  in  Erfahrung  zu  bringen.  Es 
ist  klar,  daß  der  Prozentsatz  nur  durch  statistische  Enqueten  ge- 
funden werden  kann  und  daß  diese  nur  durch  Rundschreiben 
nach  Art  des  vorliegenden  ausfuhrbar  sind,  da  es  sich  ja  um  die 
Feststellung  von  Zuständen  des  inneren  Empfindungslebens  handelt. 
In  Anbetracht  der  Vorurteile,  welche  noch  vielfach  auf  dem  Gegen- 
stande lasten,  muß  sich  die  Forschung  zur  Erlangung  brauchbaren 
statistischen  Materials  an  solche  Volkskreise  wenden,  bei  denen 
die  moderne  Aufklärung  durchschnittlich  am  weitesten  vorge- 
schritten ist. 

Das  unterzeichnete  Komitee  hat  vor  einigen  Monaten  ein 
ähnliches   Rundschreiben   mit   Antwortkarten    an    ungefähr   8000 


^)  Der  §  175  des  Reichsstrafgesetzbuchs  lautet:  „Die  wider- 
natürliche Unzucht,  welche  zwischen  Personen  männlichen  Ge- 
schlechts oder  von  Menschen  mit  Tieren  begangen  wird,  ist  mit 
Gefängnis  zu  bestrafen;  auch  kann  auf  Verlu<3t  der  bürgerlichen 
Ehrenrechte  erkannt  werden.^'    (Note  des  Fragebogens.) 


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—     157     — 

Studierende  der  Technischen  Hochschnle  zn  Gharlottenburg  ver- 
sandt, mit  dem  Ergebnis,  daß  etwa  1700  geantwortet  haben,  von 
denen  sich  nicht  weniger  als  25  oder  l,5*^/o  als  rein  homosexuell, 
77  oder  4,5^0  ftls  teilweise  homosexuell,  zusammen  also  102  oder 
6®/o  als  abweichend  von  der  Regel  bekannt  haben.  So  wichtig 
dieses  Ei^ebnis  auf  alle  Ffllle  ist,  so  wird  es  doch  ein  wenig  durch 
den  Umstand  beeinträchtigt,  daß  immerhin  mehr  als  ein  Drittel 
der  Angeiragten  (fast  ISOO  von  3000)  nicht  geantwortet  hat  und 
daß  man  natürlich  nicht  mit  Sicherheit  wissen  kann,  ob  das  Pro- 
lentverbältnis  unter  den  Nichtbeantwortem  dasselbe  ist,  wie  unter 
den  Beantworten].  Man  darf  annehmen,  daß  die  meisten  der 
Nichtbeantworter  nur  auf  Grund  gewisser  prüder  Vorurteile  ihre 
keinerlei  Mühe  oder  Kosten  verursachende  Mitwirkung  an  einem 
Unternehmen  verweigert  haben,  welches  doch  offenbar  nur  der 
Wissenschaft,  der  Aufklärung  und  der  Gerechtigkeit  zu  Gute 
kommen  kann. 

Das  unterzeichnete  Komitee  hat  nunmehr  beschlossen,  sich 
an  die  freidenkende  Arbeiterschaft  Berlins  zu  wenden,  in  der  Er- 
wägung, daß  das  Vorurteil  dort  durchschnittlich  am  geringsten 
und  die  Zahl  der  Nichtbeantworter  demgemäß  am  kleinsten  sein 
durfte.  Den  Beruf  der  Dreher  haben  wir  deswegen  für  unsere 
diesmalige  Enquete  ausgewählt,  weil  die  Zahl  der  organisierten 
Dreher  in  Berlin  —  zwischen  5000  und  6000  —  unseren  Zwecken 
am  besten  entspricht 

Wir  bitten  Sie,  zu  bedenken,  daß  die  Lösung  dieser  Aufgabe 
einem  wissenschaftlichen  Zwecke  dient  und  auf  keinem  anderen 
Wege  möglich  ist,  als  auf  dem  hier  eingeschlagenen  der  direkten 
Befragung,  daß  sich  Niemand  zu  genieren  oder  Bedenken  zu 
tragen  braucht,  die  Antwortkarte  auszufüllen,  da  dies  nur  durch 
einfaches  Unterstreichen  des  Zutreffenden  erfolgt  und  somit  die 
völlige  Verschwiegenheit  schon  durch  diese  äußere  Ein- 
richtung unserer  Enquete  gewährleistet  ist.  Die  Antwortkarten 
sind  ein  gänzlich  unpersönliches  statistisches  Material;  die  von 
Ihnen  abzusendende  ist  nur  eine  unter  tausenden,  und  Niemand 
kann  erfahren,  daß  diese  Karte  gerade  von  Ihnen  abgesandt 
worden  ist. 

Um  völlig  unbeeinflußte,  ernste  und  streng  wahrheits- 
gemäße Antworten  zu  erzielen,  bitten  wir  Sie,  die  Karte  nicht 
in  Gegenwart  anderer,  sondern  allein  auszufüllen  und  abzusenden. 
Die  Frage,    welche  wir  Ihnen  vorlegen,   ist   fol- 
gende:   Hat   sich    Ihr   Liebestrieb   (Geschlechtstrieb) 
immer  nur  auf  weibliche  (W.),    immer  nur   auf  männ- 


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—     158     — 

liehe  (M.)  oder  sowohl   auf  weibliche  wie  auf  männ- 
liche (W.  +  M.)  Personen  gerichtet? 

Wir  bemerken  hierbei  noch  ausdrücklich,  daß  sich  unsere 
Frage  nur  darauf  bezieht,  ob  Sie  eine  wirkliche  sinnliche  Zu- 
neigung empfunden  haben,  und  nicht  darauf,  ob  und  in  wie 
weit  Sie  derselben  nachgegeben  haben. 

Wir  bitten  Sie  nun,  die  obige  Frage  auf  einliegender  fran- 
kierter Postkarte  durch  bloßes  Unterstreichen  der  vorgedruckten 
Buchstaben  W.,  M.  oder  W.  +  M.  in  folgender  Weise  zu  beant- 
worten : 

W.  M.  W.  +  M. 

bedeutet,  daß  sich  Ihr  Trieb  immer  auf  weibliche  Personen  ge- 
richtet hat. 

W.  M^  W.  +  M. 

bedeutet,  daß  sich  Ihr  Trieb  immer  auf  männliche  Personen  ge- 
richtet hat. 

W.  M.  W.  4-  M. 

bedeutet,  daß  sich  Ihr  Trieb  sowohl  auf  weibliche  wie  auf  männ- 
liche Personen  gerichtet  hat. 

Sollte  das  Letztere  zutreffen  und  sollten  Sie  dabei  die  Be- 
obachtung gemacht  haben,  daß  die  eine  der  beiden  Triebrichtungen 
entschieden  zu  überwiegen  pflegt,  so  bitten  wir  folgendermaßen 
anzustreichen : 

W.  M.  W.  4-M. 

bedeutet,  daß  sich  Ihr  Trieb  zwar  auf  Personen  beiderlei  Ge- 
schlechts richtete,  der  Trieb  zum  Weibe  aber  entschieden  überwog; 

W.  M.  W.  +  M. 

hingegen  bedeutet,  daß  sich  Ihr  Trieb  auf  Personen  beiderlei 
Geschlechts  richtete,  daß  aber  die  Neigung  zu  männlichen  Per- 
sonen entschieden  überwog. 

Wir  bitten  Sie  also,  die  beigefügte  Postkarte  möglichst  bald 
und  vor  allem  streng  wahrheitsgemäß  in  der  angegebenen  Weise 
durch  Unterstreichen  des  Zutrefienden  zu  beantworten  und  abzu- 
senden. Namen  bitten  wir  nicht  zu  nennen,  dagegen  Ihr 
Alter  durch  Unterstreichen  der  zutreffenden  Zahl  zu  bezeichnen. 

Indem  wir  hoffen,  daß  Sie  die  kleine  Mühe  nicht  scheuen 
werden,  zur  Lösung  einer  wissenschaftlichen  Frage  und  mittelbar 


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—     159     — 

auch   isur    Ausmerzang   eines   naturrechtswidiigen    und    gemein- 
Bchadlichen  Gesetzes  beisntragen,  zeichnet 

Hochachtungsvoll 

Die  statistische  Kommission 
des  Wissenschaftlich-Humanitären  Komitees. 
Im  Auftrage 

Dr.  med.  Hirschfeld. 

Die  in  keiner  Weise  gekennzeichnete  Antwortkarte 
hatte  folgendes  Aassehen: 


w. 

M. 

W. 

+  M. 

18. 

19. 

20. 

21.     22. 

23.     24. 

25.     26. 

27. 

28. 

29. 

80. 

Zwischen  30  und  40. 

Zwischen  40  und  50. 

Zwischen       | 

50  und  60 

.    Über 

60  Jahre. 

Von  den  5721  abgesandten  Briefen  kamen  1137 
(503  mit  dem  Vermerk  „unbekannt  verzogen",  634  mit 
„nicht  ermittelt"  etc.)  zurück,  das  sind  19,87o>  ^^^  zwar 
rührte  diese  große  Zahl  der  Retouren  zumeist  von  jüngeren 
oder  älteren  Arbeitern  ledigen  Standes  her,  die  sich  in 
Schlafstellen  befanden.  In  die  Hände  der  Adressaten 
gelangten  4594  Briefe,  die  Gesamtzahl  der  Antworten 
betrug  1912  =  41,67o>  i^ach  den  Erfahrungen,  die  man 
mit  anderen  Enqueten  in  Arbeiterkreisen  gemacht  hat, 
und  den  Voraussagen,  die  uns  von  geübten  Statistikern 
gegeben  waren,  eine  verhältnismäßig  hohe  Zahl. 


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160     — 


Es  erklärten  sich  für 


W     1802  =  94,257« 


M 

22=     1,15,, 

W  +  M 

14  =    0,73  „ 

W  +  M 

36  =     1,88  „ 

W  +  M 

11  =    0,58,, 

Fraglich 

27  =     1,41  „ 

3,197o 


Summa     1912  =  100,0«/^. 
Es  bekannten  sich  somit  ^)  als 

heterosexuell  95,7^0^  gegen  94,07o  bei  der  I.  Enquete, 
also  1,7^0  mehr, 
homosexuell     1,1 7o»  g^gen    1,5 7o  bei  der  I.  Enquete, 
also  0,4%  weniger, 
bisexuell     3,27o>  gegen  4,5 7o  bei  der  L  Enquete, 
also  l,37o  weniger, 
abweichend     4,3^0»  gegen  6,0^0  bei  der  I.  Enquete, 
also  1,7^0  weniger. 

Vorwiegend  oder  rein  homosexuell  sind 

M  =  22  =  1,15  7o 
W  +  M  =  11  =  0,58  „ 


im  Ganzen  33  =  1,78  7o- 


Für  die  Nichtbeantworter  dieser  Enquete  gilt  das- 
selbe, was  ich  bei  der  Studentenenquete  bereits  aus- 
einandersetzte, wobei  ich  besonders  auf  die  Tabelle  ver- 


*)  Bei  dieser  Berechnung  sind  wie  bei  der  I.  Enquete  die 
„fraglichen"  den  Heterosexuellen  zugezählt,  was,  wie  ersichtlich, 
bei  den  Abnormen  erst  eine  Änderung  in  der  2.  Dezimale  bewirkt. 


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—     161     — 

veise,  welclie  das  Sinken  und  Steigen  der  Prozentziffern 
ausdrückt.  Recht  bezeichnend  war  in  dieser  Hinsicht 
eine  Bemerkung,  welche  mir  ein  Urning  überbrachte: 
9,Ein  ihm  bekannter  homosexueller  Arbeiter  habe  ihm 
gesagt,  er  antworte  nicht,  sein  Geschlechtstrieb  ginge 
keinen  etwas  an/<  Ich  bemerke  übrigens,  daß  sowohl 
dieser  Nichtbeantworter,  als  auch  der  Student^  welcher 
sich  später  mündlich  als  homosexuell  bekannte,  bei  der 
Berechnung  außer  Acht  gelassen  wurden,  da  bei  dieser 
nur  die  ordnungsmäßig  ausgefüllten  Karten  berücksichtigt 
werden  sollten. 

Vergleichen  wir  die  beiden  Rundfragen,  so  läßt  sich 
das  Plus  von  0,4^0  <iör  rein  Homosexuellen  und  1,3  ^/^  der 
Bisexuellen,  welches  die  Studenten  gegenüber  den  Metall- 
arbeitern aufweisen,  in  verschiedener  Weise  erklären. 
Es  kann  davon  herrühren,  daß  tatsächlich,  wie  es  von 
Näcke  und  anderen  behauptet  wurde,  die  Homosexualität 
in  den  höheren  Schichten  der  Bevölkerung  etwas  stärker 
verbreitet  ist,  als  in  der  unteren  Volksklasse^  es  kann 
darauf  beruhen,  daß  ceteris  paribus  der  akademische 
Beruf  von  umischen  Individualitäten,  meistens  wohl  ohne 
Kenntnis  ihrer  eigentlichen  Sexualpsyche,  mehr  auf- 
gesucht wird,  als  der  Schlosserberuf,  es  kann  das  Minus 
bei  den  Metallarbeitern  vielleicht  aber  auch  nur  auf  die 
Menge  der  Retouren  zurückzuführen  sein,  in  der  sehr 
begründeten  Voraussetzung,  daß  unter  den  in  Schlafstelle 
betindlichen  ledigen  Leuten,  namentlich  auch  den  älteren, 
der  Prozentsatz  der  Abweichenden  höher  ist,  als  unter 
den  verheirateten  Personen^  endlich  aber  kann  auch  eine 
zufällige  Divergenz  vorliegen,  da  dieselbe  in  keinem  Falle 
27o^  bei  den  Homosexuellen  sogar  noch  nicht  Vs^/o  be- 
trägt, die  gefundenen  Zahlen  also  nicht  nur  in  dieselbe 
Größenordnung  fallen,  sondern  innerhalb  dieser  sogar  nur 
in  kleinen  Grenzen  variieren. 

Auffallend   ist   es,   daß  die  Anzahl  der  Bisexuellen 

Jahrbuch  VI.  n 


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—     162     — 

bei  beiden  Enqueten  sich  fast  genau  dreimal  so  groß 
erweist,  als  die  Menge  der  Homosexuellen,  indem  sich 
bei  der  L  Enquete  1,5  7o  Homo-  und  4,5  ^/^  Bisexuelle, 
bei  der  IL  1,1  ^o  und  3,2  ^^  ergaben.  Bei  der  v.  Römerschen 
Enquete  steht  das  Verhältnis  dagegen  wie  1  :  2,  nämlich 
1,9^0  Homo-  und  3,9^0  Bisexuelle.  Die  Übereinstimmung 
zwischen  unseren  beiden  Rundfragen  ist  um  so  beachtens- 
werter, als  die  Fragestellung  im  Perfectum  die  Präsenz- 
stärke nicht  verändert  hat,  ja,  trotzdem  es  sich  durch- 
schnittlich um  ältere  Personen  handelte,  nahm  die  Zahl 
derjenigen  durchaus  nicht  zu,  welche  erklärten,  daß  ihr 
Geschlechtstrieb  sich  während  ihres  Lebens  auf  beide 
Geschlechter  erstreckt  habe.  Es  ist  das  ein  weiterer  und 
äußerst  wichtiger  Beweis  dafür  —  ein  Beweis  übrigens, 
welcher  nur  durch  diese  Änderung  der  Fragestellung  er- 
reicht werden  konnte  —  daß  auch  die  bisexuelle  Richtung 
des  Geschlechtstriebes  eine  eingeborene,  nicht  durch  äußere 
Einflüsse  bestimmbare  Eigentümlichkeit  darstellt,  daß 
auch  die  Bisexualität  durch  einen  konstitutionellen  Kom- 
plex von  Eigenschaften  gebildet  ist,  welcher  seine  Er- 
gänzung eben  in  Typen  findet,  die  in  mehr  oder  minder 
großer  Ähnlichkeit  unter  dem  männlichen  und  weiblichen 
Geschlecht  vorkommen. 

Es  ist  in  dieser  •  statistischen  Arbeit  nicht  der  Platz, 
in  das  an  sich  gewiß  ganz  außerordentlich  interessante 
Gebiet  der  Bisexualität  einzutreten.  Daß  zwischen  den 
Heterosexuellen  und  Homosexuellen  auch  noch  Übergänge, 
nämlich  Bisexuelle,  vorkommen  würden,  war  a  priori  zu 
erwarten.  Daß  sie  re  vera  existieren,  haben  die  drei 
Enqueten  außer  Zweifel  gestellt.  Ich  habe  in  meiner 
ersten  Arbeit  über  sexuelle  Zwischenstufen  die  Kate- 
gorie der  psychischen  Hermaphroditen,  wie  man  früher 
die  Bisexuellen  zu  nennen  pflegte,  in  einem  Schema  zu 
veranschaulichen  gesucht,  habe  aber  dann  in  der  ersten 
und  noch  mehr  in  der  zweiten  Auflage  meines  Buches: 


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—     163     — 

„Der  urnische  Mensch" ^J  betont,  daß  die  zu  beiden  Ge- 
schlechtern neigenden  Persönlichkeiten  Gegenstand  eines 
ebenso  eingehenden  Spezialstudiams  werden  sollten,  wie 
die  rein  Homosexuellen,  daß  auch  hier  eine  große  Beihe 
sorgfältiger  Binzelbeobachtungen  nicht  zu  entbehren  ist, 
um  zu  der  richtigen  Beurteilung  zu  gelangen.  So  drückte 
sich  ein  recht  femininer  Student,  welcher  M  +  W  unter- 
strichen hatte,  als  er  sich  mir  persönlich  vorstellte,  selbst 
in  der  Weise  aus,  „er  fühle  zu  99 ^/^  für  den  Mann, 
höchstens  zu  l^o  f^r  ^^^  Weib". 

Praktisch  sind  solche  Bisexuelle,  die  so  weit  nach 
rechts  stehen,  ebenso  zu  bewerten,  wie  die  Homosexuellen, 
sie  sind  auch  annähernd  denselben  Leiden,  Kämpfen  und 
Konflikten  ausgesetzt.  Die  weiter  links  —  den  Hetero- 
sexuellen näher  —  stehenden  Bisexuellen  können  sich 
im  allgemeinen  leichter  in  das  Leben  der  Normalsexuellen 
fügen  und  sollten  es  gewiß  tun,  ebenso  auch  diejenigen, 
welche  in  der  gleichen  Weise  heterosexuell  und  homo- 
sexuell fühlen  und  verkehren  können.  Man  geht  schwerlich 
fehl,  wenn  man  in  diesen  beiden  letzten  Gruppen  der 
Bisexuellen  die  stärksten  Widersacher  der  Homo- 
sexuellen sucht;  weil  sie  die  homosexuelle  Quote 
ihres  Geschlechtstriebes  unterdrücken  können, 
nehmen  sie  dasselbe  auch  von  den  rein  und  vor- 
wiegend Homosexuellen  an. 

Die  94—96%  der  drei  Enqueten,  welche  das  W 
unterstrichen,  stellen  ein  imposantes  Bekenntnis  der 
Liebe  des  Mannes  zum  Weibe  dar,  eine  kraftvolle  Kund- 
gebung der  Art  für  die  Erhaltung  der  Art,  sie  zeigen, 
wie  unbegründet  die  Befürchtungen  sind,  daß  je  das 
urnische  Element  eines  Volkes  Wesen  und  Wert  der  großen 
Mehrheit  beeinträchtigen  könnte,  sie  machen  für  jeden, 
der   weiß,    daß   Instinkten   Kontrainstinkte    entsprechen, 

*)  S.  35—41. 

11* 


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—     164     — 

das  große  Mißyerständnis  begreiflich,  welches  so  lange 
in  umischen  Menschen  Verbrecher  sah.  Diese  95^/^  be- 
weisen^ daß  die  Theorien,  ubiquitäre  äußere  Ursachen 
könnten  Homosexualität  erzeugen^  Theorien,  aber  keine 
Tatsachen  sind^  ebenso  wie  die  Behauptung,  die  Bi- 
Sexualität  sei  das  eigentlich  Normale. 


Ziehen  wir  nun  aus  unseren  Stichproben,  bei  denen 
aus  naheliegenden  Gründen  nur  die  rein  oder  doch  sehr 
vorwiegend  Homosexuellen  berücksichtigt  werden  konnten, 
und  aus  den  Bundfragen  den  Durchschnitt,  so  ergeben 
sich  folgende  Ziffern: 

Ä.  Zahl  der  Heterosexuellen: 
Bei  der  Charlottenb.  Studentenenquete       94,0  7o> 


)9 

Amsterdamer  Enquete 
Metallarbeiterenquete 

94,1  „ 
95,7  „ 

283,8  = 
3 

94,67,, 

B.  Zahl  der  Abweichenden: 

}ei 

i> 

der  Charlottenb.  Studentenenquete 
„    Amsterdamer  Enquete 
„    Metallarbeiterenquete 

6,07,, 
5,8  „ 
4,3  „ 
16,1  = 
3 

5,47o. 

C.  Zahl  der  Homosexuellen: 
Bei  der  Charlottenb.  Studentenenquete  1j57o» 

„     „    Amsterdamer  Enquete  1,9  „ 

„     ^,    Metallarbeiterenquete  1,1 


4.5  ="    1,57,. 
3 


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—     165     — 

D.  Zahl  der  Bisexuellen: 

Bei  der  Charlottenb.  Stadentenenquete  4,5  7o» 

„     „    Amsterdamer  Enquete  3,9  „ 

,y    „    Metallarbeiterenquete  3,2 ,, 

TT76~^3,97,. 
3 

E.  Zahl  der  vorwiegend  Homosexuellen: 

Bei  der  Metallarbeiterenquete  bekannten  sich  Ton 
3,2  7o  Bisexuellen  0,58  7^  oder  der  5.  Teil  als  über- 
wiegend homosexuell.  Nehmen  wir  diesen  Satz  auch  bei 
den  Studenten  an,  was  sicher  nicht  zu  hoch,  so  finden  wir: 

Bei  der  CharL  Stud.-Enquete    7^  von  4,5  =  0,9  7^>, 
„     „    Amsterdamer   Enqu.     „     „     3,9  =  0,8  „ 
„     „    Metallarbeiter  Enqu.     „     „     3,2  =  0,6  „ 

2^  =  0,87o- 
3 

F.  Zahl  der  rein  und  vorwiegend  Homosexuellen: 

Wenn  wir  als  sehr  wahrscheinlich  annehmen,  daß 
sich  unter  den  bei  den  Stichproben  ermittelten  Homo- 
sexuellen auch  einige  finden,  die  nur  überwiegend  homo- 
sexuell sind,  ergeben  sich  folgende  Ziflfern: 

Bei  30  Stichproben  132  von  6611  =  1,99 7^» 
Charl.  Stud.-Enqu.  1,57^^  +  0,9Tr+Jtf=  2,4    „ 

Amsterdam.  Enqu.  1,9  „  M_  +  0,8W  +  'm  ==  2,7    „ 

Metallarb.        „      1,1  „  M^+  0,6W+M  =  1,7    „ 

8^~=  2,27,. 
4 


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—     166     — 

Es  bleibt  nun  die  wichtige  Frage  zu  erörtern  übrig, 
ob  und  inwieweit  die  gefundenen  Prozentzahlen  für  die 
Gesamtbevölkerung  Gültigkeit  beanspruchen  dürfen. 

Daß  eine  Übertragung  auf  die  verschiedenen  Alters- 
klassen zulässig  ist,  kann  nach  folgender  Überlegung 
unbedenklich  bejaht  werden.  Wir  wissen,  daß  die  homo- 
sexuelle Naturanlage  ebenso  wie  die  heterosexuelle  und 
bisexuelle  eine  dem  Menschen  von  dem  ersten  bis  zum 
letzten  Atemzuge  anhaftende  Grundeigenschaft  ist;  die 
Sexualität  prägt  der  Individualität  den  charakteristischen 
Stempel  auf,  welchen  weder  Mediziner  noch  Juristen  ab- 
zulösen vermögen.  Würden  wir  aus  allen  Personen  einer 
bestimmten  Altersklasse  die  sexuell  Abweichenden  er- 
mitteln, so  würde  stets  der  dieser  Menge  etwa  ent- 
sprechende Prozentsatz  herauskommen. 

Diese  theoretische  Erwägung  findet  ihre  volle  Be- 
stätigung in  folgendem  praktischen  Ergebnis  unserer  En- 
queten. Das  Alter  der  von  uns  befragten  Studenten  er- 
streckte sich  vom  16.  bis  30.  Lebensjahre,  also  über 
15  Jahre. 

Das  genaue  Durchschnittsalter  würde  nur  durch  eine 
sehr  zeitraubende  Berechnung  zu  ermitteln  sein.  Es 
beträgt  nach  einer  für  unsern  Zweck  hinreichend  genauen 
Schätzung  etwas  weniger  als  23  Jahre.  Nun  war  das 
Gesamtalter  der  26  homosexuellen  Studenten  581,  sodaß 
deren  Durchschnittsalter  22,3  Jahre  betrug. 

26  in  581  =  22,34. 

Das  Gesamtalter  der  77  Bisexuellen  betrug  1 728  Jahre, 
hier  kamen  auf  jeden  22,4  Jahre  — 

77  in  1728  =  22,44. 

Bei  den  Metallarbeitern  ergab  eine  ähnliche  lang- 
wierige Berechnung,  daß  nicht  nur  das  Durchschnitts- 
alter   derjenigen,    welche  W,    M   und  W-f  M,    sondern 


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—     167     — 

auch  derer,  die  W  +  M,  W  +  M  und  W  +  M  unterstrichen 

hatten,  stets  zwischen  27  und  30  fiel. 

Aus  allen  diesen  Zahlen  geht  mit  Sicherheit  hervor^ 
daß  die  Bichtung  des  Geschlechtstriebes  —  die  Sexualität 
—  eine  konstitutionelle,  daher  der  Lebensdauer  zu- 
kömmliche,  mithin  vom  Lebensalter  unabhängige  Er- 
scheinung ist 

Können  wir  die  für  das  männliche  Geschlecht  ge- 
fundenen Zahlen  beiden  Geschlechtern  zuerkennen? 

Bei  der  großen  Gesetzmäßigkeit,  die  auf  dem  Ge- 
biete der  Sexualität  überall  da  herrscht,  wo  das  Verhältnis 
bisher  hat  nachgewiesen  werden  können  —  eine  Gesetz- 
mäßigkeit, die,  ursächlich  so  verschleiert,  in  ihrer  Macht 
und  Weisheit  jeden  Denkenden  mit  höchster  Bewunderung 
erfüllen  muß  —  ist  es  wohl  anzunehmen,  daß  wie  Männer 
und  Frauen  überhaupt  auch  die  für  die  Fortpflanzung 
in  Wegfall  kommenden  umischen  Personen  beiderlei  Ge- 
schlechts in  nahezu  konstanter  Proportion  geboren  werden. 
Nach  Ansicht  und  Erfahrung  vieler  Experten  ist  die  Ge- 
samtmenge homosexueller  Männer  und  Frauen  kaum 
Ton  einander  verschieden,  allerdings  handelt  es  sich  hier 
bisher  mehr  um  Vermutungen  und  Schätzungen,  als  um 
Bestimmungen  und  Berechnungen. 

Inwieweit  sind  wir  nun  aber  berechtigt,  die  ge- 
fundenen Prozentsätze  von  der  Stadt  auf  das  Land,  vom 
Norden  auf  den  Süden,  von  den  unteren  und  mittleren 
auf  die  oberen  Volksschichten  zu  übertragen,  von  auf- 
steigenden auf  absteigende,  von  Kultur-  auf  Naturvölker, 
von  der  germanischen  auf  slawische,  romanische  und 
andere  Rassen? 

Hier  müssen  wir  uns  erinnern,  daß  viele  weitgereiste 
Gewährsmänner  angeben,  daß  sie  die  Homosexualität 
überall   gleich   verbreitet  gefunden  haben,   daß   Männer 


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—     168     — 

wie  Schopenhauer  und  Hößli^)  gerade  aus  der  gleich- 
mäßigen Verbreitung  der  Homosexualität  zu  allen  Zeiten 
und  bei  allen  Völkern  gefolgert  haben,  auch  diese  Liebe 
sei  Natur.  Eeiseschriftsteller  und  Ethnographen  haben 
uns  allerdings  von  Völkern  berichtet,  bei  denen  gleich- 
geschlechtliche Handlungen  besonders  stark  Tcrbreitet 
sein  sollen.  Soweit  ich  sehe,  handelt  es  sich  aber  bei 
diesen  Mitteilungen  stets  um  südländische  oder  orien- 
talische, zumeist  asiatische  Völker,  bei  denen  das  sexuelle 
Leben  überhaupt  und  dementsprechend  auch  das  homo- 
sexuelle viel  auffälliger  zu  Tage  tritt  wie  bei  uns.  Es 
ist  vorderhand  noch  eine  oflFene  Frage,  ob  tatsächlich 
dieses  stärkere  Hervortreten  einer  stärkeren  Verbreitung 
der  Homosexualität  entspricht  oder  ob  die  homosexuellen 
Globetrotter  im  Recht  sind,  welche  mir  mehrfach  davon 
sprachen,  daß  Berlin  und  London  sich  von  Teheran  und 
Peking,  New- York  und  Rio  de  Janeiro  wohl  in  den  Er- 
scheinungsformen, aber  nicht  in  Bezug  auf  die  Ausdehnung 
homosexuellen  Lebens  unterscheiden.  Auffallend  ist  es 
jedenfalls,  wie  sehr  die  Ziffern  zwischen  den  so  ver- 
schiedenen Kategorien  entstammenden  Stichproben  über- 
einstimmen, wie  außerordentlich  sich  die  Frozen tverhältnissc 
bei  den  deutschen  und  holländischen  Studenten  gleichen. 
Für  Italien  berichten  uns  zwei  zuverlässige  Gelehrte,  daß 
sich  nach  ihrer  Meinung  auch  dort  die  Zahl  der  Ab- 
weichenden zwischen  4  und  6  7o  bewege. 

Um  größere  und  kleinere  unterschiede  zu  eruieren, 
wird  es  gewiß  noch  vieler  sorgfältiger  Untersuchungen 
bedürfen,  doch  ist  es  nach  allem  Bisherigen  mehr 
als  wahrscheinlich,  daß  diese  Unterschiede-  nur  von 
sekundärer  Bedeutung  sein  werden,  daß  es  sich  nur 
um   Nuancen    handeln    wird,    die    das    Gesamtbild    im 


»)  Hößli,  Eros,  II,  p.  237—239,   1838,    wiedergegeben   im 
Jahrbuch  V,  Abteil.  I.  S.  532  u.  533. 


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—     169     — 

einzelnen  ergänzen,  im  wesentlichen  aber  nicht  ändern 
werden. 

Das  gilt  auch  namentlich  für  eines  der  wichtigsten 
Unterscheidungsmerkmale  der  Enqueten,  das  auch  wir 
zur  Unterlage  unserer  Erhebungen  wählten,  für  die  ver- 
schiedenen Berufszweige. 

Es  ist  zweifellos  und  besonders  von  Dr.  Georg 
Merzbach  im  IV.  Jahrbuch  f.  sex.  Zw.  (S.  185)  nachge- 
wiesen, daß  der  Urning  in  manchen  Berufen  zahlreicher 
vertreten  ist,  als  in  anderen.  Wir  können  aus  diesem 
öesichtspunkt  die  Berufe  in  suspekte,  indifferente 
und  extrem  männliche  oder  weibliche  einteilen.  Zu  den 
«uspekten,  bei  denen  wir  ein  Durchschnittsplus  erwarten 
dürfen,  wären  beispielsweise  die  Schauspieler,  Damen- 
schneider, Schriftstellerinnen,  Zirkusreiterinnen  etc.  zu 
zählen,  zu  den  extrem  männlichen  oder  weiblichen,  bei 
denen  ein  Durchschnittsminus  anzunehmen  wäre,  müßten 
wir  unter  anderen  die  Eisenarbeiter,  Pflasterer,  Putz- 
macherinnen, Weißnäherinnen  rechnen,  während  die 
große  Mehrzahl  verschiedenartigster  Berufsgruppen  in 
die  indifferente  Gruppe  fallen  würde.  Es  ist  eine  wich- 
tige Aufgabe  weiterer  Erhebungen,  nachdem  wir  im  In- 
teresse der  Objektivität  zuvörderst  suspekte  Gruppen 
ganz  ausschalteten,  nun  auch  solche  zu  untersuchen,  um 
dann  aus  den  Besultaten  das  Mittel  zu  ziehen. 

So  sicher  es  aber  nun  ist,  daß  bei  den  verschiedenen 
Berufskategorien  nicht  unerhebliche  Differenzen  vor- 
kommen werden,  ebenso  sicher  erscheint  es  mir,  daß 
diese  aus  der  bisher  gefundenen  Größenordnung  von 
1 — 10^0  kaum  je  herausfallen  und  sich  bei  allen  ins- 
gesamt um  einen  innerhalb  dieser  Größenordnung 
liegenden  Mittelpunkt  bewegen  werden,  welcher  sich  für 
die  Homosexuellen  zwischen  1  und  27o>  für  die  Bi- 
sexuellen zwischen  3  und  5%  zu  befinden  scheint 


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—     170    — 

Was  aber  bedeuten  diese  Ziffern?  Sie  besagen,  daß 
sich  unter  100000  Einwohnern  durchschnittlich  nur 
94600  Normalsexuelle  befinden,  dagegen  5400  abweichend 
Veranlagte,  daß  von  diesen  1500  rein  homosexuell,  3900 
bisexuell,  von  letzteren  wieder  700  überwiegend  homo- 
sexuell sind,  sodaß  auf  100000  Deutsche  2200  rein  und 
vorwiegend  homosexuell  Veranlagte  entfallen;  diese  Ziffern 
besagen,  daß  unter  uns  jeder  668te  rein,  jeder  45ste  rein 
oder  vorwiegend  homosexuell  ist,  daß  jeder  258te  zu 
beiden  Geschlechtern  neigt  und  jeder  18te  von  der  Norm 
abweichend  veranlagt  ist,  diese  Zahlen  bedeuten,  daß 
in  unserm  deutschen  Vaterlande  1200000  (2,2^0  ^^^ 
56367178  nach  der  letzten  Volkszählung  von  1900),  daß 
in  der  Stadt  Berlin  66000  (2,27^  von  2584140  am 
31.  Dezember  1903)  Personen  rein  oder  überwiegend 
homosexuell  veranlagt  sind. 

Diese  hohen  Ziffern  werden  gewiß  manchen  in  Er- 
staunen setzen  und  ich  gestehe,  daß  ich  selbst,  als  ich 
mich  vor  8  Jahren,  durch  den  Selbstmord  eines  Patienten 
veranlaßt,  dem  Studium  der  sexuellen  Zwischenstufen  zu- 
wandte, sehr  überrascht  gewesen  wäre,  wenn  ich  diese 
Zahlen  gehört  hätte,  heute,  wo  ich  das  Leben  und  Treiben 
von  so  vielen  hundert  Homosexuellen  persönlich  kenne,, 
befremden  sie  mich  nicht  mehr;  habe  ich  mich  doch  zu 
oft  überzeugen  können,  mit  welchem  Geschick,  Eifer  und 
Erfolg  die  Homosexuellen  selbst  ihrer  unmittelbaren  Um- 
gebung, den  nächsten  Verwandten  und  Freunden  gegen- 
über ihre  Naturanlage  zu  verbergen  wissen. 

Ein  Vergleich,  den  der  geistvolle  Biologe  und  Sozio- 
loge Dr.  Benedict  Friedlaender  ^)   in  Bezug   auf  unsere 


*)  Außer  Heim  Dr.  B.  Friedlaender,  welcher  mich  bei  der 
Berechnung  und  Bearbeitung  des  eingegangenen  Antwortenmate- 
rials wesentlich  unterstützte,  bin  ich  wegen  ihrer  Beihilfe  beson- 
ders zu  Dank  verpflichtet  Herrn  A.  v.  Römer,  welcher  mir  seine 
Amsterdamer  Ziffern  zur  Verfugung  stellte,  den  Herren  Dr.  Tilger 


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—     171     — 

Enqueten  anwandte,  gibt  eine  treflfliche  Deutung  der  er» 
mittelten  Zahlen. 

Bekanntlich  gibt  es  im  Naturreich  Lebewesen,  die 
sich  durch  Schutztarben  und  Schutzformen  ihrer  Um- 
gebung 80  anpassen,  daß  sie  ganz  außerordentlich  schwer 
zu  finden  sind  („Mimikry").  Manche  Falter  ahmen  das 
gesprenkelte  Aussehen  der  Granitblöcke,  auf  denen  sie 
ruhen,  so  genau  nach,  daß  selbst  das  geübte  Auge  des 
Sammlers  sie  nicht  erkennen  kann;  manche  Eäferarten 
ziehen  beim  Herannahen  eines  Gegenstandes  Fühler  und 
Beine  an  und  gleichen  dann  vollkommen  den  kleinen 
Erdklümpchen,  zwischen  welche  sie  sich  fallen  lassen: 
bei  vielen  Heuschrecken  ist  die  Ähnlichkeit  mit  Form 
und  Farbe  der  Blätter  oder  Zweige,  zwischen  denen  sie 
sich  aufhalten,  so  groß,  daß  man  tatsächlich  Insekt  und 
Pflanze  nicht  von  einander  unterscheiden  kann.  Genau 
so  passen  sich  die  Homosexuellen  den  Formen  ihrer  Um- 
gebung derart  an,  daß  selbst  geschulte  Beobachter  sie 
als  besonders  geartete  Menschen  sehr  schwer  heraus- 
erkennen. Infolgedessen  erscheinen  sie  als  ebensolche 
Raritäten,  wie  die  geschilderten  Insekten.  Sobald  aber  je- 
mand bei  diesen  Insekten  auf  den  Gedanken  kommt,  sich 


und  Buhmann,  welche  mir  wertvolle  Hinweise  gaben,  den  Herren 
Prof.  Dr.  Karsch,  Dr.  Burchard  und  Schriftsteller  Bertz,  welche 
mir  literarische  Angaben  machten,  dem  leitenden  Beamten  eines 
großen  statistischen  Instituts,  den  Herren  Dr.  jur.  Baron  Schorer 
und  Dr.  Meienreis,  welche  mich  ebenfalls  bei  den  Berechnungen 
unterstützten,  zwei  Assistenten  der  technischen  Hochschule,  welche 
mir  bei  der  Studentenenquete  mit  Bat  und  Tat  zur  Seite  standen, 
Herrn  Wilhelm  Miethke^  welcher  mir  bei  der  Metallarbeiter- 
enquete behilflich  war,  sowie  endlich  den  Gewerkschaftssekretären 
des  Verbandes  der  Metallarbeiter,  den  Herren  Pawlowitsch, 
W lesen thal,  Cohen,  durch  deren  Vermittlung  mir  für  diese 
wissenschaftliche,  dem  eigentlichen  Zweck  der  Gewerkschaft  fern- 
liegende Arbeit  die  Adressen  der  Eisen-.,  Metall-  und  Revolver- 
dreher überlassen  wurden. 


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—     172     — 

nicht  mehr  auf  das  Auge  zu  verlassen,  sondern  gewisse 
KunstgriflFe,  beispielsweise  Schüttelungen,  zu  Hilfe  zu 
nehmen^  stellt  sich  alsbald  heraus,  daß  sie  viel,  viel  häu- 
figer sind,  als  man  es  je  zuvor  geglaubt  hätte.  Ein  ähn- 
licher KunstgriiF  ist  die  von  uns  eingeschlagene  Methode, 
durch  welche  die  vorher  unsichtbaren  Homosexuellen  und 
Bisexuellen  aus  der  Menge  herausgeschüttelt  worden  sind. 

Bedient  sich  der  abweichend  veranlagte  Mensch  aus 
begreiflichen  Gründen  schon  im  gewöhnlichen  Leben 
dieses  Selbstschutzes  in  hohem  Maße,  so  naturgemäß  in 
sehr  verstärktem  Grade  bei  Begehung  einer  Handlung, 
deren  Bekanntwerden  ihn  nicht  njir  in  größte  Ungelegen- 
heiten  bringen  kann,  sondern  die  von  allen,  auch  den 
Normalsexuellen,  in  größter  Heimlichkeit  vorgenommen 
wird.  Ich  habe  oft,  wenn  ich  in  ürningsprozessen  als 
Gutachter  zu  fungieren  hatte,  die  Empfindung  gehabt, 
daß  wir,  die  sachverständigen  Richter  und  Ärzte,  welche 
herausbekommen  sollten,  ob  der  Akt  in  einer  noch  nicht 
oder  schon  strafbaren  Art  geschehen  sei,  mehr  die  na- 
türliche Scham  und  Sittlichkeit  verletzten,  als  der  un- 
glückliche Mann  auf  der  Anklagebank,  dessen  Vita 
sexualis  aus  dem  Dunkel  der  Nacht  in  die  Helle  des 
Tages,  aus  der  Stille  des  Schlafzimmers  vor  das  Forum 
des  Gerichts  gezogen  wurde. 

Zieht  man  außer  dem  so  überaus  diskreten  Charakter 
der  Tat  noch  in  Betracht,  daß  die  beiden  Täter  nicht 
die  Rechte  anderer  Personen  antasten,  sondern  die  Tat 
unter  und  an  sich  vornehmen,  sodaß  mit  ganz  ver- 
schwindenden Ausnahmen  die  beiden  Täter  zugleich  die 
einzigen  Zeugen  sind  und  nur  ganz  außerordentliche 
Nebenumstände  das  Delikt  zur  Kenntnis  Dritter  bringen 
können,  so  wird  das  in  seiner  Art  wohl  einzige  Miß- 
verhältnis begreiflich,  welches  auf  diesem  Gebiet  zwischen 
„Schuldigen"  und  Beklagten,  zwischen  begangenen  und 
inkriminierten  Handlungen  besteht 


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—     173    — 

Ich  will   dieses  Mißverhältnis   durch  einige  Zahlen 

.veranschaulichen,    welche   ich   den   Zusammenstellungen 

des    Reichsjustizamts    und    des    kaiserlich    statistischen 

Amtes  für  das  Jahr  1900  —  neueres  Material  war  mir 

noch  nicht  zugänglich  —  entnehme. 

Es  wurden  aus  §  175  RStr.G.B.  wegen  „wider- 
natürlicher Unzucht"  in  ganz  Deutschland  bestraft: 

Im  Jahre  1900:  535  Personen 
1899:  491 
1895:  484 
1890:  412 
1885:  391 

Von  den  535  Personen  wurden  zum 

ersten  Mal  bestraft:  351  Personen, 
vorbestraft  waren  184,    davon   einmal 

vorbestraft:  81         „ 

zweimal          „  35         ,, 

drei-  bis  fünfmal          „  42         „ 

sechsmal  und  öfter          „  26         „ 

535  Personen. 

Nach  Berufen  verteilt  gehörten  von  den  Ver- 
urteilten an: 


Der  Land-  und  Forstwirtschaft: 

Industrie,  Bergbau  und  Bauwesen: 

Handel  und  Verkehr: 

Dem  Arbeiter-  und  Tagelöhnerstand: 

Freien  Berufsarten: 

Ohne  Beruf  waren: 


203  Personen, 

198 

76 

38 

12 

8 

535  Personen. 

Ihrer  Religion  nach  waren: 


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—     174     — 


Christen  529,  davon  evangelisch: 

301  Personen. 

katholisch: 

228 

jüdisch: 

4 

unbekannter  Religion: 

2 

535  Personen. 

Nach  Alter  und  Geschlecht  waren 

unter  15  Jahren:      13 1 

von  15 — 18    „         102  >  sämtlich  männlich  und  ledig 

„    18-21     „  98] 

„    21 — 25     „  59,  davon  54   ledig,    1  weiblich, 

„    25-30     „  63,       „       52       „        1 

vom  30.  Jahre  ab  nur  noch  männliche,  und  zwar: 
von  30—40  Jahren  91,  davon  57  ledig,  3  geschieden  od. 

verwitwet, 

„     40-50       „    _61^       „      27      „      7       „ 
487  ' 
der  Rest  über  50  Jahren. 

Im  Jahre  1900  betrug  nun  —  wie  oben  berechnet  — 
die  Zahl  der  rein  und  vorwiegend  Homosexuellen: 

2,27o  von  56367178  Einwohnern  =  ca.  1200000  Homo- 

sexuelle. 

Schalten  wir  davon  die  Hälfte  als  weiblich  aus  und 
nehmen  wir  an,  daß  von  den  übrig  bleibenden  nur  ^^ 
strafmtindig  sind,  so  ergeben  sich  248000  strafmtindige 
Homosexuelle.  Nehmen  wir  an,  daß  von  diesen  er- 
wachsenen Urningen  der  dritte  Teil,  also  82666,  völlig 
keusch  lebe  und  daß  alle  Bisexuellen,  die  M  +  W  in 
gleicher  Weise  oder  W  stärker  als  M  lieben,  nur  mit 
dem  Weibe  verkehren,  so  ergeben  sich  —  die  Zahl  ist 
ganz  sicher  nicht  zu  hoch  berechnet  — :  ca.  165000 
männliche  Personen,  welche  in  dem  zu  Grunde  liegenden 


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—     175     — 

Jahre  mit  Personen  desselben  Geschlechts  sexuellen  Um- 
gang gehabt  haben. 

Wenn  wir  nun  noch  annehmen,  daß  sämtliche  Per- 
sonen, die  aus  §  175  bestraft  wurden^  sich  wegen  des 
ersten  Teils  dieses  Paragraphen  zu  verantworten  hatten, 
also  mit  Männern  verkehrt  haben  (außer  den  beiden 
Frauen,  die  sich  offenbar  mit  Tieren  vergingen,  da  ja 
der  homosexuelle  Frauenverkehr  in  Deutschland  straffrei 
ist),  so  ist  ersichtlich,  daß  von  165333  Tätern  533  oder 
0,3^0  der  festgesetzten  Strafe  verfielen.  Es  blieben 
also  von  165333  Tätern  straffrei  164800. 

Noch  viel  krasser  tritt  die  Wirksamkeit  oder  besser 
Unwirksamkeit  dieses  Gesetzes  hervor,  wenn  wir  die  vor- 
genommenen und  geahndeten  Handlungen  vergleichen. 

Es  gelangten  nach  §  175  R.Str.G.B.  zur  Verurteilung: 

1900:  666  Handlungen 
1899:  637  „ 

1895:  647  „ 

1890:  611  „ 

1885:  817  „ 

Nehmen  wir  wieder  an,  daß  von  den  248000  straf- 
mündigen Homosexuellen  sich  nur  ^/g  sexuell  betätigten, 
und  legen  wir  die  oben  angeführte  Rechnung  des  Ver- 
fassers von  㤠 143"  (vgl.  Seite  112)  zu  Grunde,  was  so- 
wohl für  die  „monogam"  in  festen  Verhältnissen  lebenden, 
als  auch  für  die  „polygamen**  —  nach  meiner  Erfahrung 
etwas  seltneren  —  unter  den  üraniern  gewiß  nicht  zu 
hoch  geschätzt  ist,  so  stellt  sich  heraus,  daß  von 

52  X  165333  =  8597316  homosexuellen  Akten 

664  bestraft  wurden,  wobei  wir  wieder  nur  die  2  weib- 
lichen Delikte,  als  mit  Tieren  begangen,  in  Abzug  bringen. 
Mithin  gelangten  zur  Aburteilung: 


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—     176     — 

664  von  8597316  =  0,007 7^. 

Es  blieben  also  von  8597316  Handlungen  un- 
geahndet 8596652. 

Untersuchen  wir  weiter,  wie  die  Verhältnisse  in  den 
verschiedenen  Gegenden  Deutschlands  liegen,  so  finden 
wir  folgende  Zahlen,  die  für  sich  selbst  sprechen. 

Strafbare  Handlungen  aus  §  175  führten  herbei: 

I.  Oberlandesgerichtsbezirk  Augsburg: 

23  Verurteilungen,    0  Preispr.  bei  1012777  Einges.  u.  22281  H.-S, 

II.  Oberlandesgerichtsbezirk  Bamberg: 

15  Verurteilungen,    6  Freispr.  bei  1233083  Eing.  u.    27128H.-S. 

IIL  Kgl.  Preuß.  Kammergericbt  Berlin: ^ 
62  Verui-teilungen,  12  Freispr.  bei  4988367  Eing.  u.  109744  H.-S, 

IV.  Oberlandesgerichtsbezirk  Braunschweig: 
5  Verurteilungen,     1  Freispr.  bei     464  333  Eing.  u.     10215  H.-S. 

V.  Oberlandesgerichtsbezirk  Breslau: 
78  Verurteilungen,  19  Freispr.  bei  4668857  Eing.  u.  102715  H.-S. 

VI.  Oberlandesgerichtsbezkk  Celle: 
26  Verurteilungen,     6  Freispr.  bei  2766624  Eing.  u.    60865  H.-S. 

VII.  Oberlandesgerichtsbezirk  Darmstadt: 
11  Verurteilungen,    3  Freispr.  bei  1119893  Eing.  u.    24637  H.-S. 

VIII.  Oberlandesgerichtsbezirk  Dresden: 
35  Verurteilungen,    0  Freispr.  bei  4202216  Eing.  u.    92448  H.-S. 

IX.  Oberlandesgerichtsbezirk  Frankfurta.  M.: 
2  Verurteilungen,    0  Freispr.  bei  1267532  Eing.  u.     27886  H.-S. 

X.  Oberlandesgerichtsbezirk  Hamburg: 

16  Verurteilungen,     2  Freispr.  bei  1127346  Eing.  u.     24802  H.-S. 

XL  Oberlandesgerichtsbezirk  Hamm: 
45  Verurteilungen,     2  Freispr.  bei  4052347  Eing.  u.     89152  H.-S. 

Xn.  Oberlandesgerichtsbezirk  Jena: 
16  Verurteilungen,     8  Freispr.  bei  1441579  Eing.  u.     31  715  H.-S. 

*)  Zu  dem  Oberlandesgerichtsbezirk  Berlin,  welches  den 
Namen  Kgl.  Preuß.  Kammergericht  führt,  gehören  die  Land- 
gerichte Berlin  I  und  II,  Cottbus,  Frankfurt  a.  0.,  Guben,  Lands- 
berg a.  W.,  Neu-Ruppin,  Potsdam  und  Prenzlau. 


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—     177     — 

XIII.  Oberlandesgerichtsbezirk  Karlsruhe: 
87  Verurteilungen,    2  Freispr.  bei  1867944  £ing.  u.     41095  H.-S. 

Xiy.  Oberlandesgerichtsbezirk  Kassel: 
8  Verurteilungen,     1  Freispr.  bei     898148  Eing.  u.     19759  H.-8. 

XV.  Oberlandesgerichtsbezirk  Kiel: 

15  Verurteilungen,    0  Freispr.  bei  1387968  Eing.  u.    30535  H.-S. 

XVI.  Oberlandesgerichtsbezirk  Köln: 

40  Verurteilungen,    6  Freispr.  bei  4705353  Eing.  u.  103517  H.-8. 

XVII.  Oberlandesgerichtsbezirk  Königsberg: 
52  Verurteilungen,     7  Freispr.  bei  1996626  Eing.  u.     43  925  H.-S. 

XVIII.  Oberlandesgerichtsbezirk  Kolmar: 
8  Verurteilungen,     1  Freispr.  bei  1719470  Eing.  u.     37828  H.-S. 

XIX.  Oberlandesgerichtsbezirk  Marienwerder: 
21  Verurteilungen,     6  Freispr.  bei  1499449  Eing.  u.     32988  H.S. 

XX.  Oberlandesgerichtsbezirk  München: 
27  Verurteilungen,  14  Freispr.  bei  1758239  Eing.  u.     38681  H.-S. 

XXL  Oberlandesgerichtsbezirk  Naumburg: 
?  Verurteilungen,     ?  Freispr.  bei  3023326  Eing.  u.     66513  H.-S. 

XXII.  Oberlandesgerichtsbezirk  Nürnberg: 

10  Verurteilungen,    2  Freispr.  bei  1338521  Eing.  u.     29447  H.-S. 

XXIII.  Oberlandesgerichtsbezirk  Oldenburg: 
3  Verurteilungen,    0  Freispr.  bei     361566  Eing.  u.      7954  H.-S. 

XXIV.  Oberlandesgerichtsbezirk  Posen: 
29  Verurteilungen,     6  Freispr.  bei  1951484  Eing.  u.     42982  H.-S. 

XXV.  Oberlandesgerichtsbezirk  Rostock: 

3  Verurteilungen,     0  Freispr.  bei     710372  Eing.  u.     15628  H.-S. 

XXVI.  Oberlandesgerichtsbezirk  Stettin*: 

11  Verurteilungen,     4  Freispr.  bei  1634832  Eing.  u.    85966  H.-S. 

XXVII.  Oberlandesgerichtsbezirk  Stuttgart: 
44  Verurteilungen,  13  Freispr.  bei  2169480  Eing.  u.     47728  H.-S. 

XXVni.  Oberlandesgerichtsbezirk  Zweibrücken: 
8  Verurteilungen,     5  Freispr.  bei     831 533  Eing.  u.     18293  H.-S. 

Einstellungen   von  Verfahren   aus  §  175  fanden  in 
keinem  der  Oberlandesgerichtsbezirke  statt. 

Jahrbuch  VI.  12 


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—     178     — 

Zum  Schluß  noch  die  Zahlenverhältnisse  io  der 
Stadt  Berlin.  In  der  Reichshauptstadt  wurden  1900 
18  Personen  aus  §  175  E.Str.G.B.  rechtskräftig  verurteilt 
wegen  40  Handlungen  von  „widernatürlicher  Unzucht". 
Von  diesen  18  waren  3  vorbestraft,  3  waren  unter,  1& 
über  18  Jahren,  16  waren  evangelisch,  2  katholisch,  keiner 
jüdisch.  Die  Gesamtzahl  der  Homosexuellen  betrug  nach 
unseren  Voraussetzungen  56000,  davon  waren  straf- 
mündige männliche  Uranier  11200;  rechnen  wir  wieder, 
daß  nur  */g  oder  7466  davon  sich  betätigten,  so  ergeben 
sich  wieder  52  x  7466  =  388232  Fälle  gleichgeschlecht- 
lichen Verkehrs. 

Es  wurden  bestraft  in  Berlin: 

18  von  7466  Tätern  oder  0,2%, 
40  von  388232  Taten  oder  0,OOl7o. 

Es  blieben  also  von  mindestens  7466  Tätern  7448 
straffrei,  von  mindestens  388232  Taten  388192  un- 
geahndet. 

So  furchtbar  die  Ungerechtigkeit  ist,  die  darin  liegt, 
einzelne  wenige  für  eine  Tat  zu  strafen,  die  viele 
Tausende  in  gleicher  Weise  täglich  ungestraft  begehen, 
so  sind  es  doch  nicht  diese  Fünfhundert,  denen  unsere 
Arbeit  gilt,  auch  nicht  die  Zehntausende,  deren  Natur- 
anlage zahlreichen  Erpressern  ein  willkommenes  Aus- 
beutungsobjekt bietet,  sondern  es  sind  die  Hundert- 
tausende, es  ist  die  Million  in  unserm  deutschen 
Vaterlande,  deren  Menschenrechte,  deren  Lebensglück 
und  Lebenswahrheit  durch  Vorurteile,  Nachurteile  und 
Mangel  an  naturrechtlichem  Sinn  verkürzt,  verkümmert^ 
vernichtet  werden. 


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Die  physiologische  Freundschaft 

als  normaler  Grundtrieb  des  Menschen 

und  als  Grundlage  der  Sozialität. 

Von 

Benedict  Friedlaender. 


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Vorbemerkung  des  Herausgebers:  Trotzdem  der 
Artikel  Dr.  Friedlaenders  in  dem  Hauptpunkte  von  der 
Anschauung  abweicht,  wie  sie  in  den  Jahrbüchern  für 
sexuelle  Zwischenstufen  vertreten  wird,  daß  nämlich  der 
homosexuelle  Geschlechtstrieb  eine  nur  einer  bestimmten 
Personengruppe  zukommende  Eigenschaft  ist,  so  haben 
wir  doch  geglaubt,  diese  interessante  Arbeit  unseren 
Lesern  nicht  vorenthalten  zu  sollen,  einmal,  weil  wir 
gern  auch  von  den  unsrigen  abweichende  Gesichtspunkte 
bringen,  dann  aber  vor  allem,  weil  diese  Erörterungen 
über  den  Soziabilitätstrieb  des  Menschen  auch  für  die 
„Zwischenstufentheorie"  sehr  viele  fruchtbare  und  an- 
regende Gedanken  enthalten. 


Die  folgenden  Ausführungen  bilden  im  wesentlichen 
einen  Teil  des  fünften  Abschnittes  eines  umfassenden 
Werkes,  welches  im  Verlage  Renaissance  in  Berlin- 
Schmargendorf  im  Frühjahr  1904  erscheinen  wird,  ^) 

Eine  Anzahl  von  Einwänden  und  Fragen,  die  bei 
dem  Leser  aufsteigen  mögen,  wird  in  dem  erwähnten  Buche 
Beantwortung  finden. 

^)  Der  vollständige  Titel  laatet:  Die  Renaissance  de» 
Eros  Uranios.  Die  Physiologische  Freundschaft  als^ 
normaler  Grundtrieb  des  Menschen  und  als  Frage  der 
rnftuulichen  Gesellungsfreiheit.  In  naturwissenschaft- 
lieber,  natarrechtlicheri  kulturgeschichtlicher  und 
sittenkritischer  Beleuchtung. 


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—     182     — 

Die  vorherrschende  Theorie  über  Wesen  und  Ur- 
sprung der  Homosexualität  lehnt  sich  an  die  Aufstel- 
lungen von  K.  H.  Ulrichs  an.  Die  andersartigen  Er- 
wägungen G.  Jägers  haben  wenig  Nachfolger  gefunden, 
und  die  eifrigsten  Bekämpfer  der  Zwischenstufentheorie, 
wie  besonders  KupflFer,  sind  über  das  instinktive  Gefühl, 
daß  irgendwo  etwas  mit  der  Theorie  in  Unordnung  sein 
müsse,  nicht  hinausgekommen.  Insbesondere  hat  Kupifer 
die  medizinische  Theorie  auf  dem  historisch-philologischen 
Wege  als  unrichtig  oder  mindestens  als  nicht  in  allen 
Fällen  zutreffend  nachweisen  wollen.  —  Vielleicht  wird 
gerade  jene  Richtung,  welche  in  der  sogenannten  Homo- 
sexualität —  den  Begriff  etwas  weiter  als  gewöhnlich 
gefaßt  —  eine  allgemein  menschliche  Eigenschaft  ver- 
mutet^ in  dem  folgenden  die  lange  gesuchte,  streng 
wissenschaftlich-biologische  Grundlage  finden.^) 

Man  kann  die  Tiere  ganz  unabhängig  von  ihrer 
systematischen  Zusammengehörigkeit  in  die  sozial  leben- 
den und  die  nicht  sozialen  einteilen.  Erstere  leben  in 
Gruppen,  Kolonien,  Nestern,  Herden  oder  sogenannten 
Tierstaaten,  in  mehr  oder  weniger  festem  Verbände  und 
mit  einer  mehr  oder  weniger  innigen,  dauernden  oder 
periodischen  Annäherung  der  einzelnen  Individuen.  Es 
gibt  hier  eine  große  Zahl  von  Abstufungen  des  Grades 
und  der  Art  der  Vergesellschaftung;  von  der  gelegent- 
lichen Vereinigung  zu  gemeinsam  jagenden  Rudeln,  wie 
bei    den    hundeartigen   Tieren ,    bis    zur   Bildung    eines 


')  Um  Mißverständnissen  vorzabeugen,  sei  besonders  hervor- 
gehoben, daß  die  hier  entwickelte  and  die  Zwischenstafentheorie 
einander  keineswegs  ausschließen,  sondern  einander  vielmehr 
ergänzen.  £s  ist  mir  sogar  kürzlich  gelungen,  aus  der  Literatur 
der  Zoologie,  welche  urspriinglich  mein  Hauptfach  war,  neue  und 
sehr  interessante  Illustrationen  gerade  zur  Zwischenstufentheorie 
ausfindig  zu  machen.  Diese  werden  jedoch  erst  in  meinem  ge- 
nannten Werke  erörtert  werden  können. 


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—     183     — 

Staates,  wie  bei  den  Bienen,  oder  gar  bis  zu  dem  Zu- 
sammenwachsen der  „Personen"  zum  Tierstock,  wie  bei 
den  Siphonophoren.  Innerhalb  einer  und  derselben  Tier- 
klasse finden  wir  oft  soziale  und  nicht  soziale  Spezies; 
und  die  Form  der  Soziabilität  ist  für  jene  Spezies  typisch. 
Es  hätte  keinen  Zweck,  hier  einen  Überblick  über  die 
sozial  lebenden  Tiere  der  verschiedenen  Gruppen  zu 
geben;  sind  doch  besonders  die  sozial  lebenden  Insekten, 
die  Ameisen,  Bienen,  Wespen  und  Termiten,  all- 
gemein bekannt.  Zwischen  den  Individuen  einer  solchen 
Tiergemeinschaft  besteht  ein  Zusammenhalt,  der  sich  in 
der  mannigfachsten  Weise  äußert,  und  zugleich  sehr  oft 
eine  Feindschaft  gegen  die  Individuen  einer  anderen  Art 
oder  sogar  nur  einer  anderen  Kolonie  oder  eines  anderen 
Staates  derselben  Art.  Früher  war  man  zur  „Erklärung" 
dieser  Verhältnisse  mit  dem  Worte  „Instinkt"  bei  der 
Hand;  jedoch  ist  dieses  Wort  „Instinkt"  nur  ein  Lücken- 
büßer unserer  Unwissenheit  und  erklärt  Nichts.  Der 
freundschaftliche  Zusammenhalt  wie  die  Feindschaft  muß 
auf  irgend  welchen  Attraktions-  und  Repulsivkräften 
beruhen;  welcher  Art  diese  sind,  wissen  wir  noch  nicht 
vollständig,  jedoch  ist  es  sicher,  daß  großenteils  und 
vielleicht  sogar  vorwiegend  chemotaktische  Erschei- 
nungen, oder  subjektivistisch  gesprochen,  Duftwahr- 
nehmungen zugrunde  liegen.  Ich  stehe  nicht  an,  die 
Überzeugung  auszusprechen,  daß  sich  Gustav  Jäger  hier 
ein  für  alle  Zukunft  bleibendes  Verdienst  erworben 
hat,  und  daß  seine  Entdeckung,  der  er  durch  die  aller- 
dings etwas  sonderbare  Namengebung  und  überdies  durch 
den  unvermeidlichen  Konflikt  mit  der  Zimperlichkeit  ge- 
schadet hat,  dereinst  als  eine  der  allerwichtigsten  bio- 
logischen Tatsachen  allgemein  anerkannt  werden  wird. 
Übrigens  halte  ich  den  Ausdruck  „Chemotaxis"  oder 
Chemotropismus  für  entschieden  besser,  als  „Duftwahr- 
nehmung". Denn  erstens  entspricht  er  der  objektivistischen 


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—     184     — 

Forschungsmethode,  und  zweitens  sind,  auch  nach  Jäger 
selbst,  die  fraglichen  Wirkungen  oft  unter  der  Schwelle 
des  Bewußtseins  und  noch  öfter  unter  derjenigen  des 
reflektierenden  Bewußtseins;  sodaß  wir  dann  von  un- 
bewußten Wahrnehmungen  zu  reden  hätten^  was  offenbar 
mißverständlich  ist  Jedoch  sind  das  mehr  Formalien, 
und  es  liegt  mir  Nichts  femer,  als  auf  solche  Äußerlich- 
keiten gegenüber  der  originalen  und  genialen  Entdeckung 
Jägers  irgendwie  pochen  zu  wollen. 

Auch  unter  den  Säugetieren  gibt  es  soziale  und 
einzeln  lebende  Arten;  viele  Pflanzenfresser  gehören  zu 
den  erster en,  wohl  die  meisten  Raubtiere  zu  den  letz- 
teren, obwohl  hier  die  in  Eudeln  jagenden  |Caniden  eine 
teilweise  Ausnahme  bilden.  Daß  die  einzeln  lebenden 
Tiere  nicht  sozial  leben,  ließe  sich  einfach  dadurch  er- 
klären, daß  zwischen  den  Individuen  keine  Attraktions- 
kräfte bestehen;  vielleicht  aber  auch  durch  das  Vorhanden- 
sein positiver  Repulsivkräfte,  d.  h.  einer  negativen 
Chemotaxis.  Die  Feindschaft  zwischen  Individuen  ver- 
schiedener Ameisennester  läßt  sich  wohl  kaum  anders 
deuten,  als  durch  die  letztere  Annahme.  Alle  diese  An- 
ziehungs-  und  Abstoßungskräfte,  oder  subjektivistisch  ge- 
redet, die  Liebe  und  der  Haß,  das  einander  Suchen  oder 
vor  einander  Fliehen  beruht,  um  es  noch  einmal  zu 
sagen,  in  vielen  Fällen  sicher  auf  chemotaktischen  Er- 
scheinungen. Aber  es  muß  hinzugefugt  werden,  daß 
möglicherweise  noch  andere  Faktoren,  und  vielleicht  so- 
gar unbekannte  Formen  der  Energie  hinzukommen. 

Nun  ist  es  klar,  daß  zwischen  den  Individuen 
einer  jeden  sozial  lebenden  Spezies  physiolo- 
gische Attraktionskräfte  bestehen  müssen,  die 
vom  sexuellen  Unterschiede  unabhängig  sind. 

Auch  die  einzeln  lebenden  Tiere,  soweit  sie  über- 
haupt zweigeschlechtlich  sind,  bilden  ja  in  sehr  vielen 
Fällen   wenigstens   „Familien",   indem   das   Gattenpaar 


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—     185     — 

auch  nach  dem  ZeugUDgsakte  zusammen  bleibt,  und  in- 
dem eines  der  £ltern^  meist  die  Mutter^  mitunter  aber 
auch  der  Vater,  die  Brutpflege  übernimmt  Diese  beiden 
Arten  der  Liebe  oder  der  Anziehung,  die  zwischen  den 
Geschlechtem  und  die  zwischen  Eltern  und  Kind,  führen 
noch  nicht  zur  Sozialität:  wir  finden  sie  auch  bei 
den  großen,  einsam  schweifenden  Baubbestien,  wie  etwa 
denen  vom  Genus  Felis.  Der  Familiensinn  ist  somit 
eine  der  allerprimitivsten  Regungen,  welche  der  Mensch 
mit  allerhand  Getier  der  verschiedensten  Ordnungen, 
darunter  mit  dem  höchst  unsozialen  Raubzeug  teilt. 

Zu  jenen  beiden  Arten  der  Liebe  kommt  aber  bei 
den  sozialen  Spezies  eine  dritte  hinzu,  die  sich  dadurch 
von  den  beiden  anderen  unterscheidet,  daß  sie  mit  der 
Fortpflanzung  und  Brutpflege  Nichts,  um  so  mehr  aber 
mit  der  Sozialität  zu  tun  hat,  indem  die  letztere  ganz 
und  gar  auf  ihr  beruht  Wenn  man  einen  Augenblick 
aus  einem  beliebigen  Tierstaat  oder  einer  beliebigen  Tier- 
herde diese  dritte  Art  der  Liebe,  welche  auch  zwischen 
erwachsenen  Geschlechtsgleichen  wirksam  ist,  entfernen 
könnte,  so  wurde  der  Tierstaat  in  lauter  Familien  zer- 
stieben. Ferner  ist  es  sicher,  .daß  diese  Liebe  zwischen 
Individuen  desselben  Geschlechts  eine,  wie  man  früher 
sagte,  instinktive,  d.  h.  eine  „fleischliche",  „sinnliche" 
oder  physiologische,  wenn  auch  deswegen  nicht  eben 
eine  sexuelle  ist.  Es  ist  möglich,  aber  sehr  problema- 
tisch, bei  den  höheren  sozial  lebenden  Tieren  auch  so 
etwas  wie  eine  seelische  Liebe  oder  Freundschaft  voraus- 
zusetzen; es  ist  damit  aber  wenig  gesagt,  und  bei  den 
niederen  Tieren  wird  schwerlich  jemand,  am  wenigsten 
ein  naturwissenschaftlich  Gebildeter,  sich  mit  solchen 
Vorstellungen  auch  nur  vorübergehend  abgeben. 

So  hoch  auch  der  Mensch  über  den  anderen  Tieren 
stehen  mag,  so  wenig  bedeutet  das  doch,  daß  ihm  irgend 
eine  der  animalen  Grundlagen  abgehe.     Der  Mensch  ist 


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—     186     — 

vielmehr  unzweifelhaft  ein  Tier,  und  zwar  ein  Säugetier, 
sogar  ganz  speziellst  ein  Mitglied  der  sogenannten  Pri- 
matengruppe. Er  ist  ein  Säugetier  in  jeder  Beziehung 
und  ohne  den  geringsten  Abzug;  wohl  aber  mit  Hinzu- 
fügung der  spezifisch-menschlichen  Eigenschaften  körper- 
licher und  insbesondere  psychischer  und  intellektueller  Art. 
Nun  ist  eines  der  allerwichtigsten  Merkmale  des 
Menschen  gerade  seine  Sozialität;  ohne  diese  würde  es 
keine  Kultur  geben.  Denn  erst  durch  den  engen  An- 
schluß zahlreicher  Individuen  wird  die  höhere  Produktiv- 
krafb,  die  Beherrschung  der  Natur  und  die  Steigerung 
<ler  geistigen  Kräfte  möglich.  Es  kann  gar  keinem 
Zweifel  unterliegen,  daß  die  Grundlage  der  menschlichen 
Sozialität,  unbeschadet  aller  psychischen  und  intellek- 
tuellen Bestandteile,  wesensgleich  ist  mit  dem  „sozialen 
Instinkt"  der  anderen  sozialen  Tiere,  und  daß  sie,  wie 
dieser,  auf  einer  solchen  BeschaflFenheit  der  physiologi- 
schen Reizbarkeiten  beruht,  daß  die  sympathischen  An- 
ziehungen mit  derjenigen  zwischen  den  beiden  Geschlech- 
tem und  derjenigen  zwischen  Eltern  und  Kind  nicht 
erschöpft  sind,  sondern  daß  eben  hier  jene  dritte,  die 
„instinktive^  d.  h.  trotz  aller  Verfeinerung  auch  in  der 
animalen  Natur  wurzelnde  Liebe  zwischen  Individuen  des 
gleichen  Geschlechts  hinzukommt.  J.  J.  Rousseau  irrt, 
wenn  er  im  „Contrat  Social"  sagt,  daß  die  Familie  die 
einzige  „natürliche"  Gesellschaft  sei.  Das  ist  für  den 
Menschen  ebenso  unrichtig,  wie  etwa  für  die  Bienen.  Die 
Soziabilität  des  Menschen  ist  eine  „natürliche"  Eigen- 
schaft und  beruht,  ebenso  wie  die  Sozialität  anderer 
sozialer  Lebewesen,  auf  einem  Instinkt,  oder,  moderner 
geredet,  auf  einer  physiologischen  Grundlage.  Es  hat 
seine  Richtigkeit  mit  dem  ^coov  noXinxov  des  Aristoteles. 
Eine  besondere,  wahrscheinlich  spezifisch -menschliche 
Eigenart  ist  hier  nur  die  besonders  ausgeprägte  Indi- 
vidualisierung,  die   in   ähnlicher  Weise  auch  in  der 


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—     187     — 

Liebe  Z¥ri8chen  GeschlechtsuDgleichen  vorkommt  und  bei 
den  höheren  Naturen  die  Regel  ist.  So  gewiß  nun  aber 
jedes  noch  so  vergeistigte  Liebesverhältnis  zwischen  Ge- 
schlechtsungleichen, wenn  anders  es  ein  echtes  Liebes- 
verhältnis ist,  mit  seinen  Wurzeln  bis  in  die  eigentliche 
sexuelle  Liebe  hinabreicht,  so  sicher  entspringt  jede  echte, 
naturentsprossene  Freundschaft  aus  den  physiologischen 
Tiefen  eben  jenes  sozialen  Triebes.  Die  gleichgeschlecht- 
liche Liebe,  wie  wir  sie  verstehen,  ist  daher  geradezu 
identisch  mit  dem  sozialen  Instinkt  selbst  oder  doch  nur 
eine  individuelle  Ausprägung  derselben  allgemein  mensch- 
lichen physiologischen  Reizbarkeit,  welche  die  Grundlage 
der  menschlichen  Sozialität  und  somit  der  Kultur  und 
auch  der  Moral  ist;  denn  ohne  Vergesellschaftung  ver- 
liert die  Moral  Zweck  und  Sinn. 

Die  Sozialität  der  niederen  Tiere  ist  überhaupt  gar 
nicht  anders  zu  verstehen,  und  was  den  Menschen  an- 
betrifft, so  gilt  hier  wieder  der  Satz,  daß  er  in  keiner 
Richtung  weniger,  wohl  aber  in  einigen  mehr  als  ein 
Tier  ist  Dieses  Mehr  liegt  auf  dem  Gebiete  der  schärferen 
Individualisierung  und  vor  allem  auf  dem  des  Geistigen.  Die 
echte,  warme,  und  nicht  nur  kalt^abstrakte  Anteilnahme 
an  dem  Geschick  nicht  nur  der  Gattin  und  der  eigenen 
Kinder,  sondern  auch  an  dem  der  Freunde,  der  Be- 
kannten, ja  beliebiger  Menschen;  die  erhabenen  Leiden- 
schaften des  wahren  Patriotismus  und  der  allumfassenden 
Menschenliebe  haben  ihre  natürlichen  Wurzeln  in  dem- 
selben physiologischen  Untergrund,  wie  die  „instinktive", 
d.  h.  physiologisch  begründete  Liebe  zu  einem  bestimmten 
Individuum  und  zwar  wie  deren  gleichgeschlechtliche 
Variante;  denn  die  andere  Liebe  beherrscht  ja  auch 
die  nicht  sozialen  Wesen. 

Dieses  Ergebnis  vergleichend  physiologischen  und 
vergleichend  biologischen  Denkens  haben  Manche  ge- 
ahnt, aber  es  hat  es  meines  Wissens  bisher  Niemand 


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—     188     — 

scharf  und  klar  ausgesprochen;  wahrscheinlich  des- 
wegen, weil  hierzu  der  selten  verwirklichte  Zufall  des 
Zusammentreffens  einer  modern  biologischen  Schulung 
mit  soziologischer  Bildung  und  yor  allem  auch  mit  einer 
unabhängigen  Denkart  erfüllt  werden  mußte. 

So  sagt  schon  Piaton:  . .  .  „und  dafür  ist  ein  starker 
Beweis",  daß  solche  Jünglinge  —  (nämlich  solche,  die 
sich  gern  mit  Männern  umschlingen)  —  nachdem  sie 
ganz  ausgebildet  sind,  besonders  „für  die  Angelegen- 
heiten des  Staates  gedeihen''.  —  Daß  die  gleich- 
geschlechtliche Liebe,  oder  wie  wir  lieber  sagen,  die 
physiologische  Freundschaft,  ein  besonderer,  an- 
geborener, spezifisch -menschlicher  Affekt  sui  generis  i^t, 
wird  auch  sehr  schön  ausgedrückt  im  Gastmahl,  in  der 
berühmten  Stelle  in  der  Rede  des  Pausanias:  „Wie  sollten 
aber  nicht  der  Göttinnen  (Aphrodite)  zweie  sein?  Die 
eine  ist  ja  die  ältere,  die  mutterlose  Tochter  des  üranos, 
welcher  wir  auch  den  Beinamen  der  himmlischen  geben, 
und  dann  die  jüngere,  des  Zeus  und  der  Dione  Tochter, 
welche  wir  auch  die  gemeine  nennen.  Notwendig  wird 
also  auch  der  eine  Eros,  der  Gehilfe  der  letzteren,  mit 
Recht  der  gemeine  genannt,  der  andere  der  himmlische." 

Jetzt  verstehen  wir  auch,  warum  gerade  unter  den 
großen  Künstlern,  Dichtern  und  Staatsmännern, 
bei  denen  ein  großer,  umfassender,  menschlicher,  über 
die  egoistischen  und  bloßen  Familieninteressen  hin  aus- 
reichender Affekt  vorausgesetzt  werden  muß,  der  Pro- 
zentsatz entschieden  „Homosexueller'^  besonders  groß  ist. 

Hierhin  gehört  auch  Schopenhauers  Ansicht,  daß 
amor  und  Caritas  dieselbe  Wurzel  haben.  Eine  in- 
stinktive, echte  Caritas  ist  nämlich  ohne  die  animale, 
physiologische  Grundlage  nicht  denkbar.  Und  daß  in 
der  Gegenwart  daran  jemand  Anstoß  nehmen  kann,  das 
liegt  nur  an  dem  unseligen  historischen  Umstände,  daß 
wir  geneigt  sind,  alles  Körperliche  mit  scheelen  Augen 


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—     189     — 

aDzusehen  und  als  etwas  Unreines  und  Unwürdiges  zu 
betrachten^  was  eine  unmittelbare  Folge  des  asketischen 
Geistes  und  der  zugehörigen  Jenseitigkeit  des  Mittel- 
alters ist.  Dadurch,  daß  man  die  physiologische  Natur 
des  Menschen  in  Acht  tat,  in  dem  Wahn,  durch  Preis- 
gabe der  Grundlage  für  den  Oberbau  des  Geistigen 
mehr  Eaum  zu  gewinnen,  ist  man,  wie  die  Kultur- 
geschichte beweist,  umgekehrt  auch  gerade  im  Geistigen 
einer  Barbarei  verfallen,  welche  dem  Altertum  fremd  ge- 
wesen ist,  und  die  erst  nach  Erschütterung  eben  jenes 
unheilvollen  Grundwahns,  d.  h.  seit  der  Renaissance,  teil- 
weise rückgängig  gemacht  werden  konnte. 

Selbst  Dühring,  der  in  neuerer  Zeit  so  blind  gegen 
die  Venus  Urania  wütet,  daß  er  sich  sogar  in  den  voll- 
kommensten Widerspruch  zu  seiner  früheren,  soliden 
Strafrechtstheorie  gesetzt  hat,  ist  der  Wahrheit  ein- 
oder  zweimal  recht  nahe  gekommen.  Er  sagt  in  seinem 
Kursus  der  Philosophie  vom  Jahre  1 875,  auf  Seite  247—248 : 
„Obwohl  uns  die  Liebe  hier  zunächst  in  ihrer  Bedeutung 
flir  das  schöpferische  Ebenmaß  der  Erzeugungen  ent- 
gegengetreten ist,  so  hat  sie  doch  ihren  Wert  in  sich 
selbst  und  ist  keineswegs  darauf  angelegt,  vorzugsweise 
eine  Rolle  als  Mittel  für  einen  außer  ihr  liegenden  Zweck 
zu  spielen.  In  der  natürlichen  Liebe  ist  der  einzelne 
Gegenstand,  auf  den  sich  diese  Art  der  Gemütsbewegung 
richtet,  das  Band,  durch  welches  auch  der  geistige  Zu- 
sammenhang mit  der  Gattung  geknüpft,  und  durch  welches 
die  Vereinzelung  des  Wollens  aufgehoben  wird.  Die  Ge- 
schlechtsliebe und  die  sich  daran  knüpfende  Liebe  zu 
dem  Erzeugnis  ist  der  Grundtypus  für  alle  AiFektionen 
aufrichtigen  und  sympathischen  Wohlwollens.  In  den 
Elementen  der  menschlichen  Natur  findet  sich  nichts, 
was  eher  zu  einer  echten  Menschenliebe  führen  könnte, 
als  diejenige  Gesinnungsrichtung,  welche  sich  uQter  dem 
Eindruck  des  höheren  Naturantriebs  entwickelt  und  nicht 


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—     190     — 

.bloß  für  den  Entstehungsfall,  sondern  auch  in  den  all- 
gemeinen Übertragungen  des  Wohlwollens  ihre  Wirkung 
übt.  Wenigstens  läßt  sich  die  Tatsache  der  enthusiastischen 
Menschenliebe y  die  doch  nie  ganz  weggeleugnet  werden 
kann,  nicht  anders  erklären,  als  aus  einer  Gemütsrichtung, 
in  welcher  sich  das,  was  sonst  Geschlechtsliebe  sein  würde, 
in  einer  unbestimmteren  Gestalt  als  Liebe  zum  Menschen- 
geschlecht kundgibt  Auch  darf  diese  Annäherung  von 
zwei  verwandten  Affekten  nicht  überraschen,  da  ja  in 
beiden  Fällen  die  Gattung  als  solche  und  ein  geistiges 
Hinausstreben  über  die  Vereinzelung  des  Daseins  in 
Frage  kommt". 

Diese  Erwägung  ist  ausgezeichnet;  wenn  man  aber 
dabei  ausschließlich  an  die  Liebe  zum  Weibe  denkt,  so 
wird  sie  teilweise  geradezu  unrichtig,  während  sie  ent- 
schieden verbessert  wird,  wenn  man  sogar  ausdrücklich 
die  Venus  Urania,  also  die  Fähigkeit  zur  wahren,  natur- 
entsprossenen, physiologischen  Freundschaft  auch  mit 
Geschlechtsgleichen  als  dasjenige  „Element  in  der 
menschlichen  Natur^'  ansieht,  welches  am  ehesten  zu 
einer  „echten  Menschenliebe  führen  könnte".  Denn 
wenn  wirklich  der  Trieb  und  die  Fähigkeit  zum  Lieben 
ganz  einseitig  auf  die  Richtung  zum  minderen  Geschlechte 
beschränkt  wäre,  so  würde  doch  dabei  höchstens  eine 
allgemeine  Weib  er  liebe,  aber  nimmermehr  eine  echte, 
allumfassende  Menschenliebe  herauskommen  können. 
Daß  die  GeschlechtsUebe  im  Dühringschen,  also  hetero- 
sexuell beschränkten  Sinne,  der  Grundtypus  für  alle 
Affektionen  des  auftichtigen  und  sympathischen  Wohl- 
wollens sei,  ist  falscL  Denn  selbst  die  Vereinigung 
der  Geschlechtsliebe  in  diesem  Sinn6  mit  der  auch 
überaus  starken  Mutterliebe  ist  ja  noch  immer  nicht 
imstande,  eine  Spezies  zu  einer  sozialen  zu  machen  : 
„Affektionen  des  aufrichtigen  und  sympathischen  Wohl- 
wollens"   oder    deren    äußere   Merkmale   wird    man    in 


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—     191     — 

der  ganzen  Natur,  trotz  des  Vorhandenseins  von  Ge- 
schlechtsliebe und  Mutterliebe,  also  z.  B.  bei  Tigern 
und  bei  Geiern,  bei  denen  Gatten-  und  Mutterliebe  sehr 
stark  ausgeprägt  sind,  vergeblich  suchen.  Erst  die 
von  uns  als  dritte,  ebenso  wichtige  Hauptart  der  physio- 
logischen Liebe  erkannte  und  aufgestellte  Art  der  Zu* 
neigung,  welche  in  ihren  individuellen  Zuspitzungen  erotische 
Liebe  genannt  wird,  ist  wirklich  der  Erweiterung  zu  einer 
Liebe  zur  Spezies,  also  zur  echten  Menschenliebe  fähig. 
—  Endlich  ist  noch  betreffs  jener  Stelle  hervorzuheben,, 
daß  jeder,  der  wie  Dühiing  erkennt,  daß  die  Liebe  „ihren 
Wert  in  sich  selbst",  also  abgesehen  von  dem  Zweck 
oder  Erfolg  der  Fortpflanzung  hat,  sich  logischer  Weise 
den  Weg  zu  einer  grundsätzlichen  Verurteilung  der 
gleichgeschlechtlichen  Liebe  eigentlich  schon  hierdurch 
abgeschnitten  hat.  — '  Auch  einer  Stelle  im  „Wert  des 
Lebens"  ist  hier  zu  gedenken.  Auf  Seite  225 — 226  der 
5.  Auflage  dieses  Werkes  gibt  Dühring  an,  daß  die  so- 
genannte hellenische  Liebe  keineswegs  auf  das  Altertum 
beschränkt  sei,  sondern  auch  in  der  Gegenwart  in  den 
verschiedensten  Formen  vorkomme.  Einerseits  sieht 
Dühring  darin  freilich  „fehlgreifende  Tendenzen  der 
Natur"  (gehört  also  hier  zu  der  großen  Klasse  der  für- 
witzigen Besserwisser),  muß  dann  aber  sogleich  zugeben, 
daß  diese  „fehlgreifenden  Tendenzen"  „bei  einiger  Alters- 
verschiedenheit in  der  Jugend  so  manches  Freundschafts- 
band"  knüpfen,  „für  dessen  geschlechtlich  sinnlichen  Cha- 
rakter die  Beteiligten  zunächst  nicht  einmal  ein  Verständnis 
zu  haben  brauchen."  Dühring  fährt  dann  fort:  „Es  geht 
hierbei  noch  unwillkürlicher  zu,  als  in  den  ersten  früh- 
zeitigen Regungen  der  normalen  Jugendliebe,  deren  Be- 
deutung und  weitere  Entwickelung  gerade  bei  den  un- 
befangensten und  unschuldigsten  Naturen  am  spätesten 
begrifien  wird."  Hiermit  gibt  Dühring  zu,  daß  diese 
Regungen  vollkommen   unwillkürlich,  demgemäß  also 


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—     192     — 

auch  im  engsten  und  prägnantesten  Sinne  des  Wortes 
„natürlich"  sind,  „daß  sie  so  manches  Freundschafts- 
band knüpfen"  und  daß  sie  „sinnlicher",  also  physio- 
logischer Natur  sind.  Bemängeln  würde  ich  hier  nur 
den  Ausdruck,  demzufolge  diese  Sinnlichkeit  ohne  weiteres 
mit  der  Geschlechtlichkeit  konfundiert  wird,  was  nicht 
ganz  zutreflfend  ist,  obwohl  die  Grenze  allerdings  einiger- 
maßen fließend,  und  eine  genauere  BegrifiFsbestimmung 
eigentlich  erst  auf  Grund  der  Jägerschen  Erwägungen 
und  der  begrifflichen  und  sachlichen  Zerlegung  der 
Sexualität  in  Kontrektationstrieb  und  Detumeszenztrieb 
durch  Moll  ermöglicht  worden  ist. 

Dühring  fährt  an  jener  Stelle  fort:  „Offenbar  hat 
es  die  Natur  nicht  vermeiden  können,  die  geschlechtliche 
Reizbarkeit  so  einzurichten,  daß  nur  ausschließlich  der 
Geschlechtsunterschied  eine  Wirkung  übe.  In  der  Kund- 
gebung des  sinnlich  blühenden  Lebens  hat  sie  Reize  ver- 
körpern müssen,  die  auch  in  der  falschen  Richtung  eine 
irreführende  Anziehungskraft  entwickeln"  usw.  Hierauf 
ist  zu  erwidern,  daß  die  Natur,  so  weit  wir  sie  kennen, 
es  sehr  wohl  hätte  so  einrichten  können,  wenn  sie  gewollt 
hätte;  sie  hat  es  offenbar  bei  den  meisten,  wenn  nicht 
bei  allen  nichtsozialen  Tieren  wirklich  so  eingerichtet. 
Ich  glaube  nicht,  daß  Löwen,  Tiger  oder  Geier  jemals  an 
sogenannter  Ps}  chopathia  sexualis  in  dem  fraglichen  Sinne 
leiden  oder  —  in  der  Freiheit  —  in  homosexueller 
Richtung  von  den  Bahnen  strengster  Askese  abweichen. 
Ein  soziales  Wesen  hingegen  ohne  physiologische,  d.h. 
sinnliche  Anziehungskräfte  auch  zwischen  Geschlechts- 
gleichen hat  die  Natur  in  der  Tat  nicht  schaffen  können; 
die  genauere  Überlegung  zeigt,  daß  ein  solches  soziales 
Wesen  sogar  —  nicht  einmal  vorstellbar  ist. 

Kurz,  Dühring  hat  die  notwendige,  physiologische 
Basis  der  Soziabilität  nicht  veranschlagt. 

Auch    der    Schillersche    Hymnus    an    die    Freude 


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—     193     — 

gehört  hierher  und  spricht  sogar  für  das  empfängliche 
Gemüt  eine  besonders  deutliche  Sprache.  Man  bedenke, 
wie  von  dem  Dichter  die  Freundesliebe,  also  die  Liebe 
zwischen  Geschlechts  gleichen,  ausdrücklich  mit  der 
Gattenliebe  auf  dieselbe  Stufe  gestellt  wird,  und  wie 
sich  dann  das  Gefühl  der  Sympathie: 

,,Seid  umschlungen  Millionen! 
Diesen  Kuß  der  ganzen  Welt!** 

zur  Menschenliebe  erweitert.  Eine  solche  Erweiterung 
wäre  offenbar  unmöglich,  wenn  sich  das  natürliche,  d.  h. 
physiologische  Sympathiegefühl  des  Mannes  wirklich  aus- 
schließUch  auf  die  weibliche  Hälfte  der  Menschheit 
richtete;  denn  dann  könnte  es  doch  etwa  nur  heißen: 

„Seid  umschlungen,  alle  Frauen! 
Diesen  Kuß  der  Weiblichkeit!" 

Man  fühlt  deutlich,  wie  die  Venus  Urania  hier  ge- 
radezu notwendig,  und  wie  ein  Absehen  von  ihr  zu  einer 
komisch  und,  selbst  in  unsern  feministischen  Zeiten,  zugleich 
auch  niedrig  wirkenden  Verflachung  führt.  Die  Erweite- 
rung der  Einzelliebe  zur  echten,  umfassenden  Menschenliebe 
wäre  eben  bei  einer  wirklich  ausschließlicli  auf  das 
andere  Geschlecht  gerichteten  Liebe  so  gut  wie  un- 
möglich, uud  ebenso  würde  natürlich  die  allgemeine 
Menschenliebe  kein  wahrer  und  starker  Affekt,  sondern 
eine  bloße  Abstraktion  oder  Affektation  sein,  wenn 
dieser  Liebe  das  physiologisch-sinnliche,  das  urkräftig* 
natürliche  Element  abginge.  Sehr  mit  Recht  bringt 
endlich  Schiller  die  Liebe  in  ihren  verschiedenen  Formen 
der  Gatten-,  Freundes-  und  Menschenliebe  mit  der  Freude 
zusammen;  denn  die  Freude  gebiert  die  Liebe,  und  um- 
gekehrt gibt  es  ohne  Liebe  auch  keine  wahre  Freude. 
Und  die  Freude  ist  nicht  nur  ein  Gut,  sondern,  durch 
die  Erhöhung  der  Schaffenskraft,  so  recht  ein  Gut,  das 

Jahrbuch  VI.  13 


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—     194     — 

fortzeugend  Gutes  muß  gebären.  Der  asketische  Geist 
ist  freilich  anderer  Meinung  und  müßte,  wenn  er  seine 
wahre  Physiognomie  einmal  ungeschminkt  und  unver- 
schleiert  zur  Schau  stellen  wollte,  den  Schillerschen 
Hymnus  etwa  also  umdichten: 

„Freude,  arger  Teufelsköder, 
Tochter  aus  dem  Höllenpfuhl**  .... 

Man  setzt  sich  leicht  dem  Verdachte  der  Über- 
treibung aus,  weil  nämlich  glücklicherweise  die  gegen- 
wärtige Gestalt  des  Christentums,  unter  dem  heilsamen 
Zwange  der  humanistischen,  der  philosophischen 
und  besonders  der  naturwissenschaftlichen  Auf- 
klärung, jene  mittelalterlichen  Verkehrtheiten  bis  auf 
wenige,  halbverwischte  Spuren  ausgemerzt  hat.  Wer  sich 
aber  über  die  ursprüngliche  und  ungemilderte  Anschauung 
der  Vertreter  des  Christentums  im  frühen  Mittelalter 
unterrichten  will,  der  muß  sich  herbeilassen,  die  Kirchen- 
väter zur  Hand  zu  nehmen,  oder  wenigstens  die  ent- 
sprechenden Kapitel  in  Gibbons  Römischer  Geschichte 
durchzusehen,  wie  besonders  das  37.  im  7.  Buche,  wo 
das  ältere  christliche  Mönchswesen  dargestellt  wird. 
„Vergnügen  und  Schuld  waren  in  der  Sprache 
der  Mönche  gleichgeltende  Ausdrücke",^)  heißt  es 
da;  und  femer:  „Selbst  der  Schlaf,  die  letzte  Zuflucht 
des  unglücklichen,  war  strenge  bemessen;  die  leeren 
Stunden  deä  Mönches  entrollten  langsam  ohne  Be- 
schäftigung wie  ohne  Vergnügen,  und  vor  dem  Schlüsse 
jedes  Tages  hatte  er  wiederholt  den  trägen  Lauf  der 
Sonne  angeklagt  In  diesem  trostlosen  Zustande  verfolgte 
und  quälte  fortwährend  der  Aberglaube  seine  bedauerns- 
werten Anhänger.  Die  Ruhe,  welche  sie  in  dem  Kloster 
gesucht  hatten,  wurde  durch  zu  späte  Reue,  weltlichen 

M  Von  mir  gesperrt. 


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—     195     — 

Zweifel  und  schuldvolle  Begierden  gestört^  und  während 
sie  jeden  Trieb  der  Natur  als  eine  unverzeihliche  Sünde 
betrachteten,  zitterten  sie  beständig  am  Rande  des  boden- 
losen Flammenabgrundes.  Zuweilen  wurden  diese  un- 
glücklichen Opfer  von  den  qualvollen  Kämpfen  der  Krank- 
heit und  Verzweiflung  durch  Tod  oder  Wahnsinn  erlöst,  und 
im  sechsten  Jahrhundert  ward  zu  Jerusalem  ein  Hospital 
für  einen  kleinen  Teil  jener  strengen  Büßer  begründet, 
welche  ihren  Verstand  verloren  hatten".  —  Wenn  man 
wissen  will,  was  das  Christentum  in  älteren  Zeiten  ge- 
wesen, so  muß  man  eben  etwas  Geschichte  treiben; 
und  nur  dann  kann  man  ermessen,  eine  wie  fürchter- 
liche Pest  der  asketische  Geist  ist,  so  lange  und  so  fern 
er  ganz  ernst  genommen  wird.  Zugleich  wird  sich  dann 
aber  auch  das  Herz  mit  Hoffnung  füllen:  Ja,  es  ist  in 
der  Tat  sehr  viel  besser  geworden,  und  auch  die  christ- 
lichen Eorchen  der  Gegenwart  sind  doch  mit  jenen  Aus- 
geburten ganz  und  gar  nicht  mehr  zu  vergleichen; 
man  darf  daher  hoffen,  daß,  wo  die  Aufklärung  mit 
dem  allergrößten  Teile  des  asketischen  Geistes  fertig 
geworden  ist,  auch  die  kleinen  Reste  ausgeschieden  werden 
können.  — 

Ich  glaube  es  vorauszusehen,  daß  in  Zukunft  die 
physiologische  Liebe  —  und  jede  echte  Liebe  bedarf 
eines  physiologischen  Bestandteils  —  geradezu  in  die 
drei  gleichwichtigen  Arten  der  a)  Gattenliebe,  b)  Mutter- 
liebe und  c)  der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  oder  physio- 
logischen Freundschaft  eingeteilt  werden  wird,  mit  der 
Hinzufügung,  daß  letztere  nur  bei  sozial  lebenden  Arten 
vorkommt  und  eben  die  physiologische  Basis  der  Sozia- 
bilität und  hierdurch  die  Vorbedingung  der  Kultur  und 
der  Moral  selbst  —  (natürlich  der  echten,  natur- 
rechtlichen Moral)  —  bildet;  weswegen  sie  nicht  tiefer, 
sondern,  wie  das  ja  auch  Piatons  Ansicht  gewesen  ist, 
eine   Stufe   höher   steht,    als   die   beiden   andern   Arten, 

13* 


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—     196     — 

welche  auch  bei  nicht  sozialen  Tieren  vorhanden  sind. 
Hierzu  käme  als  eine  vierte  Art  noch  diejenige  Liebe, 
auf  der  die  sogenannte  Symphilie,  das  Gastverhältnis 
zwischen  zwei  verschiedenen  Arten  beruht,  worüber  das 
Nähere  in  der  zoologischen  Fachliteratur  nachzulesen  ist 

Schon  seit  einiger  Zeit  wird  nun  wohl  bei  Manchem 
ein  Einwand  und  ein  Gefühl  der  Unbehaglichkeit  auf- 
gestiegen sein.  Gegen  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  in 
diesem  Sinne,  sogar  allenfalls  gegen  die  physiologische 
Freundschaft  mit  bewußten  sinnlichen  Elementen,  —  wie 
der  ästhetischen  Freude  an  der  Jugendschönheit  —  hat, 
so  wird  man  behaupten,  ja  niemand  etwas  einzuwenden. 
Sie  ist  als  „Freundschaft**  anerkannt,  wird  man  sagen; 
etwas  anderes,  hiervon  ganz  verschiedenes,  liegt  aber, 
so  wird  man  entrüstet  hinzufügen,  in  dem  Augenblick  vor, 
wo  diese  Liebe  —  horribile  dictu  —  einen  „geschlecht- 
lichen" Charakter  annimmt. 

Hierauf  ist  zunächst  und  beiläufig  zu  bemerken,  daß 
gegenwärtig  eigentlich  die  Vorstellung  irgend  welcher 
Sinnlichkeit  in  der  Freundschaft,  und  nicht  nur  die 
„Geschlechtlichkeit'*  verpönt  ist;  sucht  man  ja  sogar  das 
sinnliche  Element  der  Freundschaft  geradezu  wegzu- 
lügen,  sodaß  Dühring  mit  seiner  Anerkennung  desselben 
bereits  als  rühmliche  Ausnahme  dasteht! 

Auf  den  Einwand  selbst  ist  aber  der  Hauptsache 
nach  Folgendes  zu  erwidern:  1.  Nimmt  die  physiologische 
Freundesliebe,  der  Eros,  in  der  Regel  eben  keineswegs 
einen  „geschlechtlichen"  Charakter  an.  2.  ist  die  Grenze 
zur  eigentlichen  Geschlechtlichkeit  allerdings  von  der 
Natur  nicht  ganz  so  scharf  gezogen  worden,  wie  die 
Prüderie  wohl  wünschen  möchte;  da  eben  der  Natur 
asketische  Rücksichten  gänzlich  fern  liegen.  3.  ist  eine 
zweifellose  Grenzüberschreitung  zwar  entschieden  zu 
mißbilligen  —  aus  Gründen,  die  hier  nicht  ausein- 
andergesetzt werden  können  — ;  aber  4,  keineswegs  eine 


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—     197     — 

so  fürchterliche  Angelegenheit  oder  überhaupt  etwas  so 
ganz  Besonderes,  wie  wir  infolge  unserer  Tradition,  die 
auf  den  asketischen  Geist  und  den  Aberglauben  des 
Mittelalters  zurückgeht,  anzunehmen  pflegen.  5.  endlich 
gab  und  gibt  es  eine  Anzahl  yon  Männern,  bei  denen 
allerdings  die  Freundschaft  sehr  leicht  jenen  spezifisch 
sexuellen  Charakter  im  engsten  Sinne  des  Wortes  an- 
nimmt: und  bei  einem  wiederum  kleinen  Teile 
derselben  ist  das  in  so  hohem  Grade  der  Fall, 
daß  dieser  „konträre  Geschlechtstrieb"  ganz  an 
die  Stelle  desjenigen  zum  andern  Geschlechte 
tritt 

Zu  dem  ersten  Punkte  ist  nochmals  an  Jäger  zu 
erinnern,  der  auf  Seite  251  des  ersten  Bandes  seiner 
,,Entdeckung  der  Seele''  ausführt,  daß  es  eine  auf  Che- 
motaxis beruhende  Liebe  gibt,  die  trotzdem  eine  direkte 
Berührung  verbietet,  weil  nämlich  die  positive  Chemotaxis 
bei  allzu  großer  Nähe  in  negative  Chemotaxis  übergeht 
„Ein  solcher  Platoniker  weilt  zwar  gern  in  der  Nähe 
seines  Freundes,  aber  küssen  wird  er  ihn  nicht".  — 
„Fleischliche  Liebe  dagegen'',  fährt  Jäger  fort,  ,,i8t  stets 
dadurch  charakterisiert,  daß  sie  möglichste  Annäherung, 
z.  B.  das  Küssen,  erzwingt.  Die  Liebe,  welche  Mutter 
und  Kind  verbindet,  ist  fleischlich,  aber  keineswegs 
sexuelle  Liebe;  denn  dem  Kind  fehlen  ja  die  Sexualdüfte 
völlig;  aber  die  Mutter  liebt  das  Fleisch  des  Kindes, 
deswegen  küßt  sie  dasselbe  oft  am  ganzen  Leibe  und 
schmiegt  sich  innig  an  dasselbe  und  umgekehrt:  das 
Kind  saugt  am  Fleisch  der  Mutter."  — 

Hiemach  ist  nun  ohne  weiteres  klar,  daß  physio- 
logisch-sinnliche Liebe  durchaus  nicht  mit  eigentlicher 
Geschlechtsliebe  identisch  zu  sein  braucht,  und  selbst 
dann  nicht,  wenn  sie  zu  den  intimsten  körperlichen  An- 
näherungen führt  Eine  zweite  Stelle  aus  Jäger,  die 
jeder    aus    eigener  Erfahrung    bestätigen    wird,    lautet 


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—     198     — 

folgeDdermaßen:  ,368teht  nun  instinktive  Fleischesliebe" 
—  (nach  unserer  Bezeichnung  positive  Chemotaxis)  — 
„zwischen  GLeschlechtsreifen  verschiedenen  Geschlechts,  so 
wird  sie  zwar  gewöhnlich  zur  sexuellen  Liebe,  d.  h.  man 
benutzt  sie  zur  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes, 
allein  es  ist  dies,  wie  wir  später  sehen  werden,  durchaus 
keine  notwendige  Konsequenz",  Wenn  dies,  wie  Jäger 
sehr  richtig  angibt,  schon  zwischen  Geschlechtsver- 
schiedenen, deren  Organe  zu  einander  passen,  keine  not- 
wendige Konsequenz  ist,  so  ist  es  das  natürlich  noch 
viel  weniger  zwischen  Geschlechtsgleichen.  Daher  gibt 
es  viel  öfter  sogar  die  allerleidenschaftlichste  erotische 
Liebe,  ohne  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes,  als  in 
der  heterosexuellen  Liebe;  die  Venus  Urania  ist  von 
Natur  die  bei  weitem  keuschere  von  beiden,  und  es  wird 
diese  Tatsache  nur  durch  den  doppelten  Umstand  ver- 
schleiert, daß  in  der  prüden  Gegenwart  die  sinnlichen 
Gefühle  nicht  eingestanden  werden,  weswegen  sogar  die 
leidenschaftlichsten  Liebesbündnisse,  so  lange  sie  nur 
keusch  bleiben,  als  Freundschaften  figurieren;  daß  aber, 
sobald  einmal  eine  ünkeuschheit  in  dieser  Richtung 
vorgekommen  ist,  sie  mit  einem  gewaltigen  Aberglaubens- 
faktor multipliziert  wird  und  daher,  nach  dem  irrtümlichen 
Maßstabe  der  Menge,  etwa  zehntausend  gynäkerastische 
Exzesse  an  Schändlichkeit  aufwiegt. 

Im  Übrigen  gibt  es  innerhalb  der  Venus  Urania  alle 
denkbaren  Gradunterschiede  und  Varianten.  Vom  ein- 
samen Monosexualen  —  häufig  genug  einem  traurigen 
Kunstprodukt  des  christlichen  Askeseprinzips  —  der 
keinen  Freund  braucht,  der  des  sozialen  Instinkts  so  gut 
wie  haar,  überhaupt,  wie  Jäger  angibt,  eine  Art  Eunuch 
und  vor  allen  Dingen,  da  ihm  eben  die  Liebe  fehlt, 
moralisch  von  Haus  aus  minderwertig  ist  oder  dies  mit 
der  Zeit  doch  wird,  bis  zum  Platoniker,  der  „gern  in 
der  Nähe  des  Freundes  weilt",  ist  ein  enormer  Schritt; 


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—     199-  — 

Ton  da  geht  die  Reihenfolge  zu  demjenigen,  der  seine 
Freunde  gern  umarmt  und  küßt,  oder  dem  Liebhaber, 
der  gern  in  einem  dem  Wortsinn  entsprechenden  Gym- 
nasium mit  ihnen  ringen  würde,  aber  dennoch  sich  des 
eigentlich  Sexuellen  ohne  Zwang  enthält,  bis  zu  den- 
jenigen, welche  auch  zu  dem  Letzteren  Neigung  verspüren. 
Diese  kann  natürlich  alle  erdenklichen  Grade  der  Heftig- 
keit haben,  welcher  dann  wiederum,  je  nach  Charakter, 
Umständen  und  Lebensgewohnheiten,  die  verschiedensten 
Grade  des  Widerstandes  entgegengesetzt  werden  mögen. 
Sehr  mit  Recht  hat  Moll  den  Sexualtrieb  in  den  Kon- 
trektations-  und  den  Detumeszenztrieb  zerspalten;  es  ist 
ersterer,  welcher  objektiv  die  Annäherung  bewirkt  und 
subjektiv  als  Liebe  empfunden  wird;  es  ist  letzterer,  der 
für  gewöhnlich  eigentlich  Geschlechtstrieb  heißt.  Nun 
ist  eine  Trennung  beider  sehr  wohl  möglich  und  in  der 
Natur  nicht  selten.  Der  dauernd  oder  gelegentlich  Mono- 
sexuale befriedigt  den  Detumeszenztrieb  ohne  Rücksicht 
auf  den  Kontrektationstrieb  oder  in  völliger  Abwesenheit 
desselben;  und  jeder,  der  in  seinem  Leben  in  der  einen 
oder  in  der  anderen  Richtung  geliebt  hat,  weiß,  daß  der 
Kontrektationstrieb,  also  die  Neigung  zu  körperlichen 
Annäherungen,  lange  Zeit  in  erheblichem  Grade  bestehen 
kann,  ohne  daß  sich  der  Detumeszenztrieb  regte  oder  gar 
befriedigt  würde. 

Dem  Kontrektationstrieb,  welcher  ja  nur  eine  An- 
näherung, und  zwar  eine  Annäherung  in  verschiedenen 
Graden  hervorruft,  ist  nun  bei  den  sozialen  Arten  eine 
doppelte  Aufgabe  zugefallen:  erstens  nämlich  die  Ver- 
einigung der  Geschlechter  einzuleiten,  und  zweitens  einen 
physiologischen  Kitt  auch  zwischen  den  Geschlechts- 
gleichen zu  bilden.  Hierbei  hat  es  die  Natur,  um  mit 
Dühring  zu  reden,  allerdings  vielleicht  nicht  vermeiden 
können,  oder  aber  vielleicht  auch  nicht  vermeiden 
wollen   —   da   der  Natur  jeder  asketische  Aberglaube 


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—     200     — 

und  selbst  unsere  bemessene,  aus  moralpbilosophischen 
Überlegungen  abgeleitete  Mißbilligang  der  Päderastie 
völlig  fern  liegt  —  daß  der  Kontrektationstrieb  in  den 
Fällen,  in  denen  er  sich  einmal  in  stärkerem  Orade  aui 
ein  Individuum  des  gleichen  Geschlechts  richtet,  auch 
den  Detumeszenztrieb  wachruft.  Das  ist  um  so  begreif- 
licher, als  in  dem  normalen  Verlaufe  der  eigentlichen, 
heterosexuellen  Geschlechtsliebe  die  Glieder  der  Reflex- 
kette eben  auch  in  dieser  Weise  an  einander  hängen. 
Deswegen  ist  die  Grenze  zwischen  Liebe  und  Sexualität 
oftmals  schwankend.  Eine  solche  GrenztLberschreituDg 
von  der  bloßen  sinnlichen  Liebe  zur  eigentlichen  Ge- 
schlechtlichkeit wird  von  den  Meisten  als  eine  Abnormität 
empfunden;  sie  würden  selbst,  sogar  im  Falle  einer  echten, 
physiologischen  Freundschaft  und  bei  Abwesenheit  aller 
und  jeder  abergläubischer,  ja  auch  bloß  moralischer  An- 
triebe, hierzu  denn  doch  keine  Neigung  verspüren  und, 
wenn  jemals  eine  solche  Entgleisung  stattgefunden  hätte, 
dies  nachträglich  als  eine  solche  empfinden  und  in  Zu- 
kunft eher  vermeiden.  Daß  uns  aber  eine  solche  ge- 
legentliche, gewohnheitsmäßige  oder  physiologisch  begrün- 
dete Abnormität  als  eine  so  überaus  fürchterliche 
Abnormität  erscheint,  das  ist,  wie  sich  historisch  nach- 
weisen läßt,  nur  der  Nachhall  des  allgemeinen  und 
einer  Anzahl  von  Spezialaberglauben  der  mittelalterlichen 
Nacht. 

Was  ist  denn  schließlich  der  vielberufene  homo- 
sexuelle Verkehr  in  allen  seinen  Varianten?  Zwei  Men- 
schen, die  einander  gern  haben,  bereiten  einander  eine 
angenehme  Empfindung!  Liegt  das  nicht  so  recht  von 
Natur  wegen  ziemlich  nahe,  so  lange  die  angeborenen 
Instinkte  und  Triebe  nicht  entweder  vom  asketischen 
Aberglauben  angekränkelt,  oder  aber,  nach  Maßgabe 
unserer  Gründe  für  die  wirkliche  Mißliebigkeit  des 
homosexuellen   Verkehrs,    gezügelt    und    modifiziert 


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—     201     — 

sind?  Deswegen  ist  es  auch  nichts  weniger  als  über- 
raschend, sondern  vielmehr  selbstverständlich^  daß  gerade 
bei  Naturvölkern  dasjenige  in  Blüte  steht^  was  die  Priester 
des  Mittelalters^  aus  Motiven  raffinierter  Herrschsucht,  als 
das  Verbrechen  wider  die  Natur  gebrandmarkt  haben.  — 
Man  hat  sich  in  neuester  Zeit  auch  bei  Tieren  nach 
etwas  umgesehen,  das  der  erotischen  Liebe  des  Menschen 
ähnlich  sieht,  worüber  man  in  dieser  Zeitschrift  im 
II.  Bande  den  Aufsatz  von  Harsch  nachlesen  mag. 
Meines  Erachtens  hat  hier  Earsch  aber  insofern  einen 
Fehler  begangen,  als  er  den  Kreis  seiner  Feststellungen 
zu  eng  gezogen  und  sich  auf  solche  extreme  Fälle  be- 
schränkt hat,  bei  denen  es  tatsächlich  zu  „Päderastie'^ 
oder  zu  „Tribadie",  d.  h.  zu  einer  sexuellen  Vereinigung 
zwischen  Geschlechtsgleichen  gekommen  ist.  Freilich  ist 
durch  den  gelungenen  Nachweis  einer  stattlichen  Anzahl 
solcher  Fälle,  a  plus  forte  raison,  anzunehmen,  daß  die 
Venus  Urania  auch  bei  Tieren,  und  zumal  bei  mehr  oder 
minder  sozialen  Tieren,  nicht  die  Ausnahme,  sondern  die 
Regel  ist.  Denn  nach  unserer  Definition  ist  das  wahre 
Analogen  zur  Venus  Urania  die  Neigung  zu  innigen  Be- 
rührungen, ja  zur  Annäherung  zwischen  Geschlechts- 
gleichen überhaupt;  und  die  Frage,  ob  es  hierbei  zu 
eigentlich  sexuellen  Akten  kommt  oder  nicht,  ist  in  der 
Tat  eine  akzidentelle  Nebensache.  Wir  können  doch  un- 
möglich die  Tiere  mit  den  Augen  eines  Reichsgerichtsrats 
unter  Zugrundelegung  des  §  175,  mit  den  Augen  eines 
mittelalterlichen  Asketen  oder  auch  nur  eines  Moralisten 
ansefien;  sobald  wir  das  aber  nicht  tun,  verliert  auch 
die  Frage,  ob  es  dabei  zu  eigentlich  sexuellen  —  fast 
möchte  man  sagen  „strafbaren"  —  Akten  gekommen, 
wenn  nicht  alle,  so  doch  die  hauptsächlichste  Bedeutung. 
Nach  unserer  Auffassung  liegt  ein  Analogen  zur  homo- 
sexuellen Liebe  des  Menschen  überall  da  vor,  wo  es  zu 
Anschmiegungen,  zu  Liebkosungen  und  anderen  Beweisen 


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—     202     — 

physiologischer  Liebe  kommt,  —  ohne  Rücksicht  auf  die 
verhältoismäßig  gleichgültige  Frage,  ob  auch  eine  Be- 
rührung und  Beizung  der  Seioialorgane  stattgefunden  hat. 
Eine  genauere  Prüfung  muß  sogar  ergeben,  daß  bei  jeder 
sozialen  Art  eine  der  menschlichen  Venus  Urania  ana- 
loge Anziehungskraft  auch  zwischen  Geschlechtsgleichen 
besteht,  und  eine  solche  Untersuchung  würde  wahrschein- 
lich auch  zu  dem  weiteren  Ergebnis  führen,  daß  kein 
Individuum  einer  sozialen  Art  die  physiologische  Ab- 
lösung von  seinem  Artstamme,  also  die  Einsamkeit,  ohne 
Schaden  erträgt. 

Der  große  Fehler,  den  wir  bei  der  Beurteilung 
menschlich-soziologischer  Beziehungen  zu  begehen  pflegen, 
besteht  darin,  daß  wir  alles  aus  reingeistigen  und  psy- 
chisch-immateriellen Ursachen  zu  erklären  suchen.  Dieser 
Fehler  rührt  daher,  daß  uns  die  materiellen  Ursachen 
oftmals  nicht  recht  zum  Bewußtsein  kommen,  und  daß 
sie  uns  ferner,  soweit  dies  doch  der  Fall  ist,  aus  den 
schon  angeführten  Gründen  anstößig  erscheinen.  Am 
sichersten  erkennt  und  vermeidet  man  diesen  Trug,  wenn 
man  sich  immer  von  neuem  ins  Gedächtnis  ruft,  daß  der 
Unterschied  zwischen  dem  Menschen  und  den  anderen 
Tieren  nicht  darin  besteht,  daß  dem  Menschen  das  Ani- 
male  in  irgend  einer  Beziehung  fehlt,  sondern  daß  zu 
dem  Animalen  noch  etwas  spezifisch  Geistiges  hinzu- 
kommt, welches  den  Tieren  entweder  abgeht  oder,  was 
wahrscheinlicher  ist,  bei  ihnen  nur  weniger  entwickelt  ist. 
Sobald  man  diesen  wirklich  wissenschaftlichen,  ver- 
gleichend physiologischen  Standpunkt  gewonnen  '  hat, 
wird  man  beispielsweise  auch  nicht  einen  Augenblick 
daran  zweifeln,  daß  die  Freundschaft  eine  physiolo- 
gische, also  sinnliche  Basis  hat;  denn  etwas  der  Freund- 
schaft vollkommen  Analoges  kommt  bekanntlich  bei  vielen 
Tieren  vor  und  hat  daselbst  doch  sicherlich  einen  phy- 
siologischen Grund;  also  wird  sich  die  Sache  beim  Men- 


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—     203     — 

sehen  ebenso  verhalten,  nur  kommt  bei  ihm  zu  dem 
Physischen  noch  etwas  Greistiges  hinzu.  Die  allgemeine, 
sehr  begreifliche  Tendenz  geht  dahin,  das  letztere  zu 
überschätzen  und  das  erstere  zu  unterschätzen,  wo  nicht 
gar  zu  verkennen.  Damit  soll  übrigens  nicht  behauptet 
sein,  daß  es  rein  oder  fast  rein  geistige  Freundschaften 
nicht  gebe;  nur  werden  solche  niemals  wirklich  intim 
und  herzlich  geraten,  sondern  mehr  abstrakt  und  kalt 
bleiben. 

Der  Unterschied  der  hier  vertretenen  Anschauung 
von  der  ülrichsschen,  welcher  die  Mediziner  gefolgt  sind, 
besteht  darin,  daß  ich  die  gleichgeschlechtliche  Liebe 
nicht  durch  die  Annahme  einer  Beimischung  von  Cha- 
rakteren des  anderen  G-eschlechts  erkläre  und  nicht  mit 
der  zwittrigen  Anlage  des  menschlichen  Embryos,  son- 
dem  mit  der  Tatsache  zusammenbringe,  daß  der  Mensch 
ein  soziales  Lebewesen  ist,  und  daß  bei  allen  sozialen 
Tieren  eine  physiologische  Anziehungskraft,  d.  h.  sub- 
jektivistisch  gesprochen,  physiologische,  also  sinnliche 
Liebe  auch  zwischen  Individuen  desselben  Geschlechts 
vorhanden  sein  muß.  Freilich  ist  es  nicht  notwendig, 
daß  diese  sinnliche  Liebe  speziell  sexueller  Art  sei; 
das  ist  sie  in  der  Begel  auch  nicht;  jedoch  ist  der 
Übergang  von  der  bloßen  Sinnlichkeit  zur  Geschlecht- 
lichkeit leicht  vollzogen  und  ist  auch  gar  kein  so 
wichtiger  und  besonderer  Schritt,  wie  dies  auf  Grund 
des  aketischen  Wahns  erscheint.  —  Ich  sollte  meinen, 
daß  die  hier  entwickelte  Theorie  die  große  Wahrschein- 
lichkeit auf  ihrer  Seite  hat;  denn  die  physiologische 
Anziehung  zwischen  den  Individuen  auch  desselben  Ge- 
schlechts ist  bei  allen  sozial  lebenden  Arten  eine  offen- 
bare Notwendigkeit,  und  der  Übergang  von  der  An- 
ziehung zur  eigentlichen  Sexualität  ein  vielleicht  von 
der  Natur  sozusagen  unbeabsichtigtes,  minder  wichtiges, 
übrigens  aber  ziemlich  naheliegendes,  und,  wenn  nicht 


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—     204     — 

mit  den  Augen  des  Asketen  betrachtet,   auch   ziemlich 
harmloses  Nebenergebnis. 

Dennoch  läßt  sich  eine  Brücke  von  unserer  Auf- 
fassung zur  Zwischenstufentheorie  schlagen,  und  dies 
wird  durch  die  höchst  merkwürdige  Tatsache  ermöglicht, 
daß  die  Natur  gerade  bei  einer  Anzahl  exquisit  sozialer 
Arten  mitunter  wirklich  eine  Art  dritten  Geschlechts  ge- 
schaffen hat,  d.  h.  Individuen,  welche  normalerweise^) 
nicht  zur  Fortpflanzung  gelangen,  sondern  die  vermöge 
eines  besonders  hoch  entwickelten  sozialen  Instinkts  (d.  h. 
besonderer  Reizbarkeiten)  der  Kolonie,  dem  Stocke  oder 
Staate  nützen,  indem  sie  sozusagen  asexuelle,  aber  im 
höchsten  Grade  soziale  Organe  der  Kollektivität  sind. 
Solche  Formen  finden  sich  bei  manchen  Insekten,  wie 
den  Bienen,  den  Ameisen  und  den  Termiten,  dann  aber 
auch  bei  den  durch  förmliches  Zusammenwachsen  zu 
einer  höheren,  auch  körperlichen  Einheit  verschmolzenen 
Siphonophoren.  Ein  wirkliches  „drittes  Geschlecht" 
finden  wir  sonst  nirgends  in  der  Natur  und  ebenso- 
wenig regelmäßig,  d.  h.  anders  denn  als  seltene  Miß- 
bildungen vorkommende  Zwischenstufen  zwischen  Männ- 
chen und  Weibchen.  Auch  die  Arbeiter  der  Bienen 
sind  keine  solchen  Zwischenstufen  zwischen  den  Ge- 
schlechtem,   sondern    entschiedene,    wenn   auch   sexuell 

*)  Der  Vergleich  des  Menschen  mit  den  Bienen  und  anderen 
sozialen  Tieren  ist  sehr  alt;  er  findet  sich  in  Aristoteles  (Aristo- 
telis  Politicorum  Libri  Octo,  cum  vetusta  Transla- 
tione  Guilelmi  de  Moerbeka  rec.  Fr.  Susemihl,  Lipsiae, 
Tb.  MDCCCLXXII)  S.  7—8.  Des  großen  Interesses  wegen  lasse 
ich  die  Stelle  aus  dem  I.  Buche  im  Urtext  folgen: 

„Jtort  ÖB  TioXiTutbv  ^f}ov  6  äv&Qtanog  naa/jg  ^ellttrjg  xai  nav* 
Toc  nyelaiov  ^fJov  fiaklov,  d^kof."  —  Und  vorher:  „.  .  .  xai  ou  6 
(xp&Qonog  (pvaei  nohrucbv  ^(oov  eVrt,  .  .  .** 

,)£8  ist  klar,  daß  der  Mensch  ein  in  höherem  Grade  soziales 
Tier  ist,  als  jede  Biene  und  jedes  Herdentier."  —  Und  vorher: 
„.  .  .  daß  der  Mensch  ein  von  Natur  soziales  Tier  ist  .  .  .** 


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—     205     — 

nicht  voll  entwickelte  Weibchen.  Wenn  schon  die 
embryonale  Anlage  der  Eeimdriisen  bei  allen  Säuge- 
tieren, um  von  anderen  abzusehen,  allerdings  zwittrig 
ist^  so  ist  der  Entwickelungsmechanismus  eben  in 
der  Art  eingerichtet,  daß,  mit  Ausnahme  einer  ganz 
verschwindend  geringen  Anzahl  von  Fällen,  die  Ekit- 
wickelung  der  einen  Drüse  die  der  anderen  unterdrückt. 
Im  Entwickelungsverlauf  gibt  es  demnach  sozusagen 
eine  Weggabelung  in  zwei,  aber  nicht  in  drei  sexuelle 
Entwickelungsmöglichkeiten.  Auch  ist  festgestellt,  daß 
die  sekundären  Sexualcharaktere  demselben  Gesetz  ge- 
horchen; die  Entwickelung  der  primären  Keimdrüse  för- 
dert die  Ausbildung  der  sekundären  Charaktere  des  ent- 
sprechenden Geschlechts  und  unterdrückt  gleichzeitig  die 
des  anderen.  Sogar  nach  vollzogener  gänzlicher  Aus- 
bildang  kann  unter  Umständen,  nach  Fortfall  der  pri- 
mären Funktion,  der  sekundäre  Sexualcharakter  des  andern 
Geschlechts  auftreten;  wie,  um  nur  ein  kleines,  aber 
jedermann  geläufiges  Beispiel  zu  erwähnen,  die  Weiber 
nach  Erlöschen  ihrer  Sexaalfunktion  oft  einen  entschie- 
denen Anflug  von  Bart  bekommen;  nicht  weil  sie  auf 
dem  Wege  sind,  Männer  zu  werden,  sondern  weil  sie 
aufgehört  haben,  Weiber  im  engsten  physiologischen 
Sinne  zu  sein,  und  vielmehr  etwas  sozusagen  sexuell  In- 
differentes sind.  Aus  demselben  Grunde  bekommen  alte, 
nicht  mehr  legende  Weibchen  mancher  Vögel  gelegent- 
lich ein  zum  Teil  männliches  Gefieder.  Es  sind  das  die 
hahnenfedrigen  Hennen.^) 

Wenn  eine  größere  Anzahl  der  Homosexuellen  in 
der  Tat  eine  Reihe  spezifisch  weiblicher  Merkmale 
aufweist,    so    würde    dies    nicht    auf   einer    wirklichen 


*j  Eine  vorzügliche  kritische  Zusammenstellung  der  hierhin 
gehörigen  Tatsachen  findet  man  bei  Gurt  Herbst,  Formative 
Reize  in  der  tierischen  Ontogenese,  Leipzig  1901,  Georgi. 


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—     206     — 

Beimischung  positiv  weiblicher  Elemente  zu  beruhen 
brauchen,  sondern  könnte  möglicherweise  nur  auf  eine 
geringere  Entwickelung  der  männlichen  Sexualität  zu- 
rückzuführen sein.  Hand  in  Hand  damit  würde  der 
Komplex  der  Reizbarkeiten,  welcher  bei  der  Mehrzahl  so 
geordnet  ist,  daß  er  zur  Fortpflanzung  führt,  in  der 
Richtung  abweichen,  daß  der  soziale,  d.  h.  gleich- 
geschlechtliche Liebestrieb  in  verschiedenen  Graden  den 
eigentlich  geschlechtlichen  überwiegt  Daß  hierbei  den- 
noch hin  und  wieder  spezifische  Sexualakte,  also  die 
Entladung  von  Geschlechtsprodukten  und  die  Befriedigung 
des  Detumeszenztriebes,  und  zwar  zwischen  Individuen 
des  gleichen  Geschlechts,  vorkommt,  stört  zwar  die  Ana- 
logie zum  dritten  Geschlecht,  wie  wir  es  bei  Insekten 
kennen;  jedoch  ist  bei  der  Mannigfaltigkeit  der  lebenden 
Natur  eine  völlige  Gleichmäßigkeit  von  vornherein  nicht 
zu  erwarten. 

Es  ist  jedenfalls  eine  sehr  bemerkenswerte  Tatsache, 
daß  eine  Art  wirklichen  dritten  Geschlechts  —  mitunter 
sogar  in  noch  weitergehender  Dififerenzierung  in  mehrere 
„Kasten"  —  gerade  bei  den  Arten  und  nur  bei  den 
Arten  vorkommt,  bei  welchen  der  „soziale  Instinkt" 
(wie  man  früher  sagte)  besonders  hoch  entwickelt  ist  und 
zur  Bildung  von  Tierstaaten  geführt  hat.  Es  liegt 
hier  eine  Art  von  Arbeitsteilung  zwischen  den  Erforder- 
nissen der  Fortpflanzung  und  den  neu  hinzukommenden 
Erfordernissen  der  Sozialität  vor,  deren  Vereinigung  in 
denselben  Individuen  zu  viel  gewesen  wäre.  Eine  physio- 
logische „homosexuelle  Liebe"  ist,  wie  nachgewiesen,  für 
jede  soziale  Art  notwendig;  die  am  meisten  sozialen, 
wie  die  Termiten,  die  Ameisen,  die  Bienen  und 
einige  Wespen,  besitzen  aber  außerdem  in  der  Tat  ein 
wirkliches  „drittes  Geschlecht". 

Übrigens  ist,  wenigstens  bei  den  Bienen,  oben- 
drein   eine    höchst    entwickelte    homosexuell-chemo- 


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—     207     — 

taktische  Anziehung  zwischen  dem  vollentwickelten, 
der  Fortpflanzung  dienenden  Weibchen,  der  sogenannten 
„Königin'^  und  den  sexuell  verkümmerten  Weibchen, 
den  Arbeitern,  bekannt;  die  letzteren  folgen,  zweifel- 
los auf  Grund  chemotaktischer  Reizbarkeiten,  beim  Aus- 
ziehen eines  jeden  neuen  Schwarms  der  Königin  und 
lassen  sich  dort  in  der  bekannten  Traubenform  nieder, 
wo  sich  die  Königin  gesetzt  hat,  welche  fßr  alle  übrigen 
eine  Art  von  Attraktionsmittelpunkt  abgibt;  ja,  wo  sich 
die  Königin  auch  nur  vorübergehend  niedergelassen  hat, 
bildet  sich  ein  kleiner  Klumpen  von  Arbeitsbienen,  die 
oiFenbar  durch  die  von  der  Königin  zurückgelassenen 
chemotaktisch  wirksamen  Substanzen  angezogen  werden. 
Bei  der  ungeheuren  systematischen  Kluft  zwischen  In- 
sekten und  Säugetieren  wird  man  natürlich  eine  bis  ins 
Einzelne  gehende  Analogie  selbst  dann  nicht  erwarten 
dürfen,  wenn  auch  der  Vergleich  im  übrigen  zutreffend 
sein  sollte,  was  sich  beim  gegenwärtigen  Stande  der  Kennt- 
nis der  menschlichen  Sympathieverhältnisse,  besonders 
auch  homosexueller  Art,  noch  nicht  entscheiden  läßt. 
Jedenfalls  aber  dürfte  durch  diese  vergleichend  bio- 
logischen Gesichtspunkte  auf  das  umstrittene  und  von 
so  großen  Vorurteilen  umlagerte  Gebiet  der  menschlichen 
homosexuellen  Liebe  ein  neues  Licht  geworfen  sein.^) 


^)  Ahnungen  dieser  Wahrheit  finden  sich  gelegentlich  auch 
bei  den  Vertretern  der  Zwischenstufen theorie.  Ob  Hößli,  dem 
Vorgänger  des  Schöpfers  jener  Auffassung,  etwas  Ähnliches  vor- 
schwebte, als  er  sein  Werk  dem  „Schutzgeist  des  menschlichen 
Geschlechts'*  widmete,  mag  dahingestellt  bleiben.  Dagegen  kommt 
eine  Stelle  in  Hirschfelds  „Urnischem  Menschen"  der  von 
mir  vertretenen  Anschauung  jedenfalls  nahe,  wenn  auch  Hirsch - 
feld  die  entscheidenden  Überlegungen  noch  nicht  mit  voller 
Klarheit  und  Schärfe  ausgesprochen  hat.  Auf  S.  155 — 156  seiner 
Schrift  lesen  wir: 

„Von  den  beiden  Komponenten  des  Geschlechtstriebes,  dem 
Kontrektations-  und  Detumeszenztriebe  Molls,  dem  Erganzungs- 


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—     208     — 

Jedenfalls  wird  jeder  Kundige,  welche  spezielle 
Theorie  er  auch  aufstellen  mag,  zugeben  müssen,  daß 
in  der  gleichgeschlechtUchen  Liebe  oder  der  physio- 
logischen Freundschaft  des  Menschen,  wie  wir  sie  ver- 
stehen, ein  Naturtrieb  vorliegt.  Es  ist  eine  Neigung, 
die  wir  alle,  mit  ganz  wenigen  bedauernswerten  Aus- 
nahmen,^) wenn  auch  in  recht  verschiedenen  Nuancen 
und  Abstufungen  von  der  Natur  empfangen  haben,  und 
die  bei  einigen  geradezu  an  die  Stelle  der  normalen  Ge- 
schlechtsliebe tritt,  diese  gleichsam  ersetzt,  und  in  diesem 
Ausnahmsfalle  jenen   speziäsch-sexuellen  Charakter   an- 


und  Geschlechtsbefriedigungs triebe,  hat  der  erstere  mit  der  Fort- 
pflanzung direkt  überhaupt  nichts  zu  tun.  Dabei  ist  er  fUr  den 
Charakter  und  die  Richtung  des  sexuellen  Triebes  das  wesent- 
lichere. Es  ist  auch  sehr  wahrscheinlich,  daß,  wenn  die  Fort- 
pflanzung beim  Menschen,  wie  bei  so  vielen  Lebewesen,  unge- 
schlechtlich wäre,  der  Gefühlskomplex,  der  in  der  geschlechtlichen 
Zuneigung  zum  Ausdruck  gelangt,  nicht  völl'g  aus  der  Welt 
verschwände.  Das,  was  wir  im  weiteren  Sinne  Herdentrieb,  im 
engeren  Sinne  Ergänzungstrieb  (Kontrektationstrieb)  nennen,  würde 
sicherlich  auch  dann  noch  fortbestehen.  Denken  wir  uns  den 
ErgSnzungstrieb  vom  Geschlechtstriebe  losgelöst,  so  wird  es  uns 
nicht  mehr  so  rätselhaft  erscheinen,  daß  das  Objekt  dieses  Er- 
gänzungstriebes, der  Gegenstand  der  Liebe,  auch  eine  Person  sein 
kann,  mit  der  ein  neues  Wesen  zu  zeugen  nicht  möglich  ist. 
Andererseits  wird  es  uns  auch  verständlicher  werden,  daß  sich 
der  Geschlechtsbefriedigungstrieb  (Detumeszenztrieb)  demjenigen 
Objekt  zuwendet,  auf  das  der  Kontrektationstrieb  gerichtet  ist. 
Der  Detumeszenztrieb  ist,  so  groß  seine  praktische  Bedeutung  sein 
mag,  dabei  doch  nur  untergeordnet,  sekundär,  und  man  sollte  ihm 
daher  bei  einer  objektiven  Beurteilung  der  Homosexualität  nicht 
die  erste  Rolle  zuweisen,  wie  es  vielfach  geschieht."  —  Wie  mau 
bieht,  erhebt  sich  hier  Hirsch  fei  d  entschieden  über  die  Zwischen- 
stufentheorie  und  nähert  sich,  durch  die  Erwähnung  des  Herden- 
triebes, bereits  eben  derjenigen  Anschauung,  die  in  diesem  Ab-^ 
schnitt  von  mir  ausdrücklich  begründet  worden  ist. 

*J  Hiermit  sind  diejenigen  Extreme  —  vorwiegend  wohl 
Monosexuale  im  Sinne  Jägers  —  gemeint,  welche  nicht  einmal 
einer  Freundschaft  fähig  sind. 


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—     209     — 

nimmt,  der  ihr  für  gewöhnlich  abgeht,  und  der  nur  auf 
Grund  der  asketischen  Forderungen  von  buddhistischer 
Herkunft  und  judäisch^unduldsamer  Zustutzung  ein  so 
furchtbarer  Stein  des  Anstoßes  geworden  ist  — 

Diesem,  wie  allen  elementaren  Naturtrieben  gegen- 
über, gibt  es  bei  reflektierenden  Wesen  drei  Verhaltungs- 
mOglichkeiten:  erstens  den  Versuch  der  Unterdrückung, 
zweitens  die  gleichsam  indifferente  Haltung  des  „laisser 
faire,  laisser  aller",  und  drittens  den  Versuch  der  Ver- 
feinerung oder  der  positiven  Pflege  durch  Sitte  oder  gar 
durch  Gesetz.  Den  ersteren  Standpunkt  hat  in  einigem 
Umfange,  soweit  wir  wissen,  nar  diejenige  Kulturge- 
fitaltung  eingenommen,  welche  durch  den  Import  eines 
ftsiatischen,  vorwiegend  indojudäischen  Religionsgemisches 
in  die  zersetzten  Fäulniszustände  des  römischen  Welt- 
reichs zustande  kam  und  das  eigentliche  Mittelalter 
völlig  beherrschte,  aber  auch  jetzt,  trotz  Renaissance, 
Revolution  und  moderner  Wissenschaft  noch  nicht  ganz 
überwanden  ist. 

Der  zweite  Standpunkt,  der  der  Indifferenz,  scheint 
der  am  meisten  verbreitete  zu  sein.  Das  ist  auch 
einigermaßen  begreiflich.  Denn  selbst  im  Falle  einer 
wirklich  sexuellen  Zuspitzung  des  physiologischen  Freund- 
Bchaftstriebes  hat  Sitte  und  Staat  doch  nicht  das  un- 
mittelbare Interesse  eines  ordnenden  (oder  auch  ver- 
pfuschenden) Eingreifens,  wie  bei  der  mann  weiblichen 
Liebe,  wegen  der  physischen  Fruchtbarkeit  der  letzteren. 
Überall,  wo  kein  übermäßiger  Weiber-  und  Priester- 
einfluß besteht,  wird  man  in  der  Regel  diese  Indifferenz 
gegenüber  dem  Eros,  und  selbst  gegenüber  seinen  tadelns- 
werten, sexuellen  Formen  eine  ziemlich  milde  Beurteilung 
vorfinden. 

Zur  positiven  Pflege,  zur  sozialen  Anerkennung  und 
teilweise  sogar  zar  staatlichen  Ordnung  ist  es  bekanntlich 
bei  den  Hellenen  gekommen;  die  griechische  Liebe  führt 

Jahrbuch  VI.  14 


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—     210     — 

diesen  ihren  Namen  zu  Rechte  nicht  etwa  weil  sie  allein 
oder  auch  nur  vorzugsweise  hei  den  Griechen  vorhanden 
gewesen  wäre;  sondern  nur  deshalb,  weil  die  Griechen 
sie  positiv  gepflegt,  verfeinert  und  systematisiert  haben. 
Aber  selbst  hiermit  stehen  sie  nicht  ganz  allein  da, 
und  Ansätze  zu  einer  solchen  positiven  Ordnung  finden 
sich  auch  bei  andern  Völkern.  Einige  Angaben  findet 
der  Leser  in  dem  Aufsatze  von  Karsch  über  die  „Päde- 
rastie und  Tribadie  bei  den  Naturvölkern''  im  IIL  Jahr- 
gange des  Jahrbuchs  für  sexuelle  Zwischenstufen.  Aber 
auch  hier  hat  nach  unserer  Auffassung  Karsch  das 
Thema  entschieden  zu  eng  gefaßt  und  hat  der  spezifisch 
sexuellen  Wendung  eine  höhere,  abgrenzende  Bedeutung 
beigemessen,  als  derjenige  ihr  beilegen  wird,  der  die 
Sache  wirklich  ganz  unbefangen  betrachtet  und  die 
letzten  Reste  des  asketischen  Wahns  abgestreift  hat; 
denn  hierdurch  wird  die  spezifisch  sexuelle  Wendung 
der  physiologischen  JPreundschaft  zwar  nicht  etwas 
schlechthin  Gleichgültiges,  wohl  aber  etwas  relativ 
recht  Nebensächliches.  Es  würden  nach  unserer  Auf- 
fassung alle  diejenigen  Sitten  herbeizuziehen  sein, 
durch  welche  spezielle  Freundschaftsbündnisse  unter 
Männern,  zumal  unter  Männern  ungleichen  Alters,  als 
solche  sanktioniert  werden;  alle  Waffenbrüder- 
schaften, Blutsbrüderschaften  und  ähnliches  gehört 
hierhin;  ganz  unabhängig  von  der  sekundären  Frage, 
ob  spezifisch  sexuelle  Akte  hierbei  verboten,  still- 
schweigend geduldet  oder  etwa  gleichfalls  ausdrücklich 
sanktioniert  waren;  denn  die  Hauptsache  ist  die  Liebe, 
objektivistisch  gesprochen,  der  Kontrektations-  oder  Er- 
gänzungstrieb, und  nicht  der  „Detumeszenztrieb",  da  die 
Liebe  etwas  relativ  Dauerhaftes  und  etwas  Wichtiges,  die 
gröbere  Sinnlichkeit  hingegen  eine  verhältnismäßig  neben- 
sächliche und  eine  gar  flüchtige  Sache  ist.  Auch  diese 
gewiß    schon    recht   subtile   Überlegung    finden    wir    in 


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—     211     — 

Piatons  Gastmahl  angestellt^  in  welchem  überhaupt 
zehnmal  mehr  enthalten  ist,  als  der  durchschnittliche 
moderne  Leser  versteht.^) 

Nach  dieser  Betrachtungsweise  einer  vergleichenden 
Ethnologie  und  kritisch -vergleichenden  Sittenkunde  ist 
es  ohne  weiteres  klar,  daß  es  eine  f&r  die  ganze  Kultur 
hochwichtige  Frage  ist,  was  die  Menschen  mit  diesem 
ihren  Naturtriebe  anfangen.  Leider  gilt  hier  gar  oft 
der  Satz: 

„Ein  wenig  beaser  wfird'  er  leben, 
Hftttet  Du  ihm  nicht  den  Schein  des  Himmelslichts  gegeben; 
£r  nennt'e  Vernunft  und  braacht'B  allein, 
Nur  tierischer  als  jedes  Tier  zu  sein.'* 


')  So  heißt  es  in  der  Rede  des  Aristophanes  im  Plato- 
nischen Gastmahl  im  Zusammenhange  mit  der  Allegorie  der 
verlorenen  Hälften  —  des  schönsten  Symboles  des  Ergfinzungs- 
triebes  — :  „Wenn  aber  einmal  einer  seine  wahre  eigene  Hälfte 
antrifft,  ein  Knabenfreund  oder  jeder  andere,  dann  werden  sie 
wunderbar  entzückt  zu  ^undschaftlicher  Einigung  und  Liebe, 
und  wollen,  sozusagen,  auch  nicht  die  kleinste  Zeit  von  einander 
lassen;  und  die  ihr  ganzes  Leben  lang  mit  einander  verbunden 
bleiben,  diese  sind  es,  welche  auch  nicht  einmal  zu  sagen  wüßten, 
was  sie  von  einander  wollen.  Denn  dies  kann  doch  wohl  nicht  die 
Gemeinschaft  des  Liebesgenusses  sein,  daß  um  deswillen  jeder  mit 
so  großem  Eifer  trachtete,  mit  dem  anderen  zusammen  zu  sein; 
sondern  offenbar  ist,  daß  die  Seele  beider,  etwas  anderes  wollend, 
was  sie  aber  nicht  aussprechen  kann,  es  nur  andeutet  und  zu 
raten  gibt."  —  Es  wird  dann  ausgeführt,  daß,  wenn  vor  ein 
solches  Paar  Hephaistos  träte,  die  Liebenden  darum  flehen 
würden,  an  einander  geschmiedet  zu  werden.  —  Es  ist  dies,  in 
modemer  Ausdrucksweise,  eine  allegorische  Einkleidung  der  im 
Text  erläuterten  Wahrheit,  daß  für  den  unbefangenen  Sinn  — 
wie  es  eben  derjenige  der  Griechen  war  —  die  Liebe  die  Haupt- 
sache und  das  Bischen  etwaiger  Wollust  eine  Nebensache  ist.  Erst 
der  asketische  Priestertrug  des  Mittelalters  hat  aus  der  allerdings 
immer  mehr  oder  minder  mißliebigen  Nebensache  eine,  ja 
geradezu  die  Hauptsache  gemacht. 

14* 


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—     212     — 

Denn  ohne  Vernunft  hätte  der  Mensch  wenigstens 
nicht  auf  die  Idee  eines  grundsätzlichen  Wütens  gegen 
seine  physiologisch  e  Natur  verfallen  können.  Die  Erfahrung 
hat  gelehrt,  und  es  ist  außerdem  auch  aus  deduktiven 
Schlüssen  klar,  daß  der  Versuch  der  Unterdrückung 
eines  mächtigen  Naturtriebes  niemals  gelingt,  wohl 
aber  hinreicht,  ihn  partiell  zu  schädigen  und  im  übrigen 
zu  korrumpieren.  Wenn  es  möglich  wäre,  daß  irgend 
ein  Volk  nicht  nur  alle  Formen  der  Ehe  beseitigte, 
sondern  auch  die  echte  Liebe  zwischen  den  Geschlechtern 
überhaupt  in  jeder  Form  grundsätzlich  verpönte,  so 
würde  oflfenbar  die  —  heimliche  Prostitution  allein  übrig 
bleiben.  Ganz  schwache  Ansätze  hierzu  mögen  sich  hier 
und  da  finden,  wo  für  eine  bestimmte  Kaste  Ehelosigkeit 
vorgeschrieben  war;  im  übrigen  hinkt  der  Vergleich  aller- 
dings insofern,  als  eine  solche  allgemeine  Verpönung 
selbst  von  den  ausschweifendsten  Formen  des  Aber- 
glaubens nicht  durchgesetzt  werden  konnte.  In  Bezug 
auf  die  homogene  Liebe  hat  aber  das  Mittelalter  den 
analogen  Fehler  wirklich  gemacht;  und  das  ist  der 
einzige  Grund,  weswegen  in  der  gleichgeschlechtlichen 
Liebe,  der  physiologischen  Freundschaft,  in  der  Gegen- 
wart prostitutive  und  korrupte  Beziehungen  relativ  so 
häufig  sind,  während  die  edelsten,  ganz  keusch  bleibenden, 
unter  dem  lauen  Namen  der  Freundschaft  verschwinden 
und  lange  nicht  die  Bedeutung  haben,  wie  ehedem. 

Es  ist  möglich,  die  physiologische  Freundschaft 
sozial  anzuerkennen  und  das  spezifisch  Sexuelle  zu  miß- 
billigen, oder  doch  höchstens  in  den  ca.  2®/^  betragenden 
Fällen  einer  extremen  Veranlagung  zu  entschuldigen. 
Das  ist  der  Standpunkt,  den  ich  in  meinem  Werke  ver- 
trete, und  welcher  sich  ungefähr  mit  demjenigen  des 
Sokrates  decken  dürfte.  Er  ist  der  edelste,  nützlichste 
und  menschenwürdigste.  Unmöglich  hingegen  ist  es,  die 
Liebe   gut  zu   heißen  und  ihre  sexuelle  Entgleisungs- 


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—     213     — 

möglichkeit  als  eine  Sache  zu  betrachten,  welche  den 
Feuertod  verdiene,  Pestilenz  nebst  Mäusen  erzeuge  und 
das  Allerschrecklichste  sei,  oder  doch  mit  Gefängnis  zu 
„bestrafen''  sei  und  die  soziale  Stellung  mit  Kecht  ver- 
nichte. Denn  dem  Rande  eines  so  fürchterlichen  Ab- 
grundes wird  sich  Niemand  auch  nur  auf  respektvolle 
Entfernung  nähern  mögen.  Sobald  also  eine  solche  Wen- 
dung eingeschlagen  ward,^  wie  im  europäischen  Mittel- 
alter, so  mußte  mit  dem  Übermaße  der  Verpönung  des 
Sexaellen  auch  die  reine,  d.  h.  die  des  Sexuellen  sich 
enthaltende  Liebe  der  Männer  unter  einander,  und  somit 
die  gesellige  Koalitionsfreiheit  der  Männer,  eine  Vor- 
bedingung der  gesellschaftlichen  und  politischen  Frei- 
heit, unfehlbar  mitbetrofifen  werden. 


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103  BeobachtuDgen  von  mehr 

weniger  hochgradiger  Entwickelung 

eines  Uterus  beim  Manne 

(PseadohermaphroditismiLs  mascnlinns  intemns) 

nebst  ZusammeDStelliing  der  Beobachtungen  von 

periodischen    regelmäßigen   Genitalblntnngen , 

Menstraation,  vii^ariierender  Menstruation, 

PseadomenstraatioQ,  Molimina  menstraalia  u.  s.  w. 

bei  Scheinzwittern. 

Mitgeteilt  von 

Dr.  Franz  ron  Neugebaaer, 

Vorstand  der  gynSkologiächen  Abteilung  des  Evangelischen  Hospitals  in  Warschau. 


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„Nulla  autem  est  alia  pro  certo  nos- 
cendi  via,  nisi  quam  plurixnas  et  mor- 
borum  et  diBsectionum  historias,  tum 
aliorum,  tum  proprias,  collectas  habere 
et  inter  se  comparare/' 

Morgagni 

(Desedibusetcau8ismorborum,Lib.iy,FrooemiuDi.) 

Die  Frage  des  Zwittertumes  hat  in  letzter  Zeit  eia 
mehr  aktuelles  Interesse  gewonnen,  namentlich  angesichts 
der  Tatsache,  daß  es  Herrn  v.  Sal^n  und  Professor 
Garr^  gelungen  ist,  den  mikroskopischen  Nachweis 
gleichzeitiger  Anwesenheit  von  charakteristischem  Ovarial- 
und  charakteristischem  Hodengewebe  in  derselben  Ge- 
schlechtsdrüse eines  Menschen  zu  finden.  Wie  bekannt, 
standen  bis  vor  kurzem  die  meisten  Forscher  nicht  an, 
das  Vorkommen  eines  echten  Zwittertumes  beim  Menschen 
absolut  zu  leugnen,  indem  die  früher  beschriebenen  Fälle 
von  echtem  Zwittertum  einer  mikroskopischen  Kontroll- 
forschung nicht  Stand  gehalten  hatten.  Diese  frühere 
apodiktische  Leugnung  des  Vorkommens  echten  Zwitter- 
tumes beim  Menschen  muß  jetzt  aufgegeben  werden  und 
müssen  wir  die  Möglichkeit  gleichzeitiger  Existenz  von 
Ovarialgewebe  und  Hodengewebe  typischer  Art  bei  dem- 
selben Individuum  jetzt  zugeben.  Wenn  v.  Sal^n  und 
Garr6  jeder  in  seinem  Falle  eine  Zwitterdrüse  —  Ovo- 
testis  —  fanden,  die  in  einem  Anteile  alle  Anzeichen  eines 
Hodens,  in  dem  anderen  alle  Anzeichen  eines  Eierstockes 
trug,  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  nicht  auch  eine  Ge- 
schlechtsdrüse sich  als  Hoden  entwickeln  kann,  die  andere 


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-     218     — 

als  Eierstock.  Bestehen  bleibt  nur  der  Vorbehalt,*daß 
wir  bis  jetzt  nicht  einen  einzigen  Fall  kennen,  wo  beiderlei 
typisches  Gewebe  tatsächlich  auch  zu  einer  Funktion 
gelangte,  also  einen  solchen  Entwickelungsgrad  erreichte, 
daß  es  funktionsfähig  war.  Wer  weiß,  wie  lange  es  noch 
dauern  wird,  bis  wir  endlich  einmal  absolute  Klarheit  in 
dieser  Frage  gewinnen,  jedenfalls  rücken  wir  dem  Ziele 
näher  und  päher,  weil  wir  immer  mehr  zuverlässige 
mikroskopische  Untersuchungen  erlangen  und  so  mancher 
operative  Eingriff  uns  unverhofft  Material  liefert,  wo  es 
früher  meist  für  die  Wissenschaft  verloren  ging,  weil 
weder  intra  vitam  eine  Operation  noch  post  mortem  eine 
Nekropsie  zur  Ausführung  kam. 

Wenn   es   wahr   ist,  daß  beim  Menschen  die  Men- 
struation von  einer  stattfindenden  Ovulation  bedingt  ist, 
so   darf   man   erwarten,    daß    ein  menstruierendes  Indi- 
viduum Ovarien  besitzt.     Katharina  Hohmann  hatte  no- 
torisch periodische,   von  charakteristischem  Symptomen- 
komplex in  der  Art  der  Molimina  menstrualia  begleitete 
Genitalblutungen,  aus  dem  Canalis  urogenitalis  sich  aus- 
scheidend, alle  drei  bis  vier  Wochen  je  zwei  Tage  lang, 
und  zwar  vom  20.  bis  zum  30.  Lebensjahre  mehr  weniger 
regelmäßig,  vom   30.  bis  zum  42.  Jahre  unregelmäßiger 
und   seltener.     Andererseits   ist   es   absolut   sicher  fest- 
gestellt,    daß    Katharina    eigenes    Sperma    produzierte. 
Hatte  Katharina  die  Menstruation  im  wahren  Sinne  des 
es,  also  auch  Ovulation,  so  muß  sie,  darf  man  folgern, 
•   dem   tastbaren  Hoden,  im  Sero  tum  fissum  einer- 
gelegen,  mindestens   auch  ein  Ovarium  und  zwar 
unktionierendes  gehabt  haben!  Bernhard  Schnitze 
h  denn   auch  einen  von  ihm  im  Becken  linkerseits 
teten,    mehrere   Zentimeter    großen,    stark    druck- 
indlichen  Körper  als  Ovarium  an.     Es  liegt  auf  der 
[,  welch  unendlichen  Wert  es  besäße,  das  Ergebnis 
Nekropsie  in  einem  so  wichtigen  Falle  zu  erfahren! 


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—     219     — 

Katharina  Hohmann,  die  nachträglich  als  Karl  Hohmann 
in  New- York  heiratete  und  sogar  einen  Sohn  gezeugt  haben 
soll,  starb  in  New -York.  Ob  eine  Nekropsie  gemacht 
wurde  und  wie  das  Ergebnis  war,  darüber  ist  nichts 
bekannt.  Sehen  wir  uns  nun  in  der  Kasuistik  des 
Zwittertumes  um  nach  Beobachtungen,  wo  ein  Schein- 
zwitter, sei  es  ein  hodentragender,  sei  es  ein  Schein- 
zwitter unbekannten  Geschlechtes,  regelmäßige  periodische 
Oenitalblutungen  hatte,  so  zeigt  sich,  daß  die  Zahl  der- 
artiger Beobachtungen  eine  nicht  gar  so  geringe  ist  als 
gemeinhin  angenommen  wird. 

Es  erwächst  aus  der  Betrachtung  dieser  Fälle  eine 
Reihe  Yon  Fragen.  Sind  periodische  Genital- 
blutungen bei  hodentragenden  Scheinzwittern 
als  menstruelle  Blutungen  aufzufassen?  Sind 
periodische  Blutungen  aus  der  Nase  oder  dem 
Mastdarm,  die  sich  regelmäßig  wiederholen,  in 
der  Lebensperiode  zwischen  dem  15.  und  40.  Jahre, 
sagen  wir,  als  Menstruatio  vicaria  anzusehen? 
Weisen  solche  Blutungen  darauf  hin,  daß  das  Individuum 
mindestens  ein  Ovarium  besitzt?  Stammt  das  per  urethram 
entleerte  Blut  aus  einem  Uterus  oder  kann  es  sich  um 
eine  vikariierende  Blutung  aus  der  Blasenschleimhaut 
gehandelt  haben?  Wie  sind  endlich  die  regelmäßigen 
allmonatlich  sich  zwei  bis  drei  Tage  lang  wiederholenden 
Beschwerden  in  der  Art  des  Symptomenkomplexes  der 
sogenannten  Molimina  oder  Tormina  menstrualia  zu  er- 
klären? 

Persönlich  bin  ich  weit  davon  entfernt,  diese  Fragen 
beantworten  zu  wollen;  denn  wir  verfügen  noch  lange 
nicht  über  ein  genügend  zahlreiches,  authentisch  gesichertes 
Material  aus  der  Kasuistik,^um  irgend  eine  Schlußfolgerung 
zu  machen.  Diese  Fragen  sind  heikel  und  vorläufig  noch 
nicht  zu  beantworten.  Das  will  aber  nicht  besagen,  daß 
sie  nicht  einst  ihre  wissenschaftliche  Erledigung  finden 


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—     220     — 

werden.  Es  gibt  Forscher,  welche  diesen  Fragen  auf 
die  einfachste  Weise  aus  dem  Wege  gehen,  indem 
sie  erklären:  „Der  als  Mädchen  erzogene  männliche 
Scheinzwitter  X.,  der  sich  als  Hermaphrodit  für  Geld 
sehen  lässt,  gibt  an,  mit  beiden  G-eschlechtem  kohabitieren 
zu  können,  Spermaejakulation  zu  haben  und  auch  regel- 
mäßig die  Periode.  Das  ist  Lüge!  Niemand  hat  diese 
Periode  gesehen.  Das  Individuum  hat  ein  Interesse 
an  dieser  falschen  Aussage,  um  sich  den  Ärzten  und  Be- 
suchern interessanter  zu  machen!"  Für  viele  Fälle  ist 
dies  richtig.  Zephte  Akaira,  welche  notorisch  gar  keinen 
Uterus  besitzt,  gab  sogar  an,  sie  habe  einmal  abortiert 
in  ihrer  Ehe,  trotzdem  dies  Individuum  ein  Mann  ist. 
Schon  Virchow  schenkte  der  Angabe  dieses  Abortes 
keinen  Glauben-  mehr.  Die  Hebamme  Märker,  ein 
männlicher  Hypospade,  gab  anfangs  an,  sie  habe  früher 
regelmäßig  aus  der  Harnröhre  menstruiert,  später  zog  sie 
diese  Angabe  zurück  und  gab  zu,  gelogen  zu  haben.  In 
einem  anderen  Falle  zeigte  sich,  daß  Blutungen,  welche 
als  Menstruation  eines  männlichen  Scheinzwitters,  eines 
Mönches,  gegolten  hatten,  einfach  Blutungen  aus  einem 
Ulcus  cruris  waren. 

Solche  Fälle  sind  selbstverständlich  auszuschließen 
aus  der  Kasuistik  und  höchstens  als  warnendes  Beispiel 
anzuführen,  nicht  alles  kritiklos  zu  glauben,  was  die  be- 
treffenden Personen  erzählen.  Abel  wittert  auch  bei 
Katharina  Hohmann  Betrug:  Sie  soll  jedesmal  vor  der 
angeblichen  Periode  Nasenbluten  gehabt  haben  und  sich, 
wie  ein  Autor  schreibt,  mit  diesem  Blute  die  Genitalien 
beschmiert  haben.  Hier  muß  diese  Skepsis  fallen,  indem 
einzelne  der  Untersuch  er  selbst  mit  einem  Katheter  das 
Blut,  mit  Schleim  gemischt,  aus  dem  Urogenitalkanal 
entleert  und  mikroskopisch  untersucht  haben,  vor  allem 
darauf  hin,  ob  es  überhaupt  menschliches  Blut  sei.  Abel 
vermutet,  daß  in  dem  von  ihm  beschriebenen  Falle  die 


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—     221     — 

periodischen  Blutungen  von  einem  Harnröhrenpolypen 
stammten,  der  operativ  entfernt  wurde.  Er  vermutet, 
auch  in  dem  Falle  Dohrns  sei  ein  Harnröhrenpolyp 
die  Ursache  der  periodischen  Blutungen  gewesen,  die 
Molimina  menstrualia  will  er  erklärt  wissen  etwa  durch 
Beschwerden,  welche  ein  inkompleter  Descensus  testiculi 
hervorrief,  z.B.  in  dem  von  Potier-Duplessy  beschriebe- 
nen Falle,  oder  aber  die  Ursache  der  Schmerzen  soll  ein 
Trauma  gewesen  sein.  Ich  gebe  zu,  daß  Skepsis  in  der 
Beurteilung  dieser  Kasuistik  unbedingt  nötig  ist,  aber 
sie  soll  nicht  blind  sein,  sondern  kritisch. 

Professor  Eduard  Hofmann  schrieb:  „Das  Be- 
stehen menstrualer  Blutungen  beweist  nicht  so  absolut 
das  weibliche  Geschlecht  des  betreffenden  Individuums, 
als  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  dürfte.  Seitdem 
man  weiß,  daß  die  Menstruation  nicht  unbedingt  an  die 
Gegenwart  von  Ovarien  geknüpft  ist  —  Fortbestehen 
der  Menstruation  nach  Kastration  —  ist  man  nicht  un- 
bedingt berechtigt,  aus  dem  Vorhandensein  einer  solchen 
Erscheinung  bei  einem  Scheinzwitter  auf  die  Existenz 
von  Ovarien,  noch  weniger  aber,  auf  die  Nichtexistenz 
von  Hoden  zu  schließen."  Will  („Ein  Fall  von  Pseudo- 
hermaphroditismus  masculinus^^,  In.-  Diss.,  Greifs wald, 
1896)  schreibt:  „Die  Angaben  über  die  Regel  sind  oft 
falsch.  Die  Frauen  bezeichnen  jede  Blutung  aus  den 
Genitalien  als  Regel  und  wissen  mit  geschickter  Be- 
rechnung immer  eine  vierwöchentliche  Pause  herauszu- 
deuten." Er  schreibt  aber  zugleich;  „Auch  die  Men- 
struation ist  nicht  als  sicheres  Zeichen  für  weibliches 
Geschlecht  anzusehen,  es  sind  auch  bei  Männern  regel- 
mäßige Blutungen  beobachtet  worden,  die  ihre  Erklärung 
nach  Waldeyer  darin  finden  sollen,  daß  primitive  Ovula 
wie  im  Ovarium  noch  in  späteren  Zeiten  im  Hoden  vor- 
kommen und  ihren  Einfluß  auf  den  Organismus  ausüben; 
außerdem  soll  nach  Friedreich  bei  Männern  mitunter 


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—     222     — 

durch  eine  Summation  von  Reizungen  nnd  nervösen  Er- 
regungen eine  reflektorische  Blutanwallung  und  eine 
Hämorrhagie  bedingt  werden.''  Meine  Aufgabe  soll  es 
nur  sein,  die  in  der  Kasuistik  der  Welt  zerstreuten 
Einzelfälle  zusammenzustellen  und  die  Aufmerksamkeit 
der  Fachgenossen  auf  die  hier  angeregten  Fragen  zu 
lenken. 

Ich  beginne  mit  einer  Zusammenstellung  von  108 
Fällen,  wo  eine  mehr  oder  weniger  hochgradige  Ent- 
wickelung  eines  Uterus  bei  hodentragenden  Individuen, 
also  insofern  sie  nicht  auch  Ovarien  besaßen,  bei  männ- 
lichen Scheinzwittern,  beobachtet  wurde.  Mit  Absicht 
habe  ich  nicht  gesagt,  „der  Müllerschen  Gänge",  denn 
ich  hätte  dann  auch  alle  die  Fälle  mit  aufnehmen  müssen, 
wo  eine  mehr  oder  weniger  entwickelte  Vagina  bei  einem 
männlichen  Hypospaden  sich  fand.  Solcher  Fälle  gibt 
es  jedoch  so  außerordentlich  viele,  daß  sie  als  bekannt 
vorausgesetzt  werden  können. 

Bezüglich  der  älteren  Literatur  des  sogenannten 
Uterus  masculinus  erwähne  ich  die  Arbeiten  von 
E.  H.  Weber  („über  das  Rudiment  eines  Uterus  bei 
männlichen  Säugetieren*',  1846),  R.  Leuckart  („Das 
Web  ersehe  Organ  und  seine  Metamorphosen",  Illustrierte 
medizinische  Zeitung,  1852),  Wahlgren(„Bidrag  tiUGene- 
rations-Organema  Anatomie  och  Physiologie  hos  Menniskan 
och  Dagdjuren",  Lund  1894),  Peters-Wahlgren  („Über 
den  Weberschen  Uterus  masculinus  bei  dem  Menschen  und 
den  Säugetieren",  Müllers  Archiv,  1849,  Übersetzung) 
und  N.  Rüdinger  {„7jUt  Anatomie  der  Prostata,  des 
Uterus  masculinus  und  der  Ductus  ejaculatorii  beim 
Menschen,  München,  1883). 

Rudolf  Leuckart  („Das  Webersche  Organ  und 
seine  Metamorphosen",  Ein  Beitrag  zu  der  Lehre  von 
den  Zwitterbildungen,  Münchner  Illustrierte  Medizinische 
Zeitung,    1852,    Bd.  I,  S.  69)  schreibt:  „C.  H.  Weber 


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—     223     — 

hatte  als  Uterus  masculinus  ein  Gebilde  bezeichnet, 
welches  bereits  Albin  und  Morgagni  bekannt  war, 
dessen  bedeutende  Vergrößerung  schon  Malacarne  und 
Steglehner  beschrieben  hatten.  Nach  Weber  soll 
dieses  Organ  der  Vagina  des  Weibes  entsprechen,  nach 
Meckel  und  Steglehner  jedoch  dem  Uterus,  nach 
Leuckart  dem  Uterus  und  der  Vagina,  nach  neueren 
Forschungen  soll  dieses  Gebilde  der  Vagina  samt  Uterus 
und  Tuben  entsprechen,  also  dem  gesamten  Ausführungs- 
kanale  für  die  Produkte  der  Ovarien! 

Bezüglich  der  detaillierten  Beschreibung,  mikro- 
skopischen Untersuchung  für  die  einzelnen  Fälle  und 
Abbildungen  verweise  ich  auf  meine  beiden  Arbeiten 
von  1902  und  1903  in  diesem  Jahrbuche  sowie  auf  die 
Originalaufsätze  der  genannten  Autoren. 

1.  Ackermann  („Infantis  androgyni  historia  et 
ikonographia",  Jena,  1805)  beschrieb  einen  sechswöchent- 
lichen männlichen  Hypospaden;  zwischen  den  kleineu 
Schamlippen  lag  die  Mündung  einer  Vagina,  angeblich 
in  fundo  vaginae  die  Ausmündung  der  Urethra;  offenbar 
handelte  es  sich  um  Hypospadiasis  peniscrotalis  und  einen 
Ganalis  urogenitalis,  der  sich  in  der  Tiefe  in  Vagina  und 
Urethra  teilte:  ,,Ductus  deferentes  non  ad  pelvis  fundum 
descendentes,  sed  potius  ad  altiora  ascendentes  inventi 
sunt;  hi  ductus  deferentes,  ubi  duplicatum  peritonaei 
processum,  qui  ligamento  lato  uteri  respondet,  ingredie- 
bantur,  vario  modo  convoluti  componebant  glomera. 
Quibus  glomeribus  formatis  ductus  deferentes  in  uterum 
cystoidem  transibant,  proprium  ejus  textum  perforantes 
et  versus  utrumque  uteri  latus  ad  inferiora  reäexi  usque 
ad  uteri  sie  dicti  orificium  progressi  ostio  perexiguo  ter- 
minabantur.  Uterus  cystoides  dictus  situm  naturalem 
obtinebat,  tamen  neque  ex  tela  singulari  tam  dense  con- 
flatus    erat    quam    uterus    normalis,    neque    compactis 


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—     224     — 

parieübus  organon  tarn  firmum  t^onstituebat,  quam  uterus 
in  statu  normali  offert,  sed  potius  antram  extenuatum 
yesiculae  simile  exhibebat/'  Es  ist  in  dem  mir  zu  Ge- 
bote stehenden  Referate  nicht  gesagt,  ob  hier  Kryptor- 
chismus  vorlag, 

2.  Ackermann  (1805).  Descensus  incompletus 
testiculorum ;  breite  Vasa  deferentia,  nach  unten  sich 
verengernd,  liegen  in  der  Wand  des  Uterus;  Mündungen 
der  Ductus  ejaculatorii  normal.  Der  Uterus  enthält  eine 
Höhle  und  besitzt  ein  deutliches  Orificium  externum. 
Die  oben  schmale,  unten  breite  Vagina  mündet  in  vesti- 
bulo  nach  außen,  Penis  hypospadiaeus,  Labia  minora  vor- 
handen. 

3.  Adams  (1852).  Uterus  von  einem  Zoll  Länge, 
im  Fundus  erweitert,  Prostata  vorhanden,  Harnröhre 
männlich,  Scrotum  nicht  gespalten. 

4.  Aranyi  (Ungarische  Zeitschrift,  1855,  S.  4,  15)  und 
später  Langer  (Zeitschrift  der  k.  k.  Gesellschaft  der 
Ärzte  zu  Wien,  I[.  Jahrgang,  1855,  S.  422)  beschrieben 
das  Leichenpräparat  eines  Mannes  von  63  Jahren,  welches 
eine  hochgradige  Entwickeluug  des  Uterovaginalkanales 
bei  einem  Manne  beweist. 

Langer-Aranyi  (1855).  Der  linke  Hoden  in  Hemia 
scrotali,  der  rechte  in  der  Bauchhöhle.  Die  Vasa  de- 
ferentia verlaufen  konvergent  zu  dem  Isthmus  uteri  und 
dringen  in  seine  vordere  Wand  ein.  Das  rechte  Vas 
deferens  mündet  in  die  Harnröhre,  das  linke  in  den 
Uterus.  Keine  Samenblasen  gefunden.  Uterus  masciilinus 
bicornis,  die  Uterusschleimhaut  gut  ausgebildet,  drüsen- 
haltig  im  'Fundus,  drüsenlos  im  unteren  Abschnitte. 
Die  Vagina  mündet  in  die  Harnröhre,  Prostata  hyper- 
trophisch. Die  Vagina  endet  in  der  Tiefe  blind,  kom- 
muniziert also  nicht  mit  der  Uterinhöhle.  Hypospadiasis 
peniscrotalis,  kleine  Schamlippen  nicht  vorhanden.     Es 


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—     225     — 

liegt  ein  Sinus  urogenitalis  vor  mit  den  isolierten  Mün- 
dungen der  Harnröhre  und  der  Vagina. 

5.  Arnaud  erwähnt  (1.  c.^  S.  283)  die  Sektion  eines 
Mönches  im  Pariser  Hotel  Dieu  aus  dem  Jahre  1726 
durch  Boudon;  Hypospadiasis  peniscrotalis  ohne  Spur 
einer  Vagina.  Die  Vasa  deferentia  schwanden  zwischen 
Blase  und  Mastdarm  in  einem  G-ebilde,  das  Boudon  für 
einen  Uterus  ansah.  Der  Mönch  hatte  allmonatlich  Blut- 
entleerungen aus  varikösen  Geschwüren  am  Unterschenkel, 
die  fälschlich  für  eine  vikariierende  Menstruation  ange- 
sehen wurden.  (Dieser  Fall  auch  von  Oslander  er- 
wähnt.) 

6.  Arnold  („Ein  Fall  von  Uterus  masculinus,  an- 
geborener Striktur  der  Harnröhre  und  Harnleiter", 
Virchows  Archiv,  1869,  Bd.  XVII,  S.  38)  beschrieb  ein 
Präparat,  welches  er  Meier  und  Molitor  verdankte.  Hy- 
pospadiasis peniscrotalis,  Ejryptorchismus.  Nebenhoden 
und  Vasa  deferentia  vorhanden,  letztere,  ohne  Luinen, 
verliefen  sich  blind  endend  in  der  Tiefe  des  Beckens. 
Uterus  vorhanden  und  Vagina,  weder  Prostata  noch  Samen- 
blasen gefunden  bei  diesem  siebenmonatlichen  Fötus. 

Arnold  hatte  im  Ganzen  26  Fälle  von  Uterus  mas- 
culinus tabellarisch  zusammengestellt  und  kam  zum 
Schluße,  daß  gemäß  der  mehr  weniger  hochgradigen  Ent- 
wickelung  eines  Uterus  beim  Manne  seine  äußeren  Geni- 
talien entsprechend  in  der  Entwickelung  zurückblieben. 

7.  Elebs  (Handbuch  der  pathologischen  Anatomie, 
4.  Lieferung,  Berlin,  1873,  S.  725)  zitiert  eine  Be- 
obachtung von  Bannon,  eine  26jährige  Frau  betreffend 
mit  männlichem  Aussehen  und  männlichem  Gebahren 
seit  der  erreichten  Geschlechtsreife.  Brüste  und  Becken 
weiblich.  Penis  hypospadiaeus,  große  und  kleine  Scham- 
lippen und  Hymen  vorhanden.  Der  Uterus  besitzt  eine 
rechte  Tube,  in  ein  cystisches  Gebilde  ausgehend,  die 
linke  Tube  hat  ein  offenes  Abdominalende  mit  Fimbrien. 

Jahrbuch  VI.  15 


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—     226     — 

Angeblich  dort  ein  Ovarium  gefunden.  Anderthalb  Zoll 
tiefer  unterhalb  des  vermeintlichen  Ovarium,  vor  der 
Synchondrosis  sacroiliaca,  liegt  linkerseits  ein  Hoden, 
Nebenhoden  und  einVas  deferens;  letzteres  anfangs  nach 
dem  Leistenkanale  hin  gerichtet  ändert  später  seine  Rich- 
tung und  schwindet  im  Ijigamentum  latum.  In  dasselbe 
injiziertes  Quecksilber  ergießt  sich  in  die  Uterushöhle. 
Linkerseits  auch  eine  Samenblase  gefunden,  Prostata  und 
Cowpersche  Drüsen  fehlen.  Der  Hoden  enthält  Samen- 
kanäle, aber  keine  Spermatozoiden.  In  dem  vermeint- 
lichen Ovarium  finden  sich  nur  Bindegewebsstroma  und 
Fettzellen,  aber  keine  Spur  von  Follikeln.  Die  Deutung 
als  Ovarium  dürfte  also  sicher  eine  ganz  willkürliche 
sein,  wahrscheinlich  hervorgerufen  durch  die  Gegenwart 
eines  Uterus  am  Präparat. 

Bannon  (Dublin  Medical  Journal,  1852,  Vol.  XIV, 
S.  73).  Kind,  Anna  getauft,  nach  einem  Jahre  Andreas 
genannt.  Allgemeinaussehen  männlich.  Hypospadiasis 
peniscrotalis.  Prostata  vorhanden,  ebenso  die  Samen- 
blasen, aber  keine  Glandulae  Cowperi.  Große  und 
kleine  Schamlippen  vorhanden.  Vagina  mündet  unter- 
halb der  Urethra  nach  außen.  Hymen  vorhanden.  Uterus 
unicomis  vorhanden  mit  fimbrienversehener  linker  Tube 
und  angeblich  ein  linkes  Ovarium,  das  aber  auf  den 
Durchschnitten  nur  Bindegewebe  und  nirgends  Follikel 
aufweist  Rechterseits  Hoden  und  Vas  deferens.  Hinter 
dem  Uterus  berühren  sich  die  linksseitigen  Uterasadnexa 
und  der  rechterseits  gelegene  Hoden,  Kryptorchismus 
bilateralis.  Hoden  sicher  erkennbar  als  solcher.  (Mög- 
licherweise sind  diese  beiden  Beobachtungen  identisch; 
Originalaufsatz  Bannons  mir  nicht  zugänglich). 

8.  Barkow  („Über  einen  wahren  menschlichen 
Zwitter",  Anatomische  Abhandlungen,  Breslau,  1851,  S.  60). 
5 4 jähriger,  verheirateter  Mann,  dessen  Frau  ein  Kind 
geboren  hatte,  aber  laut  Ansicht  von  Barkow  nicht  von 


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—     227     — 

dem  Oatten  stammend^  der  befruchtungsunfähig  gewesen 
sein  soll«  Hypospadiasis  peniscrotalis.  In  der  rechten 
Schamlefzen-Hemie  vermutete  man  zu  Lebzeiten  zwei 
Hoden,  bei  der  Sektion  aber  fand  man  in  hemia  den 
Uterus  sowie  einen  normal  funktionierenden  Hoden  und 
angeblich  ein  Ovarium,  welches  aber  nur  aus  Bindege- 
webe,  Fettzellen  und  Blutgefäßen  bestand,  ohne  Spur  von 
FoUikelbildung.  Absoluter  Mangel  eines  Vas  deferens. 
Das  angebliche  Ovarium  war  1^4  i^oU  lang  und  durch 
zwei  Furchen  in  drei  Teile  geteilt;  von  dem  vorderen 
Ende  des  angeblichen  Ovarium  zog  ein  strangartiges 
Gebilde  zur  Basis  der  Schamlefze,  resp.  des  gespaltenen 
Scrotum,  von  dem  zentralen  Binde  ging  ein  Strang  zur 
Seitenwand  des  Uterus.  Der  rechte  Hoden  hatte  neben 
dem  Uterus  im  Scrotum  gelegen,  die  linke  Scrotalhälfte 
war  leer;  Penis  drei  Zoll  lang.  Vagina  und  Uterus 
normal,  auch  Prostata  vorhanden. 

9,  Barth  („Anomalie  de  d^veloppement  de  Futricule 
prostatique'S  Bulletin  de  la  Soci6t6  Anatomique  de  Paris, 
1878). 

10.  Carl  Beck  (Medical  Record,  25.  July  1896, 
No.  1342,  S.  185  und  694,  und  Medical  Record,  20.  Fe- 
bruary  1897,  S.  260)  entfernte  durch  Bauchschnitt  bei 
einem  21jährigen  Individuum,  das  bis  zum  19.  Jahre 
als  Mädchen  gegolten  hatte ,  später  aber  'fils  Mann  ge- 
kleidet ging  und  schon  seit  dem  16.  Jahre  als  Mann 
kohabitierte,  sich  auch  syphilitisch  infizierte,  zwei 
Tumoren,  die  er  als  Hodensarkome  bei  beiderseitigem 
Eryptorchismus  angesprochen  hatte.  Hypospadiasis  peni- 
scrotalis. Tod  an  Pneumonie  am  18.  Tage.  Penis  hypo- 
spadiaeus,  Scrotum  gespalten,  die  4  Zoll  lange  Vagina 
weist  Hymenaleinrisse  auf,  im  Scheidengrunde  tastet  man 
die  Portio  vaginalis  uteri.  Niemals  Menstruation,  aber 
sub  coitu  Ejakulation  einer  klebrigen  Flüssigkeit  aus 
zwei  seitlich   vom  „Infundibulum"  gelegenen  Öffnungen. 

15* 


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—     228     — 

Der  Penis  wird  bei  Erektion  doppelt  groß.  Allgemein- 
aussehen, Gesichtsausdruck,  Stimme  und  Behaarung 
weiblich.  Bei  der  Nekropsie  fand  man  einen  Uterus  von 
2^4  Zoll  Länge,  dessen  Höhle  im  oberen  Teile  von 
Flinimerepithel,  im  unteren  von  Plattenepithel  ausge- 
kleidet war.  Tuben  ohne  Lumen,  aber  mit  Ampullae. 
Brooks  erklärte  die  Tumoren  für  Teratome  mit  Aus- 
sehen eines  Teiles  der  Tumormassen,  einem  Sarkom 
gleichend.  Becken  und  Schambehaarung  männlich.  Weder 
Cowpersche  noch  Bartholinische  Drüsen  gefunden. 
Mund 6  erklärte  das  Individuum  für  einen  kryptor- 
chistischen  Hypospaden  mit  hochgradig  entwickelten 
Müllerschen  Gängen. 

11.  Berthold  („Seitliche  Zwitterbildung  beim  Men- 
schen'*, Abhandlungen  der  Königlichen  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  zu  Göttingen,  1845,  Bd.  II,  S.  104). 
Neonat,  bald  verstorben.  Hypospadiasis  peniscrotalis, 
Sinus  urogenitalis  l^a  Zoll  lang.  Uterus  unicomis, 
links  Tube,  Ovar  und  Ligamentum  rotundum  vorhanden. 
Der  Uterus,  gut  ausgebildet,  mündet  in  den  Sinus  uro- 
genitalis. In  der  rechten  Schamlefze  Hoden  und  Neben- 
hoden, das  Vas  deferens  zieht  durch  den  Leistenkanal 
zum  Uterus  hin  und  verläuft  in  dessen  Wand  herab  bis 
zum   Sinus   urogenitalis,    wo   es   eine   halbe  Linie   nach 

.  auswärts  von  der  Urethralmündung  sich  nach  außen  er- 
öffnet. Prostata  und  Samenblasen  fehlen.  Das  Mikroskop 
erwies  normalen  Bau  des  Hodens;  die  linksseitige  Ge- 
schlechtsdrüse war  von  Berthold  als  Ovarium  ange- 
sprochen worden.  Ob  mit  Recht?  Ich  zweifle  und  habe 
deshalb  die  Beobachtung  hier  aufgenommen. 

12.  Betz  (Müllers  Archiv,  1850,  S.  65)  fand  einen 
Uterus  unicornis  bei  einer  männlichen,  in  der  82.  Woche 
geborenen  Frucht  mit  normal-männlichen  äußeren  Geni- 
talien. Der  Uterus  mündete  in  dem  Veru  montanum. 
Samenblasen   fehlten.     Beide  Vasa   deferentia  traten  in 


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—     229     — 

die  seitlichen  Uteruswände  ein,  aber  nur  das  rechte  war 
viabel.  Nur  der  linke  Hoden  lag  im  Scrotum,  der  rechte 
in  der  Bauchhöhle  unterhalb  der  rechten  Niere.  Der 
Uterus  unicomis  besaß  die  zugehörige  Tube. 

13.  Die  von  Klotz  beschriebene  interessante  Be- 
obachtung Billroths  habe  ich  in  meiner  Arbeit:  „Chi- 
rurgische Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Schein- 
zwittertumes",  1903,  ausflihrlich  wiedergegeben.  Siehe 
auch  die  Abbildungen  dort:  Herniotomie  bei  einem  männ- 
lichen Hypospaden,  dessen  linker  Hoden  in  dem  ge- 
spaltenen Scrotum  lag,  während  in  der  rechten  Scrotal- 
hälfte  das  Corpus  eines  ektopischen  Uterus  lag.  Uterus 
unicomis  hohen  Entwickelungsgrades  mit  Vagina  und 
Hymen,  Mangel  eines  Vas  deferens. 

Der  24jährige  Israel  Jaroszewski  kam  wegen  einer 
Leistenhernie.  Links  in  dem  gespaltenen  Scrotum  Hoden, 
Nebenhoden  und  Samenstraug.  Der  rechtsseitige  Bruch 
soll  schon  seit  vielen  Jahren  existieren^  fing  jedoch  erst 
im  16.  Jahre  an,  sich  zu  vergrößern,  und  von  eben 
diesem  16.  Jahre  an  bekam  Israel  alle  vier  Wochen 
periodisch  starke  Schmerzen  im  Kreuz  und  di- 
verse Molimina,  welche  jedesmal  3  —  4  Tage  an- 
hielten. Während  dieserSchmerzperiode  entleerte 
sich  stets  Blut,  sowohl  aus  der  Harnröhre,  als 
auch  aus  einer  Fistel  im  rechten  Labium  pu- 
dendi  majus.  Melancholie  angesichts  der  genitalen 
Mißbildung  bis  zu  Selbstmordgedanken.  Billroth  ver- 
mutete ein  Neoplasma  des  rechten  Hodens  und  machte 
die  rechtsseitige  Herniotomie.  Im  Bruchsacke  ein  cystisches 
Gebilde,  dessen  Stiel  in  den  Leistenkanal  reichte.  Der 
Stiel  wurde  abgebunden  unter  teilweiser  Eröffnung  der 
Bauchhöhle  vom  Leistenschnitte  aus.  Nach  zwei  Tagen 
Collaps  und  Tod  als  Folge  einer  Verblutung  in  die  Bauch- 
höhle hinein,  hervorgerufen  durch  Abgleiten  einer  Ligatur. 
Sektion  durch  Professor  Chi ari:    Brüste  groß,  weiblich. 


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—     230     — 

Hernia  inguinoscrotalis  uteri  unicornis.  Der  im  Leisteu- 
kanal  eingeschnürte  Uterus  hatte  Sanduhrform.  Billroth 
hatte  das  Corpus  uteri  teilweise  amputiert.  Die  ?on 
einem  Hymen  garnierte  Vagina  öffnete  sich  in  die  Urethra, 
resp.  der  üterovaginalkanal  und  die  Harnröhre  öffiieten 
sich  in  einen  Canalis  urogenitalis.  Das  Unke  Vas  de- 
ferens  mündete  neben  der  vaginalen  Mündung  auch  dort 
Neben  dem  Uterus  lag  ein  cystisches  Gebilde,  wahr- 
scheinlich der  entartete  rechte  Hoden.  Hypospadiasis 
peniscrotalis.  Schambehaarung  weiblich.  Mangel  des 
rechten  Vas  deferens,  der  Samenblasen  und  der  Prostata. 
Geschlechtsdrang  männlich,  obgleich  Israel  auch  mit 
Männern  zu  kohabitieren  versucht  hatte.  Eine  Erklärung 
der  allmonatlichen  Blutungen  ex  Urethra  und  der  Fistel 
im  rechten  Labium  majus  steht  aus.  Klotz  vermutete, 
daß  jenes  rechtsseitige  cystische  Gebilde  ein  entartetes 
rechtes  Ovarium  sein  könnte. 

14.  W.  Bittner  (Prager  Medizinische  Wochenschrift, 
1895,  Nr.  43,  S.  491)  beschrieb  eine  Beobachtung  aus 
Bayers  Klinik  in  Prag:  Man  schlug  das  Verlangen  der 
Mutter  ab,  eine  angebliche  vergrößerte  Klitoris  der  13- 
jährigen  Tochter  abzuschneiden,  weil  man  in  den  Scham- 
lefzen getastete  Gebilde  für  Hoden  ansah.  In  der  Glans 
des  Geschlechtsgliedes,  welches  5^2  cm  lang  war,  mündete 
ein  Kanal,  welcher  eine  Sonde  5  cm  tief  eindringen  und 
aus  dem  sich  ein  Schleim  ausdrücken  ließ,  der  dem 
Prostataschleime  ähnelte.  Der  Penis  war  gleichwohl  an 
seiner  unteren  Fläche  gespalten,  die  Harnröhrenmündung 
anscheinend  weiblich.  Unterhalb  lag  die  •  Scheiden- 
mündung. Per  rectum  tastete  man  ein  Gebilde,  welches 
für  einen  rudimentären  Uterus  angesehen  wurde.  Falls 
es  richtig  ist,  daß  die  in  den  Schamlefzen  getasteten 
Gebilde  Hoden  waren,  so  läge  auch  hier  eventuell  ein 
Uterus  masculinus  vor,  aber  es  handelt  sich  nur  um  Ver- 
mutungen. 


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—     231     — 

15.  Blacker  und  Lawrence  („A  case  of  true  uni- 
lateral hermaphroditism  with  o?otestis  occurring  in  man^ 
with  a  summary  and  criticism  of  the  recorded  cases  of 
true  hermaphroditism",  Transactions  öf  the  Obstetr.  Soc. 
of  London,  1896,  Vol.  XXXIII).  Totgeborene  Frucht 
von  87i  Monaten.  Penis  hypospadiaeus  mit  langer  Vor- 
haut, unterhalb  die  ÖfiFnung  des  Sinus  urogenitalis.  Das 
Scrotum  sieht  aus  wie  zwei  zusammengewachsene  groÜe 
Schamlefzen.  Keine  Spur  von  kleinen  Schamlippen  ^zu 
entdecken.  In  den  Sinus  urogenitalis  mündet  die  Ure- 
thra und  eine  Vagina  von  8  mm  Länge  mit  ausge- 
sprochener Faltenbildung  ihrer  Schleimhaut.  Uterus 
11  mm  lang  und  67a  ^^  breit  Uterus  unicomis:  Nur 
das  rechte  Hörn  samt  Tube  vorhanden.  Die  Tube  ist 
12^2  ^^  ^^^S  ^^^  ^^/a  ^^  ^^^^'  Kechterseits  fand  sich 
eine  Tube,  ein  Ovarium^  ein  Parovarium,  ein  Ligamentum 
latum  und  rotundum  und  infundibulopekicum.  Linker- 
seits fand  sich  nur  eine  rudimentäre  Tube,  außerdem 
linkerseits  ein  Wolf f scher  Gang,  in  die  Vagina  mündend. 
Die  rechtsseitige  Geschlechtsdrüse  soll  ein  normales 
Ovarium  gewesen  sein,  die  linksseitige  aber  gemischten 
Bau  aufgewiesen  haben,  in  einem  Teile  den  Bau  eines 
Hodens,  in  dem  anderen  den  Bau  eines  Ovariums:  Also 
eine  Ovotestis.  Nagel,  welcher  Kontrolluntersuchungen 
ausführte,  wies  nach,  daß  die  rechtsseitige  Geschlechts- 
drüse irrtümlich  als  ein  Ovarium  angesprochen  worden 
war.  Diese  Drüse  soll  nach  Nagel  ein  in  der  Ent- 
wickelung  zurückgebliebener  Hoden  gewesen  sein,  die 
linksseitige  Geschlechtsdrüse  war  richtig  von  Blacker 
und  Lawrence  als  Hoden  erkannt  worden.  Nach  der 
Auffassung  Nagels  handelt  es  sich  hier  also  mehr 
um  die  Gegenwart  eines  rudimentär  ausgebildeten  Uterus 
bei  einem  hodentragenden  Individuum,  also  um  männ- 
liches Scheinzvvittertum  und  Gegenwart  einer  Vagina  bei 
gleichzeitigem  Kryptorchismus  und  Defekt  der  Prostata. 


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—     232     — 

16.  Boeckel  („Exstirpation  d*un  ut^rus  et  d'une 
trompe  herni^e  chez  un  homme'S  Acad^mie  de  M^decine 
de  Paris,  19.  Avril  1892,  Semaine  m^dicale,  1892,  Vol. 
XII,  S.  146)  fand  sub  hemiotomia  bei  einem  Manne  in 
der  Hernie  einen  Uteras  bicornis,  mit  Höhle  versehen, 
eine  Tube,  einen  Hoden  samt  Nebenhoden  und  Vas  de- 
ferens,  welche  letzteren  Gebilde  im  Ligamentum  latum 
gelagert  waren. 

17.  Boogarde  („Persistance  des  canaux  de  Müller 
chez  un  homme  adulte",  Journal  d' Anatomie  et  de  la 
Physiologie,  1877,  S.  200)  fand  bei  einem  66jährigen 
Manne  beide  Müllerschen  Gänge  neben  den  Harnleitern 
nach  abwärts  verlaufend,  wo  sie  in  utriculo  masculino 
mündeten. 

18.  Gustav  Brühl  („Über  Hermaphroditismus  im 
Anschluß  an  einen  Fall  von  Pseudohermaphroditismus 
masculinus  completus",  In.-Di8s.,  Freiburg  1894).  Pro- 
fessor V.  Kahlden  sezierte  am  24.  Juli  1893  ein  2^2 
Jahre  alt  verstorbenes  Mädchen.  Äußere  Genitalien 
normal  weiblich,  aber  die  großen  Schamlippen  sehr  wenig 
entwickelt.  Blonde  Härchen  auf  dem  Mons  Veneris. 
Klitoris  0,4  cm  lang.  Kleine  Schamlippen  normal.  Hymen 
gelappt  Uterus  arcuatus  1,3  cm  lang  und  0,9  cm  breit. 
Tuben  ohne  Lumen.  Kommunikation  der  Vagina  mit 
dem  Uterus  nicht  nachweisbar.  Die  Hoden  liegen  an 
Stelle  der  Ovarien.  Uterus  ohne  Lumen.  Zwei  von 
dem  Uterus  zu  den  Hoden  ziehende  Stränge  stellen  viel- 
leicht rudimentäre  Vasa  deferentia  dar,  vielleicht  rudi- 
mentäre Tuben.  Es  handelt  sich  also  um  Gegenwart 
eines  Uterus  und  normaler  äußerer  weiblicher  Genitalien 
bei  einem  hodentragenden  Individuum. 

19.  Carle  (siehe  Grüner,  „Utero  e  trombe  di 
Fallopio  in  un  uomo'',  wiedergegeben  in  meiner  vorjährigen 
Arbeit:  „Chirurgische  Überraschungen  auf  dem  Gebiete 
des  Scheinzwittertumes^^,  1903,  S.  71)  operierte  einen  36- 


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—     233     — 

jährigen  Telegraphisten  wegen  vor  kurzer  Zeit  ent- 
standenen linksseitigen  Leistenbruches.  Bei  der  Opera- 
tion fand  man  in  hernia  die  linke  Tube,  der  Uterus 
samt  rechter  Tube  lag  in  der  Bauchhöhle ,  der  linke 
Hoden,  pathologisch  entartet,  wurde  abgetragen.  Neben 
der  linken  Tube  verlief  das  linke  Vas  deferens.  Die 
Bauchhöhle  wurde  bei  der  Operation  mit  eröffnet^  der 
Uterus  lag  auf  der  rechten  Fossa  iliaca.  Der  Uterus 
bicornis  wurde  mit  der  ganzen  linken  Tube  und  dem 
zentralen  Ende  der  rechten  Tube  abgetragen.  Die  Frau 
des  Mannes,  der  nachher  infolge  eines  Abdominaltumors 
verstarb,  gab  an,  ihr  Mann  habe  normalen  Verstand 
gehabt,  sei  gutmütig  gewesen,  habe  regelmäßig  kohabitiert, 
aber  die  Ehe  sei  kinderlos  geblieben ;  genitale  Blutungen 
soll  der  Mann  niemals  gehabt  haben.  Grüner  gibt  an, 
die  entfernte  linksseitige  Geschlechtsdrüse  sei  ein  Teratom 
gewesen  und  er  sei  außer  Stande,  zu  sagen,  ob  aus  einem 
Hoden  oder  aus  einem  Ovarium  hervorgegangen.  Der 
vorher  erwähnte  spätere  Abdominaltumor  dürfte  wohl 
aus  der  anderen  Geschlechtsdrüse  hervorgegangen  sein, 
einer  Kryptorchis,  vermute  ich.  Die  äußeren  Geschlechts- 
teile waren  normal  männlich  gebildet  bis  auf  beider- 
seitigen Kryptorchismus. 

20.  Realdo  Colombo  („De  re  anatomica",  Venetiis, 
1559,  Lib.  XV,  S.  268)  vollzog  die  Nekropsie  eines 
Zwitters  und  fand  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit  dem 
Anscheine  einer  Vulva.  In  der  Bauchhöhle  fand  man 
an  Stelle  der  Ovarien  die  Hoden  liegend:  Ad  haec,  uti 
communis  est  fabrica  muliebris,  vasa  spermatica  fere- 
bantur,  sed,  quae  ex  iisdem  prodibant,  vasa  deferentia 
duplicia  erant,  quorum  unum  ex  utroque  latere  sese  uteri 
fomici  inseruit,  alterum  vero  ad  penis  radicem,  qui 
glandularum  prostatarum  expers  erat,  properabat  in 
eodemque  aperiebatur.  Hie  ergo  ex  ovariis  testiformibus 
peculiares   ductus   sub  tubarum    specie   in   uterum,   alii 


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—     234     - 

ductibus  deferentibus  non  absimiles  peculiares  ductus 
sub  tubarum  specie  in  arethram  patuerunt."  Auch  hier 
haben  wir  also  einen  hochgradig  ausgebildeten  Uterus 
bei  einem  hodentragenden  Individuum.  Leider  ist  kein 
Wort  bezüglich  einer  Anamnese  vorhanden. 

21.  Derveau  (Cercle  m6d.  de  Bruxelles,  5.  IV.  1901, 
„Utärus,  trompes  et  testicules  contenus  dans  une  hernie 
inguinale  congönitale  chez  un  homme'*)  fand  bei  Hernio- 
tomie  an  einem  69jährigen  Manne,  Vater  von  sechs 
Kindern,  im  Leistenbruche  Uterus  und  beide  Tuben. 
Die  Vagina  mündete  in  capite  gallinaginis.  Die  Hoden 
lagen  an  Stelle  der  Ovarien.  Keine  Hypospadie.  D.  er- 
wähnt nichts  von  etwaiger  Menstruation,  syndromalen 
Beschwerden  dysmenorrhoischen  Charakters.  Uterus  und 
Kryptorchismus  bilateralis. 

22.  A.  Dienst  (Virchows  Archiv,  Bd.  CLIV,  Heft  1) 
beschrieb  einen  Uterus  masculinus  bei  einem  kryptor- 
<5histischen  Neonaten,  verstorben  nach  einer  wegen  Atresia 
ani  vollzogenen  Operation. 

23.  Durham  (1860).  Beide  Hoden  lagen  vor  den 
Leistenkanalmündungen.  Die  Vasa  deferentia  hatten 
normalen  Verlauf,  aber  ihre  peripheren  Enden  nicht 
gefunden.  Samenblasen  klein,  Uterus  masculinus.  Die 
Scheide  mündete  nach  außen.  Hypospadiasis  peniscrotalis. 

24.  Eppinger  (Prager Vierteljahrsschrift,  Bd.  CXXV) 
fand  bei  einem  52jährigen  Manne  einen  Uterus  unicornis 
und  eine  Vagina.     Penis  und  Scrotum  normal. 

25.  Giuseppe  Fantino,  Professor  in  Bergamo, 
vollzog  am  5.  III.  1902  eine  Herniotomie  bei  einem 
Manne  und  fand  in  dem  Bruchsacke  einen  Uteras  mit 
beiden  Tuben  und  beiden  Hoden.  Der  linke  Leisten- 
kanal war  leer.  Leider  ist  nichts  erwähnt  über  etwaige 
genitale  periodische  Blutungen,  Tormina  etc. 

26.  Feiler  („Über  angeborene  menschliche  Miß- 
bildungen   im    Allgemeinen    und    Hermaphroditen    ins- 


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besondere'^  Landshut,  1820,  S.  104],  ebenso  Mayer 
(Gas per 8  Wochenschrift,  18^5,  Nr.  50),  ebenso  Heppner 
(Reicherts  Archiv,  1870,  S.  68,  S.  687)  beschrieben  die 
bekannte  Marie  Dorothea,  den  späteren  Karl  Duerrge, 
auch  Denier  genannt,  1780  in  Potsdam  geboren,  den 
Hufeland  und  Mursinna  für  ein  Weib  erklärt  hatten, 
aber  Stark  und  Martens  für  einen  Mann.  Stark 
untersuchte  dieses  Individuum,  als  es  28  Jahre  zählte, 
und  hielt  es  dem  allgemeinen  Aussehen  nach  für  einen 
Mann.  Tenörstimme,  männliche  allgemeine  und  männ- 
liche Gesichtsbehaarung.  Erektiler  Penis  von  2 — 3  Zoll 
Länge.  Hypospadiasis  peniscrotalis,  Geschlechtstrieb 
rein  männlich,  nur  einmal  eine  Blutung  ex  Urethra 
nach  einem  Trauma.  1885  starb  Duerrge  in  Mainz,  wo 
Mayer  die  Sektion  vollzog:  Canahs  urogenitalis  von 
8  Linien  Länge.  Prostata  vorhanden,  Scheide  in  der  Höhe 
von  27a  ^^^^  ^^^^  endend.  Oberhalb  ein  Uterus,  ebenso 
lang  wie  die  Vagina,  aber  ohne  Lumen.  Beide  Tuben 
viabel.  Bechterseits  liegt  am  peripheren  Tubenende  der 
Hoden  mit  nachweisbaren  Samenkanälchen,  linkerseits 
liegt  ein  Gebilde,  äußerlich  mehr  einem  Ovar  ähnelnd, 
aber  von  Peritoneum  überzogen,  ohne  mikroskopische 
Untersuchung  für  ein  Ovarium  angesehen.  Es  bestand 
indessen  nur  aus  Gratiulationsgewebe  und  Fettklümpchen. 
Es  kann  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  Duerrge 
ein  männlicher  Hypospade  war  mit  Kryptorchismus  bi- 
lateralis,  Uterus,  Vagina  und  rudimentärer  Entwickelung 
des  linken  Hodens,  der  irrtümlich  für  ein  Ovar  ange- 
sehen worden  war.  Zum  mindesten  ist  die  ovarielle 
Natur  dieser  Geschlechtsdrüse  nicht  erwiesen,  über  die 
Vasa  deferentia  fand  ich  in  den  mir  zugänglichen  Ee- 
feraten  keine  Angaben. 

27.  Feldmann  („Ein  Fall  männlichen  Schein- 
zwittertumes"  [Russisch:  Wracz  ebnaja  Gazeta,  1902, 
Nr.  39,  Referat:  Centr.  f.  Gyn.,  1903,  Nr.  47]).     Ein  62- 


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jähriger  Israelit  wurde  von  Szalita  wegen  Bruchein- 
klemmung operiert  und  starb.  Der  Mann  war  von 
niedrigem  Wuchs  und  hatte  eine  Tenorstimme  besessen» 
Penis  (11  cm  lang)  und  Scrotum  gespalten,  spärliche 
Schambehaarung.  Beide  Hoden  lagen  vor  den  Leisten- 
kanalöfifnungen  und  waren  taubeneigroß.  Vaginalmündung 
ohne  Hymen.  In  der  Umrandung  der  Vaginalmündung 
jederseits  eine  Öffnung^  welche  eine  dünne  Sonde  in  die 
seitliche  Scheidenwand  einließ.  In  der  Bauchhöhle  fand 
man  einen  Uterus,  von  dem  besonders  das  linke  Hörn 
besser  ausgebildet  war,  der  Uterus  mündete  in  die  Vagina. 
Ligg.  lata  schwach  ausgebildet,  rechterseits  sieht  man 
ein  peripheres  Tubenende  mit  Fimbrien.  Keine  Ovarien. 
Die  Samenleiter  gehen  von  den  Leistenkanälen  auf  die 
Ligg.  lata  über,  treten  dann  in  die  Uteruswände  ein, 
verlaufen  darin  und  in  den  seitlichen  Scheidenwänden 
abwärts  und  münden  mit  den  oben  genannten  Öffnungen 
nach  außen.  Vagina  6V2  cm,  Uteruskörper  7  cm,  linkes 
Uterushom  4,2  cm,  rechtes  Vas  deferens  27  cm,  rechter 
Hoden  2^/^,  linker  3  cm  lang.  Vasa  deferentia  stellenweise 
ohne  Lumen.  Eine  Hufeisenniere  quer  *vor  der  Wirbel- 
säule gelagert  und  zwei  Ureteren.  Das  Foramen  ovale 
im  Herzen  klafit.  Leider  ist  keine  Anamnese  vorhanden 
bezüglich  des  sexuellen  Empfindens. 

28.  Fillipini  (II  Morgagni,  Dicembre  1900)  fand 
bei  der  Herniotomie  an  einem  23  jährigen  Manne  in 
einem  rechtsseitigen  Leistenbruche  einen  Uterus,  eine 
Tube  und  ein  bohnengroßes  Gebilde,  das  er  für  ein  Ovar 
ansah,  während  linkerseits  in  scroto  ein  Hoden  getastet 
wurde.  Die  äußeren  Genitalien  normal  männlich.  Wahr- 
scheinlich dürfte  hier  eine  irrtümliche  Beurteilung  der 
rechtsseitigen  in  hernia  liegenden  Geschlechtsdrüse  vor- 
liegen. War  dieselbe  ein  Hoden,  so  handelte  es  sich  um 
hochgradige  Entwicklung  der  Mülle rschen  Fäden  bei 
einem  Manne. 


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_     237     ~ 

In  dem  Referate:  MünchDer  Medizinische  Wochen- 
schrift, 1901,  Nr.  10,  S.  403,  ist  von  einer  etwaigen 
mikroskopischen  Untersuchung  nichts  erwähnt. 

29.  Fjodorow  in  Moskau  (Referat:  Centr.  f.  Gyn., 
1882,  S.  20)  gezierte  eine  6monathche  Frucht  Scham 
weiblich  mit  starker  Klitorishypertrophie  anscheinlich. 
Penis  hypospadiaeus,  große  und  kleine  Schamlippen  vor- 
handen, Vaginalmündung  unterhalb  der  Urethralmündung. 
Große  Schamlippen  leer,  rechts  im  Leistenkanal  ein 
Gebilde  wie  ein  Hoden  aussehend.  Normaler  dreieckiger 
Uterus  mit  abgerundeten  Ecken,  deinen  Portio  vaginalis 
in  die  Scheide  eindringt.  Keine  Prostata  gefunden.  Die 
rechte  Tube  tritt  in  den  Leistenkanal  hinein  und  tritt 
in  Verbindung  mit  dem  rechten  Hoden.  Ligamenta  lata 
und  rotunda  vorhanden.  Das  rechtsseitige  Vas  deferens 
tritt  aus  dem  im  rechten  Leistenkanale  liegenden  rechten 
Nebenhoden  heraus.  Links  Tube  mit  Fimbriae  in  dem 
Ligamentum  latum.  Der  Uterus  hatte  einen  drüsigen 
Bau  ähnlich  der  Prostata.  In  den  Hoden  fand  man 
Samenkanälchen,  eine  scheinbare  Erweiterung  der  linken 
Tube  erwies  sich  als  Nebenhoden.  Der  ursprünglich  als 
linke  Tube  aufgefaßte  Strang  erwies  sich  später  als  das 
linke  Vas  deferens.  Die  Vasa  deferentia  mündeten  in 
den  Uterus. 

30.  Flothmann  („Ein  Fall  von  ganz  rudimentären 
Generationsorganen",  Deutsche  Medizinische  Wochen- 
schrift, 1889,  S.  67,  und:  „Geburt  eines  Anencephalus 
mit  Pseudohermaphroditismus  masculinus'S  Archiv  für 
Gynäkologie,  1888,  33.  Bd.,  S.  311).  F.  extrahierte  mit 
dem  stumpfen  Haken  den  Rumpf  eineä  Kindes,  nachdem 
der  Kopf  schon  geboren  war.  Das  Kind  wog  4000  g. 
Die  Sektion,  von  Professor  Arnold  vollzogen,  erwies: 
Linere  und  äußere  Geschlechtsteile  männlich,  aber  der 
rechte  Hoden  in  der  Bauchhöhle  retiniert.  Außerdem 
aber  fand  sich  ein   ziemlich  großer  Uterus,  hinter  den 


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—     238     — 

Samenblasen  gelegen,  dessen  Vagina  in  coUiculo  seminali 
der  männlichen  Harnröhre  mündete  und  sondierbar  war. 
Keine  Tuben  gefunden. 

31.  A.  Foges  („Ein  Fall  von  Hermaphroditismus 
spurius  masculinus  internus",  Beiträge  zur  Geburtshülfe 
und  Gynäkologie,  Rudolf  Chrobak  gewidmet,  I.  Bd., 
Wien  1903).  Gersuny  machte  den  Leibschnitt  bei  einem 
kinderlos  verheirateten  normal  kohabitierenden  50jährigen 
Manne  M.  T.  Seit  zwei  Jahren  Schmerzen  im  ünterleibe 
linkerseits,  seit  6  Monaten  Tumor,  kindskopfgroß,  höckrig, 
hart,  wenig  beweg}ich,  nicht  schmerzhaft  auf  Druck! 
Der  rechte  Hoden  fehlte  in  scroto,  linkerseits  ein  Leisten- 
bruch. Penis  normal.  Der  linke  Hoden  in  scroto  klein. 
Man  diagnostizierte:  Tumor  testiculi  sinistri  bei  Eryptor- 
chismus.  Gersuny  fand  beim  Bauchschnitt  einen  oben 
mit  den  Därmen  verwachsenen  Tumor,  über  welchem  eine 
Tube  verlief  mit  freiem  abdominalen  Ende,  mit  Fimbrien 
versehen.  Der  Tumor  hatte  sein  Gekröse  und  sah  ab- 
solut aus  wie  ein  vielkämmeriges  Ovarialkystom.  Man 
fand  nach  Herausheben  des  Tumors  aus  der  Bauchhöhle 
einen  Uterus  bicomis  und  tastete  auch  die  Vaginalportion. 
Rechte  Tube  ebenfalls  normal,  der  rechte  Hoden  lag  an 
der  Stelle,  wo  das  rechte  Ovarium  bei  Weibern  liegt. 
Der  rechte  Hoden  war  5  cm  lang.  Man  fand  das  rechte 
Vas  deferens  nach  dem  Leistenkanale  zu  verlaufend. 
Sarcoma  carcinomatodes  testiculi  sinistri  bei  beider- 
seitigem Eryptorchismus;  man  fand  auch  den  linken 
Nebenhoden,  aber  keine  Samenblasen.  Die  Natur  des 
in  der  linken  Hodensackhälfte  liegenden  bohnengroßen 
Gebildes  blieb  unaufgeklärt  Die  Vagina  dürfte  in  capite 
gallinaginis  gemündet  haben.  Es  ist  in  dem  Aufsatze 
nichts  davon  erwähnt,  ob  dieser  Mann  jemals  periodische 
genitale  Blutungen  hatte. 

32.  V.  Franquö  („Beschreibung  eines  Falles  von 
sehr  hochgradiger  Entwickelung  des  Weberschen  Organes*/ 


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—     239     — 

Beiträge  zur  Geburtshülfe  und  Gynäkologie^  herausgegeben 
von  Y.  Scanzoni,  1859,  IV.  Bd.,  S.  4)  beschrieb  ein 
lieichenpräparat  eines  männlichen  Scheinzwitters  mit 
hochgradig  entwickeltem  Uterovaginalkanale.  Kryptor- 
chismus  duplex,  Penis  und  Scrotum  ungespalten.  Pro- 
stata normal,  Samenblasen  normal;  zwischen  ihnen  liegt 
ein  normal  entwickelter  Uterus;  die  Vagina  mündet  in 
colliculo  seminali.  Vagina  8  cm  lang;  in  ihrer  hinteren 
Wand  liegen  die  blind  abgeschlossenen  peripheren  Aus- 
führungsgänge der  Samenblasen  und  Vasa  deferentia. 
Uterus  2Va  Zoll  lang  mit  ausgesprochenem  äußeren 
Muttermund;  Corpus-  und  Cer?ixhdhle  unterscheidbar. 
Tuben,  über  3  Zoll  lang  eine  jede,  hier  und  da  ohne 
Lumen.  Die  rechte  Tube  fast  durchwegs  unwegsam,  in 
die  linke  dringt  eine  Sonde  vom  Abdominalende  aus  ein 
Stück  weit  ein.  Die  Fimbriae  sind  beiderseit«  verwachsen 
mit  dem  Überzüge  eines  jeden  Nebenhodens;  Ligamenta 
rotunda  uteri  vorhanden.  Nebenhoden  und  Vasa  de- 
ferentia normal.  Die  Vasa  deferentia  unterhalb  der 
Tuben  verlaufen  zu  den  Uteruskanten  hin,  treten  etwas 
tiefer  in  die  seitlichen  Uteruswände  ein  und  verlaufen 
darin  bis  zu  den  Samenblasen  herab.  Nur  das  rechte 
Vas  deferens  hat  hier  und  da  ein  Lumen,  das  linke  ist 
ganz  obliteriert.  Ductus  ejaculatorii  fehlen!  Es  fehlen 
die  Ausmündungen  der  Vasa  deferentia  in  capite  galli- 
naginis,  die  Hoden  liegen  an  Stelle  der  Ovarien. 

33.  Arnold  zitiert  folgende  Beobachtung:  Giraud 
fand  1796  Hoden  im  gespaltenen  Scrotum,  Samen  blasen^ 
Vasa  deferentia,  in  der  Prostata  mündend,  Vagina  nach 
außen  mündend,  vom  Uterus  geschieden  durch  eine 
quere  Membran. 

34.  Godard  („Recherches  töratologiques  sur  Tap- 
pareil  s6minal  de  Thomme",  Paris  1860)  fand  bei  einem 
erwachsenen  männlichen  Hypospaden  einen  Uterus  von 
normaler  Größe  und  Gestalt;  zwei  Stränge  verliefen  von 


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—     240     — 

ihm  in  die  Leistenkanäle.  Linkerseits  fand  sich  Hoden, 
Nebenhoden  und  ein  obliteriertes  Vas  deferens,  rechter- 
seits  Hoden  nicht  gefunden;  jene  Stränge  waren  die 
Ligamenta  rotunda  uteri. 

35.  Griffi th  („Hermaphroditismus  transversus  virilis", 
Journal  of  Anatom,  and  Phys.,  January  1894)  entfernte 
durch  beiderseitige  Hernie tomie  bei  einem  23jährigen 
Individuum,  das  weibliche  Brüste  hatte,  beide  Hoden: 
Er  fand  eine  Vagina  und  in  deren  Grund  ein  Gebilde, 
das  er  fiir  einen  Uterus  ansprach,  mit  seitlichen  Gebilden, 
wie  die  Beckenaustastung  bewies.  Kremasterreflex  vor- 
handen, aber  keine  Samenstränge  konstatiert  Die  Vagina 
endete  in  der  Tiefe  blind. 

36.  Grub  er  (Mömoires  de  TAcad^mie  Imperiale 
des  Sciences  de  St  P^tersbourg,  1859,  Tome  11,  41, 
Nr.  13,  siehe  meine  Arbeit  im  vorigen  Jahrgange  „Chirur- 
gische Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Schein- 
zwittertums",  Gruppe  IV,  Fall  12).  Kryptorchismus  mit 
Carcinom  einer  Geschlechtsdrüse.  Hypospadiasis  peni- 
scrotalis,  Uterus  und  Vagina  von  8  cm  Länge,  die  Va- 
gina unterhalb  der  Urethra  im  Sinus  urogenitalis  mün- 
dend: 22 jähriger  Manu,  infolge  des  Hodencarcinoms 
gestorben.     (Siehe  die  Abbildung  Fig.  18.) 

37.  Günther  („Commentatio  de  hermaphroditismo, 
Lipsiae,  1846)  beschrieb  den  Genitalbefund  der  39jährigen 
Johanne  Christine  Schlegel.  Allgemeinaussehen  männ- 
lich. Hypospadiasis  peniscrotalis;  die  Hoden  im  ge- 
spaltenen Sero  tum.  Im  Sinus  urogenitalis  mündeten  Ure- 
thra und  Vagina.  Hinter  der  Harnblase  fand  sich  ein 
infantiler  Uterus  ohne  Lumen,  ohne  runde  Bänder,  aber 
mit  Ligamenta  lata,  der  nach  unten  zu  in  die  Vagina 
überging;  ein  Collum  uteri  nicht  ausgesprochen.  Das 
linke  Vas  deferens  schwand  im  Bindegewebe  unterhalb 
der  Harnblase.  Vagina  5^2  Zoll  lang  mit  sichtbaren 
Columnae   rugarum.     Hymen   vorhanden.      Vagina    von 


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—     241     — 

Prostata  umgeben  in  ihrem  unteren  Teile.  Penis  ent- 
hielt drei  Corpora  cavernosa,  aber  keine  Harnröhre. 
Samenblasen  fehlten. 

38.  Günther  (1846).  Hoden  und  Nebenhoden  in 
scroto,  das  linke  Yas  deferens  tritt  in  das  linke  Uterus- 
hom  ein^  das  rechte  schwindet  in  der  Tunica  subserosa 
yesicae.  Uterus  masculinus  tricomis,  zwei  Hörner  gehen 
in  die  Vasa  deferentia  über,  das  dritte  in  die  Tunica 
Bubserosa  yesicae (?).  Die  Vagina  mündet  nach  außen; 
Prostata  vorhanden;  Hypospadiasis  penis.  Die  Vasa 
deferentia  liegen  den  Seitenwänden  der  Vesicula  prosta- 
tica  an  und  münden  in  colliculo  seminali.  Der  Uterus, 
P/a  Zoll  lang,  mündet  in  vaginam.  Scrotum  nicht  ge- 
spalten. 

39.  Guldenarm  (siehe  meinen  Aufsatz  „Chirur- 
gische Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Schein- 
zwittertums",  dieses  Jahrbuch  1903,  S.  73)  amputierte 
an  einem  Hanne  bei  einer  Herniotomie  einen  Uterus 
bicomis  und  entfernte  dabei  auch  Hoden  und  Neben- 
hoden, die  in  inniger  Verbindung  mit  den  peripheren 
Tubenenden  standen,  und  zwar  aus  der  linken  Leiste. 
Rechterseits  lag  Kryptorchismus  vor.  Die  Vagina  mün- 
dete  in  dem  Corpus  gallinaginis  urethrae;  es  gelang,  sub 
operatione  auch  den  rechten  Hoden  durch  die  Ope- 
rationswunde aus  der  Bauchhöhle  herauszuziehen.  Die 
Hernie  hatte  das  rechte  Hom  eines  Uterus  bicomis  ent- 
iialten  bei  einem  hodentrageuden  Individuum.  Penis 
normal.  Leider  ist  in  der  Beschreibung  durch  Siegen- 
beck van  Heukelom,  welche  nur  der  anatomischen 
Seite  dieser  Beobachtung  Rechnung  trägt,  nichts  darüber 
gesagt,  ob  irgendwelche  genitale  periodische  Blutungen 
usw.  in  diesem  Falle  vorlagen, 

40.  Harvey  (erwähnt  von  Steglehner,  S.  90)  be- 
jschrieb   einen    Fötus   mit  Uterus,    Tuben   und   Vagina, 

Jahrbuch  VI.  16 


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—     242     — 

scheinbar   weiblicher   Scham   infolge   von   Hypospadiasis 
peniscrotalis  und  an  Stelle  der  Ovarien  liegenden  Hoden, 

41.  Henriette  (1855).  Hoden  in  den  Leistenkanälen, 
Die  Vasa  deferentia  münden  in  die  Urethra;  keine  Samen- 
blasen gefunden;  Uterus  ohne  Höhle  und  ohne  Cervix. 
Vagina  endet  in  der  Tiefe  blind. 

42.  Heppner  („Über  den  wahren  Hermaphroditismus 
beim  Menschen'*,  Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie, 
herausgegeben  von  Reichert  und  Dubois-Reymond^ 
1870,  S.  679,  Tafel  XVI)  will  bei  der  Nekropsie  des 
zweimonatlichen  Paul  Bogdanow  im  Petersburger  Findel- 
hause die  gleichzeitige  Anwesenheit  von  Ovarien  und 
Hoden  in  der  Bauchhöhle  konstatiert  haben,  die  an- 
geblichen Ovarien  hielten  aber  später  ausgeführten  mi- 
kroskopischen Kontrolluntersuchungen  anderer  Forscher, 
namentlich  Slawjanskis,  nicht  Stand:  Es  fand  sich  keine 
Spur  von  Follikeln,  für  das  Ovarium  charakteristischem 
Gewebe.  Wenn  diese  Kontrolluntersucher  Recht  haben, 
so  wäre  dieser  Fall  aufzufassen  als  hochgradige  Ent- 
Wickelung  der  Müll  ersehen  Gänge  bei  einem  männlichen 
Hypospaden,  mit  Kryptorchismus  behaftet.  Penis  hypo- 
spadiaeus.  Scrotum,  nicht  gespalten,  aber  leer,  prominiert 
auffallend  stark  nach  vom.  Unterhalb  des  hypospadischen 
Penis  die  Mündung  des  Canalis  urogenitalis,  der  sich  in 
der  Tiefe  in  Urethra  und  Vagina  teilt.  Die  Prostata  um- 
gibt den  gesamten  Canalis  urogenitalis.  Man  fand  wohl 
die  Mündungen  der  Prostataausführungsgänge,  aber  keine 
Samenblasen.  Uterus  mit  Vaginalportion  und  sichtbarem 
Arbor  vitae  vorhanden,  beide  Tuben  viabel  und  normal 
geformt  Ligamenta  lata  und  rotunda  normal,  die  unter- 
halb der  peripheren  Tubenenden  liegenden  Gebilde  sollten 
jederseits  Hoden,  Ovarium  und  Parovarium  sein. 

43.  Hesselbach  („Beiträge  zur  Natur-  und  Heil- 
kunde" von  Friedreich  und  Hesselbach,  Würzburg, 
1825,  Bd.  I,  S.  154)  machte  die  Sektion  eines  26jährigen 


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—     243     — 

Gefangenen^  an  Schwindsucht  verstorben.  Trotz  Gegen- 
wart Yon  Hoden  fand  sich  ein  Uterus  mit  viablen  Tuben^ 
mit  einem  Muttermunde  versehen.  Details  fehlen  mir 
zur  Zeit. 

44.  Hyrtl  (Osterreichische  Medizinische  Wochen- 
schrift, 1861)  beschrieb  einen  Mann  mit  normalen  ftuBeren 
männlichen  Geschlechtsteilen,  keine  Samenblasen,  die  Yasa 
deferentia  eröffnen  sich  in  einen  Uterus  bicomis. 

Hoden  und  Nebenhoden  in  scroto.  Die  Homer  des 
Uterus  fließen  in  einen  Kanal  zusammen,  der  in  capite 
gallinaginis  mündet.  Uterusschleimhaut  gefaltet.  Keine 
Vagina  vorhanden,  wohl  aber  eine  Prostata. 

•  45.  Jardine  (Obstetrical  Society  of  Glasgow,  26.  XI. 
1902  —  Referat:  Centn  f.  Gyn.,  1903,  Nr.  40).  Die  Sek- 
tion eines  neugeborenen,  bald  nach  der  Geburt  ver- 
storbenen Mädchens  erwies  einen  hypospadischen  Penis, 
ein  nicht  gespaltenes  Scrotum,  cystische  Entartung  beider 
Nieren,  Fehlen  eines  Ureters,  Vorhandensein  von  Hoden 
und  Nebenhoden,  Uterus  samt  E^eitem,  breiten  und 
runden  Mutterbändem,  Kryptorchismus. 

46.  Kapsammer  (Centralblatt  für  die  Krankheiten 
der  Harn-  und  Sexualorgane,  1900,  Nr.  1).  Nitze  ent- 
fernte bei  einem  30  jährigen  Manne  einen  Phosphatham- 
stein  von  162  Gramm  Gewicht  aus  einem  Utriculus  mas- 
culinus.     Der  Stein  hatte  Gänseeigröße. 

47.  B.  0.  Kellner  (Deutsche  Medizinische  Wochen- 
schrift, 1902,  Nr.  1).  Ein  Fall  von  Hermaphroditismus 
lateralis  aus  dem  Krankenhause  in  Bloemfontein.  Ein 
etwa  22  jähriger  Kaffer  verstarb  infolge  von  Typhus.  Als 
der  Kranke  in  das  Hospital  gebracht  wurde,  hielt  ihn 
die  Wärterin,  welche  ihn  auskleidete,  wegen  der  weiblichen 
Brüste  für  ein  Weib;  der  Arzt  konstatierte  jedoch  die 
Gegenwart  eines  Penis  mit  Vorhandensein  des  rechten 
Hodens  in  scroto.  Der  rechte  Hoden  taubeneigroß,  die 
linke  Hodensackhälfte  leer.    Hypospadiasis  peniscrotalis. 

16* 


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—     244     — 

Bei  der  Nekropsie  fand  man  einen  Uterus  mit  linker 
Tube  und  angeblich  auch  linkem  Ovarium.  Der  Mann 
war  als  Kind  der  Eaffernsitte  gemäß  beschnitten  worden. 
Man  hielt  ihn  also  offenbar  für  männlich,  als  er  zur 
Welt  gekommen  war.  Der  Verstorbene  verdiente  sich  den 
Unterhalt  als  Bereiter.  Körperbau  grazil,  Gesichtszüge 
weiblich.  Der  rechte  Hoden  sehr  klein,  aber  mit  Epidi- 
dymis versehen,  weder  Samenbläschen  nochVas  deferens 
gefunden. 

Die  linke  Tube  war  vom  peripheren  Ende  aus  nur 
8  cm  weit  wegsam  für  die  Sonde.  Das  angebliche  linke 
Ovarium^  das  sogar  Follikel  aufgewiesen  haben  soll,  soll 
über  der  Tube  gelegen  haben,  auf  der  Abbildung  ist  ein 
Ligamentum  rotundum  gezeichnet,  welches  vom  Ovarium 
zum  peripheren  Tubenende  zieht  (??).  Brüste  gut  ent^ 
wickelt,  aber  die  rechte  kleiner  als  die  linke.  Persönlich 
möchte  ich  die  Deutung  Kellners  anzweifeln,  da  eine 
mikroskopische  Untersuchung  nicht  gemacht  wurde,  ich 
würde  annehmen,  daß  es  sich  hier  um  einen  'Mann 
handelte  mit  hochgradiger  Entwickelung  der  Müllerschen 
Fäden  —  ob  eine  Vagina  existierte,  ist  nicht  gesagt  — 
die  Beschreibung  läßt  an  Genauigkeit  leider  viel  zu 
wünschen  übrig;  eine  Anamnese  irgend  welcher  Art  war 
in  diesem  Falle  nicht  zu  erlangen,  da  Patient  fast  schon 
im  Sterben  begriffen  in  das  Hospital  gebracht  wurde. 

48.  Klebs  (Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie, 
Bd.  I,  S.  738,  1876)  fand  bei  einem  männlichen  Neu- 
geborenen  ein  Gebilde,  welches  er  als  rudimentären 
Uterus  deutete,  ein  Bläschen,  welches  mit  feiner 
Mündung  in  capite  gallinaginis  urethrae  sich  erö&ete, 
in  dessen  engerer  Partie  er  Plicae  palmatae  gesehen 
haben  will. 

49.  Klein  (Münchner  Med.  Woch.,  1898,  Nr.  22) 
und  Zimmermann  („Ein  Beitrag  zur  Lehre  vom  mensch- 
lichen Hermaphroditismus'',  tn.-Diss.,  München  1901)  und 


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—     245     — 

Hengge  (Monatsschr.  filr  Gebartsh.  und  Gyn.;  1902, 
S.  270)  beschrieben  die  gleiche  Beobachtung  aus  der 
Praxis  des  Dr.  Eatzenstein:  Eine  35jährige  Frau 
hatte  erst  neun  normale  Kinder  geboren,  dann  ein  Eind, 
dessen  Geschlecht  fraglich  erschien,  sodaß  man  einen 
Arzt  holte  behufs  Geschlechtsbestimmung.  Letzterer 
holte  Dr.  Klein  hinzu,  welcher  auf  männliches  Geschlecht 
erkannte.  Das  Kind  starb  nach  272  Jahren.  Die  Ne- 
kropsie  ergab  im  rechten  Leistenkanale  ein  mikrosko- 
pisch als  Hoden  erwiesenes  Gebilde,  den  dazugehörigen 
Samenstrang,  linkerseits  eine  atrophische  Geschlechtsdrüse, 
welche  weder  die  morphologischen  Anzeichen  eines  Hodens, 
noch  eines  Ovariums  bot;  es  fand  sich  ein  2,5  cm  langer 
Uterus  von  Bleistiftdicke  mit  der  linken  Tube,  welche 
mit  einem  Morsus  diaboU  versehen  war.  An  Stelle  des 
linken  Eierstockes  lag  jene  atrophische  linksseitige  Ge- 
schlechtsdrüse, welche  sowohl  mit  dem  Uterus  durch  ein 
Ligament  verbunden  war,  als  auch  mit  dem  peripheren 
Tubenende.  Excavatio  vesicouterina  und  rectouterina  vor- 
handen. Die  rechte  Tube  verlief  nach  dem  Leisteu- 
kanale  zu.  Große  Schamlippen  vorhanden,  kleine 
fehlten,  Penis  hypospadiaeus  273  ^^  lang  mit  Glans, 
Vorhaut  usw.  Unterhalb  des  hypospadischen  Penis 
lagen  in  der  scheinbaren  Schamspalte  zwei  Öffnungen, 
eine  über  der  anderen,  die  Öffnung  der  Harnröhre  über 
der  Öffnung  resp.  Mündung  der  Vagina.  Was  aber  be- 
sonders interessant  ist,  jederseits  von  der  Mittellinie  lag 
noch  je  eine  kleine  Öffnung  seitlich  von  der  Vaginal- 
mündung nahe  zur  Urethralmündung  hin;  diese  beiden 
Öffnungen  waren  die  Mündungen  der  Vasa  deferentia. 
Ferner  fand  man  noch  rechterseits  dicht  oberhalb  der 
Vaginalmündung  die  Mündung  eines  Kanales  eines 
Prost atalappens.     Die  Vagina  war  47  mm  lang. 

50.  Kocher  („Die  Krankheiten  der  männlichen  Ge- 
schlechtsorgane",  Stuttgart,   1887,  S.  577)   erwähnt   ein 


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anatomisches  Präparat  aus  Würzburg,  Nr.  1105,  X: 
Bauchhoden  beiderseits,  wo  die  Ausbildung  des  untersten 
Endes  der  Müllerschen  Gänge  zu  einer  Vagina  mit 
Uterus  ein  Hindernis  für  den  Descensus  abgegeben  hat. 
Der  obere  Teil  des  Müllerschen  Ganges,  welcher  vom 
Uterus  ausgehend  sich  an  den  Kopf  der  Epididymis  an- 
legt, die  Verbindung  des  Vas  deferens  mit  dem  ganzen 
Seitenrande  des  Uterus,  die  Anheftung  des  den  Neben- 
hoden versorgenden  Gefäßstranges  (Arteria  deferentialis) 
an  die  obere  Uterusecke,  endlich  die  Verschmelzung  des 
Gubemaculum  testis  mit  dem  wohl  ausgebildeten  Liga- 
mentum rotundum  uteri  bilden  ebensoviele  Hindernisse 
für  das  Herabtreten  der  Hoden. 

51.  K r u  1 1  („  Pseudohermaphroditismus  masculinus 
internus'',  Centralblatt  für  Gynäkologie,  1903,  Nr.  18) 
beschrieb  ein  totgeborenes,  mehrfach  mißgebildetes  Kind: 
Pes  varus  duplex,  Hernia  umbilicalis,  Ascites,  Hydro- 
thorax,  Atelektasis  pulmonum,  Erweiterung  der  Harn- 
blase bis  Apfelgröße,  Hydronephrose  und  kleinfingerweite 
Erweiterung  der  Ureteren,  Duplizität  des  linken  Ureters. 
Die  Harnverhaltung  war  durch  den  Uterus  bedingt  Ute- 
rus wohl  gebildet,  die  Vagina  mündete  in  capite  gallina- 
ginis  der  männlichen  Harnröhre.  Scrotum  normal  und 
Penis.  An  Stelle  der  Ovarien  fanden  sich  TestikeL 
Jederseits  ein  Nebenhoden  und  Vas  deferens  und  Guber- 
naculum  Hunteri  gefunden;  man  fand  aber  keine  Ductus 
ejaculatorii.  Die  Vasa  deferentia  endigten  blind  inner- 
halb der  üterinwände. 

52.  Langer  (Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie, 
1881)  beschrieb  einen  neuen  Fall  von  Uterus  masculinus 
bei  Erwachsenen.  Junger  Soldat  mit  beiderseitigem 
Leistenbruch,  normalem  Penis  und  Scrotum,  aber  Krypt- 
orchismus.  Durch  den  Sinus  pocularis  gelangte  eine 
Sonde  in  einen  Uterus  bicomis  mit  teilweise  viablen 
Tuben  und  offener  Ostia  derselben. 


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53.  Leuckart  („Über  das  Webersche  Organ  und 
dessen  Metamorphosen'^  Illustrierte  Medizinische  Zeitang, 
herausgegeben  von  Rubner,  1852,  Bd.  I,  S.  89,  Fig.  18, 
19]  beschrieb  ein  Präparat  aus  der  v.  Sömmeringschen 
Sammlung  (Katalog  derselben  Nr.  49,  Präparat  L.  N.  I. 
384).  Hypospadiasis  peniscrotalis,  Vagina  6  cm  lang, 
blind  endend;  in  vagina  münden  die  beiden  Vasa  defe- 
rentia,  Samenblasen  gefunden  in  der  Nähe.  Die  Ductus 
ejaculatorii  verlaufen  in  Falten  der  Vaginalschleimhaut. 
Golumna  rugarum  anterior  ausgesprochen.  Prostata  fehlt. 
Ein  Hoden  mit  Nebenhoden  außerhalb  des  Leistenkanals 
in  einer  Hydrocele. 

54.  Leuckart  (1852).  Beide  Hoden  in  den  Leisten- 
kanälen, Nebenhoden,  Samenblasen  und  Vasa  deferentia 
normal.  Ductus  ejaculatorii  auf  der  Vorderfläche  der 
Vesicula  prostatica.  Der  Uterus  eröffnet  sich  in  capite 
gallinaginis  urethrae.  Scrotum  rudimentär,  Prostata 
ebenfalls,  Penis  sehr  klein,  Scrotum  nicht  gespalten. 

55.  Lukomskij  (Russkaja  Medicina,  1887,  Nr.  43). 
sojihriges  Individuum,  als  Weib  erzogen,  von  männ- 
lichem Aussehen.  Andromastie,  männliche  Gesichts- 
behaarung. Haupthaar  lang,  in  Zöpfe  geflochteu.  Ob- 
wohl die  Person  weibliche  Kleider  trägt,  vollzieht  sie 
männliche  Arbeiten.  Nach  ihrer  Verheiratung  wurde  sie 
untersucht,  weil  der  Mann  behauptete,  sie  sei  ganz  anders 
gebaut  als  andere  Weiber.  Penis  hypospadiaeus  ohne 
Praeputium  glandis,  das  Qlied  richtet  sich  bei  der  lei- 
sesten Berührung  auf,  das  gespaltene  Scrotum  enthält 
zwei  Hoden  von  Taubeneigröße;  große  und  kleine  Scham- 
lippen vorhanden,  angeblich  unterhalb  der  Harnröhren- 
mündung das  Vaginalostium ;  Scheide  7  cm  lang,  in  der 
Tiefe  entdeckte  man  die  Vaginalportion  des  Uterus. 
Hymen  eingerissen.  Niemals  Periode,  Geschlechtstrieb 
sehr  stark,  aber  rein  männlich.     Beim  Eohabitieren  mit 


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—     248     — 

Frauea  fließt  eine  klebrige ,  weißliche  Flüssigkeit  aus. 
Die  Person  haßt  den  Beischlaf  mit  Männern. 

56.  Luksch  („Über  einen  Fall  von  weit  entwickeltem 
Hermaphroditismus  spurius  masculinus  internus  bei  einem 
45jährigen  Individuum",  Neue  Zeitschrift  für  Heilkunde) 
beschrieb  das  Sektionspräparat  eines  geisteskrank  ver- 
storbenen Mannes  mit  sehr  gut  entwickeltem  Uterus,  an 
Stelle  der  Ovarien  liegenden  Hoden  und  einer  Vagina, 
welche  in  capite  gallinaginis  urethrae  mündete.  Tod  in- 
folge von  Tuberkulose.  Hoden  rudimentär  entwickelt, 
Kryptorchismus.  Eine  Brost  weiblich  gebildet,  eine  männ- 
lich, sonst  alle  sekundären  Geschlechtscharaktere  männ- 
lich. Niemals  Erektionen  des  Gliedes,  keine  Hypospadie. 
Vasa  deferentia,  Samenblasen,  Cowpersche  Drüsen  vor- 
handen, aber  keine  Spermatozoiden  gefunden  (siehe  die 
Einzelheiten  und  die  instruktive  Abbildung  in  meinem 
Aufsatze  „Interessante  Beobachtungen  aus  dem  Gebiete 
des  Scheinzwittertums",   dieses  Jahrbuch,  Jahrgang  IV, 

1902,  S.  15—18,  Fig.  3). 

57.  F.  Luksch  (Prager  Medizinische  Wochenschrift, 

1903,  Nr.  37)  fand  bei  der  Nekropsie  eines  Mannes 
zwischen  den  beiden  Vasa  deferentia  oberhalb  ihrer  Mün- 
dungen in  die  Prostata  ein  cystisches  Gebilde,  welches 
als  Scheiden-,  resp.  Uterusrudiment  angesehen  wurde. 

58.  Reuter  (1.  c.)  erwähnt  eine  Beobachtung  von 
Lilienfeld  („Beitrag  zur  Morphologie  und  Entwicke- 
lungsgeschichte  der  Geschlechtsorgane*',  D.  I.,  Marburg, 
1856,  S.  57),  betreflfend  die  22  Jahre  alt  im  Wiener 
Krankenhause  am  17.  IX.  1850  verstorbene  Anna  Petro- 
vich.  Linkerseits  fand  man  vor  der  Mündung  des  Leisten- 
kanals liegend  Hoden,  Nebenhoden  und  Vas  deferens,  in 
der  Beckenhöhle  einen  Uterus,  der  nur  eine  linke  Tube 
besaß,  und  unterhalb  derselben  das  Parovarium,  daneben 
soll  eine  Geschlechtsdrüse  gelegen  haben,  die  keine  Fol- 
likel enthielt,  also  wohl  der  zweite  Hoden  war. 


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—     249     — 

59.  Malacarne  (1805).  Kryptorchismus:  Vasa  de- 
ferentia^  Vesicalae  seminales  gefunden.  Die  Ductus  eja- 
culatorii  münden  an  der  Stelle ,  wo  die  kleinen  Scham- 
lippen sich  vereinigen.  Die  Vesicula  prostatica  öffnet 
sich  in  die  Harnröhre,  die  Vagina  in  vestibulum.  Penis 
hypospadiaeus,  Labia  minora  vorhanden. 

60.  Marchand  (,,Ein  neuer  Fall  von  Hermaphro- 
ditismus spurius  masculinus",  Virchows  Archiv,  1883, 
Bd.  XCn,  S.  286—295)  beschrieb  die  29 7^ jährige  Marie 
Raab,  in  Hessen  geboren.  Schon  in  der  Schule,  beson- 
ders aber  vom  16.  Jahre  an,  empfaM  Marie  starken 
männlichen  Geschlechtsdrang  und  kohabitierte  oft  mit 
Frauen;  sie  bemerkte  auch  oft  Ejakulation  einer  weiß- 
lichen Flüssigkeit^  hatte  aber  niemals  eine  genitale  Blu- 
tung. Sie  wurde  angeblich  wegen  psychischer  Anomalien 
unter  Kuratel  gestellt,  eigentlich  aber  mehr  deshalb^  weil 
die  ganze  Gemeinde  Kenntnis  hatte  von  der  Mißgestal- 
tung der  Geschlechtsorgane  der  Marie  Raab. 

Infolge  der  Beeinträchtigung  ihrer  persönlichen  Frei- 
heit verlangte  Marie  Zuerkennung  männlicher  Rechte. 
Sie  reichte  eine  Klage  wegen  schlechter  Behandlung 
gegen  ihren  Bruder  beim  Gericht  ein  und  es  kam  zu 
einer  gerichtlich  -  medizinischen  Begutachtung  durch 
Marchand^  Ahlfeld  und  Brettel.  Allgemeinaussehen 
weiblich.  Gesichtsausdruck  männlich,  aber  keine  männ- 
liche Gesichtsbehaarung  vorhanden.  Stimme  männlich 
seit  Stimmbruch  im  17.  Jahre ^  Hypospadiasis  peniscro- 
talis.  Penis  3  cm  lang  und  1 Y3  cm  dick.  Vagina  9  cm 
lang,  am  Ausgang  verengt,  oberhalb  weit^  Spuren  eines 
Hymen  vorhanden.  Urethra  und  Vagina  münden  in 
einem  Sinus  urogenitalis,  Kryptorchismus  beiderseits.  Die 
Scham  sieht  aus  wie  eine  weibliche,  mit  Hypertrophie 
der  Klitoris  und  teilweiser  Verwachsung  der  kleinen 
Schamlippen  mit  einander.  Raphe  vorhanden,  Vestibulum 
und  Frenulum  labiorum.    Man  fand  keine  Prostata,  wohl 


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—     250     — 

aber  sub  narcosi  ein  Gebilde^  das  den  Eindruck  eines 
Uterus  machte,  sowie  seitlich  davon  rechts  ein  Gebilde, 
das  vielleicht  ein  Ovarium  sein  konnte.  Marchand  ver- 
mutete, Marie  Raab  sei  ein  männlicher  Scheinzwitter. 

61.  Henricus  Matthes  („Specimen  anatomico- 
pathologicum  de  vitiata  genitalium  genesi,  quae  herm- 
aphroditica  dicitur*',  In.-Diss.,  Amstelodami,  1836)  be- 
schrieb eine  Beobachtung  Vroliks  aus  dem  Jahre  1S35: 
Eine  Frau  hatte  nach  der  Reihe  zwei  gleich  mißgestaltete 
Kinder  geboren.  Hemia  cerebri,  Meningocele  occipitalis, 
Labium  leporinum,  Palatum  fissum,  Polydaktylie  aller 
vier  Extremitäten,  Scrotum  fissüm,  Hoden  nach  Eröffiiung 
der  Bauchhöhle  vor  den  inneren  Öffnungen  der  Leisten- 
kanäle liegend«  Die  Vasa  deferentia  ziehen  von  hier  zur 
hinteren  Wand  der  Harnblase  und  treten  hier  ein  in 
einen  Uterus  bicornis.  Die  Urethra  hat  keine  äußere 
Öffnung,  trotzdem  keine  Harnstauung,  weil  der  Urachus 
offen  geblieben  war.  Der  Magen  liegt  vertikal,  statt 
transversal,  der  Blinddarm  liegt  linkei-seits  in  der  Bauch- 
höhle. Situs  partim  inversus  viscerum.  Denselben  Fall 
hat  auch  Vrolik  beschrieben. 

62.  Mayer  (1831).  Linker  Hoden  und  Nebenhoden 
in  der  Bauchhöhle  dicht  an  der  inneren  Mündung  des 
Leistenkanals.  Die  Vasa  deferentia  verlaufen  seitlich 
längs  des  Uterus,  Samenblasen  vorhanden;  der  linke 
Ductus  erjaculatorius  mündet  in  die  Urethra,  rechter 
nicht  gefunden.  Uterus  besitzt  ein  Collum,  aber  keine 
ausgesprochenen  Muttermundslippen.  Die  Vagina  mündet 
mit  der  Urethra  in  den  Canalis  urogenitalis  nach  außen. 
Prostata  gut  entwickelt,  Hypospadiasis  peniscrotalis. 

63.  Mayer  (1831).  Hoden  und  Nebenhoden  nahe 
den  Nieren  gelegen.  Das  linke  Vas  deferens  steigt  bis 
zur  Vagina  herab,  das  rechte,  fadenförmig,  schwindet 
in  der  Nähe  des  Uterushornes.  Die  linke  Samenblase 
rudimentär,   die   rechte  fehlt  ganz.     Uterus  masculinus 


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—     251     — 

bicornis,  die  Cervix  uteri  mündet  mit  einem  Muttermunde 
in  vaginam,  die  Vagina  mündet  in  die  Harnblase.  Die 
Mündung  dort  von  einer  Art  Falte  umgeben.  Kein  Vesti- 
bulum  yaginae  vorhanden^  die  vordere  Harnblasenwand 
liegt  in  einer  Omphalocele.     Penis  hypospadiaeus. 

64.  Mayer  (1831).  Hoden  und  Nebenhoden  in  der 
Bauchhöhle,  die  Vasa  deferentia  verlaufen  längs  des  Ute- 
rus zu  den  Samenblasen.  Uterus  masculinus  bicomis^ 
die  Uterushörner  ohne  Lumen  vereinigen  sich  oberhalb 
der  Mündung  in  vaginam.  Die  Vagina  mündet  in  die 
Harnblase,  Prostata  vorhanden,  Penis  und  Scrotum  nor- 
mal;  kein  Vestibulum  vaginae  vorhanden. 

65.  Mayer  (1831).  Descensus  incompletus  testicu- 
lorum;  die  Vasa  deferentia  verlaufen  längs  des  Uterus 
und  geben  in  die  Samenblasen  über.  Die  Ductus  eja- 
culatorii  sollen  in  die  Vagina  münden.  Der  Uterus  be- 
sitzt beide  Tuben,  eine  Cervix  und  Vaginalportion  mit 
Muttermund;  die  Vagina  mündet  in  vestibulo  nach  außen. 
Hypospadiasis  peniscrotalis. 

66.  Mayer  (1831).  Der  rechte  Hoden  in  der  Nähe 
des  Anulus  inguinalis,  der  linke  fehlt  Uterus  ziemlich 
groß  mit  gefalteter  Schleimhaut  der  Cervicalportion.  Die 
weite  Scheide  mündet  nach  außen,  keine  Prostata,  Hypo- 
spadiasis peniscrotalis. 

Mayer  (Icones  selectae,  Bonn,  1831,  Tafel  11, 
Figur  4,  und  Tafel  3,  Figur  2,  S.  9)  beschrieb  drei 
Fälle  von  Gegenwart  eines  Uterus  bei  männlichen  In- 
dividuen; zwei  Fälle  betrafen  Föten  von  vier  resp.  sechs 
Monaten,  der  dritte  Fall  einen  jungen  Mann  von  26  Jahren. 
Hypospadie. 

67.  H.  Merkel  (Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie 
und  allgemeinen  Pathologie,  XXXII,  I,  S.  157,  1902)  fand 
bei  der  Sektion  eines  51jährigen  an  Mastdarmkrebs  ver- 
storbenen Mannes  einen  Leistenbruch  einerseits,  welcher 
einen  gut  entwickelten  Uterus  neben  einem  Hoden  ent- 


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—     252     — 

hielt  Uterus  und  Vagina  waren  zusammen  20  cm 
lang.  Die  Vagina  mündete  in  capite  gallinaginis  urethrae 
masculinae.  Prostata  normal;  statt  zwei  fanden  sich  vier 
Samenblasen.  Das  Vas  deferens  sinistrum  war  in  seiner 
ganzen  Länge  viabel,  das  rechtsseitige  aber  nur  in  seinem 
oberen  Anteile.  Normales  Sperma  in  den  Samenblasen 
gefunden.  Der  Mann,  von  durch  und  durch  männlichem 
Aussehen,  Behaarung  usw.,  kohabitierte  normal  und  konnte 
seine  Frau  schwängern;  die  Ehe  war  jedoch  steril;  die 
Ursache  der  Sterilität  der  Ehe  lag  auf  Seiten  der  Frau! 
Der  Uterus  enthielt  weder  Blut  noch  Schleim  und  ging 
unter  stetig  nach  unten  zunehmender  Verdünnung  seiner 
Wände  ohne  eine  eigentliche  Portio  vaginalis  in  die 
Scheidenwände  über.  Das  Lumen  der  Scheide  war 
bleistiftdick.  Die  Hoden  lagen  an  der  Hinterfläche  der 
Ligamenta  lata,  wo  bei  Weibern  die  Ovarien  liegen. 
Man  fand  auch  jederseits  ein  dem  Ligamentum  ovarii 
proprium  entsprechendes  Band. 

Merkel  gibt  an,  er  habe  im  ganzen  16  Fälle  von 
hoher  Entwickelung  eines  Uterus  beim  Manne  in  der 
Literatur  gefunden. 

68.  H.  V.  Meyer  („Ein  Fall  von  Hermaphroditismus 
lateralis",  Virchows  Archiv,  Bd.II,  S.  420,  1857)  beschrieb 
ein  bereits  von  Gramer  beschriebenes  Präparat,  der  Leiche 
eines  Neugeborenen  entnommen.  Penis  hypospadiaeus^ 
Scrotum  nur  in  der  oberen  Hälfte  gespalten.  Urethral- 
mündung  weiblich,  Urethra  von  einer  Prostata  umgeben, 
die  Ausmündungen  der  Prostatagänge  liegen  sichtbar  auf 
dem  CoUiculus  seminalis.  Man  sieht  auf  dem  Colliculus 
zwei  Öffnungen,  den  Mündungen  der  Ductus  ejaculatorii 
scheinbar  entsprechend,  sie  entsprechen  jedoch  letzteren 
nicht,  denn  durch  die  linksseitige,  näher  der  Mittellinie 
gelegene  Ofifnung  gelangt  eine  dünne  Sonde  in  die  Vagina. 
In  die  rechte  Ofinung  dringt  eine  Sonde  nur  2  mm 
tief  ein.    Auf  der  Rückfläche  der  Harnblase  liegen  Uterus 


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—     253     — 

und  Vagina.  Die  vaginale  Mündung  in  capite  gallina- 
ginis  urethrae  ist  3  mm  lang.  Scheide  und  Uterus 
getrennt  schon  für  das  Auge  durch  eine  Art  Falte. 
Uterus  mehr  dickwandig,  mit  Palmae  plicatae,  Scheide 
dünnwandiger  mit  ausgesprochenen  Columnae  rugarum. 
Jene  Querfalte  stellt  den  äußeren  Muttermund  dar. 
Rechte  Tube  61  nmi  lang^  ohne  Hydatide,  die  linke 
106  mm  lang;  mit  einer  solchen  versehen.  Bechterseits 
hängt  ein  Ovarium  an  einem  13  mm  langen  Ligamentum 
ovarii,  zwischen  Ovar  und  Tube  das  Parovarium  dextrum 
und  eine  Hydatide.  Linkerseits  liegt  neben  dem  peri- 
pheren Tubenende  ein  Hoden  mit  seinem  Ausführungs- 
gange ^  der  3  cm  weit  in  der  Richtung  nach  dem 
Uterus  zu  für  eine  haardünne  Sonde  mahel  ist  Dieser 
Strang  kann  verfolgt  werden  bis  an  das  linke  Uterus- 
hom,  ist  aber  dort  ohne  Lumen,  v.  Meyer  sieht  in 
diesem  Strang  das  linke  Yas  deferens,  dessen  unteres 
Ende  dicht  oberhalb  seiner  Mündung  in  parte  prostatica 
urethrae  obliteriert  sein  soll;  es  liegt  aber  die  vorerwähnte 
Ofihung  in  capite  gallinaginis  rechterseits  von  der  Mittel- 
linie und  nicht  Unkerseits,  was  zu  Zweifel  an  dieser 
Deutung  berechtigt.  Neben  dem  linken  Hoden  liegt  ein 
parovariumartiges  Gebilde  mit  einer  Hydatide.  Der  linke 
Hoden  liegt  in  einem  breiten  Sacke  —  Tunica  vaginalis  — 
in  labio  pudendi  majori  sinistro.  Daher  die  linke 
Schamlefze  größer  als  die  rechte.  In  der  Abbildung 
ist  der  Hoden  aus  jenem  Sacke  herausgezogen  dar- 
gestellt; vom  Uterus  zieht  zu  diesem  Sacke  ein  Liga- 
mentum rotundum  sinistrum;  ein  Gubernaculum  Huu- 
teri  hier  auch  vorhanden,  v.  Meyer  deutet  die  rechts- 
seitige Geschlechtsdrüse  als  ein  Ovarium,  ohne  jedoch 
Beweise  für  die  ovarielle  Natur  dieser  Geschlechtsdrüse 
beigebracht  zu  haben;  es  scheint  vielmehr  wahrscheinlich, 
daß  es  sich  hier  um  Eryptorchismus  duplex  handelt  mit 
Hypospadiasis    des   Penis    und   teilweiser   Spaltung   des 


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Scrotum  bei  Gegenwart  eines  hochgradig  entwickelten 
Uterovaginalkanales,  die  Vagina  in  capite  gallinaginia 
urethrae  mündend. 

69.  Moreau  de  Tours  (Bulletin  M^dical,  3.  Avril 
1887.  Referat:  Repertoire  universel  d'Obst^trique  et  de 
6yn6cologie,  1887,  S.  311)  verlangte  Rektifikation  der 
Metrik  für  ein  Mädchen,  das  er  für  einen  männlichen 
Hypospaden  erklärte;  Erektionen  konstatiert  und  männ- 
licher Geschlechtstrieb,  aber  Hoden  nicht  getastet,  Erypt- 
orchismus  angenommen,  ein  zwischen  Blase  und  Mast« 
darm  getastetes  Gebilde  sprach  er  als  Uteras  masculinus 
an  (für  mich  zweifelhafter  Fall). 

70.  Nuhn  (1855).  Die  beiden  Hoden,  sehr  klein, 
liegen  vor  den  äußeren  Mündungen  der  Leistenkanäle. 
Vesiculae  seminales  sehr  klein,  Vasa  deferentia  vorhanden. 
Die  Ductus  ejaculatorii  verlaufen  in  der  vorderen  Wand 
der  von  gallertigem  Schleim  erfiillten  Vesicula  prostatica 
(Uterus),  der  rechte  Ductus  besitzt  kein  Lumen,  der 
linke  mündet  in  die  Urethra.  Prostata  fehlt.  Hypo- 
spadiasis  peniscrotalis.  (lUustrierte  Medizinische  Zeitung, 
Bd.  III,  S.  93.)  LeichenpiÄparat  eines  blindgeborenen 
Mannes  von  22  Jahren. 

71.  Obolonsky  („Beiträge  zur  pathologischen  Ana- 
tomie des  Hermaphroditismus",  Zeitschrift  für  Heilkunde, 
Bd.  IX,  S.  211,  siehe  meine  Arbeit:  „Chirurgische  Über- 
raschungen auf  dem  Gebiete  desScheinzwittertumes".  Vierte 
Gruppe,  Nr.  30)  beschrieb  die  Nekropsie  eines  50  Jahre  alten 
Weibes,  das  vom  17.  bis  49.  Jahre  regelmäßig  menstruiert 
gewesen  sein  soll.  Gleichwohl  konstatierte  die  Sektion 
einen  Hoden  und  männliche  Hypospadiasis  peniscrotalis: 
Vagina  unterhalb  der  Urethra  nach  außen  mündend,  6  cm 
lang  mit  Hymen;  rudimentärer  Uterus  bicornis,  linker- 
seits vom  Uterus  Hoden  und  Nebenhoden  und  Samen- 
strang; die  rechte  Geschlechtsdrüse  wurde  nicht  gefunden, 
statt  ihrer   aber   ein  Tumor,  ein  Sarkom,   welches   den 


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Tod  herbeigeführt  hatte.  Da  man  auch  rechterseits  ein 
Vas  deferens  fand,  so  erscheint  der  Schluß  vollkommen 
berechtigt,  daß  dieses  Sarkom  ein  Sarkom  der  rechten 
Kryptorchis  war.  Schon  Wrany  hatte  behauptet,  die 
Verstorbene  sei  ein  Mann  gewesen,  und  er  hatte  Recht 
Becken  und  Brüste  weiblich.  Allgemeinaussehen  und 
Skelett  rein  weiblich.  Der  Uterus  hatte  eine  Höhle. 
Der  Skeptiker  wird  hier  gleich  bei  der  Hand  sein:  die 
regelmäßige  Periode  beruht  auf  falscher  Angabe;  ob  aber 
mit  Recht? 

72.  Odin  (Lyon  M^dical,  21.  Juin  1874).  Im  Hotel 
Dien  in  Lyon  verstarb  an  Apoplexie  der  63  jährige  Ar- 
beiter Nat.  Matthieu  Perret:  Penis  hypospadiaeus  von 
10  cm  Länge,  Scrotum  üssum,  Raphe  perinaei  7  cm 
lang.  Im  rechten  Leistenkanal  ein  taubeneigroßes  Ge- 
bilde. Andromastie,  Becken  männlich,  mangelhafte 
Schambehaarung,  Urethra  und  Vagina  münden  in  einem 
gemeinsamen  Ausgange,  dem  Canalis  urogenitalis,  zwischen 
den  Schamlefzen.  Vagina  8  cm  lang  und  6  cm  breit. 
Die  großen  Schamlefzen  sind  hinten  unten  nicht  durch 
ein  Frenulum  verbunden.  Ein  Katheter,  in  die  vor- 
genannte Öffnung  eingeführt,  kann  sowohl  in  die  Blase 
gelenkt  werden  wie  in  die  Vagina.  Hymenartige  Klappe 
vor  der  Vaginalmündung,  Uterus  rudimentär  entwickelt, 
mit  8  cm  tiefer  Höhle,  nach  links  geneigt;  die  linke 
Tube  zieht  gegen  den  Leistenkanal  hin  und  endet  blind 
ohne  Morsus  diaboli;  dort  liegt  der  linke  Hoden  und 
Nebenhoden.  Ein  daneben  liegendes  Gebilde  mit  Bläschen 
könnte  vielleicht  ein  Ovar  sein,  sein  ovarieller  Charakter 
wurde  aber  nicht  nachgewiesen.  Die  rechte  Tube  dicker 
als  die  linke,  der  rechte  Hoden  liegt  vor  der  äußeren 
Mündung  des  Leistenkanales.  Von  den  Hoden  ziehen  die 
Vasa  deferentia  zu  den  Samenblasen  herab,  die  rechte 
Samenblase  großer  als  die  linke,  die  Ductus  ejaculatorii 
sollen  vermutlich  münden  in  den  seitlichen  Umrandungen 


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—     256     — 

der  Harnröhrenmündung.  Jegliche  •  anamnestische  Daten 
betreffs  Periode,  Geschlechtsdrang  etc.  fehlen^  nur  soviel 
ist  bekannt,  daß  der  Mann  niemals  verheiratet  gewesen 
war.  Odin  selbst  spricht  sich  zweifelhaft  über  das  Ge- 
schlecht aus,  die  Hoden  sollen  zur  8perma,togenese  fähig 
gewesen  sein.  Es  dürfte  sich  hier  wohl  um  männliches 
Scheinzwittertum  handeln  mit  einseitigem  Kryptorchismus 
bei  Hypospadiasis  peniscrotalis  und  hochgradiger  Ent- 
wickelung  der  Müller  sehen  Gänge. 

73.  Palma  („Zur  pathologischen  Anatomie  der  Bil- 
dungsanomalien im  uropoetischen  System",  Prager  Medi- 
zinische Wochenschrift,  1891,  Nr.  32,  33,  S.  367). 
Professor  Chiari  fand  bei  der  Sektion  der  Leiche  eines 
58  jährigen  an  Schvrindsucht  verstorbenen  Mannes  die 
rechte  Niere  normal,  die  linke  atrophisch,  den  linken 
Ureter  im  unteren  Teile  obliteriert.  Ein  Uterus  unicomis 
kommunizierte  durch  eine  feine  Öffnung  mit  dem  Caput 
gallinaginis  partis  prostaticae  uretbrae.  Es  fand  sich  nur 
das  linksseitige  Uterushorn  mit  einer  von  Schleimhaut 
ausgekleideten  Höhle.  Uterushorn  5  cm  lang  und  4  mm 
dick.  Der  linke  Ureter  trat  mit  seinem  unteren  obli- 
terierten Teile  in  die  Wand  des  Uterus  ein.  Klebs  ver- 
mutete, der  Ureter  sei  mit  dem  einen  Müllerschen 
Faden  verschmolzen,  vielleicht  hat  sich  in  diesem  Falle 
der  linke  Ureter  aus  einem  Müllerschen  Faden  ,ab- 
gespalten,  statt  aus  einem  Wo Iff sehen  Gange. 

74.  Percy  Paton  („A  case  of  vertical  or  complexe 
hermaphroditism  with  pyometra  and  pyosalpinx;  removal 
of  the  pyosalpinx",  Lancet,  1902,  Nr.  41 16,  S.  148)  vollzog 
den  Bauchschnitt  bei  einem  Manne  wegen  eines  ver- 
muteten Blasentumors.  Die  Operation  ergab,  daß  dieses 
hodentragende  Individuum  einen  Uterus  besaß  mit  beiden 
Tuben,  in  Pyosalpinxsäcke  verwandelt,  und  eine  Vagina, 
welche  in  scroto  fisso  mündete;  die  männliche  Urethra 
mündete    mit   einer   sehr   engen  Öffnung  in  die  Vagina. 


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Der  vor  der  Operation  getastete  Unterleibstumor  war 
einfach  die  hamerfüllte  Blase  gewesen.  Paton  gibt 
nichts  darüber  an,  ob  dieser  Mann  irgendwelche  genitale 
Blutungen  periodischer  Art  gehabt,  Tormina  menstrualia, 
ob  Ejakulationen  vorlagen  und  welcher  Art  der  Ge- 
schlechtstrieb war. 

75.  Pelvet  (1865).  Hoden  und  Nebenhoden  neben 
den  Nieren  gelegen,  die  Vasa  deferentia  kreuzen  sich 
mit  den  Harnleitern  und  münden  in  einer  Bauchspalte. 
Uterus  masculinus  bicomis  von  weicher  Konsistenz  mit 
ausgesprochenem  Lumen  eröffnet  sich  gleichfalls  in  der 
Bauchspalte.  Scheide  fehlt.  Ektopia  vesicae  urinariae. 
Äußere  Genitalien  verraten  Spaltung;  man  sieht  nur 
jederseits  eine  Hautfalte;  aus  einer  jeden  geht  ein  Ge- 
bilde wie  ein  Corpus  cavernosum  hervor. 

76.  Petit  (Histoire  de  TAcad^mie  des  Sciences, 
Ann^e  1780,  S.  38)  teilte  der  Akademie  das  Sektions- 
ergebnis eines  im  22.  Jahre  verstorbenen  Soldaten  mit. 
Allgemeinaussehen  männlich,  Scrotum  leer,  beide  Testikel 
in  der  Bauchhöhle,  Samenblasen  vorhanden;  die  Vasa 
deferentia  mündeten  regelrecht  in  parte  prostatica  urethrae, 
außerdem  fand  sich  aber  auf  dem  CoUiculus  seminalis 
auch  die  Ausmündung  eines  Uterus,  welcher  beide  Tuben 
besaß,  aber  ohne  Lumen  mdA  Morsus  diaboli.  Die  Hoden 
und  Zubehör  lagen  an  Stelle  der  Ovarien. 

77.  Pfannenstiel  (siehe  Emil  von  Swinarski, 
„Beitrag  zur  Kenntnis  der  Geschwulstbildungen  der  Geni- 
talien bei  Pseudohermaphroditen",  In.-Di88.,  Breslau,  1900). 
Amputation  des  myomatösen  Uterus  bei  einer  55jährigen, 
unverehelichten,  niemals  menstruierten  Person,  als  Weib 
erzogen.  Die  sekundären  Geschlechtscharaktere  durchwegs 
männlich:  Knochenbau,  Muskelsystem,  Behaarung.  Das 
äußere  Genitale  sieht  aus  wie  Hypospadiasis  peniscrotalis 
mit  Kryptorchismus,  das  Geschlechtsglied,  B  cm  lang, 
sub  erectione  5  cm,  besitzt  eine  lange  bewegliche  Vor- 

Jahrbuch  VI.  17 


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—     258     — 

haut^  eine  große  Eichel.  Die  großen  Schamlefzen  sind 
im  unteren  Teile  durch  eine  Raphe  vereint,  oberhalb  liegt 
die  Öffnung  des  Sinus  urogenitalis,  in  dessen  Grunde  die 
Urethralmündung  und  die  von  einem  Hymen  umsäumte 
Vaginalmündung.  Der  Sinus  urogenitalis  läßt  den  Finger 
2  cm  tief  ein,  die  Vagina  läßt  den  kleinen  Finger  ein- 
treten. Im  Scheidengrund  tastet  der  Finger  etwas  wie 
eine  minimale  Vaginalportion  eines  Uterus.  Absoluter 
Mangel  irgend  eines  Geschlechtsgeflihles.  Pfannenstiel 
sprach  einen  Tumor  als  Uterusmyom  an  und  vollzog  die 
Amputation  des  Uterus  und  der  Adnexa.  In  den  als 
Ovarien  angesprochenen  Gebilden  fehlte  jede  Spur  von 
für  ein  Ovarium  charakteristischen  Gewebselementen. 
Diese  Gebilde,  langgestreckt  vergrößert,  mit  absolut  glatter 
Oberfläche,  bestanden  nur  aus  einem  bindegewebigen 
Stroma  und  einigen  Blutgefäßen,  ließen  eine  Rindenschicht 
von  einer  inneren  unterscheiden,  wiesen  aber  keine  Spur 
von  essentiellem  Eierstocksgewebe  auf.  Nehmen  wir  an, 
die  Person  war  weiblich,  so  läge  rudimentäre  Entwickelung 
der  Ovarien  vor  bei  Klitorishypertrophie,  Erektilität  der 
Klitoris  und  Persistenz  des  Sinus  urogenitalis  und  ab- 
soluter Amenorrhoe,  nehmen  wir  an,  die  Geschlechts- 
drüsen waren  verkümmerte  Hoden,  so  hätten  wir  mit 
hochgradiger  Entwiokelung  der  Müllerschen  Gänge  bei 
einem  männlichen  Hypospaden  zu  tun.  Die  Frage  bleibt 
unentschieden. 

78.  Pinel  (M6moires  de  la  Soci^t^  mödicale  d'6mu- 
lation,  Vol.  IV,  Ann.  VTII,  S.  340)  beschrieb  einen 
18jährigen  Soldaten:  Kryptorchismus,  an  Stelle  der 
Prostata  soll  ein  Uterus  vorgelegen  haben  „cum  tubis 
angustis  ad  corpora  ambigua  testiformia  decurrentibus 
iisque  adhaerentibus ,  quae  corpora  dubia  epididymide 
vasculo  deferente  ad  vesiculam  seminalem  magnam  abeunte 
instructa  erant". 

79.  Pozzi  (siehe  meine  Arbeit  „Chirurgische  Über- 


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—     259     — 

raschuDgen  auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertumes'', 
Separat-Abdruck,  S.  33)  fand  sub  herniotomia  bei  einem 
Mädchen  in  dem  Bruchsacke  einen  Hoden  und  das  linke 
Hörn  eines  Uterus  bicornis.  Peyrot  hatte  früher  bei 
diesem  32  jährigen  Dienstmädchen  einen  beiderseitigen 
Leistenbruch  konstatiert  und  Ektopie  der  beiderseitigen 
üterusadnexe  bei  fehlendem  Uterus  diagnostiziert  Beider- 
seitige Hemiotomie,  linkerseits  eine  Cyste,  für  Hydrosal- 
pinx  angesehen^  ein  anderes  Gebilde  f&r  ein  ektopisches 
Ovarium,  ein  drittes  für  einen  rudimentären  Uterus. 
Cyste  reseziert,  Uterus  und  das  vermeintliche  Ovarium 
in  die  Bauchhöhle  geschoben.  Rechterseits  zwei  nicht 
reponible  Gebilde  abgeschnitten:  eine  Cyste  und  ein  ftlr 
das  rechte  Ovarium  angesehenes  Gebilde.  Nach  einem 
Jahre  Bruchrecidiy  linkerseits,  jetzt  von  Pozzi  operiert: 
Das  Mikroskop  wies  nach,  daß  Peyrot  rechterseits  einen 
Hoden  entfernt  hatte,  linkerseits  Pozzi  einen  Hoden. 
Vagina  und  Uterus  vorhanden,  Scham  absolut  weiblich, 
ohne  auch  nur  im  geringsten  Grade  einen  Verdacht  auf 
«rreur  de  sexe  zu  erwecken,  da  die  Klitoris  absolut 
nicht  vergrößert  war.  Es  handelt  sich  also  um  Hypo- 
spadiasis  peniscrotalis  mit  Eryptorchismus  und  hochgra- 
diger Entwickelung  der  Müllerschen  Gänge.  Nach  der 
«rsten  Operation  erwachte  weiblicher  Geschlechtstrieb,  bis 
•dahin  latent,  und  kam  Melancholie  zum  Ausbruch,  welche 
nach  der  zweiten  Operation  noch  zunahm.  Hymen  ein- 
gerissen bei  einer  Stupration  im  8.  Lebensjahre.  All- 
gemeinaussehen und  sekundäre  Geschlechtscharaktere  ab- 
solut weiblich.  Geschlechtstrieb  weiblich.  Vom  12.  Lebens- 
jahre an  oft  Nasenbluten,  zuweilen  mehrmals  an  einem 
Tage,  einmal  sogar  zwölfmalig  binnen  24  Stunden.  Diese 
Blutungen  wiederholten  sich  niemals  länger  als  zwei  Tage 
nach  der  Reihe,  wiederholten  sich  aber  allmonatlich  in 
gewissen  Zeitabständen  und  wurden  von  Schmerzen  in 
der  Lendengegend    begleitet,    im   Unterleibe    und    den 

17* 


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—     260     — 

Beinen,  dem  Gefühl  von  Hitze,  Atemnot  und  Kopf- 
schmerzen; in  demselben  Jahre  traten  die  Erscheinungen 
der  Geschlechtsreife  auf^  die  Behaarung  des  MonsVene- 
ris  und  Stimmbruch.  Im  14.  Jahre  einmal  nach  einem 
Spaziergange  während  jener  prämenstrualen  Beschwerden 
ein  dreimaliger  Anfall  von  Somnambulismus  mit  nächt- 
lichem Spazierengehen  im  Hause.  Die  Nasenblutungen 
samt  dem  gesamten  Komplex  der  Geleiterscheinungen 
dauerten  bis  zum  22.  Jahre.  Vom  Januar  bis  Juni  des 
32.  Lebensjahres  wiederholten  sich  drei-  bis  viermal  Mast- 
darmblutungen bei  Verstopfung  —  wohl  auf  Hämorrhoiden 
zu  beziehen.  Die  Nasenblutungen  hatten  sich  seit  dem 
22.  Jahre  ganz  verloren.  Trotzdem  dauerten  die  all- 
monatlich sich  wiederholenden  obengenannten  Molimina 
an.  Amenorrhoe  mit  periodisch  sich  wiederholenden 
Kongestionserscheinungen.  Von  Zeit  zu  Zeit  wurden  die 
Brüste  für  2—3  Tage  schmerzhaft.  Mammae  groß,  gut 
entwickelt,  mit  gut  entwickelter  Drüsensubstanz,  Becken 
breit,  weiblich,  Atmungstypus  männlich. 

Scheide  sehr  eng  und  empfindlich,  kein  Uterus  per 
rectum  getastet,  die  periodischen  Nasenblutungen  hatten 
sich  10  Jahre  lang  wiederholt;  Testikel  atrophisch,  ohne 
nachweisbare  Spermatogenese.  Es  scheint  also,  daß  in 
diesem  Falle,  obwohl  notorisch  Hoden  vorlagen,  gleich- 
wohl eine  vikariierende  Menstruation  vorlag,  mit  dem 
Symptomenkomplexe,  welcher  als  Tormina  menstrualia 
bezeichnet  wird,  dabei  ist  auffallend  der  rein  weibliche 
Geschlechtsdrang,  die  Melancholie  nach  ausgeführter 
Kastration. 

80.  Primrose  („A  case  of  Uterus  masculinus'V 
British  Medical  Journal,  1897,  Vol.  II,  S.  881).  Bauch- 
schnitt  an  einem  25jährigen  Kryptorchisten  bei  Diagnose 
eines  Hoden tumors:  Man  fand  ein  Hodensarkom  und  kon- 
statierte nach  dem  Tode  post  operationem  die  Gegenwart 


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—     261     — 

eines  Uterus  und  einer  Vagina;  letztere  mündete  in  capite 
gallinaginis  uretfarae. 

81 .  Römy  beschrieb  die  Persistenz  eines  Müll  ersehen 
Fadens  bei  einem  Knaben;  derselbe  verlief  parallel  dem 
rechtsseitigen  Harnleiter  und  endete  oben  mit  einer 
Gruppe  Bläschen  von  Hirsekomgröße.  R6my  erblickte 
in  diesen  kleinen  Cysten  ein  Überbleibsel  des  Wolffschen 
Körpers.  Das  untere  Ende  des  Müll  ersehen  Fadens 
eröffnete  sich  in  capite  gallinaginis  partis  prostaticae 
urethrae. 

82.  Hubert  Roberts  („Pelvic  viscera  showing  Pseudo- 
hermaphroditism",  Transact  of  the  Obstetrical  Society  of 
London  for  the  Year  1901,  Vol.  XLIII,  S.  928).  Bei 
der  Sektion  eines  44jährigen,  im  Bartolomews  Hospital 
infolge  von  Apoplexie  verstorbenen  Mannes,  dessen  se- 
kundäre Geschlechtscharaktere  sämtlich  männliche  waren, 
der  in  seiner  Ehe  zwei  Kinder  gezeugt  haben  soll,  fand 
man  zunächst  Kryptorchismus  bilateralis,  in  der  Bauch- 
höhle einen  gut  ausgebildeten  Uterus  mit  Tuben  und 
Ligamenta  lata;  zwei  an  Stelle  der  Ovarien  liegende  Ge- 
bilde erwiesen  sich  unter  dem  Mikroskop  als  Hoden. 
Nebenhoden  normal.  Keine  Samenblasen  gefunden.  Va- 
gina rudimentär  gebildet.  Der  linke  Hoden  war  doppelt 
so  groß  als  der  rechte,  der  Uterus  so  groß  wie  normal 
bei  einer  Erwachsenen.  Die  Hoden  sollen  von  dem 
hinteren  Blatte  des  Ligamentum  latum  bedeckt  gewesen 
«ein.  Aus  dem  Körper  eines  jeden  Hodens  treten  eine 
Reihe  Vasa  deferentia  heraus,  um  jederseits  den  Globus 
major  epididymidis  zu  bilden;  aus  jedem  Globus  minor, 
oberhalb  des  Globus  major  gelegen,  tritt  stark  geschlängelt 
ein  Vas  deferens  aus.  Die  Vasa  deferentia  gelangen  bis 
an  die  Seitenkanten  des  Uterus,  mehr  nach  vorn  zu  ge- 
legen, und  schwinden  innerhalb  der  Wände  der  Vagina. 
Uterushöhle  normal.  Ligamenta  rotunda  gut  ausgebildet. 
Die  Tuben,  ohne  Lumen,  enden  jederseits  in  dem  Globua 


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—     262     — 

major  des  Nebenhodens,  dort,  wo  bei  dem  normaleo 
Manne  die  Hydatis  Morgagni  liegt,  also  Persistieren 
des  peripheren  Endes  eines  jeden  MüUerschen  Fadens. 
Keine  Cervix  uteri  ausgesprochen.  Die  üterinhöhle  ver- 
engt sich  nach  unten  zu,  um  dann  wieder  weiter  zu 
werden.  Die  Höhle  2  Zoll  lang  und  P/a  Zoll  breit. 
Diese  Höhle  scheint  die  Vagina  zu  sein:  Eine  von 
obenher  in  diese  Vagina  eingeführte  Sonde  kommt 
heraus  in  der  Harnröhre  in  sinu  poculari  partis  pro- 
staticae.  Prostata  der  Quere  nach  abgeflacht,  aber  sonst 
normal.  Penis  normal,  groß,  Scrotum  leer.  Uterus- 
schleimhaut ganz  normal,  die  Membrana  propria  tubu- 
lorum  seminiferorum  sehr  verdickt  Dasselbe  Präparat 
ist  auch  von  Edgar  Willett  in  der  Pathological  Society 
demonstriert  worden  1894.  In  der  Arbeit  ist  nichts  er- 
wähnt von  etwaigen  periodischen  Genitalblutungen,  Men- 
struatio  vicaria,  Torrn  ina  usw. 

83.  Ruhräh  (Med.  News,  New-York,  1902,  Vol.  LXXXI, 
S.  1095).  Die  Sektion  des  Leichnams  eines  idiotischen 
Sjährigen'Enaben  erwies  die  Existenz  eines  wohlgebildeten 
Uterus  und  einer  engen  Scheide.  Angeblich  waren  die 
Hoden  in  den  Leistenkanälon  tastbar  und  auch  Ovarien 
vorhanden.  (?) 

84.  Rydygier  (Czasopismo  lekarskie,  1903,  S.  380) 
vollzog  bei  einer  44  jährigen  Frau  eine  Hemiotomie  und 
exstirpierte  dabei  den  Bruchinhalt:  Uterus,  beide  Eier- 
leiter und  ein  Hoden.  Hernia  inguinolabialis  dextra; 
trotz  Vorhandenseins  von  Uterus  und  Vagina  absolute 
Amenorrhoe.  Rechts  vom  Uterus  lag  ein  Hoden  und 
Samenstrang,  linkerseits  eine  dickwandige  Cyste. 

85.  Sänger  (siehe  meinen  Aufsatz  „Chirurgische 
Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums'^ 
dieses  Jahrbuch,  Jahrgang  V,  1903,  S.  43)  konstatierte 
nach  Herniotomie  mit  Exstirpation  einer  Geschlechts- 
drüse männliches  Geschlecht  einer  32jährigen  Lehrerin: 


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—     263     — 

Bei  der  Herniotomie  wurde  ein  Uterus  samt  einer  Tube, 
einem  Hoden  und  einer  Parovarialcyste  entfernt  Diese 
Person»  als  Mädchen  erzogen,  hatte  niemals  die  Men- 
struation, aber  sie  litt  gleichwohl  alle  3 — 4  Wochen 
regelmäßig  an  Unterleibsschm erzen,  es  sind  hier  noto- 
risch Molimina  menstrnalia  angegeben  bei  einem  männ- 
lichen, also  hodentragenden  Individuum,  bei  dem  infolge 
hochgradiger  Entwickelung  der  Müller  sehen  Gänge  ein 
gut  entwickelter  Uterus  vorhanden  war.  Die  Scheide 
endete  in  der  Höhe  von  7 — 8  cm  blind,  schien  also  außer 
Zusammenhang  mit  dem  in  hemia  inguinolabiali  befind- 
lichen Uterus  zu  stehen. 

86.  Schneider-Sömmering  (Kopps  Jahrbücher 
der  Staatsarzneikifnde,  1847,  Bd.  X,  S.  134)  beschrieben 
einen  74jährigen  männlichen  Hypospaden  mit  Hydrocele 
tunicae  vaginalis  communis  testiculi  und  einem  sack- 
artigen Uterus. 

87.  Schneider-Sömmering  (1817),  Hoden  in  den 
Leistenkanälen.  Die  Yasa  deierentia  lagen  dem  Uterus 
an  und  mündeten  im  Sinus  urogenitalis.  Samenblasen 
gefunden.  Scheide  oben  weit,  unten  eng,  Uterus  mascu- 
linus  vorhanden,  aber  keine  Prostata.  Penis  hypospa- 
diaeus,  Scrotum  gespalten,  Labia  minora  vorhanden. 

88.  Shattock  („A  male  foetus  showing  reptilian 
characters  in  the  sexual  ducts",  Journal  of  Pathology 
and  Bacteriology,  July  1895,  111,  S.  237).  Sektionsproto- 
koll: Ektopia  vesicae  urinariae,  Hernia  umbilicalis,  rechte 
Niere  verlängert,  das  rechte  Vas  deferens  eröflfnet  sich 
in  den  rechten  Ureter.  Persistenz  der  Müllerschen 
Gänge,  welche  unten  nach  außen  sich  eröffnen.  Hoden 
in  der  Bauchhöhle. 

89.  J.  Christian  Stark  (Neues  Archiv  für  Geburts- 
hilfe, Jena,  1803,  Bd.  II,  S.  544)  beschrieb  die  Nekropsie 
eines  27jährigen  Mannes:  Man  fand  neben  dem  Hoden, 
an  Stelle   eines  Ovarium   liegend,    einen   wohlgebildetea 


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—     264     — 

Uterus,  die  andere  Geschlechtsdrüse,  von  Bauchfell  über- 
zogen, soll  vermutlich  ein  Ovarium  gewesen  sein  (letztere 
Vermutung  dürfte  wohl  unbegründet  sein,  zum  mindesten 
aber  willkürlich). 

90.  Steglehner  (1807).  Kryptorchismus:  Neben- 
hoden vorhanden,  die  Vasa  deferentia  liegen  dem  Uterus 
an.  Uterus  von  eiförmiger  Gestalt,  die  Vagina  mündet 
in  capite  gallinaginis  urethrae  und  endet  oben  blind. 
Prostata  vorhanden.     Penis  hypospadiaeus. 

91.  Stimson  (siehe  meine  Arbeit  „Chirurgische 
Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwitter- 
tums",  S.  134  des  Separatabdruckes)  exstirpierte  bei 
einem  48jährigen,  zum  zweiten  Male  verheirateten  Neger, 
Vater  eines  Sohnes,  eine  Kryptorchis  sarcomatosa  und 
fand  in  der  Bauchhöhle  einen  Uterus  bicornis  von  mitt- 
lerer Größe  mit  beiden  Tuben.  Das  Verhältnis  des 
Uterus  zum  Beckenboden  konnte  sub  operatione  nicht 
untersucht  werden;  nur  der  rechte  Hoden  lag  in  scroto, 
Penis  und  Scrotum  normal. 

92.  Stonham  („Complex  or  vertical  Hermaphro- 
dism",  Transactions  of  the  Pathological  Society  of  Lon- 
don, British  Med.  Journal,  1888,  I,  S.  416).  Tod  eines 
Kindes  nach  Hemiotomie.  Äußere  Geschlechtsteile  männ- 
lich, aber  Kryptorchismus  und  teilweise  Hypospadie,  Pro- 
stata vorhanden.  Man  fand  eine  Vagina,  einen  Uterus 
bicornis  mit  beiden  Tuben;  die  Hoden  und  Nebenhoden 
lagen  an  Stelle  der  Ovarien,  keine  Samenbläschen  ge- 
funden. 

93.  H.  Ströbe  (siehe  meinen  Aufsatz  „Chirurgische 
Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwitter- 
tums",  Gruppe  IV,  Fall  40,  Fig.  20  u.  21)  beschrieb  ganz 
vorzüglich  eine  sehr  lehrreiche  Nekropsie  eines  63jährigen 
Mannes,  infolge  von  Carcinoma  oesophagi  verstorben. 
Normale  äußere  männliche  Genitalien,  aber  beiderseits 
Kryptorchismus.    In  der  Bauchhöhle  ein  gut  ausgebildeter 


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Uterus  mit  allem  Zubehör  ^  die  Hoden  an  Stelle  der 
Oyarien  liegend.  (Siehe  die  Abbildungen.)  Die  Vagina 
mündete  in  capite  gallinaginis  urethrae  masculae.  Die 
Yasa  deferentia,  welche  in  den  seitlichen  üteruswan- 
dungen  nach  abwärts  verliefen^  mündeten  an  normaler 
Stelle,  Samenblasen  Torhanden.  Ströbe  vermutet,  die 
von  ihm  in  utero  gefundene  gelbe,  teigige  Masse  könnte 
von  Blut  abstammen,  da  sie  von  Salzsäure  und  Ferro- 
•cjankalium  blau  gefärbt  wurde.  Der  Mann  war  lange 
kinderlos  verheiratet.  Leider  nichts  bekannt  darüber, 
ob  Erektion,  Pollutionen,  Menstruation  vorhanden  ge- 
wesen. 

94.  Thiersch  (siehe  Schmorl,  „Ein  Fall  von  Herm- 
-aphroditismus",  Virchows  Archiv,  Bd.  CXI,  1888, 
S.  229 — 244)  versuchte  an  einem  22  jährigen  Kunst- 
schüler eine  Plastik  bei  peniscrotaler  Hypospadie,  wo 
rechterseits  ein  Leistenbruch  vorlag.  Unterhalb  desselben 
Hoden  und  Nebenhoden  getastet,  linke  Hodensackhälfte 
leer.  Linkerseits  vermutete  Thiersch  einen  Hoden  in 
•einer  LeistenansChwellung,  machte  den  Bruchschnitt  und 
amputierte  ein  5  cm  langes  Gebilde  von  2  cm  Dicke. 
Tod  an  Peritonitis:  Man  fand  bei  der  Nekropsie  einen 
Uterus  bicomis  und  eine  Vagina;  der  Utero vaginalkanal 
15  cm  lang.  Das  amputierte  Stück  aus  der  linken  Weiche 
war  das  periphere  Ende  der  linken  ektopischen  Tube 
mit  zwei  kleinen  Cysten.  Das  abdominale  Ende  der 
rechten  Tube  lag  im  rechten  Leistenkanale,  die  rechts- 
seitige Hernie  enthielt  das  Netz.  Bei  dem  rechtsseitigen 
Hoden  fehlten  Nebenhoden  und  Vas  deferens.  Kryptor- 
chismus  sinister  bei  hochgradiger  Entwickelung  der 
Müllerschen  Gänge.  Die  Vagina  mündete  in  die  Harn- 
röhre. 

95.  Vaughan  (New-York  Medical  Journal,  1891, 
VoLV,  S.  125)  beschrieb  einen  21jährigen  Neger,  welcher 
männlichen   Geschlechtsdrang    empfand.     Hypospadiasis 


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peniscrotalis,  Stimme,  Brüste,  Becken  weiblich,  Mons- 
Veneria  fett,  in  der  rechten  Hälfte  des  gespaltenen 
Sero  tum  zwei  Körperchen  über  einander  gelegen,  deren 
oberes  allmonatlich  anschwoll  und  alsdann  druckempfind- 
lich und  schmerzhaft  wurde.  lüeine  Schamlippen  vor- 
handon.  Per  rectum  tastete  man  drei  härtere  Gebilde, 
deren  mittleres  man  für  einen  Uterus  ansprach.  In  dem 
gespaltenen  Scrotum  fand  man  keine  Yaginalmündung. 
Man  beobachtete  aber  eine  dreitägige  Blutung  aus  der 
Harnröhre  und  es  gelang  endlich,  von  der  Harnröhren- 
öfihung  aus,  welche  also  wohl  die  Ofinung  des  Sinu& 
urogenitalis  war,  zwischen  Harnblase  und  Mastdarm  in 
den  Uterus  einzudringen.  Die  Vagina  war  sehr  eng.  In 
diesem  Falle,  wo  man  eine  periodische  HamröhrenblutuDg 
bei  einem  Pfanne,  der  wirklich  männlichen  Geschlechts- 
drang hatte,  sah,  dürfte  man  eo  ipso  geneigt  sein,  zu  ver- 
muten, daß  diese  Blutungen  zufällige  waren,  und  doch 
macht  der  spätere  Untersuchungsbefund  es  in  hohem 
Grade  wahrscheinlich,  daß  dieser  Neger  einfach  ein  ver- 
kanntes Weib  war  mit  Atresia  vulvae  bis  auf  die  Ofihung 
des  Canalis  urogenitalis  und  eine  Klitorishypertrophie. 
Die  im  Becken  getasteten  Gebilde  wurden  für  Uterua 
und  Zubehör  angesprochen. 

96.  Virchow  („Vorstellung  eines  Hermaphroditen*', 
Berliner  klinische  Wochenschrift,  1872,  Nr.  49,  S.  585) 
beschrieb  hier  die  berühmte  Katharina,  den  späteren 
Karl  Hohmann,  für  mich  die  allermerkwürdigste  Be- 
obachtung von  Zwittertum  beim  Menschen.  Die  Hebamme 
hatte  gleich  nach  der  Geburt  das  Kind  für  ein  Mädchen 
erklärt,  obgleich  das  Genitale  nichts  Mädchenhaftes  darbot, 
sie  schämte  sich  in  der  Folge  dieser  Bestimmung  so,. 
daß  sie  von  Mellrichstadt  fortzog.  Katharina  erreichte 
im  15.  Jahre  die  Eeife,  es  stellten  sich  Pollutionen  ein 
und  sie  begann  alsbald  mit  W^eibern  zu  kohabitieren. 
Die  Immissio  penis  blieb  aber  eine  unvollständige  wegen 


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Abwärtskrümmung  des  Gliedes;  die  Ejakulation  erfolgte 
stets  sehr  schnell.  Bis  zum  20.  Jahre  verriet  sich  nur 
das  männliche  Geschlecht,  später  aber  traten  die  an- 
geblich menstruellen  Blutungen  ein  und  zwischen  dem 
20.  und  30.  Jahre  zeigte  sich  Colostrum  in  den  Brüsten. 
Damals  begann  Katharina  weiblichen  Geschlechtsdrang 
zu  empfinden  und  kohabitiertejetzt  mit  Männern.  Während 
eines  solchen  Beischlafes  hatte  sie  selbst  keine  Erektion, 
auch  hatte  sie  mehr  Geschlechtsgenuß  beim  Coitus  mit 
Frauen.  Der  männliche  Geschlechtsdrang  war  bei  ihr 
am  stärksten  in  den  ersten  2 — 3  Tagen  nach  der  Periode. 
Diese  Periode,  vom  20. — 30.  Jahre  regelmäßig,  soll  dann 
seltener  geworden  sein,  aber  bis  zum  42.  Jahre  gedauert 
haben.  Katharina  ist  von  den  hervorragendsten  Spezia- 
listen untersucht  worden  und  wurde  ihr  Geschlecht  von 
dem  einen  als  männlich,  von  dem  andern  als  weiblich  be- 
zeichnet. 

Vircho  w  konstatierte  ganz  zweifellos  normales  Sperma 
der  Katharina,  welche  mehr  als  40  Jahre  als  Frau  gelebt 
hatte;  dann  heiratete  sie  in  New-York  als  Mann  und  soll 
einen  Sohn  gezeugt  haben.  Penis  hypospadiaeus,  rechter- 
seits  Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang  in  dem  ge- 
spaltenen Scrotum  getastet.  Das  Scrotum  war  aber  nur 
in  seiner  oberen  Hälfte  gespalten;  unterhalb  der  Harn- 
röhre mündete  die  Vagina,  durch  die  der  untersuchende 
Finger  eine  Portio  vaginalis  uteri  tasten  konnte,  als 
Katharina,  zur  Zeit  40  Jahre  alt,  untersucht  wurde. 
Der  linke  Hoden  lag  unterhalb  der  äußeren  Öffnung  des 
Leistenkanales.  Katharina  starb  1881  in  New-York  als 
Mann  verheiratet. 

V.  Franqu6,  v.  Scanzoni,  v.  Eecklinghausen 
garantierten  dafür,  daß  die  von  Katharina  gemachten  An- 
gaben von  regelmäßigen  periodischen  Blutausscheidungen 
aus  dem  Genitale  auf  strikter  Wahrheit  beruhten,  die 
Blutungen  dauerten  jedesmal  2  Tage  und  war  das  Blut 


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—     268     — 

mit  Schleim  vermischt.  Alle  diese  Autoren  behaupten, 
das  Blut  sei  aus  der  Harnröhre  ausgeflossen.  Friedreich 
konstatierte  mikroskopisch,  daß  menschliches  Blut  ge- 
funden wurde,  also  kein  Betrug  vorlag.  Virchow  sagt, 
die  Blutungen  seien  nicht  absolut  periodische  gewesen, 
sollen  sich  aber  von  Zeit  zu  Zeit  wiederholt  haben. 
Wenn  die  menstruelle  Blutung  einer  Eireifung  entspricht, 
wo  soll  man  hier  den  Eierstock  suchen?  Schnitze  be- 
hauptete, es  sei  ihm  gelungen,  im  kleinen  Becken  ein 
Gebilde  zu  tasten,  das  er  für  ein  Ovarium  ansprach, 
welches  relativ  an  richtiger  Stelle  liegen  sollte.  Virchow 
und  Friedreich  konnten  diesen  Körper  nicht  tasten. 
Eigentlich  befand  sich  bei  Katharina  unterhalb  der 
Basis  des  hypospadischen  Penis  die  Mündung  des  Canalis 
urogenitalis,  des  gemeinsamen  Ausführungsganges  für 
Harnröhre  und  Vagina.  Keine  Samenblasen  und  keine 
Prostata  getastet,  dagegen  die  linke  Tube  angeblich. 
Mammae  stark  entwickelt.  Bezüglich  aller  anderen  De- 
tails verweise  ich  auf  meinen  Aufsatz  „Chirurgische 
Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertumes^', 
1832,  S.  175  des  Separatabdruckes. 

In  diesem  hochwichtigen  Falle  ist  also  normales 
Sperma  konstatiert,  was  nach  den  heutigen  Begriffen  ge- 
nügen sollte,  um  männliches  Geschlecht  zweifellos  zu 
behaupten.  Wie  sind  nun  jene  sicher  festgestellten 
periodischen  Genitalblutungen  zu  erklären,  die  sich 
ziemlich  regelmäßig  vom  20. — 30.  Jahre  wiederholten, 
später  seltener,  aber  bis  zum  42.  Jahre?  Stammte  das 
Blut  aus  dem  Uterus?  Besaß  Katharina  wirklich  außer 
den  Hoden  auch  Ovarien,  und  obendrein  funktionsfähige 
Ovarien  mit  statthabender  Ovulation? 

Bezüglich  Katharina  Hohmann  gibt  Ahlfeld  an,  sie 
habe  stets  3  Tage  vor  Beginn  der  angeblichen  Periode 
Nasenbluten  gehabt  und  sollte  sich  betrugshalber  mit 
diesem  Blute  die  äußeren  Genitalien  beschmiert  haben, 


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—     269     — 

dagegen  sprechen  sich  sämtliche  anderen  Forscher  dafür 
aus^  daß  Katharina  nicht  betrog ,  sondern  daß  sie  wirk- 
lich 22  Jahre  lang  alle  3 — 4  Wochen  eine  mehrtägige 
Genitalblutung  aus  dem  Canalis  urogenitalis  hatte.  Diese 
Hämaturie  war  von  Molimina  menstrualia  begleitet  und 
erschien  auch  Colostrum  in  den  Brüsten,  v.  Franquö 
wagt  es  nicht,  zu  entscheiden,  ob  diese  genitalen  Blutungen 
von  einer  etwaigen  Ovulation  abhingen  ^  was  also  die 
Gegenwart  von  Ovarien  voraussetzen  würde.  Andere 
Forscher  geben  an,  das  ausgeschiedene  Blut  hätte  aus  der 
Blasenschleimhaut  gestammt;  denn  einen  Uterus  konnte 
man  absolut  per  rectum  nicht  konstatieren. 

In  einem  von  Professor  v.  Eecklinghausen, 
Professor  v.  Kölliker  und  v.  Scanzoni  am  3.  De- 
zember 1866  in  Würzburg  unterschriebenen  ünter- 
suchungsprotokoUe  heißt  es  unter  anderem:  ,^ Jedenfalls 
ist  von  größtem  Interesse  der  Nachweis,  daß  in  männ- 
licher wie  weiblicher  Richtung  Funktionen  vorhanden 
waren.  Eine  von  ihr  entnommene  Flüssigkeit,  welche  im 
Jahre  1863  Herr  Gerichtsarzt  Vogt  untersuchte,  ergab 
die  Anwesenheit  von  Spermatozoen.  Wir  Unterzeichnete 
konnten  in  diesen  Tagen  wiederholt  die  Entleerung  von 
Blut  aus  der  Harnröhre  beobachten,  welche  2  Tage  an- 
dauerte und  auch  nach  der  mikroskopischen  Unter- 
suchung durch  die  vollkommen  frische  Beschaffenheit 
der  Blutkörperchen  und  die  Beimischung  von  Schleim 
eine  menstruale  Natur  bot."  Ebenso  hat  später  auch 
Friedreich  sowohl  Spermatozoen  im  Ejakulat  gefunden, 
als  auch  die  Blutungen  ex  Urethra  bestätigt,  welche  sich 
periodisch  wiederholten.  Friedreich  vermutete  bei 
Katharina  Hohmann  die  Gegenwart  eines  Uterus  mascu- 
linus,  weil  die  Sonde  an  der  unteren  Harnröhren  wand 
entlang  gleitend  etwa  einen  Zoll  zeutralwäi'ts  von  der  Ure- 
thralmündung  in  ein  sackartiges  Gebilde  eintrat.  Schnitze 
konnte  einen  Uterus  nicht  palpieren.    v.  Franqu6  hielt 


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—     270     — 

die  periodischen  Blutungen  bei  Katharina  Hohmann 
positiv  flir  eine  Art  Menstruation  wegen  ihrer  typischen 
periodischen  Regelmäßigkeit,22Jahre]angalle3 — 4Wochenl, 
und  wegen  des  gesamten  Sjmptomenkomplexes,  welcher 
diese  Blutungen  begleitete^  Molimina  menstrualia  und 
Colostrumausscheidung  aus  den  BrQsten. 

97.  Voll  („Über  eine  seltene  Mißbildung*S  Ver- 
handlungen der  physikalisch -medizinischen  Gesellschaft 
in  Würzburg,  N.  F.,  Bd,  XXIII).  Fötus  von  40  cm 
Länge  mit  Atresia  ani  et  urethrae^  rudimentärem  Penis 
und  Uterus  masculinus.  Zwischen  Mastdarm  und  Harn- 
blase bestand  eine  kanalförmige  Kommunikation. 

98.  Vrolik  („Tabulae  ad  illustrandam  embryogenesim", 
Lipsiae,  1854,  Tab.  XCIV,  S.  95)  beschrieb  die  Nekropsie 
eines  Individuums,  welches ^  1788  geboren,  als  Mädchen 
getauft  worden  war;  später  wurde  die  Person  für  einen 
Mann  erklärt  und  lebte  in  männlicher  Stellung  bis  zu 
dem  1846  erfolgten  Tode.  Männlicher  Bart,  Hypospa- 
diasis  peniscrotalis,  Vagina  und  Urethra  münden  in  den 
Canalis  urogenitalis,  haben  also  eine  gemeinsame  Aus- 
mündung unterhalb  des  hypospadischen  Penis.  Die 
enge  Vagina  geht  nach  oben  zu  ohne  ausgesprochene 
Grenze  in  den  Uterus  über.  Die  Tuben  haben  keine 
abdominalen  Ausmündungen,  linkerseits  vrill  Vrolik 
unterhalb  des  peripheren  Tubenendes  sowohl  einen 
Hoden  als  ein  Ovarium  gefunden  haben,  rechterseits 
lagen  zwei  ebensolche  Gebilde  in  einem  Scrotalbruch; 
Samenblasen  fehlten.  Die  Hoden  enthielten  keine  Samen- 
kanälchen,  sondern  erschienen  cystisch  mit  einer  dem 
Samen  ähnlichen  Flüssigkeit  gefüllt.  Vasa  deferentia 
wohl  gebildet;  das  Mikroskop  konnte  in  den  vermeint- 
lichen Ovarien  keine  Graafschen  Follikel  konstatieren. 
Es  dürfte  sich  wohl  um  einen  männlichen  Hypospaden 
handeln,  mit  einseitigem  Kryptorchismus  und  hoch- 
gradiger Entwickelung  der  Müll  ersehen  Gänge. 


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—     271     — 

99.  Weber  (J.  Nep.  Eusts  Magazin  für  die  ge- 
samte Heilkunde,  Bd.  XIV,  Berlin  1823,  S.  535)  be- 
«chrieb  die  Sektion  einer  achtmonatlich  geborenen  Frucht: 
Labium  leporinum,  Abdomen  fissum,  Kryptorchismus, 
Nierenanomalie;  Penis  sehr  groß,  zwischen  Blase  und 
Mastdarm  lag  ein  Uterus,  der  in  den  Blasenhals  mündete. 
Uterus  bicomis  mit  einer  vier  Linien  langen  und  eine 
Linie  breiten  Höhle.  Ein  Sonde  draug  von  obenher  in 
den  aufgeschnittenen  Uterus  eingeführt  in  den  Blasen- 
hals resp.  die  Pars  prostatica  urethrae  ein.  Jederseits 
vom  Uterus  lagen  Hoden  und  Nebenhoden;  die  Vasa 
deferentia  liefen  abwärts  längs  der  Seitenkanten  des 
Uterus  und  verloren  sich  in  der  Tiefe. 

100.  C.  W.  J.  West  ermann  (,»0^6^  een  geval  van 
Hermaphroditisme'S  NederL  Tijds.  v.  Geneesk.,  1902, 
2.  Deel,  Nr.  11).  Die  Sektion  eines  30jährigen  infolge 
Ton  Appendicitis  verstorbenen  Mädchens  ergab  männliches 
Geschlecht  trotz  Gegenwart  von  Uterus  und  Vagina.  Die 
Mutter  war  stets  über  das  Geschlecht  dieser  Tochter  in 
Zweifel  gewesen  wegen  mangelnder  Periode.  Hypospadiasis 
peniscrotalis.  Mangel  der  Brustdrüsen,  Vaginalmündung 
von  Hymen  umrahmt.  Männliche  Schambehaarung, 
Labia  majora  auch  an  der  Innenfläche  behaart,  leer. 
Linke  Tube  7  cm  lang,  mit  Fimbrien  am  freien  Ende, 
Ligamenta  rotunda  vorhanden,  sowie  die  Ligamenta  lata. 
An  Stelle,  wo  das  Ovarium  liegen  sollte,  nur  ein  Gebilde 
aus  dichtgedrängtem  Bindegewebe  bestehend  mit  einigen 
Blutgefäßen  und  einigen  blutgefüllten  Hohlräume^! 
Keine  Spur  von  Follikeln  oder  Pflügerschen  Schläuchen. 
Uterus  5  cm  lang,  Vagina  8  cm.  Der  gesamte  Utero- 
vaginalkanal  war  für  eine  Sonde  viabel.  Die  rechte 
Tube  war  im  Gegensatz  zur  linken  22  cm  lang,  aber 
nur  im  peripheren  Anteile  f&r  eine  Sonde  viabel.  Eechter- 
seits  im  Leistenkanale  ein  offener  Processus  vaginalis 
peritonaei  und  darin  ein  bohnengroßer  Hoden  mit  Tunica 


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albuginea  und  zahlreichen  Tubuli  contorti.  Keine  Sper- 
matozoiden  geAinden.  In  mesosalpinge  fand  man  rechter- 
seits  die  entartete  Epididymis.  In  der  Beschreibung  ist 
nichts  erwähnt  von  etwaigen  periodischen  Genitalblutungen^ 
Tormina^  Ejakulation  usw. 

101.  Edgar  Willett  („Transverse  hermaphrodism 
in  adult  man",  Lancet,  10.  November  1894).  Ein 
44jähriger  Mann,  Vater  von  2  Kindern,  verstarb  an 
Apoplexie.  Bei  der  Nekropsie  fand  man  einen  zwischen 
2  Blättern  des  Bauchfells  liegenden  rudimentären  Uterus 
sowie  auch  unterhalb  des  Uterus  eine  Vagina,  ßas 
Scrotum  enthielt  jederseits  eine  Tunica  vaginalis,  aber 
keine  Hoden;  letztere  lagen  kryptorchistisch  an  Stelle 
der  Ovarien  auf  der  Bückseite  des  Ligamentum  latum. 
Die  Vasa  deferentia  liefen  abwärts  und  verloren  sich  in 
der  Tiefe  seitlich  von  der  Vagina;  ihre  Ausmündungen 
wurden  nicht  gefunden.  Nebenhoden  vorhanden.  Die 
mit  Hydatiden  versehenen  Tuben  ohne  Lumen  verliefen 
vom  Uterus  zu  dem  Lobus  major  eines  jeden  Neben- 
hodens. Uterus  ohne  Lumen.  Die  nach  unten  zu  sehr 
verengte  Vagina  mündete  mit  feiner  Ofl&iung  in  parte 
prostatica  urethrae.  Prostata  normal,  aber  keine  Samen- 
blasen gefunden.  Becken«  weiblich,  Hoden  mikroskopisch 
erhärtet.  Von  etwaigen  Molimina  menstrualia  anam- 
nestisch nichts  angegeben. 

102.  Winkler  („Über  einen  Fall  von  Pseudoherma- 
phroditismus  masculinus  internus'S  In.-Diss.,  Zürich,  1898, 
siehe  meinen  Aufsatz  „Chirurgische  Überraschungen  auf 
dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums'',  im  Jahrgang  1903 
dieser  Zeitschrift,  Gruppe  III,  Fall  Nr.  13).  Bei  der 
Sektion  eines  52jährigen  Marines,  verstorben  an  Perito- 
nitis nach  Bauchschnitt  wegen  Darmunwegsamkeit,  kon- 
statierte Ribbert  die  Gegenwart  eines  Uterovaginal- 
kanals  von  17  cm  Länge.  Uterus  bicornis  mit  Vagina. 
Das   periphere   Ende   der   linken   Tube    lag    im    linken 


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—     273     — 

LeistenkanaL  Uterushöhle  8  cm  lang^  Vagina  9.  Das 
linke  Vas  deferens  mündete  in  die  Vagina,  die  linke 
Samenblase  lag  seitlich  von  der  Vagina.  Fandas  uteri 
2  cm  breit  Eryptorchismus.  Die  Hoden  lagen  an  der 
Stelle,  wo  normal  die  Ovarien  liegen.  Die  Vagina  mün- 
dete in  parte  prostatica  urethrae,  in  capite  gallinaginis. 
Penis  klein^  aber  normal  gebildet.  Das  periphere  Ende 
der  Tube  lag  der  Bauchwand  an,  hatte  kein  Ostium, 
keine  Fimbriae,  nur  das  linke  Ligamentum  rotundum 
Torhanden  (siehe  auch  die  Abbildung  1.  c.].  Spermato- 
zoiden  wurden  nicht  gefunden.  Der  Mann  war  kinderlos 
verheiratet  gewesen.  Leider  ist  anamnestisch  nichts  be- 
kannt, ob  etwaige  Molimina  vorgelegen  hatten. 

103.  Zahorski  (siehe  meinen  Aufsatz  „Chirurgische 
Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Scheiuzwittertums^^, 
dieses  Jahrbuch,  1903,  Bi  V,  S.  146).  Ein  25 jähriges 
Dienstmädchen  erlag  einem  Sarkom  einer  Geschlechts- 
drüse. Niemals  Menstruation,  Allgemeinaussehen,  Stimme, 
Brüste,  Behaarung  durchaus  weiblich.  Rudimentärer 
Uterus  kaum  2  cm  lang.  Klitoris,  Sy,  cm  lang,  sah  aus 
wie  ein  hypospadischer  Penis.  Vagina  vorhanden;  die 
rechte  Geschlechtsdrüse  war  zu  einem  wahrscheinlich 
sarkomatösen  Tumor  entartet,  die  linke  Geschlechtsdrüse^ 
in  der  Bauchhöhle  liegend,  wurde  makroskopisch  für  ein 
Ovarium  angesehen,  aber  mikroskopisch  nicht  untersucht. 
Geschlecht  unentschieden.  Entweder  handelte  es  sich 
um  Amenorrhoe  bei  einem  weiblichen  Scheinzwitter  oder 
aber  um  einen  männlichen  Eryptorchisten  mit  hoch- 
gradiger Entwicklung  der  Müll  ersehen  Gänge  und 
Hypospadiasis  peniscrotalis.  (?) 

Nicht  aufgenommen  in  diese  Zusammenstellung,  weil 
allzu  zweifelhaft  in  der  Deutung  der  Geschlechtsdrüsen, 
sind  die  Beobachtungen  von  Baccaloglu  und  Fos- 
sard,  Borkhausen,  Chevreuil,  Gast,  Howitz, 
Keiffer,    1  Fall  von  Obolonsky-Wrany,  Rudolphi, 

Jahrbuch  VI.  18 


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—     274     — 

V.  Säxinger,  Schmidt,  Schrell,  Sorel  und  Chörot, 
Towsend,  Unterberger,  Varole  (Varoler). 

In  den  beiden  Fällen  von  v.  SalÄn  und  von  Qarr6 
(Simon)  bestand  notorisch  je  eine  Zwitterdrüse,  sodaß 
hier  nicht  von  männUchem  oder  weiblichem  Geschlecht 
in  sensu  strictiori  gesprochen  werden  kann. 

Die,  was  die  Deutung  einer  Geschlechtsdrüse  an- 
betrifft, fraglichen  Fälle  sind  mit  einem  Fragezeichen 
ausgestattet 

Sehr  interessant  ist  die  Tatsache ,  daß  verhältnis- 
mäßig häufig  der  Uterus  simplex  uni-  oder  bicomis  oder 
eine  Tube  bei  männlichen  Scheinzwittern  in  inguinaler^ 
inguinoscrotaler  oder  inguinolabialer  Ektopie  sich  befand, 
also  in  einer  Leistenhernie  lag,  so  in  den  14  Fällen  von: 

Barkow,  Uterus  und  ein  Hoden  in  einem  Leisten- 
bruche. 

Billroth,  Uteruskörper,  eine  Tube  und  eine  cystisch 
degenerierte  Geschlechtsdrüse  in  einem  rechtsseitigen 
Leistenbruche. 

Bö  ekel,  Uterus  und  eine  Tube  in  einem  Leisten- 
bruche und  Hoden. 

Carle,  Uterus,  linke  Tube  und  linker  Hoden  in 
einem  Leistenbruche. 

Derveau,  Uterus,  beide  Tuben  und  beide  Hoden 
in  einem  Leistenbruche. 

Fantino,  Uterus,  beide  Tuben  und  beide  Hoden  in 
einem  Leistenbruche. 

Fillippini,  Uterus,  rechte  Tube  und  rechte  Ge- 
schlechtsdrüse in  einem  Leistenbruche. 

Garr6,  rechte  Tube,  Ovotestis,  Parovarium  und 
Epididymis  in  einem  rechtsseitigen  Leistenbruche. 

Guldenarm,  Hom  eines  Uterus  bicomis,  eine  Tube 
und  ein  Hoden  in  einem  Leistenbruche. 


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—    276    — 

Merkel,  Uterus  und  ein  Hoden  in  einem  Leisten- 
bruche. 

Pozzi,  ein  Hörn  eines  Uterus  bicornis  und  Hoden 
in  einem  Leistenbruche. 

Eydygier  (junior),  Uterus  und  ein  Hoden  in  einem 
Leistenbruche« 

Sänger,  Uterus,  eine  Tube,  eine  Parovarialcyste 
und  ein  Hoden  in  einem  Leistenbruche. 

Thiersch,  linke  Tube  eines  Uterus  bicornis  bei 
linksseitigem  Eryptorchismus  in  einem  Leistenbruche. 

Wie  schon  Kocher  (1.  c.)  1887  es  betonte,  steht  die 
Gegenwart  eines  Uterus  beim  Manne  in  kausalem  Nexus 
mit  ein-  oder  beiderseitigem  Eryptorchismus,  indem  sie 
rein  mechanisch  einem  oder  beiden  Hoden  den  Descensus 
unmöglich  macht,  wie  dies  auch  Siegenbeck  van  Hen- 
kel om  sehr  klar  erwiesen  hat  (siehe  meine  Arbeit  „Chirur- 
gische Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwitter- 
tums",  1903,  G;ruppe  III,  Fall  8).  In  der  Tat  ist  die 
Koinzidenz  von  Pseudohermaphroditismus  masculinus  in- 
ternus mit  ein-  oder  beiderseitigem  Krjrptorchismus  ver- 
hältnismäßig oft  angegeben. 

Uterus  beim  Manne 

mit  einseitigem  Kryptorchismus  resp.  Descensus 

incompletus. 

19  Fälle  von:  Nr.  4.  Aranyi-Langer,  Nr.  8.  Bar- 
kow,  Nr.  11.  Berthold,  Nr.  12.  Betz,  Nr.  30.  Floth- 
mann,  Nr.  31.  Foges,  Nr.  34.  Godard,  Nr.  39.  Gulden- 
arm, Nr.47.  Kellner,  Nr.53.  Leuckart,  Nr.67. Merkel, 
Nr.  68.  H.  V.  Meyer,  Nr.  72.  Odin,  Nr.  84.  Rydygier, 
Nr.  85.  Sänger,  Nr.  91.  Stimson,  Nr.  94.  Thiersch, 
Nr.  96.  Virchow,  Nr.  98.  Vrolik. 


18 


* 


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—     276     — 

Uterus  beim  Manne 

mit  beiderseitigem  Eryptorchismus  resp. 

Descensus  incompletus. 

56  Fälle  von:  Nr.  2.  Ackermann,  Nr.  6.  Arnold, 
Nr.  7.  Bannon,  Nr.  8.  Barkow,  Nr.  10.  Beck,  Nr.  18. 
Brühl,  Nr.  19.  Carle,  Nr.  20.  Colombo,  Nr,  21.  Der- 
veau,  Nr.  22.  Dienst,  Nr.  23.  Durham,  Nr.  26.  Feiler, 
Nr.  27.  Feldmann,  Nr.  29.  Fjodorow,  Nr.  82.  von 
Franqu6,  Nr.  86.  Gruber,  Nr.  40.  Harvey,  Nr.  41. 
Henriette,  Nr.  42.  Heppner,  Nr.  45.  Jardine,  Nr.  49. 
Klein,  Nr.  50.  Kocher,  Nr.  51.  Krull,  Nr.  52.  Langer, 
Nr.  54.  Leuckart,  Nr.  56.  Luksch,  Nr.  58.  Lilien- 
feld, Nr.  60.  Marchand,  Nr.  61.  Vrolik,  Nr.  62.  Mayer, 
Nr.  63.  Mayer,  Nr.  64.  Mayer,  Nr.  65.  Mayer,  Nr.  66. 
Mayer,  Nr.  69.  Moreau(?),  Nr.  70.  Nuhn,  Nr.  71.  Obo- 
lonsky,  Nr.  74.  Paton,  Nr.  75.  Pelvet,  Nr.  76.  Petit, 
Nr.  77.  Pfannenstiel (?),  Nr.  78.  Pinel,  Nr.  80.  Prim- 
rose, Nr.  82.  Roberts,  Nr. 83.  Ruhräh,  Nr.  87.  Schnei- 
der-Sömmering,  Nr.  88.  Shattock,  'Nr.  89.  Stark, 
Nr.  90.  Steglehner,  Nr.  92.  Stonham,  Nr.  98.  Ströbe, 
Nr.  99.  Weber,  Nr.  100.  Westermann,  Nr.  101.  Wil- 
lett,  Nr.  102.  Winkler,  Nr.  103.  Zahorski. 

Zusammen  also  finden  sich  75  Fälle  von  Koinzidenz 
eines  Uterus  beim  Manne  mit  ein-  oder  beiderseitigem 
Kryptorchismus  resp.  Descensus  incompletus,  es  liegen 
jedoch  auch  einige  wenige  Fälle  vor,  wo  trotz  Gegen- 
wart eines  Uterus  der  volle  Descensus  beiderseits  er- 
folgt war. 


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58  Beobachtungen 
von  periodischen  genitalen  Blutungen 
menstraellen  Anscheins,  psendomenstrn- 
ellen  Blutungen,  Menstruatio  vicaria, 
Molimina  menstrualia  usw.  bei  Schein- 
zwitt«rn. 

Mitgeteilt  von 

Dr.  Franz  ron  Neugebauer, 

Vorstand  der  gynikologisehen  Abteilung  des  ETangelischen  Hospitals  in  Warschau. 


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Es  sind  in  dieser  Zusammenstellung  nicht  sämtliche 
Fälle  berücksichtigt^  wo  sogenannte  Molimina  menstrualia 
angegeben  wurden,  sondern  nur  die  hervorragendsten. 
Ganz  besonders  sei  auf  die  Beobachtungen  von  Messner 
und  von  Yirchow  aufmerksam  gemacht ,  sowie  auf  die 
Deutung  der  Molimina  menstrualia  durch  Suggestion  im 
Falle  Hengges. 


1.  Abel  (y^Gin  Fall  von  Hermaphroditismus  masculinus 
mit  sarkomatöser  Kryptorchis  sinistra",  Virchows  Archiv, 
CXXVI,  Berlin,  1891,  siehe  meinen  Aufsatz  „Chirur- 
gische Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Schein- 
zwittertums*',  dieses  Jahrbuch,  1903,  Gruppe  IV,  FJJl  1). 
Tod  der  33  jährigen  Albertine  R.  an  Peritonitis,  36  Stunden 
nach  vaginaler  Paracentese  eines  Bauchhöhlentumors, 
irrtümlicherweise  als  Haematometra  angesprochen,  der 
sich  als  Sarcoma  kryptorchidis  sinistrae  bei  der  Sektion 
erwies.  Patientin,  früher  stets  gesund,  hatte  ihre  Pe- 
riode allmonatlich  3  Tage  lang  ohne  Beschwerden 
vom  20.  Jahre  an.  Die  letzte  Regel  fand  statt 
14  Tage  vor  Aufnahme  in  die  Klinik.  Patientin 
verlangte  Operation  behufs  Entfernung  eines  Bauchhöhlen- 
tumors, weil  sie,  verlobt,  von  ihren  Freundinnen  ge- 
hänselt wurde  wegen  des  stetig  an  Größe  zunehmenden 
Leibes.  Vagina  blindsackartig  in  der  Tiefe  geschlossen, 
vom  unteren  Rande  der  Urethralmündung  hängt  ein  bohnen- 


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großer  ürethralpolyp  herab.  Tumor  gleicht  an  Größe 
einem  8  Monate  schwangeren  Uterus.  Vulva  sieht  aus 
wie  bei  einem  12jährigen  Mädchen,  ohne  jede  Spur  von 
Vergrößerung  der  Klitoris;  große  und  kleine  Schamlippen 
normal.  Hymen  vorhanden.  Der  rechte  Hoden  und  ein 
ihm  aufsitzendes  Leiomyom  liegen  im  rechten  Leisten- 
kanal, letzteres  wohl  aus  dem  Nebenhoden  entstanden. 
Abel  vermutet,  daß  die  von  Patientin  als  Men- 
struation aufgefaßten  allmonatlichen  dreitägigen 
Blutungen  durch  den  Harnröhrenpolypen  veran- 
laßt waren.  Der  Polyp  war  damals  operativ  entfernt 
worden.  Abel  gibt  an,  man  habe  im  Speculum  eine 
kleine  Portio  vaginalis  uteri  gesehen  mit  Muttermunds- 
grübchen. 

2.  C.  W.  Allen  („Report  of  a  case  of  psychosexual 
Hermaphrodism",  Medizinische  Akademie  in  New-York, 
9.  m.  1897,  siehe  Medical  Record,  8.  V.  1897,  From- 
meis Jahresbericht  für  1897,  S.  930).  Viola  Estella 
Angell  bat  um  Aufnahme  in  das  Institut  für  moralisch 
gefallene  Weiber  in  der  Florence  Mission.  1874  in 
Nuova  Scotia  geboren  als  das  letzte  von  17  Kindern 
ihrer' Eltern,  erzählte  die  Person,  die  Mutter  sei  zur 
Zeit  der  Schwangerschaft  erschrocken  infolge  der  Ver- 
folgung durch  einen  fremden  Mann;  der  Vater  aber  habe 
einen  teuflischen  Charakter  gehabt.  Bis  zum  14.  Jahre 
wurde  Viola  als  Mädchen  erzogen,  dann  aber  als  Knabe, 
angesichts  verschiedener  Veränderungen  in  ihrem  Äußeren 
und  angesichts  der  Ansicht  der  Mutter,  Viola  werde 
leichter  als  Mann  ihr  Fortkommen  finden  denn  als 
Mädchen.  Angell  wurde  damals  für  drei  Jahre  in  einer 
männlichen  Schule  untergebracht  in  Truro,  wo  er  eine 
sehr  unangenehme  Situation  hatte,  da  er  wegen  seines 
weiblichen  Aussehens  von  den  Mitschülern  ausgelacht 
und  verspottet  wurde;  man  nannte  ihn  nicht  anders  als 
Sissy!      Sogar   Passanten    auf   der   Straße    hielten    den 


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—     281     — 

Knaben  für  ein  verkleidetes  Mädchen.  Vom  14  Jahre 
an  hatte  Angell  alle  vier  Wochen  eine  drei  bis  vier 
Tage  andauernde  Blutung  aus  dem  Mastdarme; 
diese  periodische  Mastdarmblutung  wiederholt 
sich  auch  heute  noch  im  Alter  von  23  Jahren. 
Von  Zeit  zu  Zeit  fließt  das  Blut  statt  aus  dem 
Mastdarme  aus  der  Harnröhre  aus.  Zu  dieser 
Zeit  hat  Angell  besonders  starke  Schmerzen^ 
gegen  welche  die  Ärzte  verschiedene  Antidys- 
menorrhoica  anwendeten  mit  gutem  Erfolge.  Schon 
ein  Jahr  vor  dem  Auftreten  dieser  Blutungen  litt  Angell 
an  Bleichsucht,  Kopfschmerzen  und  wurde  öfters  ohn- 
mächtig und  hustete  stark,  in  den  letzten  drei  Mo- 
naten hatte  er  jedesmal  vor  Auftreten  der  perio- 
dischen Blutungen  starke  Leibschmerzen.  Der 
Harn  soll  stets  durch  eine  Hamröhrenmündung,  in  dem 
Penis  gelegen,  abgegangen  sein  und  gleichzeitig  per 
a.num. 

Angell  empfand  stets  nur  rein  weiblichen  Geschlechts- 
drang ohne  Spur  einer  Erektion  des  Qeschlechtsgliedes 
oder  einer  Ejakulation.  Angel!  hat  mehrmals  kohabitiert, 
aber  stets  nur  mit  Männern,  empfand  niemals  den  Drang 
zu  einer  Kohabitation  mit  Frauen. 

Angell  konnte  es  nicht  ertragen,  ständig  zu  Hause 
in  der  Rolle  eines  Mannes  zu  leben,  da  er  nur  flir  weib- 
liche Beschäftigungen  Sinn  hatte;  er  verließ  also  das 
Elternhaus  und  vermietete  sich  als  Dienstmädchen  und 
bat  schließlich  um  Aufnahme  in  jenes  weibliche  Asyl. 
Oewicht  150  Pfund,  Körperhöhe  5  Fuß  und  10  Zoll,  Ge- 
sicht nach  dem  Typus  von  Goethe  infolge  der  Frisur 
des  struppigen  Haupthaares,  Barthaare  offenbar  ausge- 
rissen, Gesichtsausdruck  weiblich,  Stimme  Sopran.  Die 
rechte  Brust  ist  größer  als  die  linke,  Hand  und  Fuß 
einerseits  männlich  gebildet,  andererseits  weiblicL  Becken 
männlich.      Charakter   weiblich,   ebenso   die   Neigungen. 


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—     282     — 

Verstand  mittelmäßig  entwickelt,  große  Liebe  zur  Poesie 
und  Musik,  Hysterie.  Mangel  eines  Kremasterreflexes. 
Sehr  langer  Damm.  Aus  der  Analöffnung  entleerte 
sich  bei  der  Aufnahme  Blut;  nach  Angaben  Angells 
handelte  es  sich  um  die  letzten  Tage  einer  Menstrua- 
tionsperiode. Der  Sphincter  ani  internus,  ver- 
dickt, erinnerte  an  eine  Portio  vaginalis  uteri.  Es 
gelang  nicht,  eine  Kommunikation  zwischen  Mastdarm 
und  Harnblase  zu  konstatieren.  Man  tastete  keine  Spur 
von  inneren  weiblichen  Geschlechtsorganen.  Man  hatte 
kaum  Gelegenheit,  Angell  einige  Tage  lang  zu  beobachten, 
da  er  aus  Furcht,  man  werde  ihn  wieder  für  einen  Mann 
erklären  und  männlich  .kleiden,  sofort  aus  der  Anstalt 
entfloh.  Er  hinterließ  nur  einen  Brief,  in  dem  er  er- 
klärte, er  werde  gutwillig  männliche  Kleider  anlegen 
und  schon  irgendwie  einen  Modus  finden,  sich  einzu- 
richten. 

3.  Arnaud  („Sur  les  Hermaphrodites",  Dissertation, 
Paris,  1766)  zitiert  S.  308  eine  Beobachtung:  M^moires 
de  TAcadömie  des  Sciences  de  Paris,  ein  Individuum 
betreff'end  mit  normalem  Peois  und  Kryptorchismus  und 
regelmäßiger  allmonatlicher  Blutentleerung  aus 
der  Harnröhre.  —  Es  dürfte  sich  wohl  hier  um  einen 
weiblichen  Scheinzwitter  gehandelt  haben.  (?) 

4.  Billroth  (siehe  Klotz,  Nr.  13  in  der  vorstehenden 
Kasuistik  eines  Uterus  bei  hodentragenden  Individuen). 
Vom  16.  Jahre  an  Größenzunahme  eines  rechtsseitigen, 
das  Corpus  uteri  enthaltenden  Leistenbruches,  gleichzeitig 
von  dieser  Zeit  an  alle  vier  Wochen  periodische 
Schmerzen  im  Kreuz  und  diverse  Molimina  von  je 
drei-  bis  viertägiger  Dauer,  gleichzeitig  entleerte 
sich  jeden  Monat  4Tage  lang  Blut  aus  einer  Fistel 
in  den  Hautdecken  der  üterushernie  und  durch 
die  Harnröhre.  Seit  zwei  Jahren  steigerten  sich  diese 
Molimina  zu  einer  enormen  Intensität,  daueiten  jedesmal 


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—     283     — 

vier  bis  zehn  Tage  und  trotzten  jeder  Behandlung,  sodaß 
deshalb  J.  operative  Abhilfe  suchte.  An  dem  postope- 
rativen Präparat  zeigte  sich  die  üterushöhle  mit  braun- 
roter Masse  (Blut  und  Zylinderepithel)  erfüllt,  die  äußere 
Fistel  hatte  in  den  Uterus  geführt.  Klotz  bezeichnet 
die  periodischen  Blutungen  bestimmt  als  menstruelle  und 
vermutet,  die  neben  dem  üteruskörper  in  hernia  liegende 
cystisch  entartete  Geschlechtsdrüse  sei  eher  ein  Ovarium 
als  ein  degenerierter  Hoden  gewesen. 

5.  Reuter  („Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  dem  Herma- 
phroditismus", Würzburg,  1885)  zitiert  eine  Beobachtung 
von  Blackmann  aus  dem  Jahre  1853  (Müllers  Referat 
in  Canstatts  Jahrbuch,  1884,  Bd.  IV,  S.  12).  Ein  30- 
jähriger  Mann  mit  Kryptorchismus  soll  allmonatlich 
aus  der  Harnröhre  Blut  entleert  haben:  Uterus  mit 
zwei  viablen  Tuben,  angeblich  zwei  Hoden  und  zwei 
Ovarien  gefunden.     Prostata  normal. 

Hoff  mann  behauptet,  dieser  Mann  sei  während  einer 
solchen  Blutung  gestorben  und  man  habe  die  Vagina, 
welche  sich  in  urethram  eröffnete,  mit  Blut  angefüllt 
gefunden. 

6.  Blondel  (siehe  meine  Arbeit  „Chirurgische  Über- 
raschungen auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums", 
Gruppe  V,  Fall  8).  45jährige  verheiratete  Frau,  niemals 
menstruiert,  hatte  gleichwohl  im  Alter  von  12 — 13  Jahren 
alle  Symptome  an  sich  beobachtet,  welche  dem  Eintritt 
der  Regel  vorauszugehen  pflegen:  Schmerzen  in  der 
Lendengegend,  Schweregefühl  im  Unterleibe,  Schwindel- 
anfälle, sodaß  der  Hausarzt  'verschiedene  Emmenagoga 
anwandte:  Senf,  Blutegel,  Apiol  usw.  Seit  18  Monaten 
verheiratet,  leidet  die  Frau  stets  sehr  beim  Beischlaf 
wegen  Dyspareunie.  Hymen  rigid  und  bis  jetzt  keine 
Immissio  membri  gelungen.  Nach  einem  Sturze  aus  der 
Höhe  von  4  m  Armbruch  und  Descensus  testiculorum  in 
die  Schamlefzen.    Hypospadiasis  peniscrotalis,  Erektionen 


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—     284     — 

und  Ejakulationen.  Vagii^a  in  der  flöhe  von  5  cm  blind 
geschlossen.  Die  Molimina  menstrualia  hörten  bei 
dieser  Person,  einem  verkannten  männlichen 
Scheinzwitter,  zwei  Jahre  nach  ihrem  Eintritt 
auf,  aber  sie  hatte  mensuelle  Nasenblutungen  im 
Alter  der  Menopause. 

T.Bonjour  („Pseudohermaphrodisme  male'',  Oazette 
M^d.  de  Nantes,  1888,  S.  95)  beschrieb  als  männlichen 
Scheinzwitter  ein  als  Weib  lebendes  Individuum,  das 
regelmäßig  menstruiert  sein  sollte  nach  eigener  Aus- 
sage und  sich  sogar  eine  Zeitlang  für  schwanger  ge- 
halten hatte,  trotzdem  er  die  Gegenwart  von  Hoden 
nicht  konstatieren  konnte.  Peniscrotale  Hypospadie 
ohne  kleine  Schamlippen.  Vagina  in  der  Höhe  von 
4  cm  blind  geschlossen;  nichts  von  einem  Uterus  zu 
tasten.  Das  Geschlecht  muß  hier  zweifelhaft  bleiben. 
Wie  aber  die  regelmäßigen  Qenitalblutungen  erklären, 
wenn  kein  Uterus  vorhanden  war? 

8.  C.  J.  Borge  („En  misdannelse-hypospadi",  Norsk 
Magaz.  for  Laegevidenskab,  1876,  Reihe  in,  Bd.  VI, 
S.  342).  B.  M.  0.,  32jährig,  irrtümlich  als  Mädchen  er- 
zogen bei  peniscrotaler  Hypospadie,  hatte  niemals  die 
Periode,  soll  aber  an  Tormina  menstrualia  ge- 
litten haben.  Jederseits  Hoden,  Nebenhoden  und 
Samenstrang  in  dem  gespaltenen  Scrotum  tastbar,  außer- 
dem bestand  links  ein  reponibler  Leistenbruch.  Der 
hypospadische  Penis  war  nur  4  cm  lang  und  15  mm 
dick  an  der  Eichel.  Weder  Uterus  noch  Ovarien  per 
rectum  tastbar.  Körperhöhe  162  cm.  Langes  Haupt- 
haar, in  zwei  Zöpfe  geflochten.  Weibliche,  hängende 
Brüste,  aber  welk.  Becken,  Extremitäten  und  Stimme 
männlich.  0.  empfindet  weiblichen  Geschlechtsdrang  und 
hat  den  Beischlaf  mit  Männern  versucht,  um  „das  kennen 
zu  lernen".  Niemals  Ejakulation  bemerkt,  wohl  aber 
Erektion  des  Gliedes;  sie  fragt,  ob  sie  einen  50jährigen 


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—     285     -^ 

Junggesellen  heiraten  kann.     Sie  kam  zum  Arzte  wegen 
Herzklopfens. 

9.  Hector  Cläre  Cameron  („Notes  on  a  Gase  of 
Hermaphrodism",  The  British  Gyn.  Journal,  February  1904, 
S.  347)  beschreibt  folgende  höchst  merkwürdige  Opera- 
tion. Ein  27jähriger  Ingenieur,  seit  drei  Jahren  kinder- 
los verheiratet,  meldete  sich  wegen  Schmerzen,  deren 
Sitz  genau  der  Gegend  der  Appendix  vermiformis  ent- 
sprach. Der  erste  Anfall  derselben  hatte  im  13.  Lebens- 
jahre stattgehabt  Patient  mußte  eine  Woche  das  Bett 
hüten.  Im  24.  Jahre  etwa  kam  ein  zweiter  Schmerz- 
anfall: Die  Schmerzen  traten  ohne  Fieber  und  Schwel- 
lung auf  und  dauerten  stets  zwei  bis  drei  Tage,  dann 
war  Patient  wieder  gesund.  In  der  letzten  Zeit  sind  die 
Anfälle  häufiger  geworden,  zusammen  hatte  Patient  bis 
jetzt  etwa  13  oder  14  solcher  Anfälle.  Man  dachte  an 
Appendicitis ,  obgleich  eigentlich  nichts  dafür  sprach, 
außer  der  Lokalisation  der  Schmerzen,  und  fand  denn 
auch  Gameron  bei  der  Operation  im  Mai  1901  den 
Wurmfortsatz  ganz  gesund  aussehend,  nur  übermäßig 
lang.  Keine  Spur  von  entzündlichen  Erscheinungen  ge- 
funden. Er  trug  den  Wurmfortsatz  ab  und  Patient 
wurde  entlassen,  kam  aber  im  November  wieder,  da  seit 
der  Operation  sich  die  Schmerzanfälle  regelmäßig  einmal 
in  jedem  Monat  wiederholt  hatten,  24  Stunden  dauernd. 
Im  Dezember  hatte  Cameron  Gelegenheit,  Patienten 
während  einer  solchen  Krise  zu  beobachten:  Er  warf  sich 
von  Schmerzen  gequält  auf  dem  Bette  hin  und  her  und 
sagte,  80  ein  Leben  lohne  sich  gar  nicht.  Kein  Fieber, 
keine  Schwellung,  nur  Spannung  der  Bauchdecken  in  der 
rechten  Unterbauchgegend.  Am  16.  XII.  1901  öflFnete 
Cameron  den  Leib  in  einer  Linie  parallel  dem  äußeren 
Rande  des  rechten  Musculus  abdominis  rectus,  führte  die 
Hand  in  die  Bauchhöhle  ein  und  extrahierte  einen  wohl- 
geformten  virginalen   Uterus,    nur    etwas    schmäler   als 


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—     286     — 

sonst,  samt  der  rechten,  mit  Fimbrien  versehenen  Tube 
und  dem  rechten  Ovarium,   das  an  der  Oberfläche  hier 
und  da  kleine  Dellen  trug.     Er  resezierte   die   rechts- 
seitigen Adnexa  und  versenkte  den  Uterus  wieder;  linker- 
seits konnte  er  keine  Adnexa  uteri  tasten.   Am  nächsten 
Tage  nach  der  ersten  Operation  konnte  der  Mann  nicht 
harnen  und  der  katheterisierende  Arzt  entdeckte,  daß  in 
dem   Hodensacke,   der  schlaff  und  welk  herabhing,    der 
rechte  Hoden  fehlte.     Cameron  kam  auf  die  Idee,   ob 
nicht   der   kryptorchistische  rechte  Hoden  die  Schmerz- 
anfälle verursache,  und  machte  die  zweite  Operation,  um 
diesen  Hoden  aufzusuchen.    Penis  normal  gestaltet,  aber 
eher  zu  groß  als  zu  klein,    mit  guten  Erektionen   und 
Retraktion  der  Vorhaut.    Die  Brüste  erwiesen  sich  groß, 
weiblich,  mit  tastbarer  Drüsensubstanz,  erhabenen  Brust- 
warzen,  Areola  usw.      Die   Brüste    sollten    bei   jedem 
Schmerzanfall  anschwellen    und   so   empfindlich  werden, 
daß   selbst   der   Druck    der   Bettdecke    nicht   vertragen 
wurde.   Die  Frau  sagte  aus,  ihre  Ehe  sei  sehr  glücklich 
und  ihr  Mann  vollziehe  den  Beischlaf  normal;  in  früheren 
Zeiten  vor  der  Hochzeit  wollte  er  manchmal  im  Schlafe, 
aber  selten  nur,  Pollutionen  gehabt  haben.    Nachdem  die 
Operation  die  Existenz  eines  rechtsseitigen  Ovarium  kon- 
statiert hatte,  mußte  man  wohl  annehmen,  daß  die  Ge* 
schlechtsdrüse  in  der  linken  Hodensackhälfte  das  ekto- 
pische  linke  Ovarium  sei;    dagegen  sprach  jedoch,  wie 
Cameron  schrieb,  erstens  der  Umstand,  daß  diese  Ge- 
schlechtsdrüse während  der  Schmerzattacken   nicht   an- 
schwoll, während   sogar  die  Brüste  anschwollen,    sowie 
daß  man  eine  Epididymis  tastete  und  den  Samenstrang. 
Per  rectum  tastete  Cameron  ein  Gebilde,    das   er   für 
eine  sehr  tief  liegende  Prostata  annahm.   Das  Mikroskop 
(Professor  Muir)  konstatierte  Graafsche  Follikel  in  dem 
bindegewebszellenreichen  Stroma  des  Ovarium  und  sogar 
ein  sklerosiertes  Corpus  luteum.   Muir  erklärte  mit  aller 


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—     287     — 

Bestimmtheit  die  entfernte  Geschlechtsdrüse  für  ein  Ova^ 
rium;  sonach  waren  jene  monatlich  auftretenden  heftigen 
Schmerzen  nichts  anderes  als  Molimina  menstrualia, 
welche  nach  der  Operation  sich  nicht  wieder  einstellten. 
Die  Tuhe  hatte  normale  Schleimhaut. 

In  der  Beschreibung  ist  mit  keinem  Worte  irgend 
eine  periodische  Blutung  nach  außen  erwähnt.  Der 
Fall  bleibt  rätselhaft,  so  lange  nicht  die  Natur  der 
linksseitigen  Geschlechtsdrüse  festgestellt  sein  wird  — 
ob  dies  je  geschehen  wird,  ist  natürlich  nicht  zu  sagen, 
da  der  Mann,  falls  er  sich  jetzt  beschwerdefrei  fühlt, 
sich  selbstverständlich  nicht  wieder  einer  Operation  unter- 
ziehen wird.  Auf  Grund  der  Beobachtung  dürfte  man 
wohl  annehmen,  daß  der  Mann  kein  Mann  ist,  sondern 
ein  Weib  mit  Ausbildung  der  äußeren  Genitalien  nach 
männlichem  Typus,  männlicher  Behaarung  im  Gesicht 
und  am  ganzen  Körper  und  labialer  Ektopie  des  linken 
Ovarium;  dies  vermute  ich  wenigstens. 

10.  Castellana  (siehe  meinen  Aufsatz  „Interessante 
Beobachtungen  aus  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums", 
dieses  Jahrbuch,  1902).  Die  15jährige  Carmela  Capo- 
netto,  die  sich  später  als  männlicher  Scheiuzwitter  mit 
Hypospadiasis  peniscrotalis  erwies,  mit  einer  Vagina  du- 
plex, hatte  niemals  die  Menstruation,  wohl  aber 
jeden  Monat  periodische  Eongestionen  zu  den 
Genitalorganen.     Kryptorchismus  bilateralis. 

11.  Centinon  (Berliner  Klinische  Wochenschrift, 
1876,  Nr.  1).  Im  Jahre  1875  wurde  in  Barzelona  ein 
Eekrut  eingezogen,  ein  Bauer  aus  der  Provinz  Cuenza, 
und  einem  Schützenbataillon  eingereiht.  Da  der  Mensch 
aber  für  schwerere  Arbeit  nicht  zu  gebrauchen  war,  so 
verwandte  man  ihn  im  Kasemendienst,  schließlich  erließ 
man  ihm  die  militärische  Arbeit  ganz  und  überwies  ihm 
den  Hausdienst  bei  einem  Obersten.  Im  17.  Jahre 
waren  regelmäßige  allmonatliche  Blutungen  aus 


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—     288     — 

dem  After  eingetreten,  welche  sich  2  Jahre  lang 
wiederholten  mit  gleichzeitigen  Leibschmerzen, 
Bluterbrechen  und  Übelkeiten.  Gegenwärtig  wieder- 
holen sich  die  Blutungen  ex  ano  weniger  regelmäßig  und 
bleiben  manchmal  selbst  zwei  Monate  lang  aus.  Schon 
die  AUgemeinerscheinnng  dieses  Menschen  ist  so  eigen- 
tümUch,  daß  es  schwer  zu  verstehen  ist,  wie  er  zum 
Militär  genommen  werden  konnte.  Die  Ektremitäten 
weiblich  gerundet,  Brüste  weiblich,  aber  mit  männlich 
flachen  Warzen.  Langes  Haupthaar,  sonst  fast  keine 
Behaarung  am  Körper  zu  sehen.  Penis  nicht  hjpospar 
disch,  nur  3  cm  lang,  kaum  1  cm  dick,  mit  Glans  und 
Vorhaut  Die  Eichel  kaum  halbbohnengroß.  Die  Harn- 
röhrenmündung in  der  Glans  ist  so  schmal,  daß  man  gar 
nicht  erst  versuchte,  einen  dünnen  Katheter  einzuführen; 
das  Hamen  dauert  jedesmal  sehr  lange.  Scrotum  rudi- 
mentär gebildet  und  leer.  Der  Mastdarm  läßt  ohne 
weiteres  den  Finger  2  cm  tief  ein,  weiter  kann  der  Finger 
nicht  eingeführt  werden  wegen  großer  Schmerzhaftigkeit 
dieser  Untersuchung.  Mit  Hilfe  eines  Speculum  gelang 
es,  im  Mastdarm  eine  Öfifhung  zu  entdecken,  welche 
wahrscheinlich  die  Bektalmündung  einer  Vagina  ist  Beim 
Abschiede  weinte  das  Individuum  bitterlich  in  seines 
Nichts  durchbohrendem  Gefühl.  Auf  die  Frage  nach  der 
Ursache  der  Thränen  antwortete  der  Rekrut,  es  wäre  so 
traurig,  so  nichts  in  der  Welt  zu  sein,  nicht  Mann  und 
nicht  Frau.  Wahrscheinlich  die  sogenannte  Atresia 
vaginae  rectalis  und  Ovarien  vorhanden. 

12—14.  Chopin  (New  York  Medical  Journal,  6.  IV. 
1889)  beschrieb  ein  allmonatliches  periodisches 
Bluten  eines  Mannes  aus  der  Harnröhre.  Er 
kennt  nur  zwei  analoge  Beobachtungen,  die  von  Roy  er 
zitiert  sind;  der  eine  Fall  betrifft  einen  Fleischer  in 
Sedan,  der  andere  einen  auch  von  Chopart  erwähnten 


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Soldaten.     (Referat  durch  Simon  und  Duplay  in  den 
Archives  gönörales  de  Mödecine,  Oktober  1880,  S.  464.) 

15.  Clark  (siehe  meinen  Aufsatz  „Chirurgische  Über- 
raschungen auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums'S  dieses 
Jahrbuch,  1903,  Bd.  V,  S.  8)  konstatierte  durch  beider- 
seitige Hemiotomie  mit  Exstirpation  der  Hoden  das  männ- 
liche Geschlecht  einer  Witwe.  Die  Frau  gab  vor,  vom 
12.  Lebensjahre  an  anfangs  unregelmäßige,  später 
regelmäßige  Blutungen  aus  dem  Genitale  gehabt 
zu  haben,  vom  25.  —  28.  Lebensjahre  regelmäßig 
alle  vier  Wochen  je  24  Stunden  dauernd.  Die 
42jährige  Frau  hatte  vor  16  Jahren  geheiratet.  Ober- 
halb einer  jeden  Schamlefze  tastete  man  je  einen  Hoden; 
dieselben  waren  erst  vor  wenigen  Tagen  nach  dem  Heben 
einer  schweren  Last  aus  den  Leistenkanälen  ausgetreten. 
Clark  erkannte  auf  männliches  Geschlecht,  wurde  aber 
schwankend  angesichts  der  Angabe  bezüglich  der  regel- 
mäßigen Genitalblutungen;  er  beschloß,  eine  solche  ab- 
zuwarten, sie  kam  jedoch  nicht;  es  schien  ihm  also  die 
Angabe  der  Frau  bezüglich  jener  Genitalblutungen  auf 
Unwahrheit  zu  beruhen,  umsomehr  als  die  Vagina  blind 
endete  und  kein  Uterus  abzutasten  war. 

16.  Delageniere  (Progr^s  Mödical,  1899,  Nr.  2)  fand 
bei  einer  27jährigen  Frau  eine  normale  Vulva,  aber  die 
Vagina  in  der  Höhe  von  5  cm  blind  geschlossen  und 
jederseits  eine  kleine  inguinale  Hernie;  von  Zeit  zu 
Zeit  traten  menstruale  Phänomene  auf,  aber  keine 
Blutung.  Delageniere  schlug  der  Frau  den  Bauch- 
schnitt vor,  um  den  Uterus  aufzusuchen  und  mit  der 
Vagina  zu  vernähen,  aber  beim  Bauchschnitt  fand  er 
keinen  Uterus,  sondern  exstirpierte  die  beiden  Geschlechts- 
drüsen, welche  sich  als  Hoden  erwiesen.  Sie  lagen  an 
den  inneren*  Öffnungen  der  Leistenkanäle.  Das  Mikro- 
skop erwies,  daß  es  Hoden  waren. 

Jahrbuch  VI.  19 


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—     290     — 

17.  Dohrn  (Archiv  für  Gynäkologie,  1877,  Bd.  XI, 
S.  208)  beschrieb  einen  verheirateten  Zwitter:  N.  N.,  als 
Mädchen  getauft,  28  Jahre  alt,  bemerkte  im  Anfang 
der  zwanziger  Jahre  ein  allmonatlich  wieder- 
kehrendes lästiges  Druckgefühl  im  Leibe.  Die 
Mutter  vermutete  ein  Menstruationshindernis  und  führte 
die  Tochter  zum  Arzt.  Die  Arzte  vermuteten  eine  Ste- 
nose des  Hymen,  sagten,  ein  Menstruationshindernis  sei 
nicht  da;  aber  wenn  das  Mädchen  heiraten  werde,  werde 
ein  kleiner  Einschnitt  notwendig  sein!  Die  Regel  kam 
jedoch  überhaupt  nicht.  Die  allmonatlichen  Moli- 
mina hörten  allmählich  auf  und  es  stellten  sich  Pol- 
lutionen ein;  Verlobung;  der  Bräutigam  verlangte  eine 
neue  Untersuchung.  Man  sagte,  die  Braut  sei  kohabi- 
tationsfähig,  werde  aber  keine  Kinder  haben.  Heirat; 
aber  schon  nach  wenigen  Tagen  verlangte  der  Gatte  eine 
abermalige  Untersuchung  wegen  Unmöglichkeit  des  Bei- 
schlafs. Dohrn  konstatierte  Hypospadiasis  peniscrotalis 
mit  rudimentärer  Vagina  ohne  Spur  von  Uterus;  jeder- 
seits  im  gespaltenen  Scrotum  Hoden  und  Zubehör,  also 
männliches  Schein  zwittertum.  Wie  sind  hier  die 
Molimina  vom  20.  Jahre  an  zu  erklären? 

18.  Fournier  (Dictionnaire  des  sciences  mödicales, 
Article  „Gas  rares",  S.  165)  beschrieb  Marie  Walkiers, 
welche  als  Weib  galt  und  behauptete,  die  Periode 
regelmäßig  zu  haben.  Fournier  hielt  sie  für  einen 
männlichen  Scheinzwitter  und  glaubte,  die  angebliche 
Periode  beruhe  auf  einer  Lüge,  von  der  sich  die  Person 
momentanen  Nutzen  verspräche. 

19.  Fowler  („True  Hermaphroditism",  American 
Journal  of  Obstetrics,  1887,  S.  423)  soll  einen  echten 
Zwitter  beschrieben  haben,  bei  dem  sowohl  der  Harn  als 
die  regelmäßige  menstruelle  Blutung  per  urethram 
ausgeschieden  wurden.  Dieses  Individuum  soll  Ovarien 
und  Hoden  besessen  haben.  —  Leider  bin  ich  nicht  im 


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—     291     — 

Besitz  der  Originalarbeit^  welche  jedenfalls  eine  kritische 
Sichtung  verdiente. 

20.  Günther  (I.e.)  beschrieb  einen  männlichen Hypo- 
spaden  von  25  Jahren^  als  Mädchen  erzogen^  beobachtet 
Ton  Dr.  Frenzel  in  Sachsen:  Hypospadiasis  peniscro- 
talis;  in  scroto  fisso  die  Hoden^  Nebenhoden  und  Samen- 
stränge. Vaginalmündung  unterhalb  der  Urethralmündung, 
kleine  Schamlippen  vorhanden ,  kein  Uterus  gefunden. 
Gleichwohl  im  16.  und  17.  Lebensjahre  starke 
Molimina  menstrualia,  die  erst  in  den  letzten  Jahren 
fortgeblieben  sind.  Das  Mädchen  war  verlobt^  aber  bis- 
her intakt. 

21.  Garrö  {„Fall  von  echtem  Hermaphroditismus", 
Deutsche  Medizinische  Wochenschrift,  190a,  Nr.  5,  S.  77; 
siehe  auch  Simon, „Hermaphroditismus  verus",Virchows 
Archiv,  1903,  Bd.  CLXXII,  und  Zander,  Anatomischer 
Anzeiger,  1903).  Ein  20 jähriger  junger  Mann  verlangte 
eine  Operation,  welche  seine  Verunstaltung  so  modifiziere, 
daß  niemand  mehr  an  seinem  männlichen  Geschlecht 
zweifeln  könne I  Schon  in  frühem  Alter  wuchsen  die 
Brüste  stark,  weiblich,  namentlich  die  linke  Brust.  Seit 
drei  Jahren  vergrößern  sich  die  Brüste  perio- 
disch, zugleich  treten  regelmäßig  periodische 
Leibschmerzen  ein  und  eine  mehrtägige  Blutung 
aus  der  Scham.  Diese  Erscheinungen  wieder- 
holen sich  allmonatlich!!!  Seit  mehreren  Jahren 
schon  hat  X.  Erektionen  seines  Gliedes  und  bei  libidi- 
nösen  Träumen  Ejakulationen  einer  weißlichen,  klebrigen 
Flüssigkeit.  Der  158  cm  hohe  Mann  ist  gut  genährt 
Die  äußeren  Körperkonturen  erscheinen  weiblich  infolge 
üppigen  Panniculus  adiposus.  Kaum  eine  Behaarung 
der  Oberlippe  zu  sehen;  der  Kehlkopf  springt  nicht  her- 
vor. Becken  breiter  als  die  Schultern.  In  der  linken 
Brust  tastet  man  bestimmt  Drüsengewebe,  die  Warzen 
eingezogen,  wenig  pigmentiert      Becken  breit,   weiblich, 

19* 


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—     292     — 

flach.  Der  hypospadische  Penis  ist  4  om  lang,  hat  6,5  cm 
im  Umfang.  Große  Schamlippen  leer,  zwischen  ihnen 
liegt  die  ürethralmünduag.  Vor  der  äußeren  Öffnung 
des  rechten  Leistenkanals  ein  in  den  Kanal  reponibles 
Gebilde,  welches  alsbald  wieder  vorfällt.  Per  rectum 
tastet  man  etwas  wie  eine  membranöse  quere  Scheide- 
wand des  kleinen  Beckens  und  linkerseits  ein  verschieb- 
liches längliches  Gebilde,  von  dem  ein  Strang  ausgeht, 
welcher  in  die  Harnröhre  zu  münden  scheint.  Man 
tastet  diesen  Strang  nur,  wenn  man  jenes  Gebilde 
nach  oben  verschiebt.  Oberhalb  dieses  Gebildes  tastet 
man  ein  zweites,  größeres  mit  höckeriger  Oberfläche. 
Beide  Gebilde  scheinen  durch  ein  2  cm  langes  Band 
mit  einander  verbunden.  In  der  Mittellinie  nichts  von 
einem  etwaigen  Uterus  getastet.  Eechterseits  tastet 
man  nur  etwas  wie  ein  Ligamentum  latum.  Der 
aus  der  Hamöffnung  entnommene  Schleim  erwies  kein 
Sperma,  sondern  nur  flache  Zellen  und  Detritus.  Wäh- 
rend des  Hospitalaufenthaltes  konstatierte  man  in  der 
vierten  Woche  eine  eintägige  Blutung  aus  der  Harn- 
röhre. Allgemeinaussehen  weiblich,  Aussehen  des  Geni- 
tale männlich.  Penis  nicht  nach  abwärts  gekrümmt,  wie 
gewöhnlich  bei  Hypospadie;  es  ist  bereits  einmal  an 
diesem  Penis  plastisch  operiert  worden.  Da  das  Ge- 
schlecht absolut  fraglich  erschien,  proponierte  Garr6 
einen  diagnostischen  Einschnitt  in  die  eine  Leiste.  Pa- 
tient ging  darauf  ein,  verlangte  aber  gleichzeitige  Ampu- 
tation beider  Brüste,  worauf  er  indes  später  verzichtete. 
Rechtsseitiger  Leistenschnitt:  Man  fand  innerhalb  des 
dünnwandigen  Bruchsackes  einen  Hoden,  dem  ein  klei- 
neres Gebilde  aufsaß,  einen  Samenstrang,  Vas  deferens; 
eine  7  cm  lange  Tube  wurde  aus  dem  Leistenkanale 
herausgezogen,  mit  Fimbrien  am  Abdominalende  ver- 
sehen; man  fand  auch  ein  Parovarium  und  ein  Liga- 
mentum latum.     Man  amputierte  die  Tube,   sowie   das 


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—     293     — 

Parovarium  und  resezierte  aus  den  übrigen  Gebilden  je 
ein  Stückchen  für  mikroskopische  Forschung.  Nach  Re- 
sektion des  Bruchsackes  Vemähung  der  Wunde.  Ge- 
nesung. Die  Hernie  hatte  einen  Hoden  enthalten,  der 
in  seinem  oberen  Anteile  ovarielle  Struktur  aufwies,  also 
eine  gemischte  Geschlechtsdrüse  (Ovotestis),  einen  Neben- 
hoden samt  Vas  deferens,  eine  Tube  und  ein  Parovarium. 
Simon  zieht  aus  der  mikroskopischen  Untersuchung  den 
bestimmten  Schluß,  daß  hier  wahres  Zwittertum  vorliege. 
Da  nun  notorisch  menstruelle  Blutausscheidungen  ex  Ure- 
thra bestehen,  so  dürfte  man  annehmen,  daß  das  Ova- 
rialgewebe  funktionsfähig  sei.  Dunkel  bleibt  aber,  wie 
die  andere  Geschlechtsdrüse  beschaffen  sein  mag.  Zweifel- 
los dürfte  hier  die  Annahme  gerechtfertigt  sein,  daß 
nicht  nur  die  rechte  Tube  vorhanden  war,  sondern  ein 
Uterus  mit  gesamtem  Zubehör.  Ausdrücklich  betone  ich 
hier,  daß  Garr6  allmonatliche  Molimina  in  der 
Art  der  menstruellen  angibt,  ziehende  Schmerzen 
in  den  Lenden  und  dem  ünterbauch,  Anschwellen 
der  Brüste  usw. 

22.  J.  J.  Riddle  Goffe  („A  Pseudohermaphrodite 
in  which  female  Characteristics  predominated;  Operation 
for  Removal  of  the  Penis  and  the  Utilization  of  the 
Skin  covering  it  for  formation  of  a  vaginal  canal",  Ame- 
rican Journal  of  Obstetrics,  1903,  Vol.  XLVIII,  Nr.  6) 
beschrieb  folgende  merkwürdige  Beobachtung:  Ein  28- 
jähriges,  in  New -York  geborenes  Mädchen  irländischer 
Herkunft,  dessen  Eltern  und  je  vier  Brüder  und  vier 
Schwestern  normal  gebildet  sind,  ist  in  letzter  Zeit  stark 
abgemagert.  Das  Mädchen  hatte  eine  höhere  Schule  be- 
endet und  befand  sich  stets  lieber  in  Gesellschaft  von 
Männern  als  von  Mädchen.  Geschlechtstrieb  ganz  weib- 
lich, niemals  eine  Liebschaft  mit  einer  Freundin.  Schon 
im  14.  Jahre  bemerkte  E.  C.  eine  rasch  zunehmende  Be- 


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—     294     — 

haarung  der  Scham  und  gleichzeitig  Erektionen  ihres  Ge- 
schlechtsgliedes. Bei  diesen  Erektionen,  welche  sie  anfangs 
oft  willkürlich  hervorrief,  empfand  sie  zuerst  ein  angeneh- 
mes Gefühl,  später  aber  wurden  ihr  diese  Erektionen  lästig 
und  wünschte  sie  dringend  die  operative  Beseitigung  des 
Gliedes,  weil  es  ihre  Gestaltung  derjenigen  anderer  Mäd- 
chen unähnlich  mache.  Wegen  ihres  starken  männlichen 
Bartwuchses  stark  verschleiert,  kam  sie  zu  Goffe.  Gang, 
Stimme  und  Gesichtsausdruck  weiblich,  die  Extremitäten 
stark  behaart  Andromastie.  Behaarung  des  Unterleibes 
männlich,  ebenso  Schambehaarung  sehr  üppig  männlich. 
Klitoris,  3  Zoll  lang  und  3^2  Zoll  im  Umfang  messend, 
richtet  sich  bei  der  leisesten  Berührung  auf.  Bei  der 
Erektion  retrahiert  sich  das  Präputium  stark  nach  hinten. 
Zwischen  den  Schamlefzen  sieht  man  eine  ÖflFnung  — 
die  Mündung  des  Sinus  urogenitalis ;  eine  Hamröhren- 
mündung  zunächst  nicht  sichtbar.  Eine  Sonde  dringt 
durch  diese  Öffnung  4^/^  Zoll  tief  in  eine  Vagina  ein. 
Per  rectum  tastete  man  weder  einen  Uterus  noch  Ova- 
rien, dagegen  oberhalb  des  oberen  Endes  der  Vagina 
eine  Art  Strang.  Auf  die  Frage,  ob  E.  C.  ein  Mann  sein 
wolle  oder  ein  Weib,  antwortete  E,  C.  mit  aller  Be- 
stimmtheit, sie  wolle  ein  Weib  sein  und  bat  um  die  Ent- 
fernung des  ihr  lästigen  Wuchses.  Am  11.  IIL  1903 
amputierte  Goffe  unter  Athernarkose  das  Glied,  nach- 
dem er  vorher  mit  stumpfer  Gewalt  sich  einen  Weg  in 
die  Vagina  gebohrt,  mit  anfangs  einem,  dann  zwei  Fin- 
gern —  er  dilatierte  stumpf  den  Canalis  urogenitalis  so 
weit,  daß  er  schließlich  den  Mittelfinger  bis  an  den 
Scheidengrund  in  vaginam  einführen  konnte;  dabei  machte 
er  zwei  seitliche  Einschnitte,  welche  ziemlich  stark  blu- 
teten; es  waren  natürlich  bei  diesem  Vorgehen  Einrisse 
in  den  Wänden  des  Canalis  urogenitalis  resp.  der  Vagina 
entstanden,  und  diese  tapezierte  Goffe  auf  eine  eigen- 
tümliche Weise  mit  Haut.     Da  die  inneren  Flächen  der 


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—     295     — 

Schamlefzeu  zu  stark  behaart  waren,  um  sie  zur  Aus- 
polsterung des  Kanals  zu  benützen,  so  machte  er  je  einen 
Längsschnitt  an  dem  Dorsum  der  hypertrophischen  Kli- 
toris resp.  des  hypospadischen  Penis,  präparierte  die 
Hautdecken  von  dem  Gliede  bis  an  die  Wurzel  von  der 
Corona  glandis  beginnend  ab  und  implantierte  diese  beiden 
Hautlappen  in  die  Wundfiächen,  die  bei  der  forcierten 
Dilatation  entstanden  waren;  es  gelang  später,  im  Grunde 
der  Vagina  eine  kleine  Vaginalportion  zu  entdecken, 
deren  Muttermund  eine  Sonde  beinahe  2  Zoll  tief  ein- 
dringen ließ.  Wegen  Blutung  sub  operatione  wurde  Adre- 
nalin verwandt,  da  man  kein  blutendes  Gefäß  direkt 
fassen  konnte;  ein  Gazetampon  wurde  eingeführt  und  der* 
Verweilkatheter;  es  war  gelungen,  in  dem  erweiterten 
Canalis  urogenitalis  die  Hamröhrenmündung  aufzufinden; 
nach  vier  Tagen  Gaze  entfernt  und  Glasspeculum  k  de- 
meure  eingeführt,  um  die  implantierten  Hautlappen  an 
die  Wundflächen  angepreßt  zu  erhalten.  Linkerseits 
gelang  es,  in  der  Beckenhöhle  ein  Gebilde  zu  tasten,  das 
eher  wie  eine  geschwollene  Lymphdrüse  erschien,  denn 
als  ein  Ovar.  Nach  einem  Monat  verließ  das  Mädchen 
sehr  zufrieden  mit  dem  Erfolg  der  Operation  die  Klinik 
und  unterzog  sich  dann  einer  Kur,  um  auf  elektrischem 
Wege  die  männliche  Gesichtsbehaarung  vernichten  zu 
lassen.  —  Am  19.  III.  1904  erhielt  ich  von  Dr.  Reich 
in  New- York  einen  Brief,  in  dem  er  mir  mitteilte,  daß 
diese  Person  jetzt  nach  der  Operation  bereits 
dreimal  ihre  Periode  gehabt  haben  soll.  Gerade 
in  dieser  Tatsache  liegt  das  Merkwürdige  dieser  Be- 
obachtung. Wenn  das  Mädchen  die  Periode  bekam 
so  muß  es  doch  wohl  funktionierende  Ovarien 
besitzen  und  einen  Uterus,  der  nicht  allzusehr 
hypoplastisch  sein  dürfte,  also  nicht  infantil, 
geschweige  denn  fötal.  Wie  kommt  es  nun,  daß 
Goffe  bei  der  Untersuchung  per  rectum    einen  Uterus 


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—     296     -- 

nicht  tastete,  der  funktionsfähig  und  später  menstruierend 
sich  erwies? 

Im  Anfang  seines  Aufsatzes  spricht  Goffe  den  Satz 
aus^  Katharina  Hohmann  sei  aus  der  Liste  der  Herma- 
phroditen zu  streichen;  denn  ihre  angebliche  Periode 
sei  den  Ärzten  vorgetäuscht  worden,  da  die  Person  bei 
Nasenbluten  entleertes  Blut  benutzt  habe  zu  einer  Täu- 
schung, indem  sie  sich  die  Genitalien  mit  diesem  Blute 
beschmierte.  Goffe  beruft  sich  hierbei  auf  Pozzi  und 
letzterer  auf  Ahlfeld;  es  müßte  sich  sodann  S.chultze 
getäuscht  haben,  der  die  Menstruation  bei  Katharina 
Hohmann  beobachtet  haben  will,  und  Rokitansky,  der 
diese  Angabe  wiederholte. 

23.  Guyot  und  Laubie  (Journal  de  M^decine  de 
Bordeaux,  1897,  T.  XXVII,  S.  558).  Ein  Kind  wurde 
bis  zum  11.  Jahre  als  Knabe  erzogen,  dann  aber, 
als  die  Periode  eintrat,  für  ein  Mädchen  erklärt! 
Clitoris  erectihs  6  cm  lang,  große  und  kleine  Scham- 
lippen vorhanden.  Unterhalb  der  Urethralmündung  eine 
Öffnung,  aus  der  alle  zwei  Wochen  unter  Schmerzen  Blut 
ausgeschieden  wurde,  die  Menstruation.  Ein  per  rec- 
tum getastetes  Gebilde  wurde  als  Uterus  angesprochen. 
Nirgends  Geschlechtsdrüsen  getastet.  Brüste  groß  an- 
gelegt. Extremitäten  von  weiblichem  Aussehen.  Neigungen 
und  Beschäftigungen  durchweg  männlich.  Das  Indivi- 
duum behielt  nach  wie  vor  männliche  Kleidung  und 
arbeitete  als  Maurer;  erst  jetzt  gab  es  seine  Beschäf- 
tigung auf  und  reist  nun  in  der  Welt  umher,  um  sich 
öffentlich  als  Hermaphrodit  für  Geld  sehen  zu  lassen. 
Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  dürfte  doch  hier  das  Ge- 
schlecht weiblich  sein.  (?) 

24.  W.  Hall  (siehe  meine  Arbeit  „Chirurgische 
Überraschtingen  auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums", 
dieses  Jahrbuch,  Jahrgang  V,  1903,  S.  102)  exstirpierte 
bei  einem  weiblichen  Scheinzwitter  ein  carcinomatös  ent- 


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—     297     — 

artetes  Ovarium,  der  andere  Eierstock  erschien  atrophisch. 
Klitoris  l^g  Zoll  lang,  obwohl  sonst  die  gesamte  Vulva 
Hypoplasie  verriet.  Die  sekundären  Geschlechtscharak- 
tere waren  sämtlich  männlich  und  doch  soll  im  H.Lebens- 
jahre einmal  eine  Blutausscheidung  aus  dem  Genitale 
stattgehabt  haben. 

Von  einer  mikroskopischen  Untersuchung  ist  in  dem 
Referate  nichts  gesagt,  das  Geschlecht  muß  also  fraglich 
bleiben. 

25.  Heinrichsen  („Pseudohermaphroditismus  mas- 
culinus  extemus  completus",  Virchows  Archiv,  1883, 
Bd.XCIV,  S.211)  beschrieb  die  27jährige  Elisabeth  Wul- 
fert  aus  der  Umgegend  von  Odessa,  die,  als  Weib  erzogen, 
sich  mit  weiblichen  Arbeiten  befaßte,  aber  durch  ungemein 
große  Eörperkraft  auszeichnete.  Im  21.  Lebensjahre 
hatte  sie  eine  zwei  Tage  andauernde  Genital- 
blutung, angeblich  Menstruation, die  jedoch  in  der 
Folge  nicht  wieder  erschien.  Dagegen  empfand 
die  Person  vom  17.  Jahre  an  regelmäßig  allmonat- 
lich zwei  Tage  lang  starke  Molimina  menstrualia. 
Von  Zeit  zu  Zeit  stellten  sich  Pollutionen  ein.  Elisabeth 
empfand  stets  nur  auf  Männer  gerichteten,  also  weib- 
lichen Geschlechtsdrang,  niemals  zu  den  Frauen,  mit 
denen  zusammen  sie  nächtigte.  E.  W.  hält  sich  für  ein 
unglückliches  Wesen,  weder  Mann  noch  Weib.  Schon 
vom  Kindesalter  an  hatte  sie  in  jeder  Leiste  eine  Ge- 
schwulst Vor  einem  Jahre  traten  nach  einem  Sprunge 
von  einem  Heuschober  plötzlich  starke  Schmerzen  in  der 
linken  Leiste  auf,  während  die  Geschwulst  stark  an  Größe 
zunahm;  allmählich  ließ  der  Schmerz  nach,  aber  der 
Tumor  blieb  größer  als  früher.  Jetzt  vor  einer  Woche 
war  abermals  nach  Aufheben  einer  Last  starker  Schmerz 
links  eingetreten;  der  Tumor  war  noch  größer  geworden 
und  hatte  sich  nach  unten  gesenkt;  sie  ist  deshalb ^  in 
das  Hospital  eingetreten  wegen  Fieber,  Übelkeiten  und 


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Erbrechen.  Seit  sechs  Tagen  kein  Stuhlgang;  man 
konstatierte  zeitweilige  Darmunwegsamkeit  mit  starker 
Schwellung  der  linken  Schamlefze  und  vermutete  Bruch- 
einklemmung. Man  diagnostizierte  ex  consilio  mit 
Dr.  CzaussaÄskij,  Donat  und  Fricke  eine  Epididy- 
mitis,  Funiculitis  und  Vaginalitis.  Unter  Ruhe,  Opium, 
Eis  und  Bädern  Besserung,  sodaß  die  Kranke  bereits 
nach  zehn  Tagen  darauf  bestand,  das  Hospital  zu  ver* 
lassen.  Allgemeinaussehen ,  Stimme,  G^sichtsausdruck, 
Brüste  weiblich.  Im  rechten  Leistenkanal,  der  den  Pinger 
passieren  läßt,  Hoden  und  Samenstrang  getastet,  unter- 
halb Ödem  der  Schamlefze;  Penis  rudimentär,  niemals 
eine  Erektion  bemerkt.  Hypospadiasis  peniscrotalis;  Sinus 
urogenitalis  1 Y,  Zoll  breit  Der  Finger  dringt  mit  Schwie- 
rigkeit 5  cm  tief  ein  und  trifft  dort  auf  einen  Wider- 
stand. Der  Katheter  trifft  in  Urethra,  6  cm  tief  ein- 
geführt, auf  eine  Öffnung  an  deren  hinterer  Wand  und 
dringt  hier  in  eine  blind  geschlossene  Höhle,  einen  Sack, 
ein.  Weder  Uterus  noch  Prostata  getastet  Da  man 
zwei  Hoden  getastet  hatte  und  deren  Vasa  deferentia, 
die  linke  Samenblase,  da  femer  Pollutionen  konstatiert 
waren,  männliches  Skelett,  so  schloß  Heinrichsen,  daß 
dieses  Mädchen  ein  männlicher  Hypospade  sei;  jener 
blind  endende  Sack,  in  die  Urethra  mündend,  dürfte 
doch  wohl  ein  Uterus  masculinus  gewesen  sein;  die  Er- 
scheinung der  genitalen  zweitägigen  Blutung  im 
21.' Jahre  und  die  regelmäßigen  Molimina  men- 
strualia  vom  17.  Jahre  an  bleiben  ohne  Deutung^ 
geschweige  denn  Erklärung. 

26.  A.  Hengge  („Pseudohermaphroditismus  und  se« 
kundäre  Geschlechtscharaktere",  Monatsschrift  für  Ge- 
burtshilfe und  Gynäkologie,  Januar  1903)  beschreibt  eine 
Beobachtung  aus  Martins  Klinik,  zwei  Schwestern  von 
32  und  19  Jahren  betreffend,  die  als  männliche  Hypo- 
spaden    erkannt    wurden.      Die    jüngere,     19jährige 


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Schwester  litt  vom  14.  Jahre  an  alle  Monate  einen 
Tag  lang  an  Kopfschmerz  mit  Wallungen  und 
Übelkeiten  und  soll  dann  bis  1.  X.  l*.»Ol  stets 
gleichzeitig  Nasenbluten  gehabt  haben.  Vom 
1.  X.  1901  bis  zur  Aufnahme  in  die  Klinik  am  28.  I. 
1902  blieb  das  Nasenbluten  aus,  aber  seit  vier  Mo- 
naten treten  jene  Anfälle  alle  acht  Tage  auf,  so 
quälend,  daß  die  Arbeitsfähigkeit  darunter  leidet. 
Hoher  Körperwuchs,  weibliche  Brüste,  weibliches  Becken, 
durchaus  weibliche  Scham,  aber  Vagina  blindsackförmig 
ohne  Uterus.  In  jeder  Schamlefze  je  ein  Hoden,  die 
Hoden  wurden  wegen  andauernder  Allgemeinbeschwerden 
und  großer  lokaler  Schmerzempfindlichkeit  entfernt.  Die 
ältere,  kinderlos  verheiratete  Schwester  ist  ebenso  be- 
schaffen, aber  der  Descensus  testiculorum  weniger  vor- 
geschritten. Sie  kohabitiert  mit  Wollust  und  ist  bis  auf 
ganz  unregelmäßig  auftretende  Kopfschmerzen  gesund. 
Bei  der  jüngeren  Schwester  schwanden  nach  der  Kastra- 
tion die  Allgemeinbeschwerden,  die  Wallungen  zum  Kopfe 
schwanden  nicht.  Die  sekundären  Geschlechtscharaktere 
waren  sämtlich  weibliche.  Das  Merkwürdige  dieser 
Beobachtungen  liegt  weniger  in  der  Erreur  de 
sexe  bezüglich  zweier  Geschwister,  als  darin,  daß 
der  jüngere  der  beideik  verkannten  Hypospaden 
an  dysmenorrhoischen  Beschwerden  litt  mit  pe- 
riodischem Nasenbluten,  also  quasi  vikariieren- 
der Menstruation.  Wie  kommt  dieses  Hoden  tra- 
gende Individuum  zu  jenen  spezifisch  weiblichen 
Beschwerden?  Hengge  erklärt  die  Sache  durch  Sug- 
gestion: Die  19jährige  Martha  wuchs  zugleich  mit  einer 
vier  Jahre  älteren  Schwester  auf,  welche  allmonatlich 
ihre  Kegel  hatte  und  zwar  unter  großen  Schmerzen. 
Martha  hielt  sich  für  ein  Mädchen,  erwartete  von 
Monat  zu  Monat  vergeblich  ihre  Periode  und 
glaubte,  Zeugin  der  Dysmenorrhoe  ihrer  Schwe- 


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—     300     — 

ster,  schließlich  selbst  gleiche  Beschwerden  zu 
empfinden.  Die  dysmenorrhoischen  Erschei- 
nungen des  verkannten  Hypospaden  sollen  also 
die  Folge  einer  Suggestion,  einer  psychischen 
Beeinflussung  der  normal  weiblich  gebauten,  an 
starker  Dysmenorrhoe  leidenden  Schwester  sein. 
27.  J.  Henrotay  in  Anvers  („Hypospade  pöniscrotal 
6lev6  en  femme  jusqu'A,  24  ans",  Extrait  du  Journal: 
Bulletin  de  la  Soci6t6  Beige  de  Gyn6cologie  et  d'Obstö- 
trique,  1901,  Nr.  4).  Am  2.  IX.  1901  besuchte  Fräulein 
Filomene  X.  mit  ihrer  verheirateten  Schwester  Herrn 
Henrotay  und  bat  um  Aufschluß  darüber,  weshalb 
ihre  Periode  noch  nicht  eingetreten  sei,  nur  ein- 
mal im  17.  Lebensjahre  soll  eine  genitale  Blut- 
ausscheidung stattgehabt  haben,  jedoch  seien 
nicht  mehr  als  5  —  6  Tropfen  Blut  ausgeschieden 
worden.  Sie  leidet  übrigens  nicht  unter  dem  Mangel 
der  Periode.  Gegenwärtig  ist  das  Mädchen  verlobt. 
Patientin  klagt  nur  über  weißen  Fluß.  Wegen  eines 
vermuteten  Leistenbruches  hat  ihr  ein  Arzt  das  Tragen 
eines  Bruchbandes  oder  aber  sich  einer  Herniotomie  zu 
unterziehen  geraten.  Patientin  konsultierte  damals  den 
Arzt  deshalb,  weil  sie  beabsichtigte,  sich  zu  verheiraten. 
Um  sicher  zu  gehen,  wandte  sich  Patientin  jetzt  an 
Henrotay.  Trotz  langen  weiblichen  Haupthaares  All- 
gemeinaussehen durchaus  männlich.  Der  Gang  erschien 
durchaus  männlich,  und  wie  Patientin  vor  Henrotay 
stand,  den  Sonnenschirm  in  der  Hand,  machte  sie  auf 
ihn  ganz  den  Eindruck  eines  verkleideten  Mannes,  wie 
auf  einem  der  skandalösen  Maskenbälle.  Die  Unter- 
suchung erwies  männUches  Geschlecht ;  Hypospadiasis 
penoscrotalis  mit  Descensus  incompletus  und  Retardatus 
testiculorum.  Unterhalb  der  scheinbar  weiblichen  Ure- 
thralmündung  eine  Grube,  welche  eine  Sonde  nicht  ganz 
1  cm   tief  einläßt.      Sämtliche    sekundären   Geschlechts- 


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—     301     — 

Charaktere  männlich.  In  psychischer  Beziehung  fühlte 
sich  diese  Person  vollständig  als  Weib  und  gab  an,  den 
Bräutigam  zu  lieben ;  sie  gestand  auch  ein,  bei  libidinösen 
Träumen  Ejakulationen  zu  haben.  Während  der  Chloro- 
formnarkose rief  sie  mehrmals  den  Vornamen  ihres  Bräuti- 
gams. Henrotay  ließ  der  Person  die  Wahl,  ob  sie  als 
Mann  oder  als  Frau  gelten  wolle,  erklärte  ihr  aber,  sie 
dürfe  sich  nicht  als  Mädchen  verheiraten,  da  eine  solche 
Ehe  für  ungültig  gelten  müßte.  Auf  die  Erörterungen 
von  Seiten  Henrotays  erwiderte  die  Mutter:  „Mein 
Gott!  Gibt  es  denn  nicht  genug  Frauen,  die  nicht  ganz 
so  beschaffen  sind,  wie  es  sein  sollte!" 

28.  Geoffroy  Saint  Hilaire  („Histoire  gönörale 
et  particuliere  des  anomalies  de  Torganisation  chez 
rhomme  et  les  animaux",  etc.,  ou  „Traitö  de  Teratologie", 
Paris,  1826,  Tome  II,  S.  171)  erwähnt  die  von  Giraud 
im  Pariser  Hotel  Dieu  vollzogene  Nekropsie  der  aus  San 
Domingo  stammenden,  an  Schwindsucht  verstorbenen 
Adelaide  Pr6ville,  eines  lange  Zeit  als  Weib  verheiratet 
.gewesenen  männlichen  Scheinzwitters  mit  Hoden,  Neben- 
hoden, Samensträngen  und  peniscrotaler  Hypospadie 
(siehe  auch  Osiander,  „Neue  Denkwürdigkeiten",  Göt- 
tingen, 1799,  S.  245).  Die  Hoden  lagen  in  dem  gespal- 
tenen Scrotum,  eine  Prostata  war  vorhanden  und  eine 
unterhalb  der  Urethra  nach  außen  mündende  kurze,  in 
der  Tiefe  blind  endende  Scheide,  aber  kein  Uterus. 
Amazie.  Die  von  Ad61aide  Pröville  als  Menstrua- 
tion gedeuteten  Blutungen  will  Osiander  als 
Hämorrhoidalblutungen  ansprechen. 

29.  Steglehner  erwähnt  eine  Beobachtung  von 
Julien,  Hypospadiasis  penoscrotalis  mit  zwei  Hoden  in 
scroto  fisso;  zugleich  Labia  minora  konstatiert.  Regel- 
mäßige Periode;  das  Individuum  soll  mit  Männern 
und  mit  Weibern  kohabitiert  haben.  Aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  waren  hier  ektopische  Ovarien  irrtümlich 


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—     302     — 

für  Hoden  angesehen  worden  und  eine  hypertrophische 
erektile  Klitoris  für  einen  hjpospadischen  Penis. 

30.  Kutz  (Centralblatt  für  Gynäkologie,  1898,  Nr.  15, 
S.  389)  beschrieb  folgende  hochinteressante  Beobachtung 
Sängers:  Ein  23 jähriges  Dienstmädchen  meldete  sich 
in  der  Poliklinik  erstens  wegen  bisheriger  Amenorrhoe, 
zweitens,  weil  es  alle  vier  Wochen  mehrere  Tage 
lang  von  starken  Schmerzen  im  Unterleibe,  in 
den  Weichen  und  in  den  Brüsten  geplagt  wurde 
—  also  lagen  Molimina  menstrualia  vor.  Diese 
allmonatlichen  Schmerzen  haben  in  letzter  Zeit 
so  zugenommen,  daß  Patientin  arbeitsunfähig 
wurde.  Allgemeinerscheinung  weiblich,  Gesichtsfarbe  ge- 
sund, rote  Wangen,  Haupthaar  lang,  in  Zöpfe  geflochten^ 
Brüste  weiblich,  aber  wenig  entwickelt,  Achselliöhlen 
reichlich  rot  behaart  Vulva  und  Perinäalgegend  schwach 
behaart.  Klitoris  nicht  vergrößert.  Hymen  intakt,  die 
Vagina,  von  normaler  Länge,  endet  in  der  Tiefe  blind. 
Weder  Uterus  noch  Ovarien  per  rectum  getastet.  In 
der  rechten  Leiste  ein  hühnereigroßes,  glattwandiges,- 
druckschmerzhaftes,  hartes,  irreponibles  Gebilde,  welches 
als  inguinale  Ektopie  eines  Ovariam  angesprochen  wurde. 
In  der  linken  Leiste  eine  reponible  Hernie  mit  weichem 
Inhalt,  in  deren  Tiefe  jedoch  auch  etwas  Härteres  ge- 
tastet wurde.  Der  rechtsseitige  Bruch  soll  schon  von 
Kindheit  an  bestehen,  der  linksseitige  erst  nach  Be- 
endigung der  Schule  aufgetreten  sein.  Angesichts  der 
Schmerzen  entschloß  sich  Sänger  zur  Herniotomie,  um 
das  ektopiäche  Ovarium  in  die  Bauchhöhle  hineinzu- 
schieben. Bei  der  Operation  stellte  es  sich  heraus,  daß 
eine  Tunica  vaginalis  communis  testis  vorlag  mit  einem 
Hoden,  dem  rechten  Hoden.  Der  Processus  vaginalis 
peritonaei  erwies  sich  oberhalb  obliteriert,  sodaß  man  in 
die  Bauchhöhle  nicht  einzudringen  vermochte.  Sänger 
entfernte  also  Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang  und 


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—     303     -- 

vernähte  die  Wunde.  In  der  linksseitigen  Hernie  fand 
sich  ein  Hamblasendivertikel,  Hernia  extraperitonaealis 
veisicae,  wie  der  per  urethram  eingeführte  Katheter  nach- 
wies. Der  exstirpierte  rechte  Hoden  enthielt  in  der  Mitte 
ein  kleines  Adenofibrom,  der  linksseitige  Hoden  mußte  also 
in  der  Bauchhöhle  zurückgehalten  sein.  Es  wirft  sich 
liier  unwillkürlich  die  Frage  auf,  was  haben  die 
allmonatlich  periodisch  sich  wiederholenden 
Schmerzen  zu  bedeuten,  hingen  sie  von  der  Her- 
nie ab,  so  würden  sie  jedenfalls  konstant  sein, 
oder  sollte  der  rechte  Hoden  allmonatlich  an- 
schwellen wie  ein  Ovarium?  Da  Letzteres  doch  nicht 
wahrscheinlich  ist,  so  muß  man  unwillkürlich  an  Moli- 
mina menstrualia  denken.  Und  das  umsomehr,  als  ein 
Mann  wie  Sänger  hier  ausdrücklich  das  allmonat- 
lich periodische  Wiederkehren  der  Schmerzen 
betonte! 

31.  Leopold  (Archiv  für  Gynäkologie,  1877,  Bd.  X[, 
S.  357)  beschrieb  eine  Beobachtung  aus  der  Praxis  seines 
Vaters:  Eine  Frau  von  46 7j  Jahren  war  angeklagt,  an 
einem  15jährigen  Mädchen  unzüchtige  Handlungen  in  der 
Bolle  eines  Mannes  vollzogen  zu  haben.  Leopold  kon- 
statierte Hypospadiasis  penoscrotalis  mit  Gegenwart  eines 
Hodens  in  scroto  fisso,  5  cm  langer,  in  der  Tiefe  blind 
endender  Scheide.  Bei  der  Untersuchung  erigierte  sich 
der  hypospadische,  6  cm  lange  Penis.  Die  Person  gab 
an,  sie  habe  vom  17.  Jahre  an  regelmäßig,  wenn 
auch  nicht  stark,  alle  vier  Wochen  drei  bis  vier 
Tage  lang  ihre  Menstruation  bis  jetzt.  Männlicher 
Körperwuchs,  männliche  Stimme,  Behaarung,  Brüste  usw. 
Weder  Uterus  noch  Ovarien  im  Becken  getastet.  Es 
sind  also  in  diesem  Falle  trotz  Gegenwart  eines  Hodens 
regelmäßige  menstruelle  Blutungen  angegeben,  obgleich 
kein  Uterus  konstatiert  wurde.  Irgend  ein  Schluß  ist 
daraus  nicht  zu  ziehen,  weil  kein  Beweis  für  die  Eichtig- 


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—     304     — 

keit  der  Angabe  der  Periode  vorliegt,  aber  auch  kein 
Beweis  dafür^  daß  das  in  scroto  fisso  getastete  Gebilde 
wirklich  ein  Hoden  war  und  kein  Ovarium.  Leopold 
fügt  seiner  Beschreibung  hinzu:  ^^Gegen  das  männliche 
Geschlecht  spricht  nicht,  daß  die  Person,  wenn  die  An- 
gabe wahr  ist,  seit  ihrem  17.  Jahre  regelmäßige  Menses 
gehabt  hat,  da,  wie  Elebs  angibt,  periodische  Blu- 
tungen nicht  allein  bei  wohlgebildeten  männ- 
lichen Geschlechtsorganen  (Bayer),  sondern  na- 
mentlich auch  bei  männlichen  Hypospadiaeen 
(Th.  Allen,  Morand)  und  bei  rudimentären  Keim- 
drüsen vorkommen." 

Parmly  zitiert  eine  Ehe  in  Nordamerika,  aus  der 
zwei  Kinder  hervorgegangen  waren.  Der  Mann,  ein 
männlicher  Schein;switter,  besaß  eine  Vagina  und  einen 
Uterus  und  hatte  eine  regelmäßige  Menstruation.  (The 
American  Journal  of  Obstetrics,  1881,  S.  931.) 

32.  Löffler  („Zur  Kasuistik  der  Zwitter",  Berliner 
klinische  Wochenschrift,  1871,  Nr.  26,  S.  308)  vertrat 
einst  einen  Militärarzt:  Bei  der  Bekrutenmusterung  bat 
ihn  ein  Bauer  aus  Regenwalde,  er  möge  seinem  Pflege- 
sohn  Gustav  Bartelt  aus  dem  Dorfe  Kutzen  erlauben,  das 
Hemd  erst  im  Revisionszimmer  auszuziehen,  damit  er 
nicht  von  den  anderen  Rekruten  ausgelacht  werde, 
Gustav  fühle  sich  weder  als  Mann  noch  als  Frau  und 
habe  gerade  in  diesem  Augenblick  seine  monatliche  Blu- 
tung bekommen.  Individuum  von  mittlerer  Höhe,  ohne 
Bartwuchs,  mit  kurz  geschorenem  Haupthaar,  bietet  weder 
männliches,  noch  weibliches  Allgemeinaussehen.  Brüste, 
ein  wenig  voller,  als  sonst  bei  Männern,  scheinen  Drüsen- 
gewebe zu  enthalten.  Becken  schmal,  die  Oberschenkel 
voller  als  sonst  bei  Männern.  Schambehaarung  weiblich 
üppig.  Große  Schamlippen  halb  so  groß  als  normal, 
Penis  hypospadiaeus  P/2  ^^  lang,  kleinfingerdick,  mit 
gut  gebildeter  Glans  und  frei  verschieblichem  Praeputium. 


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—     305     — 

Unterhalb  des  Ansatzes  des  Penis  eine  2  mm  lange  Spalte, 
welche  jedoch  auch  die  dünnste  Sonde  nicht  einläßt 
Statt  einer  Vaginalmündung  nur  eine  feine  Öffnung, 
welche  aber  eine  Enopfsonde  nicht  einläßt.  Die  Scham 
mit  Blut  besudelt  Die  Periode  soll  regelmäßig 
alle  vier  Wochen  auftreten  schon  vom  14.  Jahre 
an.  Von  Abtasten  von  Hoden  oder  Ovarien,  Uterus  usw. 
ist  in  der  Beschreibung  nichts  gesagt  Der  Mensch  weinte 
ständig  bei  der  Untersuchung,  gab  an,  im  Felde  als  Mann 
zu  arbeiten^  aber  sehr  schnell  zu  ermüden,  sobald  er  ein 
Stück  Weges  gegangen  sei.  Es  scheint  doch,  daß  hier 
weibliches  Geschlecht  vorlag. 

33.  Mabaret  du  Basty  („Absence  d'une  partie  des 
organes  gönitaux  externes  chez  deux  sceurs",  Progres 
M^dical,  1890—91,  S.  503).  Zwei  Schwestern,  die  42- 
jährige  Marie  G.  und  die  35jährige  Katharina  G.,  kamen 
zu  Mabaret  mit  der  Bitte,  die  jüngere  Schwester  zu 
untersuchen  und  zu  bestimmen,  ob  nicht  eine  Operation 
nötig  sein  werde,  um  heiraten  zu  können,  denn  die  Ge- 
schlechtsorgane seien  ungewöhnlich  geformt.  Katharina 
G.,  von  hohem  Wuchs,  männlichem  Allgemeinaussehen, 
männlichen  Gesichtszügen,  Stimme  und  Thorax,  ist  sehr 
stark  behaart  und  muß  sich  täglich  rasieren.  Andro- 
mastie,  weibliches  Becken  mit  deutlichem  Mons  Veneris. 
Klitoris  4  cm  lang,  erektil,  mit  retrahiertem  Praeputium ; 
unterhalb  der  Harnröhrenmündung  liegt  noch  eine  Öff- 
nung, die  in  einen  5  cm  tiefen  Kanal  führt  und  aus  der 
allmonatlich  ohne  Beschwerde  sich  etwas  Blut 
ausscheiden  soll.  Absoluter  Mangel  der  großen  und 
kleinen  Schamlefzen.  Die  ältere  Schwester  ist  genau  so 
mißgestaltet,  nur  die  Klitoris  kleiner.  Mabaret  hielt  die 
beiden  Personen  für  Mädchen.  Prof.  Stumpff  spricht 
sich  in  seinem  Referat  für  männliches  Geschlecht  aus. 
Wie  dann  die  angeblich  allmonatlich  sich  wieder- 

Jahrbuch  VI.  20 


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—     306     — 

holende   periodische    Blutung   aus  dem  Genitale 
erklären? 

34.  Magitot  (Le  Progres  Mödical,  1881,  Nr.  26) 
stellte  in  der  Pariser  Anthropologischen  Gesellschaft  eine 
Person  vor,  welche  sehr  verschiedenartige  Lehensschicksale 
durchgemacht  hatte:  Als  Mädchen  erzogen,  hatte  sie  im 
13.  Jahre  zum  ersten  Male  ihre  Periode,  welche 
sich  aher  in  der  Folge  nur  noch  zweimal  zeigte. 
Gleichzeitig  entwickelten  sich  die  Brüste  und  stellte  sich 
rein  männlicher  Geschlechtstrieb  ein;  das  Mädchen  hei- 
ratete und  lebte  lange  Jahre  in  glücklicher  Ehe  mit 
ihrem  Manne,  obgleich  ein  Beischlaf,  rite  vollzogen,  nicht 
möglich  war.  Als  der  Gatte  starb,  knüpfte  die  Witwe 
ein  Liebesverhältnis  mit  einem  Weibe  an  und  hatte  von 
jetzt  an  ständig  Maitressen,  mit  denen  sie  als  Mann  den 
Beischlaf  vollzog.  Die  174  cm  hohe  Person,  aus  dem 
niederen  Volke  stammend,  mußte  sich  alle  zwei  Tage 
rasieren.  Gesichtsausdruck,  Becken  männlich.  Hypospa- 
diasis  peniscrotalis;  Penis  5  cm  lang,  Hoden,  Nebenhoden 
und  Samenstrang  jederseits  im  gespaltenen  Scrotum. 
Dieser  Mann  war  12  Jahre  lang  als  Weib  verheiratet 
Woher  stammten  die  anfangs  regelmäßigen  Genital- 
blutungen, handelte  es  sich  in  der  Tat  um  solche?  Falls 
ja,  wie  sind  sie  zu  erklären? 

35.  V.  Mars  („Ein  operativ  behandelter  Fall  von 
Scheinzwittertum*',  [Polnisch],  Przegl^d  lekarski,  1903, 
Nr.  40).  Eine  23jährige,  seit  drei  Jahren  verheiratete 
Jüdin  wandte  sich  an  v.  Mars  wegen  Unmöglichkeit  des 
Beischlafs  infolge  Mißgestaltung  der  Genitalien.  Vorher 
hatte  ihr  ein  anderer  Arzt  erklärt,  sie  sei  ein  männ- 
licher Hypospade.  Als  Mädchen  erzogen,  bemerkte  sie 
im  16.  Jahre  ihre  Mißbildung,  sie  fürchtete,  wenn  sie 
für  einen  Mann  erklärt  werde,  so  werde  ihre  Ehe  ge- 
schieden werden  und  sie  werde  dann  verhungern,  weil 
sie  alsdann  keinen  Lebensunterhalt  besitze.   Im  18.  Jahre 


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heiratete  sie.  Sie  gibt  an,  vom  15.  Jahre  an  men- 
struiert zu  sein,  aber  es  sollen  sich  jedesmal 
nur  einige  Tropfen  blassen  Blutes  unter  großen 
Schmerzen  entleeren.  Diese  Blutausscheidung 
soll  niemals  länger  als  einen  Tag  gedauert  haben. 
Seit  fünf  Jahren  männliche  Gesichtsbehaarnng.  Ständiges, 
wöchentlich  mehrmaliges  Basieren.  Ob  Erektionen  des 
wie  ein  hypospadischer  Penis  aussehenden  Gliedes  vor- 
handen sind,  will  die  Frau  nicht  angeben,  sie  scheint  zu 
fürchten,  man  werde  sie  dann  doch  für  einen  Mann  er- 
klären. Geschlechtstrieb  angeblich  vorhanden  und  zwar 
weiblicL  Niedriger  Körper  wuchs,  Aussehen  männlich, 
weil  alle  sekundären  Geschlechtscharaktere  männlich. 
Penis  6  cm  lang,  mit  entblößter  Glans,  darunter  eine  linsen- 
große Öffnung,  aus  welcher  der  Harn  fließt  Starke 
Schambehaarung,  die  großen  Schamlefzen  sind  unten 
nicht  durch  ein  Frenulum  verbunden,  sondern  gehen 
gleichsam  allmählich  in  den  Damm  über.  Per  rectum 
tastet  man  ein  2  cm  langes  Gebilde  in  der  Mittellinie, 
von  dem  jederseits  eine  Art  Strang  zur  lateralen  Becken- 
wand zieht,  lateral  liegt  jederseits  ein  härtliches  Gebilde. 
V.  Mars  vermutete,  es  handle  sich  um  ein  Weib  mit 
Verwachsung  der  Schamlefzen  unter  einander  und  Klitoris- 
hypertrophie, und  suchte  Beweise ;  er  glaubte,  den  Beweis 
darin  zu  finden,  daß  eine  Sonde,  an  der  Vorderwand  des 
Harnröhrenkanals  entlang  geführt,  in  die  Blase  gelangte, 
wenn  man  aber  an  der  unteren,  resp.  hinteren  Wand 
des  Harnröhrenkanals  mit  der  Sonde  entlang  tastete,  so 
geriet  dieselbe  in  einen  anderen  Kanal,  die  vermutete 
Scheide.  Daraufhin  spaltete  er,  da  die  Frau  durchaus 
Ermöglichung  des  Beischlafs  als  Weib  verlangte,  die 
Verwachsung  der  Schamlefzen  und  damit  auch  die  untere 
Wand  des  Canalis  urogenitalis  durch  einen  vertikalen 
Längsschnitt;  es  gelang  ihm  auch  tatsächlich,  die  ge- 
trennten Mündungen   von  Urethra   und  Vagina   bloßzu- 

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legen;  er  erweiterte  nachträglich  die  sehr  enge  Vagina 
mit  Hegars  Dilatatoren  so  weit,  daß  es  ihm  gelang,  ein 
Fergusson-Speculum  in  die  Vagina  einzuführen  und 
die  Portio  vaginalis  uteri  bloßzulegen.  Der  Schnitt  war 
5  cm  lang.  Es  wurden  dann  zur  Vereinigung  der  Scham- 
lefzenhautdecken und  der  Schleimhaut  des  Sinus  uro- 
genitalis  einige  Enopfnähte  angelegt;  die  Narbe  des 
Längsschnittes  war  also  eine  U-förmige  mit  Öffnung  des 
U  nach  oben  zu.  Nach  einiger  Zeit  meldete  sich  die 
Frau  abermals  und  bat  um  Amputation  des  Gliedes; 
offenbar  hinderte  dieses  eigene  Glied  die  Einführung  des 
Gliedes  des  Gatten.  Es  ist  möglich,  daß  diese  Person 
wirklich  Ovarien  beherbergt,  aber  erwiesen  ist  es  nicht 
und  von  v.  Mars  nur  vermutet.  Meines  Erachtens  würde 
das  weibliche  Geschlecht  sehr  wahrscheinlich,  wenn  es 
gelänge,  sich  davon  zu  überzeugen,  ob  jene  Angaben  von 
stattgehabter  regelmäßiger  allmonatlicher  Genitalblutung 
auf  Wahrheit  beruhen. 

36.  Messner  G^^i^  neuer  Fall  von  Hermaphrodi- 
tismus verus  unilateralis**,  Virchows  Archiv,  Berlin  1892, 
Bd.  CXXIX,  S.  203—213)  beschrieb  das  gleichzeitige 
Vorkommen  von  Menstruation  resp.  menstruellen 
Molimina  und  Ejakulation  von  Sperma.  Der  31- 
jährige  N.  N.  war  schon  mehrmals  von  Ärzten  (Fried- 
reich, Koch  in  Frankfurt  und  anderen)  untersucht 
worden  und  lebte  seit  sieben  Jahren  in  glücklicher  Ehe; 
das  einzige  Kind  starb  drei  Jahre  alt  So  lange  N.  N. 
Kind  war,  war  den  Eltern  an  dem  Körperbau  nichts 
aufgefallen,  erst  N.  N.  selbst  wurde  aufmerksam,  als  er 
bemerkte,  daß  seine  Brüste  so  groß  seien,  daß  die  Kame- 
raden ihn  deshalb  im  Bade  verlachten,  er  habe  weibliche 
Brüste.  Er  vermied  von  Stunde  an  das  gemeinsame 
Baden.  Im  19.  Jahre  kohabitierte  er  zum  ersten  Male 
mit  einer  Frau;  zu  Männern  fühlte  er  sich  nicht  ge- 
schlechtlich hingezogen,  verweilte  aber  sehr  gern  in  männ- 


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lieber  Gesellschaft  und  warde  in  dem  Männergesang^erein 
hochgeschätzt  wegen  seines  schönen  Tenors;  eigentlich 
besaß  er  jedoch  keinen  Tenor,  sondern  eine  Sopran- 
stimme. Als  Messner  ihn  zum  ersten  Male  im  Neben- 
zimmer sprechen  hörte,  war  er  sicher,  es  spreche  dort 
eine  Frau.  Vom  21.  Jahre  an  hatte  N.  N.  alle 
Monate  vier  Tage  lang  Blutungen  aus  der  Ure- 
thra. In  den  ersten  Jahren  waren  diese  Blutungen 
so  abundant,  daß  er  Badehosen  tragen  mußte^  um 
seine  Leibwäsche  nicht  zu  beschmutzen,  später 
verringerte  sich  die  Quantität  des  menstruellen 
Blutes  so,  daß  gegenwärtig  nur  einige  Tropfen 
bis  zu  einem  Theelöffel  voll  entleert  werden. 
Messner  hat  diesen  Mann  viermal  während  seiner 
Periode  beobachtet  und  schreibt  dar  aber:  „Man  sieht 
es  dem  Manne  sofort  an,  wenn  er  seine  Menstruation 
hat,  und  auf  der  Höhe  derselben  macht  er  geradezu 
den  Eindruck  eines  Schwerkranken!!!  23 — 24  Tage  im 
Monat  ist  er  vollständig  gesund,  und  da  er  von  leb- 
haftem Temperament  ist,  sehr  redselig  und  mobil,  wäh- 
rend vier  bis  fünf  Tagen  aber  in  jedem  Monat  ist  er 
deprimiert  und  verhält  sich  sehr  ruhig.  Seine  Augen 
sind  matt  und  glanzlos,  der  Gesichtsausdruck  schlaff  und 
leidend.  Man  sieht  ihm  an,  daß  er  Schmerzen  aushält. 
In  den  ersten  zwei  Tagen,  wenn  sich  die  Menstruation 
einstellt,  klagt  er  über  Unbehaglichkeit  und  ein  Gefühl 
von  Zerren  und  Abwärtsdrängen  im  Leibe  und  über 
leicht  spannende  und  stechende  Sensationen  in  den 
Brüsten.  Ein  Anschwellen  der  Brüste  war  nicht  zu  kon- 
statieren." — ^  Während  dieser  Zeit  kann  N.  N.  noch 
seinen  Unterhalt  als  Zeitungsausträger  verdienen,  aber 
schon  am  dritten  Tage  nehmen  die  Schmerzen  im  Leibe 
an  Intensität  zu,  er  beginnt  zu  schwitzen  und  verliert 
jeglichen  Appetit.  Am  vierten  Tage  werden  die  Schmerzen 
so  stark,  daß,  wie  die  Frau  aussagt,  ihr  Mann  mit  dem 


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Kopfe  gegen  die  Wand  schlägt  und  sich  wie  unzurech- 
nungsfähig gebärdet.  Bald  legt  er  sich  zu  Bett,  bald 
springt  er  auf  und  rennt  im  Zimmer  umher.  Nur  heiße, 
feuchte  Umschläge,  alle  zehn  Minuten  auf  den  Unterleib 
appliziert,  bringen  ihm  einige  Linderung.  Von  Morphium- 
einspritzungen will  N.  N.  absolut  nichts  wissen.  Die 
Akme  dieser  Art  dauert  gewöhnlich  sechs  bis  zehn  Stun- 
den und  endigt  gewöhnlich  damit,  daß  nach  Harnlassen 
sich  aus  der  Harnröhre  einige  Tropfen  Schleim  mit  Blut 
gemischt  ausscheiden.  Zugleich  tritt  Erbrechen  ein  und 
von  dem  Moment  an  bessert  sich  der  Zustand.  Die 
Schmerzen  schwinden  allmählich,  aber  der  Kranke  hat 
noch  immer  12 — 24  Stunden  lang  das  G-efühl,  als  ob 
ihm  etwas  im  Leibe  herumgehe,  wie  er  sich  ausdrückt. 
Der  ganze  Prozeß  dauert  vier  bis  fünf  Tage.  Der  sonst 
normale  Harn  erscheint  während  der  Menstruation  trübe, 
ist  mehr  braunrot  und  von  scharfem  Geruch,  dem  Schweiß- 
geruch ähnlich.  Albuminurie  wurde  nicht  konstatiert 
Während  der  Periode  sind  die  Schweiße  so  abundant,  daß 
N.  N.  naß  erscheint,  als  ob  man  ihn  mit  Wasser  be- 
gossen hätte.  In  dem  Hamsatz  findet  man  Schleimhaut- 
fetzen mit  verfetteten  Platten  und  zylindrischen  Epithel- 
zellen, roten  und  weißen  Blutkörperchen  und  Schleim. 
Das  Blut  wird  aus  der  Harnröhre  ausgeschieden  am 
Schlüsse  des  Menstruationsprozesses  nach  der  Entleerung 
des  Harnes.  Es  besteht  aus  roten  und  farblosen  Blut- 
körperchen und  Schleim.  Kopfschmerz  ist  konstant  wäh- 
rend der  beiden  letzten  Menstruationstage.  Nach  der 
Periode  erscheint  der  Geschlechtstrieb  stets  besonders 
gesteigert.  Als  Patient  einmal  zu  früh  diesdbi  Geschlechts- 
drange nach  der  Periode  Folge  gab,  kam  die  Periode 
wieder  und  er  mußte  zum  zweiten  Male  die  gleichen 
Leiden  durchmachen.  Allgemeinaussehen  weiblich,  keine 
Spur  männlicher  Gesichtsbehaarung.  Brüste  weiblich, 
groß,  hängend,  ohne  Colostrum.     Muskelkonturen  nicht 


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sichtbar,  Hände  und  Füße  klein,  weiblich,  Mons  Veneris 
mit  weiblicher  Behaarung,  Penis  hypospadiaeus  6  cm  lang, 
sub  erectione  9 — 10  cm,  zwei  Finger  dick.  Der  Sinus 
urogenitalis  öffnet  sich  3  cm  nach  hinten  und  unten  von 
der  Stelle,  wo  sonst  die  männliche  Harnröhre  mündet. 
Der  Harn  wird  in  starkem  Strahle  entleert;  Corpora 
cavemosa  penis  und  das  Corpus  cavemosum  urethrae 
existieren,  eine  Raphe  zieht  von  der  Basis  penis  hypo- 
spadiaei  zu  dem  Damme  hin,  ein  eigentliches  Scrotum 
wölbt  sich  nicht  vor,  weil  beiderseits  Descensus  incom- 
pletus der  Hoden  vorliegt;  die  Hoden  liegen  oberhalb 
des  Penisansatzes,  der  linke  Hoden  liegt  noch  im  Leisten- 
kanal, der  rechte  schon  etwas  tiefer.  Kremasterreflex 
wurde  nicht  beobachtet  Man  kann  beide  Hoden  in  die 
Bauchhöhle  hineinstoßen,  aber  sie  treten  sofort  wieder 
heraus.  Der  rechte  Hoden  erscheint  von  normaler  Größe, 
ebenso  der  Samenstrang  und  Nebenhoden ;  linkerseits  er- 
scheint die  Untersuchung  erschwert  durch  die  Lage  des 
Hodens  im  Leistenkanal.  Deshalb  will  Messner  es  nicht 
entscheiden,  ob  die  linke  Geschlechtsdrüse  nicht  doch, 
wie  Koch  in  Mainz  es  vermutete,  ein  Ovarium  ist.  Per 
rectum  tastete  man  eine  Prostata.  Messner  tastete 
rechterseits  ein  empfindliches  Gebilde  im  Becken,  welches 
er  nach  Form,  Größe  und  Lage  für  ein  Ovarium  an- 
sprechen möchte;  linkerseits  tastete  er  ein  ähnliches  Ge- 
bilde nicht,  ebensowenig  einen  rudimentären  Uterus. 
Messner  hatte  Gelegenheit,  den  Samen  dieses  Mannes 
zu  untersuchen;  er  fand  weder  den  charakteristischen 
Geruch,  noch  Spermatozoiden,  wohl  aber  zahlreiche  Rund- 
zellen, zahlreiche  glänzende,  freie  Kerne,  verfettete  Epi- 
thelien  und  große,  polygonale  Zellen  mit  zahlreichen 
Kernen  (Spermatoblasten).  Messner  vermutet,  daß  dieser 
männliche  Hypospade  auch  Ovarien  besaß,  wenigstens 
ein  Ovarium,  und  bezeichnet  deshalb  seine  Beobachtung 
als  einen  Fall  von  Hermaphroditismus  verus  unilateralis. 


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Selbstverständlich  bleibt  hier  der  Diskussion  ein  weites 
Feld  offen;  diese  Diskussion  ist  aber  nutzlos^  denn  Be- 
weise lassen  sich  nicht  beibringen;  wir  können  nur  das 
Faktum  notieren  und  müssen  uns  aller  Kommentare  ent- 
halten: Es  ist  ein  Mann  beschrieben,  der  sogar  ein 
Kind  gezeugt  hat  trotz  seiner  Mißbildung^  welcher 
allmonatlich  ex  Urethra  blutete  unter  dem  Symp- 
tomenkomplex der  Molimina  menstrualia  des 
Weibes. 

37.  Fr.  V.  Neugebauer  (Centralblatt  für  Gynäko- 
logie, 1904,  Nr.  2).  Ein  25 jähriges  Dienstmädchen  mit 
durchwegs  männlichen  sekundären  Geschlechtscharakteren, 
namentlich  sehr  starker  Gesichtsbehaarung  ^  verlangte 
Amputation  des  männlichen  hypospadischen  Gliedes  und 
Schaffung  einer  Vagina  pro  coitu.  Das  Mädchen  hielt 
sich  für  ein  Weib  und  gab  weiblichen  Geschlechtsdrang 
an.  Ich  verlangte  zunächst  einen  diagnostischen  Bauch- 
schnitt, konstatierte  Anwesenheit  eines  normalen  Uterus 
samt  Zubehör  und  normale  Ovarien,  ein  Stückchen  ward 
zur  mikroskopischen  Diagnose  exzidiert.  Amenorrhoea 
absoluta,  trotz  normal  gebauter  und  gut  entwickelter 
Ovarien!  Daraufhin  wurde  das  Membrum,  mittelfingerdick 
und  kleinfingerlang,  angeblich  nicht  erektil,  amputiert; 
dann  spaltete  ich  die  untere  Wand  des  Harnröhrenkanals 
resp.  Canalis  urogenitalis,  und  gelang  es  mir,  genau  wie 
V.  Mars  in  seinem  Falle,  die  getrennten  Öffnungen  von 
Urethra  und  Vagina  bloßzulegen.  Die  Vaginalportion 
des  Uterus  mündete  in  vaginam.  Von  einer  Erweiterung 
der  engen  Scheide  sah  ich  ab,  da  dieselbe  sich  von  selbst 
ergeben  wird,  wenn  das  Mädchen  einmal  heiratet,  ob 
aber  jemals  die  Periode  eintreten  wird,  wer  könnte  dies 
bestimmen?  Interessant  ist  die  absolute  Amenor- 
rhoe, trotz  relativ  gut  ausgebildeter  Ovarien,  Uterus 
und  viabler  Scheide.  Ohne  die  diagnostische  Köliotomie 
hätte    dies   Mädchen    unbedingt    für    einen    männlichen 


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Hypospaden  erklärt  werden  müssen,  wie  es  z.  B.  in  dem 
Falle  von  Gunckel  geschah;  ein  Mädchen  wurde  für 
«inen  Mann  mit  peniscrotaler  Hjpospadie  erklärt,  und 
nach  vielen  Jahren  erwies  die  Nekropsie,  daß  der  ver- 
meintliche Hypospade  doch  ein  Weib  war. 

38.  Obolonsky  (siehe  im  Vorhergehenden  Fall  71). 
Die  Nekropsie  eines  50jährigen  Scheinzwitters,  der  vom 
17. — 49.  Jahre  regelmäßig  menstruiert  gewesen 
sein  soll,  ergab  Hypospadiasis  peniscrotalis  und  Gegen- 
wart eines  Hodens;  Uterus  bicomis  rudimentarius,  Vagina 
nach  außen  mündend.  Der  linke  Hoden  lag  nebst  Zu- 
behör an  Stelle  eines  Ovarium,  die  rechte  Geschlechts- 
drüse sarkomatös  entartet  Da  auch  rechterseits  Vas 
deferens  vorhanden,  dürfte  das  Sarkom  aus  dem  rechten 
Hoden  hervorgegangen  sein. 

39.  Bushton  Parker  („A  menstruating  man,  a 
curious  form  of  hermaphroditism'S  Brit  Med.  Joum., 
1899,  Nr.  1988,  S.  272).  Der  24jährige  A.  B.  lebte 
schon  seit  12  Monaten  im  Konkubinat  mit  einem  Mäd- 
chen; in  dieser  ganzen  Zeit  hatte  er  sie  nur  ein  einziges 
Mal  geküßt  Später  heiratete  er  dieses  Mädchen  und 
versuchte  einmal,  eine  Woche  nach  der  Hochzeit,  nach 
zwei  Monaten  ein  zweites  Mal  den  Beischlaf  mit  seiner 
Frau.  Die  Eohabitation  gelang  jedoch  nicht,  da  A.  B. 
weder  einen  Geschlechtstrieb  empfand,  noch  eine  Erek- 
tion hatte,  geschweige  denn  eine  Ejakulation.  A.  B.  ver- 
reiste jetzt  für  vier  Monate,  verweilte  darauf  einige  Tage 
zu  Hause  ohne  Versuch  des  Beischlafes  und  verreiste 
abermals  für  längere  Zeit.  In  der  ersten  Nacht  nach 
seiner  Heimkehr  versuchte  die  Frau,  ihn  zu  einem  Bei- 
schlaf anzureizen,  jedoch  vergeblich;  der  Mann  blieb  un- 
empfindlich und  kalt  gegen  alle  Reizversuche.  Die  Frau 
bemerkte  in  der  Folge,  daß  ihr  Mann  alle  vier  Wochen 
periodische  genitale  Blutungen  habe,  welche 
jedes  Mal  drei  Tage  andauerten,  und  begann  sich 


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den  Termin  dieser  Blutungen  zu  notieren.  Ihr  Mann 
hatte  seine  Periode  am  24.  IV.,  22.  V.,  19.  VI.,  21.  VIL, 
14.  Vm.,  10.  IX.,  9.  X.,  1.  XI.  Sie  ging  alsdann  zu 
einem  Arzt,  mit  der  Frage,  ob  ihr  Gatte  ein  Mann  sei 
oder  eine  Frau,  ob  ein  Hermaphrodit  oder  geschlechts^ 
los?  Dr.  Parker  gibt  an,  kleine  Hoden  getastet  zu 
haben  im  Hodensack,  Penis,  Hoden  und  Harnröhre  sollen 
normal  gebildet  sein.  Der  Mann  gab  an,  niemals  einen 
Geschlechtstrieb  empfunden  zu  haben,  auch  von  Onanie 
nichts  zu  wissen.  Da  er  sich  zum  Beischlaf  ungeeignet 
fühlte,  so  ging  er  gern  auf  die  Scheidung  der  Ehe  ein. 
Parker  vermutet,  der  GtsXte  sei  ein  Mann,  der  einen 
Uterus  besitze.  Leider  ist  die  ganze  Beschreibung  so 
wenig  eingehend,  daß  der  Leser  sich  eigentlich  gar  kein 
Urteil  bilden  kann.  Es  ist  nicht  einmal  gesagt,  ob  eine 
genaue  Untersuchung  der  Harnröhre  stattgefunden  hat 
und  ob  die  genitale  Blutung  ex  Urethra  ausgeschieden 
wurde,  ob  eine  Untersuchung  per  rectum  ausgeführt 
wurde  usw.  Persönlich  würde  ich  hier  weibliches  Schein- 
zwittertum  für  wahrscheinlich  halten,  mit  Concretio  la- 
biorum  majorum  und  penisartiger  Bildung  der  Klitoris, 
ähnlich  wie  in  den  Fällen  von  de  Crecchio,  v.  Engel- 
hard t,  Gunckel  und  anderen. 

40.  Pech  („Auswahl  einiger  seltener  und  lehrreicher 
Fälle,  beobachtet  in  der  chirurgischen  Klinik  der  medico- 
chirurgischen  Akademie  zu  Dresden",  Dresden,  1858, 
siehe  meinen  Aufsatz  „Chirurgische  Überraschungen  auf 
dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums",  in  diesem  Jahrbuch, 
1903,  Gruppe  I,  Fall  21).  Konstatierung  männlichen 
Scheinzwittertums  mit  Hypospadiasis  peniscrotalis  und 
beiderseitigem  Leistenbruch  bei  einer  Prostituierten, 
Maria  Rosina,  dem  späteren  Gottlieb  Göttlich.  Coitus 
mit  Frauen,  aber  lieber  mit  Männern,  unter  Benützung 
der  Urethra.  Vom  16.  bis  zum  24.  Jahre  regel- 
mäßig  alle   Monate   drei  Tage   lang   diverse   Be- 


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schwerden  nach  Art  der  Molimina  menstrualia^ 
niemals  Periode,  aber  oft  Nasenbluten.  Eohabi- 
tation  lieber  mit  Männern,  obgleich  Maria  Rosina  Hoden 
besaß  und  keine  Ovarien.  Wie  sind  diese  Molimina  zu 
erklären? 

41.  Petit  (,,Malformation  de^  organes  g6nitaux^  con- 
stituant  peut-etre  un  cas  d'hermaphrodisie  vrai",  Le  Pro- 
gres  M^dical,  1902,  S.  22).  20jähriges  Individuum  mit 
männlicher  Stimme,  ohne  Bartanflug,  mit  weiblichen 
Brüsten;  Penis  hjpospadiaeus  4  cm  lang.  Scham  be- 
haart In  jedem  Leistenkanal  ein  eiförmiges  Ge- 
bilde, welches  bei  jeder  seit  dem  16.  Jahre  sich 
wiederholenden  Menstruation  druckempfindlich 
wurde.  Ein  per  rectum  getastetes  Gebilde  machte  eher 
den  Eindruck  einer  Prostata,  als  eines  Uterus.  Rechter- 
seits  eine  angeborene  Leistenhernie.  Petit  wollte  die 
Hemiotomie  ausführen,  um  das  Geschlecht  zu  bestimmen. 
In  dem  kurzen  Bericht  ist  leider  nichts  gesagt  von  einem 
Vaginalbefande,  auch  ist  nichts  über  etwaigen  Geschlechts- 
drang angegeben  und  ob  das  Individuum  als  Mann  oder 
als  Weib  erzogen  wurde. 

42.  Potier  und  Duplessy  (siehe  Virchow  und 
Hirsch,  Jahresbericht  für  1867,  Bd.  I)  beschrieben  einen 
21jährigen  Hypospaden  mit  regelmäßigen  perio- 
dischen Blutungen  aus  dem  Genitale.  (Leider  konnte 
ich  die  Originalbeschreibung  nicht  erhalten.) 

43.  Pozzi  stellte  1889  in  der  Pariser  Anthropolo- 
gischen Gesellschaft  ein  weiblich  gekleidetes  Individuum 
vor,  das  er  für  einen  männlichen  Scheinzwitter  erklärte. 
Im  14.  Jahre  Geschlechtsreife,  sieben-  bis  achtmal 
jährlich  die  Periode.  Vom  18. — 20.  Jahre  männlicher 
Geschlechtstrieb  mit  Ejakulation  unterhalb  des  Penis 
hypospadiaeus ,  nach  dem  30.  Jahre  wurde  das  Indi- 
viduum die  Maitresse  eines  Mannes,  kohabitierte  aber 
außerdem  nach  wie  vor  auch  mit  Weibern. 


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44.  V.  Säxinger  (siehe  Levy,  Hegars  „Beiträge  zur 
Geburtshilfe  und  Gynäkologie",  Leipzig,  1901,  Bd.  IV, 
Heft  3,  S.  347 — 360)  vollzog  den  Bauchschnitt  an  einem 
20jährigen,  niemals  menstruierten  Mädchen,  wel- 
ches jedoch  vom  19.  Jahre  an  alle  drei  Wochen 
vier  bis  fünf  Tage  lafig  über  Leibschmerzen  klagte 
unter  gleichzeitiger  Temperatursteigerung.  Gleich 
nach  der  Geburt  hatte  die  Hebamme  das  Geschlecht  für 
weiblich  erklärt,  weil  der  Harn  unterhalb  des  Gliedes 
ausfloß.  Vor  drei  Monaten  hatte  das  Mädchen  einen 
stetig  wachsenden  Tumor  in  der  rechten  ünterleibshälfte 
bemerkt,  sie  magerte  dabei  stark  ab  und  wurde  arbeits- 
unfähig. Allgemeinaussehen  echt  weiblich,  ohne  männ- 
liche Gesichtsbehaarung,  aber  Stimme  und  Kehlkopf 
männlich,  Andromastie.  Schambehaarnng  weiblich.  Penis 
erektil,  hypospadisch,  5,7  cm  lang.  Die  Rinne  der  ge- 
spaltenen Penisharnröhre  verbreitert  sich  nach  unten  zu 
und  reicht  bis  2  cm  vor  der  Analöffnung.  Dort  am  Ende 
dieser  Rinne  liegt  die  Hamröhrenmündung.  Praeputium 
retrahiert,  läßt  sich  nicht  soweit  nach  vorn  ziehen,  um 
die  Glans  zu  bedecken.  Man  sieht  nirgends  eine  Vaginal- 
mündung, wohl  aber  große  Schamlefzen  und  Spuren  der 
kleinen  seitlich  von  der  Hamröhrenmündung.  Jederseits 
ein  festweiches  Gebilde  vor  dem  Leistenkanal  getastet, 
das  sich  leicht  in  die  Bauchhöhle  schieben  läßt^  druck- 
empfindlich. Per  rectum  fand  der  Finger  keinen  vagina- 
artigen Schlauch  zwischen  dem  Finger  in  recto  und  dem 
Katheter  in  Urethra.  In  der  Bauchhöhle  zwei  sehr 
schmerzhafte,  große  Tumoren,  in  das  kleine  Becken 
hinabreichend.  Während  des  Hospitalaufenthaltes 
hatte  das  Mädchen  allmonatlich  die  schon  ge- 
nannten Schmerzen  und  wuchsen  die  Tumoren.  Nach 
Eröffnung  der  Bauchhöhle  zeigte  sich  eine  Exstirpation 
der  Tumoren  nicht  ausführbar;  wegen  ständiger  Blutung 
aus   einer   Stelle  wurde   eine   Druckdrainage   eingeführt 


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und  der  Leib  darüber  geschlossen.  Tod  am  nächsten 
Tage.  Die  beiden  großen  Tumoren  erwiesen  sich  als 
Kundzellensarkome  der  Geschlechtsdrüsen.  Es  fand  sich 
aber  keine  Spur  ovariellen  Gewebes  vor.  Es  fand  sich 
ein  Uterus  mit  sehr  lang  gedehntem  Collum  und  eine 
Vagina,  welche  sich,  nach  unten  zu  sehr  verengert,  dicht 
unterhalb  der  Harnröhrenmündung  nach  außen  öffnete, 
18  cm  lang.  Außerdem  fand  sich  zwischen  Vagina  und 
Mastdarm  auf  der  Höhe  des  äußeren  Muttermundes  eine 
Cyste  mit  gespannten  Wänden,  mit  Flimmerepithel  aus- 
gekleidet; ein  faustgroßer  Sack,  von  seröser  Flüssigkeit 
ausgefüllt  Tuben  vorhanden,  ebenso  die  runden  Bänder. 
Die  festweichen  Gebilde  an  den  äußeren  Mündungen  der 
Leistenkanäle  waren  Metastasen  des  Sarkoms  der  Ge- 
schlechtsdrüsen. Die  Cervix  uteri  war  ganz  eingewachsen 
in  die  malignen  Tumoren.  Hoden  wurden  nirgends  ge- 
funden. Döderlein  vermutet,  es  habe  hier  Sarkom  der 
Ovarien  vorgelegen.  Da  sich  keine  Spur  von  ovariellem 
Gewebe  nachweisen  ließ,  so  darf  man  mit  dem  gleichen 
Recht  vermuten,  daß  es  sich  um  Sarkom  in  der  Bauch- 
höhle retinierter  Hoden  gehandelt  habe  bei  einem  männ- 
lichen Hypospaden  mit  hochgradiger  Entwickelung  der 
Müllerschen  Gänge.  Falls  letztere  Vermutung  die  rich- 
tige ist,  wirft  sich  von  selbst  die  Frage  auf,  wie  soll  man 
die  allmonatlich  sich  wiederholenden  Unterleibsschmerzen 
von  je  vier-  bis  fünftägiger  Dauer  deuten?  Hingen 
diese  Schmerzen  vielleicht  einfach  von  dem  Sar- 
kom ab  oder  waren  es  Molimina  menstrualia?  Da 
das  Geschlecht  hier  ganz  entschieden  zweifelhaft  bleiben 
muß,  so  gibt  es  auch  keine  Antwort  auf  diese  Frage. 

45.  Sänger  (siehe  meine  Arbeit  „Chirurgische  Über- 
raschungen auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums", 
Gruppe  I,  Fall  26)  stellte  durch  Herniotomie  und  Ex- 
stirpation  eines  Hodens  bei  einem  23jährigen  Mädchen 
männliches  Scheinzwittertum  fest.    Amenorrhoe,  aber 


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alle  vier  Wochen  einige  Tage  lang  andauernde 
Schmerzen  im  ünterleibe,  den  Leisten  und  den 
Brüsten.  Diese  Schmerzen  wurden  in  der  letzten 
Zeit  so  starke  daß  das  Mädchen  arbeitsunfähig 
wurde.  Es  war  zunächst  die  irrtümliche  Diagnose: 
Rechtsseitige  Ovarialhernie  gestellt  worden. 

Normale  Vulva,  Scheide  in  der  Tiefe  blind  ge- 
schlossen, kein  Uterus  getastet  Links  Kryptorchismus 
vermutet. 

46.  Sänger  (siehe  ibidem)  entfernte  bei  einer  32- 
jährigen  Lehrerin  durch  linksseitige  Hemiotomie  aus  dem 
Leistenbrach  Uterus,  rechte  Tube,  Parovariumcyste  und 
Hoden,  rechts  Kryptorchismus  vermutet.  Die  Operation 
ergab  Erreur  de  sexe.  Amenorrhoe,  aber  alle  drei 
bis  vier  Wochen  regelmäßig  Unterleibsschmerzen. 
Vulva  normal  weiblich.  Vagina  endete  in  der  Tiefe  von 
7— 8  cm  blind. 

47.  E.  V.  Sal6n  („Fall  von  Hermaphroditismus  verus 
unilateralis  beim  Menschen",  Verhandlungen  der  deut- 
schen pathologischen  Geseljschaft,  Berlin,  1900)  vollzog 
1899  mit  gutem  Ausgange  eine  utero-ovarielle  Ampu- 
tation wegen  eines  Uterusmyoms,  das  cystisch  degeneriert 
war,  bei  einer  43jährigen  Frau,  welche  vom  17.  Jahre 
an  menstruierte  und  ohne  Geschlechtsgenuß  mit  Män- 
nern kohabitierte.  Unverehelichte  Person.  Allgemein- 
aussehen weiblich,  Klitoris  5  cm  lang,  große  und  kleine 
Schamlippen  normal.  Die  sehr  enge  Scheidenöffnung 
läßt  eine  Sonde  8  cm  tief  ein.  Tuben  und  Uterusliga- 
mente normal.  Links  fand  sich  ein  normaler  Eierstock, 
die  rechte  Geschlechtsdrüse  soll  eine  Zwitterdrüse  ge- 
wesen sein,  also  sowohl  Graafsche  Follikel,  als  auch 
Hodengewebe  enthalten  haben,  aber  ohne  daß  es  gelang, 
Spermatogonien  nachzuweisen.  Der  Ovarialteil  der  rechten 
Geschlechtsdrüse  ist  grobhöckerig,  von  gelber  Farbe  und 
derber   Konsistenz,   weist   Graafsche  Follikel    auf  und 


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ganz  typische  Eizellen^  in  einem  spindelreichen  Stroma 
eingebettet;  der  Hodenteil  ist  eben,  von  ziemlich  weicher 
Konsistenz,  mit  weißglänzender  Tnnica  albuginea,  Paren- 
chym  locker,  von  braungrauer  Farbe  und  von  weißen 
Bindegewebssepta  durchzogen,  weist  Tubuli  seminiferi  auf, 
die  in  einem  lockeren,  von  größeren  und  kleineren  An- 
häufungen fett-  und  pigmentreicher  Zwischenzellen  durch- 
setzten Bindegewebe  liegen.  Struktur  wie  bei  einem  ek- 
topischen  Hoden  nach  erreichter  Pubertät. 

48.  Sampson  („ Eph^m^rides  de  TAcad^mie  des 
Curieux  de  la  Nature",  1772,  erwähnt  von  Arnaud, 
l.  c,  S.  276)  beschrieb  die  1674  in  ßingwood  (Middlesex) 
geborene  Hanna  Wilde:  Im  6.  Jahre  plötzlich  Descensus 
testiculorum  bei  Hjpospadiasis  peniscrotalis  erkannt.  Va- 
gina mit  zwei  Carunculae  myrtiformes.  Bis  zum  13.  Jahre 
galt  Hanna  als  Mädchen,  dazumal  trat  ein  Penis  aus 
der  Vulva  hervor,  4  Zoll  lang.  Die  Regel  soll  im 
16.  Jahre  eingetreten  sein  und  sich  regelmäßig 
alle  vier  Wochen  wiederholt  haben.  Männliche 
Gesichtsbehaarung  und  männliche  Brüste.  Hanna  zeigte 
sich  für  Geld  in  .England  und  Holland  und  gab  an,  mit 
Männern  und  mit  Frauen  zu  kohabitieren;  sie  kohabi- 
tierte  aber  lieber  mit  Frauen,  weil  alsdann  ihr  eigenes 
Glied  sich  erigierte,  welches  schlaflF  blieb  beim  Beischlaf 
mit  Männern. 

49.  Steglehner  („De  hermaphroditorum  natura", 
Bamberg  und  Leipzig,  1817,  S.  120).  Fräulein  N.  v.  B., 
1792  geboren,  von  hohem  Wuchs  und  angenehmem 
Äußeren,  hatte  niemals  die  Periode,  aber  ziemlich 
regelmäßig  Molimina  menstrualia.  Im  23.  Jahre 
Tod  an  Phthisis  pulmonum.  Die  Mutter  verlangte  die 
Sektion,  um  zu  wissen,  warum  die  Tochter  die  Regel 
niemals  hatte,  wahrscheinlich  hatte  sie  selbst  das  Ge- 
schlecht der  Tochter  angezweifelt.  Allgemeinaussehen 
und  Scham  absolut  weiblich,  die  Vagina  endete  in  der 


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—     320     — 

Tiefe  blind.  Hymen  vorhanden,  weder  üteras  noch  Ova- 
rien gefanden,  wohl  aber  fand  Steglehn  er  za  seinem 
größten  Erstaunen  linkerseits  —  „mehercule  sane  mi- 
rum  et  inauditum!"  —  in  der  Nähe  des  Leistenkanals 
einen  Hoden,  ein  Vas  deferens  und  Nebenhoden.  Der 
Bau  dieser  Gebilde  war  normal. 

50.  Swasey  und  Mundo  konstatierten  bei  einer 
46jährigen  Köchin  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit  dem 
Anschein  einer  normalen  Vulva.  Man  tastete  weder  einen 
Uterus,  noch  Ovarien.  Niemals  Regel,  aber  perio- 
disch wiederholte  sich  eine  Flüssigkeitsausschei- 
dung aus  einer  Fistelöffnung  der  Hautdecken  in 
der  Sternalregion.  Zwei  in  den  großen  Schamlefzen 
getastete  Körper  erklärte  Swasey  für  ektopische  Ovarien, 
Mund^  für  Hoden.  Die  Frau  ging  auf  einen  diagnosti- 
schen Einschnitt  nicht  ein.  Andere  Autoren  faßten  die 
Flüssigkeitsausscheidung  als  Seborrhoe  auf. 

51.  Targett  („Two  cases  of  spurious  hermaphro- 
ditism",  Obstetrical  Society  6f  London,  Transactions 
3.  X.  1894,  Vol.  XXXVI,  S.  272).  Individuum  von  weib- 
lichem Aussehen,  aber  kleinen  Brüsten  und  männlicher 
Stimme;  Membrum  virile  3  Zoll  lang.  Das  Scrotum  fis* 
sum  enthält  in  jeder  Hälfte  eine  Geschlechtsdrüse.  Penia 
hypospadiaeus,  Hamröhrenöffnung weiblich,  regelmäßige 
Menstruation  aus  der  Vagina.  Q-eschlechtstrieb  rein 
männlich.  Das  Individuum  lebt  in  wilder  Ehe  mit  einem 
Frauenzimmer  und  kohabitiert  als  Mann.  Während  des 
Orgasmus  ergießt  sich  ex  vulva  eine  Flüssigkeit,  welche 
aber  keine  Spermatozoiden  enthält.  Targett  hält  dieses 
Individuum  für  ein  Weib  mit  beiderseitiger  Ovarial- 
ektopie. 

52.  Tortual  („Ein  als  Weib  verheirateter  Zwitter 
vor  dem  kirchlichen  Forum*^,  Vierteljahrsschrift  für  ge- 
richtliche Medizin,  Bd,  X,  18).  F.  heiratete  ein  37 jäh- 
riges Dienstmädchen,  überzeugte  sich  aber  gleich  in  der 


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—     321     — 

Hochzeitsnacht  davon,  daß  ein  Beischlaf  mit  seiner  Frau 
unmöglich  sei  wegen  Enge  der  Scham,  sofortigen  Aus- 
fließens  des  Samens,  endlich,  weil  seine  Frau  auch  ein 
männliches  Organ  besaß.  Er  entschädigte  sich  also  an 
anderen  Frauen.  Seine  Frau,  darüber  erbittert,  machte 
ihm  Szenen.  Seit  zwei  Jahren  hatte  er  seine  Frau  da- 
her verlassen.  Das  bischöfliche  Ordinariat  veranlaßte 
eine  Untersuchung  der  Frau:  Sie  hat  sich  stets  für  ein 
Weib  gehalten  und  behauptete,  vom  19.  Jahre  an 
alle  fünf  bis  sechs  Wochen  die  Periode  zuhaben. 
Allgemeinaussehen  eher  männlich.  Der  Physikus  erklärte 
sie  f&r  dauernd  untauglich  zum  Beischlaf.  Jederseits  in 
der  Schamlefze  Hoden  und  Samenstrang  getastet  Kleine 
und  große  Schamlefzen  vorhanden.  Penis  hypospadiaeus 
erektil,  '/s  Zoll  lang.  Unterhalb  der  Hamröhrenmündung 
die  enge  Mündung  einer  in  der  Tiefe  von  l^/g  Zoll  blind 
endenden  Scheide.  Es  scheint  mir  die  Angabe  der  regel- 
mäßigen Periode  unwahrscheinlich  angesichts  der  blind 
endenden  Scheide  und  des  Umstandes,  daß  nichts  er- 
wähnt wird  von  einer  Abtastung  eines  Uterus. 

53.  Unterberger  („Ein  Fall  von  Pseudohermaphro- 
ditismus  femininus  extemus  mit  Koinzidenz  eines  Ovarial- 
sarkoms,  Laparotomie '^  Monatsschrift  für  Geburtshilfe 
und  Gynäkologie,  April  1901,  S.  436).  Ein  14jähriges 
Mädchen  wurde  in  die  Klinik  gebracht  behufs  Exstir- 
pation  eines  Tumors  aus  der  Bauchhöhle.  Das  Aussehen 
der  äußeren  Genitalien  sprach  für  männliche  Hypospadie. 
Da  die  Hebamme  das  Kind  für  ein  Mädchen  erklärt 
hatte,  wurde  es  als  solches  erzogen.  Das  Kind  spielte 
wohl  mit  anderen  Mädchen,  half  aber  am  liebsten  dem 
Vater  bei  dessen  Arbeit  und  zeichnete  sich  durch  un- 
gemein kräftigen  Körperbau  aus.  Vor  acht  Monaten 
hatte  einmal  eine  achttägige  Blutung  aus  dem 
Genitale  stattgehabt,  welche  sich  aber  später 
nicht  mehr  wiederholte.     Seit  jener  Zeit  klagte  das 

Jahrbueh  VI  21 


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—     322     — 

Mädchen  über  Leibschmerzen  und  der  Tumor  im  Bauche 
wuchs  und  wurde  sehr  schmerzhaft  auf  Berührung.  Sämt- 
liche sekundären  Geschlechtscharaktere  männlich,  bis  auf 
Mangel  männlicher  Gesichtsbehaarung  —  das  Mädchen 
war  ja  erst  14  Jahre  alt  —  Schambehaarung  aber  weiblich 
und  sehr  spärlich.  Der  Tumor  überragte  den  Nabel. 
Das  Geschlechtsglied,  wie  ein  hypospadischer  Penis  aus- 
sehend, so  lang  und  dick  wie  der  Mittelfinger.  Zwischen 
den  Schamlefzen  eine  Spalte,  in  deren  Grunde  die  Ham- 
röhrenö&ung  lag;  nichts  von  einer  Yaginalmündung  zu 
sehen.  Eechterseits  Leistenhernie  mit  Darminhalt,  linker- 
seits in  der  Leistenhernie  außer  Darm  noch  ein  Gebilde 
tastbar,  welches  weder  ein  Hoden,  noch  ein  Ovarium  zu 
sein  schien.  Per  rectum  tastete  man  ein  Gebilde,  welches 
mit  dem  Tumor  in  Verbindung  stand.  Unterb erger 
sah  es  für  einen  Uterus  an,  den  Tumor  für  einen  Ovarial- 
tumor, und  machte  den  Bauchschnitt  Den  entfernten 
linksseitigen  mannskopfgroßen  Tumor  sah  er  für  ein 
Ovarialsarkom  an,  obgleich  keine  Spur  von  ovariellem 
Gewebe  mikroskopisch  nachweisbar.  Die  Blutung  vor 
acht  Monaten  sah  er  für  eine  menstruelle  an  mit 
Ausscheidung  des  Blutes  aus  der  Harnröhre,  in 
welche  vermutlich  die  Vagina  münde.  Es  fand 
sich  ein  kleiner  Uterus  mit  beiden  Tuben,  rechterseits 
fand  sich  an  der  Hinterfläche  des  Ligamentum  latum  ein 
Gebilde,  welches  Unterberger  makroskopisch  für  einen 
rudimentären  Eierstock  ansah.  Man  fand  beide  runden 
Bänder  und  glaubte  Unterberger  unterhalb  der  Cervix 
uteri  gleichsam  eine  Gewebsduplikatur  zu  tasten,  in  der 
er  eine  Vagina  vermutete,  welche  entweder  in  urethram 
münden  sollte  oder  mit  der  Urethra  zugleich  in  den 
Sinus  urogenitalis.  Meines  Erachtens  beruht  die  Ge- 
schlechtsdiagnose hier  nur  auf  Vermutungen,  ebensowohl 
kann  man  den  Tumor  für  eine  Kryptorchis  sarcomatosa 
ansehen.    Unterberger  hätte  angesichts  der  bösartigen 


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—     323     — 

Degeneration  der  einen  Geschlechtsdrüse  unbedingt  auch 
die  andere  entfernen  sollen.  Das  Mikroskop  hätte  dann 
vielleicht  Anfechluß  über  das  Geschlecht  gegeben.  Ich 
erwähne  diesen  Fall  hauptsächlich  wegen  jener  Blutung 
ans  dem  Genitale,  deren  Bedeutung  absolut  unklar  bleibt. 

54.  Vaughan  (siehe  im  Vorhergehenden  Fall  45). 
Ein  hypospadischer  Neger  mit  nur  teilweise  gespaltenem 
Scrotum,  21  Jahre  alt,  hatte  alle  Monate  eine  drei- 
tägige Blutung  aus  der  Harnröhrenmündung.  Bei 
genauerer  Untersuchung  ergab  sich,  daß  die  vermeint- 
liche HarnröhrenmünduDg  die  Mündung  des  Oanalis  uro- 
genitalis  war;  es  gelang  nämlich,  mit  einer  Sonde  von 
diesem  Kanäle  aus  in  einen  zwischen  Mastdarm  und 
Blase  gelegenen  Sack  zu  dringen,  in  einen  Uterus.  In 
der  rechten  Hälfte  des  nur  oben  gespaltenen  Scrotum 
zwei  Gebilde  tastbar,  deren  oberes  allmonatlich  an- 
schwoll und  druckempfindlich  wurde.  Kleine  Scham- 
lippen vorhanden.  Geschlechtsdrang  männlich.  Dürfte 
dieser  angebliche  Hypospade  nicht  eher  ein  Weib  sein 
mit  inguinolabialer  Ektopie  eines  Ovarium?  Dies  er- 
scheint am  wahrscheinlichsten. 

55.  Virchow  (siehe  im  Vorhergehenden  Fall  96). 
Die  berühmt  gewordene  Katharina,  der  spätere  Karl 
Hohmann  besaß,  wie  zweifellos  festgestellt  ist,  eigenes 
Sperma,  trotzdem  fand  bei  ihr  periodisch  alle  drei  bis 
vier  Wochen  unter  charakteristischen  Beschwer- 
den und  mit  Colostrumgegenwart  in  den  Brüsten 
vom  20.  bis  zum  80.  Jahre  regelmäßig,  dann  bis  zum 
42.  J^hre  unregelmäßig  eine  zweitägige  Blutausscheidung 
aus  den  Genitalien  statt.  Ahlfeld  vermutete,  es  handle 
sich  um  Betrug,  sie  habe  stets  einige  Tage  vor  der  an- 
geblichen Genitalblutung  Nasenbluten  gehabt  und  sich 
mit  diesem  Blute  die  Genitalien  beschmiert  Diese  Skep- 
sis scheint  etwas  zu  weit  zu  gehen,  denn  unter  den  vielen 
Forschem,  welche  Katharina  untersucht  haben,  sind  auch 

21» 


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—     324     — 

solche,  welche  mit  dem  Katheter  das  Blut  ans  der  schein- 
baren Hamröhrenmündung  entleert  haben,  welche  die 
Ausmündang  des  Canalis  nrogenitalis  war.  Ich  sehe 
keinen  Grund,  die  Behauptung  der  diesbezüglichen 
Forscher,  die  Angabe  der  periodischen  Genitalblutungen 
Hohmanns  beruhe  auf  strikter  Wahrheit,  anzuzweifeln. 

66.  Walker  („A  case  of  Pseudohermaphroditism", 
New  York  Med,  Journal,  Vol.  LX,  S.  434;  siehe  auch 
Denver  Med.  Times,  1894,  Vol.  XIV,  S.  139;  desgleichen 
Denver  Colorado  Med.  Soc,  1894,  S.  362,  und  Referat: 
Frommeis  Jahresbericht  für  1894,  8.  878).  Wahrschein- 
lich männlicher  Hypospade,  jederseits  in  dem  gespaltenen 
Scrotum  Gebilde  getastet,  die  für  Hoden  und  Nebenhoden 
angesprochen  werden.  Rudimentäre  Vulva  mit  kleinen 
Schamlippen.  Brüste  weiblich,  außerdem  besteht  eine 
genau  vierwöchentlich  auftretende  Epistaxis, 
auch  soll  früher  zeitweilig  der  Harn  blutig  ge- 
wesen sein.  Im  ganzen  hat  der  Körper  mehr  männ- 
liche Form  und  das  Individuum  männlichen  Geschlechts- 
drang. 

57.  Walther  (Bulletins  et  M^moires  de  la  Soci6t4 
de  Chirurgie  de  Paris,  14.  X.  1902,  Tome  XXVDI, 
Nr.  31,  S.  938,  u.  Nr.  32,  S.  972).  Der  24jährige  Sattler 
X.  X.  trat  am  3.  IX.  1902  in  das  Hospital  de  la  Pitiö 
ein,  mit  dem  Verlangen  einer  plastischen  Operation  be- 
hufs Behebung  der  Verunstaltung  seiner  Genitalien.  Nach 
der  Geburt  war  sein  Geschlecht  als  weiblich  bestimmt 
worden,  später  jedoch  wurde  auf  das  Verlangen  eines 
Arztes  hin  das  Geschlecht  für  männlich  erklärt.  Die 
Scham  sah  aus  wie  bei  peniscrotaler  Hypospadie  oder 
aber  wie  eine  weibliche  Scham  bei  Klitorishypertrophie. 
Das  scheinbar  gespaltene  Scrotum  erwies  sich  leer,  aber 
in  der  Mündung  des  rechten  Leistenkanals  tastete  man 
ein  Gebilde  von  der  Größe  eines  kleinen  Eies,  druck- 
empfindlich, an  eine  Geschlechtsdrüse  erinnernd.     Eine 


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—     325     — 

ähnliche  Hernie  mit  ähnlichem  Inhalt  fand  sich  auch 
linkerseits.  Per  rectum  tastete  man  keinerlei  charakte- 
ristische Gebilde.  Das  allgemeine  Aussehen  war  ein 
zwischen  männlichem  und  weiblichem  in  der  Mitte 
stehendes,  also  weder  ausgesprochen  männlich,  noch  aus- 
gesprochen weiblich.  Der  Mensch  verriet  aber  einen  ge- 
wissen Grad  von  Infantilismus  in  seiner  Entwickelung; 
trotz  seiner  24  Jahre  besaß  er  keine  Spur  eines  Bart- 
anäuges.  Becken,  und  Brüste  weiblich.  Stimme  indiffe- 
rent. Harnröhrenöfihung  anscheinend  weiblich.  Seit 
dem  16.  Jahre  entleeren  sich  allmonatlich  un- 
gefähr 150  ccm  Blut  aus  der  anscheinenden  Harn- 
röhrenöffnung. Diese  allmonatliche  Blutung 
dauert  stets  zwei  bis  drei  Tage.  Gleichzeitig 
schwellen  die  Leistengegenden  an,  die  in  Leisten- 
hernien angeblich  vorhandenen  Ovarien.  Trotz 
dieser  anscheinenden  menstruellen  Blutungen 
fühlt  sich  das  Individuum  als  Mann  und  verrät 
absolut  männlichen  Geschlechtstrieb.  EiS  treten 
jedesmal,  wenn  sich  dieses  Individuum  in  weiblicher  Ge- 
sellschaft befindet,  sehr  energische  Erektionen  dee  Penis 
ein.  Penis  hypospadiaeus.  Angeblich  soll  nur  die  Ab- 
wärtskrümmung des  erigierten  Gliedes  die  Ursache  sein, 
weshalb  ein  Coitus  mit  einer  Frau  bisher  nicht  versucht 
wurde.  Während  der  Erektionen  erfolgte  eine  Ejaku- 
lation, in  dem  Ejakulat  konnte  jedoch  Legnail  Lava- 
stine  keine  Spermatozoen  nachweisen.  Einige  Tage  nach 
der  Vorstellung  dieses  Individuums  in  der  Pariser  Ärzt- 
lichen Gesellschaft  vollzog  Walther  die  beiderseitige 
Hemiotomie:  Er  fand  in  der  rechtsseitigen  Hernie  einen 
atrophischen  Eierstock  und  eine  Tube,  welche  er  in  die 
Bauchhöhle  hineinschob;  linkerseits  jedoch  trug  er  den 
Bruchinhalt  ab:  der  linksseitige  Bruch  enthielt  den  mitt- 
leren Anteil  der  linken  Tube,  deren  uteriner  und  peri- 
pherer Teil  in  der  Bauchhöhle  lagen.     Sactosalpinx  mit 


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—     826     — 

dem  sklerotischen  Ovarium  verbacken^  das  cystisch  ent- 
artet und  mit  dem  Netz  verbacken  war.  Die  Entfernung 
der  degenerierten  linksseitigen  Adnexa  samt  Netz  darch 
die  Wunde  des  Leistenschnittes  war  schwer.  Walther 
fügte  den  Bauchschnitt  hinzu,  um  sich  zu  überzeugen^ 
daß  bei  der  Operation  nichts  versäumt  war  behufe  Blut- 
stillung an  den  vier  Amputationsstümpfen  des  Omentum 
und  den  zwei  Amputationsstümpfen  der  Tube  und  des 
linksseitigen  Ovarium.  Er  fand  bei  dieser  Gelegenheit 
in  cavo  abdominis  einen  Uterus,  welcher  klein  erschien. 
Dieses  Individuum  war  also,  trotzdem  aller  Anschein  für 
männliches  Geschlecht  sprach,  ein  Weib.  Vor  Ausfüh- 
rung dieser  Operation  hatten  sowohl  Lucas-Ghampion- 
niöre  als  auch  F61izet  in  der  Diskussion  ihre  Ansicht 
dahin  geäußert,  daß  es  ein  Mann  seL 

58.  B.  Will  („Ein  Fall  von  Hermaphroditismus 
masculinus'S  In.-Diss.,  Greifswald,  1896)  beschrieb  eine 
beiderseitige  Hemiotomie  bei  der  unverehelichten  54- 
jährigen  Kristine  W.,  einem  männlichen  Hypospaden. 
Bei  der  Operation  wurden  beide  Hoden  entfernt  Nie- 
mals Periode  und  doch  gleichwohl  vom  17.  bis 
zum  40.  Jahre  allmonatlich  periodische  Schmerzen 
ziehenden  Charakters  im  Unterleibe.  Kristine  be- 
saß eine  schon  in  der  Höhe  von  1  ^2  Zoll  blind  endende 
Scheide,  kohabitierte  nur  mit  Männern,  und  zwar  benutzte 
sie  hierfür  die  Urethra,  welche  jetzt  für  den  zweiten 
Finger  eingängig  war.  Den  Beischlaf  mit  Männern  voll- 
zog sie  ohne  jegliche  Libido,  empfand  selbst  männlichen 
Geschlechtsdrang,  hat  aber  niemals  einen  Beischlaf  mit 
einem  Weibe  versucht. 


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Vorläufige  Mitteilungen 


über 


die  Darstellung  eines  Schemas 


der 


Geschlechtsdifferenzierungen. 


Von 

L.  S.  A.  M.  T.  BOmer, 

med.  doctB.  Arzt,  Amsterdam. 


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ISs  ist  zweifellos  von  Bedeutung  für  wissenschaft- 
liche Forschungen,  die  möglichen  und  existierenden  Diffe- 
renzierungen zwischen  Vollmann  und  Vollweib,  d.  h.  die 
sexuellen  Zwischenstufen,  übersichtlich  anzuordnen. 

Wir  haben  versucht,  in  folgenden  Tabellen  ein 
Schema  zu  entwerfen,  das  vielleicht  wissenschaftlich  ver- 
wendbar ist. 

Um  Mißverständnissen  vorzubeugen,  haben  wir  völlig 
neu  gebildete  Wörter  gebraucht,  welche,  wie  wir  glauben, 
die  Begriffe  genau  bezeichnen« 

Nach  unserer  Ansicht  kann  man  die  Geschlechter 
nur  genau  bestinunen,  wenn  man  bei  jedem  Individuum 
betrachtet: 

I.  Geschlechtsdrüse, 
n.  Körperbau, 

m.  Psychische  Eigenschaften, 
IV.  Sichtung  des  Geschlechtstriebes. 
Um  bei  der  absoluten  Geschlechtsbestimmung  mög- 
lichst wenig  Fehler  zu  machen,  wird  man  mit  derselben 
bis  nach  der  Pubertät  zu  warten  haben. 

Wir  haben  das  Leben  in  drei  Perioden  geteilt: 
L  Prohebetisch  (abgeleitet  von  nQÖ  =  vor  und  ^ßt] 

=  Reife),  bis  zu  15  Jahren, 
II.  hebetisch        (abgeleitet   von   ^ßTJ),   von    15  bis 

20  Jahren, 
ni.  methebetisch  (abgeleitet   von  fjLira  =  nach  und 
fißf]),  nach  20  Jahren  i) 

^)  Diese  Alterszahlen  gelten  als  Durchschnittszahlen  nnd 
sind  natürlich  cum  grano  salis  zu  verstehen. 


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—     330     — 

Wenn  die  Art  der  Geschlechtsdrüse  genau  schon  in 
der  prohebetischen  Periode  zu  bestimmen  ist,  so  beginnt 
der  Körper  doch  erst  in  der  hebetischen  sich  zu  diffe- 
renzieren, und  die  Richtung  des  sogenannten  Geschlechts- 
triebes ist  erst  in  der  methebetischen  Periode,  wenn  wir 
so  sagen  dürfen,  konsolidiert. 

Nach  der  Beschaffenheit  der  Geschlechtsdrüsen 
können  wir  die  Menschen  in  zwei  große  Gruppen  ein- 
teilen. (Die  eigentlichen  Hermaphroditen  beachten  wir 
hier  nicht) 

I.  Orchiphore  (abgeleitet  von  ö^/ig  =  Hoden  und 
(pigo)  =  ich  trage), 

II.  Metraphore  (abgeleitet  von  fAi^rga  =  Gebärmutter, 
und  (piQooy 

Der  Körper  kann  bei  einem  vollkommen  geschlechts- 
reifen  Menschen  sich  zeigen  als: 

A.  Arrenop        (abgeleitet     von    äggevconög  =  mit 

männlichem  Äußeren), 

B.  Diphyetisch  (abgeleitet   von   Si^w^g  =  von  dop- 

pelter Natur), 

C.  Thelyphan     (abgeleitet    von    O-TjXvcpavi^g  =  mit 

weiblichem  Äußeren). 

Die  ausgesprochene  Form  des  thelyphanen  Orchi- 
phoren  ist  der  männliche  Scheinzwitter,  des  arrenopen 
Metraphoren  aber  der  weibliche  Scheinzwitter.  Der 
absolute  Vollmann  ist  also  der  arrenope  Orchiphor 
xa&*  ^oxvvj  das  absolute  Vollweib  der  thelyphane  Metra- 
phor. 

Die  Mehrzahl  der  Menschen  wird  aber  zu  den 
Diphyetischen  gerechnet  werden  müssen. 

Diese  Diphyetischen  lassen  sich  nun  wieder  in  fol- 
gende Typen  teilen: 


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—     331     — 

AA.  Protomorph  (abgeleitet  von  7tQ(QTog  ^  erster 
und  fJLOQff^  =  Gestalt),  d.  h.  ein 
Körper,  der  in  der  äußeren  Form 
im  großen  und  ganzen  überein- 
stimmt mit  dem  Typus  der  Ge- 
schlechtsdrüse, obwohl  die  Mino- 
rität der  Körperteile  dem  Typus 
der  anderen  Geschlechtsdrüse 
zukommen  würde. 

BB.  Isomorph  (abgeleitet  von  laog  =  gleich  und 

lioQ(f'fi)i  d.  h.  ein  Körper,  den 
man  mit  Außerachtlassung  der 
Geschlechtsteile  zum  einen  wie 
zum  anderen  Typus  rechnen 
könnte. 

CG.  Deuteromorph  (abgeleitet  von  SevrtQog  =  der 
zweite  und  fAOQqjtj),  d.  L  ein 
Körper,  dessen  Geschlechtsdrüsen 
den  einen  Typus,  dessen  übrige 
Körperteile  aber  in  Maj  orität  oder 
ganz  den  anderen  Typus  haben. 

Das  schönste  Beispiel  der  Isomorphie  bietet  jeder 
menschliche  Körper  in  der  prohebetischen  Periode.  Die 
meisten  Dionysos-  und  Apollostatuen  verkörpern  die  Iso- 
morphie der  hebetischen  Periode. 

Von  Protomorphie  in  der  prohebetischen  Periode 
könnte  man  vielleicht  sprechen,  wenn  z.  B.  ein  „Knabe" 
(also  ein  prohebetischer  Orchiphor)  durch  angestrengte 
Gymnastikübung  eine  für  sein  Alter  zu  stark  ausge- 
sprochene Muskulatur  besäße;  doch  wird  man  ernstlich 
diesen  Fall  kaum  erwähnen  müssen. 

Protomorph  in  der  hebetischen  und  methebetischen 
Periode  sind  die  meisten  griechischen  Jünglingsstatuen. 
—   Protomorph  sind  femer  alle  Gynäkomasten,  welche, 


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—     332     — 

mit  Ausnahme  der  Brastdrüse,  einen  vollständig  gut  ge- 
bildeten „männlichen"  Körper  haben. 

Deuteromorph,  d.  h.  fast  vollständig  weiblich,  ist  der 
junge  Mann  auf  Figur  11  und  III  zu  nennen^  der  an 
Becken,  Brust  und  Kehlkopf  weibliches  Gepräge,  auch 
vöUige  Bartlosigkeit  aufweist.^) 

Noch  stärker  tritt  die  Deuteromorphie  in  Figur  I 
hervor;  hier  ist  der  Penis  das  einzige  Zeichen  der  Männ- 
lichkeit Wir  würden  den  Abgebildeten  als  thelyphanen 
Orchiphoren  bezeichnen,  wenn  das  Glied  weniger  deut- 
lich und  weniger  normal  reproduziert  wäre. 

In  ausgesprochenem  Maße  protomorph  ist  der  Typus, 
dessen  Schulter-  und  Beckengürtel  Dr.  Hirschfeld  in  seinem 
„ümischen  Menschen'^  (Bd.  V  dieses  Jahrbuchs)  beschreibt 

Arrenop  ist  er  noch  nicht  da  seine  Schambehaarung 
nicht  männlich  zu  nennen  ist.  —  Ich  hoffe  dieses  Jahr 
noch  eine  sozusagen  vollständige  Skala  dieser  Nuancen 
der  Körperform  zusammenstellen  zu  können.  Vorläufig 
mögen  die  eben  genannten  Bilder  meine  Auffassung  ver- 
ständlicher machen. 

In  Tabelle  II  haben  wir  die  Variationen  zusammen- 
gestellt, die  uns  bei  der  Untersuchung  der  Körperformen 
in  den  verschiedenen  Lebensperioden  entgegentreten. 

Die  Zusammenstellung  wird  wohl  für  sich  selber 
sprechen.  Die  dreizehn  vorkommenden  Typen  haben  wir 
wieder  in  zwei  Gruppen  geteilt,  deren  Grundtypus  proto- 
morph oder  deuteromorph  ist,  wenn  wir  die  vollkommen 
entwickelte  Form  als  Kriterium  nehmen.     Selbstredend 


^)  Der  Herausgeber  hat  gemeint,  aus  RückBlcht  anf  die  allem 
Anschein  nach  schou  auf  die  äußerste  Spitze  getriebene  Prüderie 
der  Deutschen,  die  Figuren II  und  lU  nicht  veröffentlichen  zu  dürfen. 
Es  ist  ein  charakteristisches  Zeichen,  daß  ernste  wissenschaftliche 
Forschung  bereits  darauf  verzichten  muß,  die  unverhüllten  Formen 
des  Menschenleibes  zum  Zweck  der  Aufklärung  und  Belehrung 
im  Bilde  vorzuführen.     (L.  S.  A.  M.  von  Bömer.) 


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—     338     — 

wird  dann  beim  Orchiphor  wie  beim  Metraphor  der  proto- 
morphe  Typus   mehr  getroffen,    als  der  deuteromorphe. 

Der  wirklich  normale  Mann  wird  also  dargestellt 
durch  Gruppe  I — III. 

Der  vollständige  männliche  Scheinzwitter  (ein  Indi- 
viduum, dessen  Körper  mit  Ausnahme  der  Gteschlechts- 
drilse  weiblich  gebildet  ist)  fällt  unter  Gruppe  XI — XTTL 

Gruppe  IV  hat  zwar  als  Endform  einen  Arrenopen, 
aber  da  in  der  hebetischen  Periode  ein  deuteromorphisches 
Stadium  durchgemacht  wurde,  kann  man  die  Repräsen- 
tanten dieser  Gruppe  nicht  mehr  „normale  Männer**  nennen. 

Grupe  IV — X  bilden  die  körperlich-sexuellen  Zwi- 
schenstufen mit  einer  ungemein  fein  nuancierten  Auf- 
einanderfolge. 

Bei  den  Protomorphen  wie  bei  den  Deuteromorphen 
ist  speziell  die  Bildung  der  äußeren  Geschlechtsteile  zu 
beachten. 

Es  gibt  doch  Scheinzwitter,  die  mit  Ausnahme  der 
äußeren  Geschlechtsteile  völlig  arrenop  sind;  diese  können 
also  nicht  zu  den  Thelyphanen  gerechnet  werden;  wir 
müssen  sie  unter  die  Protomorphen  reihen.  Sie  stehen 
also  auf  der  gleichen  Linie  wie  der  Orchiphor,  der  nur 
einen  thelyphanen  Kehlkopf  hat. 

Wenn  wir  nun  die  psychischen  Eigenschaften  der 
Individuen  näher  betrachten,  erhalten  wir  eine  sehr  be- 
trächtliche Anzahl  von  Variationen,  die  man  (sit  venia 
verbo!)  geistig-sexuelle  Zwischenstufen  nennen  könnte. 

Die  absolut  „männliche"  Psyche  (Psyche  im  wei- 
testen Sinne:  alle  nicht  direkt  körperlichen  Eigenschaften) 
nennen  wir: 

1.  Epandrisch  (abgeleitet  von  ÜnavSoog  =  mannhaft). 
Die  absolut  „weibUche"  Psyche  aber: 

8.  Gynäkophron  (abgeleitet  von  yvvaixötpQwv  =  mit 
weiblichem  Gemüt). 


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—     834     — 

Dazwischen  befindet  sich  wieder: 

2.  Der  Diphron  (abgeleitet  von  Si  =  zwei  und  (pQoov). 

Beim  Diphron  unterscheiden  wir  aber  wieder; 

AA.  Gynandrophron  (abgeleitet  von  yvvavSgog  = 

Weibmann  und  (pQ(Dv). 

BB.  Isophron  (abgeleitet  von  Yaoq  =  gleich 

und  (pQ(Dv), 

CG.  Androgynäkophron    (abgeleitet von  e^i/^^^ö'y wog  == 

Mannweib  und  (pQcov). 

Auch  hier  werden  wir  die  meisten  Menschen  zum 
diphronen  Typus  rechnen. 

Der  von  Geburt  an  körperlich  „absolut  männlich" 
geartete  Meusch  ist  ja  wie  der  geistig  ^^absolut  männ- 
liche", wenn  nicht  einfach  eine  Abstraktion,  so  doch  ein 
Unikum. 

In  Tabelle  III  ersehen  wir  die  verschiedenen  Kom- 
binationen, welche  möglich  sind,  wenn  man  die  Psyche 
in  den  verschiedenen  Lebensaltern  untersucht  —  Wir 
finden  aber  fünf  Gruppen,  von  denen  jede  wieder  in  fünf- 
undzwanzig Untergruppen  zerfällt.  Höchst  unwahrschein- 
lich sind,  wie  sofort  einleuchtet,  in  I  die  Untergruppen 
21 — 25;  in  V  die  Gruppe  1 — 5.  Diese  psychische  Ta- 
belle ist  so  aufzufassen,  daß  jeder  der  dreizehn  körper- 
lichen Typen  von  Tabelle  II  psychisch  zu  einer  dieser 
Untergruppen  gehören  kann,  sodaß  im  ganzen  beim  Orchi- 
phor  13  X  125  =  1625  Nuancen  vorkommen  können,  und 
zwar  in  allgemeinen  Typen. 

Wir  werden  nun  nach  dem  Vorhergehenden  den 
„normalen  Mann"  klassifizieren  zu:  körperlich  I,  11  oder 
III;   psychisch  aber  zu:   I,  1,  2,  3,  6,  7,  8,  11,   12,  13. 

Der  absolut  „Eflfeminierte"  gehört  unter:  körper- 
lich X;  psychisch  V,  23,  24,  25,  18,  19,  20,  14,  15,  16. 


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—     836     — 

Zwischen  diesen  beiden  „Endpunkten**  der  Orchi- 
phoren  finden  sich  die  übrigen  Zwisdienstufen. 

Tabelle  IV  zeigt  uns  die  Kombinationen,  welche  im 
Eonjunktionstrieb  auftreten.  —  Eonjunktionstrieb  nennen 
wir  den  jedem  Menschen  eingeborenen  Trieb,  sich  mit 
dem  Objekte^  welches  in  ihm  eine  Lustempfindung  aus- 
löst, zu  vereinigen.  Dieser  Trieb  liegt  den  sozialen,  wie 
auch  den  sogenannten  sexuellen  Vereinigungen  der  Men- 
schen zu  Grunde. 

Der  Konjunktionstrieb  kann  nun  gerichtet  sein  auf 
einen  der  beiden  Grundtypen  der  Menschen  oder  auf 
beide. 

Die  Ausdrücke,  welche  wir  zur  Bezeichnung  dieser 
Triebrichtungen  gewählt  haben,  lauten: 

1.  Heterophil  (abgeleitet    von   Hbqo^  =  der   andere 

und  (piX§iv  =  lieben). 

2.  Amphiphil  (abgeleitet    von   äpitfi  =  nach   beiden 

Seiten  und  (pileiv), 

welche  Art  wieder  zerfällt  in: 

a)  Deuterophil     (abgeleitet  von  SevTB^og  ==  der  an- 

dere von  zweien  und  tpikBiv). 

b)  Hekaterophil  (abgeleitet  von  hearsgog  =  jeder  von 

zweien). 

c)  Protophil  (abgeleitet  von  ngcöroq  =  der  erste). 

3.  Homoiophil      (abgeleitet  von  Öfioiog  =  der  gleiche 

und  (fiXetv). 

Wir  haben  diese  Ausdrücke  von  (piXetv  abgeleitet, 
nicht  von  koäv,  da  in  diesem  allgemeinen  Begriffe  von 
Leidenschaft  oder  Sexualität  nicht  die  Rede  ist. 

Dem  Konjunktionstrieb  (abgeleitet  von  Conjunctio, 
Vereinigung  in  jeder  Beziehung)  können  wir  nun  folgende 
Qualitäten  zuschreiben: 


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—     386     — 

1.  somatisch^ 

2.  psychisch, 

3.  pterophyetisch, 

4.  apterotisch. 

Um  die  beiden  letzten  Ausdrücke  zu  verstehen,  lese 
man  folgende  Stellen  ans  Piatons  Phädrus  nach,  E^p.  84 
bis  87.  Ich  gebe  die  deutsche  Übersetzung  von  Prantl 
(Langenscheidtsche  Bibliothek). 

„84.  Sowie  wir  im  Anfange  dieser  von  uns  erzählten 
Kunde  dreifach  eine  jede  Seele  teilten,  nämlich  in  irgend 
zwei  Gestalten  in  der  Form  von  Eossen  und  in  die  des 
Wagenlenkers  als  dritte  Gestalt^  so  möge  auch  jetzt  uns 
all  dieses  bestehen  bleiben.  Von  den  Rossen  aber  nun 
ist  das  eine,  sagten  wir,  gut,  das  andere  nicht;  worin 
aber  die  Vortrefflichkeit  des  guten  oder  die  Schlechtig- 
keit des  schlechten  bestehe,  haben  wir  nicht  auseinander- 
gesetzt, sondern  müssen  dies  jetzt  erst  angeben.  Das 
eine  der  beiden  demnach,  welches  an  der  schöneren  Seite 
sich  befindet,  ist  von  Gestalt  gerade  und  wohlgegliedert, 
hochnackig,  von  gebogener  Nase,  weiß  von  Farbe,  schwarz- 
äugig, ehrliebend  mit  Besonnenheit  und  Scham,  ein  Ge- 
fährte der  wahren  Meinung,  ohne  von  einem  Stachel  ge- 
trieben zu  sein,  wird  es  bloß  durch  Zuruf  und  Vernunft 
gelenkt;  das  andere  aber  hinwiederum  ist  krumm,  plump, 
unordentlich  zusammengestellt,  starknackig,  kurzhalsig, 
stumpfnasig,  schwarz  von  Farbe,  katzenäugig,  blutunter- 
laufen, ein  Gefährte  des  Frevels  und  Übermutes,  an  den 
Ohren  zottig,  taub,  der  Peitsche  samt  dem  Stachel  mit 
Mühe  gehorchend.  85.  Wenn  aber  also  der  Wagenlenker 
beim  Anblick  der  zur  Liebe  reizenden  Erscheinung  in 
seiner  ganzen  Seele  vermittelst  der  sinnlichen  Wahrneh- 
mung durchwärmt  von  den  Stacheln  des  Kitzels  und  der 
Sehnsucht  erfüllt  ist,  so  hält  jenes  der  zwei  Bosse, 
welches  im  Gehorsam  gegen  den  Wagenlenker  stets  und 


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—     387     — 

auch  jetzt  von  Scham  beherrscht  wird,  sich  selbst  zu- 
rück, daß  es  nicht  auf  den  Geliebten  springe;  das  an- 
dere aber  kehrt  sich  weder  an  den  Stachel  des  Wagen- 
lenkers mehr,  noch  an  die  Peitsche,  sondern  in  einem 
Satze  stürmt  es  mit  Gewalt  fort,  und  indem  es  sowohl 
seinem  Gespanngenossen  als  auch  dem  Wagenlenker  alles 
Mögliche  zu  schaffen  macht,  nötigt  es  sie,  zu  dem  Lieb- 
lingsknaben hinzugehen  und  eine  Erwähnung  zu  machen 
von  der  Gunst  des  Lieblingsgenossen.  Jene  beiden  aber 
streben  anfangs  entrüstet  entgegen,  da  sie  zu  Argem  und 
Gesetzwidrigem  gezwungen  werden,  zuletzt  aber,  wenn  kein 
Ende  des  Unheils  ist,  lassen  sie  sich  leiten  und  gehen 
mit,  indem  sie  nachgeben  und  es  zugestehen,  das  Ver- 
langte zu  tun.  Und  ihm  nun  nähern  sie  sich  und  sehen 
das  blitzende  Antlitz  des  Lieblingsknaben,  und  sowie  der 
Wagenlenker  es  gesehen,  so  wird  seine  Erinnerung  zur 
Natur  des  Schönen  geführt,  und  er  erblickt  dieselbe 
wieder,  wie  sie  zusammen  mit  der  Besonnenheit  auf  einer 
heiligen  Schwelle  ruhig  steht;  sowie  er  sie  aber  erblickt 
hat,  schrickt  er  zusammen  und  von  heiliger  Scheu  er- 
griffen sinkt  er  rückwärts  nieder  und  wird  dabei  zugleich 
genötigt,  die  Zügel  so  heftig  zurückzuziehen,  daS  beide 
Eosse  sich  auf  die  Hüften  setzen,  das  eine  freiwillig,  weil 
es  nicht  widerstrebt  hatte,  das  frevelhafte  aber  sehr  un- 
freiwillig; nachdem  aber  hierdurch  die  beiden  weiter  hin- 
weggekommen waren,  benetzt  das  eine  vor  Scham  und 
Entsetzen  die  ganze  Seele  mit  Schweiß,  das  andere  aber, 
nachdem  der  Schmerz  nachgelassen,  welchen  es  durch 
den  Zügel  und  den  F'all  gehabt  hatte,  atmet  kaum  wieder 
auf,  als  es  sogleich  im  Zorn  zu  schmähen  beginnt,  den 
Wagenlenker  und  den  Gespanngeuossen  arg  scheltend, 
daß  sie  aus  Feigheit  und  Unmännlichkeit  ihrem  Platze 
und  ihrem  Versprechen  ungetreu  geworden,  und  indem 
es  sie  noch  einmal  zu  zwingen  versucht,  wider  ihren 
Willen  hinzugehen,  gibt  es  mit  Mühe  ihren  Bitten  nach, 

Jahrbuch  VI.  22 


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—     338     — 

dies  auf  ein  anderes  Mal  zu  verschieben.  Wenn  aber 
der  so  übereingekommene  Zeitpunkt  eingetreten  ist,  so 
erinnert  es  jene,  da  dieselben  sich  stellen,  als  hätten  sie 
es  vergessen,  daran,  und  indem  es  gewaltig  sich  geberdet, 
wiehert  und  sie  mit  sich  fortzieht,  zwingt  es  sie,  dem 
Lieblingsknaben  sich  vrieder  zu  nähern  zum  Behufe  der 
nämlichen  Reden;  und  sobald  sie  in  der  Nähe  sind^ 
nimmt  es  den  Kopf  zwischen  die  Beine,  streckt  den 
Schweif  aus,  beißt  in  den  Zügel  und  zieht  sie  schamlos 
mit  sich  fort;  der  Wagenlenker  aber,  welchem  noch  in 
höherem  Grade  das  Vorige  widerfährt,  stürzt  gleichsam 
wie  von  einer  Schranke  rücklings,  und  indem  er  in  noch 
höherem  Grade  den  Zügel  des  frevelhaften  Rosses  mit 
Gewalt  aus  den  Zähnen  desselben  nach  rückwärts  reißt, 
macht  er  die  schmähsüchtige  Zunge  und  die  Backen  des- 
selben blutig  und,  die  Schenkel  und  Hüften  zur  Erde 
niederstoßend,  bereitet  er  ihm  Schmerzen.  Wenn  aber 
dem  bösen  Rosse  dies  Nämliche  oft  widerfahren  ist  und 
hierdurch  seine  Frechheit  nachgelassen  hat,  so  folgt  es 
jetzt  bereits  gedemütigt  dem  vorsichtigen  Denken  des 
Wagenlenkers  und  vergeht  vor  Furcht,  wenn  es  den 
schönen  Knaben  sieht.  Demnach  ergibt  sich  erst  jetzt, 
daß  die  Seele  des  Liebhabers  dem  Lieblingsknaben  in 
Scham  und  Furcht  folge.  36.  Insofern  also  dieser  nun 
in  jeder  Weise  wie  in  einem  Gotte  Gleicher  gepflegt  wird 
von  einem,  welcher  die  Liebe  nicht  etwa  bloß  heuchelt, 
sondern  in  Wahrheit  in  diesem  Zustande  sich  befindet, 
und  insofern  er  selbst  von  Natur  aus  ein  Freund  seines 
Liebhabers  ist,  so  vereinigt  er  seine  Freundschaft  mit 
jenem,  welcher  ihn  pflegt,  selbst  wenn  er  auch  in  der 
filiheren  Zeit  durch  Altersgenossen  oder  irgend  andere, 
welche  sagten,  es  sei  schändlich,  einem  Liebhaber  sich 
zu  nähern,  hiergegen  aufgebracht  worden  war  und 
daher  den  Liebhaber  von  sich  gestoßen  hatte;  im  Ver- 
laufe der  Zeit  hat  ihn  jetzt  sowohl  das  Jugendalter  als 


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—     839     — 

auch  das  Bedürfnis  dabin  geführt,  daß  er  jenen  zum 
Umgange  zulasse;  denn  es  ist  ja  vom  Schicksal  bestimmt, 
daß  niemals  ein  Schlechter  einem  Schlechten  feind  und 
niemals  ein  Guter  einem  Quten  nicht  freund  sei.  Nach- 
dem er  ihn  aber  zugelassen  und  Rede  und  Umgang  von 
ihm  auf  sich  wirken  ließ,  durchzuckt  das  nun  aus  der 
Nähe  kommende  Wohlwollen  des  Liebhabers  den  Ge- 
liebten, indem  dieser  inne  wird,  daß  alle  übrigen  Freunde 
und  Verwandten  zusammen  gar  nichts  an  Freundschaft 
ihm  bieten  im  Vergleiche  mit  diesem  gottbegeisterten 
Freunde.  Wenn  er  aber  in  solcher  Weise  längere  Zeit 
verfährt  und  er  sich  ihm  zugleich  in  körperlicher  Be- 
ziehung sowohl  in  den  Gymnasien  als  auch  bei  dem 
übrigen  Umgange  nähert/)  dann  erst  fließt  die  Quelle 
jener  Ausströmung,  welche  Zeus,  als  er  den  Ganymedes*) 
liebte y  Liebesreiz  nannte^  reichlich  auf  den  Liebhaber 
über,  und  der  eine  Teil  derselben  dringt  in  ihn  ein,  der 
andere  aber  fließt,  wenn  jener  schon  voll  ist>  wieder  ab; 
und  sowie  ein  Windhauch  oder  ein  Schall  von  glatten 
und  festen  Körpern  abprallend  wieder  dahin  zurück  sich 
bewegt,  von  wo  er  ausgegangen  war,  ebenso  geht  die 
Ausströmung  der  Schönheit  wieder  in  den  Schönen  ver- 
mittelst der  Augen  zurück,  durch  welche  in  die  Seele  zu 
kommen  sie  von  Natur  aus  bestimmt  ist,  und  indem  sie 
dort  zu  neuem  Fluge  antreibt,  benetzt  sie  die  Öfi'nungen 
des  Gefieders  und  veranlaßt  das  Hervorwachsen  des- 
selben und  erf&Ut  jetzt  hinwiederum  die  Seele  des  Ge- 


^)  Also  das  sinnliche  Betasten  und  Betatschen,  wie  es  auch 
heutzutage  gewisse  wohlbekannte  „Freunde  der  Jugend*'  sehr 
fleißig  üben,  war  doch  auch  bei  der  platonischen  Rnabenliebe 
ein  wesentliches  Erfordernis.    (Anmerkung  von  Prantl.) 

')  Dies  ist  ein  deutliches  Bekenntnis  dafür,  daß  die  griechische 
Päderastie  ihren  symbolischen  Ausdruck  auch  in  der  Götter- 
geschichte  an  dem  Verhältnis  zwischen  Zeus  und  Ganymedes  fand. 
{Anmerkung  von  Prantl.) 

22* 


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—     340     — 

liebten  mit  Liebe.  Dieser  liebt  also  nun^  ist  aber  ratlos 
darüber,  wen  er  liebe,  und  er  weiß  weder,  was  ihm  wider- 
fahren ist,  noch  kann  er  es  aussprechen,  sondern  wie 
jemand,  welcher  von  einem  anderen  eine  Augenkrankheit 
geerbt  hat,  kann  er  die  Veranlassung  nicht  sagen,  sieht 
aber,  ohne  es  selbst  zu  merken,  in  dem  Liebhaber  sich 
selbst  wie  in  einem  Spiegel;  und  wenn  jener  anwesend 
ist,  läßt  in  gleicher  Waise  wie  bei  jenem  der  Schmerz 
nach,  ist  aber  jener  abwesend,  so  ist  dieser  hinwiederum 
in  gleicher  Weise  sehnsüchtig  und  Gegenstand  der  Sehn- 
sucht, weil  er  eben  als  Abbild  der  Liebe  die  Gegenliebe 
in  sich  hat;  er  nimmt  imd  bezeichnet  aber  diese  nicht 
als  Liebe,  sondern  als  Freundschaft  Aber  in  ähnlicher 
Weise  wie  jener,  nur  schwächer,  verlangt  er  darnach,  ihn 
zu  sehen,  zu  berühren,  zu  liebkosen,  an  seiner  Seite  zu 
liegen,  und  hernach  nun,  wie  erklärlich,  tut  er  dies  letz- 
tere denn  auch  wirklich.  Bei  diesem  Zusammenliegen 
nun  kann  das  zügellose  Boß  des  Liebhabers  wohl  manches 
zum  Wagenlenker  sprechen  und  es  verlangt  für  viele 
Mühsale  einen  kleinen  Genuß;  das  des  LiebUngsknaben 
hingegen  kann  allerdings  nichts  sagen,  aber  in  Wollust 
und  Ratlosigkeit  umarmt  und  liebkost  es  den  Liebhaber, 
indem  es  ihn  als  einen  so  gar  wohlwollenden  herzt,  und 
wenn  sie  nun  wirklich  beisammen  liegen,  ist  es  im  stände, 
sich  gar  nicht  dagegen  zu  weigern,  daß  es  nicht  seiner- 
seits dem  Liebhaber  zu  Gefallen  wäre,  falls  jener  um 
diese  Gunst  bäte.  Aber  der  Gespanngenosse  hinwiederum 
zugleich  mit  dem  Wagenlenker  widerstrebt  diesem  mit 
Scham  und  Vernunft.  37.  Und  wenn  also  nun  das 
Bessere  des  Denkens  siegt,  indem  es  zu  einer  geordneten 
Lebensweise  und  zur  Philosophie  hingeleitet  hat,  so 
führen  sie  auf  Erden  ein  seliges  und  einträchtiges  Leben, 
sich  selbst  beherrschend  und  sittsam,  indem  sie  jenes 
unterjochen,  wodurch  Schlechtigkeit  der  Seele,  jenes  aber 
befreien,  wodurch  Vortrefflichkeit  erwuchs;   nach  ihrem 


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—     341     — 

Tode  aber  sind  sie  befiedert^)  und  leicht  geworden  und 
haben  in  einem  der  drei  wahrhaften  olympischen  Kämpfe 
gesiegt,  und  es  kann  weder  Besonnenheit  noch  göttlicher 
Wahnsinn  irgend  ein  größeres  Gut  als  dieses  dem  Men- 
schen verschaiFen.  Wenn  sie  aber  ja  eine  niedrigere  und 
unphilosopbische,  dabei  aber  ehrgeizige  Lebensweise  üben, 
so  möchten  bald  wohl  bei  Trinkgelagen  oder  in  irgend 
einem  anderen  Zustande  der  Sorglosigkeit  ihre  beiden 
zügellosen  Rosse  die  Seelen  unbewacht  treffen  und  auf 
einen  Punkt  zusammenführen  und  hierdurch  die  von 
der  Menge  seliggepriesene  Sichtung  wählen  und  ihren 
Zweck  erreichen;  und  haben  sie  diesen  erreicht,  so  üben 
sie  von  nun  an  auch  fürder  diese  Richtung,  jedoch  nur 
selten,  insofern  sie  Dinge  tun,  welche  nicht  von  der  ge- 
samten Seele  beschlossen  waren.  Freunde  nun  sind  auch 
diese  beiden,  weniger  aber  als  jene  anderen  beiden  führen 
diese  wechselseitig  sowohl  in  als  außerhalb  der  Liebe 
das  Leben,  indem  sie  der  Ansicht  sind,  daß  sie  die 
größten  Versicherungen  wechselseitig  gegeben  und  em- 
pfangen haben,  welche  zu  lösen  und  hiermit  jemals  in 
Feindschaft  zu  kommen  verpönt  sei.  Bei  ihrem  Tode 
aber  treten  sie  zwar  unbefiedert,*)  jedoch  mit  dem  Triebe 
nach  Befiederung  aus  dem  Körper,  so  daß  sie  keinen 
geringen  Kampfpreis  des  Liebeswahnsinns  davontragen; 
denn  in  Finsternis  und  zur  Wanderung  unter  der  Erde 
kommen  nach  dem  Gesetz  diejenigen  nicht  mehr,  welche 
bereits  die  himmlische  Wanderung  begonnen  haben,  son- 
dern ein  hellglänzendes  Leben  führend  sind  sie  beglückt, 
indem  sie  mit  einander  wandern,  und  zugleich  befiedert 
werden  sie,  wenn  sie  es  werden,  um  det  Liebe  willen." 
Wir  ließen  diese  Stellen  vollständig  abdrucken,  da 
es  zweifellos  für  die  Leser  des  Jahrbuches  von  Interesse 


*)  Pterophyetisch,  abgeleitet  von  nisQoqwrjg  =  befiedert 
')  Apterotisch,  abgeleitet  von  anieqog  «=  anbefiedert. 


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—     842     — 

ist,  die  griechische,  d.  h.  Piatons  Auffassung  der  Homo- 
sexualität zu  kennen. 

unter  somatischem  Konjunktionstrieb  verstehe  ich 
den  Trieb  des  Menschen,  sich  körperlich  einem  Lust  er- 
weckenden Objekt  zu  nähern,  ohne  irgend  welche  sexuelle 
Beimischung,  d.  h.  ohne  den  bewußten  oder  unbewußten 
Wunsch,  sich  körperlich  zu  vereinen 

Psychisch  nenne  ich  den  Konjunktionstrieb,  welcher 
vom  Körperlichen  absolut  abstrahiert;  man  nennt  ihn 
Freundschaft,  wenn  er  sehr  ausgesprochen  ist;  im  all- 
gemeinen Sinne  heißt  er  Geselligkeitstrieb. 

Pterophyetisch  heißt  nach  Piatons  Zitat  der  Trieb, 
der  wohl  eine  sexuelle  Beimischung  enthält,  die  dann 
jene  eigentümliche  Wärme  erzeugt,  welche  das  Geflihl 
der  Freundschaft  in  Liebe  verwandelt;  die  Psyche  hemmt 
aber  eine  sexuelle  Betätigung  bezw.  körperliches  Eins- 
werden. —  Wir  möchten  den  Ausdruck  „pterophyetisch" 
da  anwenden,  wo  die  erwähnte  sexuelle  Beimischung  als 
solche  unbewußt  bleibt,  sich  aber  doch  in  ihren  Äuße- 
rungen zeigt.  Diese  schreite  :i  nie  bis  zum  körperlichen 
Einswerden  fort,  es  sei  denn,  daß  verschiedene  andere 
Gründe  zu  einer  Auslösung  des  Detumeszenztriebes 
führen. 

Apterotisch  endlich  nenne  ich  den  Trieb,  der  be- 
wußt oder  unbewußt  zum  körperlichen  Einswerden  treibt; 
es  wird  dann  der  Konjunktionstrieb  zum  Geschlechts- 
trieb. 

Von  dem  Standpunkte  aus,  von  dem  ich  den  Ge- 
schlechtstrieb betrachte,  hat  dieser  mit  einem  Triebe,  in 
dem  das  Verlangen  nach  Detumeszenz  (nach  MoU)^)  das 
Primäi-e  ist,  nichts  gemein. 

Ist  der  Detumeszenztrieb   das  Primäre,   so   kommt 


^)  „Detumeszenztrieb",  vide  Moll,  Libido  sexualis. 


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—     843     — 

nicht  eine  Äußerung  des  Konjanktionstriebes  in  Betracht^ 
sondern  nur  ein  Drang  nach  Despermation,  ganz  analog 
dem  Drange  nach  Defäkation. 

Beim  apterotischen  Konjunktionstriebe  steht  die  Äuße- 
rung des  Detumeszenztriebes  auf  derselben  Stufe  wie  der 
Kuß  oder  die  Umarmung.  —  So  lange  die  anderen 
Qualitäten  rein  bleiben,  kommt  der  Detumeszenztrieb 
nicht  in  Betracht.  Wenn  er  sich  aber  in  Gestalt  des 
körperlichen  „Einswerdentriebes''  diesen  Qualitäten  bei- 
fügt, werden  dieselben  apterotisch. 

Tritt  aber  der  Detumeszenztrieb  in  Form  eines 
bloßen  Genußtriebes  hinzu,  so  hat  dieser  Komplex  der 
Erscheinungen  mit  dem  Konjunktionstriebe  apterotischer 
Qualität  nichts  gemein.  Der  hinzugetretene  Trieb  ist 
dann  einem  kulinarischen  Genußtriebe  analog ,  der  in 
Gesellschaft  Anderer  befriedigt  werden  will. 

Tritt  die  Äußerung  des  Detumeszenztriebes  unter 
der  bewußten  Motivierung  hinzu,  ein  Kind  zu  bekommen, 
so  können  wir  diesen  Komplex  auch  nicht  als  eine 
Äußerung  des  Konjunktionstriebes  betrachten;  sie  ist 
vielmehr  eine  solche  des  Disjunktionstriebes.  In  diesem 
Falle  strebt  ja  das  Individuum  danach,  einen  lebenden 
Teil  seines  Selbst  abzulösen,  der  fähig  sein  wird,  selb- 
ständig weiter  zu  leben.  Diesen  Disjunktionstrieb  lassen 
wir  hier  außer  Acht. 

Wir  glauben  nun  den  Konjunktionstrieb  hinreichend 
genau  umschrieben  zu  haben,  um  eventuellen  Irrtümern 
in  dieser  Arbeit  vorzubeugen. 

Tabelle  IV  wird  fast  ohne  weiteres  zu  verstehen  sein. 

Wir  haben  darin  die  verschiedenen  Triebrichtungen 
in  ihrer  Qualität  zusammengestellt,  analysiert  und  in 
den  verschiedenen  Lebensperioden  untersucht 

In  der  prohebetischen  Periode  ist  eine  Beimischung 
der  8.  und  4.  Qualität  unmöglich,  da  dieselben  erst  ent- 


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—     844     — 

stehen  können,  wenn  die  Funktion  der  Geschlechtsdrüsen 
beginnt.  Es  bestehen  jedoch  auch  in  der  prohebetischen 
Periode  somatische  und  psychische  Qualitäten,  wie  ja 
schon  das  kleinste  Kind  Körper  und  Seele  hat. 

In  der  hebetischen  Periode  treten  die  pterophye- 
tischen  und  apterotischen  Qualitäten  hinzu. 

Wenn  in  der  hebetischen  Periode  3  und  4  nur  in 
heterophiler  Richtung  entstehen,  so  ist  der  betreflFende 
Orchiphor  in  dieser  Periode:  heterosexuell;  wenn  in 
beiden  Richtungen:  bisexuell;  wenn  in  der  homoiophilen: 
homosexuell. 

Im  ersten  Falle  sind  dies  also  /9  1,  2,  3,  4. 
Im  zweiten  F'alle  ß  b,  6,  7. 
Im  dritten  Falle  /9  8,  9,  10,  11. 

Die  Variationen  ß  1  und  ß  \\  sind  natürlich  sehr 
selten,  da  in  denselben  selbst  die  psychischen  Qualitäten 
in  homoio-  resp.  heterophiler  Richtung  fehlen. 

Am  meisten  kommen  die  Variationen  in  heterophiler 
Richtung  /S  3,  4  und  in  homoiophiler  ß  S,  9  vor;  doch 
werden  gerade  ß  5  und  ß  7  noch  häufiger  gefunden. 
Hierher  gehören  doch  z.  B.  alle  die  schwärmerischen 
Jugendfreundschaften  der  späteren  Heterosexuellen  und 
die  Schwärmerei  ohne  sexuelle  Beimischung  für  Mädchen, 
welche  sich  oft  bei  späteren  Homo^sexuellen  findet.  — 
Nicht  selten  wird  auch  ß  6  sein;  so  gehört  u.  a.  das 
Beispiel  hierher  oder  zu  /S  7,  das  Dr.  Hirschfeld  im 
Jahrbuch  V,  Bd.  I,  S.  28—30  gegeben  hat. 

Wovon  diese  Variationen  der  hebetischen  Periode 
abhängen,  wollen  wir  vorläufig  nur  in  allgemeinen  Zügen 
skizzieren. 

Zuerst  bringt  oflFenbar  dies  nun  eintretende  Funk- 
tionieren der  Geschlechtsdrüsen  einen  stärker  ausge- 
sprochenen Konjunktionstrieb  hervor. 


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-     845     — 

Es  werden  nun  äußere  Umstände,  sozialer  oder 
speziell  gesellschaftlicher  Natur,  die  Äußerung  des  yer* 
stärkten  Konjuuktionstriebes  bestimmen.  Diese  Äuße- 
rungen können  denen  der  prohebetischen  Periode  völlig 
entgegengesetzt  sein.  So  kann  bei  früher  und  auch  später 
(in  der  methebetischen  Periode)  völlig  normal  „Hetero- 
sexuellen*^ durch  das  Verweilen  in  Knabeninstituten  usw. 
in  dieser  Periode  eine  fast  ausschließlich  „homosexuelle*' 
Äußerung  auftreten,  da  der  Eonjunktionstrieb  in  seiner, 
jedem  jungen  Menschen  bewußten,  größeren  Intensität 
zur  kräftigen  Äußerung  treibt  und  andere  Objekte 
nicht  vorhanden  sind.  Die  unter  diesen  umständen  am 
häufigsten  vorkommenden  Variationen  sind  ß  5,  6,  7,  wie 
jedem  einleuchten  wird. 

Abgesehen  aber  von  diesen  eigentlich  als  Zwangs- 
zustände  aufzufassenden  Umständen  haben  die  reifenden 
Geschlechtsdrüsen  zweifellos  die  Fähigkeit,  früher  in  so- 
matischer und  psychischer  Beziehung  Heterophile  in 
normal  Bisexuelle  {y  7)  und  selbst  in  eine  Spezies  der 
normal  Homosexuellen  {y  8)  zu  verwandeln,  d.  h.  in  einen 
Homoiophilen,  der  in  homoiophiler  Richtung  die  vier 
Qualitäten  des  Konjunktionstriebes  besitzt,  in  heterophiler 
Richtung  aber  immer  noch  die  ursprünglich  bestehenden 
Qualitäten  1  und  2  hat  —  Daß  die  sonst  völlig  normal 
entwickelten  Geschlechtsdrüsen  in  einem  bestimmten  Falle 
diesen  Einfluß  haben  können,  ist  eine  Folge  des  Ent- 
wickelungsganges  des  Körpers  und  der  Seele.  Wie  alle 
oder  nur  einzelne  sekundäre  Geschlechtscharaktere  sehr 
oft  (z.  B.  in  den  drei  gegebenen  Abbildungen)  den  Typus 
der  Metraphorie  haben,  obwohl  die  Geschlechtsteile  voll- 
ständig zum  Typus  der  Orchiphorie  gehören,  so  tritt 
auch  dieser  sekundäre  Geschlechtscharakter  bezüglich  des 
sexuellen  Teiles  des  Konjunktionstriebes  vereinzelt  oder 
mit  anderen  gemischt  in  einer  dem  Typus  der  Genitalien 
nicht  entsprechenden  Richtung  auf. 


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—     346     — 

In  der  methebetischen  Periode  nun  sind  die  Varia- 
tionen 1 — 4  die  eigentlich  Heterosexuellen;  hier  ist  das- 
selbe zu  bemerken^  wie  in  der  hebetischen  Periode.  Die 
Variationen  y  5,  y  6,  y  7  sind  die  Bisexuellen  (die  aus- 
gesprochen Bisexuellen  werden  durch  /  6  dargestellt) 
und  die  Variationen  /  8 — 11  die  Homosexuellen.  Das 
oben  angeführte  Beispiel  von  Hirschfeld  läßt  sich  für  die 
hebetische  und  methebetische  Periode  als  ß  1,  y  1 — 5 
oder  vielleicht  ß  6,  y  1 — 5  darstellen.  Jede  Variation 
der  prohebetischen  Periode  läßt  sich  mit  jeder  der  hebe- 
tischen und  jede  der  hebetischen  wieder  mit  allen  met- 
hebetischen kombinieren. 

Dabei  werden  natürlich  einige  höchst  unwahrschein- 
liche Kombinationen  zu  Tage  treten.  So  kann  z.  B. 
jede  Kombination  als  unwahrscheinlich  erklärt  werden, 
in  der  Qualitäten  der  prohebetischen  Periode  in  der  met- 
hebetischen Periode  verschwunden  sind,  z.  B.  a  1,  /9  1, 
y  11;  aber  auch  cc  1,  ß  11,  y  1. 

In  Tabelle  V  haben  wir  die  normaliter  möglichen 
Kombinationen  eingetragen. 

Die  unwahrscheinlichen  oder  unmöglichen  Kombi- 
nationen haben  wir  durch  Flächenfiillung  der  Unterpartien 
in  der  prohebetischen  Periode  bezeichnet. 

Die  Zahlen  stimmen  mit  denjenigen  auf  Tabelle  IV 
überein,  die  Buchstaben  cc,  ß,  y  geben  wie  auf  den  an- 
deren Tabellen  die  Perioden  an.  —  In  der  letzten  Kolonne 
führen  wir  die  gebräuchliche  Nomenklatur  auf.  Die  Wich- 
tigkeit dieser  neuen  Einteilung  für  genau  wissenschaft- 
liche Forschung  ist  einleuchtend.  Wir  sehen  zuerst,  daß 
beim  normal  Heterosexuellen  und  beim  normal  Homo- 
sexuellen drei  gut  differenzierte  Variationen  existieren, 
wenn  man  nur  das  methebetische  Individuum  in  Betracht 
zieht.  Berücksichtigt  man  auch  das  Vorleben,  so  erhält 
man  109  sehr  gut  differenzierte  Varietäten. 


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—     847     — 

Die  hebetische  Periode  ^  welche  nur  ziemlich  kurze 
Zeit  dauert,  ist  wohl  imstande,  die  prohebetischen 
Qualitäten,  welche  man  doch  als  eingeboren  betrachtet, 
zeitweise  zu  modifizieren,  ja  selbst  umzuwandeln.  Das 
letztere  ist  auf  die  Dauer  unmöglich  und  vielleicht  beruht 
hierin  der  bleibende  Wert  unserer  Tabelle,  daß  dies  ad 
oculos  demonstriert  wird.  —  Im  ganzen  können  wir  filr 
den  Eonjunktionstrieb  423  Variationen  aufstellen,  sofern 
wir  nämlich  als  Objekt  des  Triebes  nur  die  zwei  Grund- 
typen des  Menschen  nehmen:  den  orchiphoren  und  den 
metraphoren  Typus.  Mit  diesen  Variationen  können  nun 
wieder  die  Verschiedenheiten  der  körperlich -psychischen 
Variationen  kombiniert  werden,  und  so  finden  wir  als 
mögliche  Variationen,  d.  h.  als  sexuelle  Zwischenstufen, 
die  ungeheuere  Anzahl  von 

1625  X  428  =  687375  Variationen. 

Natürlich  werden  darunter  auch  absolut  undenkbare 
Kombinationen  zu  finden  sein,  aber  wenn  auch  nur  Yiooo 
davon  wirklich  besteht,  so  wären  das  doch  schon  687 
Zwischenstufenformen. 

Wie  es  uns  möglich  war,  in  jedem  Individuum  neben 
dem  Grundkriterium  die  körperlichen  und  psychischen 
Eigenschaften  zu  rubrizieren,  um  damit  die  Nuance  der 
Geschlechtscharaktere  zu  eruieren,  so  können  und  müssen 
wir  auch  im  Konjunktionstrieb  verschiedene  Variationen 
annehmen  bezüglich  der  Eigenschaften  des  Objekts.  Den 
eigentlichen  Fetischismus,  d.  h.  die  Bevorzugung  ge- 
wisser Haarfarben  usw.,  lassen  wir  außer  Acht.  Wir 
wollen  nur  die  allgemeinen  Variationen  aufstellen, 
welche  auf  die  Geschlechtsbestimmung  des  Objekts  Be- 
zug haben. 

Zuerst  das  Alter.  —  Normal  ist  doch,  daß  der 
heterosexuelle  Mann  ein  Weib  liebt,  das  jünger  ist  als 
er;    nur  ausnahmsweise  liebt  er  ein  älteres  Individuum, 


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—     348     — 

was    dann    beim    Weibe    das   Normale    ist    —    mutatis 
matandis. 

Die  Ausdrücke,  welche  wir  dafür  gebrauchen  mochten, 
sind: 

1.  Neoterophil       (abgeleitet  von  vecArsQog  =  jünger 

und  (fikeiv), 

3.  Presbyterophil  (abgeleitet  von  noeaßvre^og  =  älter 

und  (ptXaTv); 

dazwischen  steht  dann: 

2.  Helikophil         (abgeleitet  von  rjki^  =  gleichalt  und 

(ptXsTv); 

dann  noch: 

4.  ßrotophil  (abgeleitet  von  ß()OTÖg  =  sterblich 

und  (piXetv),  für  die  Individuen, 
welche  kein  bevorzugtes  Alter 
kennen. 

Ferner:  Es  ist  normal,  daß  der  Mann  ein  zartes, 
weiches  Weib  liebt,  es  kommt  aber  ausnahmsweise  vor, 
daß  er  eine  kräftige,  muskulöse  Frau  vorzieht;  gerade  so, 
mutatis  mutandis,  beim  Weibe. 

Die  bezüglichen  Ausdrücke  sind: 

1.  Habrophil     (abgeleitet  von  äßpog  =  weiblich,  zart), 
.3.  Karterophil  (abgeleitet  von  xccqtbooq  =  kräftig), 

und  dazwischen: 

2.  Mesophil       (abgeleitet  von  fieaog  «  mittel). 

Diejenigen,  welche  keine  besondere  Körperform  be- 
vorzugen, nennen  wir: 

4.  Meropophil  (abgeleitet  von  fiigoyj  =  Mensch). 

Die  Tragweite  dieser  Unterscheidung  fällt  sofort  auf, 
wenn  man  bedenkt,   daß  der  heterophile  Orchiphor,   der 


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—     349     — 

karterophil  und  presbyterophil  ist^  in  der  methebetischen 
Periode  doch  eigentlich  näher  heim  homoiophilen  Orchi- 
phoren,  der  presbyterophil  und  karterophil  ist,  oder  beim 
normalen  heterophilen  Metraphoren  steht  als  beim  aus- 
gesprochen normalen  heterophilen  Orchiphoren,  usw. 

Was  nun  die  psychischen  und  intellektuellen  Eigen- 
schaften des  Objekts  betrifft,  so  können  wir  unterscheiden: 

1.  Manthanophil    (abgeleitet     Ton     fAav&ävovreg  = 

Schüler),  d.  h.  derjenige,  dßr  Indi- 
viduen liebt,  welche  geistig  weniger 
hoch  stehen  als  er  und  die  gern 
von  ihm  lernen  möchten. 

Diese  wichtige  Richtungsqualität  kommt  allen  Men- 
schen zu,  welche  pädagogisches  Talent  haben.  Das  Wort 
„lernen*'  wird  hier  natürlich  im  weitesten  Sinne  ver- 
standen, und  so  auch  im  Folgenden: 

3.  Didaskalophil  (abgeleitet  von  SiSaaxüloq  =  Leh- 
rer), der  Entgegengesetzte  von  1., 
also  derjenige,  der  den  Weisern 
liebt  und  von  ihm  lernen  möchte. 

Dazwischen  steht  dann  der: 

2.  Homotropophile  (abgeleitet  von  öfiörgonog  =  von 

gleichem  Charakter). 

Nun  können  bei  allen  diesen  Richtungsqualitäten 
des  Konjunktionstriebes  die  verschiedenen  Lebensperioden 
berücksichtigt  werden,  so  daß  auch  hier  eine  große  An- 
zahl von  Kombinationen  entsteht. 

Unsere  Meinung  geht  dahin,  daß  im  vorgelegten 
Schema  wirklich  aUe  möglichen  sexuellen  Zwischenstufen 
unterzubringen  sind,  sofern  diese  nämlich  normal  sind. 
Abnorm  alitäten  sind  eigentlich  nur  dann  angeführt,  wenn 
sie  für  den  Abschluß  der  verschiedenen  Serien  nötig 
waren. 


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—     350     — 

Als  abnormal  betrachten  wir  sadistische,  masochisti- 
«che  und  fetischistische  Formen  des  Konjunktionstriebes; 
KÜeselben  sind  völlig  außer  Acht  gelassen. 

Wie  ich  hoflfe,  wird  diese  vorläufige  Mitteilung  einen 
deutlichen  Einblick  in  meine  Auffassung  ermöglichen  und 
zu  besserem  Verständnis  und  feinerer  Analyse  der  so 
komplizierten  Verhältnisse  der  sexuellen  Zwischenstufen 
beitragen. 


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—     351     — 


Tabelle  I. 
Allgemeiner  Überblick. 


Ge- 
schlechts- !       Körper 
drüse 


Orchiphor 


Psyche 


Koiganktioiis- 
trieb 


A.  Arrenop       a)  Epandrisch 

b)  Diphron 

c)  Gjnftkophron 

B.  Diphyetisch   a)  Epandrisch 

b)  Diphron 

c)  Gynäkophron 

C.  Thelyphan    a)  Epandrisch 

b)  Diphron 

c)  Gynäkophron 


1.  Heterophil 

2.  Amphiphil 

3.  Homoiophil 

1.  Heterophil 

2.  Amphiphil 

3.  Homoiophil 

1.  Heterophil 

2.  Amphiphil 

3.  Homoiophil 

1.  Heterophil 

2.  Amphiphil 

3.  Homoiophil 

1.  Heterophil 

2.  Amphiphil 

3.  Homoiophil 

1.  Heterophil 

2.  Amphiphil 

3.  Homoiophil 

1.  Heterophil 

2.  Amphiphil 

3.  Homoiophil 

1.  Heterophil 

2.  Amphiphil 

3.  Homoiophil 

1.  Heterophil 

2.  Amphiphil 

3.  Homoiophil 


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—     352     — 


(Tabelle  I.) 


Ge- 

schlecht  s- 

drüse 


Körper 


Psyche 


c)  Epandrisch 


}  b)  Diphron 


C.  Arrenop       a)  Gynäkophron 


c)  Epandrisch 


Metraphor  A.  Telyphan 


3.  Homoiophil 

2.  Amphiphil 

1.  Ueterophil 

3.  Homoiophil 

2.  Amphiphil 

1.  Heterophil 
8.  Homoiophil 

2.  Amphiphil 

1.  Heterophil 

3.  Homoiophil 

2.  Amphiphil 

1.  Heterophil 
8.  Homoiophil 

2.  Amphiphil 

1.  Heterophil 

3.  Homoiophil 

2.  Amphiphil 

1.  Heterophil 

3.  Homoiophil 

2.  Amphiphil 
c)  Epandrisch     1  1.  Heterophil 

I  3.  Homoiophil 
2.  Amphiphil 

1.  Heterophil 

,  3.  Homoiophil 

2.  Amphiphil 
a)  Gynäkophron    1.  Heterophil 


b)  Diphron 


B.Diphyetisch  a)  Gyn&kophron 


Eonjunktions- 
trieb 


I  b)  Diphron 


das  ab- 
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Weib 


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XIII 

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Isomorph 

Thelyphan 

IV 

Isomorph 

Deuteromorph 

Arrenop 

III 
Isomorph 
Isomorph 
Arrenop 

VII 

Isomorph 

Deuteromorph 

Protomorph 

IX 

Isomorph 

Isomorph 

Deuteromorph 

XII 

Isomorph 

Deuteromorph 

Thelyphan 

n 

Isomorph 
Arrenop 
Arrenop 

I 

Isomorph 

Protomorph 

Arrenop 

vin 

Isomorph 

Protomorph 

Deuteromorph 

XI 

Isomorph 

Thelyphan 

Thelyphan 

Prohebetisch 

Hebetisch 
Methebeüsch 

Jahrbuch  VI. 


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—     356     — 


Tabelle  IV.     Konjunktionstrieb. 
Qualitäten:   U  Somatisch.      2.  Psychisch.       3.  Pterophyetisch.      4.  Apterotisch. 


1 

1 

A.  He- 
tero- 
phil 

i 

Amphiphile 

S 

J 

E.  Ho- 

B.Deuterophil 

s 

G.Hekaterophil 

a 

D.  Protophil 

1 

1 

4 

1 

He- 

tero- 

Ho- 
moio- 

1 

He- 
tero- 

Ho- 
moio- 

1 

He- 
tero- 

Ho 

moio- 

moio- 
phil 

phUB' 

phUB" 

es 

phüC 

philC" 

phil  D' 

philD" 

ja 

1 

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(1) 

1 
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1 

(2) 

1 
2 

1 

I 
(4) 

1 
2 

1 
2 

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(5) 

1 

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2 

I 

(7 

1 
2 

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2 

2 

11 

(6) 

2 

1 

9 

I 

I 

1 

1 

I 

I 

1 

(1) 

1 

(2) 

2 
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4 

(6) 

1 

1 

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2 
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1 

1 

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1 

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4 

2 
8 

4 

4 

(10) 

I 

I 

1 

1 

I 

I 

1 

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(2) 

2 

3 

(6) 

1 

1 

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2 
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1 

2 

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1 

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1 

4 

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IV 

1 

1 

IV 

1 

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3  4 


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5|l  1   2:3  4  5,617  112  314  5|6  7 

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1   2,3!4|5I6|7!112|3|4|5|6,7 
10  1 1 


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5;rr2l3'4  5i6l7|l   2  3;4  516  7 
10 


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1  2  31415^ 

1 


1|2|3|4|5|6  7   1, 


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617 


10 


11 


112  3i4,5|6|7|r2|3:4,5  6;  7 


10 


11 


l|2|3|4|5l 

i    I       10 


I'2|3|4i5|6|7|l,2|3|4t5,6  7 


11 


I|2i3'4|5'i  ,1|2,3|4'5|6:7|1  2 


Y  ^ 


I   i 


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10 


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10 


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I  M  I  M  I  I  L 

I     11 


l  2  3|4l5lj  1  213  4|5;6I7|1|2|3  415  6  7 


1 


121345,112345, 67|1   2 '34|567 


1 


12  3  4  51 


10 


11 


.   10 


11 


112  314  5|6|7|1I2|3)4  5  6  7 


^^^^tete'^v  \  w^wM  $5  ^^^L  J^^?  >5i^^  K^ 


10 


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11 


11  Variationen 


22  Variationen 


22  Variationen 


65  Variationen 


65  Variationen 


53  Variationen 


65  Variationen 


65  Variationen 


22  Variationen 


22  Variationen 


11  Variationen 


423  Variationen 


Gew.  Nomen- 
klat  d.  metheb. 
Persönlichkeit 


Absoluter 
Hetero- 
sexueller 


Normale 
Hetero- 
sexuelle 


Normaler 
Bisexueller 


Absoluter 
Bisexueller 


Normaler 
Bisexueller 


Normale 
Homo- 
sexuelle 


Absoluter 
Homosexueller 


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Aus  dem 

Seelenleben  des  Grafen  Platen. 

Fortsetzung  zu  dem  gleichnamigen  Artikel  im 
ersten  Jahrgang  des  „Jahrbuchs  f&r  sexuelle  Zwischenstufen''. 

Von 

Professor  Ludwig  Frey. 


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Vorwort. 

Motto:  „Da  aber  siehst  mich  in 
yertraaterm  Lichte.'' 

Platen  an  Q.  J.  (QqbUy  Jaeobi.) 

Im  Jahre  1896  erschien  der  erste  Band  ,,Tage- 
bücher  des  Grafen  Platen"^)  im  Drucke  und  durch 
diese  Tagebücher  ist  ein  unbehinderter  Einblick  in  die 
Geschlechtspsyche  des  homosexuellen  Menschen  er- 
schlossen. Mit  peinlicher  Gewissenhaftigkeit,  man  darf 
sagen,  mit  selbstquälerischer  Strenge  hat  Platen  darin 
die  geheimsten  Regungen  seines  Herzens  verzeichnet  und 
die  tiefsten  Falten  desselben  aufgedeckt.  In  seinen 
Memorabilien,  wie  er  sie  nennt,  ist  nicht  nur  der 
Schlüssel  zum  Verständnis  seiner  Dichtungen,  sondern 
auch  zur  Erkenntnis  seiner  psychischen  Sonderveran- 
lagung gegeben.  Sie  verraten ,  wie  wir  bereits  in  einem 
vorausgehenden  Aufsatz  (siehe  Ersten  Jahrgang  des  Jahr- 
buchs für  sexuelle  Zwischenstufen,  S.  159  ff.)  bemerkt 
haben,  schon  äußerlich  die  Spuren  eines  schmerzlich 
bewegten,  unglückseligen  Menschendaseins,  indem  die 
Blätter  des  Originals  häufig  Flecken  zeigen,  die  durch 
reichliche,  auf  das  Buch  hinabrollende  Tränen  ent- 
standen sind. 


^)  Vergl.  Die  Tagebücher  des  Grafen  August  von 
Platen.  Aus  der  Handschrift  des  Dichters  herausgegeben 
von  G.  von  Laubmann  und  L.  von  Scheffler,  Bd.  II,  Stutt- 
gart 1900,  bei  Cotta. 


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—     360     — 

Obwohl  nun  bereits  der  erste  Band  des  herausge- 
gebenen Memoirenwerkes  den  Beweis  erbrachte,  daß  ein 
Mensch  homosexuell  empfinden  und  dennoch  den  Ruf 
eines  ehrenhaften  Mannes  beanspruchen  könne ,  so  hat 
dieser  Beweis  in  der  Oflfentlichkeit  noch  nicht  den  Erfolg 
gehabt;  der  aufs  dringendste  zu  wünschen  ist.  Und  man 
darf  leider  nicht  erwarten,  daß  dieser  Erfolg  in  nächster 
Zukunft  eintreten  werde.  Man  kann  deshalb  nicht  oft 
genug  betonen,  was  in  den  Tagebüchern  zum  Ausdruck 
gekommen  ist^  und  der  im  Jahre  1900  erschienene 
zweite  Band  des  Memoirenwerkes  bietet  hiezu  einen 
dankenswerten  Anlaß.  Freilich  muß  auch  dieser  Band 
in  Hinsicht  auf  jenes  Ziel  auszugsweise  behandelt  werden» 
schon  wegen  des  außerordentlich  großen  Umfanges,  der 
das  Buch  nicht  jedem  zugänglich  macht»  mehr  noch  des- 
halb, weil  dasselbe  viele  anderweitige,  auf  den  äußeren 
Lebensgang  des  Dichters  ^  sowie  auf  die  Literatur- 
geschichte bezügliche  Partien  enthält,  wobei  das  homo- 
sexuelle Moment  nicht  im  Zusammenhang  hervortreten 
kann.  Deshalb  haben  wir  nach  diesem  Gesichtspunkt 
auch  den  zweiten  Band  bearbeitet,  und  indem  wir  das 
Ergebnis  im  heurigen  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischen- 
stufen veröffentlichen,  glauben  wir  jenes  Moment ^  in 
welchem  wir  eine  wichtige,  für  das  ganze  soziale  Leben 
bedeutsame  Tatsache  erbhcken,  einem  größeren  Leser- 
kreise nahe  gerückt  zu  haben. 

Die  Periode  in  Platens  Seelenleben,  welche  hier  in 
Betracht  kommt,  ist  geeignet^  ein  noch  höheres  Literesse 
als  die  frühere  zu  erwecken.  Wir  nehmen  in  ihr  eine 
Steigerung  des  sinnlichen  Bedürfnisses,  eine  vertiefte 
Kenntuis  der  Herzensrechte,  insbesondere  ein  Heraus- 
treten aus  der  persönlichen  Passivität  wahr.  Dies  gilt  ins- 
besondere von  jener  Epoche,  die  uns  nach  Italien  führt, 
auf  einen  Schauplatz  aJso,  wo  über  die  Geschlechtsnatur 
des  Homosexualen  andere  Anschauungen  herrschen  und 


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—     361     — 

wo  der  Entfaltung  homosexueller  Eigenart  ein  freierer 
Spielraum  gestattet  ist  als  im  ntichtern  nordischen  Deutsch- 
land. Jedenfalls  erscheint  der  Einblick  in  Platens  Seelen- 
leben als  ein  ganz  unschätzbares  Material  für  die  Beant- 
wortung der  Frage  nach  der  Sittlichkeit  eines  homo- 
sexuellen Menschen  und  nach  der  Natürlichkeit  seines 
geschlechtlichen  Empfindens. 


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Als  Platen  im  April  des  Jahres  1818  die  Uniform 
des  Offiziers  ablegte  und  von  München  wegging,  um  als 
Student  an  der  Universität  Würzburg  sich  den  Wissen- 
schaften zu  widmen,  da  hatte  er  den  Ausspruch  getan: 
„Ich  zweifle,  ob  Federigo"  —  der  von  ihm  angebetete,  aber 
erfolglos  geliebte  Eittmeister  Friedrich  von  Brandenstein 
—  „der  Letzte  sein  wird,  in  dem  ich  das  Ideal  eines 
Freundes  suche.**  Platen  hatte  diesen  Zweifel  nicht 
grundlos  ausgesprochen.  Allerdings  in  der  ersten  Zeit 
des  Würzburger  Aufenthaltes  ergriff  ihn  keine  ähnliche 
Leidenschaft  wie  die  zu  Federigo.  Der  fremde  Ort,  die 
neue  Umgebung,  die  Kollegien  an  der  Universität  be- 
schäftigten ihn,  dem  der  Fleiß  ein  Lebenselement  war, 
vollauf.  Am  9.  Juni  des  gleichen  Jahres  noch  glaubte 
er,  über  sich  und  seine  Natur  Herr  zu  sein.  Er  schreibt 
in  das  Tagebuch:  „Nach  und  nach  hoffe  ich  von  dieser  alten 
Chimäre  geheilt  x^$  werden.  Hier  ließ  ich  mich  noch  nicht 
durch  eine  einladende  Physiognomie  so  sehr  hinreißen,  um 
daraus  auf  eine  schöne  Seele  xm  schließen,^' 

Allein  schon  am  14.  Juni  meldet  das  gleiche  Tage- 
buch: „Unter  allen  diesen  ifotwcÄe»  (Universitätsstudenten) 
zieht  mich  eine  Physiognomie  mehr  als  aüe  andern  an.  Dies 
umrde  nur  wenig  zu  dem  stimmen,  was  ich  am  Neunten 
niederschrieb;  allein  diese  Neigung  ist  nur  ein  Werk  der 
Phantasie,    Mein  AÜer,  mein  ganzes  Wesen  bedarf  der  Liebe, 


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—     363     — 

Da  ich  sie  in  der  Wirklichkeit  nicht  finden  kann  noch  mag, 
so  such'  ich  sie  im  Ideale.  Ich  glaube  nicht,  daß  jener  Jüng- 
ling, den  ich  (weil  er  den  NameD  nicht  kannte)  einstweilen 
Adrast  nennen  wUl,  mir  etwas  sein  könne.  Ich  vermeide 
sogar  seine  Bekanntschaft,  um  mir  die  schöne  Täuschung 
nicht  XU  rauben.  loh  uard  schon  vor  mehreren  Tagen  auf 
ihn  aufmerksam  und  hätte  gestern  sowie  heute  Gelegenheit 
finden  können,  mit  ihm  xu  sprechen.  Ich  tat  aber  hier  nicht, 
was  ich  bei  Federigo  mit  Hast  unirde  ergiffen  haben.  Viel- 
leicht  aber  wird  Adrast  selbst  mir  zuvorkommen  und  mich 
anreden,  da  dies  bei  den  ungezuritngenen  Verhältnissen  des 
akademischen  Lebens  leicht  ist.  Dann  freilich  möchte  die 
Illusion  bald  xu  Grabe  gehen.  Vor  ein  paar  Tagen  richtete 
ich  sogar  spanische  Verse,  und  xwar  Redondilien,  an  Adrast. 
Sie  beginnen:  Vuestra  fiente  es  radiante  u.  s.  w.,  und  atmen 
Leidenschaft,  aber  mehr  für  einen  Gegenstand,  der  nicht  ist, 
als  für  jemand,  der  darin  geschildert  unrd.*' 

Wir  werden  sehen,  wie  stark  der  gute  Wille  war, 
mit  dem  Platen  widerstehen  wollte.  Vor  allem  trat  nicht 
ein,  was  er  im  stillen  hoffte.  Adrast  redete  ihn  nicht 
an;  die  guten  Vorsätze  Platens  gerieten  ins  Wanken. 
Er  machte  sich  nun  mit  dem  Gedanken  vertraut,  selbst  in 
persönlichen  Verkehr  mit  dem  jungen  Manne  zu  treten. 
Gelegen  kam  ihm  die  Nachricht,  daß  sein  Freund 
Massenbach,  welcher  ebenfalls  zu  wissenschaftlicher  Aus- 
bildung sich  in  Würzburg  aufhielt,  zu  den  Bekannten 
Adrasts  zählte.  Massenbach,  schon  früher  in  München 
mit  einer  ähnlichen  Mission  betraut,  wurde  nun  beauf- 
tragt, die  Vermittlung  der  Bekanntschaft  zu  übernehmen. 
Platen  hatte  unterdessen  den  Namen  des  jungen  Mannes 
erfahren;  derselbe  hieß  Eduard  Schmidtlein,  war  der 
Sohn  eines  höhern  Beamten  in  München  und  studierte 
zu  jener  Zeit  in  Würzburg  die  Eechte.  Geboren  1798, 
war  er  damals  21  Jahre  alt,  groß  und  kräftig  gebaut, 
gleich  allen  von  dem  kleinen,  schmächtigen  Grafen  ge- 


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—     364     - 

liebten  Männern,  „ein  schöner,  großer  Kerl**,  wie  ihn  der 
naturwüchsige  Massenbach  nannte. 

Der  von  Platen  erhofften  Gefühle  sollte  indes 
Schmidtlein  nicht  fähig  sein,  ein  so  guter  Kamerad  und 
Freund  er  den  üniversitätsstudenten  war,  mit  denen  er 
zwanglos  und  lebensfroh  verkehrte.  Sentimentalität  war 
seine  Sache  überhaupt  nicht.  Als  ihm  Massenbach 
Platens  Wunsch,  mit  ihm  bekannt  zu  werden,  eröffnete, 
hatte  er  zur  Antwort  nur  die  konventionelle  Redensart: 
„Es  wird  mir  viel  Vergnügen  sein.^'  Bald  vergaß  er  da- 
rauf, dieses  ^, Vergnügen''  kennen  zu  lernen,  und  kümmerte 
sich  nicht  weiter  um  den  sich  anfreundenden  Herrn,  und 
auch  Massenbach  verlor  die  Angelegenheit  aus  dem  Auge. 
Mittlerweile  verzehrte  sich  Platen,  der  für  weitere  Schritte 
zu  schüchtern  war,  vor  Sehnsucht,  schrieb  an  Adrast 
überschwengliche  Gedichte,  die  nicht  abgeschickt  wurden, 
und  schmückte  im  Geiste  den  flotten  Burschen  mit  all  den 
Eigenschaften  aus,  die  er  an  ihm  wünschte.  Er  besuchte, 
in  der  Hoffnung  und  —  in  der  Furcht,  ihn  zu  sehen, 
die  Promenaden.  Wenn  er  ihn  nicht  sah,  wurde  er  be- 
trübt; wenn  er  ihn  erblickte,  glaubte  er  auf  den  Mienen 
desselben  ein  satirisches,  oft  sogar  verächtliches  Lächeln 
zu  entdecken.  Diese  Wahrnehmung  beruhte  sicher  bloß 
auf  Einbildung  und  war  nichts  anders  als  der  Reflex 
eines  durch  leidenschaftliche  Gemütsbewegung  beeinflußten 
Blickes.  Kurz,  Platen,  wie  er  einmal  war,  fühlte  sich 
tief  verletzt  und  suchte  wieder  die  Waffen  seiner  Hart- 
näckigkeit hervor.  Am  12.  August,  ähnlich  wie  bei  seiner 
Ankunft  in  Würzburg,  schreibt  er:  „Von  heiOe  sage  ich 
mich  feierlichst  los  von  meinen  neu  erwachten  Thorkeiten. 
Ich  erwähne  Ädrctst  nicht  mshr;  es  sei  mein  fester  Vorsatz/* 

Alles  war  jedoch  eitel  Selbstbetrug  und  Selbst- 
peinigung. Schon  am  23.  Oktober  heißt  es  im  Tage- 
buch: „Was  aber  soll  ich  von  Adrast  sagen?  Nachdem  ich 
80   lange   frei  von  leidensthafUichen  Anwandlungen  geblieben 


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—     365     — 

vxxr^  une  konnte  ick  mich  tvieder  so  ganz  allen  Regungen  der 
Phantasie  (sie!)  hingeben?  Die  schöne  Täuschung  ist  vorüber/* 
Und  in  unsicherem  Tasten  nach  Wahrheit  fligt  er  den 
gegen  sich  ungerechten  Vorwurf  bei:  „Wartmi  rufst  Du 
die  Liebe  zurück?  Und  warum  nicht  eher  für  ein 
sanftes,  edles  Mädchen?*'  Eoc  bereut,  jenen  Schritt 
durch  Massenbach  getan  zu  haben,  und  überschüttet  sich 
mit  den  heftigsten  Anklagen.  „Bei  Oott,  ich  bin  frech  ge- 
worden mit  der  Zeit/  Einem  Menschen  msine  Bekanntschafl 
anzubieten,  den  ich  gar  nicht  kenne,  der  mir  wahrscheinUch 
so  unähnlich  ist  une  möglich!"  —  Die  Sehnsucht,  den 
jungen  Mann  kennen  zu  lernen,  war  jedoch  viel  mächtiger 
als  die  Furcht,  sich  eine  Blöße  zu  geben.  Platen  sollte 
bitter  erfahren,  daß  es  kein  Spiel  der  „Phantasie**  war, 
was  in  ihm  vorging.  Er  konnte  es  kaum  erwarten,  bis 
sich  eine  Gelegenheit  zur  Annäherung  bot.  ,,Er  weicht 
mir  aus*',  heißt  es  am  4.  Januar  1819,  „ich  muß  es  end- 
lich glauben,  daß  er  mir  ausweicht.  Womit  fiab'  ich  das  ver- 
dient? Daß  ich  zerfließen  könnte  in  ein  ewiges  Weinen!  O, 
daß  er  mich  haßte,  aber  mich  tötete!  Zum  erstenmal  fühle 
ich,  daß  es  eine  Seligkeit  sein  müßte,  von  einer  thetiren  Hafid 
zu  sterben.  O  hohe  Vorsicht,  regiere  Du  mich,  regiere  sein 
stolzes  Herz!  Wenn  ich  ausrufen  darf  mit  jener  I^ophetin 
(Eassandra): 

„Und  auch  ich  hob  ihn  gesehen. 
Den  das  Herz  verlangend  wäMV^  — , 

waru/m  kann  ich  sie  nicht  hinzusetzen,  die  reimvollendenden 
Wotie: 

„Seine  schönen  Blicke  flehen. 
Von  der  Liebe  Glut  beseeW? 

Vielmehr  die  meinigen  wären's,  wenn  sie  schön  umren.  Aber 
was  sind  Blicke  des  thränenschweren  blauen  Auges  gegen  die 
Augen  une  Fetter?"   Seine  Ungeduld  wuchs.    Am  S.Januar 


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—     366     — 

schreibt  er  ins  Tagebuch:  ^^Hai  es  Massenbach  vergessen? 
Hast  Du  es  abgeschlagen,  Ädrast?  Bist  Du  ferne  von  hier? 
Bist  Du  krank?  —  Orausame  Alternative/  Wie  wenig  ist 
Dir  an  mir  gelegen;  ich  sehe  Dich  nirgends.  Welche  Unruhe 
treibt  mich  auf  und  nieder!  Ich  kenne  mich  selbst  nicht 
mehr.  Mein  Herx  pocht  beständig.  Nein  —  nein  —  der 
Meine  wirst  Du  nie  u?erden.  Mein  —  Endymion?  Nimmer- 
mehr/ Ich  war  nie  glücklich  und  werde  es  nie  sein.'' 
—  Dann  folgen  Verse,  in  denen  er  sein  Leid  ausgießt 
und  in  denen  er  klagt,  daB  er  Alles  getan  habe,  um  ein 
Bekanntwerden  mit  Adrast  herbeizuführen,  ohne  daß  die 
leiseste  Gegenwirkung  eingetreten  sei. 

y,H(xt  auch  nicht  mit  leisem  Triebe 
Das  Verlangen  Dich  verführt^ 
Mich  zu  suchen^  sanft  gerührt^ 
Und  zu  tuuschen  Lieh*  um  Liebe? 
Meiner  häuslichen  Penaten 
Gottheit  tüird  Dich  nicht  umringen, 
Fremd  der  Name  ,  Freund*  Dir  klingen j 
Ewig  fremd  der  Name  Platcn.** 

Kurze  Zeit  nach  dem  Eintrag  dieser  Verse  bot  sich 
Gelegenheit,  daß  sich  der  Eine  dem  Anderen  näherte. 
Sie  ging  wieder  nutzlos  vorüber.  ^.Gestern  (13,  Januar) 
begegnete  ich  Adrast  allein  auf  der  Straße  beim  Kollegien- 
wechsel. Er  sah  mich  sehr  ernst  an.  Doch  grüßte  er  nicht 
einmal y  was  er  getan  (hätte),  wenn  ihm  an  mir  nur  im 
geringsten  gelegen  wäre.  Ich  selbst  ließ  diese  Oelegenheit  vor- 
übergehen, unewohl  icli  fühlte,  daß  Jahre  verstreichen  können, 
ehe  ich  ihm  wieder  und  auf  diese  Art  allein  begegne.  Ich 
konnte  aber  nicht  mehr  thun,  als  was  ich  gethan  hatte,  ihm 
meine  Bekanntschaft  anbieten.  Da  er  mir  nicht  entgegen- 
kommt, 80  weiß  ich  wohl,  une  ich  dies  auslegen  muß.  Wenn 
er  auch  nur  das  Haupt  zum  Gi-uße  bewegt  hätte,  so  wären 
unr  vereinigt  gewesen.  Nicht  einmal  Das!  Und  doch  sah 
er  mich  so  wundersam  an.     0,  er  ist  mir  ein  Eätself     Ja 


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—     367     -^ 

ick  hoffle  sogar  noch  etwas  Besonderes  vom  heutigen  Tag  — 
aus  Aberglauben  Wir  haben  den  Vierzehnten.  Heule  vor 
sieben  Monaten  war*s,  als  ich  seiner  zum  erstenmal  im  Tage- 
buch erwähnte.  Sieben  ist  aber  die  Hälfte  von  Vierzehn,  das 
Produkt  also  zwei,  und  zwei  sind  wir  beide.  Dieser  Zahlen^ 
aberglaube  ist  vielleicht  thöriehter  als  ein  anderer.  Es  hat 
nun  einmal  Jeder  den  seinigen.  —  Aües  ist  n/wn  geendeter 
als  jemals. ^^ 

Eine  völlige  Mutlosigkeit  griff  in  ihm  Platz  und  es 
war  Gefahr  vorhanden,  daß  der  unglücklich 
Liebende  geradezu  den  Verstand  verliere.  Er 
machte  einsame  Spaziergänge  und  klagte  seinen  Schmerz 
dem  Winde.  Am  30.  Januar  befand  er  sich  an  einem 
Orte  in  der  Umgebung  Würzburgs,  wo  Buschwerk  von 
Epheu  wächst.  Platen  pflückte  von  letzterem  und  flocht 
sich  daraus  eine  Guirlande,  die  er  um  seinen  Hut  legte. 
„^s  sahen  mir  freilich  alle  Leute  auf  der  Straße  nach^*,  be- 
kannte er;  ,,»ie  werden  sich  aber  daran  gewöhnen;  denn 
diesen  Epheu  will  ich  nicht  ablegen.  Ich  trag*  ihn  nicht 
etwa  als  Vorbild  poetischen  Ruhm^,  sondern  als  einen  Talis- 
mann,  mich  zu  stärken,  sobald  mir  das  Selbstvertratien  fehlt 
und  ich  ganz  an  mir  verzweifle.  Zugleich  soll  er  aber  auch 
ein  Talismann  sein  gegen  die  Schüchternheit,  wenn  ich  Adrast 
sehe;  eine  Schüchternheit,  die  ich  oft  auch  auf  andere  aus- 
dehne, weil  ich  schlecht  in  die  Ferne  sehe  und  oft  manche 
Gestalt  von  ähnlicher  Weise,  die  auf  mich  zukornrnt,  für 
Adrast  halte.  —  Wie  wird  mir  fast  angst  und  bange  mit 
meinem  Epheu!  Wie  mich  heute  die  Leute  anstaunten  und 
auslachten,  als  ich  mit  Döllinger  über  das  Olacis  ging!  Und 
was  ist  am  Ende  der  kalte  ^  kalte  Ruhm  gegen  die  warme 
Liebe,  die  ich  verlor^  ohne  sie  besessen  zu  haben?  Denn  ich 
habe  es  nun  klar  erkannt,  daß  ich  Adrast  nicht  zuvorkommend 
anreden  darf.  Ich  weiß  gewiß,  daß  er  längst  meine  Zuneigung 
bemerkte;  er  könnte  sich  also,  wenn  er  gewollt  hätte,  ohne  Scheu 
mir  nähern,  selbst  eh*  ich  meinen   Wunsch  ihm  äußerte.** 


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—     368     — 

Platen  schwankt  nun  wieder  zwischen  Mutlosigkeit 
und  Hoffnung;  er  faßt  Entschlüsse,  nur  um  sie  wieder 
zu  verwerfen.  Schließlich,  am  5.  Februar,  nimmt  er  sich 
fest  vor,  Eduard  anzureden.  „Mag  es  mm  führen,  iootm 
es  unU;  ich  muß  mich  beruhigen.  Meinen  Stolz  hob*  ich 
ohnedem  schon  mit  Büßen  getreten;  xmn  Oerede  habe  ich 
mich  ohnedem,  schon  durch  meinen  Kranz  gemacht.  Ich  fühle 
meine  Absichten  rein  und  edel;  ich  legte  sie  immer  in  den 
Schoß  Oottes,^^  Platen  malt  es  sich  (Eintrag  vom  9.  Februar) 
im  Schmerze  der  Entsagung  aus^  welch'  heilsamen  E2in- 
fluß  der  Umgang  mit  einem  solchen  Freunde  auf  sein 
ganzes  schüchternes,  menschenfeindliches  Wesen  ausüben 
könnte.  „Er  loürde  mich  toieder  ins  Leben  führen.  Es  ist 
so  notwendig.  Sein  Umgang  tvürde  mir  die  Studien  leicht 
machen.  Ohne  mich  zu  rühmen,  tvürde  ich  viel  zu  seiner 
geistigen  Ausbildung  tun  können.  Er  würde  mir  einen  Teil 
seiner  litterarischen  und  ästhetischen  Kenntnisse  danken.  Er 
würde  an  Humanität  und  an  Ideen  gewinnen."  Tags  darauf: 
„Was  ich  darum  gegeben  hätte,  wenn  ich  ihn  heute  kennen 
gelernt  hätte,  kann  ich  nicht  aussprechen.  Heute  atn  10.  Febrttar, 
ein  Tag,  der  mir  immer  der  merkwürdigste  im  Jahre  schien, 
der  Tag  meiner  ersten ,  wahren ,  reinsten ,  unvergeßlichen 
Liebe,  wo  ich  zwm  erstenmale  den  Grafen  von  if(ercy)  sah, 
den  ich  nicht,  wie  später,  liebte  a/us  Nachahmung^  au^s  Ben 
dürfnis  des  Herzens  und  im  Laufe  der  Zeit  und  Oewohnr 
heii,  sondern  plötzlich,  auf  den  ersten  Blick,  im  ersten  Moment 
so  warm  une  im  letzten.  Denkmale  dieser  Neigung  bewahrt 
noch  das  zweite  Buch.  Nicht  bei  ihm,  wohl  aber  bei  späteren 
Gegenständen  meiner  Neigung  konnte  ich  sagen: 

De  Vamour  seulement  noics  sommes  amoureux. 

(Piron,  La  Müromanie,  Act  II,  sc.  8.) 

Ihn  liebte  ich  aber  und  nicht  die  Liebe.  Welch  ein 
Zufall  nun,  wenn  ich  nach  einem  Verlaufe  von  sechs  Jahren 
mannigfaltiger  Thorheit,  gerade  als  jener  verhängnisvolle  Tag 


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—     369     — 

ivieder  auf  einen  MiUtvook  zurückfiel,  in  den  Hafen  meiner 
80  oft  getäuschten  Wünsche  gekommen  wäre!  Mass&nbach 
war  damals  und  ist  nun  nach  sechs  Jahren  abermals  mein 
einziger  Vertrauter,  Merkwürdig  ist  noch,  une  in  diesem 
Zeiträume  meine  Liebe  eine  Stufenfolge  durchlief  von  der 
höchsten  ünwahrscheinlichkeit  bei  Oraf  M.,  der  nicht  einmal 
meine  Sprache  verstand  (und  ich  damals  nicht  die  seinige)  j 
bis  zur  höchsten  Wahrscheinlichkeit  bei  Adrast,  einem  Jüng- 
ling, der  mir  an  Alter,  Wohnort,  Lebensumständen  und  gleichen 
gemeinschaftlichen  Bekannten  so  nahe  steht.  Der  Prinz 
W.  (Wallerstein),  Federigo  und  Wilhelm,  vielleicht  auch  D,  (De 
Alma),  waren  die  graduellen  Glieder  dieser  Kette," 

Endlich,  am  4.  März,  genau  vier  Monate,  nachdem 
er  mit  Massenbach  gesprochen,  faßte  Platen  sich  ein 
Herz  und  wagte  den  angebeteten  Fremden,  als  er  ihm 
auf  der  Straße  begegnete,  wenigstens  zu  grüßen.  Dieser 
erwiderte  höflich;  zu  einem  Gespräch  kam  es  indessen 
noch  nicht  Aber  schon  hierüber  war  die  Freude  des 
Liebenden  eine  unbegrenzte,  wie  es  vordem  sein  Schmerz 
gewesen,  und  auch  sein  Gottvertrauen  kehrte  zurück. 
„O  meu  humor  melancolico'*  —  das  Tagebuch  wurde  um 
jene  Zeit  in  portugiesischer  Sprache  geführt  —  „estä 
todo  muiado,  Estoy  jovial  e  dlegre,  mais  quejamais,  tomada 
a  esperanQao.  A  minha  cabbala  de  calendario  näo  era  in- 
teiramente  sem  significaxäo.  Logo  amsmos,  o  minha  alma, 
e  esperemos,  e  mais  que  isto  agrade(;amos  ao  Deus  omnipo- 
tente, a  Providentia  benigna!^^  (O,  meine  düstere  Stimmung 
hat  sich  ganz  geändert!  Sie  ist  fröhlich  und  heiter,  une  nie- 
mals, geworden  und  ist  zur  Hoffnung  zurückgekehrt.  Die 
Zahlenmystik  in  meinem  Kalender  hat  sich  vollständig  als 
richtig  Brunesen,  Also  lieben  urir,  o  meine  Seele,  und  hoffen 
wir;  sagen  wir  Dank  dem  aUmächtigen  öotte  und  der  gütigen 
Vorsehung!)  Vier  Tage  darauf  heißt  es  (in  Übersetzung): 
„Was  soll  ich  sagen!  O  Himmel,  was  soll  ich  sagen?  Ich 
habe    mit   Adrast  gesprochen!      Also    hat   mich   die    Zahl 

Jahrbuch  VI.  24 


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—     370     — 

j'&ier'  nicht  getäuscht!  Am  4,  haben  tair  tms  x/um  erstenmal 
gegrüßt,  vier  Tage  darauf  habe  ich  zum  erstenmal  mit  ihm 
gesprochen.  Die  Zeichen  waren  uns  günstig.  Es  war  heute 
der  schönste  Tag  von  der  Welt,  ein  wahrer  FriMingstag. 
Aber  was  war  es,  das  wir  gesprochen!  Er  kam  von  der 
Theaterstraße  um  5  Uhr,  als  ich  in  die  ,Harm>onie^  (Klub) 
ging.  Er  fragte,  ob  ich  aus  dem  Kolleg  komme;  wir  sprachen 
vom  Wetter,  vom  Theater  u.  s.  w."  —  Schmidtlein  war  von 
der  Ansprache  ziemlich  überrascht  gewesen;  er  hatte  den 
ihn  Anredenden  gefragt,  wie  er  heiße,  und  dieser  fand  es 
höchst  verwunderlich,  daß  jener  „tat",  als  ob  er  ihn 
heute  zum  ersten  Male  sehe.  Platen  war  nämlich  jetzt 
wieder  der  naiven  Meinung,  daß  sich  der  Fremde  genau 
so  für  ihn  interessiert  haben  müsse,  wie  er  für  den 
Fremden,  und  glaubte  an  Verstellung!  Die  ersten  Ent- 
täuschungen' traten  also  gleichzeitig  mit  dem  ersten  Ent- 
zücken ein.  —  Die  tragischen  Momente  der  perversen 
Geschlechtsrichtung,  die  bei  einer  so  sensiblen  Natur, 
wie  bei  der  Platens,  doppelt  schmerzlich  sind,  machten 
sich  geltend:  Der  Geliebte  fühlte  normal  und  hatte  keine 
Ahnung  von  Dem,  was  der  Liebende  erwartete.  Zwar 
trat  nun  ein  persönlicher  Verkehr  ein,  Platen  überbot 
sich  an  Artigkeiten,  aber  Schmidtlein  wußte  nicht,  was 
er  daraus  machen  sollte.  Bald  scheinen  ihm  die  Beweise 
von  Anhänglichkeit  und  Vertrauen  —  das  Wort  Liebe 
blieb  noch  unausgesprochen  —  lästig  geworden  zu  sein. 
Oft  vergaß  er  unabsichtlich,  oft  „gerne",  was  er  dem  sich 
Anfreundenden  in  seiner  Güte  zugesagt  hatte;  oft  fand 
er  sich  nicht  bei  den  kleinen  Spaziergängen,  die  unter- 
nommen werden  sollten,  oder  bei  dem  Thee  ein,  zu 
welchem  ihn  Platen  auf  seine  Stube  geladen  hatte,  und 
trieb  sich  unterdessen  mit  seinen  Kommilitonen  herum. 
Die  Stimmung  Platens  wurde  düsterer  denn  je.  Noch 
im  gleichen  Monat,  am  25.  März,  heißt  es,  nachdem  der 
stolze  Graf  wieder  einmal  vergeblich  auf  den  ihm  ver- 


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—     371     — 

sprochenen  Besuch  SchmidÜeins  gewartet  hatte:  „Meine 
Lage  ist  fürchterlich.  Ich  vergieße  die  bittersten  Tränen,  Haß 
und  Liebe,  in  meiner  Brust  vereinigt,  zerreißen  mein  ganzes 
Herz,  Diese  schneidende  Kränkung,  diese  unverdiente  Oering- 
Schätzung  von  einem  Menschen,  dem  ich  mein  Wohlwollen  so 
sehr  zu  erkennen  gab  und  der  mich  hintansetzt,  während  er 
mit  einer  Menge  junger  Leute  umgeht,  die,  ich  darf  es  sagen^ 
unier  mir  stehen  —  diese  Kränkung  nagt  tvie  ein  körperlicher 
Schmerz  an  meinem  Wesen.  Ich  fühle  mich  unfähig  zu 
AUem.  Während  meine  äußern  Umstände  so  glücklich  sind, 
gibt  mir  diese  unselige  Liebe  Leiden  zu  tragen,  die  mein 
besseres  Seihst  aufzehren.  Mich  von  ihm  zu  trennen,  dünkt 
mich  schrecklicher  als  Alles  und  —  doch  wieder  einzig  als 
umnschenstoert,^^ 

Dann  heißt  es  weiter:  „Er  wollte  um  vier  Uhr  kommen. 
Es  ist  fünf  Uhr/' 

Später  (am  gleichen  Tage):  „Er  kommt  also  wieder 
nicht.  Wer  ist  jemals  so  beleidigt  worden  une  ich,  so  tief 
gekränkt  worden?  Warum  geschieht  nie,  wa^  man  erwartet? 
Welche  Sehnsucht  und  welch  vergebliches  Harren/  Welche 
Abreise/  (Platen  beabsichtigte  für  den  andern  Tag  wegen 
des  Semesterschlusses  von  Würzburg  wegzugehen.)  Wie 
froh  selbst  würde  ich  Würzburg  verlassen  haben,  hätte  ich  die 
Qevnßheit  mit  mir  genommen,  daß  er  mir  wohl  will.  Und 
nun  spottet  er  meiner  augenscheinlich.  Ich  sah  ihn  diesen 
Morgen  zum  letztenmal.  Diese  Täurschung  ist  fürchterlich.  Nur 
die  Religion,  nur  der  Qedanke  an  Gott  und  seine  Vorsicht  kann 
mich  aufrecht  erhalten.  Die  Welt  ist  leer  ohne  ihn.  —  — 
Es  ist  sechs  Uhr.      Was  ich  empfinde,  ist  unaussprechlich.^^ 

Adrast  kam  nicht;  Platen  reiste  anderen  Tages  ab. 

In  Ansbach  bei  den  Eltern  angekommen,  war  das 
Erste,  was  er  unternahm,  daß  er  seinem  Herzen  durch 
einen  wohlgesetzten  Brief  Luft  machte.  „Ich  schrieb  ihm, 
une  ich  glaube,  weder  zu  viel  noch  zu  wenig,  weder  zu 
herablassend  noch  zu  stolz."     Der  Brief  lautete: 

24* 


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—     372     — 

,fWenn  unter  Ihren  Bekannten  derjenige,  den  Sie  van 
Allen  am  wenigsten  schätzen,  wenn  er  Sie  gebeten  hätte,  den 
Tag  vor  seiner  Abreise  ihn  noch  zu  besuchen,  und  Sie  es  gu- 
gesagt  t  so  tcürden  Sie  ihm  das  Wort  gehalten  haben.  Mir 
haben  Sie's  nicht  gehalten.  Womit  verdiente  ich  um  Sie  diese 
Unaufmerksamkeit,  diese  offetibare  Geringschätzung'^  Wenn 
ich  ein  solches  Benehmen  gewohnt  wäre,  so  würde  micKs  nicht 
geschmerzt,  ich  würde  es  vielleicht  gar  nicht  gemerkt  haben. 
Aber  alle  Menschen,  mit  denen  ich  bis  diesen  Tag  zu  tun 
hatte,  haben  mich  mit  Achtung  und  Liebe  behandelt.  Im 
Falle  ich  Ihnen  mißfiel,  wie  ich  schon  früher  zu  bemerken 
glaubte,  warum  haben  Sie  mir's  nicht  gesagt?  Warum  geben 
Sie  mir^s  zu  verstehen  auf  eine  kränkende  Weise?  Kränkend 
gewiß  für  Jeden,  der  sein  Zartgefühl  nicht  verloren  hat. 
Ohne  Scheu  und  ohne  Eitelkeit  darf  ich's  vor  Ihnen  aus- 
sprechen, daß  Sie  leichtsinnig  den  Umgang  eines  Menschen  von 
sich  stießen,  dessen  Geist  nicht  ganz  ohne  fVirkung  auf  den 
Ihrigen  möchte  geblieben  sein,  dessen  argloses  und  wohl- 
wollendes Herz  vielleicht  nicht  unwürdig  war,  gekannt  zu 
werden.  Leben  Sie  wohl!  Ich  habe  ein  Recht,  Sie  zu  bitten, 
daß  Sie  diesen  Brief,  den  Sie  nicht  eintnal  beantworten  werden, 
verbrennen,  sobald  Sie  ihn  lasen.  Er  kann  Ihnen  wenigstens 
zum  Beweise  dienen,  daß  ich  gerne  freimütig  über  jedes  Ver- 
hältnis in  klaren  Worten  mich  ausspreche,  um  es  auf  einen 
festen  Standpunkt  zurückzuführen.  Im  schlichten  Bewußtsein, 
daß  ich  mir  keinen  Vorwurf  in  Hinsicht  meines  Betragens 
gegen  Sie  machen  darf  und  daß  ich  es  immer  herzlich  gut  mit 
Ihnen  gemeint  habe,  schließe  ich.^^ 

Dieser  Brief  —  mit  seiner  halb  enthüllten,  halb  ver- 
deckten Liebe  —  wurde  von  Schmidtlein  beantwortet 
Aber  welche  Antwort!  Härte  und  Kälte  und  ?iicht  ein 
Funken  Neigung!'^  Eduard  Schmidtlein  antwortete,  wie 
er  eben  konnte  und  muBte: 

„  W€7m  Sie  geglaubt  haben,  ich  würde  Ihren  von  Empfind- 
lichkeiten strotzenden  Brief  unbeantwortet  lassen,  so  haben 
Sie  sich  sehr  geirrt;  warum  ich  denselben  vernichtefi  soll,  sehe 
ich  gar  nicht  ein.  Aber  so  viel  ist  mir  aus  demselben  Mar 
geworden,  daß  Sie  es  fühlen,  ohne  sich  dieses  Gefühls  deutlich 
bewußt  zu  sein,  wie  vorschnell  und  übereilt  Sie  gehandelt  haben. 
Wenn  Sie  ferner  glauben,  ich  hätte  Sie  aus  Unaufmerksamkeit 


9) 


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—     373     — 

und  Geringschätzung  nicht  besucht j  so  haben  Sie  sich  ebenso 
sehr  betrogen.  Gründe^  Sie  davon  zu  überzeugen,  habe  ich 
genug,  aber  diese  einem  Menschen  vorzulegen,  der  schon  urteilt, 
ehe  er  noch  einen  Grund  für  sein  Urteil  hat,  scheint  mir  über- 
flüssig. Was  Sie  übrigens  berechtigt,  zu  sagen,  Sie  glaubten 
schon  früher  bemerkt  zu  haben,  daß  Sie  mir  mißfielen,  weiß 
ich  nicht.  Wenn  Sie  in  mir  einen  komplimentösen  Menschen 
suchten,  so  tut  es  mir  leid,  daß  Sie  sich  an  einen  Unrechten 
gewendet  haben.  Sie  sind  Graf  —  das  weiß  ich;  aber  Sie 
sind  Mensch,  das  bin  ich  auch.  Sie  sind  Student,  das  bin  ich 
auch,  und  hier  fallen  alle  bürgerlichen  Verhältnisse  und  Zere- 
monien. Dies  zur  Nachricht  auf  Ihre,  wie  Sie  sagen,  frei- 
mütigen, im  Grunde  aber  sehr  empfindlichen  und  voreiligen 
Äußerungen.  Was  wäre  wohl  natürlicher  gewesen,  als  zuerst 
zu  fragen:  „Warum  hast  Du  mich  nicht  besucht?*^  und  sich 
erst  dann,  wenn  ich  es  aus  Nachlässigkeit  getan  hätte,  über 
Geringschätzimg  zu  beklagen?  Dies  haben  Sie  aber  nicht  für 
gut  befunden  und  auf  diese  Weise  fällt  der  Vcyrwurf,  den  Sie 
mir  machen,  daß  ich  leichtsinnig  einen  Freund  von  mir  ge- 
stoßen hätte,  ganz  auf  Sie  selbst  zurück.  Diesen  großen  Grad 
von  Empfindlichkeit  und  dabei  noch  so  vorschtieller  Empfind- 
lichkeit hätte  ich  von  Ihnen  nicht  erwartet.  —  Leben  Sie  wohl 
tmd  bringen  Sie  Ihre  Ferien  recht  vergnügt  zu. 

S." 

Dieser  Brief  ist  deshalb  merkwürdig,  weil  er  zeigt, 
daß  auch  Schmidtlein  nicht  prüfend  vorging  und  die 
Schuld  auf  einen  umstand  bezog,  der  gar  nicht  vorlag, 
ein  Mißverständnis,  das  für  alle  derartigen  „Verhältnisse** 
symptomatisch  ist.  Die  Empfindsamkeit  Platens  beruhte 
nicht  auf  seinem  Standesbewußtsein.  Dem  Grafen  war 
seine  soziale  Stellung  gewiß  nicht  gleichgültig;  aber  höher 
als  vornehme  Geburt  ging  ihm  stets  der  Adel  des  Geistes 
und,  in  bezug  auf  sich,  sein  Wert  als  Dichter.  Er  war,  wie 
wir  schon  aus  seinem  früheren  Leben  wissen,  in  Sachen 
der  Etikette  völlig  vorurteilsfrei;  er  hatte  Sinn  und  Ver- 
ständnis wie  für  die  Reize  der  Natur,  so  fllr  die  des 
Volkslebens,  und  gegenüber  allen  Menschen  —  wenn  sie 
nur  schöne  „Bildung"  des  Körpers  besaßen  und  dem 
männlichen  Geschlecht   angehörten   —   vergaß  er  ganz, 


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-     374     — 

daß  er  Graf  war.  Von  seinem  Verhältnis  zu  Adrast  gilt 
dies  natürlich  in  erhöhtem  Grade.  Platens  Empfindsam* 
keit  beruhte  eben  deshalb  auf  dem  schmerzlichen  Gefühle, 
seine  Liebe,  die  er  für  Freundschaft  ausgab,  unerwidert 
und  abgelehnt  zu  sehen.  Das  ahnte  der  Angefreundete 
ebenso  wenig,  wie  Platen  sich  bewußt  wurde,  daß  ein 
Mann  nach  der  Art  Schmidtleins  seine  Gefühle  aus  Grün- 
den der  Naturnotwendigkeit  gar  nicht  teilen  konnte. 
Aber  der  leidenschaftlich  Verblendete  zagte  nicht;  er 
hofiPte,  das  Mißverständnis  beseitigen  zu  können.  Der 
„steinerne  Brief"  kränkte  ihn,  aber  es  freute  den  Lieben- 
den, daß  er  von  dem  Angebeteten  nun  wenigstens  ein 
Schreiben  besaß,  das  er  beantworten  konnte.  Er  benutzte 
sogar  den  Anlaß,  mit  seinen  Absichten  auf  Eduards  Herz 
noch  mehr  herauszurücken. 

Wir  können  es  unterlassen,  den  Brief,  in  welchem 
dies  geschah,  mitzuteilen;  es  genüge  die  Andeutung,  daß 
derselbe  das  Mißverständnis  nur  vergrößerte  und  daß  er 
wieder  nichts  weiter  als  ein  Versteckspiel  war,  indem  er 
die  vorhandenen  Tatsachen  unterdrückte  und  einen  nicht 
zutreffenden  Umstand  vorschob,  d.  h.  daß  er  auf  der 
einen  Seite  die  gebieterische  Stimme  des  Herzens  über- 
täubte und  andererseits  den  konventionellen  Gesetzen  der 
Gesellschaft,  mit  denen  er  sich  im  Widerspruche  fühlte, 
Rechnung  trug.  „Wie  sehr  habe  ich  ihm  mein  Herz  ge- 
öffnet'', heißt  es  nach  Absendung  des  Briefes  im  Tage- 
buch, y^msine  Freimdschafl  ihm  angeboten,  ihm  gesagt,  welchen 
vorteilhaften  Eindruck  er  auf  mich  gemacht,  us'w»  Wenn  sich 
nach  diesem  Briefe  abermals  keine  Sympathie  in  seiner  Brust 
regtj  wenn  er  höchstens  die  polemischen  Stellen  in  meinem  Briefe 
auffaßt,  um  mich  wieder  barsch  zu  hofmeistem,  dann  vrird 
doch  endlich  msine  Eitelkeit  z/wr  eungen  Ruhe  kommen,  dann 
werde  ich  doch  nicht  mehr  auf  sein  Mitgefühl  hoffen.  Er  hat 
keine  Ursache,  zu  heucMn^',  —  setzt  er  mit  gutmütiger 
Verblendung  bei,  —  „und  wenn  er  auch  woUte,  ude  leicht 


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—     375     — 

läßt  sich  die  wahre  Herxliehkeit  erkennen/  Daß  es  ein  mir 
uneriüortetesj  fast  aUxu  großes  öliick  wäre,  wenn  er  mir  mit 
Sympathie  entgegenkäme^   ist  wahr.      Unmöglich  ist  es  aber 

doch  nicht, Ich  darf  mich  damit  trösten,  daß  icÄ 

alles  getan  habe,  was  in  meiner  Macht  stand.  Wenn  ich  aber 
seinen  Brief  erhalte,  woher  soll  ich  den  Mut  nehmen,  ihn  xu 
öffnen^  ihn,  von  dem  Alles  abhängt,  loorin  ich  seit  zehn 
Monaten  aU  mein  Qlück  setze? 

Ach,  ich  fordre  keines  Bimdes, 
Keiner  Frettndechaft  dattemd  Band; 
Ach;  nur  einen  Druck  der  Hand, 
Eine  Sübe  nur  des  Mundes, 

So  viel  hätte  ich  nun  freilich  erreicht;  denn  er  hat  mir 
mehr  als  ein/mal  die  Hand  gedrückt  u/nd  m>ehr  als  eine  Silbe 
mit  mir  gesprochen'^,  heißt  es  am  7,  April.  —  Genügsamer 
kann  die  Liebe  nicht  sein.  Aber  die  Genügsamkeit  ver- 
ließ den  Sehnsuchtsvollen,  als  eben  jener  Brief,  auf  den 
alle  HoflFnung  gesetzt  war,  unbeantwortet  blieb.  Platen 
möchte  wieder,  möchte  alle  Tage  schreiben.  Aber  so 
weit,  daß  er  diesen  Wunsch  ausführte,  vergißt  sich  sein 
Stolz  doch  nicht  und  der  Unglückliche  wendet  sich  nun 
einzig  an  das  Tagebuch,  seinen  stummen  Vertrauten,  in 
welchem  er  sich  seinen  Eduard  persönlich  vorstellt  „Ich 
weiß  nicht,  woher  es  kommt,  mein  liehenswvrdiger  Freund, 
und  welche  Magie  Du  über  mich  ausübst,  aber  ich  bin  immj&r 
in  Gedanken  hei  Dir  und  fühle  mich  ohne  Dich  ganz  und 

gar  verlassen, Ich  hohe  geliebt  vor  Dir,  aber  ich  hohe 

niemanden  so  sehr  gelieht.  Ist  m^in  Brief  keiner  Antwort 
wert?  Ich  habe  nie  einen  so  ivarmen,  versöhnenden  Brief 
geschrieben  urie  diesen.^* 

Seine  Gesundheit  fing  zu  leiden  an.  Wenn 
Nervosität  schon  Normale  nicht  verschont,  denen  zur  Be- 
friedigung oft  launenhafter  Wünsche  alle  Wege  geebnet 
werden,  wie  soll  der  Homosexuale,  dessen  vitale  Triebe 


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—     376     — . 

nicht  weniger  mächtig  sind  als  die  eines  anderen  Men- 
schen, die  aber  nicht  befriedigt  werden,  wie  soll  der 
Homosexuale  seine  Gesundheit  bewahren?  „Mangel  an 
Oesundheit  und  unerwiderte  Preumdsohaft  (d.  i.  hier  un- 
gestillter Liebestrieb)",  schrieb  der  einsam  Leidende, 
y^nd  zwei  Dinge,  wovon  schon  eines  im  stände  wäre,  schwer- 
mütig bis  xmn  Lebensüberdruß  xu  machen.  Wie  sehr  unrd 
jedes  geistige  Leiden  durch  physisches  Wohlbefinden  und  jede 
Krankheit  durch  gerettete  Geistesfreiheit  erleichtert/  Guter, 
freundlicher  Ädrast,  warum  bist  Du  gegen  mich  so  unfreund- 
lich? Wie  gerne  umrde  ich  Dir  schreiben^  tvenn  ich  könnte! 
Dies  wäre  noch  das  einzige  Geschäft,  welches  ich  ertragen 
möchte,  ja  —  ich  umrde  mit  welcher  Liebe  daran  gehen!  Ist 
denn  Alles  umsonst  gewesen?  —  — 

Durch  des  Leibs  Organe  wühlen^ 
Durch  die  Nerven  zucken  Schmerzen, 
Doch  die  Kraft  in  meinem  Herzen 
Wird  nicht  müde,  Dich  zu  fühlen. 

Schwermut  überläuft  die  Seele, 
Schauer  überläuft  die  Glieder, 
Aber  Töne  find*  ich  wieder, 
Daß  ich  Dir  m£in  Leid  erzähle. 

Ach,  umsonst  in  jenem  Briefe 
Strebf  ich,  daß  mein  Herz  versteckt', 
Was  Dein  Anblick  in  ihm  weckt, 
Was  es  fühlt  in  tiefster  Tiefe. 

Ach,  in  jenem  Brief  Du  findest 
In  ihm,  wenn  er  Dich  erreichte, 
Teurer,  meine  ganze  Beichte, 
Wenn  Du  willst  und  mitempfindest. 

Schmilzt  es  Dich  zur  Sympathie, 
Welch'  ein  grenzenlos  Entzücken.' 
Aber  kehrst  Du  mir  den  Rücken, 
Wie  ertrag'  ich's,  ivie,  ach  ivief" 


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—     377     — 

Am  22.  April  reiste  Platen  vom  elterlichen  Hause 
in  die  Universitätsstadt  zurück.  Dort  erfuhr  er,  daß 
Schmidtlein  den  Brief  empfangen;  er  sah  aber  den 
Empfanger  erst  am  vierten  Tage.  Es  war  im  Lese- 
zimmer der  „Harmonie^^  Platen  näherte  sich  dem  An- 
wesenden von  rückwärts  und  klopfte  ihm  mit  der  Hand 
auf  den  Rücken.  SchmidÜein  wandte  sich  um,  reichte 
die  Hand,  fragte,  wann  er  angekommen  und  wann  man 
ihn  zu  Hause  treffen  könne.  „Als  ioh  ihm  Vorwürfe 
machie,  daß  er  mir  nicht  mehr  geantwortet^  sagte  er,  er  hätte 
mich  selbst  abtvarten  wollen.  Also  scheute  er  sich  im  besten 
Falle  doch  immer,  es  schriftlich  in  meiner  Hand  xu  wissen^ 
daß  er  mir  gtU  sei?  Aber  so  ist  es  einmal.  Ich  fühle  seine 
Lage  tm  mir.  Sympathie  fühlt  er  nicht  für  mich;  er  hätte 
es  sonst  nicht  über  sich  gebracht,  mich  ohne  Antwort  %u 
lassen,"  —  Man  sieht,  vriie  oft  die  Tiefen  seines  Wahnes, 
seiner  „Torheit*'  wie  durch  einen  Blitzstrahl  erhellt  werden, 
wie  aber  gleich  darauf  wieder  die  gewaltsame  Bosch wicli- 
tigung  der  Vernunft  imd  die  naivste  Selbsttäuschung  ein- 
tritt. Es  ist  der  Kampf  der  Vernunft  mit  der  Natur, 
die  immer  wiederkehrende  Tragik  der  Homosexualität, 
ein  Kampf,  der  immer  zum  Nachteil  des  liebenden  Herzens 
ausfällt  Je  mehr  Platen  in  sich  hineingrübelt,  desto 
gleichgültiger  wird  Schmidtlein.  Nicht  einmal  der  jetzt 
versprochene  Besuch  kommt  zur  Ausführung,  eine  Nach- 
lässigkeit, die  übrigens  in  keinem  Falle  entschuldigt 
werden  kann.  „jE7s  ist  heute  taieder  nichts",  ruft  der  Lie- 
bende am  28.  April  aus.  „Ich  sage  nichts  mehr,  ich  weine, 
O  öott,  gib  mir  Kraft  und  Resignation!  Ich  hohe  nie  so 
sehr  geliebt  vne  in  diesem  Augenblicke.  Wenn  alle  Schätze 
der  Erde  mein  wären,  ich  urürde  sie  willig  hingeben,  wenn 
ich  seine  Gestalt  nie  gesehen  hätte,  O  welche  Fbigen  von 
einer  einzigen  unbewachten  Stunde!  O  Oott,  ein  feierliches 
Gelübde  schwör^  ich,  nie  mehr  xu  lieben.  Es  hat  mich  in 
msiner  Blüte  zerstört.      Es  hat  meinen  Geist  entnervt."   — 


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—     378     — 

Der  Arme  unterlag  dem  Wahne^  daß  die  Ge- 
schlechtsliebe eine  Sache  des  freien  Willens  sei 
und  daß  man  sich  ihr  nach  Belieben  widmen  oder 
entziehen  könne.  Aber  die  Natur  ist  stärker  als  der 
Wahn  und  Wille.  Am  1.  Mai  trieb  es  Platen  in  die  Woh- 
nung Eduards,  wo  er  denselben  lesend  fand.  Er  erfuhr 
über  den  Eindruck,  den  der  (Liebes-)  Brief  gemacht,  nichts 
weiter,  als  daß  es  weder  Unaufmerksamkeit  noch  Ver- 
achtung gewesen  sei,  was  die  Nichtbeantwortung  des 
Briefes  verursachte;  über  alles  andere  ging  Eduard  mit 
Stillschweigen  hinweg  und  auch  Platen  schwieg  sich  in 
seinem  Grame  vorläufig  aus.  Bald  aber  traf  ihn  wieder  ein 
Hoffnungsstrahl,  der  ihn  beseligte.  Am  4.  Mai  wurde  ein 
gemeinsamer  Spaziergang  unternommen,  und  es  war  das 
erste  Mal,  daß  Platen  ein  lebhaftes  Gefühl  der  Zufrieden- 
heit empfand;  der  Genügsame  freute  sich  schon  deshalb, 
weil  er  sich  an  der  Seite  des  Geliebten  sah  nach  so 
langer  Zeit  der  Qual,  weil  er  dessen  Stimme  hören,  in 
seine  vor  Heiterkeit  glänzenden  Augen  schauen  konnte. 
Eduard  Schmidtlein  empfand  nichts  von  Liebe  für  Platen; 
aber  es  ist  ein  Zeugnis  seines  guten  Herzens,  daß  er 
nun  suchte,  ihm  wenigstens  ein  Freund  in  seinem  Sinne 
zu  werden.  Gegen  Abend  desselben  Tages,  wo  der 
Spaziergang  unternommen  wurde,  schlug  Platen  vor, 
noch  Thee  bei  ihm  zu  trinken,  und  der  Begleiter  nahm 
die  Einladung  an.  Der  Abend  verlief  ohne  Ereignis. 
Beim  Weggehen  versicherte  Eduard  den  Liebenden  seiner 
„Achtung^^  und  sprach  die  Erwartung  aus,  daß  er  ihn 
eines  Tages  davon  überzeugen  könne.  Der  Liebende  war 
schon  hierüber  glücklich.  y^Ainai  le  repos*^  —  das  Tage- 
buch wurde  jetzt  französisch  geführt  —  y^Vesperance  ei 
VamüU  s'emparhrent  de  mon  äme,"  Die  Theeabende  wieder- 
holten sich  in  der  Folge  und  wurden  in  der  Regel  mit 
der  Lektüre  einer  Dichtung  ausgefüllt  Platen  wählte 
übrigens   meist   solche  Stücke,   in  welchen  die  Freund- 


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—     379     — 

Schaft  eine  Rolle  spielt^  z.  B.  ^^Konradin'S  Trauerspiel 
von  Friedrich  von  Heyden.  (Dieser  obskure  Dichter 
wurde,  vermutlich  wegen  solcher  Stoffwahl,  ganz  besonders 
von  Platen  ausgezeichnet.)  Gegenstand  des  sich  an  die 
Lektüre  anschließenden  Gespräches  waren  Pläne  eines 
gemeinsamen  Ausfluges  ins  bayrische  Gebirge,  für  welches 
Platen  noch  immer  eine  starke  Vorliebe  hatte.  Hierauf 
bezieht  sich  das  uns  aus  den  „Gesammelten  Werken'' 
bekannte  Gedicht,  welches  beginnt: 

„Lockt  es  nicht  auch  Dich  ins  Weite, 
Wo  kein  Zwang  das  Herz  entstellt? 
Wandern  möchte  ich  Dir  zw  Seite, 
Dir  zur  Seite  durch  die  TTett." 

Der  Liebende  schrieb  das  Gedicht  f&r  Eduard  ab 
und  überreichte  es  mit  einer  Widmung  (ebenfalls  in  die 
^.Gesammelten  Werke"  aufgenommen).  Die  wenigen,  in 
echt  Platenschem  Wohllaut  hinfließenden  Verse  dürfen 
hier  nicht  fehlen: 

,,Lorheei'  war  dem  höchsten  Ruhme 

Heilig  einst  auf  Hellas'  Flur; 

Eine  künstlich  goldene  Blume 

Überkam  der  l^rubadour. 

Mich  belohne 

Weder  Krone, 

Noch  metalVne  Hyazinthe^ 

Mich  der  Freund,  der  treugesinnte, 

Mich  Vertrauen  und  Liebe  nur.** 

Auch  während  der  Spaziergänge  wurde  gelesen,  nach- 
dem man  sich  auf  einer  Bank  niedergelassen.  Für  Eduard 
müssen  solche  Situationen  etwas  Peinliches  gehabt  haben, 
weil  Platen  sie  für  die  angemessenste  Gelegenheit  hielt, 
den  Gefühlen  seines  Herzens  Luft  zu  machen.  Freilich 
kleidete  er  die  Begriffe  immer  in  einen  jfremden  Aus- 
druck, sprach  von  „Wertschätzung",  wo  er  die  Freund- 
schaft, von  „Freundschaft",  wo  er  die  Liebe  meinte  und 
wo   ihn   die    glühendste   Leidenschaft    verzehren   wollte. 


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—     380     — 

Eduard  selbst  legte  sich  immer  eine  Beserve  auf,  gab 
unbestimmte  Antworten  und  wollte  die  Freundschafts- 
bezeugungen entweder  nur  in  anderem,  im  gewöhnlichen 
Sinne,  oder  gar  nicht  verstehen.  Meist  gab  er  eine  aus- 
weichende Antwort.  Auf  die  Frage  z.  B.,  ob  er  sich  zu 
einem  dauernden  BYeundschaftsbunde  entschließen  könnte, 
antwortete  er  nur:  „Wie  können  Sie  daran  zweifeln?"  — 
Platen  aber  deutete^  wenn  er  nur  irgendwie  konnte, 
Alles  zum  Guten  und  war  auch  mit  einer  solch' 
nichtssagenden  Antwort  zufrieden;  ja  er  fand  sich 
durch  sie  sogar  beglückt,  er  betrachtete  sie  geradezu 
als  eine  „Erklärung".  Das  Gespräch,  in  welchem  ihm 
diese  Antwort  zu  teil  wurde,  fand  am  7.  Juni  (1819)  auf 
einer  Bank  am  Würzburger  Glacis  statt.  „Ge  jour  c'est 
eher  ä  notre  amitiSI"  heißt  es  im  Tagebuch  vom  8.  Juni 
—  —  f^Enfin  je  lui  parU  de  mon  journcU,  et  qu^ü  y  6taü 
nommS  souverU/^  „Das  freut  mich  sehr*%  erwiderte  Eduard, 
„daß  Sie  mir  einen  Platz  in  Ihren  Memoiren  gewähren.*' 
„Helas!  il  ne  sait  pas  quslle  place  ü  y  occupe,  quel  röle  il  y 
joue  depuis  hien  de  joura,  II  ne  sait  pas  quHl  me  coüte. 
Hier  pour  la  premiere  fois  nous  allämes  notts  promener  les 
bras  croisSs:  il  avait  mis  le  sien  autour  de  mon  cou,  et  moi 
je  tenais  embrassi  le  milieu  de  son  corps,  dont  le  poids 
cheris  pesait  en  m^ms  temps  sur  mes  epaiUes/'  Dann  fügt 
er  entschuldigend  bei:  „On  pourrait  observer  que  cela  est 
pens4  sensuellemsnt,  Mais  pourqvm  ne  devrai^-je  jouir  de 
l'aspect  bienfaiSant  de  sa  beaiUi  pourvu  que  mon  dme  soit 
pure,**  Platen  verschwieg  sich,  daß  zwischen  dem  Anblick 
der  Schönheit  und  einer  Umarmung  des  Körpers  doch 
ein  Unterschied  sei.  . —  Für  sein  körperliches  Befinden 
waren  diese  Tage  glücklichen  Empfindens  von  heilsamstem 
Einfluß.  ,fMeine  Oesundheit^^,  sagt  er,  „fühlt  sich  wieder 
hergestellt,  seitdem  ich  mich  glücklich  fühlen  seitdem  meine 
Seufzer  mich  nicht  mehr  verzehren.  Ich  nehms  an  Körper- 
gewicht ZAi  und  guter  Gesichtsfarbe,'' 


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—     881     — 

Schmidtlein,  der  Platens  geistige  Vorzüge  bewunderte 
und  Achtung  vor  dessen  Charakter  hegte,  scheute  sich,  dem- 
selben wehe  zu  tun,  zumal  er  seine  Empfindlichkeit  völlig 
kannte.  Vielleicht  auch  glaubte  er,  daß  es  Platen  wirklich 
bloß  um  sein  (Eduards)  geistiges  Wohl,  um  die  Vermehrung 
seiner  Kenntnisse  und  die  Ausbildung  seines  Geschmackes 
zu  tun  sei;  jedenfalls  hatte  er,  wie  gesagt,  ein  gutes  Herz, 
und  ließ  sich  die  Freundschaftsbeweise  des  Grafen  mehr 
und  mehr  gefallen.  So  wurde  am  Morgen  des  9.  Juni 
wieder  ein  Spaziergang  mit  Lektüre  des  „Konradin"  unter- 
nommen. „  Wir  saßm'^,  schreibt  Platen  voll  sanguinischen 
Hoffens  und  zugleich  selbstquälerischer  Furcht,  „auf  einer 
einsamen  Bank,  eine  lieblioke  Gegend  im  Angesicht  Wir 
hielten  uns  wm-sckkmgen.  Sein  Haupt  ruhte  an  meinem 
Busen,  und  unsere  Wangen  berührten  sich  häufig.  Um  dieses 
Olück  vollständig  zu  machen,  bot  uns  das  Trauerspiel,  welches 
von  Freundschaft  und  Liebe  handelt,  so  schöne,  wahre  u/nd 
bezeichnende  Verse,  welche  auf  alle  Seiten  unseres  Verhält- 
nisses Beziehungen  hatten.  So  unrd  das  Andenken  an  diesen 
Morgen  uns  (sie!)  unauslöschlich  sein.  Wir  begaben  uns  an 
die  Stelle  (am  Glacis],  wo  unsere  Erklärung  stattgefimden 
hatte.  Ich  machte  Eduard  darauf  aufmerksam  und  Eduard 
sagte,  ,daß  ihm  diese  Unterhaltung  stets  teuer  sein  werde'. 
Diese  Aufsichten  sind  ohne  Zweifel  günstig^  aber  sie  entbehren 
von  Einer  Seile  nicht  der  Gefahr,  Das  ist  die  Leidenschaft, 
Wir  beide  sind  jung  und  lieben  uns  glühend.  Aber  ich  hoffe, 
Gott  unrd  uns  beschützen  und  vor  dem  Abgrund  bewahren,^' 
Diese  Furcht  vor  den  Gefahren  der  Sinnlichkeit  hat 
etwas  Rührendes;  aber  wenn  man  erwägt,  daß  sie  zu 
einem  Kampfe  wurde,  der  aus  einem  ebenso  hartnäckig 
festgehaltenen  wie  schlecht  verstandenen  Ehr-  und  Sitt- 
licbkeitsbegriff  entsprang,  so  kann  man  sich  eines  ge- 
linden Unwillens  nicBt  erwehren.  Es  wirkt  auch  beinahe 
komisch,  wenn  man  sieht,  wie  Platen,  einem  wohlerzogenen 
Mädchen  gleich,    auf  seine  Tugend   hält   und   doch   im 


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—     382     — 

nämlichen  Augenblicke  kein  anderes  Sinnen  und  Trachten 
kennt  als  mit  dem  Geliebten  körperlich  „vereint"  zu  sein. 
Das  Menschliche  im  Menschen  erhielt  indessen  jetzt  die 
Oberhand.  Obwohl  Eduard  jede  Gelegenheit,  sich  Platens 
Anfreundungen  zu  entziehen,  benutzte,  so  ergriff  dieser 
doch  den  unbedeutendsten  Anhaltspunkt,  um  sich  ihm 
noch  mehr  zu  nähern.  Am  30.  Juni  wurde  das  trauliche 
„Du"  eingeführt  und  bei  dieser  Gelegenheit  war  es,  daß 
y^nous  nous  embrassions  pour  la  premiere  fois".  Aus  der 
Umarmung  wurde  ein  Kuß,  aus  dem  Kusse  wurden  un- 
gezählte Küsse.  Für  Platen  stand  es  nun  fest,  eine 
Freundschaft  in  seinem  Sinne  genießen  zu  können.  Er 
ging  in  seiner  optimistischen  Selbsttäuschung  so  weit,  daß 
er  an  homosexuelle  Neigung  selbst  bei  Schmidtlein  dachte ! 
Dieser  hatte  nämlich,  wohl  nur,  um  auch  seinerseits 
irgend  einen  Vertrauensbeweis  zu  geben,  einmal  von  einem 
„Geheimnis"  gesprochen,  das  ihn  drücke,  das  er  aber  nicht 
mitteilen  könne.  In  der  Tat  hatte  dasselbe,  wie  sich 
später  herausstellte,  in  ganz  gewöhnlichen  Familienver- 
hältnissen seinen  Grund;  Platen  aber,  in  seiner  Hoff- 
nungsseligkeit, war  gleich  der  Meinung,  das  Geheimnis 
sei  nichts  anderes,  als  „die  Unmöglichkeit,  ein  Weib  zu 
lieben^  und  die  unbezwingbare  Neigung  zum  männlichen  Oe- 
achlechi^^,  wie  das  bei  ihm  selbst  der  Fall  war!  Diese 
Meinung  wurde  zwar  dem  Freunde  gegenüber  vorläufig 
nicht  ausgesprochen,  aber  im  vertrauten  Tagebuch  nieder- 
gelegt. jyEdu^ard  ist  der  erste  Mann,  der  mir  so  sehr  gleicht, 
daß  es  nichts  mehr  gibt,  was  ich  ihm  noch  verbergen  könnte" 
Sehr  bald  trat  die  Enttäuschung  ein,  welche  die 
Hoffnung  Platens  zerstörte.  Am  anderen  Tage  morgens 
—  ,Jour  funeste"  —  besuchte  er  Eduard,  welcher  noch 
im  Bette  lag,  in  seiner  Wohnung.  „Ich  zeigte  ihm  aU  meine 
Liebe,  aber  er  war  kälter  als  je"  Platen  sprach  diesmal 
unumwunden  von  seiner  Überzeugung,  daß  Eduard  keine 
Weiber  liebe.     Eduard  konnte  dies  zwar  nicht  leugnen; 


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—     383     — 

aber  ^y&r  versicherte  mich,  daß  er  noch  niemals  eine  Neigung 
XU  einem  Manne  empftmden  habe.  Er  anhoortete  kawn  mehr 
auf  meine  Fragen  und  hai,  daß  ich  mich  entferne.  Aber  ehe 
wir  uns  trennten,  wmarmten  unr  uns  noehmai  mit  unserer(\) 
ganzen  früheren  Zärtlichkeit: 

Je  sentais  m'entourant  des  plus  aimables  noeuds, 
S'etendre  et  8*arrondir  ses  bras  voluptueux.^' 

„Dennoch  wage  ich  es,  zu  behaupten^^,  fährt  er  nun 
aufrichtig  weiter,  ,yvm  mich  %u  rechtfertigen  oder  vielmehr 
mich  darüber  %u  entschuldigen,  daß  ich  (also  nicht  Eduard] 
so  leidenschafllich  war:  Daß,  wenn  Eduard  so  zärtlich  wärre, 
wie  ich  es  bin,  ich  an  meiner  Stelle  ebenso  zurückhaltend 
wäre  vine  er.  Ich  wünsche  nicht  das  Laster,  aber  Eduards 
Kälte,  (welche  nicht  imm^  die  gleiche  war),  feuert  mich  an, 
während  sie  mich  entmutigt  Ich  habe  diese  Tage  traurig  ver- 
lebt und  viel  geweint."  —  Welche  Verwirrung  von  Gefühlen 
und  Begriffen!  Schon  früher  hatte  es  Szenen  gegeben, 
welche  ein  Fingerzeig  hätten  werden  können  für  die  Aus- 
sichtslosigkeit der  von  Platen  gehegten  Wünsche  und 
Hoffnungen.  Wie  er  von  jeder  vermeintlichen  Unauf- 
merksamkeit Anlaß  nahm^  sich  schwer  gekränkt  zu  fühlen^ 
so  benutzte  Schmidtlein  jede  Empfindlichkeit,  um  sich 
von  Platen  zurückziehen  zu  können.  Freilich  kam  es 
immer  wieder,  nachdem  die  gegenseitigen  Vorwürfe  ge- 
fallen, zu  einer  Art  Verständigung;  Platen  konnte  dann 
von  dem  „Vertrauen"  und  dem  „Interesse"  sprechen, 
welche  ihm  die  „Physiognomie"  des  anderen  einflößte, 
und  schließlich  gab  es  dann  stets  ein  willkommenes  Fest 
der  Versöhnung  mit  Umarmung  und  Kuß.  So  am  21.  Juni, 
von  welchem  das  Tagebuch  meldet:  „Wir  gingen  im  Hof- 
garten  spazieren  und  hatten  ein  languneriges  Gespräch,  un- 
glückseligerweise wieder  am  selben  Orte,  wo  *wir  uns  er- 
klärt hatten.  Ich  sprach,  indem  ich  das  freundschaftliche 
,Du'  umging,  zum  ersten  Mal  in  einem  gereizten  und  herben 


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—     384     — 

Tone  mit  ihm,  tmd  er  machte  es  nicht  besser.  Wir  tauschten 
gegenseitig  Vorwürfe  aus.  Ich  sagte  u.  a.,  daß  er  sich  des 
Mittels  eines  Menschen,  der  sich  gebrannt  hai,  bediene,  und 
welcher  sich  noch  einmal  brennt,  um  den  Schmerz  xu  ver- 
treiben. So  hat  er  mich  einmal  gekränkt  und  jetzt,  um  die 
Beleidigung  gut  xu  machen^  kränkt  er  mich  noch  einmal.  — 
Indessen  sagte  mir  Eduard  heute  das  erste  Mal  offen,  daß  er 
mich  liebe  und  daß  er  wohl  wisse  y  une  er  meinem  Herzen, 
welches  dies  durch  seine  Empfindsamkeit  bewies,  durchaus 
nicht  gleichgültig  sei.  Er  fragte:  ,QUmben  Sie  nicht,  daß 
Sie  mir  wert  sind?*,  wozu  er  gleich  beifügte:  , Antworten  Sie 
nicht  darauf!  Ich  hoffe,  daß  ich  Ihnen  eines  Tages  durch 
meine  Handlungen  betveisen  werde  und  dann  werde  ich  Sie 
uneder  fragen,'^'' 

Dieser  Tag  kam  freilich  nicht;  dafilr  trat  anfangs 
Juli  eine  neue  Spannung  ein.  Die  Eifersucht,  mit  welcher 
Platen  den  Umgang  Eduards,  der  noch  immer  seine 
Kommilitonen  vorzog,  betrachtete,  riß  ihn  zu  der  un- 
gerechten Behauptung  hin,  daß  der  Geliebte  ein  frivoler 
und  zur  Libertinage  geneigter  Mensch  sei.  Es  kam  zu 
heftigen  Auseinandersetzungen,  in  welchen  Eduard  mit 
Erfolg  das  Gegenteil  bewies.  „Jcä  konrM^  sagt  Platen, 
„nicht  anders  als  ihm  glauben,  ihn  zärtlich  umarmen  und 
um  Verzeihung  bitten,  indem  ich  ihn  meiner  ganzen  Liebe 
versicherte,  —  Nous  Stions  dejd  preis  de  rums  recondlier,  de 
nous  tuioyer  (de  nouveau),  nous  nous  tenions  embrassis,  rrutis 
un  tour  malheureux  que  prenait  notre  conversaHon  aüait  nous 
perdre.  Edouard  fixait  Videe  que  nos  charaderes  fussent  trop 
dissemblables ,  que  je  vecusse  dans  un  autre  sphere  que  lui 
meme,  qus  notre  amitie  ne  pourrait  subsister,"  Das  war 
deutlich  genug  gesprochen;  aber  der  Liebende  konnte 
und  wollte  daran  nicht  glauben.  „Je  we  lui  cächait  point 
ce  qus  je  souffrirai  de  notre  Separation,^*  EndUch  nach 
einer  fünfstündigen  Unterredung  trennte  er  sich,  Eduard 
nochmal  die  Hand  reichend.    Er  sagte,  daß  er  bloß  Das 


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—     385     — 

getan  habe,  was  er  habe  tun  müssen.  y,Äk''^  erwiderte 
Platen^  ,,wenn  Sie  einen  Menschen  mißhandeln,  der  Sie  liebtj 
wenn  Sie  ihn  aufs  tiefste  verletzen,  so  kommt  dies  Ihnen 
nicht  schwer  an;  oh  nein,  oh  n&in/^^  —  Er  begab  sich 
darauf  an  eine  einsame  Stelle  und  yergoß  einen  Strom 
von  Tränen.  „Ich  bin  tot  für  die  Welt;  denn  ich  bin  es 
für  ihn^^,  so  verzeichnet  das  Tagebuch  die  Stimmung  vom 
3.  Juli.  Der  Schmerz  ließ  ihn  nicht  ruhen.  Anderen 
Morgens  begab  er  sich  in  Eduards  Wohnung.  Wieder 
eine  Flut  von  Vorwürfen;  Eduard  sei  ein  Mensch  ohne 
Herz,  ohne  Gefühl;  er  solle  die  Briefe,  die  er  erhalten, 
herausgeben.  Aber  die  Neigung  trug  den  Sieg  über  den 
Stolz  davon.  „Je  me  mis  sur  ses  genoux  en  le  conjwrant 
avec  mille  mots  Umohanis  et  miUe  baisers  de  ne  separer  pas 
ce-qtie  le  sort  mems  avait  liS"  (!).  Eduard  versicherte  wieder, 
daß  Platen  ihn  nicht  genugsam  kenne  und  daß  zwischen 
den  beiden  Charakteren  ein  allzu  großer  Unterschied  be- 
stehe. „Eben  deshalb",  sagte  dieser,  instinktiv  das  Richtige 
treffend,  „sind  unr  für  einander  gemacht,  bestimmt,  diMroh 
umsere  Ähnlichheit  xu  sympathisieren,  dwrch  v/nsere  Unähn- 
lichkeiten  einander  zu  ergänzen/^  Hätte  Platen  diesen 
Standpunkt  immer  eingehalten  und  demselben  auch  offen 
Ausdruck  verliehen,  so  würde  ihm  manche  Enttäuschung 
erspart  geblieben  sein,  und  Eduard  andererseits  hätte  in 
seiner  Herzensgüte  manche  Schroffheit  vermieden.  Dies- 
mal aber  zeigte  sich  letzterer  entgegenkommend.  „//  m'em- 
brassa  avec  ard&ur,  le  ,tu^  revint  se  jouer  sur  ses  Uwes  et 
il  me  jura  de  redevenir  mxm  ami,  comme  ü  le  füt  auparor 
vant  et  de  Vetre  pour  toujours,^^  Platen  wollte  einmal  nicht 
als  bloßer  Gegensatz  gelten,  sondern  sich  für  gleich- 
wertig gehalten  wissen.  Daher  seine  Vertauschung  der 
Begriffe,  seine  Verheimlichung  der  wahren  Gefühle  und 
sein  stets  beleidigter  Stolz. 

Am  11.  Juli  glaubte  er  sich  wieder  einmal  kalt  be- 
handelt und  „noch  mehr  als  das*^.   Er  sagte  dem  Freunde, 

Jahrbuch  VI.  25 


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—     386     — 

daß  er  Alles,  was  er  besitze,  geben  würde,  wenn  er  ihn 
nie  kennen  gelernt  hätte.  ,,M  erblicke  keinen  anderen  Alis- 
weg,  als  uns  für  immer  zu  trennen/'  Diesmal  war  es 
Eduard,  der  sich  Dicht  entfernen  wollte.  Die  Unterredung 
fand  auf  Platens  Zimmer  statt  Hundertmal  gab  sich  der 
Freund  den  Anschein,  wegzugehen,  hundertmal  blieb  er 
zurück,  jfSei  es,  daß  ich  ihn  zuriickhieU^  sei  es,  daß  er  selbst 
zögerte*'.  Als  es  nochmal  zu  einer  heftigen  Erklärung 
kam  und  Eduard  Miene  machte,  sich  wirklich  zu  ent- 
fernen, wurde  Platen  von  einem  solchen  Zorne  erfaßt, 
daß  er  ihm  zurief:  „So  geh'  in  Teufels  Namen/'^  Eduard 
schwor,  nie  mehr  das  Zimmer  zu  betreten,  und  ging  da^ 
von.  Platen  suchte  ihn  natürlich  des  anderen  Tages  früh 
wieder  auf,  traf  ihn  aber  nicht  an  und  spielte  nun  selbst 
den  Beleidigten,  indem  er  auf  einem  Blatt  Papier  die 
Worte  hinterließ:  „P.  pour  la  demiere  fois^^.  Die  Wirkung 
'  war  ein  Brief,  der  bereits  nachmittags  bei  Platen  eintraf 
und  in  welchem  es  hieß,  es  sei  auch  auf  Seite  Eduards 
„la  demiöre  fois"  gewesen,  daß  er  bei  ihm  war.  „Es 
ist  das  Beste  für  uns;  unsere  Herzen  werden  sich  nie  ganz 
verstefienj  und  ich  bedaure  es  mrklichj  in  Ihnen  einen  Men- 
schen gefunden  zu  hahen^  mit  dem  ich  niciU  freundschaftlich 
harmonieren  kann,  obschon  ich  Ihnen  meine  Achtung  und  Ver- 
ehrung in  hohem  Grade  zolle.  Hassen  Sie  mich  deswegen 
nicht,  ich  kann .  wahrhaftig  nicfds  dafür,  daß  mich  die  Natur 
nicht  so  fühlend  geschaffen  wie  Sie/^  —  Das  war  auch 
jetzt  wieder  der  Kampf  zwischen  Vernunft  und  Natur, 
der  immer  zugunsten  Eduards  ausschlug,  während 
Platen  in  keinem  Falle  die  Oberhand  behielt.  Der 
Kampf  war  ein  ungleicher,  da  bei  Schmidtlein  die  Ver- 
nunft der  bereitwillige  Bundesgenosse  war  und  die  Natur 
kein  Wort  mitzureden  brauchte,  während  Platen  gleich- 
zeitig mit  beiden  kämpfen  mußte.  Er  erbleichte,  als  er 
das  Schreiben  bekam.  Er  wußte  aber  nicht,  daß  er  erst 
noch  den  Gipfel  des  Elends  zu  ersteigen  hatte.      Sofort 


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begab  er  sich  wieder  in  die  Wohnung  des  Briefschreibers, 
fand  ihn  aber  auch  diesmal  nicht  vor.  Dort  richtete  er 
folgenden  Brief  an  Eduard: 

,^Auf  demselben  Tische,  an  dem  Du  mich  das  letzte  Mal 
beleidigtest,  empfange  nun  das  letzte  Andenken  eines  vorsätz- 
lich verkannten  Freundes,  Weit  über  jede  Affektion  erhaben, 
nenne  ich  Dich  Du,  wie  ich  Dich  immer  nannte^  und  wenn 
Du  es  heute  nicht  tatest,  so  konnte  es  mich  nur  ivenig  berühren, 

da  das  Maß  Deiner  Kränkungen  bereits  üherfiäU  war, 

Ich  übergehe  einige  Unzartheiten  Deines  Briefes  und  ergreife 
nur  den  Hauptpunkt,  um  Dir  ein  Geheimnis  ins  Ohr  zu  sagen, 
das  Du  zu  ignorieren  scheinst.  Du  achtest,  sagst  Du,  Du  ver- 
ehrest mich,  wohl;  aber  ein  Drittes  hast  Du  vergessen,  Du 
liebtest  mich.  Du  liebtest  mich,  oder  Du  wärest  einer  Ver- 
stellung fähig,  die  ich  kaum  dem  schwärzesten  aüer  Dämonen 
zutraute.  Noch  gestern  spiegelte  Deine  Liebe  in  jedem  Blicke, 
in  jeder  Silbe  sich,  mit  jedem  Kuß  berührte  sie  meine  Lippen.^* 
(Letzteren  Satz  hielt  Platen  wohlweisUch  zurück,  da  er  offen- 
bar einsah,  daß  er  nicht  das  Becht  hatte,  aus  einer  not- 
gedrungenen Vergünstigung,  die  ihm  ward,  einen  aus  freiem 
Entschlüsse  hervorgegangenen  Beweis  der  Liebe  zu  kon- 
struieren.) Dann  aber  heißt  es:  „Je  lui  dis  que  je  n'avais 
jamais  cache  mon  amour  et  qu^ü  etait  le  seul  Jwmme  du  monde 
qui  connüt  tout  ma  faiblesse  (sie!).   Je  nepouvais  la  defendre  ni 

Vexcuser,  il  avait  fallu  suivre  les  sentiments  de  mon  coeur. 

Je  lui  dis  que  dans  ce  moment  j'etais  tout-ä-fait  incapahle  de 
me  separer  de  lui.'^ 

Kaum  war  der  Brief  beendet,  so  trat  Eduard  ins 
Zimmer.  Platen  entfernte  sich  auf  der  Stelle  und  wies 
bloß  auf  das  Geschriebene  hin,  das  auf  dem  Tische  lag. 

Vierundzwanzig  Stunden  darauf  folgte  die  Antwort, 
aUzusehr  das  Spiegelbild  der  unseligen  Wirkungen,  welche 
die  Liebe  eines  edlen  Homosexualen  in  der  Seele  eines 
ehrenhaften  Normalmannes  hervorruft,  als  daß  sie  hier 
nicht  vollständig  wiedergegeben  zu  werden  verdiente: 

„Deinen  Brief  habe  ich  gelesen  und  es  hat  mich  sehr  ge- 
schmerzt, darin  wieder  Voncürfe  zu  finden,  die  ich,  bei  Gott, 
nicht  verdiene.    Daß  ich  Dich  Sie  nannte,  geschah  weit  mehr 

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rücksicktlich  Deiner,  als  aus  der  Stimmung  meines  Herzens; 
daß  Du  mir  aber  vortvirfsty  ich  habe  Dich  noch  zum  letzten 
Male  gekränktf  darin  tust  Du  mir  sehr  Unrecht,  und  dies  ver- 
doppelt sich  noch,  wenn,  wie  es  allerdings  aus  Deinem  Briefe 
scheint^  Du  glaubst,  ich  habe  es  absichtlich  getan.  Nimm  von 
mir  hier  das  feierliche  Versprechen,  daß  dieses  nie  in  Absicht 
geschah,  am  allerwenigsten  in  einer  Stunde,  in  welcher  ich 
wahrscheinlich  mit  Dir  zum  letzten  Male  sprach  und  in  der 
ich  selbst  mit  mir  genug  zu  tun  hatte,  da  ich  fand,  daß  ich 
Dich  achtete  und  ehrte  und  —  wenn  Du  es  im  rechten  Sin^ie 
nimmst  —  aiich  liebte  und  doch  nicht  Dein  Freund  werden 
konnte.  (Der  Briefschreiber  gebraucht  das  Wort  im  Sinne 
Platens.)  Wegen  Dir  je  zugefügter  vermeintlicJier  oder  uHrk- 
licher  Beleidigungen  bitte  ich  Dich  hiemit  um  Vergebung  und 
setze  die  Versicherung  hinzu,  die  Du  mir  nie  geglaubt  hast, 
vielleicht  auch  jetzt  wieder  nicht  glaubst:  daß  es  nie  meine 
Absicht  war.  Dich  zu  kränken,  und  daß  ich  mich  immer  nur 
so  zeigte,  wie  ich  war,  und  nur  so  handelte,  toie  ich  mußte. 
(Der  Verstand  sagte  freilich  auch  Platen,  daß  keine  Kränkung 
vorlag;  aber  die  Liebe,  welche  Gegenliebe  verlangte,  war  da- 
mit nicht  zufrieden  und  erblickte  schon  in  dem  Mangel  der- 
selben eine  schwere  Kränkung.)  Daraus  ist  mir  leicht,  meine 
ganze  Handlungsweise  zu  rechtfertigen,  da  ich  nie  etwas 
Anderes  geschienen  habe,  als  ich  bin,  und  noch  leichter  wird 
mir  diese  Bechtfertigung ,  da  ich  mit  innigster  Überzeugung 
aussprechen  kann,  daß  icir  anfangs  auf  verschiedenen  Wegen 
ein  Gleiches  —  die  Freundschaft  nämlich  (im  allgemeinen 
Sinne)  —  erstreben  wollten  und  daß  wir  nie  zum  Ziele  kom- 
men, weil  wir  einander,  wa^  mir  in  der  letzten  Zeit  erst  recht 
klar  geworden,  nie  verstanden.  (Der  Irrtum  beruhte  auf  dem 
Mißverständnis,  dem  Pla|;en  damals  selbst  unterlag:  Daß  man 
von  Freundschaft  sprechen  könne,  wo  die  Liebe  wirkt,  und 
daß  es  eine  rein  platonische  Neigung  gebe,  wo  die  sinnliche 
Liebe  Platz  gegriffen.)  In  Deinem  (Lebens-)  Laufe  stieß  ich 
Dir  auf  und  Du  fühltest  Dich,  wie  Du  sagst,  gleich  im  ersten 
Augenblick  zu  mir  hingezogen;  Du  suchtest  mich  kennen  zu 
lernen  und,  schon  vom  Schicksal  hierzu  bestimmt,  mir  FVeund 
zu  werden,  kamst  Du  in  meinen  Arm.     Nicht  also  ich. 

Gewöhnt,  jeden  Menschen  zu  achten,  zu  ehren,  gut  und 
freundlich  gegen  Jedermann,  ging  ich  Deinem  freundschaft- 
lichen Anerbieten  freundschaftlich  mtgcgen;  ich  habe  es  gleich 
im  Anfang  gewiß  gut  mit  Dir  gemeint.    Du  wardst  mir  zart- 


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lieh,  Freund,  und  ich  habe  Dir  Deine  Zärtlichkeit  erwidert, 
ich  gestehe  es,  weniger  aus  innerem  Antriebe,  cUs  in  der 
Hoffnung,  daß  ich  gewiß  gegen  Dich,  den  ich  als  einen  edlen, 
wackeren  Menschen  erkannt  habe,  auch  in  kürzester  Zeit  Das 
fühlen  werde,  was  Du  gegen  mich  fühltest.  Ach,  leider  hat 
es  der  Erfolg  anders  gezeigt  und  mich  über  mich  seihst  viel- 
fältig nachdenken  gemacht.  Du  umrdest  immer  zärtlicher  gegen 
mich,  und  ich  fühlte  mit  jedem  Tage  mehr,  daß  ich  Dich  zwar 
sehr  achtete  und  liebte,  aber  nie  ,  Freund*  werden  könnte.  Da 
hielt  ich  mich  verpflichtet,  mich  Dir  zu  entdecken,  und  ich  tat 
es  jenes  Mal  im  Hof  garten  (am  21.  Juni);  ich  habe  mich  dort 
ganz  aufgeschlossen.  Du  fandest  die  Verschiedenheit  unseres 
inneren  Lebens  nicht  so  groß;  Du  glaubtest,  es  sei  noch  mög- 
lich, daß  tvir  Freunde  würden,  und  abermals  gab  ich  Dir 
nach,  wiewohl  mit  einem  Gefühl  der  Unmöglichkeit,  woraus 
Dir  mein  Sträuben,  in  das  alte  Verhältnis  zurückzukehren^ 
jetzt  erklärlich  wird. 

Viel  hat  es  mich  seitdem  geängstigt,  sowohl  Deinetwegen 
als  meinetwegen,  daß  ich  immer  nicht  das  heilige  Feuer  der 
Freundschaft  (sie!)  in  meinem  Busen  fühlte.  Gott,  sagte  ich 
oft  zu  mir,  was  bist  Du  für  ein  Mensch,  daß  Du  einen  edlen, 
aufrichtigen  Menschen,  der  noch  vom  Schicksale  gezu^ngen  ist, 
Dir  Freund  zu  sein,  diese  Freundschaft  nicht  erwidern  kannst! 
Alles  umsonst!  Ich  konnte  nichts  über  mich  gewinnen.  Ich 
konnte  mich  nicht  anders  machen,  als  mich  die  Natur  er- 
schuf. —  Hier  habe  ich  mich  Dir  ganz  aufgeschlossen.  Wenn 
Du  mich  nur  verstehst!  Und  wenn  Du  mich  verstehest,  ver- 
damme mich,  wenn  Du  kannst!  Du  weißt  nun  Alles,  und 
nun  entscheide  Du,  ob  wir  zusammenkommen  wollen  oder 
nicht.     Leb*  wohl!'' 

Wie  viele  Worte  um  einer  einfachen  Wahrheit 
willen!  Hätte  nur  einer  von  beiden  das  Wesen  der 
Homosexuaütät  gekannt,  so  würde  das  ganze  große  Miß- 
verständnis nicht  eingetreten  sein.  Aber  nicht  Platen 
einmal,  der  homosexuelle  Teil,  war  mit  dem  Wesen  der 
perversen  Geschlechtsnatur  vertraut.  Wir  werden  mit 
schrecklicher  Erkenntnis  an  die  Worte  Zschokkes  er- 
innert: ,,So  sehr  ist  seine  (des  Homosexualen)  Gedanken- 
welt durch  den  Wahn  der  Welt  verschroben,  daß  er  sich 


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selbst  fbr  wahnsinnig  und  unnatürlich  halten  muß  und 
wirklich  dafür  hält.  Er  erkennt  weder  Ursprung  noch 
Zweck  seiner  heiligen  Neigung.  Ohne  sie  verbrecherisch  zu 
finden,  nimmt  er  sie  auf  Treu  und  Glauben  der  Welt  für 
verbrecherisch/^  Wir  erleben  hier  aber  noch  das  Selt- 
same, daß  nicht  nur  der  Homosexuale,  sondern  auch  der 
normale  Teil  an  sich  selbst  irre  wird  und  sich  für  un- 
natürlich hält,  weil  er  „das  heilige  Feuer  der  Freund- 
schaft, nicht  in  seinem  Busen  fühlt^i.  Was  bedarf  es 
noch  mehr,  um  das  ganze  Seelenelend  zu  schildern,  das 
durch  die  ungerechte  Beurteilung  der  perversen  Ge- 
schlechtsnatur in  der  Welt  hervorgerufen  wird! 

Der  Brief  Eduards  hatte  auf  Platen  ganz  vernichtend 
gewirkt  und  Verzweiflung  bemächtigte  sich  wieder  seiner 
Seele.  „Es  blieb  mir  nichts  übrig  als  der  Instinkt,  der  mich 
trieb,  zu  Edtmrd  zu  eilen  —  und  ich  eüte  xu  ihm.  Ich  zer- 
floß in  Tränen  vor  ihm  und  überließ  mich  meiner  grenzen- 
losen Verzweiflung.  Anfangs  behandelte  er  mich  mit  Härte. 
Er  sagte,  daß  er  diese  Tränen  nicht  ertragen  könne^  er  sagte 
noch  andere*  Dinge,  welche  mein  Inneres  zerrissen.  Später 
erschien  er  ein  wenig  gerührt.  Ich  erklärte  ihm,  daß  ich 
mich  nicht  plötzlich  von  ihm  entwöhnen  könne  und  daß  er 
mich  aus  Mitleid  und  Menschlichkeit  nicht  verlassen  möge. 
Endlich  ging  er  weg  und  ich  begleitete  ihn,  gestürzt  aus 
meinem  Paradies,  verumndet  bis  in  die  Tiefen  meines  Herzens, 
in  Liebe  entbrannt  mehr  denn  je,  durchdrungen  von  einem 
Gefühl,  welches  keine  Sprache  auszudrücken  vermag.^'  Noch 
war  der  Bruch  kein  vollständiger,  kein  dauernder.  Noch 
einmal  belog  sich  Platen,  daß  seine  Liebe  über  die  Natur 
des  anderen  siegen  könne;  noch  einmal  gab  der  Edelmut 
des  Angebeteten  nach  und  ertrug  aus  Mitleid  Alles,  wo- 
gegen alle  Sinne  sich  in  ihm  zur  Wehr  setzten.  Platen 
sah  dies  Letztere  in  lichten  Augenblicken  selbst  ein. 
Keine  Täuschung,  keine  Lüge  hielt  denn  mehr  vor  und 
die    ganze   Wahrheit    seines    unverschuldeten    Unglücks 


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wurde  ihm  klar.  „Ich  leide  schrecklich'',  schreibt  er  am 
26.  Juli,  „und  mehr  als  ich  verdiene,  O  warum,  warwm 
hat  mich  die  Vorsehung  so  gebildet!  Warum  ist  es  mir 
unmöglich,  Frauen  zu  liehen^  warum  muß  ich  diese 
unglückselige  Neigung  nähren,  welche  nie  erlaubt 
sein  und  nie  erwidert  werden  kann?  Qiht  es  Men- 
schen, deren  Lehen  nichts  anderes  sein  muß  als  eine 
Schule  der  Tränen?^' 

Platen  mußte  diese  letzte  Frage  immer  wieder  durch 
seine  eigene  Erfahrung  bejahen.  Oft  hat  er  in  der 
Sprache  der  Dichtung,  meist  in  Anklängen  an  Worte 
Schillerscher  Frauen,  seinem  Schmerz  Ausdruck  ver- 
liehen, und  es  könnte  zuweilen  scheinen,  als  ob  er  sich 
darin  gefiele,  eine  tragische  Rolle  zu  spielen,  und  als  ob 
der  Inhalt  seiner  Herzensergüsse  bloß  anempfunden  sei. 

Allein  bei  seinem  gründlichen  Studium  der  Dichter 
war  es  naheliegend,  daß  er  deren  Worte,  welche  ihm 
stets  zu  Gebote  standen,  für  die  Äußerung  seiner  so  oft 
ihnen  entsprechenden  Gefühle  verwendete.  Wenn  übrigens 
die  Leidenschaft  den  höchsten  Grad  erreichte  und  das 
Unglück  in  seiner  ganzen  Übermacht  über  ihn  herein- 
brach, dann  spricht  er  nicht  mehr  in  den  Formen  fremder 
Dichtung  und  der  Schmerz  äußert  sich  mit  der  Unmittel- 
barkeit eigener  Empfindung.  Das  ist  nun  auch  der  Fall 
in  den  letztangeführten  Worten,  die  mit  der  Elementar- 
kraft der  Wahrheit  Wiederhall  finden  müssen.  Eine 
feierlichere  Manifestation  der  Menschennatur,  die  sich 
gegen  ein  unverschuldetes  Unglück  und  eine  ungerechte 
Verfolgung  aufbäumt,  kann  die  menschliche  Sprache  nicht 
mehr  hervorbringen. 

Im  Bewußtsein  des  Rechtes,  das  in  seiner  innersten 
Seele  nicht  erschüttert  wurde,  gab  Platen  seine  Hoffnung 
nicht  auf,  und  wieseine  Liebe  im  Geliebten  nur  Kälte 
erzeugte,  so  rief  in  ihm  selbst  die  Kälte  nur  eine  noch 
heftigere  Leidenschaft  hervor.   Diese  erreichte  eine  solche 


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Glut,  daß  sie  jede  y erschämte  Rücksicht  abwarf  und  end- 
lich in  ihrer  nackten  Wahrheit  dastand.  Der  alte  Wahn, 
der  jetzt  mit  Recht  als  Torheit  erschien,  kehrte  zurück. 
Trotz  jener  unzweideutigen  Erklärung  Eduards  hoflfte 
Platen  noch  einmal  auf  Gregenliebe  und  seine  Hoffnung 
steigerte  sich  bis  zur  Verblendung.  Natumotwendig 
führte  dies  zur  Katastrophe. 

Die  Herbstferien  waren  eingetreten;  Eduard  ging 
zu  seinen  Eltern  nach  München.  Platen  mochte  sich 
nicht  von  Würzburg,  wo  er  glückliche  Frühlingstage  ge- 
nossen zu  haben  vermeinte,  vollständig  losmachen,  son- 
dern bezog  eine  Sommerwohnung  im  nahen  Dorfe  Ip- 
hofen.  Die  Trennung,  welche  sonst  die  Leidenschaft 
lindert,  versagte  hier  ihre  wohltätige  Wirkung.  Der 
Dichter  schrieb  an  den  Freund  einen  liebeatmenden 
Brief,  auf  welchen  eine  kurze,  nichtssagende  Antwort  er- 
folgte. Er  ergoß  nun  seine  Gefühle,  für  welche  er  kein 
teilnehmendes  Ohr  fand,  in  Verse,  die  er  in  seinem  Pult 
vergrub  und  welche  lauteten: 

jy  Selbst  in  der  Einsamkeit  Asyl  verfolgt 

Mich  unversöhnt  der  scharfe j  böse  Pfeil! 

Beglückt,  beruhigt  saß  ich,  wandelf  ichy 

Den  Griffel  und  die  Bücher  in  der  Hand; 

Da  kam  Dein  Brief  —  ein  harter^  kurzer  Briefe 

Doch  rief  er  mir  Dein  Bild  zurücky  ich  sprach: 

Das  sind  die  Züge  Deiner  schönen  Hand, 

Der  Handy  die  liebevoll  ich  oft  gedrückt. 

Ich  sah  Dein  Aug*  im  Geist,  weh  mir,  Dein  Aug'  —  *' 


(Drei  Blätter  mit  Versen  sind  an  der  betreffenden 
Stelle  des  Tagebuchs  herausgeschnitten.  Sie  enthielten 
wohl  Gefühlsergüsse,  die  für  keinen  unberufenen  Leser 
bestimmt  waren.)  Nicht  mehr  die  beleidigte  Vernunft, 
die  lange  unterdrückte,  elementare  Sinnlichkeit  war 
es,  die  jetzt  mit  steigender  Heftigkeit  emporschlug  und 


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—     893     — 

sich  in  dem  23jälirigen  jungen  Manne  nun  einmal  nicht 
mehr  mit  Grundsätzen  und  Vemunftschlüssen  niederhalten 
ließ.  Platen  selbst  sagt  —  mit  einigen  Widersprächen  — 
im  Anschluß  an  die  ausgeschiedenen  Verse:  ,,Da8  sind 
meine  OefühlCy  und  wohin  sind  sie  gekommen?  Aber  es  ist 
nicht  die  WoÜttst,  welche  die  Verse  ?iervorgebraeht,  sondern 
die  Liebe.  Es  ist  nicht  allein  die  Seele,  welche  lieben  kann; 
es  ist  unser  ganzes  Wesen,  zusammengesetzt  atis  Seele  und 
Leib,  und  diese  kann  man  nicht  trennen.  Hat  der  Leib  nicht 
auch  seine  Bechte  une  die  Seele?  Ich  kann  diese  Verse  nicht 
verdammen;  sie  scheinen  mir  so  schön  und  wollüstig}*^  Er 
las  jetzt  mit  besonderer  Vorliebe  die  römischen  Elegiker, 
welche  die  Freundesliebe  besangen^  und  manches  aus 
deren  nicht  gerade  platonischer  Anschauung  ging  in 
seine  eigenen  Poesien  über.  Und  wie  seine  Poesie  ero- 
tisch, so  wurde  seine  Liebe  poetisch  in  diesen  Tagen. 
yyMon  amour,  n'est-ü  devenu  phis  poetiqus  depuis  qu'il  est  si 
ardeni?^^  Eine  Probe  solcher  elegischen  Episteln,  die 
zugleich  ein  Zeugnis  seines  glänzenden  Talentes  sind, 
darf  auch  hier  nicht  fehlen:* 

j.Gesellig  wandern  werd'  ich  nickt  mit  Dir 

Durch  Feld  und  Äu'n  und  ländlich  Buschrevier, 

Das  seine  letzten  Schatten,  halb  entlaubt. 

Uns  schenkf  und  Blätter  schüttelt  auf  Dein  Haupt: 

Dir,  dem  der  Frühling  seine  Blüte  gab. 

Tritt  auch  der  Herbst  den  letzten  Schmuck  noch  ab. 

Doch  keine  Blume  werd*  ich  mehr  gewahr, 

Den  Kranz  zu  drücken  in  Dein  dunkles  Haar; 

Wie  müßten  lieblich  Basen  und  Jasmin, 

Sich  schlingen,  Freund,  U7n  Deine  Schläfe  hin! 

Doch  blühen  Kamillen  nur  noch  um  und  um, 

Karthäusernelken,  blasses  Colchicum; 

Die  kleine  Bellis  birgt  sich  sittsam  hier, 

Sie  ist  des  Lenzes  tote  des  Herbstes  Zier, 

Die  Achillea  steht  noch  weißlich  grau. 

Und  neben  ihr  der  Skabiose  Blau. 

Kaum  tvürzt  noch  Münz'  und  Thymian  die  Luft, 


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Die  andern  edle  spenden  keinen  Duft. 
Sie  welken  tingepfiikkt  und  unbegehrt, 
Doch  scheint  mir  keine.  Dich  zu  kränzen,  wert. 

Komm,  laß  uns  ruhen  im  Maßholderstrauch; 
Hier  quiUt  ein  Bach,  hier  schwillt  der  Basen  au^h 
Und  breitet  seidenweich  sein  grünes  Vließ, 
Hier  schmücken  Küsse  noch  einmal  so  süß. 
Und  wir  bedürfen  ja  nur  u>ns  allein, 
Um  ganz  vergnügt,  ja  —  ganz  beglückt  zu  sein.^^ 

Und  diese  Epistel  sandte  der  Dichter  nnn  wirklich 
an  den  Freund;  er  sandte  sie  nicht  ohne  Besorgnis,  daß 
demselben  der  Ton  des  Schlusses  mißfallen  könnte;  'des- 
halb fügte  er  im  Tagebuch  bei:  „Si  las  irois  lignes  der- 
nieres  ne  Im  plaisaieni  pas,  ü  pourrait  les  effacer.*^  Besser 
würde  es  freilich  gewesen  sein,  Platen  hätte  sie  selbst 
weggelassen;  aber  die  Leidenschaft  war  übermächtig  ge- 
worden und  schlug  in  hellen  Flammen  auf.  „Ich  habe 
nie  etwas  ihm  (EMuard)  Ähnliches  gesehen.  Solche  Äugen 
trifft  man  nur  ein  einziges  Mal.  Er  ist  der  erste  Mensch^ 
den  ich  wahrhaft  geliebt  habe;  denn  man  liebt  nur  halb, 
wenn  nicht  auch  die  Sinne  entflammt  sind.''  Die 
negative  Wirkung,  die  Wirkung  auf  Seite  Ekluards,  trat 
mit  der  Kraft  eines  Naturgesetzes  ein.  Die  Worte 
glühender  Sehnsucht  fanden  keinen  Widerhall  mehr,  und 
Platen,  statt  sich  nun  zu  mäßigen,  geriet  auf  den  un- 
seligen Einfall,  seine  erotischen  Geschosse  zu  verschärfen. 
Was  er  in  einem  Briefe  vom  Anfang  Oktober  an  Eduard 
schrieb,  ist  nicht  bekannt;  die  einschlägigen  Blätter  im 
Tagebuch  sind  ebenfalls  entfernt;  es  ist  aber  anzunehmen, 
daß  die  Worte  ganz  im  Geiste  eines  Tibull  und  KatuU 
gehalten  waren  und  daß  sie  nicht  —  wie  die  Heraus- 
geber des  Tagebuchs  anzunehmen  geneigt  sind  —  als 
bloß  poetische  Vorstellungen  betrachtet  werden  dürfen. 
Eduard  sah  nun  vollständig  ein,  daß  es  sich  nicht  ma 
Freundschaft,   sondern   um   Liebe,    um    sinnliche   Liebe 


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handle,  und  die  zarte  fiücksiclit^  mit  der  er  sich  sonst  oft 
den  Anschein  gab,  er  glaube  an  Freundschaft  in  des 
Wortes  allgemeinem  Begriff,  fand  bei  ihm  keine  Anwen- 
dung mehr.  Im  Gegenteil,  mit  schroffer  Elntrüstung  und 
im  rückhaltlosen  Tone  der  Verachtung  schrieb  er  folgen- 
den Brief  von  München  nach  Iphofen: 

11.  Oktober. 
Herr  Graf! 

Heute  habe  ich  Ihr  schimpfliches  Schreiben  erhalten  u/nd 
heute  schicke  ich  es  Ihnen  samt  Allem ,  was  ich  hier  (in 
München)  noch  von  Urnen  habe,  zurück.  Was  ich  noch  von 
dergleichen  in  Wurzhur g  habe,  erhalten  Sie  in  den  ersten 
Stunden  nach  meiner  Anktmft  daselbst;  ebenso  bitte  ich  mir 
all  das  Meinige  zurück;  denn  weder  will  ich  etwas  von  einem 
Menschen  besitzen,  den  ich  wegen  seiner  abschetUichen  Gdüste 
verachten  muß,  noch  soll  er  etwas  von  mir  haben.  Niemand 
hat  Ihren  schändlichen  Brief  gelesen;  aber  es  sei  Ihnen  genug, 
zu  wissen,  daß  ich  Sie  vollko^nmen  verabscheue,  wie  es  Jeder 
tun  müßte,  der  diesen  Ausfluß  gräßlicher  Verdorbenheit  (!) 
lesen  würde.  Erkennen  Sie,  Herr  Graf,  an  diesen  Zeilen  die 
Spuren  meines  höchsten  Untcillens  und  meiner  tiefsten  Ver- 
achtung. Ich  tüill  absehen  von  der  gräßlichen  Beleidigung, 
die  Sie  mir  durch  jenen  Brief  angetan  haben.  Aber  Das  sage 
ich  Ihnen,  ich  werde  es  mir  zur  Ehre  schätzen,  wenn  Sie  mich 
ganz  vergessen  und  keinem  Anderen  sagen,  daß  Sie  mich  je 
gekannt  haben;  und  das  sage  ich  Ihnen  auch  noch:  Wagen 
Sie  es  nie  mehr,  mir  auch  nur  eine  Zeile  zu  schreiben,  oder, 
wenn  ich  wieder  in  Ihre  Nähe  komme,  nur  ein  Wort  mit  mir 
zu  sprechen;  was  mich  angeht,  so  werde  ich  Sie  von  nun  an 
als  ein  pestartiges  Übel  meiden,  und  Sie  könnten  sich  sonst 
wirklich  der  Gefahr  aussetzen,  behandelt  zu  werden,  wie  es 
derjenige  verdient,  welcher  der  menschlichen  Würde  ganz  ent- 
sagt hat.^^ 

Das  Maß  war  voll  Nie  ist  ein  Leidenskelch 
mit  größeren  Bitternissen  gefüllt  gewesen  als 
jener,  den  Platen  auszukosten  hatte.  Keine  Dichtung, 
weder  ein  Roman  noch  eine  Tragödie,  hat  je  einen  ähn- 
lichen Konflikt  geschildert,  und  auch  aus  der  Wirklich- 


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keit  ist  keine  ähnliche  durch  Liebe  verursachte  Seelen- 
pein  bekannt  geworden.  Hier,  in  der  Wirklichkeit,  wird, 
wie  in  der  Dichtung,  der  Liebende  oft  auch  seinem 
Schicksal  überlassen,  er  wird  auch  zurückgestoßen;  aber 
wenn  er  den  Namen  eines  Unglücklichen  verdient,  dann 
ist  die  Schuld  in  der  Regel  auf  anderer  Seite,  und  wenn 
ihm  Verachtung  wird,  hat  er  sie  sich  stets  durch  eigene 
Schuld  zugezogen.  Dagegen  dort,  bei  Platen  und  seinem 
Freunde,  sind  beide  Teile,  der  Verstoßende  wie  der  Ver- 
stoßene, höchst  achtenswerte  Personen;  der  Verstoßende 
handelt  in  einem  Wahne,  den  er  mit  fast  allen  Menschen 
teilt,  und  der  Verstoßene,  selbst  im  Sturze  noch  ein 
Held,  unterliegt  in  einem  Kampfe,  der  übermenschlich  ist. 

Die  Reinheit  im  Umgänge  ist  bei  Platens  Liebe 
über  allen  Zweifel  erhaben.  Gerade  das  Tagebuch,  in 
welchem  er  seine  Erlebnisse  rückhaltlos  verzeichnete,  ist 
hiefür  ein  Beweis,  gegen  den  es  keinen  Einwand  gibt. 
Und  welche  Vorwürfe  mußte  der  Arme  gleichwohl  hören! 
„Abscheuliche  Gelüste",  „gräßliche  Verdorbenheit",  „Ent- 
sagung aller  menschlichen  Würde".  Und  was  hat  Platen 
denn  getan?  Worin  liegt  seine  Schuld?  Er  hat  sich 
in  Sehnsucht  verzehrt,  hat  es  kaum  gewagt,  sich  dem 
Gegenstande  der  Sehnsucht  zu  nähern,  hat,  nachdem  ihm 
dies  durch  Hilfe  eines  Dritten  gelang,  seine  Gefühle  in 
geschriebenen  Versen  gestanden,  die  mehr  verhüllten  als 
aufdeckten,  und  endlich,  indem  er  den  stürmischen  For- 
derungen des  Herzens  nachgab  —  nichts  erreicht,  als 
eine  kühle  Umarmung  und  einen  noch  kühleren  Kuß! 
Über  eine  Sinnlichkeit,  zu  welcher  er  sich  vielleicht  ge- 
trieben fühlte  und  gegen  welche  jene  Vorwürfe  gerichtet 
sein  könnten,  war  er  vollständig  Herr  geblieben. 

Übertrage  man  das  ganze  Verhältnis  einmal  auf  das 
Gebiet  der  normalen  Liebe  und  nehme  man  an,  der  ge- 
liebte Teil  sei  ein  Mädchen  gewesen.  —  Wenn  Alles, 
was  geschehen,   seine  Geltung  für  ein  solches  hätte,   so 


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würde  damit  eine  recht  harmlose  Liebesaffaire gezeichnet 
sein,  mit  der  kein  Romandichter  etwas  anzufangen  wüßte 
und  die  im  wirklichen  Leben  höchstens  ein  mitleidig 
spöttisches  Lächeln  hervorrufen  könnte.  Platen  hätte 
sich  gegen  ein  Mädchen  aller  Raffinements  eines  Lieb- 
habers bedienen  dürfen,  er  würde  kaum  einen  leisen 
Vorwurf  erfahren  haben.  So  aber  handelte  es  sich  um 
einen  jungen  Mann,  und  deshalb  war  der  Liebende  der 
tiefsten  Verachtung  verfallen  und  mußte  es  auch  noch 
erleben,  diese  in  einer  maßlos  derben  Form  ausgedrückt 
zu  sehen. 

Jener  Briefschreiber  glaubte  wohl,  er  allein  wisse 
so  zu  fühlen,  wie  die  Natur  es  ihm  gegeben,  und  ein 
Anderer,  den  sie  anders  schuf,  verkehre,  aus  bloßer  Hart- 
näckigkeit und  Lust  an  Verhöhnung  der  Natur,  seine 
Gefühle  in  das  Gegenteil.  —  Eduard  Schmidtlein,  der 
zu  Würzburg  in  der  Liebe  Platens  nie  eine  ,,gräßliche" 
Beleidigung  erblickt  hatte,  der  sogar  von  einem  „heiligen 
Feuer  der  EVeundschaft"  sprechen  und  bedauern  konnte, 
dasselbe  nicht  auch  in  seinem  Busen  zu  fühlen,  war  in 
einer  gewissen  Hinsicht  sehr  vergeßlich;  es  scheint  übri- 
gens, daß  er  während  seines  vorübergehenden  Aufent- 
haltes in  München  einer  Einflüsterung,  die  das  Organ 
des  landläufigen  Wahnes  und  Hasses  war.  Gehör  ge- 
geben hatte. 

„Und  dieser  Brief  hat  mich  nicht  getötet?'^  ruft 
der  Empfänger  aus,  nachdem  er  ihn  selbst  noch  ab- 
geschrieben und  seinem  Tagebuch  einverleibt  hat!  Die 
Herausgeber  desselben  bemerken  in  einer  Fußnote:  „Wir 
haben  nicht  Anstand  genommen,  den  Wortlaut  auch 
dieses  Briefes  abzudrucken,  da  die  Schwere  der  darin 
erhobenen  Anklage  durch  das  Folgende  aufgehoben  wird. 
Nur  wer  sich  frei  von  der  hier  zum  Vorwurf  gemachten 
inneren  , Verdorbenheit'   fühlte,    vermochte   diese  Zeilen 


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—     898     — 

seinem  Tagebuch  einzurücken.  Ein  wirklich  schuldiges 
Gemüt  hätte  sie  ängstlich  yemichtet.  Aber  nicht  nur 
die  Selbstquälerei  Platens  kostet  hiebei  mit  einer  Art 
Wonne  die  von  geliebter  Hand  erteilten  ungerechten 
Schläge;  auch  das  bei  ihm  überall  hervortretende  ethische 
Feingefühl  bereitet  sich  damit  seine  Sühne." 

Von  einem  weiteren  Aufenthalt  in  Würzburg  konnte 
nicht  mehr  die  Rede  sein;  Platen  siedelte,  nachdem  er 
die. Briefe  Schmidtleins ^  auch  das  Original  des  letzten, 
demselben  zurückgeschickt  und  ihnen  eine  Rechtfertigung 
seiner  Person  beigegeben  hatte,  Ende  Oktober  nach  der 
Universität  Erlangen  über.  Dort  warf  er  sich  mit  neuem 
Eifer  auf  die  Studien,  nahm  sich  fest  vor,  sein  Auge  vor 
einer  neuen  Schönheit  zu  hüten^  und  suchte  sich  mit 
seinem  Schmerz  über  den  Verlust  der  letzten  —  und  den 
seiner  Ehre  —  abzufinden.  Platen  hatte  es  aus  Scham 
nicht  mehr  gewagt,  einem  seiner  früheren  Kameraden 
vor  das  Gesicht  zu  treten;  aber  jetzt  drängte  es  ihn,  die 
„Katastrophe  dieser  unglückseligen  Geschichte"  und  sein 

„Verbrechen"  (sie!)  einen  der  Vertrautesten  vrissen 

zu  lassen.  Er  wandte  sich  brieflich  an  Max  von  Gruber 
in  Würzburg,  den  alten,  bewährten  Freund  aus  der 
Münchener  Zeit,  und  teilte  ihm  alles  mit,  was  vorgefallen, 
indem  er  ihm  kurzerhand  sein  Tagebuch  zu  lesen  gab. 
Es  wurde  hiermit  mehr  als  der  beabsichtigte  Zweck  er- 
reicht.^) Max  von  Gruber  antwortete  wie  ein  Mann  und 
Freund: 

^)  Im  Vorstehenden  wird  ein  Passus  des  ersten  Aufsatzes 
Aus  Platens  Seelenleben  im  Jahrbuch  1899,  S.  174,  richtig 
gestellt.  Infolge  der  knappen  Darstellung,  welche  in  der  Vorrede 
zum  I.  Bande  von  Platens  Tagebuch  dem  Gegenstande  gegeben 
war,  bildete  sich  nämlich  im  Verfasser  des  Aufsatzes  der  Irrtum, 
als  ob  Gruber  mit  dem  Inhalt  des  anvertrauten  Tagebuchs  einen 
Mißbrauch  getrieben  hätte;  das  Gegenteil  ist  richtig,  wie  hier  gern 
und  mit  Genugtuung  konstatiert  werden  soll. 


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—     399     — 

„Die  Leidenschaft  hat  Dich  verführt,  Preise  und  segne 
Dein  beschick,  wenn  S,  {Schmidtleins)  Worte  Dich  so  schauder- 
haft aufgeweckt  haben.  Sei  ruhig!  Auch  S,  —  es  ist  nicht 
unmöglich  —  kann  Dich  noch  achten  und  Alles  vergeben, 
wenn  auch  vielleicht  nicht  mehr  lieben.  Auf  mich  hat  Deine 
Leidenschaft  (auch  Graber, war,  wie  ja  Platen  selbst,  von 
dem  Wahn  der  Welt  suggeriert)  nicht  wie  auf  S.  leidenschaft- 
lich eingetoirkt.  Ich  kenne  Dich  nun  so  ziemlich  und  —  bei 
Gott,  so  sehr  ich  das  Laster  verachte  und  verabscheue,  ich  ver- 
achte  Dich  im  geringsten  nicht.  Es  ist  eine  Verirrung,  an  der 
ich  innige  Teilnahme  mitfühle.  Wenn  Dich  S.  so  aus  dem 
rechten  Standpunkte  sehen  könnte  wie  ich,  er  würde  nie  und 
nimmer  so  von  Dir  füMen^  wie  er  geschrieben;  denn  Du  bist 
bloß  noch  versucht  van  diesen  unnatürlichen  Gefühlen,  aber 
noch  kannst  Du  mit  einem  Male  die  Kette  reißen,  die  Dich 
daran  fesselt. 

Dies  von  ganzem  Herzen,  und  ich  mißbrauche  nie  Dein 
Vertrauen,  denke  im  Ganzen  von  Deinem  inneren  Sein  nicht 
schlechter  und  danke  für  Dein  Vertrauen  — ". 

Wollte  Gott^  der  Brave  hätte  recht  gehabt  und  man 
könnte  sich  vom  perversen  Geschlechtsgefühl  losreißen 
wie  von  einer  Kette,  auch  wenn  sie  noch  so  stark  ist! 
Aber  nicht  genug  anzuerkennen  ist  dessen  Wahrnehmung, 
daß  ein  Mensch  mit  diesen  „unnatürlichen"  Gefühlen, 
d.  h.  jenen,  welche  die  Natur  ihren  Gesetzen  und  Regeln 
zuwider  einem  Menschenkinde  eingepflanzt,  im  „inneren" 
Sein,  d.  h.  im  wahren  Grunde,  auf  volle  Achtung  An- 
spruch erheben  kann.  —  Gruber  begnügte  sich  übrigens 
nicht  damit,  den  Freund  zu  trösten,  sondern  suchte  ihm 
auch  durch  die  Tat  zu  helfen.  Am  18.  November  fügt 
er  einem  Briefe  die  verheißungsvollen,  wenn  auch  noch 
etwas  dunkeln  Worte  bei: 

„Mit  dem  nächsten  Brief  hoff'  ich  Dir  auch  Neuigkeiten 
schreiben  zu  können,  Sachen,  die  jetzt  noch  im  Werden,  aber 
noch  nicht  ganz  klar  und  geiciß  sind!^^ 

„Hiynmd^^,  ruft  der  von  einer  schweren  Angst  Auf- 
atmende  aus,   „sollen  diese   Sachen  im  Zusammenhang  mit 


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—     400     — 

Eduard  stehen?  Oott  woüe  es/  Die  Verzeihung  Eduards 
dllein  könnte  mir  urieder  die  Büke  meines  Herzens  zurück- 
geben!'' —  Und  so  geschah  es.  Bereits  am  26.  November 
traf  von  Eduard  ein  Brief  ein,  den  Platen  zitternd  öff- 
nete und  der  die  Worte  enthielt:  „Ich  vergesse  und 
verzeihe  Alles j  (ich)  behalte  die  Bücher  als  ein  Zeichen 
der  früheren  reinen  Liehe  und  nicht  der  späteren 
Unlauterkeit  und  trage  Leid  wegen  der  Verirrung 
eines  sonst  guten  Menschen. 

E.  J,  Schmidtlein/' 


„Das  ist  mehr^  als  ich  verdient  habe**,  ruft  Platen  in 
charakteristischer  Unterschätzung  seines  Wertes  aus.  Aber 
gleichzeitig  fühlt  er,  daß  er  sich  damit  Unrecht  tat.  yylch 
habe  darüber  viel  geweint.  Mußte  Edvard  die  Worte,  und  nicht 
der  späteren  Unlauterkeit'  hinzufügen?  Ich  habe  mich  mit 
der  tiefsten  Zerknirschung  vor  ihm  gedemütigt,  aber  habe  mich 
auchy  so  gut  ich  konnte,  von  drnn  Vorunirfe  einer  gräßlichen 
Verdorbenheit  gereinigt.  Was  er  von  den  Büchern  sagt,  be- 
zieht sich  auf  das,  was  ich  ihm  in  Würzburg  auf  die  Bück- 
seite und  den  Band  seines  schrecklichen  Briefes  geschrieben 
hatte.  Ich  habe  ihm  kein  Wort  über  seine  eigene  Schuld 
gesagt  und  wie  er  meine  Sinnlichkeit  aufregte.  Ich  habe  ihn 
beschworen,  Mitleid  zu  haben  mit  meiner  Verzweiflung  und 
mir  XU  verzeihen,  zu  verzeihen  meiner  Jugend,  meiner  Leiden- 
schaft, dem  Übermaß  meiner  Liebe  und  dem  meiner  leicht 
beweglichen  Bhantasie,  — .  —  O,  ich  wünschte  nichts  so  sehr, 
als  daß  ich  ohne  BückJialt  sein  Vorgehen  verteidigen  könnte/ 
Aber  mein  Herz  sagt  mir,  daß  ein  Mensch  von  wahrem 
Seelenadel  einen  verirrten  Freund  in  sanfterer  Weise  auf  den 
rechten  Weg  zurückführen  könnte  und  nicht  unter  einer  u/iv- 
menschlich  tugendJiaften  Deklamation  die  Vorwürfe  verbergen 
würde,  die  er  seinem  eigenen  Herzen  oder  vielmehr  Vorgehen 
zu  machen  hätte,     Eduard  will  sich  den  Anschein  geben,  als 


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—     401     — 

ob  er  mich  niemals  liebte,  und  das  ist  nicht  edeL  loh  darf 
aits  dem  Gründe  meines  Herzens  versichern,  daß  nie  ver- 
botene  Wünsche  mich  eingenommen  haben  tviirden,  wenn  er 
nicht  meine  Sinne  durch  allzu  wirksame  Mittel  aufgestachelt 
hätteJ^  —  Es  kann  nicht  mehr  festgestellt  werden,  ob 
diese  Anschauung  Platens  objektiv  richtig  oder  nicht  viel- 
mehr auf  einen  frommen  Wunsch,  es  möchte  so  sein, 
zurückzuführen  ist.  Für  den  letzteren  Umstand  spricht 
die  Stelle  eines  späteren  Briefes  von  Max  von  Gruber: 
„Ich  kenne  SchmiäUein  nicht  näher  persönlich,  doch  habe 
ich  mich  aus  Deinem  Tagebuch  zur  Genüge  überzeugt^  daß 
Du  unendlich  viel  und  das  Meiste  in  ihn  hineingelegt 
hast,  wie  ein  Mann^  der  die  hohen  Ideen,  von  denen  er  voü 
ist,  dem  Liebchen  mitzuteilen  freudig  bemüht  ist  und  dann, 
wenn  auch  das  Liebchen  teils  nur  halb,  teils  auch  gar  nicht 
dafür  Sinn  hat,  doppelt  vom  Liebehen  entzückt  ist.  S.  hat 
manche  Vorzüge  an  Gemüt  und  Geist,  aber  Ihr  paßt  nicht 
zitsammen."  —  So  viel  scheint  indessen  doch  richtig  zu 
sein^  daß  Schmidtlein  dem  Liebenden  weiter  entgegen- 
gekommen ist;  als  es  mit  seinen  in  jenem  Briefe  aus- 
gesprochenen Grundsätzen  vereinbar  war.  Dies  mag  auch 
ein  Grund  sein,  daß  Platen  den  Verlust  lange  nicht  ver- 
winden konnte.  Noch  am  letzten  Tage  des  Jahres  1819 
vertraut  er,  der  den  Sylvesterabend  einsam  auf  seiner 
Stube  verlebt,  seinem  stummen  Freunde,  dem  Tagebuch, 
an:  „0,  welch  ein  Jahr  von  Schmerzen  ist  vorüber!  0  mein 
Eduard,  wenn  Du  jetzt  im  Kreis  Deiner  Kameraden  beim 
Punschglas  diesen  Abend  verbringst.  Du  ahnst  nicht,  une  zer- 
rissen der  Busen  Deines  Freundes  ist  und  une  er  seine  Net4r 
Jahrsstunde  feiert!  Morgen  sind  es  vier  Monate ,  seit  ich  so 
zärtlich  (bei  seinem  Weggang  nach  Iphofen)  von  ihm  Ab- 
schied nahm,  seit  er  so  zärtlich  von  mir  Abschied  nahm. 
Wir  sollten  uns  niemals  unedersehen,  unr  haben  es  nicht 
vermutet.  Ich  habe  noch  zwei  Bösen  von  ihm,  die  ich 
heute  fand,   eine  rote  und  eine  umße,     Sie  sind  vertrocknet, 

Jahrbuch  VI.  26 


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aber    sie    duften    noch,       und    meine    Tränen    fließen 
noch/'^) 

So  endete  diese  Episode  im  Liebesleben  des  Dichters. 
Wir  haben  uns  bei  derselben  etwas  lange  aufgehalten, 
weil  sie  ganz  besondere  Proben  enthält  von  dem  Kampfe, 
der  zwischen  dem  angeborenen  natürlichen  Empfinden 
und  der  künstlich  erworbenen  Anschauung  von  Sittlich- 
keit entsteht,  so  oft;  sich  ein  feinsinniger  Homosexualer 
zu  einem  normalen  jungen  Manne  hingezogen  fühlt. 


0  Die  beiden  jungen  Männer  haben  sich  übrigens,  und  zwar 
nicht  spät  darauf,  wieder  gesehen.  Schmidtlein,  der  bei  ruhigerer 
Betrachtung  (vielleicht  auch  nicht  mehr  beeinflußt  von  gehässigen 
Einflüsterungen)  es  einsah,  daß  seine  Abwehr  doch  etwas  zu  scharf 
ausgefallen,  ist  sogar  zu  einer  Versöhnung  bereit,  als  Platen  im 
Mai  des  Jahres  1820  auf  kurze  Zeit  nach  Würzburg  herüberkommt 
und  mit  ihm  zusammentrifit.  „Unmittelbar  darauf  erwidert  er  (S.) 
den  Besuch  Platens  in  Erlangen.  Ja,  er  ist  der  Entgegen- 
kommende, der  im  September  1821  den  vorübergehend  in  Got- 
tingen sich  aufhaltenden  Platen  aufsucht  und  ihn  eine  Strecke 
Wegs  geleitet  Und  noch  im  August  1824,  als  Schmidtlein  be- 
reits Professor  in  Landshut  geworden  und  den  durchreisenden 
Platen  dort  trifit,  drückt  er  dem  alten  Freunde  mit  ungeminderter 
Herzlichkeit  die  Hand."  (Worte  der  Herausgeber.)  Schmidtleiu 
kam  mit  der  Universität  1828  als  Professor  der  Jurisprudenz  nach 
München,  wurde  1828  nach  Erlangen  berufen  und  starb  erst  1872 
in  München,  wohin  er  sich  zur  Ruhe  gesetzt  hatte. 


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IL 

Die  Friedensbotschaft  Schmidtleins  war  noch  nicht 
eingelaufen,  in  Platens  Gemüt  tobten  die  Stürme  der 
Scham,  Reue  und  Sorge  noch  fort,  als  er  sich  schon 
neuerdings  von  den  Pfeilen  des  grausamen  Gottes  ge- 
troffen fühlte!  Freilich  hatte  er  sich  vorgenommen,  sein 
Auge  strengstens  zu  bewachen  und  in  seinem  Herzen 
jeden  Keim  von  Liebe  zu  ersticken.  „M  muß  mich  auf 
das  strengste  hüten  vor  jedem  Äugenblick  von  Selbstvergessen- 
heif',  verzeichnet  er  in  das  Tagebuch;  „dmn  ein  einziger 
solcher  unirde  Alles  zu  nichie  machen,  weil  ich  dadurch 
meinen  Entschluß  bloß  als  eine  inkonsequente  Laune  charak- 
terisieren umrde,'^  —  „Und  dies  ist  unser  (d.  i.  im  Grunde 
nur  der  Homosexualen]  trübseliges  Menschenschicksal ,  daß 
wir  uns  freiwillig  von  Menschen  losreißen  müssen^  deren  Vor- 
trefflichkeit  wir  erkarmt  haben,  und  daß  mr  ein  Olück,  nach 
dem  unr  uns  so  lange  sehnten,  zurückstoßen  müssen,  sobald 
es  uns  wirklich  entgegenkommt,'^  Platen  konnte  diesem 
Schicksal  nicht  entgehen. 

Schon  am  2.  November  1819,  in  Erlangen  kaum  an- 
gekommen, verzeichnet  er  Folgendes:  „Einer  der  Studenten, 
die  in  rtieinem  Hause  wohnen,  ist  eingetroffen.  Er  hat  mich 
gestern  besuchi.  Es  ist  ein  schöner  junger  Mann,"  —  Es 
war  dies  Hermann  von  Rotenhan,  der  Sohn  eines 
fränkischen  Gutsbesitzers,  als  Student  der  Burschenschaft 
angehörend.     Die  Wirkung,   die  er  auf  Platen  ausübte, 

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war  schon  beim  ersten  Zusammentreffen  eine  tiefe:  y^Er 
ist  jetzt  19  Jahre  alt;  aber  sein  Körper  und  seine  Physio- 
gnomie sind  so  gestaltet  und  so  mänrUich,  daß  man  ihn  für 
älter  halten  könntey  obwohl  er  ein  sehr  junges  und  frisches 
Aussehen  hat.  Seine  Züge  sind  edel,  seine  Figur  ist  noch  größer 
und  kräftiger  als  selbst  die  von  Eduard.  Aber  Eduard  hatte 
doch  eine,  ich  weiß  nicht,  welche  Anmut  und  eine  Zartheit 
des  Oeisfes,  welche  zu  dem  meinigen  stimmte ,  sich  in  den 
Zügen  seines  Gesichts  ausdrückte  und  ihm  einen  unbestimm- 
baren Beiz  verlieh,  Hermanns  Physiognomie  hat  etwas 
Düsteres  und  Ernstes.  Ich  glaube,  daß  er  hart  sein  kann 
und  noch  unverstellbarer  ist  als  Eduard.  Er  hat  mehr  Ur- 
teil als  dieser  und  besitzt,  wie  ich  glaube,  mehr  uArkliche 
Kenntnisse.  Er  ist  besonnener  und  weiß  stets,  was  er  tvill.^* 
Dies  Letztere  konnte  Platen  freilich  nie  von  sich  selbst 
sagen.  „M  weiß  nicht*',  bemerkt  er  gleichzeitig,  „ob  ich 
ihn  fliehen  oder  suchen  soll.  Ich  fürchte  nicht,  bei  ihm  in 
dieselbe  Schlinge  zu  geraten  une  bei  Eduard.  Ich  könnte  ihn 
nicht  liehen  wie  ich  Eduard  geliebt  habe,  den  ich  nie  ver- 
gessen werde,  nachdem  die  wenigen  Tage,  die  ich  mit  diesem 
ohne  Tränen  und  Kummer  verlebt  habe,  die  schönsten  meiner 
Jugend  und,  ich  weiß  es,  meines  Lebens  waren'' 

Dennoch  blieb  der  Eindruck^  den  Rotenhan  machte, 
unverwischbar.  Platens  Schönheitssinn ,  sein  Liebes- 
bedürfnis ließen  ihn  nicht  ruhen.  Zwar  fand  er  es  für 
gefährlich^  sich  in  Rotenhans  unmittelbarer  Nähe  zu 
wissen^  da  ihn  damals  alles  erschreckte,  was  mit  seinen 
Grefühlen  zusammenhing.  Aber  er  konnte  den  schönen 
jungen  Mann  schon  deshalb  nicht  meiden,  weil  dessen 
Zimmer  bloß  durch  eine  Tür  von  dem  seinigen  getrennt 
lag,  und  sein  Herz  war  schon  gefangen,  als  er  sich  vor- 
redete, daß  er  „nicht  den  mindesten  Wunsch  habe,  dem 
Nachbar  die  Hand  zu  drücken  oder  ihn  zu  umarmen^^.  — 
„Gleichwohl'^,  fügt  er  bei,  ,jmuß  ich  auf  meiner  Hut  sein. 
ScJion    die    Freundschaft   macht   mich    zittern.^''    —    Platen 


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kannte  sich  besser,  als  er  es  wünschte.  Das  gehetzte 
Wild  mußte  doch  leben,  und  ein  Leben  ohne  Liebe  war 
ihm  unmöglich,  ßotenhan  erschwerte  ihm,  allerdings  ab- 
sichtslos, den  Kampf  gegen  die  Vernunft,  indem  er  ihm 
den  Weg  zu  seinem  Herzen  erleichterte.  Er  kam  häufig 
abends  auf  Platens  Stube  und  blieb  stundenlang  bei  ihm. 
Platen  versicherte  ihm  (und  sich  selbst),  daß  zwischen  ihnen 
kein  Freundschaftsverhältnis  aufkommen  könne,  da  sie 
beide  für  einander  nicht  taugten.  Rotenhan  „suchte  mich 
XU  widerlegen.  Er  gestand  xwa/r,  daß  wir  nicht  in  derselben 
Sphäre  lebten,  daß  ich  mehr  iniellektueü  mich  ausbildete  und 
er  sich  zum  praktiscken  Oeschäftsm>ann  oder  überhaupt  für 
das  öffentliche  Leben  geboren  fühle.  Dies  aber,  weit  entfernt, 
eine  Trennung  herbeizuführen,  würde  nur  bezwecken,  uns  zu 
einer  Wechsehoirkimg  geschickt  zu  machen."  Dies  Argument 
war  allerdings  nicht  das,  welches  Platen  gern  gehört 
hätte,  aber  er,  der  über  sein  eigenes  Wesen  im  unklaren 
war,  der  sich  damals  sogar  für  einen  Sünder  gegen  die 
Natur  hielt,  war  schon  hiemit  zufrieden  und  lenkte  das 
Gespräch  auf  ein  ihm  willkommeneres  Gebiet,  indem  er 
von  Sympathie  und  Physiognomik  plauderte. 

und  so  finden  wir  ihn  denn  am  Abend  des  9.  Januar 
1820  bis  spät  in  die  Nacht  auf  der  Stube  bei  dem  Nach- 
bar, y,ihm  gerne  zuhörend  und  auf  seinen  Knien  süzend'\ 
Beim  betreffenden  Tagebucheintrag  heißt  es:  „Ich  habe 
einen  Sdirüt  getan,  der  mich  vielleicht  noch  sehr  gereuen  unrd 
und  der  m^ine  bisherigen  Vorsätze  über  den  Haufen  warf" 
Vierzehn  Tage  darauf  spricht  er  schon  von  einem  „Ver- 
hältnis'S  <^s  ^^^^  innige  Wendung  genommen.  Am 
30.  Januar:  „Ich  gewinne  ihn  täglich  lieber.  Ich  möchte  in 
sein  tiefstes  Herz  hineinsehen^^  Am  5.  Februar:  „Mein 
Verhältnis  zu  Rotenhan  ward  um  vieles  inniger  und  fester. 
Keinen  einzigen  jener  qualvollen  üm^tände^  die  mir  Eduard 
zu  fühlen  gab,  habe  ich  bei  ihm  empfunden.  Ich  habe  nie 
etwas  verschuldet  gegen  ihn;  ich  unll  nichts  Böses;    ich  darf 


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auch  nicht  Jdagen,  daß  unsere  Verbindung  einseitig  sei,  daß 
uns  nicht  wahre  Sympathie  vereine.  Liebe  bedarf  mein 
Busen.  Ich  kann  nicht  ohne  sie  sein  und  Hermann  gibt  sie 
mir.  Besonders  schön  loar  was  der  gestrige  Abend.  Ich  war 
noch  spät  bei  ihm.  Wir  saßen  oder  lagen  vielmehr 
Arm  in  Arm  auf  dem  Sofa  und  ich  verhehlte  ihm  nicht, 
une  sehr  er  mir  teuer  sei,  une  schwer  es  mir  werden  wird, 
mich  von  ihm  xu  trennen/'  Der  13.  Februar  ward  f&r 
Platen  ein  glücklicher  Tag,  weil  an  diesem  ihn  Rotenhan 
bat,  „mit  ihm  Brüderschaft  xu  machen  und  sieh  mit  ihm 
XU  duzen".  Bald  loderte  nun,  wie  in  früheren  Tagen^  die 
Liebe  in  hellen  Flammen  auf.  „Mr  haßten,  vnr  um- 
armten  uns  ofV\  heißt  es  von  dieser  Zeit.  Freilich^  zu 
einer  offenen  Liebeserklärung  kam  es  auch  dieses  Mal 
nicht  und  durfte  es  nicht  kommen ;  das  alte  Versteckens- 
spiel  wurde  wieder  getrieben.  Der  Liebende  sprach  von 
dem  Schmerz  der  Trennung,  wo  er  die  Pein  der  Gegen- 
wart meinte,  von  der  Sympathie  der  Gemüter,  wo  rasende 
Liebe  in  seinem  Herzen  tobte,  von  Schönheit  der  Seele 
und  Bildung  des  Geistes,  wo  ihn  das  erhitzte  Blut  nach 
einer  körperlichen  Umarmung  trieb. 

Platen  hatte  wieder  allen  Grund,  für  sich  selbst  zu 
fürchten  und  seiner  moralischen  Stärke  zu  mißtrauen. 
Eine  Abweisung,  wie  die  in  Würzburg,  wollte  er  nicht 
mehr  erleben,  „/cä  bin  aUxusehr  gewarnt."  Er  beschloß 
daher,  dem  Fortgang  seiner  Leidenschaft  gewaltsam  Ein- 
halt zu  tun  und  einen  Bruch  mit  dem  Freunde  herbei- 
zuführen. Merkwürdig  ist  das  Motiv,  mit  dem  er  u.  a. 
diesen  Schritt  rechtfertigte,  „Ich  verdiene  Botenhan  nicht." 
—  Ist  es  schon  furchtbar,  sehen  zu  müssen,  daß  eine 
Liebe  ohne  Aussicht  bleibt,  ja  daß  sie  sogar  das  höchste 
Gut  eines  Mannes,  seine  Ehre,  gefährdet,  so  ist  es  noch 
viel  tragischer,  wenn  ein  edler,  von  den  besten  Absichten 
beseelter  Mensch  an  sich  selbst  irre  wird  und  eine 
Neigung   für   schlecht   hält,    die    ihm    so   natürlich   ist, 


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—     407     — 

wie  die  Liebe  überhaupt.  —  Platen  mied  nun  den 
Nachbar,  affektierte,  wenn  er  ihn  gleichwohl  traf.  Kälte 
der  Gesinnung  und  sprach  von  Lösung  der  Freundschaft 
Aber  auf  einen  dauernden  Zustand  der  Trennung  mochte 
er  es  doch  nicht  ankommen  lassen^  so  oft  er  dazu  einen 
Versuch  machte  oder  sich  Gelegenheit  bot  Die  Liebe, 
das  Lebenselement  auch  beim  Homosexualen,  behielt  stets 
die  Oberhand  im  Kampfe  mit  dem  Willen.  Rotenhan 
hielt  indessen  das  „Verhältnis'^  für  wirklich  gelöst. 

Es  war  spät  am  Abend  des  29.  Februar  1820^  als 
der  mit  sich  selbst  kämpfende  Graf  zu  Hause  saß  und 
plötzlich  von  einer  unbesiegbaren  Sehnsucht  nach  dem 
Geliebten  übermannt  wurde.  „M  nahm  mir  vor,  wenn 
.  er  nach  Hause  kommSy  jm  ihm  xu  gehen,  wollte  aber  erat  das 
Schicksal  wm  Bai  fragen.  Ich  setzte  also  die  elfte  Stunde 
fest,  weil  er  äußerst  selten  später  nach  Eaitse  kommt.  Wäre 
er  bis  dahin  nicht  zu  Hause,  so  hätte  das  Schicksal  offenbar 
entschieden,  und  ich  wollte  nie  an  eine  Versöhnung  denken. 
Es  waren  nur  noch  drei  Minuten  auf  elf  Uhr.  Ich  hielt 
Aües  für  geendet,  ich  war  sehr  bewegt  und  kniete  nieder^ 
um  mich  in  Gottes  Willen  zu  ergeben.  Und  eben  auf 
den  Schlag  elf  Uhr,  als  ich  tvieder  aufspringen  wollte,  hörte 
ich  ihn  kommen.  Ich  sprang  auf  und  zu  ihm.  Er  freute 
sich  sehr,  mich  zu  sehen,  und  sagte  mir,  wie  leid  ihm  mein 
abstoßendes  Betragen  getan  hätte.  Er  wollte  durchaus  die 
Ursache  davon  wissen.  Ich  versprach  Besserung  und  daß  ich 
ihm  künftig  blindlings  folgen  wolle  (!),  weil  —  er  besser  als 
ich.     Wir  blieben  noch  lange  beisammen.*^ 

Aber  noch  in  der  gleichen  Nacht  beschloß  Platen 
abermals  eine  dauernde  Trennung.  „O  Oott'%  sagte  er, 
„ich  fühle,  daß  ich  icieder  schlecht  u^erde!^'  Am  anderen 
Tage  vormittags,  gerade  als  es  wieder  elf  ühr  war,  ging 
er  zu  Rotenhan  hinüber  und  erklärte,  daß  er  mit  ihm 
dauernd  brechen  wolle.  „Ich  bebte,  aber  ich  tat's.  Ich 
trat  hinein  zu  ihm.     Er  kami  mir  freundlich   entgegen  und 


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—     408     — 

bot  mir  die  Hand.  Ich  zog  meine  xurüok.  ,  Willst  Du  mir 
niehi  die  Hand  reichen?'  sagte  er.  ,Nein'y  gab  ich  xur^Äni- 
loortf  .mein  gestriger  Schritt  reut  mich  zu  sehr  und  ich  muß 
ihn  uneder  xurücktun.^  —  , Warum?*  —  Hierauf  sagte  ich 
nichts  als:  ylch  will  nicht  mehr  mit  Ihnen  umgehen.'  (!!)  Er 
wandte  sich  von  mir,  sem  Auge  war  naß,  ich  verließ  ihn." 
Das  war  nicht  mehr  Heroismus,  womit  der  Arme 
kämpfte,  das  war  Grausamkeit  gegen  sich  selbst.  Platen 
setzt  der  Geschichte  seines  Elends  mit  eiserner  Härte 
hinzu:  „Nun  sind  die  Verse  gedeutet,  die  ich  einmal  schrieb: 

Doch  manchem  erst  entwölkt  der  Schmerz 
Den  sanften  Strom  der  DemtU, 
Drum  hlute  das  betörte  Herz 
Und  schlage  bang  vor  Wehmut^' 

Doch  bald  und  trotz  allem  reute   ihn  sein  ganzes 
Vorgehen  und  er  schrieb  mit  seinem  Herzblut  die  Verse: 

y.  Welch  ein  böser  Trieb,  o  Seele,  stachelt  Dich  ohn'  Unterlaß? 
Kennst  Du  das  Gesetz  der  Liebe?    Zahme  Deitien  wilden  Haßt 
War  er  Dir  nicht  einst  so  teuer?    Denke  jener  Zeit  im  Geist, 
Daß  sie  nun  den  Groll  ersticke,  der  Dich  ihn  vernichten  heißt. 
0  Geduld!  Nur  wenige  Tage  und  Du  wirst  ihn  nicht  mehr  seh'n, 
Wie  im  Herz&n  so  im  Baume  wird  sein  Bild  Dir  untergehen. 


Wann,  o  Tod,  uHrst  Du  verwandeln  diesen  schwachen  Körper,  sprich! 
Hermanns  Haß  und  Eduards  Liebe  rüttelten  ihn  fürchterlich. 
Welch  ein  Wahnsinn  faßt  mich,  Himmel!    0  vergib  die  wilde  Glut, 
Warst   Du   nicht  mir  gut,   o  Hermann,   war  ich,  Hermann,  Dir 

nicht  gut? 
Zwar  vergessen  will  ich,  muß  ich;  denn  ich  schwur's  und  half  es 

treu  — 
Doch  zum  Abscheu  soll  nicht  werden,  was  da  ward  gerechte  Scheu.** 

Der  unbeugsame  Starrsinn  ward  gebeugt.  Nach  zwei 
Wochen,  am  15.  März,  schon  war  Platen  wieder  mit  dem 
unwiderstehlich  Geliebten  versöhnt  „Wie  hätte  es  auch 
anders  kommen  können  zwischen  zwei  Menschen,  die  sieh  so 


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—     409     — 

sfivr  achten  und  lieben.     (Achten  und  lieben/)    Ich  ging  hin- 
über gegen  zwei  Uhr;   er  war  sehr  freundlich  und  Hebens- 


Vor  einem  weiteren  Umschwung  der  Gesinnung  und 
einem  Bruche  seines  „Schwurs"  wurde  Platen  durch  die 
räumliche  Trennung  bewahrt,  die  sich  nicht  lange  darauf 
vollzog.  Die  ganze  Episode  war  von  kurzer  Dauer  und 
Rotenhan  verließ  die  Universität  Erlangen,  am  19.  März, 
an  seinem  20.  Geburtstage.  Der  Abschied  war  zärtlich. 
Hermann  kam  eine  halbe  Stunde  vor  Mittemacht  heim 
und  zu  Platen  aufs  Zimmer.  „Die  letzte  Nacht  trennten 
wir  uns  nicht  mehr,  tvir  schliefen  zusammen  in  Einem  Bett 
und  ich  wünschte  ihm  in  der  Nacht  noch  Glück  xu  seinem 
Oeburts feste.  Aber  der  Morgen  kam,  der  traurig  bittere 
Morgen,  Wir  standen  um  fünf  Uhr  auf."  Es  erschienen 
noch  sechs  andere  Freunde  Hermanns,  die  ihm  nach  da- 
maliger Studentensitte  das  Geleite  in  die  Feme  gaben. 
Einer  derselben  lenkte  das  Gespräch  auf  einen  Umstand, 
der  für  Platens  augenblickliche  Lage  nicht  nur  bedeut- 
sam, sondem  geradezu  erwünscht  war.  Er  erzählte  von 
der  Sitte  der  Morlaken  (eines  serbo -kroatischen  Volks- 
stammes in  Dalmatien),  daß  sie  die  Freundschaft  mit 
religiöser  Innigkeit  betrachten  und  daß  dieselbe  bei  ihnen 
vom  größten  Einfluß  auch  auf  das  öffentliche  Leben  sei. 
Wenn  dort  zwei  Freunde  sich  gewählt  und  gefunden 
haben,  so  weichen  sie  das  ganze  Leben  nicht  mehr  von 
einander  und  jede  Trennung  in  diesem  Falle  würde  ihnen 
unnatürlich  (!)  erscheinen.  „Ich  weiß  nicht",  fügt  Plateu 
dem  Berichte  bei,  „ob  ich  auch  Rotenhan  in  diesem  Äugen- 
blicke wünschte,  ein  Morlake  zu  sein."  —  Nachdem  die 
übrigen  Kameraden  eine  Strecke  Wegs  mitgegangen  und 
sich  dann  getrennt  hatten,  begleitete  Platen  den  Freund 
noch  sechs  Stunden  weiter  bis  Bamberg.  ,,Die  Zeit  ver- 
floß eilig.  Meine  Beklemmung  wuchs  von  Stunde  zu  Stunde. 
Er  tröstete  mich,   er  bat  mich,    dem  bloßen  Gefühl  nicht  zu 


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—     410    — 

viel  Baum  zu  geben  und  es  mehr  der  Herrschaft  des  Geistes 
XU  unterwerfen,  —  —  Äher  kaum  bezwang  ich  meinen 
Schmerz,  Ich  weinte.  Wir  tauschten  unsere  Stöcke;  er 
schnitt  em  H  (Hermann)  in  den  seinigen,  ich  in  den  meinigen 
ein  A  (August).  Wir  umarmten  uns  noch  eirwnaly  dann 
stieg  er  in  den  ihm  vom  Vater  entgegengeschickten  Wagen  und 
warf  noch  einen  voüen,  innigen  Blick  der  Ldebe  und  Wehmut 
auf  mich,^' 

So  klingt  diese  zweite  Liebesepisode  mit  einem  har- 
monischen Akkorde  aus.  Wie  immer,  so  wuchs  aber 
auch  diesmal  die  Sehnsucht  erst  durch  die  Entfernung. 
Der  Vorfirtihling,  den  Platen  auf  dem  Lande,  im  Wiesent- 
tale, zubrachte,  trug  mit  seiner  melancholischen  Natur- 
stimmung dazu  noch  das  Seinige  bei.  „Den  letzten  Abend 
spät  erging  ich  mich  noch  einmal,  besonders  unten  auf  der 
Wiesenibrücke,  und  hier  tourde  Botenhans  Andenken  wieder 
lebhafter  als  je  in  mir  rege;  ich  brach  in  Ströme  von  Tränen 
aus  und  rief  seinen  Namen  den  Wolken  des  Abends  zu,"  In 
fast  jedem  schönen  Jünglingsantlitz,  dem  er  in  der  Folge 
begegnete,  suchte  Platen  eine  Ähnlichkeit  mit  Rotenhan 
zu  finden.  Ein  Bild  Van  der  Werfts  z.  B.,  das  er  in 
der  Gemäldegallerie  auf  Schloß  Pommersfelden  sah  und 
das  eine  spröde  Nymphe  mit  einem  Hirten  darstellte, 
zog  ihn  deshalb  an,  weil  „in  den  Zügen  dieses  schönen 
sterblichen  Jünglings"  eine  Ähnlichkeit  mit  Rotenhan  lag. 

Freilich  fiel  auch  auf  das  Erinnerungsbild  in  Platens 
Herzen  noch  ein  trüber  Schatten.  Am  19.  März,  „des 
lieben  Eotenhan  einundzwanzigstem  Geburtstag",  hatte  er 
an  diesen  einen  (vermutlich  mehr  als  sehnsuchtsvollen) 
Brief  gerichtet,  auf  welchen  eine  „seltsame  und  fatale" 
Antwort  erfolgte.  Den  Inhalt  der  letzteren  legte  er  nicht 
im  Tagebuche  nieder,  weil  er  die  hierzu  erforderliche 
Stimmung  nicht  fand.  —  Zu  einer  Feindschaft  kam  es 
übrigens,  wie  bei  Schmidtlein,  auch  hier  nicht;  auch  hier 
fand  nochmal  eine,  allerdings  zufällige,  Begegnung  statt, 


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als  Hermann  von  ßotenhan  anfangs  Dezember  1823  seine 
Reise  nach  München  machte,  um  dort  in  die  Gerichts- 
praxis einzutreten:  Platen  schenkte  ihm  damals  zum  An- 
denken ein  Exemplar  seiner  eben  im  Druck  erschienenen 
Ghaselen.  ^) 

So  überströmend  die  Liebe  war,  welche  den  Grafen 
für  Freunde  wie  Hermann  von  Rotenhan  und  Eduard 
Schmidtlein  beseelte,  so  fanden  doch  noch  Gefühle  für 
andere  schöne  Jünglinge  in  seinem  Herzen  Raum.  Denr 
Menschenkenner  wird  es  nicht  auffallen  und  nicht  tadelns- 
wert erscheinen,  daß  neben  den  größeren  Herzens- 
geschichten kleinere  Liebesepisoden  einhergingen. 
Wäre  das  Ergänzungsbedürfnis  in  Platen  gestillt  worden, 
gewiß  würde  er  die  ganze  Macht  seiner  Empfindungen 
auf  Einen  Punkt  konzentriert  haben.  So  aber,  wo  sein 
mächtigstes  Bedürfnis  unbefriedigt  blieb,  sein  bestes 
Empfinden  mißverstanden,  seine  glühendste  Liebe  ab- 
gelehnt   und    sein    schönstes   Vertrauen    zurückgestoßen 


^)  Die  Herausgeber  der  Tagebücher  machen  za  der  Person 
Rotenhans  und  seinem  späteren  Lebenslauf  folgende  Bemerkung: 

Hermann  von  Rotenhan  spielte  in  der  Folgezeit,  als  er 
das  vom  Vater  ererbte  Gut  übernommen,  in  der  Politik  des  engeren 
wie  weiteren  Vaterlandes  eine  Rolle,  wie  er  einst  in  der  Burschen- 
schaft eines  der  geachtetsten  und  gefeiertsten  Mitglieder  gewesen 
war.  Die  Schönheit  seiner  äußeren  Erscheinung  hatte  ihn  im 
Verein  mit  seinem  selten  tüchtigen,  selbstlosen  Charakter  einst 
als  „das  Ideal  deutscher  Ritterlichkeit"  preisen  lassen.  Er  blieb 
es  in  anderem  Sinne,  indem  er  als  Standesherr  gegen  alle  Über- 
griffe von  sozialer  oder  staatlicher  Seite  her  energisch  Front  machte 
(1831  gegen  die  Demagogie,  1837  gegen  die  Regierung  zugunsten 
der  gefährdeten  protestantischen  Kirche).  Seine  patriotische  Be- 
geisterung führte  ihn  1848  in  das  Frankfurter  Parlament;  er  gehörte 
zu  den  erwählten  Sieben,  die  dem  Erzherzog  Johann  die  Reichs- 
verweserwürde antrugen,  und  gab  später  seine  Stimme  für  ein 
preußisches  Kaisertum.  Rotenhan  starb  hochgeachtet  auf  seinem 
Gute  Rentweinsdorf  im  Jahre  1858,  nachdem  er  lange  Jahre  Präsi- 
dent der  zweiten  bayerischen  Kammer  gewesen. 


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—     412     — 

wurde,  darf  man  es  dem  Suchenden  nicht  veriibebif 
wenn  er  jeden  Lichtstrahl,  der  in  die  Nacht  seines  Da- 
seins fiel,  hoffend  begrüßte.  Bei  jedem  Anblick  einer 
schlanken  Jünglingsgestalt,  eines  männlich  schönen  An- 
gesichts geriet  Platen  in  Entzücken.  Einen  jungen  Dänen 
z.  B.,  der  in  Erlangen  studierte,  schildert  er  also:  ,^Hiort8 
Äußeres  ist  das  eines  starken,  jungen  Mannes  mit  dunkel-- 
blonden  Haaren,  einer  sehr  edlen  Stirn,  hohen  Augenbrauen, 
mit  regelmäßigen,  großen  Zügen,  das  Gesicht  mehr  rund  als 
oval.*'  Von  einem  Studenten  namens  Erüger  heißt  es: 
,yEr  ist  ein  schöner,  frischer,  junger  Mann,**  Bald  darauf: 
„Der  Student  Benner,  ein  Theologe,  ist  ein  sehr  hubscher 
KerU^  Persönlich  näher  tritt  er  einem  Freiherm  August 
von  Egloffstein,  von  dem  er  sagt:  „Seine  Schönheit 
fiel  mir  auf;  .  ,  .  es  konnte  nickt  fehlen,  daß  seine  Gestalt 
meine  Aufmerksamkeit  vor  allen  Anderen  auf  sich  zog:*  Am 
29.  Februar  1824  heißt  es:  „Ich  fand  einen  Freund,  den 
ich  schon  früher  günstig  bemerkt  und  oberflächlich  gesprochen 
hatte,  es  ist  ein  Herr  von  Stachelhausen,  Er  hat  eine 
entschiedene  Gesichtsbildung  und  die  schönsten  schwarzen 
Augen  von  der  Welt,*'  Später,  auf  seiner  Schweizerreise 
vom  Jahre  1825,  bemerkt  Platen  von  einem  Sohne  seines 
Gastfreundes,  des  Batsherm  Stürler  von  Müllimat  bei 
Thun:  „Weit  mehr  zog  mich  Moritz  an,  der  mehr  die 
Wissenschaften  liebt,  wiewohl  er  das  Jagdvergnür/en  nicht  ver- 
schmäht. Wenig  Menschen  haben  mir  eine  so  leise  und  doch 
so  entschieden  wirkende  Neigung  eingeflößt.  Sein  Äußeres  ist 
kräftig  und  angenehm,  ohne  schön  zu  sein,  das  Auge  nicht 
groß,  aber  ungemein  geistreich.  Wir  haben  uns  nie  ein 
schmeichelhaftes  Wort  gesagt,  auch  in  dieser  so  kurzen  Zeit 
nur  wenig  konversiert;  aber  es  war  eine  unzerstörbare  Sym- 
pathie zivisehen  uns,  die  fortwirken  tvird,  ohne  daß  wir  uns 
unedersehen,** 

In  der  Tat  konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß  Platen, 
wie  er  selbst  sich  nach  einem  ihn  ergänzenden  BVeunde 


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—     413     — 

umsah,  so  zuweilen  auch  von  anderen  mit  dieser 
Absicht  aufgesucht  wurde.  Durch  die  bloße  Ver- 
öffentlichung der  Ohaselen  erregte  er  in  einem  Studenten 
namens  Friedrich  Andrea  den  Wunsch,  seine  Bekannt- 
schaft zu  machen,  ähnlich,  wie  später  der  junge  Ruhl  in 
Kassel  bloß  durch  die  Kenntnis  der  Lyrischen  Blätter 
„ehvas  für  ihn  empfunden,  was  nur  wenige  für  wenige 
fühlten^'.  Solche  Erfolge,  die  sich  mehrfach  wiederholten, 
konnten  freilich  dem  Homosexualen  nur  wenig  nützen, 
da  sich  nur  die  Gegensätze  anziehen  und  Platen,  wie 
aus  seinen  Einträgen  im  Tagebuch  klarstens  hervorgeht» 
bei  seinem  muliebren,  weichen  Wesen  sich  zu  entschie- 
denen Mannesnaturen  mit  energischem  Gesichts- 
ausdruck und  kräftigem  Körperbau  hingezogen 
fühlte.  Aber  gerade  bei  diesen  letzteren  Naturen  hatte 
seine  eigene  Tendenz  immer  ihr  Ziel  verfehlt  und  die 
Wirkung  war  keine  andere,  als  die  eines  unbefriedigten 
Triebes  und  eines  zerrissenen  Herzens,  wie  sich  dies  bei 
dem  Verlust  Botenhans  besonders  deutlich  kundgibt. 

Die  Klage  um  den  Verlust  dieses  Freundes,  den  er 
so  kurze  Zeit  kannte,  währte  länger  als  die  um  Schmidt- 
lein. Sie  minderte  sich  erst,  als  ein  Bild  vor  Platens 
Augen  trat,  das  einen  noch  stärkeren  Eindruck  als  das 
des  zuletzt  Verlorenen  auf  ihn  machte.  Im  Juli  des 
gleichen  Jahres  (1821)  erfüllte  das  Herz  des  Liebes- 
bedürftigen jener  schmucke  Dragoneroftizier  aus  Han- 
nover, von  dem  bereits  im  I.  Teile  unseres  Aufsatzes 
(siehe  Jahrbuch  1899;  S.  207  ff.)  die  Rede  war.  Aber 
auch  nachdem  dieses  Freundschaftsband,  das  ihn  mit 
Otto  von  Bülow  zwei  kurze  Mooate  verknüpfte,  zer- 
rissen war,  fand  das  arme  Herz  keine  Ruhe  und  bereits 
im  Februar  des  folgenden  Jahres,  also  fünf  Monate 
darauf,  schmachtet  Platen  in  neuen  Banden.  Während 
er  nämlich  bei  einem  Professor  in  Erlangen  einen  Be- 
such  zum  Zweck    seiner  Studien   macht,   trifft  ihn    ein 


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—     414     — 

Blick,  der  ihn  für  lange  Zeit  in  leidenschaftlichen  An- 
spruch nimmt.  Am  5.  Februar  heißt  es  im  Tagebuch: 
yjch  fand  (bei  Professor  EAstner)  einen  Studenten,  auf  den 
dieser  wegen  seines  Eifers  für  Naturstudien  viel  halt  und  der 
ein  sehr  schöner  Junge  ist,^'  —  Dieser  Junge  war  kein 
anderer  als  der  später  so  berühmt  gewordene  Forscher 
Justus  Ton  Liebig.  Damals  erschien  er  dem  für 
männliche  Schönheit  leicht  Empfänglichen  als  eine 
„schlanke  QestaU;  ein  freundlicher  Ernst  in  feinen,  regel- 
mäßigen Oesichtszügen,  große  braune  Augen  mit  dunkeln, 
schaitigen  Brauen  nehmen  auf  den  ersten  Blick  für  ihn  ein, 
—  —  Er  zeigte  sieh  sehr  offenherzig,  vertraute  mir  mmiche 
Lebensverhältnisse  und  gab  mir  —  nach  wenigen  Tagen  — 
Beweise  einer  so  plötzlichen  und  entschiedenen  Neigung,  daß 
ich  unrklich  darüber  in  eine  Art  von  Erstaunen  geriet.  So 
viel  Liebe  hatte  mir  noch' niemand,  am  u/enigsten  nach  einer 
so  kurzen  Bekanntschaft,  entgegengebracht,*'  —  Freilich  ist 
auch  hierbei  zu  beachten,  daß  Platen  mehr  in  seine 
Freunde  hineinlegte  und  wieder  herauslas,  als  diese 
selbst  fühlten.  Dazu  kam  andererseits  für  Liebig  die 
Wahrnehmung  ernsten  Strebens  nach  wissenschaftlicher 
Bildung  und  vielleicht  auch  der  Hinblick  auf  die  soziale 
Stellung  des  Grafen.  Jedenfalls  aber  wurde  dem  letz- 
teren, der  das  Herz  Liebigs  zu  gewinnen  wußte,  von 
diesem  ein  hoher  Grad  aufrichtiger  Neigung  entgegen- 
gebracht. Dafür  spricht  folgender  Vorfall.  Zwischen 
den  beiden  war  eine  Reise  an  den  Rhein  vereinbart 
worden  für  die  Zeit,  als  Liebig  —  im  Juni  1821  —  von 
Erlangen  abwesend  war  und  im  elterlichen  Hause  zu 
Darmstadt  weilte.  Platen  besuchte  ihn  daselbst;  die 
Reise  konnte  Liebig  nicht  antreten.  Platens  bekannte 
Empfindsamkeit  regte  sich  wieder  und  zwar  so,  daß  es 
zwischen  Beiden  zu  heftigen  Auseinandersetzungen  kam. 
Da  war  es  Liebig,  der  nachgab  und  gestand,  er  „ver- 
diene die   Liebe   Platens   gar  nicht;    er    habe    ihn   unendlich 


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—     415     — 

verkannt  und  bitte,  wenn  möglich,  ihm  zu  verzeihen,"  Daß 
Platen  verzieh,  ist  selbstyerständlich,  auch  wenn  die  im 
Jahrbuch  I,  S.  206  erwähnte  Episode  nicht  stattgefunden 
haben  sollte,  durch  welche  Platen  zu  Darmstadt  in  den  Buf 
eines  verkleideten  ^^Mädchens^'  kam.  Übrigens  hatte  auch 
dieser  Liebesfrtihling  ein  rasches  Ende,  da  Liebig  seine 
Studien  nicht  mehr  in  Erlangen  fortsetzte* 

Länger  währte  eine  Episode  des  nächsten  Sommers, 
die  aber  Platens  Herz  auch  tiefer  verwunden  sollte.  Als 
er  am  11.  Juli  1822  nachts  von  einem  Belustigungsort 
in  der  Nähe  Erlangens  allein  nach  Hause  ging  und  die 
ambrosische  Nacht  ihn  noch  zu  einem  Umwege  einlud, 
erblickte  er  vor  sich  eine  jugendliche,  männliche  Gestalt, 
die  durch  die  Schönheit  ihres  Ganges  ihn  bezauberte. 
Platen  schrieb  in  der  Sprache  des  Hafis  ins  Tagebuch: 

,y  Schön  bewegst  Du  Dich,  mein  holder  TiMce, 
Sterben  toill  vor  Deinem  Wuchs  ich  hier." 

Er  begnügte  sich  übrigens  im  Tagebuch  hinsichtlich 
dieser  Begegnung  mit  einer  Andeutung  der  Person,  aber 
es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  aus  diesem  Zu- 
sammentreffen die  Bekanntschaft,  Freundschaft  und 
Leidenschaft  erwuchs,  die  ihn  mit  „Gardenie'^  (einem 
nicht  näher  bezeichneten  Studenten  namens  Ho  ff  mann) 
verband,  über  dessen  Äußeres  berichtet  Platen  im  Ein- 
klang mit  obigen  Versen:  „Es  scheintf  als  ob  das  orienta- 
lische Bild  der  wandelnden  Zypresse  ganz  eigens  auf  seinen 
WucJis  erfunden  sei.  Er  ist  sehr  groß,  ohne  im  mindesten 
plump  oder  allzu  schlank  zu  sein."  —  Darauf  führt  er  den 
Spruch  des  Haus  I,  14  an :  „Möge  jede  der  Zypressen,  die 
ivir  auf  der  Wiese  seh'n,  Dem  Elifa  Deines  Wuchses  als  ein 
Nun  zwr  Seite  steh'n."  —  „Die  Stirne  ist  sehr  edel  und 
in  der  Mitte  gegen  die  Nase  zu  sanft  gespalten;  die  Äugen 
mild  und  dunkelblau,  die  Nase  groß  und  scJion,  der  Mund 
üppig j  ohne  sinnlich  xu  sein.     Seine  Gesichtsfarbe  ist  bräun- 


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—     416     — 

lieh,  seine  Stimme  sehr  sanft  und  angenehm,^'  Dann  fährt 
Platen  weiter:  „Nach  diesem  Steckbrief  von  Lieblichkeiten  ist 
es  nicht  zu  vertvundem^  toenn  es  ein  großer  O&nuß  genannt 
wird,  so  schöne  Formen  beständig  vor  sich  zu  sehen  und  das 
Auge,  das  so  käufig  verletzt  unrd,  an  das  Edelste  zu  ge- 
wöhnen." In  der  Tat,  kein  Mann  hatte  bisher  durch 
seine  Schönheit  einen  solchen  Zauber  auf  Platen  aus- 
geübt. Bald  war,  bei  den  zahlreich  sich  bietenden  Ge- 
legenheiten, die  Bekanntschaft  gemacht  Sanguinisch, 
wie  Platen  immer  war,  hoffte  er  das  Beste  von  dieser 
Freundschaft.  Die  kleinste  Achtungsbezeugung  wurde 
gleich  der  größte  Freundschaftsbeweis.  Als  beide  einmal 
nachts  nach  einem  Ausfluge  auf  dem  Markte  in  Erlangen 
sich  gute  Nacht  sagten  und  Platen  die  Hand  des  Freundes 
ergriff,  ohne  daß  sie  ihm  dieser  entzog,  da  „fühlte  er  zum 
ersten  Male,  daß  er  ihm  wert  geworden",  Cardenio  freilich 
ließ  kein  Mißverständnis  entstehen,  das  dem  Liebenden 
angenehm  geblieben  wäre.  Sieben  Tage  lang  nach  jener 
Verabschiedung  sollte  dieser  ihn  nicht  mehr  sehen.  Car- 
denio wich  ihm  aus.  Schon  am  7.  August  heißt  es  im 
Tagebuch:  „Ä>  wird  mir  seit  Jahren  das  Schöne  entrissen, 
kaum  daß  ich  es  erblickt,  nun  das  AllersMmste  am  aUer- 
schnellsten.  Mit  Bülow  konnte  ich  kaum  ein  paar  Monate 
leben,  mit  lAebig  tvenige  Tage  und  Cardenio  darf  ich  noch 
nicht  einmal  meinen  Freund  nennen,*'  —  Wenn,  was  un- 
ausbleiblich war,  Cardenio  ihm  dennoch  einmal  begegnete, 
so  blieb  er  kühl  und  wechselte  höchstens  ein  paar  artige 
Worte.  Der  Liebende  war  aber  nicht  so  leichten  Kaufes 
loszubekommen;  er  machte  immer  neue  Versuche,  lud 
den  jungen  Mann  zu  Spaziergängen  ein  und  besuchte  ihn 
auf  seinem  Zimmer.  Freilich  alles  vergebens;  auf  ein- 
mal war  Hoffmann  abgereist,  ohne  Lebewohl  gesagt  zu 
haben.  „Was  bleibt  mir  nun  anders'-,  schrieb  der  oft  Ge- 
prüfte, „als  ein  unsäglicher  Schmerz  und  die  ganze  Uner" 
träglichkeü  der  Existenz?     Ich  umrde  beruhigter  sein,   wenn 


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—     417     — 

er  mir  ein  einziges  Lebewohl  gesagt  Mite.  Schtüerlioh  iverden 
ivir  uns  je  wieder  sehen.  Und  wenn  auch  ja,  er  liebt  mich  nicht. 
Die  höchste  Schönheit^  die  höchste  Milde,  die  mir  je  begegnete, 
begegnete  mir  so  unfreundlich.  Wie  soll  mir  etwas  Anderes  ge- 
nügen? Muß  ich  mich  wieder  hinschleppen  wnd  lächeln  mit  zer- 
rissener Seele?  O  Gott!  Nimm  ein  Leben  von  mir,  das  du 
mir  unier  fürchterlichen  Bedingungen  gegeben  hast!'* 
So  verblendet  Platen  in  Beurteilung  seiner  Lieb- 
linge war,  so  richtig  wurden  diese  von  Anderen  ein- 
geschätzt, denen  die  Leidenschaft  für  einen  Mann  den 
Blick  nicht  trübte.  Hoffmann,  den  Liebig  von  seinem 
Erlanger  Aufenthalt  her  kannte,  wird  von  diesem  in  einem 
späteren  Briefe  geschildert  ^ydls  die  trockenste  Natur,  die 
ihm  je  vor  Äugen,  gekommen^*.  Cardenio  war  also  nicht 
der  Mann,  mit  dem  Flaten  zum  Ziele  gelangen  konnte, 
und  ein  Unglück  war  es  für  letzteren,  daß  jener  wieder- 
holt in  seinen  Gesichtskreis  trat.  Im  nächsten  Semester 
tauchte  Hoffmann  nämlich  wieder  in  Erlangen  auf  und 
das  Schicksal  f&gte  es,  daß  er  sogar,  wie  einst  Botenhan, 
der  Zimmernachbar  Platens  wurde.  Es  entstand  wieder 
ein  Verkehr,  zu  welchem  gemeinsame  Lektüre  vom  Lie- 
benden als  Gelegenheit  oder  vielmehr  als  Vorwand  be- 
nutzt wurde.  Auch  bei  Spaziergängen  mit  Bekannten 
konnte  Platen  in  Hoffmanns  Nähe  weilen;  auf  einem 
Winterausiiug  gelang  es  ihm  einmal,  mit  Cardenio  allein 
den  nächtlichen  Heimweg  zurückzulegen.  Sie  zündeten  eine 
Holzfackel  an,  die  Cardenio  trug.  Einzelne  Sterne  blinkten 
am  dunkeln  Himmel  und  die  Deichsel  des  ,Wagens'  neigte 
dort  dem  Horizonte  zu.  Hierauf  bezieht  sich  das  tief- 
empfundene, formvollendete  Sonett,  welches,  in  die  „Ge- 
sammelten Werke''  nicht  aufgenommen,  hier  am  Platze  ist: 

„Mehr  als  des  Lenzes  voU  von  HiHd  tmd  Gnade, 
Gedenkt  ich  jener  Wintemacht,  der  kalten, 
Als  ich  gesehen  Dich  eine  Fackel  halten, 
Mir  vorzuleuchten  auf  dem  öden  Pfade. 
Jahrbuch  VI.  27 


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—     418     — 

Und  folgend  immer  Deinem  Tritt  gerade^ 
Sah  ich  unzähVge  Funken  sich  entfalten, 
Umsprühende  die  schönste  der  Gestalten, 

Sobald  Du^  Freund,  die  Fackel  schivangst  im  Bade. 

Gestirne  umrden  neidisch  aus  der  Fei'ne 

Dein  Licht  gewahr  U7id  liebend  schien  der  Wagen 
Auf  Dich  zu  senken  seine  sieben  Steige. 

Still  warst  Du  selbst,  ich  wagte  nichts  zu  fragen: 

In  solchen  Stunden  schweigt  man  allzugerne; 
Doch  was  Du  dachtest,  wer  vermag's  zu  sagen?**" 

Mochte  Platen  sich  im  stillen  allen  Täuschungen 
hingeben,  alle  Versuche,  einen  intimeren  Verkehr  herbei- 
zuführen, schlugen  fehl.  Es  stand  fest,  je  un verhüllter 
seine  Liebe  zutage  trat,  desto  zurückhaltender  wurde  das 
Benehmen  des  anderen,  der  ihn  zuletzt  auf  der  Straße 
gar  nicht  mehr  grüßte. 

Platen  mußte  bei  solchen  Wahrnehmungen  nach- 
denklich werden.  Er  fürchtete,  daß  sich  das  Gerücht 
von  seiner  Neigung  wieder  herumsprach  und  daß  seine 
soziale  Stellung  erschüttert  sei.  ,Jch  Jmbe'',  schreibt  er 
am  21.  Oktober  1822,  nachdem  er  sich  auf  einige  Zeit 
nach  Altdorf  zurückgezogen  hatte,  „seitdem  ich  in  Et-- 
langen  hin,  so  viele  dumme  StreicJie  gemuckt,  midi  in  so 
Manches  vei-wickelt,  daß  ich  micfi  scheue  j  wieder  dahin  zu 
gehen.  AiLch  hat  man  meiner  Neigung  xu  Rotenhan,  zu 
Bühw,  zu  Liebig,  zu  Cardenio  selbst,  gemiß  eine  Deutung 
gegeben,  die,  so  ungerecM  sie  ist,  mich  doch  in  die  größte 
Bedrängnis  versetzen  muß.  Wenn  nun  vollends  jener  Brief 
von  Iphofen  jemals  bekannt  werden  sollte,  die  größte  Schmach 
und  die  größte  Sünde  (sie!)  meines  Lebens,  so  ist  mein  Ruf 
auf  emg  verloren.  Alles  kann  idi  nicht  vor  der  Vorsehung 
ausfechten,  die  mir  diese  Neigung  eingepflanzt  hat  seit 
meiner  frühesten  Jugend,  von  den  Anderen  verdiente 
ich  statt  der  Scheltworte  eher  Mitleid.  Ich  verlange 
nichts  Unrechtes,  nichts,  was  die  Natur  und  das  Gesetz  ver- 


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—     41&     — 

(lammt,  aber  daß  ich  da  nicht  sollte  lieben  dürfen,  wo  micJi 
Schönheit j  Vorzüge,  Gewohnheit  fesseln,  daß  ich  überhaupt 
gar  nicht  liehen  sollte^  dies  ist  eine  härtere  Forde- 
derung,  als  daß  sie  ein  Mensch  dem  Menschen  machen 
soll.  Durch  diese  Neigung  selbst  bin  ich  schon  unergiiind- 
lieh  unglücklich,  nie  Erwiderung,  noch  weniger  Befriedigung  (!) 
hoffend,  wird  mein  Zustand  immer  drückende.  Hier  (in 
Altdorf)  kann  icJi  mich  zwar  vor  den  Metischen  verbergen, 
alter  endlich  muß  ich  doch  wieder  in  die  Welt  hinaus,  wui 
wer  sorgt  für  meine  Zukunft^  wenn  ich  mich  nicht  dafür  an- 
strenge,    0  Gott,  gib  mir  keine  Zukunft!** 

Diese  mit  der  elementaren  Kraft  der  Wahrheit  ge- 
sprochenen Worte  sind  wieder  eine  Kundgebung,  wie  sie 
wohl  selten  aus  dem  Herzen  eines  Homosexualen  kam.  Der 
Welt  war  diese  entsetzliche  Manifestation  nicht  bekannt,  so 
lange  sie  im  Tagebuch  vergraben  lag.  Ob  sie  jetzt,  nach- 
dem das  Tagebuch  veröflFentlicht  ist,  den  notwendigen 
Widerhall  erfahren  wird,  ist  eine  Frage;  gewiß  aber  ist, 
daß  eine  Zeit  kommen  wird,  welche  von  ihr  Kenntnis 
nimmt  und  sie  als  einen  unwiderleglichen  Bew^eis  für  die 
Natürlichkeit  und  ünverantwortlichkeit  der  Empfindung 
zum  „eigenen"  Geschlecht  gelten  läßt.  Platen  würde  sich 
gewiß  nicht  in  all  die  Bitterkeiten  und  Gefahren,  die  ihn 
mit  Angst  erfüllten,  gestürzt  haben,  wenn  es  menschen- 
möglich gewesen  wäre,  sie  zu  vermeiden.  Er  wurde  trotz 
seines  Widerstandes  in  sie  hineingedrängt.  Schon  am 
31.  März  1823,  nachdem  sich  die  Aussichtslosigkeit  aller 
Hoffnungen  auf  Cardenio  herausgestellt  hatte,  finden  wir 
Platen  nämlich  abermals  in  unentrinnbaren  Fesseln.  Auf 
einem  Ausflüge  von  Studenten,  an  dem  er  sich  von  Er- 
langen aus  beteiligte,  fiel  ihm  ein  hübscher  junger  Jurist 
auf,  an  den  er  schon  in  Heidelberg  von  Liebig  gewiesen 
war,  der  sich  aber  von  ihm  nicht  antreffen  ließ.  Wie  dort, 
so  beobachtete  der  junge  Mann  —  Knöbel  war  der  be- 
zeichnende Name  des  rüden  Menschen   —    auch  in  Er- 

27* 


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—     420     — 

langen  ein  zurückhaltendes,  f&st  ungefälliges  Benehmen. 
Gleichwohl  konnte  es  Platen,  hingerissen  von  der  kräftig 
schönen  Männlichkeit»  nicht  unterlassen,  sich  auch  ihm  an- 
zufreunden. Elr  erreichte  ein  kurzes  Wechselgespräch;  als 
er  aber  anderen  Tages  den  jungen  Mann  einlud,  auf  sein 
Zimmer  zu  kommen,  wurde  ihm  dies  unter  einer  firostigen 
Ausrede  abgeschlagen.  Jetzt  wäre  es  für  Platen  an  der 
Zeit  gewesen,  sich  zurückzuziehen;  statt  dessen  loderte 
die  Neigung  nur  um  so  mächtiger  wieder  zur  Leiden- 
schaft empor  und  dies  blieb  von  Enöbel  nicht  unbemerkt. 
Rasch  trat  die  Wirkung  ein.  Am  5.  April  schon  meldet 
Platen  im  Tagebuch  mit  der  offensten  Gewissenhaftigkeit 
von  der  Welt:  „Heute  habe  ich  das  Fürchterlichste 
meines  Lebens  erfahren.  Der  Abgrund,  an  dem  icJi  seit 
Jahren  sehimndle,  hat  sieh  noch  einmal  mit  gräßlicher  Tiefe 
vor  mir  aufgetan,  Knöbel,  gegen  den  ich,  ich  darf  wohl  sagen, 
die  reinste,  innigste  Liebe  empfand,  sagte  mir  heute  mit 
dürren  Worten,  daß  ich  ihm  lästig  sei,  daß  ich  ihm  meine 
Freundschaft  habe  aufdrängen  wollen,  daß  ich  jedoch  meine 
Rechnung  ohne  den  Wirt  gemacht  habe,  daß  er  nicht  die  min- 
deste Neigung  für  mich  empfinde  und  daß  ich  ihn  sobald  wie 
möglich  verlassen  solle.  Ja,  dies  waren  vielleicht  nocfi  die 
mildesten  Ausdrücke  (!).  Ich  sage  nichts  .  über  das  Nähere; 
denn  was  wäre  hier  noch  zu  sagen,  nachdem  dies  gesagt  ist  ? 
Genug,  daß  ich  den  Tod  in  der  Seele  trage,  —  Ich  werde 
einige  Tage  auf  dem  Lande  zubringen;  aber  in  welcher  Stim- 
mung gehe  ich  dahin?  Es  ist  nicht  Knöbels  Verlust  allein^ 
es  ist  die  ungeheure  Gewißheit,  daß  mich  die  Natur 
bestimmt  hat,  ewig  unglücklich  zu  sein,'' 

Solche  und  ähnliche  Erfahrungen  legten  sich  schwer 
auf  das  Gemüt  des  feinfühligen  Mannes.  Dazu  kam,  daß 
die  Erfolge  seines  dichterischen  Schaffens  hinter  den  Er- 
wartungen zurückblieben,  die  er  und  andere  damals  von 
ihm  hegten.  Zwar  wurde  sein  Schauspiel  „Treue  um 
Treue"  (am  18.  Juni  1825)  in  Erlangen  aufgeführt;  zwar 


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—     421     — 

fanden  seine  Gedichte ;  die  Ghaselen  und  später  die 
Sonette,  den  Weg  in  die  Öffentlichkeit  und  wurden  zum 
Teil  auch  im  Auslande  gelesen;  allein  jener  dramatische 
Erfolg  galt  mehr  dem  einheimischen  akademischen  Bürger 
als  der  Bühnenfähigkeit  des  Stückes  und  die  Gedichte 
waren  höchstens  eine  Kost  für  literarische  Feinschmecker. 
Außerdem  näherte  sich  der  Urlaub,  welcher  dem  Offizier 
bewilligt  war,  seinem  Ende,  und  es  erfüllte  Platen  mit 
Schrecken,  als  wirklich  die  Einberufung  zu  seinem  Regi- 
ment nach  München  erfolgte.  Allerdings  wurde  der 
Urlaub,  auf  Vorstellung  einflußreicher  Personen  hin,  ver- 
längert; aber  es  knüpfte  sich  an  diese  Vergünstigung  die 
selbstverständliche  Pflicht,  auf  dem  Felde  der  Kunst  nun 
einmal  etwas  Bedeutendes  zu  leisten.  Der  Philosoph 
Schelling,  welcher  damals  an  der  Universität  Erlangen 
wirkte  und  dem  Dichter  ein  aufrichtiges  Interesse  zu- 
gewandt hatte,  machte  denselben  darauf  aufmerksam, 
daß  ein  Künstler  bloß  inmitten  des  großen  Lebens  etwas 
Großes  zu  schaffen  vermöge,  und  so  sah  Platen  ein,  daß 
er  in  Erlangen,  und  überhaupt  in  Deutschland,  nicht 
mehr  an  seinem  Platze  war. 

Die  Wahl  des  Landes,  in  dem  er  sich  niederlassen 
wollte,  fiel  auf  Italien.  Für  dieses  Land  hatte  er  schon 
seit  früher  Jugend  eine  Vorliebe  —  nicht  bloß  wegen 
der  reichen  Literatur  und  der  Pracht  seiner  Landschaften, 
sondern  vielmehr  —  wegen  der  Menschen,  von  deren 
Schönheit  er  schon  so  manches  Beispiel  gesehen  hatte. 
Insbesondere  war  es  ein  vorübergehender  Aufenthalt  in 
Venedig  (vom  Anfang  September  bis  Anfang  November 
des  Jahres  1824),  der  ihm  in  dieser  Richtung  die  Augen 
öffnete.  „Feme  von  allem  Staub  der  Schule,  unier  einem 
Volke,  das  voll  Unbefangenheit  dem  Augenblick  zu  leben  weiß, 
fange  ich  selbst  erst  an,  das  Leben  zu  erkennen  und  zu  ge- 
nießen'', meldet  vom  13.  Oktober  jenes  Jahres  das  Tage- 
buch aus  Venedig. 


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—     422     — 

Von  seiner  LeklensehaÄ-för  deutsche  Jünglinge  hatte 
ihn  dieJBeiee  nach  Venedig  übrigens  vorerst  ebensowenig 
befreit,  wie  die  Menge  unliebsamer  Erfahrungen,  die  er 
mit  jenen  gemacht  Im  Gegenteil,  ein  neuer  Liebes- 
frühling schien  erwachen  zu  wollen,  ehe  er  die  Heimat 
dauernd  yerließ.  Am  9.  März  1826  heißt  es,  abermals  in 
Erlangen :  „Jeizi  rufen  mich  Frühling  und  Liebe  wieder  ins 
Leben.  Die  Tage  sind  unbeschreiblich  9chön,  der  Himmel 
blaUf  die  Knospen  brechen  hervor.  Ich  habe  in  dieser  schönen 
Zeit  einen  Freund  gefunden.  So  oft  ich  mich  in  diesem 
Funkte  getäuscht  habcj  so  hoffe  ich  diesmal  mich  flicht  zu 
täuschen.  Und  wie  könnte  icJi  die  Ideale  (sie!)  aufgeben,  die 
mich  seit  meiner  Kindheit  begleiten  ?  —  Gesehen  habe  ich  Ihn 
sclion  im  November  vorigen  Jahres,  auf  einem  Balle  im 
Januar  zum  ersten  Mal  mit  ihm  gesprochen;  aber  die  Um- 
stände verhinderten  uns,  einander  näJier  zu  kommen,  und 
näher  kennen  gelernt  habe  ich  ihn  erst  gestern  abend,  wo  ich 
ein  paar  Stunden  bei  ihm  zubrachte.  Da  dieser  Besuch  zu- 
fällig war,  so  hat  es  mich  hinterher  gefreut,  daß  es  am  ,Jona' 
tfianstag*  geschehen  ist.^'  —  (Wir  sehen,  der  einst  so  üppig 
wuchernde,  dann  mit  der  Zeit  sichtlich  abnehmende  Aber- 
glaube trieb  immer  noch  einzelne  Schößlinge  auf  dem 
Boden  der  unbefriedigten  Sehnsucht.)  —  „Heute  morgen 
schickte  ich  ihm  mehrei'e  meiner  gedruckten  Sachen  und  legte 
ein  gestern  entstandenes  Sonett  über  den  ,Tod  Pindars^  bei,  das 
an  ihn  selbst  gerichtet  ist,  unewohl  ich  ihn  dies  nicht  erraten 
ließ.  Es  ist  das  zwanzigste  Sonett,  das  ich  an  ihn  gescfirieben, 
und  so  habe  ich  ihn  mehr  als  irgend  einen  früheren  Freund 
gefeiert,  und  zwar  durch  Gedichte,  die  meine  frülieren  hinter 
sich  lassen.  Gott  mag  wissen,  warum  dieser  Mensch  mich  so 
begeistert;  aber  aus  den  Sonetten  (in  Redlichs  Ausgabe  171 
bis  181  und  653 — 654)  geht  hervor,  daß  ich  nie  so  ganz, 
nie  so  edel,  so  uneigennützig  geliebt  habe.  Er  heifit  Karl 
Theodor  German^'  —  Platen  selbst  nannte  ihn  Jona- 
than   —    „und  ist  in  Rheinbayern  zu  Hause.     Er  studiert 


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—     423     — 

Theologie,  Unglücklicherweise  (!)  hat  er  sich  einer  Lands- 
mannschaft angeschlossen,  was  unseren  Umgang  außerordent- 
lich erschwertJ^  (Bei  den  Landsmannschaften  befanden 
sich  eben  jene  Charaktere,  die  am  wenigsten  Sinn  ftir 
Platens  Neigungen  hatten^  dafür  aber  als  kräftige^  lebens- 
frohe junge  Männer  diesem  um  so  mehr  gefielen;  darin 
war  das  „Unglück"  zu  erblicken.) 

Es  kam,  wie  zu  erwarten  stand.  So  lange  Gennan 
der  Meinung  lebte,  daß  es  sich  um  eine  Kameradschaft 
handle,  wie  sie  unter  Studenten  gang  und  gäbe  ist,  ver- 
kehrte er  freundlich  mit  dem  Grafen,  welcher  sofort  die 
Freundlichkeit  in  jene  „Freundschaft"  übertrug,  wie  er 
sie  selbst  empfand.  Kaum  aber  hatte  Gennan  bemerkt, 
daß  ihm  glühende  Neigung  entgegengebracht  werde,  so 
wurde  er  kühl  bis  ins  Herz  hinein  und  zog  sich  scheu 
zurück.  Aber  die  Liebe  ist  nicht  nur  blind,  sondern  auch 
taub.  Platen  verfolgte  den  jungen  Mann  weiter  mit 
Freundschaftsbeweisen,  ohne  daß  er  etwas  anderes  er- 
reichte als  einen  Brief,  in  dem  er  härter  und  liebloser 
behandelt  wurde  denn  je.  „Jonathan"  erklärte  kurz  und 
bündig,  daß  er  nicht  Platens  Freund  sein  wolle,  keine 
Neigung  für  ihn  verspüre  und  sich  überhaupt  um  ihn 
nicht  kümmere.  Deutlicher  konnte  nicht  gesprochen  werden. 
yylch  habe  die  Nacht*',  heißt  es  mit  einigem  Widerspruch 
nach  Empfang  des  Briefes,  „in  einem  fürchterlichen  Zustande 
zugebracht Endlich  glaubte  ich  jenes  von  frühester  Kind- 
heit ersehnte  Ideal  eines  Freundes  gefunden  zu  haben;  nie  hat 
mir  ein  Mensch  besser  gefallen  als  German.  Nur  M—y 
(Mercy)  und  B—n  (Branden stein)  aus  früherer  Zeit  kann 
ich  mit  ihm  in  eine  Linie  stellen.  Auch  diese  liebte  ich  über 
Alles,  und  es  ist  merkwürdig,  daß  sie  alle  drei  blond  waren 
und  eine  entfernte  Ähnlichkeit  der  Gesichtszüge  unter  ihnen 
obwaltet.  Selbst  Liebig  kann  ich  nicht  mit  ihnen  vergleichen, 
wiewohl  (vielmehr  weil)  er  der  einzige  Mensch  in  der  Welt 
ist,  der  mich  wahrhaft  geliebt  hat,  —  Mne  so  traurige  Früh- 


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—     424     — 

lings-  und  Rosenzeit  wie  dieses  Jahr  habe  ich  noch  niemals 
zugebracht   —   Nun  ist  alle  Hoffnung  auf  Italien  geriMet" 

Am  22.  August  machte  übrigens  German  noch  eine 
Anstandsvisite,  um  sich  für  ein  mittlerweile  zum  Geschenk 
erhaltenes  Buch  zu  bedanken,  wenigstens  ein  Beweis,  daß 
Platen  noch  immer  einen  gewissen  Grad  von  Achtung 
bei  ihm  genoß.  Ein  Gegenbesuch  Platens  aber  wurde 
nicht  angenommen,  wenigstens  fand  der  letztere  seinen 
Nachbar  bei  wiederholten  Besuchen   „nicht  zu  Hause". 

Diese  neue  Kränkung  kam  nicht  unerwartet;  aber 
sie  verschlimmerte  Platens  Gemütszustand  aufs  äußerste; 
eine  solche  Zerrissenheit,  wie  er  sie  in  diesen  Augen- 
blicken empfand,  war  selbst  für  ihn  noch  neu.  „JEJs  ist 
die  höchste  Zeit'^j  schrieb  er,  ^^daß  ich  Deutschland  verlasse; 
aUe  Bande  sind  gelöst;  alle  Liebe  hat  sich  ins  Innerste  meiner 
Brust  geflüchtet,  um  nie  mehr  hervorzutreten/^  In  dieser 
Zeit  entstand  das  bekannte  ergreifende  Sonett,  welches 
mit  den  Worten  bitterer  Resignation  schließt: 

„Wo  mir  zerrissen  sind  die  zarten  Bandcy 
Wo  Haß  und  Undank  edle  Liebe  lohnen^ 
Wie  bin  ich  satt  von  meinem  Vaterlande!" 


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m. 

Am  13.  Oktober  1825  starb  König  Maximilian  I.  yon 
Bayern  und  sein  kunstsinniger,  begeisterungsfähiger  Sohn 
folgte  ihm  in  der  Regierung  des  Landes.  Von  all  den 
poetischen  Huldigungen,  die  ihm  anläßlich  seiner  Thron- 
besteigung wurden,  fand  Ludwig  L  die  (durch  die  „Ge- 
sammelten Werke**)  bekannte  Ode  des  Grafen  Platen 
nicht  allein  fär  das  beste  Gedicht,  sondern  auch  für  das 
einzige,  das  ihm  gefiel.  Die  Beurlaubung  Platens  ward 
nun  auf  die  Dauer  gewährt  und  ihm  überdies  der  Fort- 
bezug der  Offiziersgage  bewilligt.  Freiherr  von  Cotta  in 
Stuttgart,  der  Verleger  der  Platenschen  Werke,  bot  jeden 
beliebigen  Wechsel  auf  ein  Bankhaus  in  Rom  an,  wofern 
der  Dichter  nur  von  Zeit  zu  Zeit  Korrespondenzhach- 
richten  für  dessen  „Morgenblatt*'  von  dort  aus  einsendete. 
Für  finanzielle  Mittel  war  also  hinreichend  gesorgt  und 
am  3.  September  1826  bestieg  der  Vaterlandsmüde  in 
Erlangen  den  Eilwagen,  um  über  München  und  das  ihm 
teure  Innsbruck  —  wohin  er  schon  einmal  als  einähriger 
Knabe  gekommen  —  nach  Italien  zu  reisen.  Über  die 
Anziehungskraft  dieses  Landes  gibt  er  sich  während  der 
Reise  im  Tagebuche  Rechenschaft.  Es  ist  jedoch  von 
dem  betreffenden  Eintrag  nur  ein  Bruchstück  vorhanden, 
da  ein  Blatt  mit  dem  größten  Teil  der  Stelle  aus  dem 
Buche  herausgerissen  ist.  Das  Bruchstück  (Parma,  den 
20.  September)  lautet:  „Es  wäre  schwer  xu  sagen,  worin 
eigentlich  die  mächtigen  Beize  bestehen,  mit  denen  Italien  die 
Gemüter  anlockt.     Es  ist  nicht  die  reiche  Natur  allein,  noch 


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Goc^gle 


—     426     — 

die  reichere  Kunst,  es  sind  nicht  bloß  die  herrlichen  Kirchen., 
die  gescJimachvollen  Schauspielhäuser,  in  denen  man  umher- 
wandelt,  die  prächt —  — ".  Hier  bricht  der  Eintrag  ab. 
Wir  glauben  nicht  fehlzugehen,  wenn  wir  denselben 
dahin  ergänzen,  daß  auch  von  den  Menschen  die  Rede 
war  und  daß  die  Hoffnung  ausgesprochen  wurde,  es  möge 
ihm  in  der  Fremde  von  diesen  zuteil  werden,  was  die 
Menschen  in  der  Heimat  ihm  versagten.  Jedenfalls  war 
—  wie  immer  da,  wo  eine  Elimination  im  Tagebuch 
stattfand  —  von  intimeren  Geständnissen  die  Rede. 
Freilich  auch  das  ist  gewiß  und  geht  mit  Zweifellosig- 
keit  aus  dem  ungeschmälerten  Wortlaut  der  nachfolgenden 
Einträge  hervor,  daß  Platen  nun  mit  der  ängsthchsteu 
Sorgfalt  sein  Auge  behütete  und  sein  Herz  gegen  den 
Zauber  männlicher  Schönheit  zu  panzern  suchte.  Aber 
bald  ward  ihm  wiederum  das  Vergebliche  all  seiner  Vor- 
sätze klar  und  er  sah  sich  mit  Bestürzung  aufs  neue  in 
jenen  Zustand  versetzt,  in  den  er  nach  den  Erlebnissen 
mit  German  „nie  mehr  zu  geraten  hoffte".  In  Rom, 
dem  Ziele  seiner  Sehnsucht,  traf  er  am  24.  Oktober, 
gerade  an  seinem  30.  Geburtstage,  ein.  Schon  am 
14.  Januar  1827  lernte  er  daselbst  y^einen  schönen,  jungen 
Römer  kennen,  der  ein  Maler  ist  und  den  er  schon  öfters  mit 
einem  griechischen  Maler,  den  er  zuweilen  sprach,  gesehen 
hatte,"  Gleichzeitig  reizte  ihn  ein  schönes  männliches 
Modell,  das  er  in  einem  Künstlerkreise  erblickte,  zu  der 
bekannten  halb  sinnlichen,  halb  elegischen  Ode: 

„TFewn  Du,  Natur,  eine  Gestalt  bilden  tcillst, 
Vor  den  Äugen  der  Welt,  wie  viel  Du  vermagst,  darzutu/n. 
Ja,  dann  trage  der  Liebling 
Deiner  unendlichen  Milde  Spur, 

Alles  an  ihm  werde  sofort  Ebenmaß, 
Wie  ein  prangender  Lenz,  von  Blüten  geschwellt,  jedes  Glied; 
Huldreich  alle  Geberden, 

Alle  Bewegungen  sanft  und  leicht. 


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—     427     — 

Aber  in  sein  Schwärmergesicht  prägst  Du 
Den  lebendigen  Geist,  und  jene,  tneucohl  fröhlichey 
Doch  kaltblütige  Gleichmut, 

Wiegend  in  Buhe  Begier  und  Kraft ^*' 

Unterm  22.  Februar  heißt  es:  „Ich  habe  mich  an  den 
Torheiten  und  Maskeraden  (des  Eameyals)  ergötzt;  weit  meJir 
aber  freute  mich's,  eine  Bekanntschaft  gemacht  xu  haben,  die 
ich  immer  ivünschte,  aber  als  eine  schöne  Unmöglichkeit  an- 
sah. Es  ist  ein  junger  Maler  aus  Cremona,  dessen 
Namen  ich  nicht  weiß.  Ich  habe  ihn  schon  einmal  (im 
November  des  vorigen  Jahres)  in  einer  Traitoria  gesehen,  und 
seit  jenem  Augenblick  schien  er  mir  immer  der  schönste 
Mann  und  das  nalionalsle  Gesicht,  das  mir  jemals  in  Italien, 
wo  die  Schönheit  alltäglich  ist,  vorgekommen  ....  Ich  lernte 
in  diesem  Freunde  (!)  einen  Mann  kennen,  der,  was  Gelehr- 
samkeit anlangt,  so  wenig  über  seine  Sphäre  hinausgeht,  wie 
es  die  Italiener  überhaupt  tun,  aber  nichtsdestoweniger  ebenso 
geistreich  und  edel  ist  und,  wie  viele  seiner  Landshute,  eine 
große  Beredsamkeit  hat.  Diese  Gaben,  (selbstverständlich)  vei-- 
eint  mit  einer  unbeschreiblichen  Wohlgestalt  und  jenen  tiefen, 
schwärmerischen  Feueraugen,  die  ich  nie  in  solcher  Voll- 
kommenheit gesehen  habe,  würden  mir  nichts  xu  umnschen 
übrig  lassen,  wenn  ich  hoffen  dürfte,  die  Freundschaft  eines 
solchen  Jünglings  zu  erwerben.  Überhaupt  bewundere  ich  die 
Italiener,  je  mehr  ich  sie  kennen  lerne.  Ich  habe  in  diesen 
letzten  Tagen  unter  den  Künstlern  und  anderen  (ebenfalls 
selbstverständlich)  yun^/ew  Leuten  sehr  interessante  Bekannt- 
schaften gemacht,'^ 

Noch  weniger  als  in  Rom  gelang  es  dem  Schön- 
heitsdürstenden in  Neapel,  wohin  er  am  26.  April  1827 
weitergereist  war,  seinen  Vorsätzen  treu  zu  bleiben.  Schon 
die  Stadt  als  solche  erregte  sofort  sein  Wohlgefallen. 
„Alles  ist  Heiterkeit  und  Bewegung,  und  die  Stadt  ist  wie  das 
Meer  offen  und  frei  und  geräuschvoll;  die  Bauart  im  all- 
gemeinen solid  und  edel,  die  Straßen  breit  und  hell,^^   Dazu  die 


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—     428     — 

Umgebung  mit  ihren  Gärten  und  Terrassen,  ihrer  reichen 
Vegetation,  ihren  Pinien  und  Palmen!  Und  erst  die 
Menschen!  Das  Verwunderliche  bleibt  nur,  daß  es  dies- 
mal kein  Italiener  war,  der  das  Interesse  des  Liebe- 
beflürftigen  auf  sich  zog,  ,,ioi6wohl  die  Italiener  so  viel 
schöner  sind  als  die  Deutsofien'^  sondern  eben  ein  Deutscher. 
Platen  weigerte  sich,  im  Hinblick  auf  seinen  Vorsatz, 
anfangs  allerdings,  auch  mit  diesem  in  Verkehr  zu  treten. 
Ein  gemeinsamer  Bekannter,  der  Philologe  Gündel  aus 
Sachsen,  aber  ruhte  nicht,  bis  er  ihn  bei  einer  Mittags- 
tafel dem  Schlesier  August  Kopisch,  dem  bekannten 
Maler  und  Dichter,  entgegenführen  konnte.  „2c^  erwartete 
wenigstens**,  schreibt  Platen  am  11.  Juli,  „ein«  trockene,  ge- 
wöhnliche Bekanntschaft  %u  machen;  aber  es  kam  noch  viel  schlim- 
mer, da  der  schöne,  heitere  und  liebenswürdige  junge  Mann 
einen  nur  zu  tiefen  Eindruck  auf  mich  machte,  einen  Ein- 
drtcck,  den  ich  eigerUlich  nie  in  Italien  erfuhr  .  .  .  Kopi^ch 
las  (bei  der  erwähnten  Gelegenheit)  einige  scherzhafte  Oe- 
dichte  vor  und  nach  Tische  wurde  eine  Spazierfahrt  am  Meer 
hin  gemacht,  bis  wo  man  die  Insel  Nisida  im  Oesicht  hat. 
Diese  zauberischen  Gesichtspunkte ,  ihm  gegenüber  genossen, 
waren  verführerisch;  er  selbst  artig  und  zuvorkommend  gegen 
mich  (eine  Wohltat,  die  Platen  sonst  selten  erfuhr);  ich 
aber  hütete  mich  aufs  äußerste,  mich  ihm  bloß  zu  geben. 
Gestern  aber  ward  mir  ganz  deutlich,  daß  ich  ihn  fliehen 
muß,  da  es  noch  Zeit  ist.^'  — 

Und  vierzehn  Tage  später  schon  wird  berichtet: 
„Mein  Verhältnis  zu  Kopisch  hat  sich  auf  das  schönste  und 
freundlichste  entwickelt.  Er  ist  einer  der  edelsten  und  liebens- 
würdigsten Charaktere y  die  mir  jemals  vorgekommen,  voll 
mannigfaltiger  Talente,  äußerst  unterhaltend  im  Gespräch  und 
immer  heiter  scheinend,  tviewohl  er  noch  aus  Deutschland, 
wohin  er  nach  dreien  Jahren  Abwesenheit  zurückzukeJiren 
denkt,  einen  stillen  Kummer  mit  sich  brachte,  dessen  Geschichte 
er  mir  vertraute   und   der   in    dem  unglücklich   verwickelten 


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—     429     — 

Verhältnis  zu  einem  Mädchen  seinen  O^imd  hat.  Wenn  er 
darauf  zu  reden  kommt,  so  laufen  diesem  Menschen,  der  sonst 
die  iMsiigkeü  selbst  sclieint^  die  Tränen  über  die  Wangen.  Da 
er  bei  allen  seinen  Vorzügen  auch  DicMer  ist  und  zwar  einer ^ 
der  es  ernsthaft  mit  sich  selbst  meint  j  so  läßt  sich  leicht 
denken,  daß  dadurch  tausendfache  Berührungspunkte  zwischen 
uns  entstehen.  Eine  ähnliche  Freundschaft  kann  im 
Leben  kaum  zweimal  vorkommen/^  Platen  hatte 
hier  insofern  richtig  gesehen,  als  Kopisch,  freilich 
ohne  im  Punkte  der  „Freundschaft"  mit  ihm  Eines 
Sinnes  zu  sein,  die  zu  ihm  einen  Gegensatz  bildende 
Oeschlechtspsyche  Platens  gleichsam  divinatorisch  oder 
instinktiv  erkannte  und  sich  gewissermaßen  durch  die- 
selbe angezogen  fühlte.  Weit  entfernt,  den  sich  immer 
mehr  Nähernden  sobald  wie  möglich  abzustoßen,  kam 
Kopisch,  ungleich  einem  German  oder  Enöbel,  ihm 
mit  der  Liebe  des  Vertrauens  entgegen  und  fiel  ihm  bei 
einem  Besuche,  den  Platen  machte,  mit  Tränen  im  Auge 
um  den  Hals.  Platen  war  davon  überglücklich  und  dichtete 
jene  Ode  „An  August  Kopisch"  (siehe  „Gesammelte 
Werke",  S.  246,  Cotta,  1870),  in  welcher  es  u.  a.  heißt: 

„Mehr  als  Jedem,  o  Freund,  kamst  Du  ein  Trost  mir  selbst: 
Langher  war  so  verwandt  meinem  Gefühle  kein 
Augapfel  und  keine  Stimme  mir 
So  erfreulich  und  süß  dem  Ohr.^^ 

Von  dieser  Ode  sagte  Kopisch  selbst  in  seiner  Ant- 
wort, daß  sie  „dem  Leib  Ruhe  nahm  uud  Entzückung 
der  Seele  gab".  Anderen  Tages,  als  Beide  wieder 
zusammenkamen,  fingen  sie  ohne  weiteres  an,  von 
dem  freundschaftlichen  „Du"  Gebrauch  zu  machen.  Die 
Zeit,  da  Platen  mit  Kopisch  in  Neapel  zusammenlebte, 
bildete  den  Höhepunkt  seines  ganzen  Aufenthalts  in 
Italien,  vielleicht  seines  ganzen  Lebens.  Die  Beiden 
machten  gemeinschaftliche  Ausflüge  zu  Wasser  und  zu 
Lande,  badeten  mitsammen  im  Meere,  speisten  mit  ein- 


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/      _     430     — 

ander  zu  Mittag  und  verbrachten  desgleichen  die  Abende 
bis  spät  in  die  Nacht. 

Freilich  kam  eine  Eigenart  Platens,  der  sich  darin 
gefiel,  mitten  im  friedlichen  Verkehr  durch  Launen- 
haftigkeit zu  kränken,  auch  hier  in  der  Folge  zum 
Durchbruch.  Wie  er  selbst  sonst  von  den  Geliebten  ab- 
gestoßen wurde,  so  stieß  er  jetzt  den  Freund  ab.  Kopisch 
nahm  sich  die  Sache  so  zu  Herzen,  daß  er  in  heftige 
Tränen  ausbrach,  worüber  Platen  indes  nicht  wenig  be- 
stürzt wurde,  „^r  (Kopisch)  lebt  noch  xu  sehr  in  jener 
friiiieren  unglücklidten  Liehe  und  das  Gedächtnis  daran  mischt 
sich  in  Alles,  Er  glaubte  in  meiner  FreundscJiaft  eine  Art 
von  Ersatz  xu  finden;  daher  verletxi  ihn  der  geringste  Zweifel 
in  die  seinige.*'  Aber  der  Stachel  des  AngriflFs  kehrte 
sich  auch  gegen  Platen  selbst.  Dieser  geriet,  wie  er  im 
Tagebuch  sagt,  damals  in  einen  Zustand  von  Leerheit 
und  Langweile.  Er  suchte  Ruhe  in  —  der  örtlichen 
Trennung  von  dem  Freunde  und  ging  auf  einige  Zeit 
nach  Sorrent  (20.  August).  Hier  erhielt  er  von  dem  ver- 
söhnlich Gesinnten  einen  sehr  freundschaftlichen  Brief, 
„der  die  Mißverständnisse  ziemlich  beseitigt  hat-'.  Bei  seiner 
Rückkehr  nach  Neapel  empfing  er  noch  einen  weiteren 
Freundschaftsbeweis:  Kopisch  brachte  ihm  (nebst  schönen 
Orangen)  ein  Gedicht,  worin  er  „über  des  Freundes  Kälte 
in  der  letzten  Zeit  klagt  und  die  Zeit  herheiumnscfd,  die  sie 
beide  einmal  unrklich  vereinigen  soll**.  22.  November.  (Vergl. 
„Gesapimelte  Werke«,  Ode,  S.  246,  Cotta,  1870.)  ,Jn  der 
Tat  hohe  ich  mir  viel  gegen  ihn  vorzuwerfen'* ,  fügt  der  Tage- 
buchschreiber ofi'enherzig  bei,  „und  ich  fühle  in  diesem 
Augenblick t  was  ein  so  treu^er  und  xärtlicfier  Freund  wert 
ist."  —  Man  darf  übrigens  nicht  annehmen,  daß  Platen 
hier  lediglich  den  Eingebungen  seiner  Launen  folgte; 
wäre  Kopisch  nicht  von  weicher  Gemütsart,  sondern  von 
jener  herben  Männlichkeit  gewesen,  wie  sie  der  Homo- 
sexuelle  sucht  und  braucht,  so  würde  Platen   sich   vor 


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-     431     — 

jeder  Laune  des  anderen  gebeugt  haben.  So  aber  be- 
harrte seine  Neigung  auf  jenem  Punkte,  wo  sie  vor  Leiden- 
schaft bewahrt  und  zugleich  verhindert  wurde,  daß  sie 
zur  gewöhnlichen  Freundschaft  herabsank. 

Es  waren  nicht  immer  Dichter,  Künstler,  Offiziere 
und  dergl.,  welche  in  Italien  des  Grafen  Auge  fesselten 
und  ihm  die  Seele  verwundeten.  Sein  Sinn  für  das 
Natürliche  und  Schlichte  im  Volksleben  hatte  sich  bereits 
in  Deutschland  gezeigt;  aber  erst  im  Süden,  und  zwar 
schon  in  Rom,  vermochten  einfache  Leute  aus  dem 
Volke  in  ihm  einen  tiefen  Eindruck  hervorzurufen  und 
die  Glut  der  Liebe  anzufachen.  Bekannt  ist  die  römische 
Ode,  welche  beginnt: 

^jWarm  und  hell  dämmert  in  JRom  die   Winteniacht; 
Knabe,  komm!   Wandle  mit  mir  und  Arm  in  Arm 

Schmiege  die  bräunliche  Wang'  an  Deines 

Busenfreundes  blondes  Haupt!'' 

Solcher  Motive  fand  der  Dichter  viele.  Er  selbst 
sagt  z.  B.  mit  Bezug  auf  dieses  Gedicht:  „Etwas  Eigenes 
ist  mir  gestern  passiert.  Es  war  gerade  ein  Jahr^  seit  ich 
auf  San  Pielro  in  Montoj-io  jenen  Knaben  gesehen  Iiatie,  der 
Veranlassung  zu  der  Ode  ,Wann  und  hell  dämmert  in  Rom 
die  Winiemacht*  gab.  Ich  mußte  den  Klosterplatz  auf  dem 
Janiculu^  passieren,  und  ohne  an  etwas  zu  denken,  ging  ich 
in  die  Kirche  hinein,  um  etwas  von  Michelangelo  aufzusuchen. 
Da  sah  ich  vor.  dem  Altar  einen  umnderhübschen  jungen 
Menschen  knien,  der  meine  ganze  Aufmerksamkeit  fesselte. 
Als  wir  (sie !)  später  die  Kirche  verließen,  unterhielt  ich  mich 
mit  ihm,  und  er  begleitete  mich  eine  weite  Strecke  über  den 
Ponte  S,  Bartolomeo,  über  das  Forum  gegen  den  Lateran  zu 
und  über  den  Monte  Celio  zurück.  So  ist  mir  an  demselben 
Tag  und  Ort,  ja  zur  selben  Stunde  ganz  dasselbe  widerfahren, 
nur  so,  daß  das  Abenteuer  des  vorigen  Wiiiters  eine  bloße 
Vorbedeutung  des  gestrigen  schien;  denn  Innocenz  —  so  heißt 


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—     432     — 

der  junge  Mensch  —  isi  weit  hübscher,  lieblicher,  unschul- 
diger, als  jener  andere  war,  und  ich  habe  auch  Hoffnung,  ihn 
öfters  wiederzusehen.  Er  ist  aits  Sinigaglia  und  kam  nach 
Rom,  um  hier  Arbeit  zu  finden,  hat  auch  in  der  Villa  Cor- 
sini  und  anderwärts  als  Oärtnerjunge  gearbeitet.  Er  ist 
fünfundzwanzig  Jahre  alt,  sieht  aber  weit  jünger  aus."  — 
Der  Graf  und  der  Gärtnerbursche!  Der  Erstere  wirbt 
um  den  Letzteren,  durchquert  mit  ihm  halb  Rom,  freut 
sich  auf  einen  zukünftigen  Verkehr  mit  ihm  und  ver- 
zeichnet die  Begegnung  als  ein  Abenteuer,  ja  sogar  als 
ein  Ereignis. 

Ähnliche  Ereignisse  wiederholten  sich  noch  oft.  In- 
dem wir  ihre  Reihe  berühren,  heben  wir  von  den  ge- 
liebten Personen  nur  diejenigen  hervor,  die  er  auf  einer 
Rückreise  nach  Deutschland  kennen  lernte.  Bei  seinem 
letzten  Aufenthalt  in  Venedig  (im  Jahre  1833)  attachierte 
sich  der  Graf  an  einen  jungen  Flötenspieler,  den  er 
im  Theater  sah  und  dessen  hübsche  Gesichtszüge  ihm 
auffielen.  Auch  er  ist  25  Jahre  alt,  ein  weiterer  Beleg 
dafür,  was  es  mit  dem  von  Heine  (und  Anderen)  erhobenen 
Vorwurf  der  „Knabenliebe"  für  eine  Bewandtnis  hatte.  — 
Schon  zwei  Tage,  nachdem  der  Jüngling  erblickt  wurde, 
ist  er  ein  guter  Kamerad  des  Grafen.  „Seitdem",  heißt 
es  im  Tagebuch,  „sehen  wir  uns  fast  alle  Tage,  und  ich 
habe  sogar  angefangen,  Flötenstunden  bei  ihm  zu  nehmen. 
Zweimal^  lud  ich  ihn  ein,  mit  mir  zu  Mittag  zu  essen,  und 
wir  haben  einmal  eine  Spazierfahrt  im  großen  Kanal  u/nd 
einmal  nach  Murano  gemacW  Als  Platen  die  Inselstadt 
am  11.  November  verließ,  um  seine  Reise  nach  Deutsch- 
land fortzusetzen,  begleitete  ihn  Angelo  —  so  hieß  der 
geliebte  Flötenspieler  —  bis  Bassano  im  offenen  Wagen 
und  trennte  sich  dort  „mit  Tränen  und  mit  allen  Aus- 
drücken der  Liebe  und  Dankbarkeit^^.  —  Gleich  am  nächsten 
Tage,  im  Eilwagen  nach  Innsbruck,  war  es  wieder  ein 
Mann   aus   dem   Volke,    ein   bäuerlicher   italienischer 


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—     433     — 

Tiroler,  der  Platens  Zuneigung  gewann.  Er  war  früher 
Soldat  gewesen  und  wußte  mit  viel  Herzlichkeit  zu  er- 
zählen. „Hiezu  kam  noch  ein  günstiges  Äußeres,  huschige 
Haare  und  eine  ungemein  schöne  Stimme."  Im  übrigen  muß 
er  eine  recht  derbe  Erscheinung  gewesen  sein;  ein  in 
seiner  Begleitung  befindlicher  Soldat  nannte  ihn  einen 
crudo  vülano  (groben  Bauern).  Von  Innsbruck  bis 
München  löste  ihn  ein  Handwerker,  Bildhauer  aus 
Cremona,  ab,  der  dem  Grafen  noch  in  München  Ge- 
sellschaft leisten  mußte.  —  Wer  wird  hier  nicht  an 
J.  J.  Winckelmann  erinnert,  dessen  vertrauensselige  Art, 
sich  an  ungebildete  Welsche  anzuschUeßen,  ihm  auf  der 
letzten  Reise  ein  so  tragisches  Ende  bereitet  hat?  Platen 
allerdings  war  etwas  vorsichtiger  als  Winckelmann;  aber 
auch  ihm  hätte  ein  ähnliches  Schicksal  werden  können. 
Denn  entgegengesetzte  Naturen  ziehen  sich  gerade  am 
meisten  an  und  im  gegebenen  Falle  wurden  eben  rauhe, 
oft  rohe  Mannesnaturen  bevorzugt. 

So  sind  es  nun  zahlreiche,  den  verschiedensten  Ge- 
sellschaftsschichten angehörige  Männer,  denen  Platen  auf 
seinem  späteren  Lebenswege  eine  tiefe  Neigung  entgegen- 
brachte. Berechtigt  daher  ist  die  Frage^  ob  denn  das 
Frauengeschlecht,  welches  ihn  in  Deutschland  so  kalt 
gelassen,  nicht  wenigstens  in  Italien,  wo  es  reizender  als 
in  Deutschland  erscheint,  einen  Eindruck  auf  ihn  gemacht 
habe.  —  Frauen  vermochten,  wie  wir  auf  grund  der 
Tagebücher  antworten,  auch  in  Italien  keine  Anziehung 
auf  ihn  auszuüben.  Zwar  machte  er,  nach  Art  Anderer, 
die  daselbst  reisten,  den  Versuch,  die  Frauen  schön  zu 
finden,  und  verzeichnete  zuweilen  Wahrnehmungen,  die 
er  hierin  gesammelt  „Bas  schöne  Geblüt  der  Vero- 
neserinnen'%  heißt  es  einmal,  „ist  berühmt;  doch  glaube  ich, 
dürfen  die  Mantuanerinnen  ihnen  an  die  Seite  gesetzt  werden. 
Was  eigentlich  Schönheit  und  zumal  was  Anstand  und  An- 
mut vermögen,  lernt  man  erst  in  Italien  kennen.    Wie  höhere 

Jahrbuch  VI.  28 


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—     434     — 

Wesen  erscheinen  diese  Gestalten,  und  ein  unsichihares  Etwas 
umschwebt  sie,  das  man  fühlt,  ohne  es  beschreiben  xu  können." 
(Mantua,  18.  September  1826.)  Aber  diese  BemerkuDg 
im  Tagebuch,  welche  das  physische  Empfinden  ganz 
außer  Acht  läßt,  sollte  nicht  den  Sinn  behalten,  als  ob 
sich  Platen  für  das  Frauengeschlecht  interessiert  hätte. 
y,Auch  unter  den  Männern*^,  heißt  es  gleich  darauf,  „siehi 
mmi  die  schönsten  Profile  und  Gesichtszüge  bis  zu  den  ge- 
meinsten Ständen  herab,  unter  denen  ich  mich  nichi  entsinne 
schöne  Frauen  gesehen  zu  hahenJ'  —  Wer  Platens  Be- 
ziehungen zu  der  Gräfin  Pieri  bloß  aus  der  bekannten 
Ode  ansieht,  möchte  glauben,  daß  dieselben  intimer  Natur 
gewesen  seien,  ähnlich  wie  die  Lord  Byrons  zur  Gräfin 
Guiccioli;  das  Tagebuch  aber  orientiert  uns  dahin,  daß 
der  Verkehr  mit  der  Gräfin  Pieri  über  die  Linie  des 
rein  gesellschaftlichen  Lebens  nicht  hinausging.  „Zur 
Gräfin  Pieri^^,  schreibt  Platen  am  1.  April  1829,  „komme 
ich  täglich,  wo  unr  mMstens  Deutsch  lesen.  .  .  .  Nach  Tische 
und  abends  bin  ich  dann  v/m  so  einsamer.  Ich  esse  allein, 
gehe  allein  spazieren  und  tue  überhaupt  Alles  dllein."  Zum 
Überfluß  fügt  er  hinzu:  „Ganz  ohne  eigentliche  Freunde  zu 
sein,  ist  eine  hatte  Aufgabe,"  —  Man  sieht,  in  dem  inneren 
Leben,  in  der  abnormen  Veranlagung  der  Geschlechts- 
psyche, änderte  Platens  italienischer  Aufenthalt  nichts. 

Angesichts  einer  stattlichen  Reihe  von  Liebesepisoden, 
in  welchen  die  Neigung  für  Mannesschönheit  die  fahrende 
Rolle  spielte  und  Platens  Leidenschaft  zur  höchsten  Glut 
entflammt  wurde,  drängt  sich  die  weitere  Frage  auf,  wie 
es  sich  denn  mit  jener  „platonischen^'  Liebe  verhält,  auf 
die  der  Dichter  immer  so  großes  Gewicht  legt,  oder  die 
Frage,  wie  weit  sich  denn  die  Regungen  der  Sinnlich- 
keit in  seiner  Liebe  geltend  machten. 

Schon  in  der  Einleitung  zu  vorliegender  Studie  ist 
gesagt  worden,  daß  Platen  bei  aller  Ofi'enherzigkeit,  die 
seine  Geständnisse  auszeichnet,  einen  sinnlichen  Zug  in 


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—     435     — 

sich  nicht  zugeben  wollte.  Dank  seinem  unbändigen 
Starrsinn  gelang  es  ihm  denn  auch  in  der  Tat,  wenigstens 
so  lange  er  in  Deutschland  lebte,  der  Begierde  nach 
physischem  Genuß  Herr  zu  werden.  Nichtsdestoweniger 
strebte  —  und  zwar  noch  in  Deutschland  —  seine  Natur 
der  Sinnlichkeit  zu.  Es  gibt,  wenn  man  yon  der  ganz 
anders  gearteten  Liebe  zu  den  Eltern,  Geschwistern  usw., 
der  sogenannten  pietas,  absieht,  überhaupt  keine  Liebe 
ohne  Sinnlichkeit  Wie  die  Liebe  aus  der  Wahrnehmung 
eines  Physischen,  d.  i.  der  körperlichen  Schönheit  am 
Objekt,  entsteht,  so  wurzelt  sie  beim  Subjekt  un- 
bewußt und  ungewollt  im  Physischen,  nimmt  aus  dem 
Physischen  ihre  Nährkraft  und  erstarkt  zur  Sehnsucht 
nach  sinnlichem  Ausgleich,  mit  Einem  W^ort,  nach  körper- 
licher Annäherung.  Das  hat  auch  Platen  erfahren  müssen, 
sobald  er  seine  eigensinnige  Logik,  seinen  übertriebenen 
Begriff  von  Ehre  und  seinen  unmotivierten  Stolz  aus  dem 
Spiele  ließ.  Bei  allen  seinen  Liebesaffären  ist  es  im 
Objekt  ein  recht  deutlich  wahrnehmbares  physisches 
Moment,  was  als  Reiz  auf  sein  Sensorium  wirkte:  Es  ist 
dies  immer  und  immer  „die  schlanke,  kräftige  Gestalt, 
das  wohlgebildete  Gesicht,  das  tiefe  Auge,  das  üppige 
Haar".  Nicht  selten  überrascht  sich  der  die  Sinnlichkeit 
sonst  Bekämpfende  auf  dem  Wunsche,  die  „duftenden 
Locken*'  des  Freundes  zu  berühren,  „dessen  Knie  zu 
umflechten",  und  als  letztes  Ziel  seiner  —  nach  Kräften 
gezügelten  —  Hoffnungen  schwebt  ihm  stets  der  recht 
körperliche  „Kuß"  vor  Augen.  Wie  es  also  sinnliche  Ele- 
mente waren,  die  im  Objekt  als  Erreger  wirkten,  so  war 
es  natumotwendig  subjektiv  das  Sinnliche,  was  in  ihm 
erregt  wurde.  Platen  mochte  sich,  wie  er  wollte,  über- 
reden, daß  es  in  den  geliebten  Personen  nur  seelische 
Vorzüge  seien,  die  ihn  fesselten:  er  mußte  dies  selbst 
bezweifeln,  wenn  er  sah,  daß  ihm  diese  Vorzüge  stets 
nur  an  Männern  und  nicht  auch  an  den  —  doch  gleich- 

28* 


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—     436     — 

falls  mit  einer  schönen  Seele  ausgestatteten  —  Frauen, 
stets  nur  an  jungen  Leuten,  die  oft  nur  über  ein  recht 
mäßiges  Wissen  verfügten,  und  nicht  an  gereiften  Män- 
nern, wie  Professoren  und  Gelehrten,  gefielen,  denen  es 
an  einer  schönen  Seele  gewiß  nicht  gebrach.  Diesen 
NisiM  formosus  hätte  Platen  besonders  einmal  in  Er- 
langen verspüren  können,  als  dort  ein  reisender  Pariser 
Athlet  plastische  Vorstellungen  gab.  Dieselben  bestanden 
in  Nachahmung  nackter  Figuren  aus  dem  klassischen 
Altertum,  und  Platen  nennt  den  Darsteller  j,einen  Mann 
von  der  höchsten  Schönheit  in  seiner  Art  und  das  wirkliche 
Ideal  einer  Ajax-  und  OladiaiorengestaU/^  Für  einen  Hermes 
oder  Antinous  wären  ihm  gewiß  Hymnen  noch  höheren 
Schwunges  zur  Verfügung  gestanden. 

Platen  hatte  in  der  Tat  Stunden,  in  denen  die 
Natürlichkeit  seines  Empfindens  in  ihr  ungeschmälertes 
Recht  trat.  Es  entstand  dann  in  ihm  das  bestimmte 
Gefühl,  daß  seine  Liebe  gleichwertig  mit  jener  der  Nor- 
malen sei,  und  er  ahnte  dann  gar  nicht,  daß  in  ihr  etwas 
Abnormes  vorliege.  Deshalb  eben  hielt  er  es  für  selbst- 
verständlich, daß  er  gerade  so  geliebt  werden  solle,  wie 
er  selbst  liebte,  und  verfiel  zuweilen  andererseits,  in 
bezug  auf  Frauenliebe,  in  den  Lrtum,  daß  er  bloß  zu 
wollen  brauche,  um  ein  Mädchen  auch  lieben  zu  können. 
Über  die  physiologische  Ursache 'seiner  abnormen  Seelen- 
verfassung hat  er  wohl  nie  nachgedacht  und  von  der  da- 
maligen Wissenschaft  wurde  er  hiezu  auch  nicht  an- 
geregt. Ln  allgemeinen  aber  stand  es  für  ihn  fest,  daß 
seine  Neigung  zu  jungen  Männern  eine  ungewollte  und 
von  der  Natur  ihm  auferlegte  war.  Allmählich  wurde 
ihm  das  Wesen  seiner  Neigung  klar  und  er  schiebt  die 
Verantwortung  für  dieselbe  der  schaffenden  Natur  zu: 
„O,  wie  ist  dieser  Widerspruch  in  mich  gekommen?^' 
ruft  er  einmal  aus;  „wenn  die  Natur  diese  Liebe  ver- 
beut, warum  hat  sie  mich  also  gebildet?" 


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—     437     — 

Mit  der  Zeit  setzte  sich  in  ihm  die  Überzeugung 
fest,  daß  nicht  die  Natur^  sondern  die  Torheit  der  Men- 
schen diese  Neigung  verbiete^  daß  er  selbst  von  Natur  aus 
ein  Recht  auf  sie  habe  und  daß  eine  rein  platonische 
Liebe  bloß  ein  moralisches  Eunstgebilde  sei.  Seine  Selbst- 
kritik war  eine  nur  allzu  scharfe,  als  daß  er  sich  in 
diesen  Punkten  auf  die  Dauer  hätte  täuschen  können. 
Schon  während  seines  prüfungsreichen  Iphofener  Aufent- 
haltes (siehe  S.  395)  kam  es  ihm  deutlich  zum  Bewußt- 
sein, daß  seiner  Neigung  zu  den  Freunden  ein  physisches 
Bedürfnis  zu  gründe  liege.  Damals  gestand  er  sich, 
„daß  es  nicht  die  Seele  allein  ist,  welche  lieben  kann,  sondern 
daß  dies  das  ganze  Wesen  ist,  xvsammengesetxt  aus  Seele 
und  Le^'\  und  „djaß  man  bloß  halb  liebt,  wenn  nicht  auch 
die  Sinne  entflammt  sind."  Dies  hätte  er  sich  auch 
schon  in  München  bekennen  dürfen;  allein  damals  war 
er  noch  vollständig  von  dem  landläufigen  Vorurteil  be- 
herrscht, daß  die  Liebe  zum  Manne  unsittlich  und  deren 
Betätigung  ein  Laster  sei.  Er  hätte  sich  jenes  Geständ- 
nis machen  dürfen  ganz  besonders  damals,  als  er  im 
Drange  nach  Stillung  seines  Naturtriebes  in  eine  Art 
Käserei  verfiel  und  bald  ein  Bündel  Kleider,  bald  ein 
Kopfkissen  umarmte!  Später,  in  Würzburg  und  Erlangen, 
wie  er  sich  erinnerte,  genügten  ihm  solche  Mittel  nicht 
mehr;  er  setzte  sich  ja  dem  Freunde  auf  den  Schoß, 
hielt  ihn  mit  den  Armen  umfangen  und  berührte  dessen 
Mund  mit  den  Lippen.  Als  er  einmal  mit  Bülow  badete, 
war  er  froh,  daß,  „obwohl  er  dessen  Schönheit  auch  nackt 
bewundem  mußte,  doch  nicht  das  geringste  Verlangen 
in  ihm  aufstieg"  Ein  jeder  Andere,  nicht  sinnlich 
Fühlende,  würde  an  eine  solche  Gefahr  gar  nicht  ge- 
dacht haben. 

Trotz  Allem  blieb  es  in  Deutschland  bei  bloßer  Be- 
wunderung, und  die  Sinnlichkeit  wurde  schon  durch  die 
dort  herrschende  Sitte  möglichst  im  Zaume  gehalten.    Li 


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—     438     — 

Italien  aber,  wo  Platens  Neigung  nicht  jene  gehässige 
Beurteilung  erfuhr,  die  sie  in  Deutschland  zu  gewärtigen 
hatte,  und  wo  auch  ihrer  Betätigung  keine  hohen  Schranken 
gesetzt  waren^  muß  seine  heroische  Enthaltsamkeit  jeden- 
falls auf  eine  ganz  besonders  schwere  Probe  gestellt 
worden  sein.  Dafür  spricht  selbst  manches  seiner  ver- 
öffentlichten Gedichte.  In  der  Ode  „Morgenklage"  z.  B. 
ruft  er  zu  Gott: 

„Dt*  aber,  ein  einzigmal  vom  Geist  nimm  die  Last! 
Von  Liebe  wie  außer  mir,  an  gleichioarmer  Brust 
Laß  fröhlich  und  selbstvergessen 
Mich  fühlen,  Mensch  zu  sein!^^ 

Zuweilen  scheint  er  solchem  Ziele  ziemlich  stark 
sich  genähert  zu  haben.  Die  Ode  „In  Genua"  enthält 
hierauf  einen  deutlichen  Hinweis.  Platen  wendet  sich  in 
apostrophierender  Weise  an  die  Stadt  und  klagt,  daß  er 
verlassen  muß 

„Dichy  Dein  rauschendes  Meer  und  den  schönen  Strandweg ^ 
Jüj  was  reizender  ist!    Ich  erblickte  kaum  noch 
Je  mich  selbst  in  geliebteren 
Äugen  und  in  lieben  deren,'* 

In  Italien  fand  er  demnach  Gegenliebe.  Andere 
Menschen  als  in  Deutschland,  seiner  „Freundschaft*' 
iTähige  Freunde,  fiihrte  ihm  hier  das  Schicksal  in  den 
Weg.  Über  die  Qualität  der  jungen  Männer,  die  er  in 
der  Heimat  angebetet  hatte,  war  er  sich  noch  während 
seines  Aufenthaltes  dortselbst  klar  geworden.  Schpn 
unterm  6.  August  1824  hatte  er  geschrieben:  „Einen 
Freund  zu  finden  war  immer  der  ideale  Wunsch  seit  meiner 
Jugend  in  mir;  welche  Klötze  ich  jedoch  dafür  ge- 
halten habe,  weiß  der  Himmel/'  —  Wie  freimütig 
man  nicht  nur  in  Genua,  sondern  in  ganz  Italien,  be- 
sonders in  Neapel,  über  seine  Neigung  dachte,  erfuhr 
Platen  gar  wohl.     Er  berichtet  einmal  (11.  Juli  1827)  im 


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—     439     — 

Tagebuch,  „in  Neapel  sei  die  Liebe  zwischen  Männern 
so  käufig,  daß  man  selbst  bei  den  kühnsten  Forde- 
rungen keinen  Korb  zu  gewärtigen  habe/'  —  Ob  der 
liebebedürftige  Graf  unter  solchen  Verhältnissen  allen 
Versuchungen  widerstanden  hat,  muß  also  mindestens 
fraglich  bleiben.  Allerdings  geben  die  Tagebücher  hier- 
über keinen  direkten  Aufschluß;  allein  dieselben  wurden 
in  Italien  nicht  mehr  mit  jenem  Fleiß  und  jener  Ge- 
wissenhaftigkeit geführt  wie  früher  in  Deutschland.  Oft 
fehlen  Wochen,  ja  Monate  hindurch  die  Einträge,  wäh- 
rend in  Deutschland  kaum  einmal  ein  Tag  in  dieser 
Hinsicht  eine  Lücke  zeigt.  Auch  dieser  umstand  spricht 
nicht  fär  absolute  Enthaltsamkeit  Denn  das  Bedürfnis, 
sich  dem  Tagebuche  mitzuteilen,  wuchs  bei  Platen  stets 
mit  dem  Mangel  eines  geliebten  Objektes  und  minderte 
sich  in  dem  Grade,  als  er  sich  in  seinen  Liebesangelegen- 
heiten versorgt  sah. 

Wenn  daher  ein  Schluß  erlaubt  ist,  so  darf  man 
behaupten,  daß  in  gedachter  Zeit  Platens  Ergänzungs- 
bedürfhis  befriedigt  war.  Unterstützt  wird  diese  An- 
nahme durch  die  Tatsache,  daß  viele  beschriebene  Blätter 
aus  dem  Tagebuch  von  der  Hand  des  Verfassers  entfernt 
wurden,  ehe  er  dasselbe  seinem  Vertrauten  (in  München) 
übergab,  und  zwar  gerade  solche  Blätter,  welche,  wie 
durch  das  Vorausgehende  und  Nachfolgende  des  Textes 
wahrscheinlich  wird,  von  intimeren  Erlebnissen  gemeldet 
haben  müssen.  Jedenfalls  ist  so  viel  richtig,  daß  die 
Sinnlichkeit  zuletzt  den  Sieg  behauptete,  auch  wenn  dieser 
in  nichts  anderem  erblickt  werden  soll,  als  daß  Platen 
das  Übergewicht  der  Sinnlichkeit  anerkannte  und  daß 
er  den  prinzipiellen  Widerstand  gegen  dieselbe  aufgab. 

Aber  richtig  ist  leider  auch  die  Tatsache,  daß  sich 
in  Italien  des  Dichters  Gesundheit,  welche  ohnehin 
keine  kräftige  war,  keineswegs  gebessert  hat,  und  mit 
dieser  Fedtstellung  nähern  wir  uns  der  Betrachtung  seines 


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—     440     — 

letzten  Lebensstadiums,  sowie  einem  Überblick  über  die 
Eigenart  seiner  ganzen  Erscheinung. 

Schon  in  Erlangen  hatte  er  an  Eongestionen  in  der 
Brosts  an  Magerkeit  und  besonders  an  Blutandrang  nach 
dem  Kopfe  gelitten;  in  Italien  stellten  sich  nun  auch  die 
Hämorrhoiden  ein.  Daß  diese  Übel  in  ursächlichem 
Zusammenhang  mit  seinem  abnormen  Geschlechtsgefiihl 
standen^  dürfte  deshalb  zweifellos  sein,  weil  Platen  sich 
gesundheitlich  stets  gehoben  fohlte,  sobald  er  die  Dinge 
seines  Herzens  in  Ordnung  fand^  daß  sich  dagegen  augen- 
blicklich ein  physisches  Unbehagen  seiner  bemächtigte^ 
wenn,  wie  es  so  oft  der  Fall  war,  das  Gegenteil  eintrat. 
Jedenfalls  war  in  Deutschland  sein  Nervensystem 
gewaltsam  erschüttert  worden,  und  die  Folgen 
machten  sich  gleich  im  Anfang  des  italienischen  Aufent- 
haltes bemerkbar.  Bald  nach  der  Ankunft  in  Rom 
erlitt  er,  am  3.  März  1827,  auf  der  Straße  einen  kon- 
vulsivischen Anfall,  so  daß  er  zu  Boden  stürzte.  Damals, 
wie  auch  später,  wurde  er  längere  Zeit  aufs  Kranken- 
lager geworfen.  Während  seiner  letzteren  Bjrankheit 
hatte  man  ihm  wegen  der  Hämorrhoiden  eine  große  An- 
zahl Blutegel  gesetzt,  wodurch  ein  bedenklicher  Schwäche- 
zustand herbeigeführt  wurde.  Gleichzeitig  entwickelte 
sich  eine  Drüsengeschwulst  in  den  Weichen,  ^jdie  bedeu- 
tend XU  werden  drohte.  Die  OeschwtUst  mußte  aufgeschnitten 
werden  und  die  Wunde  heilte  wochenlang  nicht" 

Kein  Wunder,  daß  der  ohnehin  zur  Schwermut  Ge- 
neigte auch  in  Italien  einer  grenzenlosen  Melancholie 
verfiel.  Von  ernster  Beschäftigung  mit  der  Poesie  konnte 
fürderhin  nicht  mehr  die  Rede  sein,  obschon  von  Deutsch- 
land her  ehrende  Aufforderungen  erschollen.  ,yDer' Un- 
bekannte im  MorgenblaU^^  —  es  war  der  Philosoph  Feuer- 
bach —  „?iatte  in  dithyrambischen  Versen  die  Erwartung 
ausgesprochen,  daß  der  xu  Großem  berufene  Dichter  nun 
na(^  dem  Vaterlande  kommen  ufid  dort  Großes  leisten  werdet 


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—     441     — 

Platen  antwortete  hierauf  in  liberschäumend  pathetischen 
Trochäen : 

„Rufe  nichty  da  mich  das  deutsche  Chaos  würde  blo/S  ermüden, 
Rufe  nicht  zurück  den  Dichter  aus  dem  vidgeliehten  Süden, 
Welcher^  bis  mich  Frost  und  Alter  lü^em  macht  nach  eurem  Vließe^ 
über  jedes  meiner  Worte  Ströme  von  Musik  ergieße! 
Immer  mehr  nach  Süden  laß  mich  meines  Auges  Wünsche  richten^ 
Und,  genährt  von  Hybldhonig^  auf  des  Ätna  Cripfel  dichten! 
Laß  mich  Odysseen  erfinden,  schweifend  an  Homers  Gestaden! 
BcUd,  in  voller  Waffenrüstung ,  folgen  ihnen  Biaden/^    U.  b.  f. 

Die  Odysseen  und  Qiaden  blieben  aus.  Nicht  ein- 
mal ein  größeres  Drama,  mit  dem  er  besser  als  mit 
seinem  ^^Gläsemen  Pantoffel'^  den  Beruf  zum  drama- 
tischen Dichter  bekundet  hätte,  brachte  seine  Feder  mehr 
hervor.  „Die  Liga  von  Cambrai^'  kann  hiefClr  nicht  in 
Betracht  kommen;  außer  einigen  Festgesängen,  Oden  und 
Gelegenheitsgedichten  entstanden  nur  noch  nüchterne 
historische  Abhandlungen,  wie  „Geschichten  des  König- 
reichs Neapel"  (1881)  sowie  „Ursprung  der  Carraresen 
und  ihrer  Herrschaft  in  Parma.  Historisches  Fragment" 
(1833). 

Nach  solchen  Anfängen  ein  solches  Ende!  Was 
würde  aus  Platen  geworden  sein,  wenn  ihn  nicht  sein 
herzloses  Vaterland  verstoßen,  wenn  nicht  die  leiden- 
schaftliche und  törichte  Gehässigkeit  den  Homosexualen 
in  die  Fremde  getrieben  hätte!  Nicht  seine  homosexuelle 
Veranlagung  war  Schuld,  daß  dem  Dichter  die  höchsten 
Höhen  des  Parnaß  versagt  blieben,  im  Gegenteil,  diese 
wirkte,  wie  sein  ganzer  Werdegang  dartut,  gerade  als 
der  mächtigste  Hebel  zum  dichterischen  Schaffen,  und 
seine  höchste  Kunstvollendung  manifestiert  sich  dort,  wo 
seine  Liebe  zu  den  Freunden  spricht 

Nun  in  Italien,  auf  der  Höhe  des  Lebens,  da  er  den 
Flug  zu  den  Sternen  unternehmen  sollte,  war  seine 
geistige   wie    körperliche   Spannkraft    gelähmt.      Todes- 


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—     442     — 

ahnungen  beschlicheh  ihn ,  so  in  Neapel ,  als  er  im 
Jahre  1831  seinen  35.  Geburtstag  beging.  Eine  Ruhe- 
losigkeit, die  ihn  von  einem  Orte  zum  anderen  trieb, 
bemächtigte  sich  des  Geängstigten.  Nachdem  er  am 
1.  Juli  des  gleichen  Jahres  das  schöne  Neapel  verlassen, 
zog  er  beständig  zwischen  dem  mittelländischen  und 
adriatischen  Meere  umher,  bald  in  Sorrent,  bald  in  Siena, 
bald  auf  der  Insel  Pahnaria,  bald  in  Genua  und  Venedig 
sich  aufhaltend.  Kaum  war  er  an  einem  ersehnten 
Punkte  angelangt,  so  sehnte  er  sich  nach  einem  anderen. 
Endlich  auf  dem  Eiland  Sizilien,  wo  er  am  28.  April  des 
Jahres  1835  landete,  hofFte  er  dauernde  Buhe  zu  ge- 
winnen. Und  so  geschah  es.  Schon  im  Dezember  darauf 
fand  er  in  Syrakus  jenen  Schlaf,  von  dem  es  kein  Er- 
wachen gibt 

Und  welches  sind  die  Gefühle,  die  sich  uns  am 
Grabe  Platens,  die  sich  uns  am  Schluß  unserer  Betrach- 
tung aufdrängen? 

Für  uns  handelt  es  sich  nicht  um  den  Verlust,  den 
durch  die  Verbannung  des  Dichters  und  durch^  dessen 
frühzeitigen  Tod  die  deutsche  Literatur  erlitten.  Was 
hier  in  Betracht  kommt,  das  ist  von  höherer  Bedeutung, 
von  Bedeutung  für  alle  Zweige  der  Wissenschaft,  für  die 
ganze  bürgerliche  Gesellschaft. 

Man  wird  aus  unserer  Darstellung  ein  ganz  eigen- 
artiges Seelenleben,  eine  in  ihren  Äußerungen  durchaus 
abnorme  Geschlechtspsyche  kennen  gelernt  haben. 
Der  Zustand  dieser  Geschlechtspsyche  war  ein  habitueller. 
Abnorm  war  in  Platen  das  Kind,  der  Knabe,  der  Jüngling 
und  der  Mann,  der  ganze  Mensch  bis  ans  Ende.  Kein 
Zwang  und  keine  Gewöhnung  vermochte  hierin  Wandel 
zu  schaffen.  Mit  aller  Macht  des  Willens  suchte  Platen, 
wie  wir  gesehen  haben,  es  den  Anderen  gleichzutun  und 
insbesondere  die  Liebe  zum  Weibe  in  sich  zu  wecken; 
mit  übermenschlicher  Anstrengung,  ja  mit  Grausamkeit, 


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—     443     — 

bekämpfte  er  seine  von  der  Gesellschaft  verpönte,  von  der 
Religion  und  dem  weltlichen  Gesetz  verurteilte  Neigung, 
ohne  etwas  anderes  zu  erreichen  als  eine  Schädigung 
seiner  vitalsten  Interessen.  Immer  wieder  tritt  die  ur- 
eigene Natur  hervor,  die  einen  durchaus  muliebren  Cha- 
rakter trägt.  Es  muß  auffallen,  daß  Platen  bei  seiner 
sonst  so  scharfen  Selbstkritik  diesen  Umstand  so  lange 
nicht  erkannte.  Freilich  unbewußt  verzeichnet  er  aus 
allen  Perioden  seines  Lebens  solche  Züge,  welche  auf 
weiblichem  Empfinden  beruhen  und  in  Widerspruch  mit 
seinem  sonst  so  männlich  ernsten  Gebaren  stehen.  Er 
ahnte  nicht,  daß  das  letztere  bloß  anempfunden  war; 
in  der  Tat  fiel  er  »so  oft  aus  der  Bolle,  als  er  sich  im 
sicheren  Besitz  eines  Geliebten  wähnte.  Abgesehen  von 
jenem  Epheukranz,  den  er  in  Würzburg  eine  Zeitlang 
öffentlich  auf  seinem  Hute  trug,  hätte  es  ihm  doch  eigen- 
tümlich vorkommen  müssen^  wenn  er  Blumen,  die  mit 
irgend  einem  Freundschaftsbunde  zusammenhingen,  noch 
jahrelang  aufbewahrte,  auch  wenn  sie  schon  verwelkt 
waren,  oder  wenn  er  gar  einem  jungen  Manne,  einem 
burschikosen  Studenten,  wie  Eduard  Schmidtlein,  ein 
Blumenbukett  überreichte!  Platen  liebte  wie  ein 
Weib.  Es  zeigten  sich  hiebei  genau  jene  Erschei- 
nungen, welche  die  verschiedenen  Arten  des  Begehrens 
im  weiblichen  Geschlecht  kennzeichnen.  Wie  sanfte 
Frauen  sich  zu  besonders  kraftvollen  Männern  hin- 
gezogen fühlen,  so  machten  auf  Platen  Männer  mit  kräf- 
tigem Körperbau  und  energischem  Gesichtsausdruck  den 
mächtigsten  Eindruck.  Es  entspricht  dieser  Umstand 
dem  allgemeinen  Naturgesetz  der  antipolaren  Anziehung. 
Hiezu  stimmt  bei  Platen  auch  ein  Wunsch,  der  sich 
durch  all  seine  Herzenssachen  hindurchzieht:  Er  mochte 
nicht  der  handelnde,  der  die  Initiative  ergreifende  Teil  sein ; 
er  hoffte  und  wünschte^  daß  man  ihm  zuvorkomme,  daß 
er  es  sei,  der  gesucht  werde.     Er  sieht  zwar  ein,  daß 


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—     444     — 

dieses  Hoffen  und  Wünschen  vergeblich  sei,  und  „Tor- 
heit" nennt  er  seine  Liebe,  nicht  bloß  deshalb,  weil  sie 
mit  Bezug  auf  den  Geliebten  an  unerfüllbare  Bedingungen 
geknüpft  war,  sondern  weil  er  in  sich  selbst  den  Mut 
nicht  fand,  rechtzeitig  den  nötigen  Schritt  zu  einer 
Annäherung  zu  tun.  Diese  Schüchternheit  suchte  er  in 
Gleichgültigkeit  umzudeuten  und  er  trug  eine  solche 
auch  tatsächlich  zur  Schau,  selbst  in  Stunden,  wo  er  um 
ein  freundliches  Wort  auf  die  Knie  gefallen  wäre. 

In  dieser  angenommenen  Gleichgültigkeit  liegt  ein 
für  das  Gesamtbild  Platens  wichtiges  Moment  Sie  hängt 
mit  seinem  unbeugsamen  Stolz  zusammen,  der  zum  Teil 
ein  Erbstück  der  Familie  gewesen  sqin  mag  und  jeden- 
falls durch  Wort  und  Beispiel  anerzogen  war.  In  der 
normalen  Liebe  bildet  der  Stolz  kein  Hindernis,  da  er 
beim  Manne  zur  Ritterlichkeit,  beim  Weibe  zur  be- 
strickenden Koketterie  werden  kann.  In  der  homo- 
sexuellen Liebe  aber,  wo  die  Rollen  verwechselt  sind, 
erschwert  der  Stolz  das  Liebeswerben  und  hangt  sich 
wie  ein  Bleigewicht  an  die  Bemühungen,  mit  welchen 
der  Liebende  in  den  Besitz  des  Geliebten  gelangen  will. 
Dies  hat  sich  bei  Platen  in  der  fühlbarsten  Weise  ge- 
zeigt. Allerdings  war  es  durchaus  nicht  Adelsstolz,  was 
ihn  beherrschte;  er  ließ  sich  bekanntlich  in  der  Wahl  der 
Freunde  nie  von  Standesrücksichten  leiten  und  nahm  sich 
überhaupt  das  Recht  heraus,  stets  und  in  allen  Dingen 
seine  eigenen  Wege  zu  gehen.  Im  Punkte  der  Ehre 
aber,  und  diese  war  sein  Stolz,  wollte  er  sich  vor  nie- 
mand, auch  vor  dem  Geliebten  nicht,  bloßstellen,  und 
was  gab  es  der  Ehre  mehr  Widersprechendes  als  sich 
einem  unbekannten  Manne  zu  nähern,  ihm  Liebe  anzu- 
bieten und  dabei  eine  Ablehnung  zu  gewärtigen? 

Aus  Platens  verfeinertem  Ehrbegriff  erklärt  es  sich 
auch,  daß  er  das  sinnliche  Element  in  seiner  leidenschaft- 
lichen Liebe  niederhielt  und  sich  zur  Motivierung  dessen 


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—     445     — 

das  schemenhafte  Ideal  erfand,  das  in  allen,  namentlich 
seinen  firüheren  Herzensgeschichten  eine  so  störende 
Rolle  spielt.  Er  nmgab  das  Wesen  seiner  angebeteten 
Freunde  mit  einer  Gloriole,  die  ihnen  gar  nicht  zu  Ge- 
sicht stand,  und  glaubte  damit  seiner  Ehre  Genüge  ge- 
tan zu  haben.  Freilich  wurde  er  nach  solchen  Versuchen 
stets  bitter  enttäuscht.  Es  stellten  sich  in  den  Freunden 
regelmäßig  recht  menschliche  Charaktere  heraus,  wäh- 
rend seine  Sittlichkeit,  die  er  auf  eine  höhere  Stufe  ge- 
hoben wissen  wollte,  immer  mehr  auf  ein  rein  mensch- 
liches und  natürliches  Empfinden  zurücksank.  Und  weit 
entfernt,  daß  es  ihm  gelungen  wäre,  seine  Neigung  vor 
der  ihn  umgebenden  Gesellschaft  zu  verbergen,  mußte  er 
es  erleben,  daß  ihm  um  ihretwegen  die  schimpflichsten 
Unbilden  angetan  wurden. 

Ein  noch  größeres  Unrecht  aber  tat  sich  P^aten 
selbst  an. 

Es  ist  das  Tragische  im  Leben  eines  jeden  Homo- 
sexualen, daß  er,  überzeugt,  einem  unwiderstehlichen 
Triebe  zu  folgen,  von  der  Welt  diesen  Trieb  als  un- 
natürlich gebrandmarkt  sieht  und  sich  zuletzt.  Einer 
gegen  AUe,  von  dieser  Ansicht  selbst  gefangen  nehmen 
läßt.  „Er  erkennt  weder  Ursprung  noch  Zweck  seiner 
keiligen  Neigung.  Ohne  sie  verbrecherisch  zu  finden,  nimmt 
er  sie  auf  Treu  und  Glauben  der  Welt  für  verbreche- 
risch. Was  Gebot  der  seelischen  Natur  ist,  erfüllt  ihn  mit 
abergläubischem  Entsetzen  als  Erscheinung  einer  ungeheuren, 
verruchten  Unnatürlichkeit,  Er  bekämpft  den  Trieb  und  er- 
höht eben  durch  den  Kampf  die  erste,  ruhige  Neigung  zur 
—  aüzerbrechenden  Leidenschaft  Der  wilde  Widerspruch 
seines  inneren  Wesens  zerstört  sein  Inneres,  Er  verabscheut 
sieh  und  die  Natur  und  verabscheut  darum  die  Welt,  mit 
deren  Leben  er  in  unaussöhnbarem  Widerspruch  lebt.^' 

Diese  Sätze  Zschokkes  treffen  mit  der  wunderbaren 
Harmonie  der  Wahrheit  in  jedem  ihrer  Worte  auf  Platen 


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—     446     — 

zu.  Wenn  Zschokke  Platens  Tagebach  gekannt  hätte, 
würden  sie  gewiß  nicht  anders  gelautet  haben.  Platen 
wußte  wohl,  wie  die  „Gesellschaft"  von  der  Männerliebe 
dachte.  Schon  in  seiner  Garnison  München,  als  er  selbst 
über  sittenloses  Leben  der  damaligen  Offiziere,  ihren 
Besuch  von  Bordellen  usw.  zu  klagen  hatte,  hörte  er, 
daß  es  für  einen  Mann  nichts  Schimpflicheres  geben 
könne,  als  der  Liebe  zu  Männern  zu  „huldigen".  Kein 
Wunder,  daß  er  sich  bei  seinem  subtilen  Ehrgefühl 
diesem  Urteil  auf  Kosten  der  Wahrheit  unterwarf  und 
es  sich  mehr  zu  Herzen  nahm,  als  mit  seiner  seelischen 
und  körperlichen  Gesundheit  vereinbar  war.  Ja,  während 
er  auf  alle  übrigen  Urteile  seiner  Kameraden  so  viel  wie 
nichts  gab,  legte  er  auf  dieses  allein  noch  Gewicht  So 
wurde  er,  der  immer  auf  die  Reinheit  seiner  Absichten 
bedacht  war,  an  sich  selbst  irre.  Er  vernachlässigte 
allen  geselligen  Umgang  und  verfiel  in  eine  tiefe  Schwer- 
mut, die  allmählich  in  einen  Zustand  der  Verzweiflung 
überging.  So  ruft  er  aus:  „Zerschmettere  mich  denn, 
Gott,  oder  wie  Du  Dich  nennen  magst,  wo  oder  wenn 
Du  bist,  nachdem  Du  mich  schimpflich  um  mein 
ganzes  Dasein  betrogen/"  Den  Glauben  an  Gott,  an 
dem  er  in  früher  Jugend  einen  Halt  gefunden,  hatte  er 
verloren.  Dafür  verfiel  er,  der  sonst  mit  so  herrlichen 
Gaben  des  Verstandes  Begabte,  auf  den  Glauben  an  die 
Kabbala  und  trieb  Zahlenmjstik.  Es  war  der  Strohhalm 
des  Ertrinkenden!  — 

Wir  begreifen,  daß  der  normale  Mann,  der  von 
Homosexualität  nichts  weiß,  sich  mit  Widerwillen  von 
einem  solchen  Elend  abwendet  Aber  Keiner,  der  nun- 
mehr den  wahren  Tatbestand  kennen  gelernt^  wird  gegen- 
über dem  Lebensbild  des  Grafen  Platen  eine  andere 
Empfindung  als  die  des  tiefsten  Mitleids  haben  können, 
und  jeder  Kundige  muß  gegenüber  der  öffentlichen  Mei- 
nung von  höchster  Entrüstung  ergriffen  werden.   Sie,  die 


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—     447     — 

öffentliche  Meinung,  und  nicht  der  Homosexuale, 
ist  an  jenem  entsetzlichen  Geschlechtselend 
schuld.  Ließe  man  den  Homosexualen  leben  und 
leiden,  wie  einen  anderen  Menschen,  so  würde  er  sich 
in  seiner  Art  entwickeln  und  —  vielleicht  andere,  gewiß 
aber  —  nicht  schlechtere  Früchte  hervorbringen  als  der 
mit  normaler  Geschlechtsnatur  Begnadete.  Ehre  ist  das 
Lebenselement  des  Menschen,  ist  die  Luft^  die  er  atmet,  ist 
der  Boden,  auf  dem  er  steht,  und  diese  notwendigen  Vor- 
aussetzungen werden  von  dem  normalen  GesellschaftÄkörper 
dem  Homosexualen  beharrlich  versagt.  Kein  Wunder, 
wenn  ein  mit  noch  so  herrlichen  Gaben  ausgestatteter 
Mensch  unter  diesen  umständen  verkümmert  und  schließ- 
lich der  Verzweiflung  in  die  Hände  fallt.  Möge  eine 
bessere  Zeit  es  sich  zur  Pflicht  machen,  daß  ein  auf  Un- 
verstand beruhendes  Vorurteil  falle  und  die  Wahrheit 
auch  in  einer  von  der  Natur  weniger  begünstigten 
Menschenklasse  zu  ihrem  Recht  gelange. 


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Zwei  Frauen 

aus  der  persönlichen  Bekanntschaft 
des  Herausgebers. 


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Die 

Bibliographie  der  Homosexualität 

für  das  Jahr  1903. 

Von 

Dr.  Jur.  Nnma  Praetorius. 


Jahrbuch  VI.  29 


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Inhaltsangabe. 

Teil  I. 
Homosexuelle  Schriften  mit  Ausnahme  der  Belletristik. 

Kapitel  I. 

Homosexualität  und  AngeborenBein. 

Anonym^  Der  Fall  Krupp.    (München,  Birk  &  Co.) 

Anonym,  Die  wichtigste  Strafrechtsreform.    (Im  Alb-Boten  vom 

21.  November.) 
Anonym,  Der  Chevalier  d'£on.    (In  der  Leipziger  Volkszeitung 

vom  21.  November.) 
Auer,  Soziales  Strafrecht    (München,  Beck.) 
Bolgar,  Zur  homosexuellen  Frage  in  Deutschland.    (In  der  Ärzt- 
lichen Zentralzeitung,  Nr.  35,  36.) 
Carpenter,  Wenn  die  Menschen  reif  zur  Liebe  werden.  (Deutsch, 

Leipzig,  Seemanns  Nachf.) 
Duvtquet,  H^liogabale.    (Paris,  Soci6t6  du  Mercure  de  France.) 
Fischer,  Hans,  Homosexualität  eine  physiologische  Erscheinung? 

(Berlin,  Gnadenfeld  &  Co.) 

Schneickert,  Besprechung  der  Schrift  von  Fischer.    (In  Groß' 

Archiv  für  Kriminalanthropologie  und  Kriminalistik,  Bd  XHI, 

Heft  1  und  2.) 

Fleischmann,  Ungeahnte  Verbrechen.    (München,  Fleischmann.) 

Fleischmann^  Der  Fall  Krupp   und   der   Caprese.     (München, 

Fleischmann.) 
Fleischmann,  Der  Seelenforscher.    (Psychologisch-erosophische 

Zeitschrift.) 
Friedlaender,  Der  Untergang  des  Eros  im  Mittelalter  und  seine 
Ursachen.    (In  der  Juli- Nummer  von  Brands  „Eigenem".) 

29* 


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—     452     — 

Fuchs,  Hanns,  Richard  Wagner  und  die  Homosexualität  (Berlin, 

Barsdorf.) 
Gaulke,  Das  mann  weibliche  Moment  in  der  Kunst  in  religiöser 

Beleuchtung.    (In  der  „Gegenwart"  vom  13.  Februar.) 
Gerling,  Das  Geschlecht.     (Beilage  zur  Zeitschrift  „Neue  Heil- 
kunst".) 
Gley,  Les  aberrations  de  Tinstinct  sezuel.    (In  £tudes  de  Psycho- 
logie physiologique  et  pathologique,  Paris,  Alcan.) 
Groß,  Besprechung  der  Jahrbücher  Bd.  IV  und  V.    (Im  Archiv 

für    Kriminal -Anthropologie    und    Kriminalistik,    Bd.  XIV, 

Nr.  3,  4.) 
Grundmann,  Wer  ist  der  Mörder?  Das  Verbrechen  des  Sadisten 

Dippold.    (Pöseneck,  Schneiders  Nachfolger.) 
Hafner,  Unzucht.    (Wien,  Verlag  des  Don  Quixote.) 
Hermann,  Libido  und  Mania     (Leipzig,  Strauch.) 
Hirschfeld,  Das  urnische  Kind.     (In  der  Wiener  Med.  Presse, 

Nr.  89  und  40,  und  der  Zeitschrift  für  Kindererforschung: 

„Die  Kinderfehler",  Nr.  2.) 
Hoy,  Senna,  Das  dritte  Geschlecht.    (Selbstverlag,  Berlin.) 
Kur n ig,    Der    Neo- Nihilismus,    Antimilitarismus,    Sexualleben. 

(Leipzig,  1901,  Spohr.) 
La  Gar a,  La  base  organica  dei  pervertimenti  sessuali  e  la  loro 

profilassi  sociale.     (Torino.) 
Leuß,  Aus  dem  Zuchthause.     Verbrecher  und  Strafrechtspflege. 

(Berlin,  Johannes  Rade.) 
Lombroso,  La  psychologia  di  una  uxoricida  tribade.   (In  Archivio 

dl  psychiatria  ed  scienze  penale,  fasc.  I— II,  1903.) 
Löwenfeld,  Sexualleben  und  Nervenleiden.     3.  vermehrte  Aufl. 

(Wiesbaden,  Bergmann.) 
Möbius,  Geschlecht  und  Entartung.    (Halle,  Marhold.) 
Mühsam,  Die  Homosexualität.    (Berlin,  Lilicnthal.) 
Näcke,  Forensisch-psychiatrisch-psychologische  Randglossen  zum 

Falle  Dippold,  insbesondere  über  Sadismus.  (In  Groß*  Archiv 

für  Kriminal- Anthropologie  u.  Kriminalistik,  Bd.  XIII,  Hcft4.> 
Näcke,  Das  dritte  Geschlecht.  (In  der  Politisch- Anthropologischen 

Revue,  Jahrgang  2,  Heft  4.) 
Pitres  et  R^gis,  Les  obsessions  et  les  impulsions.   (Paris,  1902, 

Dom.) 
Rau,  Liebesfreiheit.    (Oranienburg,  Orania- Verlag.) 
Rau,  Der  Geschlechtstrieb  und  seine  Verirrungen.    (Berlin,  Stei- 

nitz.) 
Rau,  Grillparzer  und  sein  Liebesleben.     (Berlin,  Barsdorf.) 


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—     453     — 

Poppenberg,   Orillparzers  Inferno.     (In  der  Neuen  Deutschen 

Rondschaa,  Oktoberheft.) 
Sehn  ei  dt,  Die  HandertfQnfundsiebziger.    (In  der  Welt  am  Mon- 
tag vom  4.  Januar.)    Ragout  fin.     (In  der  gleichen  Zeitung 

vom  11.  Januar  1904.) 
Sherard,  Oskar  Wilde.    (Minden,  Bruns*  Verlag.    Deutsch  von 

Freiherr  von  Teschenberg.) 
Sper,  Capri  und  die  Homosexuellen.  (Oranienburg,  Orania-Verlag.) 
Tarnowsky,   L'instinct  sexuel  et  ses  manifestations  en  double 

point  de  vue  de  la  jurisprudence  et  de  la  Psychiatric.    (Fran- 

lösische  Übersetzung,  Paris,  1904,  Carrington.) 
Taruff],   Hermaphrodismus   und  ZengungsunfKhigkeit     (Berlin, 

Barsdorf.) 
Weininger,   Geschlecht   und   Charakter.     (Wien   und  Leipzig, 

Braumüller.) 
Möbius,  Geschlecht  und  Unbescheidenheit.    (Halle,  Marhold.) 
West,  Homosexuelle  Probleme.    (Berlin,  Messer  &  Co.) 
Wilhelm,  Ein  Fall  von  Homosexualität  (Androgynie).    (In  Groß* 

Archiv  für  Kriminal- Anthropologie  u.  Kriminalistik,  Bd.  XIY, 

Heft  1  und  2.) 

Kapitel  IL 
Die  neueste  Richtimg. 

Bab,  Die  gleichgeschlechtliche  Liebe  (Lieblingminne).  (Berlin, 
Schildberger.) 

Bab,  Frauenbewegung  und  männliche  Kultur.  (Im  ,^£igenen"  von 
Brand,  Juli-Nummer.) 

Gotamo,  In  die  Zukunft.  (Im  „Eigenen"  von  Brand,  Januar- 
Nummer.) 

Mayer,  Eduard  v..  Männliche  Kultur.''  Ein  Stück  Zukunfts- 
musik.   (Im  „Eigenen"  von  Brand,  Januar-Nummer.) 

Kapitel  JH. 

Homosexaalität  und  Erwerbung. 

Caufeynon,  La  P^d^rastie.   (Paris,  Nouvelle  librairie  m^dicale.) 
D Uhren,   Das  Greschlecht sieben  in  England.     Bd.  IH.     (Berlin, 

Lilienthal) 
Fuchs,  Dr.  Alfred,  Zwei  Fälle  von  sexueller  Paradoxie.    (In  den 

Jahrbüchern   für  Psychiatrie   und   Neurologie,    Bd.  XXHI, 

Heft  1  und  2.) 


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—     454     — 

Goarmont,  Physique  de  ramoor.  (Paris,  Soci6t6  du  Mercure  de 
France.) 

Jollj)  Perverser  Sexualtrieb  und  Stttlichkeitsverbrechen.  (Vor- 
trag, abgedruckt  im  Klinischen  Jahrbuch,  Bd.  XI,  Heft  1, 
Jena,  Fischer.) 

Krticzka,  Ein  an  Sadismus  grenzender  Fall.  (In  Groß*  Archiv 
für  Kriminal -Anthropologie  und  Kriminalistik,  Bd.  XFV, 
Nr.  1  und  2.) 

Melchers,  Was  soll  das  Volk  vom  dritten  Geschlecht  wissen? 
Auch  eine  Aufklärungsschrift,  herausgegeben  gegen  das 
Wissenschaftlich' Humanitäre  Komit^.  (Flugblatt  8  des  Or- 
dens für  Regeneration.) 

Pelman,  Strafrecht  und  verminderte  Zurechnungsffthigkeit  (In 
der  Politisch-Anthropologischen  Revue,  April-Nummer.) 

Puppe,  Über  larvierte  sexuelle  Pei'versität.  (In  der  Ärztlichen 
Sachverständigen-Zeitung,  Nr.  24,  1902.) 

Stern,  Medizin,  Aberglaube  und  Geschlechtsleben  in  der  Türkei. 
(Berlin,  Barsdorf.) 

Salgo,  Die  sexuellen  Perversitäten  vom  psychiatrischen  und 
forensischen  Gesichtspunkt  (Vortrag,  abgedruckt  in  der 
Pester  Medizinisch- Chirurgischen  Presse,  Nr.  1,  Januar  1903.) 

Schrenck-Notzing,  Beiträge  zur  forensischen  Beurteilung  von 
Sittlichkeitsvergehen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
Pathogenese  psycho -sexueller  Anomalien.  (In  Kriminal- 
psychologische und  psychopathologische  Studien.  Leipzig, 
1902,  Barth.) 

Spassoff,  Contribution  k  T^tude  de  Tinstinct  sexuel  et  de  ses 
transformations  dans  les  maladies  mentales.    (Toulouse,  1901.) 

^  Kapitel  IV. 
Die  Anhänger  der  Strafe. 

Anderson,  Wider  das  dritte  Geschlecht.  (Berlin,  1903,  Ber- 
mühler.) 

Quant  er,  Wider  das  dritte  Geschlecht.  (Berlin,  1904,  Berm  übler.) 

Fischer,  Wilhelm,  Die  Prostitution,  ihre  Geschichte  und  ihre 
Beziehungen  zum  Verbrechen  und  die  kriminellen  Aus- 
artungen des  modernen  Geschlechtslebens.  (Stuttgart,  Leipzig, 
Daser.) 

Gerland,  Besprechung  des  Buches  von  Köhler,  „Reformfragen  des 
Strafrechts".    (Im  „Gerichtssaal**,  Bd.  LXIII,  Heft  1.) 


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—     455     — 

Köhler,  Reformfragen  des  Strafrechts.  (München,  Becksche  Ver- 
lagshachhandlung.) 

Kuhlenbeck,  Das  Strafrecht  als  soziales  Organ  der  natür- 
lichen Auslese.  (In  der  Politisch-Anthropologischen  Revue, 
Januar  1908.) 

Wfist,   1.  Das  dritte  Geschlecht 

2.  Die. Rede  von  Wüst  über  die  Homosexualität,  gehalten 
in  der  Halbjahresversammlung  des  Wissenschaftlich- 
Humanitären  Komit^s. 

3.  Die  sexuellen  Perversitäten  in  Deutschland. 

4.  Herren  und  Ludewigs,  Damen  und  Dirnen. 

(In  den  Nummern  10,  14,   17  und  28  der  Zeitschrift 
Aristokratissimus.) 

Anhang  z«  Kapitel  IV. 

Brunn  er,  Abgrenzung  der  Übertretung  gegen  die  öffentliche 
Sicherheit  von  dem  Verbrechen  der  Unzucht  wider  die  Natur 
zwischen  Personen  des  gleichen  Geschlechts.  Entscheidung 
des  Kassationshofs  in  Wien.    (Im  „Gerichtssaal",  Bd.  XLIII.) 

Reichsgerichtsentscheidung,  Bd.  XXXVI,  Nr.  18,  Was  ist 
unter  heisch lafUhnlichem  Akt  zu  verstehen? 

Kapitel  V. 

Der  Oeschleohtstrieb  an  und  für  sich.     (Ohne  Berück- 
sichtigung der  Homosexualität) 

Elberskirchen,  Die  Sexualempfindung  bei  Weib  und  Mann. 
(Leipzig,  Magazin- Verlag.) 

Ellis,  Das  Geschlechtsgefühl.  (Deutsche  Übersetzung.  Würz- 
burg, Stüber.) 

Jastrowitz,  Einiges  über  das  Physiologische  und  über  die  außer- 
gewöhnlichen Handlungen  im  Liebesleben  der  Menschen. 
(Leipzig,  Thieme.) 

Teil  IL 
Belletristik. 

Der  Eigene,  Ein  Blatt  für  männliche  Kultur,  Kunst  und  Lite- 
ratur.   Herausgeber  Adolf  Braad.    (Januar — Juli  1903.) 

Demolder,  Le  jardinier  de  la  Pompadour.  (Soci^t^  du  Mercure 
de  France.) 


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—     456     — 

Fazy,  La  nouvelle  Sodome.    (Paris,  Edition  moderne.) 
Fuchs,  Hanns,  Ciaire.    (Berlin,  Barsdorf.) 
Grün-Leschkirch,  Lieder  eines  Einsamen.    (Leipzig,  Spohr.) 
Heller,  Die  Spiegel.    (In  der  Freistatt,  Nr.  44,  1902.) 
La  llire,  UEnfer  da  soldat.    (Paris,  1902,  Offenstadt.) 
Ho  che,  Le  vice  mortel.    (Paris,  Librairie  Illustr^e.) 
Hoche,  La  Carriöre  de  Lucette.    (Paris,  Librairie  lUustr^e.) 
Janitschek,  Mimikry.    (Leipzig,  Seemanns  Nachfl.) 
Lepage,  Les  fausses  vierges.    (Paris,  1902,  Offenstadt) 
Lorrain,  Le  vice  errant.    (Paris,  1902,  Ollendorf.) 
Molza,  Rodolfo  de  Florence.    (In  Oeuvres  galantes  des  conteurs 
Italiens,   XIV,    XV   et   XVI  si^cles.      Französische    Über- 
setzung von  Bever  et  Sansot  Orland.) 
Morel,  Sappho  de  Lesbos.    (Paris,  Perrin  &  Co.) 
Ryner,  La  fille  manqu^e.    (Paris, * Genonceauz  &  Co.) 
Siegfried,  Freundesminnc.     (Druck  Reichardt,  Groitzsch.) 
Stadler,  Die  Freundinnen.  (Im  Magazin  für  Literatur,  2.  Februar- 
Nummer  1904.) 
Stangen,  Antinouslieder;  mit  Anhang:  Die  Insel  der  Seligen. 
(Zürich,  Cäsar  Schmidt.) 

Vivien,  Sappho.        |      (Beide  Lemerre,  Parte.) 

Vivien,  Evocations.  J 

Wedekind,  Mine-Saha  oder  über  die  körperliche  Erziehung  der 

jungen  Mädchen.    (München,  Langen.) 
Willy,  Claudine  s'en  va.    (Paris,  Ollendorf.) 
Beyerlein,  Jena  oder  Sedan?    (Berlin,  Vita.) 

Teil  III. 

Besprechungen.    1.  Des  Jahrbuchs. 

2.  Des  „Umischen  Menschen"  von  Dr.  Hirsch- 
feld. 


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Teil  1.^) 

Homosexuelle  Schriften  mit  Ausnahme 
der  Belletristik. 

Kapitel  I. 
Homosexualität  und  Angeborensein.  ^ 

Anonym,  Der  Fall  Krapp.  Sein  Verlauf  und  seine 
Folgen.  Eine  Tatsacbensammlung.  München,  Druck 
und  Verlag  von  G.  Birk  &  Co.,  50  Pf. 

Der  erste  Teil  der  Schrift:  „Die  Homosexualität  und  der 
§  J175"  gibt  zunächst  eine  Erläuterung  von  dem  Wesen  der  Homo- 
Sexualität.    Erörterung  der  Begriffe  „natürlich*^  und  ,,widernatür- 

*)  In  dem  L  Teil  sind  drei  in  den  früheren  Bibliographien 
fehlende  Schriften  aus  dem  Jahre  1902,  zwei  aus  dem  Jahre  1901^ 
in  dem  IL  vier  aus  dem  Jahre  1902  aufgenommen.  Die  Jahres- 
zahl ist  jedesmal  beigefügt.  Die  übrigen  Schriften  sind  im  Jahre 
1903  veröffentlicht 

*)  Die  Titel  von  Kapitel  I  und  II  passen  nicht  genau  für 
alle  in  den  beiden  Kapiteln  besprochenen  Schriften.  Sie  wurden 
gewählty  da  eine  bessere  Kollektivcharakterisierung  nicht  möglich  er- 
schien. Von  den  Schriften,  welche  ein  Angeboren-  und  Erworben- 
sein  der  Homosexualität  annehmen,  wwrden  unter  Kapitell  diejenigen 
rubriziert,  welche  wenigstens  häufiges  oder  oftmaliges  Angeboren- 
sein anerkennen.  Diejenigen  Schriften,  welche  überhaupt  die  Frage 
der  Enistehungsart  der  Homosexualität  nicht  berühren,  wurden,  je 
nachdem  sie  mehr  zu  den  neueren  oder  mehr  zu  den  älteren  An- 
schauungen über  Homosexualität  neigen,  unter  Kapitel  I  oder 
Kapitel  II  klassifiziert. 


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—     458     —     . 

lich^^  in  ihrer  Anwendung  auf  den  Geschlechtsverkehr.  Trotzdem 
auch  im  Verkehr  zwischen  Mann  und  Frau  viele  Handlungen 
nicht  der  Fortpflanzung  dienten,  hahe  man  die  Begriffe  „wider- 
natürlich" und  „pervers"  nur  für  den  homosexuellen  Verkehr  auf- 
gespart. Aus  dieser  Anschauung  heraus  sei  der  §  175  entstanden. 
Widerlegung  einer  Anzahl  früherer  Irrtümer  über  die  Homo- 
sexualität und  die  angeblichen  ELrankheiten  als  Folgen  des  gleich- 
geschlechtlichen Verkehrs. 

Erwähnung  der  von  der  Polizei  der  Großstädte  geführten 
Listen  über  die  bekannten  Homosexuellen,  um  sie  vor  der  Ver- 
folgung durch  Erpresser  zu  schützen,  sowie  über  die  männlichen 
Prostituierten  zwecks  ihrer  Überwachung.  Die  Homosexualität 
sei  eine  namentlich  in  den  vornehmen  Schichten  der  Bevölkerung 
verbreitete  Krankheit;  Verwandtenehe,  geschlechtlicfae  Erkran- 
kungen, Alkoholismus,  nervöse  Überreizung  seien  der  beste  Nähr- 
boden. Eine  überlebte  Gesellschaft  erzeuge  Krankheiten  aus  sich 
heraus. 

In  dieser  Erklärung  zeigt  sich  das  Bestreben,  auch 
die  Erscheinung  der  Homosexualität  von  den  sozia- 
listischen Theorien  aus  zu  deuten.  Es  wird  jedoch 
übersehen,  daß  die  Homosexualität  im  Volke  ebenso  ver- 
breitet ist,  wie  in  vornehmen  Kreisen. 

Verfasser  führt  des  weiteren  aus:  Auch  die  Militärbehörde 
könnte  überraschende  Enthüllungen  machen.  In  vielen  Fällen  habe 
man  homosexuelle  Offiziere  aus  der  Armee  entfernt,  in  durchaus 
schonender  Weise,  ohne  jeden  Eklat,  ohne  Erhebung  einer  Anklage. 
Es  läge  hier  wieder  einer  jener  merkwürdigen  Fälle  vor,  in  denen 
sich  die  Militärbehörden  aufgeklärter  als  die  Zivilbehörden  er- 
wiesen. Die  Unhaltbarkeit  des  §  175  wird  scharf  hervorgehoben. 
Es  wird  hingewiesen  auf  die  korrumpierenden  Denunziationen,  die 
er  veranlasse,  auf  die  widerspruchsvolle  und  spitzfindige  Aus- 
legung, auf  die  Tatsache,  daß  Pädikation  zwischen  Mann  und 
Frau  straflos  sei.  Von  einem  Schutz  der  allgemeinen  Moral  und 
Sittlichkeit  durch  den  §  175  könne  keine  Rede  sein. 

Die  Abschafi^ng  des  §  175  müsse  gefordert  werden,  weil 
dies  Gesetz  ein  schweres  Unrecht  gegen  eine  große  Anzahl  ehr- 
barer Menschen  bedeute.  Er  sei  mit  den  Anschauungen  der 
Wissenschaft  nicht  mehr  in  Einklang  zu  bringen. 

Infolge  der  allgemein  herrschenden  geschlechtlichen  Heuchelei 


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—     459     — 

habe  sich  bis  heute  die  bürgerliche  Presse  wenig  oder  gar  nicht 
an  der  Agitation  für  die  Abschaffung  des  §  175  beteiligt,  obgleich 
gerade  der  Adelsstand  und  die  Bourgeoisie  allen  Grund  hätten, 
sich  von  einem  Gesetz  zu  befreien,  das  vor  allem  Angehörige 
ihres  Standes  träfe.  Die  Sozialisten  hätten  fast  nur  ein  recht- 
liches Interesse  an  diesen  „pikanten^ ^  Geschichten,  nämlich,  daß 
Kranke  nicht  als  Verbrecher  verfolgt  würden  und  daß  ein  be- 
stehendes Gesetz  entweder  gegen  alle  gleichmäßig  angewandt  oder 
aber  aufgehoben  werde.  Diese  Motive  hätten  den  „Vorwärts"  ver- 
anlaßt, den  Fall  Krupp  zur  Sprache  zu  bringen.  Die  bürgerliche 
Presse  hätte  die  Verpflichtung  gehabt,  selbst  objektiv  an  die 
Prüfung  des  Falles  heranzutreten,  anstatt  ein  Kesseltreiben  gegen 
den  „Vorwärts"  zu  inszenieren.  Kein  bürgerliches  Blatt  habe 
sich  getraut,  auszusprechen,  daß  die  Homosexualität  kein  Ver- 
brechen, daß  der  Vorwurf  anormalen  Geschlechtsempfindens  keine 
Schande  sei. 

Auf  den  theoretischen  Teil  über  die  Homosexualität  folgt 
eine  Darstellung  des  Falles  Krupp.  Neues  über  die  behauptete 
Homosexualität  Krupps  findet  sich  in  diesem  Teile  nicht.  An- 
gesichts der  Besprechung  des  Falles  Krupp  im  vorjährigen  Jahres- 
bericht durch  Dr.  Hirschfeld  erübrigt  sich  daher  eine  Inhalts- 
angabe. Die  Schrift  bemüht  sich,  nachzuweisen,  daß  der  Vor- 
wärtsartikel lediglich  ans  lauteren  Motiven,  nämlich  um  die 
Ungerechtigkeit  des  §  175  zu  geißeln,  erschienen  und  daß  der 
„Vorwärts**  zu  seiner  Veröffentlichung  geradezu  gezwungen  ge- 
wesen sei.  Gewöhnlich  mache  die  sozialdemokratische  Partei  von 
dem  ihr  in  Fülle  zugehenden  Anklagematerial  Über  Privatpersonen 
nur  einen  sehr  bescheidenen  Gebrauch.  Gerade  in  Bezug  auf 
Verstöße  gegen  §  175  aber  liefen  bei  den  sozialdemokratischen 
Abgeordneten  wie  bei  der  sozialdemokratischen  Presse  fast  täg- 
lich Mitteilungen  über  Männer  in  Amt  und  Würden  ein,  ohne 
daß  bisher  auch  nur  eine  einzige  Indiskretion  darüber  bekannt 
geworden  wäre.  So  sei  auch  der  „Vorwärts"  erst  an  den  Fall 
Krupp  herangetreten,  als  es  nichts  mehr  zu  verschweigen  gegeben, 
als  von  den  verschiedensten  Seiten  auf  eine  Behandlung  der  An- 
gelegenheit gedrungen  worden  sei  und  dieses  Drängen  sich  schon 
in  dem  Vorwurf  geäußert  habe,  man  wolle  allem  Anschein  nach 
den  ganzen  Fall  vertuschen. 

Es  ist  anzuerkennen,  daß  die  sozialdemokratische 
Partei  bisher  überhaupt  die  einzige  politische  Partei 
ist,  welche  als  solche  sich  vorurteilsfrei  mit  der  homo- 


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—     460     — 

sexuellen  Frage  beschäftigt  and  eine  Reform  des  §  175 
gefordert  hat. 

Den  Kruppartikel  jedoch  halte  ich,  vom  unparteiischen 
Standpunkt  aus  betrachtet^  nicht  für  ein  wandsfrei,  da 
Handlungen  Krupps  aus  seinem  Privatleben,  welche  die 
Allgemeinheit  nicht  schädigten,  an  die  breite  Öffentlich- 
keit gezogen  und  Krupp  durch  die  Veröffentlichung  in 
Deutschland  unnötigerweise  gebrandmarkt  wurde.  Auch 
bin  ich  der  Ansicht,  daß  es  sich  dem  „Vorwärts"  nicht 
allein  um  den  Nachweis  der  Notwendigkeit,  den  §  175  auf- 
zuheben, handelte,  sondern  daß  auch  ein  parteipolitischer 
Zweck  —  Bloßstellung  eines  Hauptvertreters  des  Kapi- 
talismus —  mitspielte,  worauf  Form  und  Inhalt  des 
Artikels  deuteten.  Allerdings  will  ich  gern  anerkennen, 
daß  die  Versuchung,  die  Gerüchte  der  italienischen 
Zeitungen  zu  veröffentlichen,  eine  sehr  starke  war  und 
daß  der  „Vorwärts"  jedenfalls  den  Sturm  der  Entrüstung 
nicht  verdiente,  mit  dem  die  Zeitungen  der  anderen 
Parteien  das  sozialdemokratische  Organ  überschüttet 
haben. 

Das,  was  der  „Vorwärts"  gegenüber  Krupp  gefehlt, 
hätten  sicherlich  Zeitungen  anderer  Richtungen,  nament- 
lich der  konservativen  und  klerikalen,  sozialdemokra- 
tischen Führern  gegenüber  ebenfalls  getan,  nur  mit  dem 
unterschiede,  daß  ^ie  kaum  so  lange  gewartet  hätten 
wie  der  „Vorwärts",  um  mit  offenen  Anschuldigungen, 
die  in  auswärtigen  Blättern  zu  lesen  gewesen  wären, 
hervorzutreten.  Man  setze  nur  den  Fall,  Bebel  oder 
Singer  hätten  mit  jungen  Leuten  in  einer  den  Verdacht 
der  Homosexualität  erregenden  Weise  verkehrt  und  würden 
im  Auslande  allgemein  als  Homosexuelle  gelten.  Würden 
nicht  die  Zentrumsblätter  und  die  feudalen  Zeitungen 
die  sozialdemokratischen  Führer  an  den  Pranger  stellen 
und  als  die  lebendigen  Beispiele  für  die  Wirkungen  ihrer 
Lehren  geißeln? 


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—     461     — 

Anonym,  Die  wichtigste  Strafreelitsreform,  im  Alb- 
Boten,  Münsingen,  vom  21.  November  1903. 

Wanne  Befürwortung  der  Beseitigung  des  §  175,  die  aus 
juristischen,  wissenschaftlichen  und  menschlichen  Gründen  geboten 
sei.  Der  §  175  sei  ein  ungerechtes  Ausnahmegesetz.  Diejenigen, 
welche  für  die  Aufhebung  arbeiteten,  kämpften  für  und  nicht 
gegen  die  Sittlichkeit.  Die  Homosexuellen  seien  den  Normalen 
gleichzuwerten.  Die  Homosexualität  sei  eine  notwendige  Über- 
gaiigsbtufe  zwischen  den  Geschlechtem.  Das  Recht  der  freien 
Selbstbestimmung,  das  man  gewöhnlich  für  jedermann  verlange, 
müsse  auch  den  Homosexuellen  für  ihre  in  gegenseitiger  Ein- 
willigung vorgenommenen  geschlechtlichen  Handlungen  zuerkannt 
werden. 

Anonym,  Der  Chevalier  d'Eon,  in  der  Leipziger  Volks- 
zeitung vom  21.  November  1903. 

Die  Petition  wird  als  vollauf  begründet  anerkannt;  bei  §  175 
müsse  allerdings  der  hartnäckige  Widerstand  der  Geistlichkeit  und 
der  zünftigen  Juristen  überwunden  werden.  —  Hierauf  Besprechung 
des  bekannten  Chevalier  d^Eon  und  seines  Lebens  nach  dem 
Jahrbuch. 

Auer,  Fritz,  Soziales  Strafreeht.  Ein  Prolog  zur  Straf- 
rechtsreform. München,  1903,  Becksche  Verlags- 
buchhandlung. 

In  diesem )  von  warmem  sozialen  Geist  und  modernen  An- 
schauungen erfüllten  Schriftchen  wird  auch  die  Abschaffung  des 
§  175  empfohlen,  der  die  schwärzeste  Ecke  des  Strafgesetzes  bilde. 
Aus  blindem  Fanatismus  und  Unverständnis  für  die  traurigen,  in 
den  allermeisten  Fällen  krankhaften  Verirrungen  des  sexuellen 
Lebens  heraus  geboren,  richte  der  §  175  infolge  des  unfehlbar 
mit  ihm  verbundenen  Erpressertums  namenloses  wirtschaftliches 
und  gesellschaftliches  Unheil  an,  ohne  zum  Schutz  eines  Rechtes 
notwendig  zu  sein.  Gegen  gewerbsmäßige  männliche  Unzucht 
könne,  wenn  dies  Gewerbe  zur  öffentlichen  Gefahr  werde,  die 
Strafvorschrift  gegen  die  weibliche  Prostitution  (§  866  *)  angewendet 
werden. 


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—     462     — 

Bolgar,  Dr.  C^eorg,  Zar  homosexnellen  Frage  in 
Dentschland,  in  der  Ärztlichen  Zentralzeitung,  Nr.  35 
und  36. 

BemerkungeD  über  das  besondere  Hervortreten  der  Homo- 
sexualität in  Berlin  (homosexuelle  Restaurants,  Bäder,  Prostitution). 
—  Bericht  über  eine  der  Halbjahresversammlungen  des  Komit^s. 
In  der  Diskussion  habe  es  ein  Gegner  der  Anschauungen  Hirsch- 
felds durch  seine  gehässige  Aggressivität  bei  absoluter  Iguoranz 
des  Themas  in  der  sonst  wohlgeschulten,  gut  disziplinierten  Ver- 
sammlung so  weit  getrieben,  daß  ihm  schließlich  das  Wort  habe 
entzogen  werden  müssen. 

Sowohl  auf  Seiten  der  Homosexuellen  als  der  Heterosexuellen, 
meint  Bolgar,  müsse  aufgeklärt  werden.  Die  Homosexuellen 
müßten  zur  Ansicht  gelangen,  daß  ihr  Zustand  eine  Abnormität, 
in  vielen  Fällen  eine  Krankheit  des  Geschlechtszentrums,  darstelle. 
Freilich,  noch  mehr  müsse  der  Allgemeinheit,  die  durch  ihre  An- 
schauungen und  die  dadurch  hervorgerufenen  Gesetze  hunderte 
und  tausende  von  Homosexuellen  gesellschaftlich,  körperlich  und 
geistig  ruiniert  habe,  begreiflich  gemacht  werden,  daß  es  sich  hier 
zumeist  um  Unglückliche,  nicht  aber  um  Wüstlinge  oder  Ver- 
brecher handle.  Jedenfalls  sei  es  eine  Ungerechtigkeit,  die  Homo- 
sexuellen einzusperren,  während  man  zahllose  Lumpen  von  ge- 
wissenlosen ,  aber  sexuell  normalen  Lebemännern  ruhig  und 
straflos  ihre  Syphilis,  ihre  Ulcera,  ihre  Gonorrhoe  auf  dem 
vaginalen  Wege  weiter  verbreiten  und  unberechenbares  Unglück 
anrichten  lasse.  Auch  sei  es  gewiß  grundfalsch,  Homosexuellen 
Perversitäten  besonders  vorzuwerfen,  wo  doch  in  der  normalen 
Liebe  Perversitäten  in  Hülle  und  Fülle  vorkämen  und  als 
„Geschmacksdifferenzen''  nicht  nur  stillschweigend  geduldet  und 
straflos  gelassen,  sondern  womöglich  noch  als  „hohe  Schule 
der  Liebe"  proklamiert  würden.  Hier  sei  es  Pflicht  der  popu- 
lären medizinischen  Wissenschaft,  aufzuklären,  denn  daß  bei 
der  großen  Verbreitung  der  Homosexualität  unter  der  germa- 
nischen ,  sowie  der  jüdischen  Rasse ,  weniger  unter  Slaven 
und  Romanen,  eine  homosexuelle  Frage  wirklich  und  nicht  nur 
in  den  Köpfen  einiger  Psychiater  existiere  und  daß  die  jetzige 
G^etzgebung  nach  dieser  Seite  hin  veraltete,  im  Widerspruch 
zum  heutigen  Stande  der  Wissenschaft  stehende  Härten  auf- 
weise, könne  nur  jemand  leugnen,  der  nichts  sehe  oder  nichts 
sehen  wolle. 


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—     463     — 

Carpenter,  Edward,  Wenn  die  Mensehen  reif  znr 
Liebe  werden.  Eine  Reihe  von  Aufsätzen  über  das 
Verhältnis  der  beiden  Geschlechter?  Übersetzt  Ton  Carl 
Federn.    Leipzig,  Hermann  Seemanns  Nachfg. 

Carpenter  deckt  die  vielen  Unklarheiten  und  die  große 
Heuchelei  in  den  Beziehungen  der  beiden  Geschlechter  auf  und 
erörtert  die  Möglichkeit  einer  gesunderen  und  besseren  Entwicke- 
lung  der  Geschlechtsverhältnisse.  Das  homosexuelle  Problem  ist 
in  diesen  von  idealem  Ernst  erfüllten  Aufsätzen  nicht  berührt, 
Carpenter  hat  es  an  anderer  Stelle  ausführlich  und  sehr  schön 
behandelt  (in  der  Broschüre  „Die  homogene  Liebe  und  ihre  Be- 
deutung in  der  freien  Gesellschaft",  deutsch  in  Leipzig  bei  Spohr). 
Nur  einmal  (S.  234)  erwähnt  er  die  Homosexualität: 

Als  eine  der  großen  Schwierigkeiten,  die  einer  allgemeinen 
Verständigung  über  sexuelle  Fragen  im  Wege  ständen,  bezeichnet 
Carpenter  die  außerordentliche  Verschiedenheit  der  Empfiudungs- 
weise  und  des  Temperaments.  So  z.  B.  vermöge  ein  Manu  von 
Welt  einen  Asketen  kaum  zu  verstehen  und  jedenfalls  nicht  mit 
ihm  zu  sympathisieren.  Der  Durchschnittsmann  und  das  Durch- 
schnittsweib träten  an  die  große  Leidenschaft  von  ganz  versclye- 
denen  Seiten  heran  und  mißverständen  einander  infolgedessen 
unaufhörlich.  Und  diese  beiden  großen  Klassen  des  Menschen- 
geschlechts wären  wieder  außer  Stande,  jene  andere  scharf  um- 
rissene  Klasse  von  Menschen  zu  verstehen,  deren  Liebesneigungen 
von  Geburt  an  nur  dem  eigenen  Geschlecht  gälten,  ja  sie  wollten 
die  Existenz  einer  solchen  Gattung  von  Menschen  kaum  an- 
erkennen, obgleich  sie  tatsächlich  eine  große  und  wichtige  Gruppe 
in  allen  Schichten  der  Gesellschaft  darstelle.  Alle  diese  Ver- 
schiedenheiten seien  bisher  so  wenig  der  Gegenstand  unvorein- 
genommener Forschung  gewesen,  daß  wir  uns  in  einem  ganz 
erstaunlichen  Grad  darüber  im  Dunkel  befönden. 


Sariquet,  Georges,  H^^liogabale.  Racont^  par  les  histo- 
riens  grecs  et  latins.  Pröface  de  Remy  de  Gour- 
mont,  Paris,  1903,  Sociöt^  du  Mercure  de  France. 
Dix-huit  gravures  d'apres  les  monuments  originaux. 

Sämtliche  über  Heliogabal  vorhandenen  Quellen  in  französi- 
scher Übersetzung,  nebst  Besprechung  der  Gold-  und  Denkmünzen, 


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—     464     — 

sowie  der  Inschriften  und  Bilderbeschreibungen;  die  auf  Helio- 
gabal  Bezug  haben.  Am  Schluß  eine  Bibliographie  von  Werken 
über  Heliogabal.  In  dieser  fehlt  auffalligerweise  der  schöne  Auf- 
satz von  Scheffler  aus  dem  Jahrbuch  III. 

Aus  dem  Buche  von  Duviquet  lernt  man  absolut 
nichts  Neues  über  Heliogabal  ^  dagegen  wird  man  beim 
Durchlesen  der  gesamten  Quellen  gewahr,  wie  meister- 
haft SchefTler  in  seinem  relativ  kurzen  Aufsatze  alles 
Charakteristische  und  Wichtige  zusammen  zu  fassen 
wußte.  Und  dies  obendrein  in  einem  glänzenden  künst- 
lerischen Gemälde. 

Eigene  Bemerkungen  von  Duviquet  über  Heliogabals  Natur 
finden  sich  nur  an  zwei  Stellen:  S.  143  betont  er  die  ganz  weibische 
Anlage  des  Kaisers,  die  ihn  dazu  gefuhrt  habe,  im  Verkehr  mit 
Männern  stets  die  weibliche  Rolle  zu  übernehmen.  Ferner  S.  147, 
wo  Duviquet  Heliogabal,  der  an  seinem  „Manne"  Hierokles  trotz 
seiner  Schläge  und  Beschimpfungen  mit  heftigster  Leidenschaft 
gehangen,  mit  der  Dirne  vergleicht,  welche  nur  ihren  Zuhälter 
liebt,  den  sie  unterhält  und  der  sie  schlägt. 

Fischer,  Dr.  Hans,  Homosexaalitftt  eine  physio- 
logische Erscheinung?  Berlin,  Verlag  Gnaden- 
feld &  Co. 

Bekämpfung  des  §  175.  Man  hätte  ebensogut  den  körper- 
lichen Hermaphroditismus  oder  den  Situs  inversus,  d.  h.  die  um- 
gekehrte Lage  der  Eingeweide  im  Körper,  mit  Gefängnis  bestrafen 
können;  sei  doch  der  homosexuelle  Trieb  eine  Art  von  psychi- 
schem Situs  inversus.  Hinweis  auf  den  gleichgeschlechtlichen 
Verkehr  in  Griechenland.  Hätte  in  Athen  ein  §  175  bestanden, 
so  wären  die  obersten  Leiter  der  Geschichte  Athens  wohl  selten 
aus  den  Gefangnissen  herausgekommen.  Die  vielen  Unter- 
abteilungen zwischen  Hetero-  und  Homosexualität  erklärten  un- 
gezwungen das  häufige  Vorkommen  von  Homosexualität  im  klassi- 
schen Altertum  bei  Männern,  welche  die  Weiberliebe  keineswegs 
verschmähten.  Der  Normale  tue  die  ganze  Erscheinung  einfach 
mit  dem  Worte  „Schweinerei"  ab,  ohne  zu  erwägen,  ob  es  denn 
vom  sittlichen  Standpunkt  aus  weniger  Schweinerei  sei,  eine  Dirne 
gegen  klingendes  Entgelt  zu  beschlafen.   Und  doch  sei  die  Prosti- 


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—     465     — 

tution  in  allen  Ländern  geduldet  Prostitation,  AlkoholismuB  und 
Morphinismus  usw.  seien  widernatürlich  und  könnten  unter  anderen 
VerhSltnissen  bei  echter  und  wahrhaft  fortschreitender  Kultur  all- 
mählich bis  auf  kleine  Reste  verschwinden.  Der  gleichgeschlecht- 
liche Verkehr  dagegen  sei  tief  in  der  Natur  begründet  und  habe 
seit  den  ältesten  Zeiten  bei  allen  Völkern  bestanden;  auch  bei  den 
Tieren  begegne  man  ihm  oft.  —  Man  könnte  unsere  hygienischen 
und  ethischen  Verhältnisse  ganz  erträglich  finden,  wenn  an  den- 
selben nichts  weiter  auszusetzen  wäre,  als  das  Vorhandensein  eines 
größeren  oder  kleineren  Prozentsatzes  von  Homosexuellen,  die  in 
sozialer  Hinsicht  nicht  im  entferntesten  den  gleichen  Schaden  an- 
richteten wie  die  Prostitution. 

Fischer  verwahrt  sich  dagegen,  daß  er  „pro  domo"  spräche. 
Seine  frühere  Verachtung  der  Homosexuellen  habe  bei  Vertiefung 
in  die  Psychiatrie  einer  gerechteren  Beurteilung  Platz  gemacht 
Der  Homosexuelle  stehe  in  sittlicher  Hinsicht  hoch  über  den  ver- 
derbten heterosexuellen  Lüstlingen,  die  im  Verkehr  mit  dem  Weibe 
sich  alles  Mögliche  erlaubten.  Die  Homosexualität  sei  eine  an- 
geborene abnorme  Erscheinung,  aber  nicht  widernatürlich;  sie  sei 
wohl  als  eine  Selbsthilfe  der  Natur  anzufassen  gegen  die  Über- 
völkerung in  denjenigen  Gegenden,  in  denen  die  Dichtigkeit  der 
Menschen  eine  solche  befürchten  lasse.  In  Deutschland  sei  bei 
dem  fortschreitenden  Bevölkerungszuwachs  bald  Übervölkerung  zu 
befurchten.  Ein  gewisser  Prozentsatz  von  Homosexuellen  werde, 
weit  entfernt,  den  Staat  zu  schädigen  oder  die  Anzahl  der  Rekruten 
unter  den  Bedarf  herabzudrücken,  im  Gegenteil  ein  gesunder 
Hemmschuh  gegen  Übervölkerung  sein.  Eine  Beschränkung  der 
Übervölkerung  dadurch,  daß  die  Natur  Urninge  in  größerer  An- 
zahl hervorbringe,  sei  jedenfalls  erwünschter,  als  wenn  Krieg, 
Seuchen  oder  Hungersnot  die  Menschheit  dezimierten.  Die  Gesetz- 
gebung solle  endlich  die  vielleicht  geradezu  nützlichen  Homo- 
sexuellen unbehelligt  lassen.  Die  Härte  des  unsinnigen  Ketzer- 
paragraphen habe  einst  Spanien  seiner  besten  Bürger  beraubt  und 
seinen  Wohlstand  untergraben;  möge  Deutschland  dafür  sorgen, 
daß  nicht  der  §  175  eine  ähnliche  Wirkung  erziele. 

Das  Schriftchen  hebt  nicht  nur  einige  Gründe  für 
die  Aufhebung  der  Straf bestinunung  hervor,  sondern  — 
und  das  erscheint  besonders  bemerkenswert  —  der  hetero- 
sexuelle Verfasser  erkennt  auch  die  Berechtigung  der 
Homosexualität  an. 

Jahrbuch  VI.  30 


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—     466     — 
In  einer  Bespreehnnir  der  Brosehttre  von 

Sehneiekert^  Hans,  Bechtspraktikant,  im  Archiv  für 
Kriminal -Anthropologie  und  Kriminalistik^  Bd.  XIII, 
Heft  1,  2,  S.  186—187, 

wird  als  das  Neue  der  Schrift  der  Versuch  bezeichnet,  die  Homo- 
sexualität als  Rorrektionsmittel  der  Natur  gegen  die  Übervölke- 
rung hinzustellen. 

Daß  dieser  Gedanke  neu  wäre,  ist  nicht  zutreffend. 
Wenn  auch  Fischer  ihn  etwas  eingehender  entwickelt 
und  an  der  Hand  einer  ziemlich  anschaulichen  Schilde- 
rung der  in  Deutschland  drohenden  Übervölkerung  seine 
Richtigkeit  plausibel  gemacht  hat,  so  finden  sich  doch 
ähnliche  Anschauungen  in  verschiedenen  früheren  Schriften. 
Recht  hat  dagegen  Schneickert,  der  übrigens  auch  mit 
der  Aufhebung  des  §  175,  welcher  zum  Schutz  und  zur 
Fördenmg  der  Sittlichkeit  nichts  tauge,  einverstanden  ist, 
wenn  er  die  Behauptung  Fischers,  die  Homosexualität 
sei  eine  Selbsthilfe  gegen  Ühervölkerung  in  Gegenden, 
in  denen  die  Dichtigkeit  der  Menschen  eine  solche 
befürchten  lasse,  als  eine  unerwiesene,  nicht  wahrschein- 
liche Hypothese  bezeichnet.  In  der  Tat  spricht  dagegen 
die  Ubiquität  des  Homosexualismus,  der  ebenso  an  spär- 
lich, wie  an  dicht  bevölkerten  Orten  vorkommt. 

Ich  stimme  Schneickert  durchaus  bei,  daß  Fischer 
richtiger  gesagt  hätte:  „Der  Homosexualismus  ist  geeignet, 
eine  schädlich  wirkende  Übervölkerung  zu  verhindern, 
auch  darum  sollte  er  nicht  mit  Strafe  bedroht  werden." 

Fleischmann,  Angnst,  Ungeahnte  Verbrechen.    Ent- 
hüllte Geheimnisse  der  Erpresserwelt    Beiträge  zur 
Naturgeschichte  der  gleichgeschlechtlichen  Liebe.  Druck . 
und  Verlag  von  Fleischmann,  München,  1903. 

Schilderung  von  einigen  Erpressungsfällen.  Ein  verheirateter 
Major  wird  von  einem  jungen  Burschen,  mit  dem  er  sexuell  ver- 


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—     467     — 

kehrt  hat,  in  den  Tod  getrieben.  Ein  homofeezueller  Künstler 
wird  von  einem  gewissenlosen  Menschen,  der  ihm  Modell  gestanden 
und  des  Künstlers  Natur  erraten  hat,  ausgeplündert  unter  Drohung 
mit  Anzeige,  obgleich  der  Künstler  nicht  die  geringste  homo- 
sexuelle Handlang  versuchte.  —  Einige  weitere  Fftlle  raffinierter 
Erpressung.  —  Verfasser  sagt  zum  Schluß,  daß  es  zur  Zeit  der 
Münchener  Polizei  gelungen  sei,  das  Überhandnehmen  des  Er- 
presserwesens einzudämmen. 

Flelsehmann,  August,  Der  Fall  Krupp  und  der 
Caprese.  Eine  zeitgemäße  Betrachtung.  Druck  und 
Verlag  von  Fleischmann,  München,  1903. 

Es  wird  das  törichte  Vorurteil  gegeißelt,  dem  Krupp  zum 
Opfer  gefallen.  Ohne  diese  veralteten  Anschauungen  hätte  er. sich 
seiner  Liebe  nicht  zu  schämen  brauchen.  Kein  Fall  habe  so  über- 
zeugend gewirkt  für  die  Haltlosigkeit  und  Ungerechtigkeit  des 
§  175. 

Meine  Beurteilung  der  früheren  Schriften  von  Fleisch- 
mann (vgl.  Jahrbuch  V)  gilt  auch  für  diese  beiden  Bro- 
schüren. 

Flelsehmann,  August,  Der  Seelenforscher.  Psycho- 
logisch-erosophische  Zeitschrift,  Nr.  10,  11,  München. 

Nur  zwei  Nummern  dieser  homosexuellen  Zeitschrift  sind  mir 
zu  Gesicht  gekommen.  Die  vierte  Seite  jeder  Nummer  enthält 
zahlreiche  homosexuelle  Angebote  und  Nachfragen.  Im  übrigen 
füllen  das  Blatt  Gedichte,  sowie  verschiedene,  im  Geiste  Fleisch- 
manns gehaltene  Prosastücke  aus,  darunter  ein  Aufsatz  von  Georg 
Hofmann,  „Von  der  vollkommensten  Welt",  welcher  die  umische 
Liebe,  weil  sie  Selbstzweck  sei^  als  die  eigentliche,  wahre  Liebe 
und  das  dritte  Greschlecht  als  das  „durch  die  Wand  der 
Tiergeschlechtlichkeit  hindurchgedrungene  einzige  Weltseelen- 
geschlecht" (!  ?)  darstellen  will. 

Frledlaender,  Benedikt,  Der  Untergang  des  Eros 
im  Mittelalter  und  seine  ürsaehen.     Aus  dem 

angekündigten  Buch  „Die  Renaissance  des  Eros  üra- 
nios".     In  der  Juli-Nummer  des  „Eigenen**  von  Brand- 

30* 


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—     468     — 

Die  Ursachen  der  mit  der  Verbreitung  des  Christentums  auf- 
gekommenen Unterdrückung  der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  seien 
in  dem  asketischen  Geiste  des  Christentums  zu  suchen.  Die  Askese 
habe  die  Sündhaftigkeit  der  natürlichen  Lüste  und  Triebe  ver- 
kündet, besonders  die  Geschlechtslust  verpönt.  Der  mannweib- 
liche Verkehr  sei  der  Fortpflanzung  des  Menschengeschlechts  wegen 
nicht  unter  allen  Umständen  als  etwas  völlig  Verwerfliches  hin- 
gestellt und  seine  Zulfissigkeit  von  der  Genehmigung  der  Priester 
abhängig  gemacht,  der  mannmännliche  Verkehr  dagegen  als  bloße 
Sinnenlust  und  deshalb  nach  der  asketischen  Schrulle  als  arge, 
durch  den  Zweck  der  Arterhaltung  nicht  entschuldigte  Sünde  ganz 
verurteilt  worden.  Aber  nicht  nur  in  dem  Geist  der  Askese  sei  die 
Ursache  der  Verfolgung  homosexueller  Liebe  zu  erblicken,  sondern 
auch  in  der  Monopolisierung  der  Liebe  durch  die  Weiber  und  die 
Priester.  Die  Weiber  hätten  das  ausdrückliche  Monopol  der  Liebe 
erhalten  und  die  Priester  das  ihrer  Einsegnung.  Daher  die  Macht 
beider  und  daher  die  homosexuelle  Liebe  als  Verletzung  dieser 
Monopole  aufgefaßt  Da  man  andererseits  eingesehen  habe,  daß 
es  sich  um  die  Unterdrückung  eines  Grundtriebes  des  Menschen 
handle,  habe  man  die  Monopolverletzung  so  außerordentlich  grau- 
sam bestraft. 

Auch  heute  noch  seien  Frauen  und  Priester  die  ärgsten 
Gegner  einer  Benaissance  des  Eros,  da  sie  von  ihr  eine  Gefähr- 
dung ihrer  Macht  und  ihrer  Interessen  fürchteten.  Die  Grund- 
anschauung der  Priester  von  der  Sündhaftigkeit  der  sinnlichen 
Liebe  —  eine  wahre  Wahnidee,  eine  geistige  Seuche  —  habe  das 
ärgste  Unheil  in  der  Ent Wickelung  der  Menschheit  angerichtet; 
sie  habe  an  Stelle  der  Wahrhaftigkeit  des  erotisch  Gedachten  und 
Gefühlten  Konvention  und  größt«  Heuchelei  in  allen  Gestalten 
erzeugt.  An  Stelle  des  maßvollen  Genießens  sei  heimliche  Lüstern- 
heit und  Versteckspielen  mit  dem  Geschlechtlichen  getreten. 

Das  Übel  sei  an  der  Wurzel  zu  bekämpfen.  Es  müsse  der 
Grundsatz,  verfochten  werden,  daß  die  natürlichen  Triebe  nicht 
sündhaft  seien,  daß  insbesondere  der  Liebestrieb  und  seine  Be- 
^edigung  kein  Verbrechen  darstelle,  wenn  niemand  dabei  un- 
gerecht verletzt  werde. 

Der  Aufsatz,  welcher  in  besonders  geistreicher  und 
interessanter  Weise  die  kulturell -psychologischen  Ge- 
sichtspunkte untersucht,  läßt  uns  Gutes  von  dem  an- 
gekündigten Buche  erwarten. 


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—     469     — 

Fachs,  Hanns,  mchard  Wagner  und  die  Homo« 
sexnalltftt.  Mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
sexuellen  Anomalien  seiner  Gestalten.  Berlin»  1903, 
Verlag  von  H.  Barsdorf,  278  S. 

Erstes  Kapitel.  ,yDas  häufige  Vorkommen  der  Homosexualität 
bei  bedeutenden  Männern  und  die  geistige  Homosexualität/^  Die 
völlige  Kenntnis  eines  Menschen  setze  die  Kenntnis  seiner  Sexualität 
Toraus,  daher  sei  die  Erforschung  der  Geschlechtlichkeit  der  Geistes- 
beroen  von  besonderer  Wichtigkeit  Dabei  werde  man  finden, 
daß  bei  vielen  bedeutenden  Männern  neben  den  sogenannten  nor- 
ipalen  Liebesempfindungen  sogenannte  perverse  einhergingen  oder 
auch  ausschlieBlich  vorhanden  seien. 

Fuchs  bespricht  dann  die  Homosexualität  einiger  großen 
Geister  und  teilt  des  weiteren  die  homosexuellen  Stellen  mit,  die 
sich  in  Goethes  Werken  finden.  (Sie  sind  auch  sämtlich  in  dem 
Jahrbuch  HI,  S.  511  und  512  angeführt)  Goethe  sei  in  den  Kern 
des  homosexuellen  Problems  absolut  nicht  eingedrungen  und  habe 
in  dem  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  stets  nur  eine  Spielart  des 
sexuellen  Genusses  gesehen.*  Trotzdem  habe  er  die  sittliche  Kraft 
der  Homosexualität  erkannt,  wie  einige  Stellen  aus  dem  Buche 
„Winckelmann  und  sein  Jahrhundert''  bewiesen. 

Fuchs  will  außer  der  eigentlichen  Homosexualität  eine 
sogenannte  geistige  Homosexualität  unterscheiden. 

Die  geistige  Seite  der  Homosexualität  setze  sich  zusammen 
aus  den  folgenden  Eigenschaften:  Aufmerksamkeit,  Gefälligkeit, 
Dienstbeflissenheit,  Interesse  für  die  Kunst,  Interesse  für  Putz  und 
Ausstattung,  Vorliebe  für  Blumen,  Hang  zur  sogenannten  natur- 
gemäßen Lebensweise,  Eigenschaften,  die  an  Schwächen  des  Weibes 
erinnerten,  Freude  am  Klatsch,  Kleinlichkeit  usw.  Fuchs  teilt  die 
geistig  Homosexuellen  in  drei  Arten: 

1.  Diejenigen,  die  ihr  Leben  hindurch  geistig  homosexuell 
blieben, 

2.  diejenigen,  die  ein  Bedürfnis  nach  schwärmerischer  Freund- 
schaft hätten, 

3.  diejenigen,  bei  denen  einmal  der  Trieb  durchbräche,  mit 
Personen  des  eigenen  Geschlechts  zu  verkehren,  um  bald  wieder 
—  vielleicht  auf  Nimmerwiederkehr  —  zu  verschwinden. 

Ein  Beispiel  für  den  geistig  Homosexuellen  sei  Brackenburg 
in  Goethes  „Egmont''.  Ein  geistig  Homosexueller  der  dritten 
Gruppe  sei  Wagner. 


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—     470     — 

Zweites  Kapitel.  „Richard  Wagners  Leben  bis  zu  seiner 
Berufung  nach  München  durch  König  Ludwig  II.  von  Bayern." 
Schon  in  dem  jungen  Wagner  will  Fuchs  eine  Anzahl  weiblicher 
Züge  entdecken.  Auch  in  den  Gestalten  der  Wagnerschen  Werke, 
die  Fuchs  eingehend  und  meist  eigenartig  analysiert,  findet  er 
geistig  Homosexuelle.  Der  energielose  Erik  im  „Fliegenden  Hol- 
länder** sei  Zwischenstufe,  Tannhäuser  kein  echter  Mann,  kein 
Held  und  zu  schwach,  das  Leben  zu  ertragen.  Lohengrin  gehöre 
zu  den  weichen  Männern  Wagners,  die  unfähig  seien,  Kinder  zu 
erzeugen. 

Die  Männerliebe  erwähne  Wagner  zuerst  in  seiner  Schrift 
„Die  Kunst  und  die  Revolution**,  dann  im  „Kunstwerk  der  Zu- 
kunft**. Wagner  sei  danach  nicht  nur  von  der  Natürlichkeit, 
sondern  von  der  großen  ethischen  Bedeutung  der  griechischen 
Liebe  überzeugt  gewesen.  Aufopfernder  Freundschaft  begegne 
man  in  seinem  „Tristan**  (Isolde  und  Brangäne;  Tristan,  Kur- 
wenal).  In  Marke  sieht  Fuchs  einen  Homosexuellen ;  nur  dadurch 
sei  sein  Verhalten  begreiflich. 

Drittes  Kapitel.  „Richard  Wagner  und  König  Ludwig  II. 
von  Bayern.**  Den  eigentlichen  Gnind  der  Berufung  Wagners 
nach  München  zum  König  erblickt  Fuchs  in  Ludwigs  Homo- 
sexualität Ludwig  habe  in  Wagners  Schriften  wohl  zum  ersten 
Male  in  verständnisvoller  Weise  von  der  ihn  beherrschenden 
Männerliebe  gelesen.  Ohne  Welt-  und  Menschenkenntnis  habe  er 
nicht  wissen  können,  daß  zahllose  Menschen  seine  Veranlagung 
mit  ihm  teilten.  Er  sei  nun  bei  Wagner  Empfindungen  begegnet, 
wie  sie  ihn  selbst  bewegten,  und  habe  nun  mit  doppelter  Leb- 
haftigkeit einen  gleichgearteten  Freund  ersehnt.  Auch  lange  nach 
seinem  Zusammenleben  mit  Wagner  sei  Ludwig  noch  nicht  völlig 
über  seine  Natur  aufgeklärt  gewesen;  dies  beweise  seine  Ver- 
lobung. Die  Ursache  der  Auflösung  seines  Verlöbnisses  sei  sicher 
in  der  endlichen  Erkenntnis  Ludwigs  von  seiner  wahren  Natur- 
anlage zu  suchen. 

Wagner  selbst  habe  in  Ludwig  seine  höchste,  tiefersehnte 
Ergänzung  gefunden;  König  Ludwig  sei  ihm  der  Freund,  nicht 
ein  Freund  unter  Freunden,  gewesen,  dem  er  das  erste,  höchste 
Glück  im  Leben  verdankt  habe. 

Das  Verhältnis  Wagners  zu  Nietzsche  berührend,  hält  Fuchs 
die  Ansicht,  Nietzsche  sei  homosexuell  gewesen,  für  unrichtig. 
Nietzsche  sei  überhaupt  aller  Erotik  fern  geblieben  und  auch 
seine  Verhältnisse  zu  Freunden  hätten  des  eigentlich  erotischen 


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—     471     — 

Elementes  entbehrt.  Dagegen  könne  man  wohl  Nietzsche  an- 
gesichts der  Weichheit  seiner  Seele,  der  Tiefe  und  Zartheit  seiner 
Empfindungen,  wie  sie  uns  seine  Biographie  von  Frau  Nietzsche- 
Förster  und  seine  Briefe  oflfenbarten,  zu  den  geistig  Homosexuellen 
rechnen. 

Viertes  Kapitel.  „Der  Parsifal  und  die  Erotik  in  Wagners 
Musik."  Fuchs  gibt  eine  Erläuterung  und  Deutung  des  tieferen 
Sinnes  des  letzten  Werkes  Wagners. 

Bei  Grurnemanz  hebt  Fuchs  dessen  tiefes  Gefühl  für  jugend- 
frische Männlichkeit  hervor,  das  sich  in  seinem  Verhalten  gegen- 
über den  Knappen,  mit  denen  er  im  Tone  väterlicher  Freund- 
schaft verkehre,  und  gegenüber  Parsifal,  an  dessen  Seite  er,  seinen 
Leib  mit  einem  Arme  umschlungen  haltend,  zur  Gralsburg  empor- 
steige, offenbare. 

Parsifal  sei  nicht  eigentlich  homosexuell.  Er  verschmähe 
das  Weib  nicht,  weil  er  es  nicht  lieben  könne,  sondern  weil  er 
die  Liebe  zum  Weibe  als  unedel  erkannt.  Hoch  über  der  Liebe 
zum  Weibe  sehe  er  die  rein  geistige  Gemeinschaft  der  Gralsritter, 
der  Männer,  und  er  zwinge  sich,  ihnen  gleich  zu  werden,  um  in 
ihre  Mitte  aufgenommen  werden  zu  können. 

Diesen  Gedanken  von  dem  Edeltum  der  idealen  Männer- 
gemeinschaft habe  nur  ein  Mensch  denken  können,  der  zum  min- 
desten geistig  homosexuell  gewesen. 

Die  geistige  Homosexualität  des  alten  Wagner  beweise  der 
Parsifal  unzweifelhaft,  aber  aus  dieser  geistigen  Homosexualität 
sei  der  Schluß  zu  ziehen,  daß  Wagner  in  seinen  jüngeren  Jahren 
sinnlich  -  geistige    homosexuelle     Empfindungen     gekannt    haben 


Der  Grundgedanke  einer  ,, geistigen  Homosexualität'* 
enthält  einen  richtigen  Kern,  wenn  auch  die  Umgrenzung 
und  Definition  des  Wesens  dieser  psychischen  Kategorie 
nicht  befriedigt  Schon  Westphal  hat  von  der  „wirk- 
lichen" Homosexualität  eine  „unvollkommene"  unter- 
schieden, wo  der  Geschlechtstrieb  zwar  auf  das  ent- 
gegengesetzte Geschlecht  gerichtet  ist,  aber  in  Neigungen 
und  Gebaren  weibliche  Art  (z.  B.  namentlich  Sucht, 
Weiberkleider  -  anzulegen ,  und  überhaupt  mehr  oder 
minder  stark  entwickelte  Effemination)  hervortritt 


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—     472     — 

Die  geistige  Homosexualität  im  Sinne  Fuchs'  ist  nun 
etwas  Anderes,  als  die  unvollkommene  konträre  Sexual- 
empfindung Westphals.  Fuchs  geht  weiter  als  Westphal 
und  zählt  eine  Anzahl  von  Eigenschaften  als  angeblich 
typisch  flir  eine  besondere  Klasse  von  Menschen  auf, 
die  jedoch  viel  zu  wenig  charakteristisch  und  allzu  will- 
kürlich gewählt  erscheinen,  als  daß  ihr  Vorhandensein 
zur  Annahme  einer  sexuellen  Zwischenstufe  berechtigen 
könnte. 

Einen  Hauptfehler  begeht  Fuchs,  indem  er  schon 
aus  einer  einzelnen  Eigenschaft  auf  weibliche  Art,  auf 
sexuelle  Zwischenstufe  schließt. 

Weil  Wagner  gegen  die  Jagd  eine  Antipathie  ge- 
zeigt und  insofern  Weichheit  an  den  Tag  gelegt,  will  ihn 
Fuchs  Zwischenstufe  nennen!  Würde  man  diesen  oder 
jenen  gefühlvollen,  weichen  Zug  am  Mann,  diese  oder 
jene  entgegengesetzte  Eigenschaft  am  Weibe  für  ge- 
nügend erachten,  um  eine  Zwischenstufe  anzunehmen,  so 
würde  man  überhaupt  von  Mann  und  Weib  nicht  mehr 
sprechen  können.  Viel  eher  ließe  sich  als  ein  Zeichen 
weibischer  Artung  die  Vorliebe  Wagners  für  seidene, 
farbige  Schlafröcke,  überhaupt  sein  großes  Interesse  für 
äußeren  Prunk  und  Toilettesachen  anführen,  Einzel- 
heiten, die  Fuchs  gar  nicht  berührt. 

Dagegen  ist  es  nicht  statthaft,  mit  Fuchs  die  Sehn- 
sucht des  jungen  Wagner  nach  Freundschaft  an  und  für 
sich  als  Merkmal  einer  sexuellen  Zwischenstufe  anzu- 
sehen. Sehr  richtig  sagt  Fuchs:  ,,Der  Eünstlermensch, 
der  Mensch  mit  einer  verfeinerten  Kultur  gibt  sich  dem 
Zauber  der  schönen  Natur  in  der  Gemeinschaft  mit 
einem  Freunde  hin.  Der  Durchschnittsmensch,  der  Nor- 
malmensch, schwelgt  in  materiellen  Grenüssen.^^  Sehr  un- 
richtig folgert  aber  Fuchs,  daß  eine  solche  Sehnsucht 
nach  geistigem  Austausch  mit  einem  Freunde  das  Merk- 


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—     473     — 

mal  einer  sexuellen  Zwischenstofe  darstelle,  insbesondere 
berechtigt  nicht  zu  dieser  Auffassung  die  von  Fuchs  an- 
geführte, nicht  einmal  überschwengliche  oder  auffällig 
sentimentale  Stelle  aus  Wagners  Jugendnovelle  ,>Ein 
glücklicher  Abend'^  Ebenso  könnte  man  Homosexuelle, 
die  z.  B.  gern  mit  Damen  verkehren  und  die  Gesellschaft 
geistreicher  Frauen  lieben,  geistig  Heterosexuelle  nennen. 
Nur  einmal  findet  man  in  Wagners  Leben  die  Grenzen 
des  Freundschaftsgefühls  deutlich  überschritten,  nämlich 
in  seinem  Verhältnis  zu  König  Ludwig.  Hier  möchte 
ich  von  einem  ZwischengefÜhl  reden,  das  sich  auf  der 
Grenze  von  Liebe  und  Freundschaft  bewegte;  auch 
zwischen  diesen  Gefühlen  kommen  Übergänge  vor,  wie 
in  allen  Erscheinungen  in  der  Welt.  Derartige  schwär- 
merische, aber  nicht  direkt  homosexuelle  Gefllhle  mag 
man  geistig  homosexuelle  nennen  und  insofern  kann  die 
Bezeichnung  Wagners  als  eines  geistig  Homosexuellen 
berechtigt  sein. 

An  der  Überspannung  des  Begriffes  „Geistige  Homo- 
sexualität" leidet  auch  die  Erklärung  einiger  Wagner- 
schen  Gestalten.  Am  meisten  für  sich  hat  die  Deutung, 
Marke  sei  homosexuell,  obgleich  ich  kaum  glaube,  daß 
Wagner  ihn  als  solchen  gedacht. 

Trotzdem  manche  Übertreibungen  und  zu  gewagte 
Verallgemeinerungen  in  dem  Buche  von  Fuchs  störend 
wirken,  finden  sich  doch  bemerkenswerte  Gesichtspunkte 
darin  entwickelt;  besonders  verdienstlich  und  geistreich 
ist  die  Analyse  einzelner  Wagnerschen  Gestalten.  Das 
Ganze  hätte  durch  große  Kürzungen,  namentlich  auch 
durch  Vermeidung  langer  Auszüge  aus  fremden  Werken 
gewonnen. 

Gaulke,  Johannes,  Das  mannweibliehe  Moment  In 
der   Kunst   In   religiöser   Beleuchtung,    in   der 

„Gegenwart"  vom  13.  Februar  1904. 


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—     474     — 

Gaulke  weist  auf  die  Verbindung  männlicher  und  weiblicher 
Formen  in  den  antiken  Statuen  hin.  Die  Geschlechtsgrenzen  er- 
schienen bei  den  G<)tter8tatuen  fast  verwischt.  Der  antiken  Kunst 
fehlten  die  Typen  VoUmann  und  VoUweib.  Ähnliches  begebe 
uns  in  der  Mythe,  die  den  Göttern  ohne  Unterschied  des  eigent- 
lichen Geschlechts  bald  mfinnliche,  bald  weibliche  Eigenschaften 
andichte.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  bespricht  Gaulke  eiz|- 
gehend  den  Aufsatz  von  Römer:  „Über  die  androgynische  Idee 
des  Lebens". 

Gerllng,  Kelnhold,  Das  Geschlecht.  AufUäruDg  über 
alle  Fragen  des  Geschlechtslebens,  1903.  Verlag  von 
Möller  &  Borel,  G.  m.  b.  H.,  Berlin,  Prinzenstraße  95, 
Gratisbeilage  der  Zeitschrift  „Vene  Heilknnst^^ 

Das  Blatt  „Das  Geschlecht"  will,  wie  es  im  Vorwort  der 
ersten  Nummer  heißt,  namentlich  der  Homosexualität  besondere 
Aufmerksamkeit  widmen  und  als  populäres  Organ  über  den  Stand 
der  Frage  Aufklärung  geben.  Es  beabsichtige  keineswegs,  das 
gleichgeschlechtliche  Empfinden  zu  verherrlichen,  sondern  wolle 
nur  um  Duldung  der  homosexuellen  Liebe  werben.  —  Die  homo- 
sexuelle Frage  behandeln: 

Nr.  1.  Bau,  Hans,  Die  geistige  Homosexualität.  Ein 
günstiger  Bericht  über  das  Buch  von  Hanns  Fuchs:  „Richard 
Wagner  und  die  Homosexualität". 

Rau,  Hans,  Sittlichkeitsverbrechen?  Besprechung  des 
Falles  eines  wegen  Sittlichkeits vergebens  mit  einem  Schüler  ver- 
urteilten Oberlehrers.  Der  Oberlehrer  hätte  als  Kranker  dem 
Psychiater  und  nicht  dem  Richter  überantwortet  werden  sollen. 
Rau  bekämpft  die  Anschauung,  daß  man  Handlungen  gegen  die 
Sittlichkeit  als  Bosheit  und  Schlechtigkeit  auffasse.  Er  führt  den 
Fall  des  bekannten  Sozialisten  Dr.  Schweitzer  aus  dem  Anfang 
der  sechziger  Jahre  an  und  zitiert  zwei  interessante  Briefe  von 
Lasalle,  der  trotzdem  Schweitzer  nicht  habe  fallen  lassen  und  ihm 
auch  nachher  seine  Hochachtung  gezollt. 

In  dem  einen  Briefe  an  den  Frankfurter  Bevollmächtigten 
des  Arbeitervereins  heißt  es: 

„Auf  einer  wie  unnatürlichen  Verirrung  auch  das  Dr.  von 
Schweitzer  imputierte  Vergehen  beruht,  so  gehört  es  doch  offenbar 
zu  jenen,  die  mit  dem  Charakter,  worunter  ich  aber  die  sittliche 


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—     475     — 

Überzeugungstreue  und  Redlichkeit  eines  Menschen  verstehe,  die 
noch  dazu  —  worauf  es  hier  allein  ankommt  —  mit  seinem  poli- 
tischen Charakter  nicht  das  Geringste  zu  tun  haben.^' 

Und  in  einem  Schreiben  an  Dr.  Schweitzer  sagt  Lasalle: 
,, Angenommen,  daß  das  wahr  gewesen  sei,  was  damals  die 
Zeitungen  über  den  Grund  Ihrer  Verurteilung  brachten,  so  weiß 
icli  das  Eine,  daß  jene  bedauerliche  und  meinem  Geschmack  nicht 
begreifliche  Liebhaberei,  die  man  Ihnen  imputiert,  zu  jenen  Ver- 
gehen gehört,  die  nicht  im  geringsten  mit  dem  politischen  Cha- 
rakter eines  Mannes  etwas  zu  tun  haben. 

Ein  solches  Auftreten  (nämlich  die  infolge  der  Verurteilung 
eingetretene  allgemeine  Ächtung  Schweitzers,  namentlich  auch 
seitens  der  Parteigenossen,  Anm.  d.  Ref.)  einem  Manne  von  Ihrem 
Charakter  und  Ihrer  Intelligenz  gegenüber  beweist  nur,  wie  ver- 
wirrt und  philiströs  die  politischen  Begriffe  unseres  Volkes  noch 
sind.*' 

Anonym,  Homosexuelle  in  der  Ehe.  Ein  an  Gerling 
gerichteter  Brief  einer  an  einen  homosexuellen  Mann  verheirateten 
Ehefrau,  die  über  die  eigentliche  Natur  und  die  Ursache  der 
zwischen  ihr  und  ihrem  Manne  bestehenden  geistigen  Disharmonie 
durch  einen  öffentlichen  Vortrag  Gerlings  aufgeklärt  worden.  Seit- 
dem sie  wisse,  daß  die  Eigentümlichkeiten  ihres  Mannes  Äuße- 
rungen einer  natürlichen  Anlage  seien,  sei  ihr  das  Zusammenleben 
mit  ihm  leichter.  Sie  suche  auch  nicht  mehr  die  Natur  ihres 
Mannes  zu  bekämpfen  oder  sie  ihm  abzugewöhnen,  da  sie  die 
Macht  der  Psyche  anerkenne. 

Nr.  2.  Müller,  Dr.  August,  Homosexualität.  Erklärung 
der  Homosexualität  vom  Standpunkt  der  bekannten  Geruchstheorie 
von  Dr.  Jäger. 

Die  Disharmonie  gegen  weibliche  Duftstoffe  bringe  bei  den 
Homosexuellen  einen  Abscheu  vor  dem  Weibe  hervor  und  mache 
sie  impotent. 

Nr.  3  u.  4.  Schmidt,  Dr.  Alexander,  Monosexualität. 
Über  die  Schädlichkeiten  des  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  für 
den  Körper  existierten  noch  die  unsinnigsten  Anschauungen.  Des- 
halb hauptsächlich  wären  auch  die  schweren  Strafen  gegen  homo- 
sexuelle Betätigung  bisher  bestehen  geblieben. 

(Dieser  Grund  spielt  allerdings  heute  kaum  mehr 
eine  Rolle  in  der  Frage  des  §  175.    N.  P.) 


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_     476     — 

Es  sei  ein  verhängnisvoller  Irrtnm,  den  Homosexualismus  als 
Laster,  anstatt  als  Yerkehrang  eines  der  mächtigsten  Triebe  zu 
behandeln. 

Die  gewöhnliche  Betätigungsform  der  Homosexuellen,  die 
mutuelle  Onanie,  sei  weniger  schädlich,  als  die  einsame  Onanie. 
Aber  sogar  die  Pygisten  —  so  ekelhaft  ihre  Art  auch  dem  Nor- 
malen erscheine  —  täten  der  Gesellschaft  nichts  Übles. 

Jedenfalls  hätten  die  Mono-  und  Homosexuellen  einen  Vor- 
zug.   Sie  seien  keine  Weiterverbreiter  der  Syphilis. 

(Dieser  letztere  Satz  ist  nur  bedingt  richtig.    N.  P.) 

Nr.  4  u.  5.  Fleischmann,  Unterm  §  175  des  Beichs- 
Strafgesetzbuchs.  Abdruck  aus  dem  Schriftchen  von  Fleisch- 
mann: „Ungeahnte  Verbrechen". 

Nr.  5.  Eingesandt.  Beherzigenswerte  Ratschläge  eines 
Zuhörers  hinsichtlich  der  bei  der  öffentlichen  Aufklärung  über 
Homosexualität  zu  befolgenden  Taktik. 

Nr.  6  ist  mir,  weil  angeblich  vergriflFen,  nicht  bekannt 
geworden. 

Nr.  7.  Eau,  Hans,  Homosexualität  und  Darwinismus. 
Der  Darwinismus  beweise,  daß  die  Homosexualität  keine  Ent- 
artungstsrsch einung,  keine  naturwidrige,  den  Zwecken  der  Natur 
entgegengesetzte  Erscheinung  sei,  sonst  wäre  sie  im  Kampf  ums 
Dasein  wie  hundert  andere  Schädlichkeiten  schon  längst  ver- 
schwunden. 

Diese  Rechtfertigung  der  Homosexualität  steht  wohl 
auf  sehr  schwachen  Füßen.  Denn  sonst  ließen  sich  ja 
auch  alle  wirklichen  von  jeher  existierenden  Schädlich- 
keiten und  Entartungen  gutheißen. 

Adolph,  Dr.,  Der  Geschlechtstrieb.  Die  geschlecht- 
liche Anziehung  wird  nach  der  Jägerschen  Theorie  aus  der  Aas- 
dünstung  erklärt.    Der  Geschlechtstrieb  sei  Geruchssache. 

&ley,  E.,  Les  ab6rration8  de  rinstinct  sexuel,  in 

Etudes  de  psychologie  physiologique  et  pathologique. 
Paris,  1903,  Alcan. 

Diesen  Aufsatz  hat  Gley  schon  im  Januar  1884  in  der 
„Revue  philosophique"  veröflfentlicht. 


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—     477     — 

Er  nahm  an,  daß  die  Homosexualität  infolge  Grewöhnung 
und  Degeneration  erworben  werden  könne,  hat  aber  schon  damals 
hervorgehoben,  daß  es  Fälle  gebe,  wo  ohne  vorangehende  homo' 
sexuelle  Gewohnheiten  der  homosexuelle  Trieb  sich  gleichsam 
natürlich  und  notwendig  entwickele,  wo  es  sich  um  Naturspiele 
handle.  Das  Bemerkenswerte  an  diesem  Aufsatz  ist  besonders  der 
Umstand,  daß  Gley  zur  Erklärung  dieser  Fälle  bereits  auf  die 
doppelte  Geschlechtlichkeit  des  Embryo  hingewiesen  und  die  Ano- 
malie auf  eine  Störung  in  den  der  anatomischen  geschlechtlichen 
Konstitution  entsprechenden  nervösen  Eigenschaften  zurückgeführt, 
daß  er  schon  damals  von  einem  psychischen  Herrn aphrodismus, 
von  einer  weiblichen  Seele  in  einem  männlichen  Körper  ge- 
sprochen hat. 

Da  der  Aufsatz  im  Januar  1884  veröflFentlicht 
worden  ist,  gebührt  Gley  wohl  das  Verdienst,  als  Erster 
diese  Theorie  über  die  Entstehung  der  Homosexualität 
aufgestellt  zu  haben.  Kieman  und  Lydston  haben  später, 
Krafft-Ebing,  Hirschfeld  und  EUis  erst  in  den  Jahren 
1894 — 1896  ähnliche  Gedanken  ausgesprochen.^) 

In  einem  neu  hinzugefügten  Kapitel,  in  dem  er  verschiedene 
seitherige  Arbeiten  bespricht,  bemerkt  Gley,  daß  das  Problem  der 
Entstehung  der  Perversion  immer  noch  nicht  gelöst  sei,  daß  man 
immer  noch  nicht  wisse,  wie  die  Umkehrung  der  mit  der  Ge- 
schlechtsfunktion korrespondierenden  geistigen  Eigenschaften  mög- 
lich werde. 

Er  verwahrt  sich  endlich  dagegen,  daß  man,  wie  dies  ge- 
schehen sei,  seine  Angabe  vom  „weiblichen  Gehirn  im  männlichen 
Körper"  buchstäblich  auffasse.  Er  habe  damit  nur  zum  Ausdruck 


*)  Kieman,  in  American  Lancet,  1884,  und  in  Medi- 
cal  Standard,  November — Dezember  1888,  —  Frank  Lyd- 
ston, in  Philadelphia  Medical  and  Surgical  Recorder, 
September  1888,  soioie  in  Addresses  and  Essays,  1892,  S,  46 
und  246.  —  Krafft-Ebing,  Zur  Erklärung  der  konträren 
Sexualempfindung,  in  Jahrbücher  für  Psychiatrie  und 
Nervenheilkunde,  Bd.  XIII,  Heft  1,  1895,  —  Hirschfeld, 
Sappho  und  Sokrates,  1896.  —  EUis,  Die  Theorie  der 
konträren  Sexualempfindung,  im  Centralblatt  für  Nerven- 
heilkunde und  Psychiatrie,  Februar  1896. 


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—     478     — 

bringen  wollen ,  daß  die  Geschlechtlichkeit  nicht  nur  durch  den 
Bau  der  Geschlechtsorgane,  sondern  auch  durch  eine  Gesamtheit 
von  psychischen  und  nervösen  Eigenschaften  bedingt  werde. 

Oroß,  Hans,  Bespreehang  der  Jahrbtteher  lY  nnd  Y, 

im   Archiv  für   Kriminal -Anthropologie   und   Krimi- 
nalistik, Bd.  XIV,  Nr.  3  und  4. 

Groß  erkennt  nunmehr  direkt  an,  daß  die  Homosexuellen 
Übergänge  vom  Weib  zum  Mann  darstellen,  die  je  nach  ihrer 
somatischen  Entwickelung  auf  einer  der  unzähligen  Stufen  ständen, 
die  zwischen  den  beiden  Geschlechtern  von  einer,  man  möchte  fast 
sagen,  irrenden  Natur  aufgebaut  worden  seien. 

Man  müsse  eigentlich  sagen,  jedes  Individuum  habe  die 
sexuelle  Tendenz,  zu  welcher  es  durch  seine  Konstruktion  getrieben 
werde;  sei  diese  vorwiegend  männlich,  so  werde  das  Individuum 
vom  Weibe  angezogen,  und  umgekehrt,  und  da  diese  Konstruktion 
nicht  bloß  vom  Bau  der  Geschlechtsteile  abhänge,  so  könne  ein 
Individuum  zwar  nach  diesem  Bau  dem  einen  Geschlecht,  nach 
seiner  sonstigen  Konstruktion  jedoch  dem  anderen  angehöreu. 
Homosexualität  sei  also  Konstruktionsergebnis;  für  seine 
von  der  Natur  erhaltene  Konstruktion  könne  der  Einzelne  aber 
nicht  verantwortlich  gemacht  werden  und  so  sei  Homosexualität 
nicht  strafbar,  so  lange  sie  nicht  öffentliches  Ärgernis  errege  oder 
Jugendliche  verführe.  Das  sei  die  Konzession,  die  man  den 
Homosexuellen  sinngemäß  machen  müsse  und  die  man  ihnen  auch 
machen  wolle.  Sie  müßten  aber  den  Normalen  gestatten,  ihr 
Wesen  unnatürlich  und  abstoßend  zu  finden.  Sie  sollten  auch  die 
fortwährenden  Beweisversuche  unterlassen,  daß  sie  besonders  her- 
vorragende nnd  liebenswürdige  Menschen  unter  den  Ihrigen  be- 
säßen. 

0 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  die  Jahrbücher  beurteilend, 
stimmt  Groß  der  Forderung  auf  Beseitigung  des  §  175  bei,  da- 
gegen widerspricht  er  dem  Verlangen  nach  Gleichstellung  mit  den 
Normalen.  Letzteres  würden  die  Homosexuellen  nie  erreichen: 
Das  Unnormale  stoße  ab;  wolle  man  dies  ändern,  so  müsse  mau 
die  Naturgesetze  ändern;  damit  hätten  sich  die  Homosexuellen 
abzufinden. 

Das  Ziel  der  Homosexuellen  und  des  Komit^s  ist 
allerdings  noch  ein  weiteres  als  dasjenige  der  Aufhebung 


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—     479     — 

des  §  175.  Trotz  der  dieses  weitere  Ziel  ablehnenden 
Haltung  von  Groß  wird  aber  vielleicht  doch  eine  Ver- 
ständigung möglich  sein^  wenn  festgestellt  wird^  was  mit 
dieser  Gleichwertung  gemeint  sein  soll. 

Auch  ich  verstehe  darunter  nicht  übertriebene  For- 
derungen exaltierter  Homosexueller  oder  auch  nur  solche, 
wie  sie  die  ,^neueste  Bichtung^'  auf  ihre  Fahne  schreibt 
und  wie  ich  sie  weiter  unten  entschieden  und  in  aus- 
führlicher Begründung  zurückweise.  Demnach  bin  auch 
ich  der  Meinung,  daß  Gedanken  an  Ehen  zwischen  Homo-* 
sexuellen  oder  überhaupt  an  öffentlich  anerkannte  Liebes- 
verhältnisse, an  offene  Werbung  Homosexueller  um  er- 
korene Lieblinge,  an  Umwälzung  der  Kultur  auf  Grund 
einer  Anerkennung  der  homosexuellen  Liebe  Utopien  sind 
und  bleiben  werden.  Dagegen  ist  eine  Gleichwertung 
der  Homosexualität  mit  der  Heterosexualität  möglich 
und  wünschenswert  in  dem  Sinne,  in  dem  sie  schon  jetzt 
Groß  selber  anerkennt,  d.  h.  es  gilt,  die  Auffassung  zu 
verbreiten,  daß  die  Homosexualität  aus  der  angeborenen 
Natur  des  Homosexuellen  resultiert,  daß  sie,  wie  Groß 
sich  treffend  ausdrückt,  Eonstruktionsergebnis  ist  und 
daß  daher  keinem  Homosexuellen  aus  dieser  seiner  Natur 
und  aus  der  innerhalb  der  auch  dem  Normalen  gesetzten 
Grenzen  erfolgenden  sexuellen  Befriedigung  ein  Vorwurf 
des  Lasters  und  der  Unsittlichkeit  gemacht  werden  darf. 
Es  gilt  weiter  dafür  zu  sorgen,  daß  auch  im  praktischen 
Leben  aus  dieser  Anschauung  die  Eonsequenzen  gezogen 
werden,  daß  der  Homosexuelle  auch  wirtschaftlich  nicht 
wegen  seiner  homosexuellen  Natur  geschädigt  und  sozial 
geächtet  wird,  daß  also  der  Homosexuelle,  dessen  anor- 
males Liebesleben  ruchbar  geworden,  deswegen  nicht 
aus  der  Gesellschaft  ausgeschlossen,  der  homosexuelle 
Offizier  nicht  entlassen,  der  urnische  Beamte  nicht  dis- 
zipliniert wird  usw. 

Wird   das   wahre   Wesen    der   Homosexualität    all- 


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—     480     — 

gemein  anerkannt  und  in  dem  obigen  Sinne  die  Grleich- 
Wertung  der  Homosexualität  mit  der  Heterosexualität 
erreicht,  dann  wird  auch  der  bisherige  Ekel  der  Nor- 
malen gegenüber  den  Homosexuellen  beseitigt  oder 
wenigstens  stark  vermindert  Denn  dieser  Ekel  beruht 
zum  großen  Teil  auf  der  irrigen  Voraussetzung,  der 
Homosexuelle  sei  ein  durch  Ausschweifungen  herab- 
gekommener Heterosexueller.  Die  instinktive,  aus  der 
anders  gearteten  Natur  fließende  Abneigung  des  Nor- 
malen gegen  die  Homosexualität  an  und  für  sich  wird 
bleiben,  aber  deswegen  braucht  der  Ekel  der  Normalen 
gegen  den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  als  solchen  sich 
nicht  auf  den  homosexuellen  Menschen  zu  erstrecken. 
Dieser  Ekel  vor  dem  homosexuellen.  Menschen  wird  mit 
der  richtigen  Erkenntnis  des  Wesens  der  Homosexualität 
bei  den  meisten  Heterosexuellen  schwinden.  Mir  ist 
schon  jetzt  eine  Anzahl  von  Fällen  bekannt,  in  denen 
Homosexuelle  ihre  Natur  gewissen  Heterosexuellen,  zu 
denen  sie  volles  Vertrauen  haben  konnten,  geoffenbart 
haben.  So  weit  ich  Einblick  in  diese  Fälle  bekommen 
habe,  steht  für  mich  fest,  daß  der  über  das  Wesen  der 
Homosexualität  aufgeklärte  Heterosexuelle  nicht  das  min- 
deste Gef&hl  des  Abscheues  oder  Ekels  gegenüber  dem 
sich  ihm  anvertrauenden  Homosexuellen  empfindet. 

Auch  die  Behandlung  historischer  homosexueller  Persönlich- 
keiten hfilt  Groß  nicht  für  angebracht.  Diese  Aufsätze  könnten 
höchstens  dem  Zweck  der  Unterhaltung  von  Homosexuellen  dienen, 
ob  ein  Hößli,  eine  Maupin  usw.  homosexuell  gewesen,  sei  gleich- 
gültig. 

Hierin  kann  ich  Groß  nicht  beistimmen.  Zur  rich- 
tigen Beurteilung  historischer  Persönlichkeiten  und  ihrer 
Psyche  ist  die  Kenntnis  ihrer  sexuellen  Natur  von  größter 
Bedeutung.  Das  Studium  auch  weniger  berühmter  Uranier 
ist  von  hohem  psychologischen  Interesse  und  kann  die 
Wichtigkeit  der  Homosexualität  auf  den   verschiedenen 


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—     481     — 

Gebieten  des  Lebens  zeigen.  Die  Berechtigung  der  £r« 
forschung  merkwürdiger  geschichtlicher  Persönlichkeiten 
an.  und  fllr  sich  —  mögen  sie  nun  mehr  oder  weniger 
berühmt  sein  —  hat  bisher  wohl  niemand  geleugnet 
Warum  diese  Berechtigung  dem  Studium  über  homo- 
sexuelle Persönlichkeiten  aberkennen? 

Endlich  wendet  sich  Groß  gegen  das  Oberhandnehmen  der 
homosexuellen  Literatur  nnd  wiederholt  seine  schon  im  vorigen 
Jahre  ausgesprochene  Befürchtung,  Unentschiedene  könnten  durch 
den  Einfluß  dieser  Literatur  homosexuell  werden.  Er  meint,  auch 
bisherige  Gegner  des  §  175  könnten  bedenklich  werden,  wenn 
diese  Produktion  und  deren  literarische  Unterstützung  sich  steigere. 

Ich  kann  in  diesem  Punkte  nur  auf  meine  Torj  ährige 
Erwiderung  verweisen  und  gleichzeitig  auf  Näckes  An- 
sicht, daß  gegen  eine  anständige  homosexuelle  Literatur 
—  und  zwar  auch  belletristische,  der  gerade  zahlreiche 
interessante  und  psychologisch  bedeutsame  Probleme  ge- 
boten würden  —  nichts  einzuwenden  sei. 

O^randmaim,  Wer  ist  der  MSrder?  Das  Verbrechen  des 
Sadisten  Dippold.  Aufklärungen  über  Sadismus, 
Masochismus  ^  Fetischismus  und  sonstige  konträre 
Sexualempfindungen.  Pößneck  in  Thüringen,  Schnei- 
ders Nachf. 

Das  Schriftchen  gibt  einen  Bericht  über  die  Verhandlung 
des  Prozesses  Dippold,  dem  einige  kurze  Bemerkungen  über  die 
geschlechtlichen  Anomalien  vorangehen ,  wobei  Verfeisser .  den 
Fehler  begeht,  die  verschiedensten  Anomalien,  wie  das  schon  im 
Untertitel  geschehen,  unter  dem  Begriff  der  '„konträren  Sexual- 
empfindung^'  zusammenzufassen. 

Konträre  Sexualempfindung  bedeutet  lediglich  gleich- 
geschlechtliche Liebe  und  hat  an  und  für  sich  mit  Sadis- 
mus, Masochismus  usw.  nichts  zu  tun. 

Das  Schriftchen  hebt  hervor,  daß  die  Kenntnis  über  die  Ver- 
breitung der  sexuellen  Anomalien   mehr  verallgemeinert  werden 
Jahrbuch  VI.  31 


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—     482     — 

müsse»  damit  jedermann  vor  gemeingefährlichen  Individuen,  wie 
Dippold,  auf  der  Hut  sein  könne.  Der  Prozeß  Dippold  habe  ge- 
zeigt, daß  sogar  wissenschaftlich  gebildete  Leute  eine  grobe  Un- 
kenntnis der  einschlägigen  Fragen  und  eine  Unsicherheit  des 
Urteils  verrieten,  die  Staunen  errege. 


Hafteer,  Hermann,  ünzaeht.  Separatabdruck  aus  dem 
Don  Quixote,  Nr.  3.  Verlag  des  Don  Quixote, 
Wien  I,  Bauernmarkt.     60  Pfg. 

Das  Schriftchen  geißelt  in  beredten,  oft  etwas  populär  derben 
Worten  die  Verfolgung  der  homosexuellen  Liebe  und  wendet  sich 
besonders  gegen  die  Anschauungen  Wachenfelds,  wie  er  sie  in 
seinem  Buche  „Homosexualität  und  Strafgesetz^'  ausgesprochen. 
Wachenfeld  sei  dem  Zuchtbullen  zu  vergleichen,  der  in  blinder 
Wut  sich  auf  die  wehrlosen  angeschirrten  Zugochsen  stürze,  da 
ihm  der  Konträrsexuelle  dasselbe  Ärgernis  gebe,  wie  der  Ochse 
dem  Bullen.  Jurist  und  Bulle  fänden  sich  auch  in  der  prin- 
zipiellen Ignorierung  des  Nutzwertes  solcher  Mittelstufen  von 
Mann  und  Weib  zusammen. 

Die  falsche  Anschauung  Wachenfelds  von  dem  angeblichen 
Untergang  der  Völker  infolge  der  Homosexualität  sowie  seine 
sonstigen  unhaltbaren  Theorien  werden  bekämpft. 

Die  konträre  Sexualempfindung  entstehe  ganz  spontan  als 
naturliches  Mittel-  und  Übergangsglied  von  einem  Greschlecht 
zum  anderen.  Es  gebe  aber  auch  eine  durch  elterliche  Schuld 
angezeugte  Homosexualität.  Wenn  nämlich  zwei  Eltern  sich 
haßten,  übertrage  sich  dieser  Haß  oft  auf  das  Kind  in  Grestalt 
der  konträren  Neigung.  Ähnlich  könne  Homosexualität  ent- 
stehen, wenn  z.  B.  eine  bigotte  Ehefrau  selbst  den  ehelichen 
Geschlechtsverkehr  als  Sünde  betrachte,  endlich  auch  aus  Ehen 
Konträrer.  Die  angezeugte  und  die  hereditäre  Form  der  kon- 
trären Sexualempfindung  seien  nichts  anderes  als  Heilungs versuche 
der  gütigen  Natur,  um  durch  schmerzloses  Aussterbenlassen  die 
schlimmen  Folgen  menschlicher  Habgier  und  widernatürlichen 
Hasses  zu  beseitigen.  Jurist  und  Theologe  störten  in  ihrer  Blind- 
heit, die  den  heilsamen  Willen  der  Natur  nicht  zu  erkennen  ver- 
möge, diesen  raschen,  in  einer  Generation  schon  zu  Ende 
gehenden  Heilungsprozeß  und  züchteten  durch  ihren  Eingriff  das 
Unheil  weiter. 


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—     483     — 

Herman,  0^.,  Oenesis.  Bas  Gesetz  der  Zengung. 
5.  Bd.  Libido  und  Manla.  Untersuchungen  über 
Sexualprobleme.  Leipzig,  1903,  Verlag  von  Arwed 
Strauch. 

Von  der  Behauptung  ausgehend,  daß  die  materiaüstische 
Naturforschung  überwunden  und  nicht  f&hig  sei,  die  Fragen  des 
Sexualtriebes  befriedigend  zu  lösen,  will  Herman  zu  ihrer  Er- 
forschung nicht  bloß  den  Intellekt,  sondern  besonders  die  Intui- 
tion zu  Hilfe  nehmen.  Die  sexuellen  Anomalien,  die  er  unter 
dem  Begriff  „Mania**  —  nach  dem  Verfasser  ein  ungesundes,  un- 
heimliches Wesen  —  zusammenfaßt,  hätten  ihre  Ursachen  in  dem 
Vorkommen  aller  möglichen  Übergänge  zwischen  dem  typischen 
Weibe  und  dem  typischen  Manne. 

In  jedem  Weibe  seien  männliche,  in  jedem  Manne  weibliche 
Keime  und  Eigenschaften  enthalten.  Jeder  Mensch  sei  ein  ver- 
steckter Zwitter  und  diese  latente  Androgynie  aller  mikrokosmi- 
schen Kreaturen  sei  wesenseins  mit  der  Bipolarität  des  makro- 
kosmischen Universums.  Diese  Androgynie,  die  Herman  wenig 
geschmackvoll  „Beideinigkeit"  nennt,  sucht  Verfasser  schon  in  der 
Entstehung  der  Geschlechtsorgane  nachzuweisen. 

Wo  die  sexuelle  Differenzierung  aus  dem  ursprünglich  neu- 
tralen Embryo  nicht  genau  sich  vollzöge,  entständen  bisexuelle 
Mißbildungen. 

Die  Libido  sexualis  erklärt  Herman  aus  dem  Gesetz  der 
Polarität,  der  Anziehung.  Alle  Menschen  könne  man  einteilen  in 
Asexnelle,  bei  denen  die  geschlechtliche  Polaritätsspannung  noch 
derart  neutralisiert  sei,  daß  ein  sexuelles  Gleichgewicht  bestände 
und  sie  keiner  zweiten  Person  zur  Befriedigung  bedürften.  In 
Bisexuelle,  welche  den  embryonalen  Zwitterzustand  in  irgend  einer 
^sycho-physischen  Form  schwankender  Beidgeschlechtlichkeit  ^ent- 
wickelt hätten,  normal  und  anormal.  In  Suprasexuelle,  die  die 
Vita  sexualis  überwunden  hätten. 

Zu  dem  Bisexualismus  rechnet  Herman  einmal  den  Herm- 
aphroditismus verus  und  den  Pseudohermaphroditismus.  Zu  letz- 
terem zählt  er  —  hierbei  völlig  vom  üblichen  wissenschaftlichen 
Sprachgebrauch  abweichend,  welcher  unter  Pseudohermaphroditis- 
mus nur  die  Mißbildungen  an  den  Geschlechtsteilen  versteht  — 
auch  alle  die  Fälle,  wo  überhaupt,  auch  ohne  solche  Mißbildungen, 
sekundäre  Geschlechtscharaktere  des  anderen  Geschlechts  oder 
konträrer  Trieb  auftreten. 

31* 


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—     484     — 

Herman  wirft  die  Frage  aaf,  ob  es  überhaupt  rein  hetero- 
sexaelle  Normalmenschen  gebe,  ob  nicht  etwa  die  Normalität 
lediglich  darin  bestehe,  daß  die  latenten  androgynen  Spannungen 
nicht  den  geeigneten,  die  Reaktion  auslösenden  Reizen  begegneten. 

Unter  dem  Asexualismus  erörtert  Herman  die  Infantilen  und 
Wolfskinder,  die  Kastration,  den  Autoerotismns  und  die  Masturbation. 

Unter  dem  Bisezualismus  bespricht  der  Verfasser  zunächst 
die  normale  Bisexualität.  Schon  beim  normalen  Menschen  begegne 
man  oft  einer  bisexuellen  Geistesanlage.  Beispiele:  Das  oft  weib- 
lieh  zart  anmutende  Seelenleben  großer  Männer,  der  Emanzipations- 
kampf der  modernen  Frau.  Die  Bücher  der  Männer  verrieten 
heutzutage  immer  mehr  weibliches,  ja  weibisches  Empfinden,  die 
der  Frauen  immer  mehr  männliche  Denkweise.  Ein  weiterer  Be- 
weis für  die  normale  Bisexualität  sei  beim  Manne  die  Andeutung 
eines  monatlichen  Rhythmus  des  Pulses  analog  der  monatlichen 
Funktion  beim  Weibe.  Auch  periodische  Sexualblutungen  seien 
beim  Manne  schon  festgestellt  worden. 

Im  Gegensatz  zur  normalen  Bisexualität  unterscheidet  Her- 
man die  anormale,  die  aus  einer  gestörten  Harmonie  der  normalen 
entstehe.  Er  zählt  dazu  nicht  nur  das  physische  Zwittertum, 
sondern  beinahe  alle  sexuellen  Anomalien,  denen  er  spezielle  Ab- 
schnitte widmet. 

Ein  großes  Kapitel  behandelt  den  Uranismus  und  die  Les- 
bomanie.  Die  Bestrebungen  des  Komitees  billigt  er  und  verlangt 
die  Aufhebung  des  §  175.  Auch  bei  männlichen  äußeren  Ge- 
schlechtsteilen handle  es  sich  beim  Homosexuellen  um  ein  ver- 
stecktes Weib.  Bei  der  Existenz  der  zahlreichen  Zwischenstufen 
zwischen  den  sexuellen  Polen  könne  man  niemals  mit  Sicherheit 
behaupten^  man  habe  es  mit  Liebe  zwischen  Personen  gleichen 
Geschlechts  zu  tun. 

Die  Entstehung  des  homosexuellen  Triebes  durch  Vererbung 
wird  verfochten  auf  Grund  der  Theorie  Ki-aflPt-Ebings  von  der 
auch  im  cerebralen  Zentrum  vorhandenen  Doppelgeschlechtlich- 
keit. Jedenfalls  finde  sich  unter  den  Vererbungstendenzen  sowohl 
die  Neigung  zum  männlichen  als  zum  weiblichen  Geschlecht,  so 
daß  für  eine  Grundlage  dieser  beiden  Richtungen  des  Geschlechts- 
triebes von  vornherein  alles  gegeben  zu  sein  scheine.  Ja,  man 
könne  noch  weiter  gehen.  Da  von  der  Mutter  auch  die  Ver- 
erbungstendenzen von  deren  Vater  stammten  und  vom  Vater  die 
von  dessen  Mutter,  so  würde  selbst  ein  Individuum  genügen,  um 
HeteroSexualität  und  Homosexualität  auf  die  Nachkommen  zu 
vererben. 


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—     485     — 

Unter  Benutzung  der  Theorie  von  Moll  und  derjenigen  von 
Dessoir  über  das  Stadium  des  undifferenzierten  Greschlechtstriebes 
zur  Zeit  der  Pubertät  betont  Herman,  daß  man  psychische  und 
somatische  (d.  h.  Vorhandensein  der  körperlichen  Zeichen  dafür) 
Pubertftt  unterscheiden  müsse  und  daß  die  Stadien  des  differen- 
zierten und  undifferenzierten  Geschlechtstriebes  nur  an  die  psychi- 
sche Pubertftt  anknüpfen  könnten.  Vor  der  somatischen  Pubertät 
beständen  mitunter  schon  Neigungen  sexuellen  Charakters;  mit 
dem  weiteren  Fortschreiten  der  psychischen  Pubertät  erfolge  oft 
eine  Umwandlung  der  undifferenzierten  sexuellen  Neigungen, 
und  zwar  so,  daß  die  bisherigen  homosexuellen  Triebe  den 
heterosexuellen  wichen.  Dies  geschähe  zweifellos  nicht  infolge 
äußerer  Einflüsse,  sondern  auf  Grund  ererbter  Grundlage  ointer 
der  Wirkung  der  Pubertät  Jedenfalls  sei  nicht  in  dem  Um- 
stände, daß  die  Homosexualität  sich  vor  der  Pubertät  zeige,  der 
Hauptgrund  dafür  zu  erblicken,  daß  sie  ererbt  sei,  sondern  mehr 
darin,  daß  zur  Zeit  der  Pubertät  die  Homosexualität  sich  (nicht 
in  die  Heterosexualität  umwandle. 

Sämtliche  Anomalien  will  Herman  aus  seinem  Polaritäts- 
gesetz erklären,  wonach  der  lebende  Körper  in  allen  Dingen  ein 
elektro- chemisches  polargespanntes  System  sei  und  bei  manchen 
Individuen  psychophysische  Hemmungen  und  Isolationen  weg- 
fielen. In  dem  gleichen  Gesetz  der  polaren  Wesensart  des  Ge- 
schlechtslebens, wie  sie  sich  in  der  meistens  latenten,  oft  aber 
phänomenalen  Hermaphrodisie  des  Menschen  kundgebe,  sucht  er 
auch  den  Schlüssel  zur  Deutung  der  Erscheinungen  des  Sexual - 
Okkultismus  (Incubi,  Succubi,  Vampyrismus,  Satanismus),  über  die 
er  sich  des  näheren  verbreitet. 

Die  Ausführungen  Hermans  über  das  Angeborensein 
der  Homosexualität  und  ihre  Entstehung  auf  Grund  der 
bisexuellen  Anlage  des  Menschen  sind  das  Beste  an  dem 
Buche.  Auch  die  besondere  Behandlung  der  —  bisher 
gewöhnlich  vernachlässigten  —  normalen  Bisexualität  und 
der  EUnweis  auf  ihre  Bedeutung  für  das  Verständnis  der 
Vita  sexualis  verdient  Beachtung. 

Der  Versuch  Hermans,  für  die  sexuellen  Probleme 
eine  neue  Lösung  zu  finden,  ist  anerkennenswert  und 
sein  „Polaritätsgesetz^^  bietet  ein  nicht  unbedeutendes 
Interesse,   doch  wäre  eine   tiefere  wissenschaftliche  Ejr- 


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—     486     — 

gründung  und  Klarlegang  des  Gesetzes  am  Platze  ge- 
wesen. 

Das  Buch  enthält  manchen  anregenden  Gedanken, 
aber  die  folgerichtige,  systematische  Durcharbeitung  läßt 
zu  wünschen  übrig.  Herman  hat  sehr  viel  von  den  ver- 
schiedensten Forschem  zusammengetragenes  Material  be- 
nutzt, besonders  in  hohem  Maße  die  Arbeiten  Molls. 
Dies  hat  aber  Herman  nicht  gehindert,  im  Vorwort  zu 
behaupten,  Moll  entwickele  in  seiner  ,,Libido  sexualis'^ 
über  Angeborensein  und  Erworbensein  „derart  verworrene 
philosophelnde  Gedankenblüten,  daß  man  erschaudern 
müsse  über  die  Zerrüttung  aller  vernünftigen  Reflexion, 
welche  ein  unverständiger  und  unverstandener  Darwinis- 
mus in  den  Gehirnwänden  unserer  empirischen  Natur- 
forscher angerichtet  habe". 

In  einem  Buche,  das  kein  Sachverständiger  auch 
nur  in  den  entferntesten  Vergleich  stellen  wird  mit  Molls 
bedeutsamen,  in  bewundernswürdiger  Klarheit,  Logik  und 
Schärfe  gehaltenen  Untersuchungen  über  die  Libido  sexua- 
lis,  erscheint  der  Ausspruch  Hermans  als  eine  arge  Über- 
hebung und  eine  völlig  falsche  Beurteilung. 

Hirsi^hfeld,  Dr.  Magnus,  Das  umisehe  Kind,  in  der 

Wiener  medizinischen  Presse,  1903,  Nr.  39  und  40, 
sowie  in  der  Zeitschrift  für  Kindererforschung,  Die 
Kinderfehler,  Nr.  2.  Vortrag,  gehalten  auf  der  75.  Ver- 
sammlung Deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  zu 
Kassel. 

Der  Vortrag  ist  fast  ganz  die  Wiedergabe  des  gleichlautenden 
Kapitels  aus  „Der  umisehe  Mensch^^ 

Eine  erfreuliche  Tatsache,  daß  auf  der  Versamm- 
lung der  Naturforscher  ein  wirklicher  Sachverständiger 
über  Homosexualität  gesprochen  hat. 

In  der  dem  Abdruck  des  Aufsatzes  in  der  Zeitschrift  „^ie 
ELinderfehler'^   beigegebenen   Nachschrift   bezeichnet   die   Schrift- 


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—     487     — 

leitung  die  Anjsfuhrangen  Hirschfelds  als  intereseaut  und  beachtens- 
werty  fügt  aber  etwas  skeptisch  hiuza,  es  frage  sich,  ob  alle  die 
ErscheinuBgen  unbedingt  homosexuell  zu  deuten  seien,  und  be- 
merkt in  einem  durch  die  anscheinende  Unkenntnis  der  Materie 
entschuldbaren,  etwas  gehflssigen  Tone,  es  frage  sich  auch,  ob 
mancher  haltlose  Urning  seine  unverständigen  widernatürlichen 
Handlungen  nicht  durch  solche  Ausdeutungen  zu  beschönigen 
trachte. 

Hoy,  Senna,  Bas  dritte  Oesehlecbt.  Ein  Beitrag  zur 
Volksaufkläning.  Unter  Mitarbeit  von  Aug.  Behnsen, 
Caesareon,  Adolf  Brand,  Panl  Enderling  und  mit 

Benutzung  zweier  im  ^^  Kampf ^^  erschienenen  Artikel 
herausgegeben  von  Senna  Hoy.  Selbstverlag  des 
Herausgebers,  Februar  1903.     10  Pf. 

Das  Schriftchen  will  über  das  Wesen  der  Homosexualität 
aufklären  und  die  Ungerechtigkeit  des  §  175  nachweisen. 

Senna  Hoy,  „Das  dritte  Geschlecht'',  hebt  unter  anderem 
hervor,  daß  das  Gef&hl  des  „Außer -dem- Gesetz- Lebens '^  das 
sexuelle  Moment  bei  den  Homosexuellen  zu  fast  ausschließlicher 
Herrschaft  gelangen  lasse.  Er  bemerkt  jedoch,  daß  er  unter  den 
Homosexuellen  die  begabtesten,  edelsten  Menschen  gefunden  habe. 
Bei  den  meisten  sei  das  gesamte  Wesen  vom  Gewohnten  ab- 
weichend, nicht  bloß  die  sexuelle  Seite.  Hoy  betont,  daß  er  nicht 
in  eigener  Sache  spreche,  aber  nach  reiflichster  Überlegung  sich 
entschlossen  habe,  für  unschuldig  Verfolgte  einzutreten. 

B  e h  n s  e n,  „Homosexualität  und  Entwickelungslehre^',  zeigt  die 
Homosexualität  als  natürliche  Erscheinung,  die  auf  Grund  der  in 
jedem  Menschen  vorhandenen  Doppelnatur  sich  entwickle.  Durch 
den  §  175  würden  viele  nützliche  Mitmenschen  in  die  Finsternis 
einer  geheimen  Lebensführung  gestoßen,  der  Lebensfreude  beraubt 
und  in  ihrer  Tatkraft  gelähmt  Dadurch  würden  dem  Staate  zu 
seinem  Nachteil  wertvolle  Kräfte  auf  allen  Geoieten  entzogen. 
Die  Aufhebung  des  §  175  werde  offenbar  zur  Reinigung  sittlicher 
und  zur  Hebung  wirtschaftlicher  Verhältnisse  beitragen. 

Paul  Enderling  wendet  sich  in  dem  Abschnitt  „Die  Homo- 
sexualität —  eine  Krankheit?^'  gegen  die  Auffassung,  als  sei  die 
Homosexualität  eine  Ejrankheit,  und  beruft  sich  zum  Beweis  des 
Gegenteils  auf  die  alten  Griechen.     Caesareon  gibt  einen  Brief 


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—     488     — 

wieder,  den  er  an  die  „Laterne''  gesandt  als  Erwiderung  auf  den 
gehässigen  Artikel  von  Alexis  Schleimer,  ,,Das  perverse  Problem^'. 
In  diesem  Schreiben  bekennt  sich  Oaesareon  selbst  als  Homo- 
sexuellen und  schildert  seine  eigenen  Liebesgef&hle. 

Diese  Broschüre  ist  nicht  eine  der  schlechtesten  von 
den  in  den  letzten  Jahren  zahlreich  erschienenen  Volks- 
und Aufklärungsschriftchen.  An  die  beste  dieser  Schriften, 
Hirschfelds  „Was  soll  das  Volk  vom  dritten  Geschlecht 
wissen?",  reicht  sie  aber  nicht  heran,  es  fehlt  ihr  die 
wissenschaftliche  Gediegenheit  und  der  ruhige,  von  un- 
nützer Überschwenglichkeit  freie  Ton.  An  manchen 
Stellen  finden  sich  Übertreibungen,  z.  B.  in  der  Schil- 
derung der  Homosexuellen  als  fiast  stets  außergewöhn- 
lich begabter,  mit  besonders  schönen  Charaktereigen- 
schaften ausgestatteter  Menschen. 

Eumlg,  Der  Neo -Nihilismus,  Antl- Militarismus, 
Sexualleben.  (Ende  der  Menschheit)  Leipzig,  1901, 
Spohr. 

Die  Philosophie  Kuruigs  gipfelt  in  dem  Satze,  daß  das  Leben, 
der  Wille,  das  Dasein  selbst  stets  ein  Leiden  sei,  daß  Erzeugung 
von  Nachkommen  bedeate,  Leben  und  Leiden  anderen  Wesen 
aufbürden,  neue  Menschen  unglücklich  machen,  daß  daher  die 
Erzeugung  zu  verwerfen  sei  und  der,  welcher  keine  neuen  Menschen 
zeugen  wolle,  moralischer  handle  als  der,  welcher  Nachkommen 
in  die  Welt  setze.  Von  dieser  philosophischen  Anschauung  aus 
bewertet  Kumig  das  gesamte  Geschlechtsleben  und  insbesondere 
die  Homosexuiüität  anders,  als  es  gewöhnlich  geschieht.  Die 
Homosexualität  wird  berührt  S.  61,  76—80,  187—140,  159.  Viele 
Erscheinungen  auf  sexuellem  Gebiete,  insbesondere  die  Homo- 
sexualität, die  iieute  als  krankhaft,  als  anormal  angeschrieben 
ständen,  es  aber  durchaus  nicht  immer  seien,  verdienten  keines- 
wegs Bekämpfung  mit  Grundsätzen  und  Hilfsmitteln,  welche  die 
Prokreation  für  das  Höhere  erklärten.  •  Wenn  sich  die  Ärzte  ein- 
mal auf .  den  hochmoralischen  Standpunkt  der  Verneinung  des 
WiUens  zum  Leben  aufschwingen  würden,  so  würden  sie  die 
Homosexuellen  nicht  mehr  „heilen"  wollen,  um  aus  ihnen  Familien- 
väter zu  machen.    Auch  die  Selbstmorde,  die  Homosexuelle  wegen 


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—     489     — 

ihres  Trieblebens  begingen,  seien  kein  Grand  zu  Heilnngsver- 
snchen.  Die  Ärzte  s&hen  nicht,  Haß  die  eigentliche  Triebfeder 
zum  Selbstmord  in  diesen  Fällen  der  Pessimismus  des  betreffenden 
Individuums  und  sein  hochherziges  Verschmähen  der*  Prokreation 
gewesen  sei. 

Kumig  verlangt  gleichfalls  Beseitigung  des  §  175  und  be- 
gehrt in  allen  Fällen  sexueller  Delikte  vollkommene  Öffentlichkeit 
der  Gerichtsverhandlungen,  namentlich  um  das  Publikum  über  die 
Erpresserschliche  au&i^ären  und  die  Erpresser  besser  zu  ent- 
larven. Er  will,  daß  bei  Beurteilung  von  Sexualdelikten  kein 
Unterschied  gemacht  werde,  ob  Homosexuelle  oder  Heterosexuelle 
daran  beteiligt  seien. 

In  unserer  optimistischen  judäisierten  „Kultur"-Umgebung 
stehe  die  Homosexualität  in  Mißkredit  Vielleicht  weniger  wegen 
des  Charakters  dieser  oäer  jener  sexuellen  Handlimg,  als  deshalb, 
weil  ein  „überzeugter**  Homosexueller  grundsätzlich  nicht  prokreiere, 
dies  Nichtprokreieren  ein  Symptom  von  Pessimismus  und  der 
Pessimismus  in  unserer  „Kultur**-Umgebung  ganz  verrufen  sei. 

Einen  kleinen,  sehr  kleinen  Schopenbaner,  einen 
winzigen  Hartmann,  eine  blasse  Abart  der  gewaltigen 
philosophischen  Systeme  dieser  großen.  G-eister  wird  man 
in  Kumigs  Broschüre  finden.  Kumig  bietet  nicht  viel 
mehr  als  philosophische  Variationen  im  Geiste  eines 
ernsten  Tagesjournalisten.  Er  sieht  alles  Heil  für  die 
Erlösung  vom  unseligen  Willen  zum  Leben  mehr  in  der 
Vermeidung  seiner  äußeren  Wirkungen,  als  in  der  Ver- 
neinung dieses  Willens  selber.  Daher  seine  höhere  Be- 
wertung der  die  Eindererzeugung  verhindernden  Homo- 
sexualität. Aber  gerade  bei  den  meisten  Homosexuellen 
tritt  der  Wille  zum  Leben  an  und  für  sich  in  der 
sexuellen  Begehrlichkeit  lebhaft  zutage  und  der  Selbst- 
mord der  Homosexuellen  ist  nicht  auf  die  Verneinung 
des  Willens  zum  Leben,  sondern  auf  eine  Überschätzung 
des  Willens  zum  Leben,  auf  die  Verzweiflung  wegen  der 
Schwierigkeiten  und  Hindemisse  in  der  Bejahung  des 
Willens  zum  Leben  zurückzuführen. 

Allerdings  leidet  dieser  Wille  zum  Leben  beim  Homo- 
sexuellen Schiffbruch,  indem  er  nicht  sein  höchstes  Ziel, 


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—     490     — 

die  Erzeugung  tod  Nachkommen,  erreichen  kann.  Dieser 
Schiffbruch,  diese  Unmöglichkeit,  den  Zweck  des  Willens 
zum  Leben  zu  erfüllen,  ist  nun,  wie  Kumig  mit  Recht 
ausführt,  eine  Hauptursache  der  Verachtung,  welche  die 
diesen  Zweck  als  das  Höchste  bewertenden  Hetero- 
sexuellen den  Schiffbrüchigen  in  der  Erfüllung  des  Wil- 
lens zum  Leben,  den  Homosexuellen,  entgegenbringen. 

Philosophische  Systeme  werden  den  in  der  All- 
gemeinheit regen  Willen  zum  Leben  und  die  Hoch-* 
Schätzung  seiner  Wirkungen  nicht  beseitigen  können, 
trotz  aller  Schilderungen  von  dem  Unglück  und  Elend, 
die  das  Leben  und  der  Wille  zum  Leben  zur  Folge 
haben.  Aber  sie  werden  immerhin  dazu  beitragen,  durch 
Veranschaulichung  dieses  Elends  den  Wert  des  auf  Er- 
zeugung von  Nachkommen  und  Vermehrung  des  Elends 
hinzielenden  Lebenstriebes  herabzusetzen,  sie  werden  mit- 
helfen, eine  weniger  verächtliche  Anschauung  über  die 
zwar  vom  Willen  zum  Leben  beseelten,  aber  zur  Er- 
reichung seiner  Wirkungen  unfähigen  Homosexuellen  her- 
beizuführen. 

La  Cara,  La  base  organica  dei  perrertimenti  ses- 
suaii  e  la  loro  Profllassl  sociale.  Torino,  1902, 
114  S.,  L.  2.0 

Diese  geistreiche  Schrift  mit  vielen  ausgezeichneten  Be- 
merkungen, besonders  bez.  der  Familien-  und  Schulerziehung,  geht 
weniger  auf  die  klinische  Darstellung  der  sexuellen  Perversionen 
(Masochismus,  Sadismus,  Fetischismus,  Inversion)  ein,  als  vielmehr 
auf  ihre  ätiologische ,  indem  zuerst  die  Meinungen  der  verschie- 
denen Hauptautoren  erwähnt  und  kritisiert  werden,  dann  die 
eigenen,  sachlich  meist  sehr  fragwürdigen,  des  Verfassers  folgen. 
Da  das  Thema  eigentlich  ein  rein  ärztliches  ist,  hätte  er  des 
Juristen  Niceforo  nicht  zu  erwähnen  brauchen.  Ziemlich  über- 
flüssig ist,  die  Auffassungen  Lombrosos  anzuführen,  der  in  sexuellen 

*)  Die  Besprechung  rührt  von  Med.- Bat  Dr.  P.  Näcke  in 
Hubertusburg  her. 


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—     491     ~ 

Dingen,  bei  tins  wenigstens,  absolut  nicht  als  Autorität  gilt.  Ver- 
fasser kennt  keine  scharfe  Grenze  zwischen  Perversion  und  Laster, 
da  beide  für  ihn  angeboren  sind  (?  Ref.).  Die  ersteren  sind 
Geisteskrankheiten  (immer?  Ref.);  heilbar  sind  alle,  die  daran 
leiden,  wenn  sie  zum  Arzt  gehen  und  noch  nicht  „tief  degeneriert^* 
sind(?).  —  Die  bleibende  Onanie  wird  bewirkt  durch  die  taktile 
und  psychische  Unempfindlichkeit  des  Penis  (?  Ref.),  was  fast 
nur  bei  großem  Gliede  eintritt  (?  Ref.).  Eins  der  Anzeichen  ist 
auch  das  Nägelkauen  (immer?  Ref.).  Auch  der  Masochist  hat 
einen  relativ  wenig  empfindlichen  Penis  (Beweis?  Ref.)  und  viel- 
leicht gibt  der  Nervus  pudendus  Reize  an  die  nates  ab  (!  Ref.). 
Der  Sadismus  ist  eine  Form  der  Epilepsie  oder  Hysteroepilepaie 
oder  folgt  ihr  nach  (?  Ref.).  Der  Cunnilingns  ist  manchmal  eine 
Art  Fetischismus  oder  „Mixoskopie"  oder  des  „erotischen  Altruis- 
mus^' usw.  (?  Ref.).  Alle  Homosexuellen  lügen  (?);  es  gibt  nicht 
nur  aktive  Päderasten;  die  Päderastie  kann  man  gut  mit  der 
Theorie  von  Mantegazza  erklären  (?). 

Verfasser  hat  von  Homosexualität  also  recht  selt- 
same Begriffe  und  auch  sonst  bietet  das  interessante 
Buch  der  Kritik  viele  Angriffspunkte  dar. 

Leuß,  Hans,  Aus  dem  Zuchthause.     Verbrecher  und 
Strafrechtspflege.    Berlin,  Verlag  von  Johannes  Rade. 

In  dem  bekannten  beherzigenswerten  Buche  von  LeuB,  das 
—  wenn  auch  etwas  einseitig  geschrieben  —  doch  von  jedem 
Strafrechtler  gelesen  werden  sollte,  findet  sich  eine  homosexuelle 
Stelle.    S.  104  erzählt  Leuß  von  einem  Mitgefangenen: 

„Ich  sah  mit  Ekel,  daß  ihn  der  Geschlechtstrieb  zu  perversen 
Annäherungen  an  Mitgefangene  reizte  und  in  solchen  Augenblicken 
sein  Gesichtsausdruck  vollkommen  tierisch  wurde. 

Ich  kenne  die  Anstrengungen  der  Homosexuellen,  sich  Straf- 
losigkeit zu  erkämpfen,  und  gönne  ihnen  diese;  ich  kenne  Platens 
eigene  Tragödie,  die  nur  ein  Unmensch  ohne  Erschütterung  kennen 
lernen  kann;  aber  ich  bin  so  vollkommen  anders  organisiert,  daß 
ich  den  Ekel  gegen  alles  Homosexuelle  und  gegen  die  Unglück- 
lichen, die  damit  belastet  sind,  nicht  überwinden  kann;  vielleicht 
würde  ich  anders  urteilen,  wenn  persönliche  Bekanntschaft  mit 
Leuten  von  Platens  Natur  mich  ebenso  von  dem  Widerwillen 
gegen  die  Menschen  solcher  Neigungen  heilte,  wie  mich  die  Be- 
kanntschaft mit  den  Verbrechern  von  den  tief  ins  Gefühl  ein- 
gebetteten Anmaßungen  gegen  diese  geheilt  hat'* 


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—     492     — 

Für  eines  der  besten  Mittel,  HeteroseraeUe  von  ihrem 
Ekel  Tor  den  Homosexuellen  zu  heilen,  halte  auch  ich 
in  der  Tat  die  persönliche  Bekanntschaft  mit  den  besseren 
Elementen  unter  den  Homosexuellen. 

Lombroso,  La  psichologia  dl  una  uxorieida  tribade. 

Archivio  di  psichiatria  etc.,  1903,  fasc.  I — 11.^) 

Eine  30 jährige,  an  einen  ungeliebten  jungen  Mann  Ver- 
heiratete verkehrte  geschlechtlich  mit  Männern  und  Frauen.  Mit 
Hilfe  eines  jungen  Menschen  ward  der  Ehemann  erst  durch  ein 
Narkoticum  bewußtlos  gemacht,  dann  versuchte  sie  ihn  zu  erwürgen, 
der  Jüngling  erstach  ihn  und  beide  zerstückelten  den  Toten  usw. 
Das  Motiv  war  gleichgeschlechtliche  Liebe.  Schon  w^rend  ihrer 
Ehe  hatte  sie  ihre  Geliebte  in  der  Kirche  ehelichen  wollen.  Sie 
schliefen  oft  zusammen,  nachdem  sie  den  Mann  aus  dem  Bette 
gejagt  hatten.  Die  Madame  hatte  verschiedene  männliche  Gesichts- 
züge und  dies  neben  einem  mongoloiden  Gesicht  zeigte,  daß  sie 
eine  „geborene  Verbrecherin"  war  (?  Ref.).  Außerdem  war  sie 
hysterisch.  Darin  (trotzdem  im  Bericht  Hysterie  absolut  nicht  be- 
wiesen ist!  Näcke)  sucht  Verf.  die  Ursache  der  Tribadie  (hört! 
Ref.)  und  außerdem  der  klösterlicher  Erziehung  mit  ihrem  Mysti- 
zismus anhaftenden  Gewohnheiten.  Die  Hysterie  mit  der  Tri- 
badie erklärt  den  großen  Haß  gegen  den  Ehemann.  So  weit  der 
Verfasser. 

Man  sieht,  daß  von  einer  Psychologie  der  Tribadie 
hier  so  gut  wie  nichts  gegeben  ist,  daß  alle  Bemerkungen 
des  Verfassers  vielmehr  den  üblichen  Stempel  des  Ober- 
flächlichen und  Unbeweisbaren  an  sich  tragen. 

Löwenfeld,  JDr.  L.,  Sexualleben  und  Nervenleiden. 

Die  nervösen  Störungen  sexuellen  Ursprungs  nebst 
einem  Anhang  über  Prophylaxe  und  Behandlung  der 
sexuellen  Neurasthenie.  Dritte,  bedeutend  vermehrte 
Auflage.  Wiesbaden,  1903,  Verlag  von  I.  F.  Berg- 
mann. 


^)  Auch  diese  Besprechung  hat  in  dankenswerter  Weise  Med,- 
Bat  Dr.  P.  Näcke  in  Hubertusburg  geliefert. 


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—     493     - 

Diese  dritte  Auflage  des  im  Jahre  1891  zum  ersten  Mal  er- 
schienenen Werkes  ist  unter  anderen  auch  durch  ein  Kapitel  über 
„Die  Anomalien  des  Sexualtriebes^^  vermehrt  worden,  in  welchem 
auch  die  Homosexualitfit  behandelt  wird  (S.  227—245). 

Löwenfeld  unterscheidet  drei  Stufen: 

1.  Psychosexuales  Zwittertum, 

2.  Zustand  exklusiver  Homosexualität, 

3.  Effemination,  wo  die  ganze  Richtung  des  Denkens,  Fühlens 
und  Wollens  den  weiblichen  Typus  annimmt. 

Löwenfeld  hebt  dabei  hervor,  daß  bei  Gruppe  2  und  8  eine 
Annäherung  der  Körperform  an  den  weiblichen  Typus  vorkommen 
könne.  Er  halte  es  für  ausgeschlossen,  daß  es  sich  um  eine  An- 
passung des  Körpers  an  den  psychischen  Habitus  handle,  da  die 
Annäherung  an  den  weiblichen  Tj^us  sich  auch  auf  die  Skelett- 
teile erstrecken  könne.  Die  Abweichung  der  Körperformen  vom 
männlichen  Typus  sei  wohl  ebenso  wie  die  psychische  Anomalie 
durch  erbliche  Veranlagung  bedingt  und  beide  seien  koordinierte 
Erscheinungen. 

Entgegen  Krafft-Ebings  Anschauung,  der  die  Androgynie  als 
eine  besonders  hohe  Stufe  der  Entartung  betrachtet,  glaubt  Löwen- 
feld, daß  sie  sich  nicht  an  die  fortgeschritteneren  Grade  der  Homo- 
sexualität zu  knüpfen  brauche.  Auch  Löwenfeld  lehrt,  daß  die 
Päderastie  bei  Homosexuellen  selten  sei.  Er  glaubt  dann  aller- 
dings (was  freilich  irrig  ist),  daß  bei  der  aktiven  und  passiven 
Päderastie  meist  das  Umingtum  keine  Rolle  spiele  und  lediglich 
Abstumpfung  durch  sexuelle  Ausschweifung  vorliege. 

Diese  schon  so  oft  bestrittene  Behauptung,  die  Päde- 
rastie sei  ein  letztes  Reizmittel  für  abgestumpfte  hetero- 
sexuelle Lüstlinge,  steht  völlig  beweislos  da.  Ich  kenne 
keine  derartigen  heterosexuellen  Lüstlinge. 

Löwenfeld  bezweifelt  des  weiteren  die  beiden  Theorien 
des  Angeborenseins  (Krafit-Ebing)  und  des  Erwerbs  (Schrenk- 
Notzing). 

Die  Theorie  Schrenk-Notzings  hält  er  noch  nicht  für  erwiesen, 
da  er  wiederholt  Nervenleidende  behandelt  habe,  bei  welchen  trotz 
hereditärer  neuropsychopathischer  Konstitution  in  der  Jugend  ge- 
übte sexuelle  Onanie  keine  Spur  von  homosexueller  Perversion  zur 
Folge  gehabt  habe.     Man  müsse  daher  annehmen,  daß  die  Wir- 


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—     494     — 

kling  der  okkasionellen  Momente  durch  eine  eigenartige  heredi- 
täre Veranlagung  gefordert  werden  müsse. 

Die  von  Rrafft-Ebing  verwertete  anatomische  Gnindlage  des 
homosexuellen  Triebes  l&ßt  Löwenfeld  nicht  gelten,  dagegen  scheint 
ihm  die  Auffassung  von  Chevalier  berechtigter,  wonach  der  Homo- 
sexuelle wahrscheinlich  in  seiner  cerebralen  Veranlagung  den  weib- 
lichen Typus  aufweise.  Diese  weiblich -psychische  Veranlagung 
führe  aber  allein  nicht  zur  Homosexualität,  da  auch  normal- 
sexuelle Männer  weibische  Eigenschaften  haben  könnten. 

Die  Ansicht  von  Bloch,  daß  die  Behauptung  einer  anima 
muUeris  virili  corpore  inclusa  unwissenschaftlich  sei,  müsse  er  als 
ganz  und  gar  unbegründet  bezeichnen 

Zu  der  psychischen  Veranlagung  müßten  noch  besondere 
determinierende  Momente  hinzukommen,  z.  B.  fehlerhafte  Er- 
ziehung, Mangel  an  Gelegenheit  zu  natürlichem  Geschlechtsverkehr 
bei  früh  auftretender  Libido,  Verführung  zur  Onanie  u.  dgl. 

Die  vermittelnde  Ansicht  von  Löwenfeld,  kein  Er- 
werb ohne  Anlage,  keine  Entwickelung  des  Triebes  aus 
der  Anlage  ohne  determinierende  Momente^  wird  man 
nur  in  gewissen  Fällen  als  richtig  anerkennen  dürfen. 
In  vielen  Fällen  dagegen  wird  der  homosexuelle  Trieb 
lediglich  infolge  der  Anlage  trotz  bester  Erziehung  und 
Fernhaltens  aller  Schädlichkeiten  durchbrechen  ohne  be- 
sondere determinierende  Momente. 

Übrigens  stimmt  es  mit  Löwenfelds  eigener  An- 
nahme von  der  weiblichen  cerebralen  Veranlagung,  die 
sich  im  äußeren  Körperbau  oft  schon  ausdrücke,  überein, 
wenn  man  das  Haupt-  oder  ausschließliche  Gewicht  auf 
diese  anima  mulieris  legt. 

Wenn  Löwenfeld  gegen  die  Annahme,  daß  die  Ano- 
malie ausschließlich  durch  eine  angeborene  Veranlagung 
bedingt  sein  könne,  das  Argument  ins  Feld  führt:  „Heil- 
erfolge durch  hypnotische  Suggestionstherapie",  so  läßt 
sich  mit  dem  auch  von  Möbius  angewandten  Gegen- 
argument antworten,  daß  durch  Hypnose  auch  ein  an- 
geborener Trieb  künstlich  mehr  oder  weniger  lang  ab- 
geändert werden  kann. 


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-     495     — 

Sehr  richtig  heht  Löwenfeld  in  Ühereinstimmung  mit  Eulen- 
borg  hervor,  daß  die  Homosezualität  keineswegs  unbedingt 
Neurasthenie  zur  Voraussetzung  und  ebensowenig  zur  notwendigen 
Folge  zu  haben  brauche. 

Aus  dem  kurzen  Abschnitt  über  die  weibliche  Homosezualitftt, 
der  im  allgemeinen  nur  Bekanntes  enthält,  verdient  Folgendes  Er- 
wähnung: 

Die  rudimentären  und  wahrscheinlich  auch  die  Zwitterformen 
der  Homosexualität  beim  weiblichen  Geschlecht  seien  sehr  viel 
häufiger,  die  ausgebildeten  Formen  der  konträren  Sezualempfin- 
düng  dagegen  seltener  zu  finden  als  beim  männlichen  Geschlecht. 
Als  rudimentäre  Formen  der  Homosexualität  ließen  sich  die  so 
häufigen  schwärmerischen  Freundschaften  unter  Mädchen,  welche 
selten  bis  ins  reifere  Alter  sich  erhielten,  und  die  schwärmerische 
Verehrung  von  Lehrerinnen,  Sängerinnen  u.  dgl.  seitens  junger 
Mädchen  deuten.  Diesen  rudimentären,  d.  h.  des  sinnlichen  Ele- 
mentes noch  entbehrenden  homosexuellen  Neigungen  bei  Mädchen 
stehe  auf  der  männlichen  Seite  fast  nichts  gegentlber. 

Dieser  letzteren  Behauptung  kann  ich  nicht  bei- 
stimmen. Auch  bei  Knaben  und  Jünglingen  begegnet 
man  ähnlichen  schwärmerischen  „Liebschaften'^  mit  Kame- 
raden. Femer  empfinden  viele  Homosexuelle,  bevor  sie 
sich  der  eigentlichen  Natur  ihres  Gefühls  bewußt  geworden 
sind,  schwärmerische  Zuneigung  zu  gewissen  Männern, 
bei  der  ein  Gedanke  an  geschlechtliche  Akte  nicht  auf- 
kommt. Ähnliches  findet  sich  übrigens  auch  bei  Hetero- 
sexuellen in  den  ersten  Jahren  vor  oder  nach  der  Pubertät 
gegenüber  Mädchen  („Primanerliebe'*).  Endlich  lassen  sich 
bei  erwachsenen  heterosexuellen  Männern,  bei  gewissen 
enthusiastischen  Künstlernaturen  Analogien,  schwärme- 
rische, die  Grenzen  gewöhnlicher  Freundschaft  über- 
schreitende Gefühle  anführen  (z.  B.  Richard  Wagners 
Verhältnis  zu  König  Ludwig). 

Bei  Erwähnung  der  Gynanürie  betont  Löwenfeld,  daß  äußere 
und  psychische  Gjnandrie  nicht  notwendig  mit  konträrer  Sexual- 
empfindung einhergehe.  Ein  großer  Teil  der  typischen  Mann- 
weiber zeitce  ganz  normale  sexuelle  Neigungen  und  ein  weiterer  Teil 
gehöre  zur  Kategorie  der  Frigiden  ohne  homosexuelle  Perversion. 


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—     496     — 

MSblns,  Dr.  F.,  Greschleclit  und  .Entartung.    Halle 
a.  d.  Säle,  1903,  Verlag  von  Carl  Marhold. 

Kapitel  I.  ,,Charakteri8tik  des  gesunden  Mannes  und  der 
gesunden  Frau." 

Kapitel  11.  „Die  abnormen  Bildungen  des  Geschlechtswesens 
unter  dem  Einfluß  der  Entartung/^ 

1.  „Der  Hermaphroditismus"  (teilweise  unter  Benutzung  von 
Neugebauers  Aufsätzen). 

2.  „Hypospadie,  Kryptorebismus,  Gjn&komastie,  Effemination, 
Infantilismus."  Diese  Abweichungen  seien  milde  Formen  des 
Zwittertums. 

Als  Feminismus  seien  die  Fälle  zu  bezeichnen,  wo  ein 
Mann  durch  den  Körperbau  im  ganzen,  Fettreichtum,  Behaarung, 
Stimme  usw.  als  weibähnlich  erscheine.  Meist  seien  dann  auch 
die  psychischen  Neigungen  und  Fähigkeiten  weibliche,  trotzdem 
brauche  keine  sexuelle  Perversion  vorzuliegen. 

Manche  solcher  Feministen  seien  allerdings  Urninge  und 
gerade  bei  ausgeprägtem  Feminismus  sei  die  geschlechtliche  Ver- 
kehrung  häufig. 

Die  Unordnung  des  Geschlechtswesens  sei  beim  Weibe  sel- 
tener und  verborgener  als  beim  Manne.  Mannweiber  nicht  selten, 
die  in  Form,  Haltung  und  Sinnesart  etwas  Männliches  hätten,  An- 
deutung von  Bart,  tiefe  Stimme,  hohen,  knochigen  Wuchs,  Neigung, 
zu  befehlen,  zu  männlichen  Belustigungen.  Es  sei  zu  vermuten, 
daß  bei  ihnen  die  Beschaffenheit  der  Eierstocke  irgendwo  von  der 
Natur  abweiche,  Näheres  sei  jedoch  nicht  bekannt.  Manche  Yira- 
gines  hätten  verkehrte  geschlechtliche  Neigungen,  aber  nicht  alle. 

8.  „Vorwiegend  geistige  Abweichungen."  Ziemlich  eingehende 
Besprechung  der  Homosexualität 

Viele  Homosexuelle  wiesen  auch  im  Körperlichen  die  ge- 
schlechtliche Mangelhaftigkeit  auf,  derart,  daß  ein  Teil  der  sekun- 
dären Geschlechtsmerkmale  dem  anderen  Geschlecht  angehöre,  daß 
neben  dem  seelischen  Feminismus  noch  ein  äußerer,  neben  dem 
Manngefühl  des  Weibes  körperliche  Viraginität  gefunden  werde. 

Diese  Tatsache  sei  ungemein  wichtig,  weil  sie  den  natür- 
lichen Zusammenhang  aller  Abweichungen  von  der  ausgeprägten 
Zwitterbildung  bis  zu  den  rein  geistigen  Störungen  des  Geschlechts- 
wesens dartue. 

Von  den  Abweicliungen  des  Triebes  die  abnormen  geschlecht- 
lichen Handlungen  zu  unterscheiden.  Die  häufigste  Form  der 
letzteren  die  Onanie. 


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—     497     — 

Zwischen  Onanie  und  Verkehrong  bestünden  Beziehungen. 
Die  Onanie  oft  der  einzige  Ausweg  zur  Befriedigung  des  Triebes 
beim  Homosexuellen.  Andererseits  entfremde  die  Onanie  der  natür- 
lichen Liebe;  daher  fördere  sie  Anlage  zur  Verkehrung. 

Mit  dem  Mißbrauch  von  Eondem  habe  die  Verkehrung  nichts 
zu  schaffen,  auch  zur  eigentlichen  Päderastie  habe  sie  keine 
direkten  Beziehungen. 

Alle  Abweichungen  des  Geschlechtstriebes  seien  Formen  der 
Entartung  und  zwar  angeborener  Entartung.  Eine  Erwerbung 
gäbe  es  nicht;  die  Gründe,  die  man  für  die  Möglichkeit  einer  Er- 
werbung anführe,  nicht  stichhaltig.  Früh  erworbene  Assoziationen, 
denen  man  die  Hauptrolle  zuschreiben  wolle,  könnten  nur  Macht 
gewinnen  bei  Menschen  mit  bestimmter  Anlage. 

Der  Umstand,  daß  abnormer  Geschlechtsyerkehr  schon  in 
alten  Zeiten  und  bei  Naturvölkern  vorkomme,  spräche  nicht  gegen 
das  Angeborensein  auf  Grund  der  Entartung.  Auch  Naturvölker 
seien  nicht  frei  von  Entartung  und  ein  Kulturvolk  wie  die  Griechen 
müsse  gerade  reich  an  Entartung  gewesen  sein. 

Die  Fälle,  in  denen  der  abnorme  Trieb  sich  erst  in  der  Zeit 
der  Reife  kund  gäbe,  seien  nicht  seltener  als  die,  in  denen  er  von 
Anfang  an,  gewöhnlich  schon  vor  der  Pubertät,  vorhanden  ge- 
wesen. Die  Behauptung,  diese  Leute  lögen  oder  machten  sich 
selbst  etwas  weiß,  sei  nicht  haltbar,  denn  auch  dann,  wenn  sie 
hier  und  da  zuträfe,  blieben  so  viele  unantastbare  Biographien 
übrig,  daß  an  der  Ursprünglichkeit,  der  Macht  und  der  Dauer  der 
abnormen  Gefühle  nicht  zu  zweifeln  sei.  Der  wichtigste  Grund 
aber  sei  der,  daß  die  scheinbar  rein  geistigen  Störungen  durch 
lückenlose  Obergänge  mit  den  körperlichen  Mißbildungen  ver- 
bunden seien  und  daß  in  einem  sehr  großen  Teil  der  Fälle  eine 
wirklich  genaue  Untersuchung  auch  leichte  Abweichungen  vom 
körperlichen  Geschlechtscharakter  nachweisen  könne. 

Die  Behauptung  der  geschlechtlich  Abnormen,  sie  fühlten 
sich  gesund,  bedeute  nicht  viel,  sie  seien  trotzdem'  Entartete. 

Sie  wehrten  sich  deshalb  so  sehr  gegen  den  Begriff  der  Ent- 
artung, weil  sie  sich  etwas  ganz  Schauderhaftes  darunter  vor- 
stellten. Wenn  sie  bedenken  wollten,  daß  auch  außerordentliche 
Vorzüge  nicht  ohne  Entartung  möglich  seien,  könnten  sie  sich  doch 
zufrieden  geben. 

Stets  seien  erbliche  Belastung,  sowie  auch  außerhalb  des  Ge- 
bietes der  Geschlechtlichkeit  körperliche  oder  geistige  Zeichen  der 
Entartung  nachzuweisen. 

Jahrbuch  VI.  32 


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—     498     — 

Gewisse  Einflüsse  des  „Milieus 'S  gewisse  BedingoDgen  der 
Zivilisation  trügen  wohl  zur  Abstampfiing  des  Geschlechtscharak- 
ters hei,  aher  in  der  Hauptsache  sei  die  Entartung  auf  organische 
Verkümmerung  zurückzuführen. 

Die  Abstumpfung  des  Geschlechtscharakters  gäbe  sich  viel- 
fach in  kleinen  Zügen  kund.  Viele  Mfinner  nähmen  weibische 
Gewohnheiten  und  Neigungen  an,  viele  Weiber  suchten  umgekehrt 
männliche  Gebräuche  nachzuahmen.  Alle  diese  Zustände  seien 
nicht  immer  mit  abnormen  Richtungen  des  Geschlechtstriebes  ver- 
bunden. Bei  dem  innigen  Zusammenhang  der  Teile  sei  zu  er- 
warten, daß  auch  den  geringen  Abweichungen  im  Seelischen  ge- 
wisse Abweichungen  nicht  nur  im  Gehirn ,  sondern  auch  im 
übrigen  Körper,  besonders  in  den  Geschlechtsteilen,  entsprechen 
werden. 

m.  Selten  seien  alle  groben  Mißbildungen,  wie  Rrypt- 
orchismus,  Hermaphroditismus  usw.,  um  so  häufiger  kleinere  Ab- 
weichungen. Über  die  Häufigkeit  der  Verkehrung  des  Geschlechts- 
gefühls  seien  zuverlässige  Angaben  schwer  zu  erlangen.  Nähme 
man  nur  1  Verkehrten  auf  1000  Seelen  an,  so  gäbe  es  auf 
50  Millionen  50000  Männer,  die  für  die  Zeugung  verloren  gingen. 

Dem  Übel  der  Entartung  sei  entgegen  zu  arbeiten.  Der 
gegenwärtige  gesetzliche  Zustand  sei  jedoch  unhaltbar,  §  175  auf- 
zuheben. Mit  der  Behauptung,  man  müsse  dem  Rechtsbewußtsein 
des  Volkes  Rechnung  tragen,  lasse  sich  auch  Hexen verbrennuog 
und  ähnliches  rechtfertigen. 

Bedenke  man  noch,  daß  die  größten  Niederträchtigkeiten  im 
Geschlechtsverkehr,  wie  z.  B.  die  Übertragung  venerischer  Krank- 
heiten, straf&ei  sei,  so  schüttele  man  den  Kopf. 

Der  §  175  sei  ein  Quell  von  Erpressungen  und  Selbstmorden. 
Es  gäbe  ja  noch  sonst  viele  Handlungen,  die  nicht  zu  billigen 
seien,  um  die  sich  aber  das  Gesetz  nicht  kümmere. 

Die  Päderastie  werde  mit  Recht  verachtet,  sie  sei  eine 
schimpfliche  Handlung,  beinahe  so  schimpflich  wie  die  Ver- 
führung eines  Mädchens.  Man  müsse  aber  unterscheiden  lernen 
zwischen  abnorm  geschlechtlichen  Neigungen,  die  Ausdruck  der 
Entartung  seien,  und  zwischen  abnorm  geschlechtlichen  Hand- 
lungen. 

Sache  des  Arztes  sei  es,  die  Abweichungen  des  Geschlechts- 
triebes zu  behandeln,  wenn  eine  Behandlung  möglich  sei.  Ver- 
ehelichung der  Konträren  sei  das  denkbar  schlechteste  „Heilmittel". 

Die  Hauptsache  aber  sei  die  Bekämpfung  der  Entartung  als 
solche.     Vernünftige  Ehegesetze  seien  nötig,  damit  der  Erzeugung 


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—     499     — 

lyphilitiflcher,  taberkalÖBer,  blödsinniger  Kinder  vorgebeugt  ^ürde. 
Das  hauptsächlichste  Mittel,  die  fortschreitende  Entartung  zu  hem- 
men, sei  Zerstörung  der  Trinksitten,  Kampf  gegen  den  Alkoho- 
lismus. 

Die  interessante  Zasammenstellung  und  Hervor- 
holung  der  psychischen  und  der  psychisch- geschlecht- 
lichen Anomalien  seitens  des  bekannten  geistvollen  Ver- 
fassers ist  sehr  richtig,  da  auf  diese  Weise  der  enge 
Zusammenhang  beider  und  das  Angeborensein  der  Homo- 
sexualität, sowie  ihre  in  der  Konstitution  wurzelnde 
Grundlage  nahe  gelegt  wird. 

Mit  Secht  sieht  daher  Möbius  in  der  Homosexuahtat 
stets  eine  angeborene  Anomalie. 

Was  den  von  Möbius,  dem  Spezialforscher  der  Ent- 
artung, so  beliebten  Begriff  der  Entartung  anbelangt,  so 
kann  man  vielleicht  finden,  daß  er  diesen  Begriff  allzu- 
weit ausdehnt  und  allzuenge  Voraussetzungen  für  die 
Annahme  eines  Normalmenschen  aufstellt. 

Nur  die  allerwenigsten  Menschen  werden  die  sämt- 
lichen Merkmale,  die  er  für  den  Normalmenschen  ver- 
langt, aufweisen  und  in  manchem  Punkte  seiner  Charak- 
teristik des  gesunden  Menschen  wird  man  ihm  nicht 
beistimmen  können,  z.  B.  wenn  er  sagt:  „Der  gesunde 
Mensch  ist  ziemhch  schlank  und  hoch  gewachsen,  .... 
das  Gesicht  ist  niemals  häßlich  ,  .  .  ," 

Ebenso  wird  es  als  zweifellos  zu  weitgehend  zu  er- 
achten sein,  daß  er  z.  B.  das  Rauchen  der  Zigaretten 
schon  als  Zeichen  der  Entartung  auffaßt  („denn  die 
Zigarette  lieben  die  weibischen  Männer  und  die  männi- 
schen Weiber"). 

Gerade  weil  nun  aber  Möbius  den  Begriff  der 
Entartung  sehr  weit  ausdehnt,  werden  sich  auch 
die  Homosexuellen  nicht  besonders  zu  beklagen 
brauchen,  von  Möbius  zu  den  Entarteten  gezählt 
zu  werden,   denn  tausende   und   abertausende  Hetero- 

32* 


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—     500     — 

sexuelle  werden  nach  Äer  Definition  des  Normalmannes, 
wie  sie  Möbius  gibt,  zu  den  Entarteten  zu  rechnen  sein. 
Sodann  hebt  ja  Möbius  selbst  hervor,  daß  außerordent- 
liche Vorzüge  Entartung  voraussetzen,  und  tatsächlich 
werden  die  Vorzüge,  die  viele  Entartete  aufweisen,  nach 
einer  oder  der  anderen  Richtung  durch  ihre  Entartung 
nicht  zu  schwer  erkauft 

Wenn  man  gar  die  Ausführungen  von  Möbius  über 
den  Begriff  der  Entartung  in  seiner  Besprechung  des 
„ürnischen  Menschen"  von  Hirschfeld  betrachtet,  dann 
werden  sich  die  Homosexuellen  fast  mit  Genugtuung  zu 
den  Entarteten  rechnen  können. 

In  dieser  Besprechung  (in  Schmidts  Jahrbücher)  sagt  Möbius, 
man  müsse  doch  „entartet**  und  ,,minderwertig**  nicht  auf  die 
gleiche  Stufe  stellen.  Alle  Abweichungen  von  der  Norm  seien 
insofern  minderwertig,  als  durch  sie  die  normale  Entwickelung 
gestört  werde. 

Deshalb  sei  nicht  gesagt,  daß  sie  wertlos  seien.  Freue  man 
sich  denn  nicht  an  gefüllten  Blumen ,  obwohl  sie  entartet  seien. 
Gewisse  Vorzüge  seien  nur  möglich,  wenn  zugleich  Defekte  da 
seien.  Die  Genialen  seien  geradeso  gut  Entartete,  wie  die  Geistes* 
schwachen,  und  alle  die  gelehrten  Herren,  die  heute  über  Ent- 
artung schrieben,  seien  selbst  entartet,  der  Referent  (Möbius) 
auch,  also  gebe  man  sich  zufrieden,  trage  sein  Schildchen  „ent- 
artet" mit  Geduld  und  stoße  sich  nicht  an  populäre  Vorurteile. 

Mühsam,  Ericli,  Die  Homosexualität.  Ein  Beitrag 
zur  Sittengeschichte  unserer  Zeit.  Verlag  von  Lilien- 
thal,  Berlin. 

Die  Theorie  des  Angeborenseins  wird  verteidigt 
Dagegen  spräche  auch  nicht  der  Umstand,  daß  die  homo- 
sexuelle Liebe  die  Fortpflanzung  unmöglich  mache.  Die  Liebe 
habe  nicht  notwendigerweise  Fortpflanzung  zum  Zweck.  Auch  im 
normalen  Verkehr  sei  dieser  Zweck  nur  selten  vorhanden.  Viel- 
leicht weise  die  Natur  aber  gerade  die  zur  Fortpflanzung  un- 
geeigneten Menschen  auf  das  eigene  Geschlecht.  Die  Homo- 
sexualität könne  man  nur  als  biologische  Dekadenzerscheinung 
auffassen. 


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—     501     — 

Damit  sei  lediglich  eine  Minderwertigkeit  des  Homosexuellen 
als  Geschlechtswesen  ausgedrückt,  keinesfalls  aber  als  Geschlechts- 
mensch. Im  Gegenteil:  im  dekadenten  Menschen  komme  die 
höchste  Kultur  eines  Stammes  zum  Austrag.  Tatsächlich  habe 
Verfiasser  auch  in  den  Homosexuellen,  die  er  kennen  gelernt, 
durchweg  fein  entwickelte  und  ästhetisch  hochkultivierte  Menschen 
gefunden. 

Die  Homosexualität  sei  nicht  als  krankhaft  zu  betrachten 
und  nicht  mit  sonstigen  Perversitäten,  wie  Sadismus,  Masochis- 
mus usw.,  auf  eine  Stufe  zu  stellen.  Der  grundsätzliche  Wesens- 
unterschied zwischen  der  Homosexualität  und  den  Perversitäten 
liege  darin,  daß  die  Homosexualität  der  Ausdruck  eines  Liebes- 
gefühls sei,  das  sich  gegen  eine  bestimmte  Gattung  Menschen 
richte,  während  die  Perversitäten  Triebe  seien,  die  auf  eine  be- 
stimmte Art  der  Betätigung  hindrängten.  Dort  sei  es  also  die 
Stimmung  der  Persönlichkeit,  hier  der  rein  männliche  Betätigungs- 
drang, der  aus  dem  Rahmen  des  gewöhnlichen  herausträte. 

Von  der  homosexuellen  Liebe  behauptet  Mühsam,  sie  sei  viel 
häufiger  rein  idealer  Natur  als  die  Liebe  zwischen  Mann  und 
Weib. 

(Worin  ich  ihm  allerdings  nach  meiner  Erfahrung 
nicht  beistimmen  kann.) 

Dagegen  weist  Mühsam  mit  Recht  auf  die  vielfach  noch 
herrschenden  abergläubischen  Vorstellungen  über  die  Homo- 
sexualität in  der  Art  ihrer  Befriedigung  hin. 

Unwissende  Familienväter  stellten  sich  wohl  einen  Päde- 
rasten  als  einen  schrecklich  blickenden  Lüstling  vor,  der  jederzeit 
sprungbereit  mit  geilem  Drang  jedes  männliche  Wesen  mustere, 
nur  auf  den  gelegenen  Moment  erpicht,  ihn  von  hinterwärts  zu 
notzüchtigen,  sie  seien  dann  wohl  auch  erstaunt  bei  wirklicher 
Bekanntschaft  mit  einem  Homosexuellen  einen  häufig  etwas  scheuen,* 
schüchternen,  außerordentlich  ungefährlichen  Menschen  kennen  zu 
lernen,  der  sich  bei  näherem  Hinsehen  meist  als  geistig  feiner  und 
kluger  Kopf  erweise. 

Bei  der  großen  Anzahl  der  Homosexuellen  —  etwa  2  ^/^  aller 
Menschen  —  sei  die  Ausbildung  einer  männlichen  Protistution 
nicht  zu  verwundem.  Zu  der  üblichen  übertriebenen  sittlichen 
Entrüstung  über  die  Prostitution  sei  kein  Grund  vorhanden.  Die 
Prostituierten  beiderlei  Geschlechts  seien  meist  Opfer  entsetzlicher 
sozialer  Zustände.  Das  Stra%esetz  selber  habe  ein  Gewerbe  ge- 
züchtet, daqenige  der  Erpresser  der  Homosexuellen. 


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—     502     — 

Neben  der  Homosexualität  nimmt  Mühsam  ein  häufiges  Vor- 
kommen  wirklicher  Bisexualität  an.  Eine  Klärung  des  bisexuellen 
Problems  sei  geeignet,  gewisse  anscheinend  unüberbrückbare  Wider- 
sprüche in  der  Theorie  der  wissenschaftlichen  Antipoden  aus  der 
Welt  zu  schaffen.  Die  Art  der  Bisexualität  schwanke  in  zahllosen 
Variationen. 

Für  yiele  Bisexuelle  sei  wahrscheinlich  die  Neigung  zu  eineni 
bestimmten  Typus  maßgebend,  bei  der  das  Geschlechtsorgan  keixie 
oder  nur  eine  nebensächliche  B^lle  spiele.  Dies  dürfe  man  aber 
nicht  verallgemeinern.  Namentlich  gäbe  es  unter  den  Bisexuellen 
Individuen,  die  bei  einem  Geschlecht  nur  auf  einen  bestimmten 
Typus,  bei  dem  anderen  dagegen  fast  nur  auf  jeden  leidlich 
hübschen  Vertreter  des  Geschlechts  reagierten. 

Babs  Theorie  von  der  Bisexualität  aller  Menschen  verwirft 
Mühsam  ganz  entschieden.  Auch  Babs  Forderung,  „jeder  Jüng- 
ling solle  sich  liebend  einem  ihm  passenden  Manne  anschließen'^ 
geißelt  Mühsam  sehr  scharf. 

Als  unschätzbaren  Vorzug  der  Homosexuellen  hebt  Mühsam 
ihr  feines  ästhetisches  Empfinden  hervor,  ihren  ausgeprägten  Sinn 
für  Formenschönheit  und  Naturgenuß. 

Für  sehr  zweifelhaft  halte  ich  die  weitere  Behaup- 
tung von  Mühsam,  wonach  auch  die  homosexuelle  Ver- 
anlagung selbst  mit  dem  ästhetischen  Empfinden  der 
Urninge  zusammenhänge,  da  ästhetisch  der  Körper  des 
jungen  Mannes  demjenigen  der  Frau  überlegen  sei. 

Das  ästhetische  Empfinden  ist  allerdings  eine  Eigen- 
schaft des  sensitiven,  feinfühligen ,  mit  einem  Oemisch 
femininer  und  viriler  Eigenschaften  ausgestatteten  Kon- 
trären, aber  die  Triebrichtung  wird  durch  dies  ästhe- 
tische Empfinden  nicht  bestimmt^  sie  ist  das  Primäre 
neben  den  sonstigen  Merkmalen  der  Homosexuellen 
parallel  herlaufend,  nicht  aber  Produkt  des  einen  oder 
anderen  Merkmals. 

Die  Schrift  von  Mühsam  ist  eine  sehr  ansprechende, 
objektiv  und  verständig  geschriebene,  voll  guter  Gedanken. 
Am  bemerkenswertesten  sind  die  Ausfuhrungen  über  die 
Bisexualität,  denen  ich  voll  und  ganz  beistimme.  Be- 
herzigung verdient  auch  der  sehr  zu  billigende  Versuch, 


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—     503     — 

einen   Wesensunterschied   zwischen   Homosexualität  und 
den  eigentlichen  Perversitäten  festzustellen. 

Näcke,  Dr.,  Forensicli-psychlatrlscli-psycliologische 
Bandglossen  zum  Prozeß  Dlppold,  insbesondere 
ttber  Sadismus,  im  Archiv  tlir  Kriminal- Anthro- 
pologie und  Kriminalistik  von  Groß,  Bd.  XIII,  Heft  4. 

Nflcke  wirft  anter  anderem  auch  die  FfiEige  auf,  ob  bei  Dip- 
pold  Homosexualität  oder  homosexueller  Sadismus  vorgelegen  habe. 

Sein  Benehmen  gegenüber  den  beiden  Knaben  (er  habe  sie 
geherzt,  gekfißt  und  unzüchtig  berührt)  spräche  für  Homosexualität, 
obgleich  echte  Homosexuelle  gerade  mit  Knaben  sich  gewohnlich 
nicht  vergingen.  Das  Mißhandeln  wegen  geheimer  Onanie  und 
gleichzeitig  die  öftere  Masturbation  der  Knaben  lege  den  Gedanken 
sadistischer  Onanie  nahe.  Näcke  rügt  es,  daß  man  unterlassen 
habe,  einen  Spezialarzt  auf  dem  Gebiet  der  sexuellen  Anomalien 
zuzuziehen. 

Der  homosexuelle  Sadismus  —  anscheinend  viel  seltener  als 
der  heterosexuelle  und  viel  häufiger  bei  Männern  —  könne  mehrere 
Unterarten  darbieten.  Der  häufigste  Fall  dürfte  der  sein,  daß  die 
geschlechtliche  Erregung  mit  nachfolgender  Befriedigung  erst  auf 
sadistische  Reize  hin  erfolge.  Oder  es  bestehe  daneben  eine  Homo- 
sexualität, d.  h.  es  finde  der  Reiz  schon  im  Anblick  oder  Umgang 
mit  gleichgeschlechtlichen  Individuen  statt,  daneben  aber  zugleich 
die  vorige  Form. 

Dieser  Fall  scheine  bei  Dippold  vorzuliegen.  Oder  es  be- 
stehe Homosexualität  neben  heterosexuellem  Sadismus  (auch  faute 
de  mieux  an  Knaben),  dies  wäre  nur  bei  psychischer  Hermaphro- 
disie  denkbar.  Es  könne  sich  schließlich  auch  um  Pseudohomo- 
sexualität  handeln;  d.  h.  um  heterosexuellen  Sadismus  in  pseudo- 
homosexueller Handlung.  Endlich  wäre  auch  idealer  Sadismus 
möglich  (der  nur  in  Gedanken  und  Träumen  aufträte). 

Die  verschiedenen  Möglichkeiten  in  der  Erklärung 
der  psychischen  Seite  des  äußerlich  klaren  Vorganges 
und  die  Schwierigkeiten  ihrer  Beurteilung,  welche  Näcke 
so  scharf  und  klar  auseinander  setzt,  zeigen  deutlich, 
wie  nötig  die  Beleuchtung  seitens  eines  auf  dem  Ge- 
biete der  sexuellen  Anomalien  Spezialsachverständigen 
gewesen  wäre  und  wie  unverzeihlich   es  war,   daß   dies 


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—     504     — 

unterlassen  wurde,  obgleich  Sachverständige,  wie  Moll, 
Schrenck-Notzing  oder  Hirschfeld,  zu  Gebote  gestanden 
hätten. 

Nftcke,  Dr.,  Das  dritte  Geschlecht,  in  der  Politisch- 
Anthropologischen  Sevue,  Jahrgang  II,  Heft  4. 

Die  hauptsftchlißhsteu  Gedanken,  die  Nficke  in  dem  im  vor- 
jährigen Jahrbuch  S.  1002  ff.  von  mir  eingehend  wiedergegebenen 
Aufsatz  aus  der  „Allgemeinen  Zeitschrift  für  Psychiatrie  und 
psychiatrisch -gerichtlichen  Medizin",  Bd.  LIX,  Heft  6  ausgefiElhrt 
hatte,  sind  hier  in  Kürze  klar  und  trefflich  zusammengedrängt. 
Notwendigkeit  der  naturwissenschaftlichen  Beobachtungsweise  der 
Homosexualität,  Anerkennung  der  Homosexualität  als  normale, 
wenn  auch  immerhin  seltene  Varietät  des  Geschlechtstriebes.  Ihre 
Berechtigung  auch  ohne  Fortpflanzungszweck. 

Die  konträre  Sexual empflndung  fast  stets  angeboren,  die  so- 
genannten erworbenen  Fälle  wohl  meist  bloß  sogenannte  tardive. 
Die  Berechtigung  auch  der  homosexuellen  Lyrik,  soweit  sie  decent 
bleibe,  genau  so  beurteilt  zu  werden  wie  die  heterosexuelle  Liebe; 
bei  der  größeren  Zahl  der  Konflikte,  die  sie  biete,  gäbe  es  genug 
der  spannenden  Motive. 

Die  auf  alle  Fälle  vorhandene  Notwendigkeit,  den  §  175 
aufzuheben. 

Pitres,  A.,  et  Regis,  E.,  Les  obsesslons  et  les  im- 
pulslons.  Biblioth^que  internationale  de  psychologie 
experimentale  normale  et  pathologique.  Paris,  1902, 
Dorin. 

Verfasser  verstehen  imter  „impulsions"  nicht  nur  die  in  der 
neueren  deutschen  Wissenschaft  von  den  Zwangshandlungen  ab- 
gesonderten, keinerlei  vorangehenden  Kampf  voraussetzenden  im- 
pulsiven Handlungen,  sondern  auch  Zwangshandlungen,  während 
sie  unter  „obsessions^*  die  nicht  in  Handlungen  ausgelösten  Zwangs- 
vorstellungen begreifen. 

Zu  den  „impulsions*^  rechnen  sie  die  sexuellen  Anomalien, 
und  zwar  auch  den  Uranismus,  obgleich  sie  bemerken,  daß  er 
weniger  als  die  übrigen  sexuellen  Anomalien  einen  impulsiven 
Charakter  aufweise. 


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—     505    — 

Die  Ursache  der  Anomalie  sei  in  einer  ab  origine  krank- 
haften, auf  degeneratiyer  Grundlage  vorhandenen  Anlage  za  er* 
blicken.  Ein  zufälliges  Ereignis  könne  die  Perversion  zur  Ent- 
wickelang bringen,  aber  dieses  zuföllige  Ereignis  spiele  nor  eine 
untergeordnete  Rolle;  der  unbedingt  entscheidende  Faktor  sei  die 
kongenitale  Anlage  für  eine  bestimmte  Anomalie.  Das  okkas- 
sionelle  Moment  habe  nur  solche  Wirkungen  zur  Folge,  die  zu 
dem  Temperament  der  Idiosynkrasie  des  Individuums  paßten. 

Ran,  Hans,  Liebesfreihelt.     Orania- Verlag,   Oranien- 
burg, 50  Pf. 

Die  Liebe  zum  gleichen  Geschlecht  sei  gleichberechtigt  mit 
derjenigen  zum  anderen.  Die  höchste  Entwickelung  des  mensch- 
lichen Geistes  fönde  sich  bei  gewissen  Homosexuellen  der  Kiiltur- 
geschichte. 

Die  Homosexualität  keine  atavistische  Erscheinung,  ebenso- 
wenig Endpunkt  der  Entwickelung  im  Sinne  einer  höheren 
Menschenklasse.  Sie  sei  nichts  als  eine  natürliche  von  dem 
schaffenden  Weltgeist  hervorgebrachte  Variation. 

Die  Homosexualität  dürfe  nicht  höher  gewertet  werden  als 
die  normale  Liebe,  wenn  auch  nicht  zu  leugnen  sei,  daß  eine 
geniale  Geistesbeschaffenheit  auf  umischem  Boden  tatsächlich 
reichere  Früchte  trage  als  auf  normalem. 

Weil  die  umischen  Empfindungen  als  etwas  durchaus  natür- 
liches und  gesundes  aufzufassen  seien,  sei  es  unzulässig,  sie  in 
ihr  Gegenteil  zu  verkehren,  sie  zu  „heilen",  wie  die  Arzte  wollten. 

Der  Homosexuelle  könne  nicht  geheilt  werden,  er  wolle  es 
auch  nicht,  er  sei  stolz  auf  seine  liebe,  die  sich  viel  reiner  und 
keuscher  als  die  normale  zu  betätigen  pflege.  Der  Uranier  fühle 
sich  sittlich  auf  einer  viel  höheren  Stufe  stehend  als  die  meisten 
Normalen.  Der  Homosexuelle  sei  nicht  zu  bedauern,  erst  die 
menschlichen  Gesetze  und  die  allgemeine  Ächtung  hätten  ihn  zu 
einem  Bedauernswerten  gemacht. 

Im  zweiten  Kapitel  weist  Rau  auf  die  berühmten  Uranier 
hin  und  bespricht  dann  Byrons  Leben  vom  Gesichtspunkt  der 
Homosexualität  aus  betrachtet,  indem  er  bei  ihm  konträre  Sexual- 
empfindung nachzuweisen  sucht. 

Dieser  letztere  Teil  ist  der  Abdruck  eines  früher 
schon  veröffentlichten,  im  Jahrbuch  IV  ausführlich  im 
Auszug  wiedergegebenen  Aufsatzes  von  Rau. 


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—    506    — 

Das  Schriftchen  schließt  mit  einem  Aufruf  „An  alle  Freunde 
echter  Menschlichkeit",  unterzeichnet  von  Bau  und  Gerling,  in 
welchem  zur  Bekämpfung  der  gegen  die  Homosexuellen  noch  be- 
stehenden Vorurteile  aufgefordert  wird. 

Bau  wendet  sich  zwar  an  einigen  Stellen  gegen  die 
Anmaßungen  mancher  Homosexuellen,  die  als  edlere 
Menschen  gelten  und  ihre  Liebe  als  höhere  bezeichnen 
wollen.  Er  fällt  aber  selbst  an  einigen  Stellen  in  diesen 
Fehler  und  stimmt  einmal  sogar  einen  übertriebenen 
Lobgesang  auf  die  Homosexuellen  an,  indem  er  sagt: 

„Der  Urning  vergeudet  seine*  besten  Kräfte  nicht  im  Lust- 
bett -der  Prostitution;  erkaufte  Liebe  ist  ihm  ein  Greuel  usw. 
Keine  Arbeit  ist  ihm  zu  schwer,  das  Wohlbefinden  des  Freundes 
zu  schützen.  Buhe  und  Schlaf,  ja  das  Leben  wird  dem  Freunde 
zum  Opfer  gebracht.^' 

Abneigung  des  Homosexuellen  vor  der  Prostitution 
und  besonders  schöne  und  edle  Ausgestaltung  des  Liebes- 
gefühls begegnet  man  bei  Homosexuellen  nicht  weniger 
und  nicht  mehr  als  beim  Heterosexuellen.  Auch  in 
dieser  Beziehung  hat  er  nichts  vor  dem  Heterosexuellen 
voraus. 

Bau,  Hans,  Der  Geschlechtstrieb  und  seine  Yer- 
irrongen.  Ein  Beitrag  zur  Seelenkunde.  Berlin  SW., 
1903,  Hugo  Steinitz. 

Kapitel  V.  „Homosexualität  und  Päderastie/' 

Dieselben  Anschauungen  wie  in  der  vorher  besprochenen 
Schrift.  Die  Ansicht  von  der  Erwerbung  der  Homosexualität  durch 
zufällige  Ereignisse,  etwa  durch  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  in- 
folge Weibermangels,  wird  zurückgewiesen  mit  dem  Hinweis,  daß 
sonst  auch  der  normale  Verkehr  nur  durch  Gewöhnung  zustande 
kommen  müsse,  femer  müßten  die  vielen  Zöglinge  von  Alumnaten 
und  Pensionaten,  die  in  der  Pubertät  gleichgeschlechtlich  ver^ 
kehren,  homosexuell  werden,  was  nur  bei  wenigen,  den  geborenen 
Homosexuellen  zuträfe. 


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—     507     — 

Erfreulicherweise  hat  sich  Sau  in  seinem  fiir  weitere 
Kreise  berechneten  Schriftchen  auf  den  Standpunkt  der 
neueren  Forschung  über  Hoxnosexualität  gestellt 

Die  Tendenz,  die  ich  im  vorher  besprochenen  Auf- 
satz von  Rau  rügte,  nämlich  die  einer  unnötigen,  weil 
unzutreffenden  Beschönigung  des  Charakters  und  des 
Gefühlslebens  des  Homosexuellen,  hat  Sau  auch  hier 
nicht  völlig  vermieden. 

San,  Hans,  Franz  Grrillparzer  und  sein  Liebesleben. 

Berlin,  Verlag  von  Barsdorf. 

Den  Schlüseel  für  das  psychologische  R&tsel,  das  Grillparzen 
Wesen  biete,  sieht  Rau  in  der  ausgesprochen  weiblichen  Natur  des 
Dichters. 

In  Grillparzer  hätten  weibliche  und  männliche  Elemente  im 
Streite  miteinander  gelegen.  Meist  habe  das  Weibliche  die  Ober- 
hand gewonnen  und  auch  auf  sein  Liebesleben  Einfluß  gehabt. 
Er  habe  nie  das  wahre  Glück  der  Liebe  kennen  gelernt,  nie  die 
Leidenschaft  in  ihrer  aufwühlenden  Stärke  empfunden.  Infolge 
seiner  weiblichen  Denk-  und  Empfindungsweise  habe  er  sich  weit 
mehr  zum  männlichen  als  zum  weiblichen  Geschlecht  hingezogen 
gefühlt  Dort  wo  er  eine  Frau  zu  lieben  geglaubt,  sei  bald  die 
Freundschaft  an  Stelle  der  Liebe  getreten.  Diese  Erklärungen 
sucht  Rau  an  der  Hand  der  uns  bekannten  Beziehungen  des 
Dichters  zu  Frauen  und  Freunden  zu  beweisen.  Er  behauptet, 
Grillparzer  habe  im  Weibe  die  spezifisch  weiblichen  Eigenschaften 
nur  wenig  geliebt  und  mehr  männliche  Entschlossenheit  und 
Energie  geschätzt 

Die  erste  Leidenschaft  zur  17  jährigen  Antonie  sei  bei  näherer 
Bekanntschaft  der'  Geliebten  bald  verschwunden;  dieses  Ver- 
schwinden der  Leidenschaft  bei  näherem  Bekanntwerden  mit  der 
Geliebten  sei  typisch  im  Liebensieben  Grillparzers.  Die  zweite 
Leidenschaft  für  eine  Sängerin,  die  als  Cherubin  in  Figaros  Hoch- 
zeit seine  Liebesglut  entflammt,  sei  wohl  auf  den  Umstand  des 
Auftretens  der  Sängerin  in  Knabenkleidem,  auf  die  Doppel- 
geschlechtlichkeit in  der  Erscheinung  der  Sängerin  zurückzuführen. 
Ihr  habe  auch  Grillparzer  das  zierlichste  Gedicht  seiner  Muse 
„Cherubin"  gewidmet 


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—     508     — 

Für  Baus  Behauptungen  von  der  geschlechtlichen  Kälte 
G-rillpaneers  gegenüber  den  Frauen  scheinen  einige  vom  Dichter 
ohne  sein  Zutun  ent&chte,  aber  Ton  ihm  unerwiderte  Leiden- 
schaften einiger  Frauen,  so  z.  B.  der  früh  verstorbenen  Marie  von 
Piquet,  zu  sprechen. 

Auch  das  jahrelang  dauernde  Verhältnis  Grillparzers  zu 
Katharina  Fröhlich,  das  Bau  eingehend  erörtert,  bietet  manche 
Eigentümlichkeit.  Aber  immerhin  war  es  doch  eine  tiefgehende 
Leidenschaft,  die  größte  seines  Lebens,  die  Grillparzer  zu  Katha- 
rina hinzog. 

Sie  gab  ihm,  wie  Bau  auch  hervorhebt,  Lebenswert  und 
Lebensfreude,  Schaffenslust  und  Schaffensfreude.  Das  Verhältnis 
blieb  allerdings  ein  ideal  platonisches.  Zur  Ehe  konnte  sich  Grill- 
parzer nicht  entschließen.  Allmählich  erkaltete  Grillparzers  Leiden- 
schaft; in  seinem  Tagebuch  vermerkt  Grillparzer,  daß  kein  eigent- 
lich tugendhafter  Vorsatz,  vielmehr  ein  ästhetisches,  künstlerisches 
Wohlgefallen  an  Katharinas  Beinheit  ihn  vom  sinnlichen  Besitz 
zurückgehalten  habe,  wozu  alle  Gefühle  und  Gedanken  ihn  hin- 
trieben. Er  habe  sich  abgekämpft  gegen  die  fast  immerwährende 
Aufregung. 

Bau  hält  diese  Gründe  für  undenkbar,  Grillparzer  habe  sich 
in  dem  Motiv  seiner  Enthaltsamkeit  selbst  getäuscht  Der  an- 
gebliche Entschluß,  aus  Wohlgefallen  an  der  keuschen  Jungfräu- 
lichkeit seiner  Verlobten  sie  niemals  zu  berühren,  sei  vernunft- 
widrig und  wäre  auch  bei  Grillparzers  Schwäche  undurchführbar 
gewesen,  wäre  wirklich  bei  ihm  ein  ernster  Konflikt  vorhanden 
gewesen.  Diese  Enthaltsamkeit  sei  aber  Grillparzer  leicht  ge- 
worden, weil  er  dieser,  in  seiner  innersten,  ihm  selber  verborgenen 
Natur  wurzelnden  Abneigung  gegen  den  geschlechtlichen  Verkehr 
entsprungen  sei. 

Diese  Auslegung  hat  manches  für  sich,  ist  aber 
durchaus  nicht  zwingend.  Das  Verhalten  örillparzers 
scheint  mir  sehr  wohl  mit  heftigem  sinnlichen  Begehren 
seiner  Geliebten  vereinbar.  Dem  ehrlichen,  ideal  an- 
gelegten Charakter,  der  Grillparzer  war,  entsprach  es, 
der  Geliebten  Jungfräulichkeit  nicht  zu  zerstören  und 
seine  Triebe  niederzukämpfen,  da  er  zur  Heirat  sich 
nicht  entschließen  konnte  und  einen  vorübergehenden 
Besitz  ohne  nachfolgende  Ehe,  der  nur  Entweihung  der 
Jungfräulichkeit   sein  konnte,  verschmähte.     Grillparzer 


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—     509     -^ 

direkte  Abneigung  gegen  den  Geschlechtsverkehr  mit  dem 
Weibe  unterzuschieben,  scheint  mir  besonders  deshalb 
gewagt,  weil  er  selbst  seine  heftige  sinnliche  Leiden- 
schaft betont  und  man  bei  dem  scharfen,  psychologisch 
geschulten  Geist  eines  Grillparzer  die  von  Bau  behaup- 
teten Täuschungen  des  Dichters  über  derartige  elemen- 
tare Gefühle,  wie  die  geschlechtlichen,  nicht  annehmen 
kann. 

Ob  indessen  Grillparzers  Empfindungsweise  sich  völlig  in  den 
Bahnen  der  Norinalitflt  bewegt  habe,  wird  namentlich  dann  frag- 
lich, wenn  man  berücksichtigt,  daß  er  während  seiner  Studienzeit 
eine  leidenschaftliche  Neigung  für  einen  jungen  Mann,  für  den 
Altersgenossen  Altmüller  empfunden  hat,  die  man  mit  Rau  ge- 
radezu als  heiße  verzehrende  Liebe  bezeichnen  kann.  Alle  Er- 
scheinungen der  Liebe  zeigt  diese  Freundschaft.  Als  er  sich  ein- 
mal von  Altmüller  betrogen  glaubt,  führt  er,  wie  Rau  richtig 
hervorhebt,  in  seinem  Tagebuch  die  Sprache  eines  verlassenen 
Liebenden.  Seine  Verzweiflung  ist  grenzenlos.  Er  glaubt  mit 
dem  Leben  abgeschlossen  zu  haben,  sogar  der  Gedanke  an  Selbst- 
mord taucht  auf.  Es  sind  Gefühlsergüsse,  wie  gewöhnlich  nur 
das  Weib  einem  jungen  Manne  sie  einflößt.  Kein  weibliches 
Wesen,  sagt  Rau,  habe  auch  nur  entfernt  den  gleichen  Sturm  der 
Gefühle  in  ihm  erweckt. 

Das  Verhältnis  zu  Altmüller  ist  das  einzige,  in  dem 
ich  ein  homosexuelles  Gefühl  erblicken  kann. 

Bedenkt  man  nun,  daß  damals  Grillparzer  noch 
sehr  jung,  noch  Student  war,  und  später  eine  derartige 
Neigung  zu  einem  Manne  nicht  mehr  festzustellen  ist, 
daß  damals  die  Frau  noch  nicht,  wie  später,  in  seinen 
Gesichtskreis  getreten  war,  so  fragt  es  sich,  ob  es  sich 
nicht  um  eine  vorübergehende  homosexuelle  Episode  ge- 
handelt hat 

Noch  eine  große  Anzahl  von  Freundschaften  finden  sich  vor, 
die  Rau  auch  bespricht,  so  die  mit  Bauemfeld,  Prechtler,  Holtei, 
Beethoven.  Reine  gestattet  aber  die  Deutung  eines  homosexuellen 
Empfindens  Grillparzers.  Bei  der  Freundschaft  mit  Prechtler  zeigte 
letzterer,  wie  seine  Briefe  lehren,  eine  geradezu  überschwengliche 


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—     310     — 

Neigung  und  enthusiastische  Bewunderung  für  Grillparzer,  indem 
er  sein  Gefühl  für  ihn  mit  demjenigen  für  die  Geliebte  in  eine 
Reihe  stellt.  Femer  gesteht  Holtei  zu,  daß  er  in  seinem  15.  Lebens- 
alter für  einen  17jährigen  Freund  von  einem  nicht  mehr  Freund- 
schaft zu  nennenden  Gefühl  ergriffen  worden  sei. 

Aber  bei  Prechtler  und  Holtei  steht  nicht  fest,  daß  Grill- 
parzer  für  sie  mehr  als  Freundschaft  empfunden  habe. 

Bestimmte  Äußerungen  Grillparzers  über  gleich- 
geschlechtliche Liebe  fehlen  völlig.  Deshalb  halte  ich 
die  Behauptung  von  Eau,  Grillparzer  habe  die  gleich- 
geschlechtliche Liebe  als  eine  in  der  Natur  begründete, 
der  normalen  Liebe  gleichberechtigte  Erscheinung  be- 
trachtet, für  unbewiesen. 

Im  Schlußkapitel  erörtert  Rau  die  Charaktere  in  Grillparzers 
Dramen  und  sucht  die  Doppelnatur  in  seinen  Gestalten  aufzu- 
decken. Ebenso  wie  sich  in  Grillparzer  selber  männliche  und 
weibliche  Eigenschaften  vereinigt  hfttten,  ebenso  seien  seine  Helden 
haltlose,  vom  Schicksal  hin-  und  hergeworfene  Menschen. 

Da  ihm  das  feminine  Empfinden  stets  näher  als  das  männ- 
liche gestanden,  sei  er  auch  in  der  Schilderung  der  Frauen  ein 
Meister  ersten  Ranges. 

In  Grillparzers  Dramen  findet  sich  meiner  Ansicht 
nach  nur  ein  einziges  deutlich  homosexuelles  Verhältnis, 
das  zwischen  Leander  und  Naukleros  in  „Des  Meeres  und 
der  Liebe  Wellen".  Mit  Recht  sagt  Rau,  daß  dieses 
Drama  nicht  nur  das  herrlichste  Liebesdrama  ist,  sondern 
auch  ein  Freundschaftsdrama  erhabenster  Art. 

Das  Bach  von  Rau  ist  ein,  wenn  auch  nicht  immer 
tiefgehender,  so  doch  sehr  anerkennenswerter  Versuch, 
das  Liebesleben  des  großen  Dramatikers  an  der  Hand 
unserer  modernen  Kenntnisse  über  sexuelle  Zwischen^ 
stufen  zu  ergründen,  nur  dürfte  es  auch  Rau  nicht  ge- 
lungen sein,  das  Dunkel  des  Liebeslebens  Grillparzers  völlig 
zu  klären.  Namentlich  erscheint  seine  Behauptung,  Grill- 
parzer habe  mehr  zum  Manne  als  zum  Weibe  hingeneigt, 
allzu  kategorisch  und  nicht  genügend  begründet 


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—     511     — 

Ich  möchte  annehmen:  Dafi 

1.  Grillparzer  sinnliche  Liehe  zur  Frau  empfand^ 

2.  daß  er  jedenfalls  kein  echter  Homosexueller  war, 
S.  daß    er    in    seiner    Jugend,   wenigstens    seinem 

Freunde  Altmüller  gegenüber,  homosexuell  empfand, 

4.  daß  es  aber  zweifelhaft  ist,  ob  später  noch  homo- 
sexuelle Gefühle  bei  Grillparzer  auftraten  und  in  welcher 
Stärke. 

Raus  Buch  hat  eine  scharfe  und  im  allgemeinen  durchaus 
unberechtigte  Kritik  seitens  Anton  Bettelheim  (Wien)  im  „Lite- 
rarischen Echo",  2.  Novemberheft,  erfahren.  Nachdem  dem 
Verfasser  in  völlig  ungerechter  Weise  Motive  erotischer  Speku- 
lation untergeschoben  werden,  wird  Raus  Behauptung  von  der  an- 
geblichen Kälte  und  Enthaltsamkeit  Grillparzers  gegenüber  dem 
weiblichen  Gkschlecht  und  dann  namentlich  die  Annahme  homo- 
sexueller Gefühle  entrüstet  zurückgewiesen,  ohne  daß  der  Kritiker 
sich  die  Mühe  genommen  hätte,  auf  Raus  Gründe  und  auf  einige 
Verdachtsmomente,  wie  das  der  Liebe  zu  Altmüller,  einzugehen. 

Dag.  gen  ist  ein  anderer  Schriftsteller,  Felix  Poppenberg, 
bei  Bespiechung  des  Tagebuchs  Grillparzers  in  der  „Neuen 
Deutschen  Rundschau*^  Oktoberheft  1903:  „Grillparzers 
Inferno'^  zum  Teil  zu  ähnlichen  Schlüssen  wie  Rau  gelangt. 

Er  hebt  die  phantasievolle  Glut  des  Dichters  bei  der  bloßen 
Vorstellung  der  Frau  und  seiner  Gleichgültigkeit  und  Kälte  der 
wirklichen  Frau  gegenüber  hervor,  sowie  einen  femininen  Zug, 
der  dem  homosexuellen  Fühlen  nahekomme  und  seine  sexuelle 
Disposition  kompliziere. 

Leidenschaftliche  Freundschaftsergüsse  stünden  in  den  Tage- 
büchern, bei  denen  man  an  Platen  und  Liebig  denke.  Schwär- 
merische Jünglingsfreundschaften  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts 
seien  durchaus  nichts  außergewöhnliches  und  nichts  sei  verkehrter, 
als  überall  Pathologisches  zu  wittern,  aber  es  bliebe  doch  auf- 
fallend, daß  auf  allen  Seiten,  die  so  viel  von  Frauen  handelten, 
nicht  einmal  ähnlich  überströmend,  ähnlich  gefühlslodemd  von 
einer  Frau  gesprochen  werde,  als  von  dem  Jugendfreund. 

Nachdem  Poppenberg  die  leidenschaftliche  Liebe  Grillparzers 
zu  Altmüller  geschildert,  fährt  er  fort: 

„Die  gemischtgeschlechtlichen  Gefühle  können  Grillparzer 
übrigens  nicht  fremd  gewesen  sein,  er  hatte  ein  ausgesprochenes 
Interesse   für   hermaphroditische   Motive.     Ihn   fesselte   der  Stoff 


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—     512     — 

,.Die  Familie  Moscoso  von-  Altariva",  weil  hier  ein  Mädchen  als 
Knabe  aufgezogen  wird  und  in  dem  Ghenibingedicht  verdich- 
tete er  die  durch  die  Geschlechtsmaskerade  erregte  Grefühlsver- 
wirrung**  .... 

Sherard,  Robert  Harborough,    Oskar  Wilde.     Die 

Geschichte  einer  unglücklichen  Freundschaft.  Deutsch 
von  Freiherr  von  Teschenberg.  Minden  in  Westf., 
Bruns  Verlag. 

Das  homosexuelle  Moment  im  Leben  Oskar  Wilde's  wird  in 
Sberard's  Buch  absichtlich  nicht  erörtert. 

Sherard  entwirft  von  Wilde  das  Bild  eines  genialen  Mannes 
von  seltenen  Charakterzügen  und  schönster  Herzensgüte,  in  stellen- 
weiser etwas  naiver  Bewunderung  preist  er  die  Vorzüge  und 
Eigenschaften  des  Geistes  und  der  Seele  des  unvergeßlichen 
Freundes.  Besondere  Hervorhebung  verdienen  folgende  Sätze, 
die  so  recht  beweisen,  daß  zweifellos  die  gleichgeschlechtlichen 
Gefühle,  die  Wilde  vor  den  Richter  führten,  Ausfluß  einer  an- 
geborenen Natur  waren  und  daß  Wilde  nicht  der  lasterhafte,  ge- 
sunkene Wüstling  war,  zu  dem  ihn  so  viele  Feinde  stempeln  wollten» 

Seite  3  sagt  Sherard:  „Er  habe  niemals  einem  Manne  be- 
gegnet, der  in  seinen  Gesprächen  reiner  und  für  das  Laster  in 
seiner  Gemeinheit  und  Häßlichkeit  verachtungsvoller  gewesen  wäre 
wie  Wilde." 

Und  S.  26:  „Das  Beispiel  seines  vollendeten  Anstandes  in 
seiner  Redeweise,  in  die  niemals  eine  unlautere  Idee  eindrang, 
die  höheren  Ideale,  welche  er  verfolgte,  die  Eleganz  und  Vor- 
nehmheit, welche  ihn  auszeichneten,  würden  selbst  den  Perver- 
sesten und  Ausschweifendsten  einigen  Rückhalt  auferlegt  haben. '^ 

Schneidt,  Karl,  Die  Hundertfünfundsiebziger,  in  der 

„Welt  am  Montag"  vom  4.  Januar  1904. 

Schneidt  erkennt  an,  daß  die  Homosexuellen  weder  die  Ver- 
achtung ihrer  Mitmenschen  noch  die  Härte  des  Gesetzes  verdienten, 
er  will  sie  aber  lediglich  als  bemitleidenswerte  Kranke  betrachtet 
wissen  und  wendet  sich  gegen  die  Forderimg  der  Homosexuellen 
nach  Gleichstellung  der  homosexuellen  Liebe  mit  der  normalen. 

Besonders  aber  tadelt  er  die  „Exaltados"  der  Homosexualität, 
die  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  einseitig  verherrlichen  und 
glauben  machen  wollten,  als  sei  ihre  Veranlagung  die  edlere  und 
höhere. 


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—     513     — 

In  diesem  Tadel  bin  ich  mit  Schneidt  einige  auch 
ich  weise  jede  höhere  Wertung  der  homosexuellen  Liebe 
zurück.  Desgleichen  stimme  ich  mit  Schneidt  darin 
überein  y  daß  manche  Homosexuelle  allzu  leichtfertig 
gewisse  Geisteshelden  zu  den  Homosexuellen  rechnen. 

Des  weiteren  kann  man  Schneidt  auch  darin  nicht 
Unrecht  geben,  daß  er  es  —  wenn  auch  allzu  schwarz- 
seherisch und  schrofif  —  rügt,  daß  Hitzköpfe  und  un- 
reife Jünglinge  aus  Eitelkeit  die  schwierigen  Fragen  der 
Homosexualität  in  Aufsätzen,  die  oft  schon  im  Stil  ihre 
Unbildung  und  Unreife  verrieten,  behandelten.  Hierbei 
darf  man  aber  nicht  vergessen,  daß  ebenso  viele  unreife 
und  in  der  homosexuellen  Frage  unwissende  Hetero- 
sexuelle sich  anmaßen,  in  dieser  Frage  schriftstellerisch 
aufzutreten  und  durch  ihre  lächerlichen  Produkte  die 
Homosexuellen  zur  Bekämpfung  der  herrschenden  Vor- 
urteile reizen. 

Sittlichen  Ernst  und  wissenschaftliche  Befähigung  erkennt 
Schneidt  auf  Seite  des  Komitees  an,  aber  er  behauptet,  es 
hätte  sich  —  wenn  auch  aus  dem  idealen  Drang  den  in  ihrer 
innersten  Natur  verkannten  Homosexuellen  zu  helfen  —  die  Bun- 
desgenossenschafc  einer  namenlosen  Winkelpresse  gefallen  lassen 
und  sei  Arm  in  Arm  mit  lärmvollen  und  unreifen  Elementen  vor 
die  Öffentlichkeit  in  Versammlungen  getreten,  bevor  es  überhaupt 
über  einwandsfreie  Forschungsergebnisse  verfugte. 

In  der  „Zeit  am  Montag^^  vom  11.  Januar  hat 
Dr.  Hirscnfeld  auf  diesen  Vorwurf  erwidert^ 

,,daß  sehr  ernste  wissenschaftliche  Arbeiten,  die  sich  Über 
einen  Zeitraum  von  über  80  Jahren  erstreckten,  es  über  jeden 
Zweifel  sicher  gestellt  hätten,  daß  das  gleichgeschlechtliche 
Empfinden  eine  vielen  Personen  angeborene,  untrennbar  mit  ihrer 
Konstitution  verknüpfte  Eigenschaft  sei,  femer  daß  in  öffentlichen 
Versammlungen  jeder  sprechen  könne  und  eine  Verbindung  des 
Komitees  mit  irgend  welchen  Elementen  nicht  vorhanden  sei." 

Schließlich  meint  Schneidt,  zahlreiche  und  human  empfindende 
Leute  hegten  schwere  Bedenken,  sich  der  auf  Beseitigung  des 
^175  abzielenden  Bewegung  anzuschließen,  weil  ihre  Hauptforderer 
Jahrbuch  VI.  33 


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—     514     — 

keine  Mittel  anzugeben  wüßten,  wie  der  homosexuellen  Prostitution 
und  der  Verführung  nicht  homosexuell  veranlagter  Personen,  so- 
wie der  Vergewaltigung  von  Knaben  und  Jünglingen  durch  Vor- 
gesetzte, Arbeitgeber  usw.  beizukommen  sei. 

Schneidt  ist  im  Irrtum.  Derartige  Mittel  kann  ich 
ihm  leicht  angeben.  Man  mag  den  die  weibliche  Prosti- 
tation bestrafenden  §  361^  auf  die  männliche  ausdehnen, 
wenn  man  sie  fürchtet,  femer  kann  man  einen  Para- 
graphen zum  Schutz  der  Jünglinge  bis  zu  16  (oder 
auch  18)  Jahren  aufnehmen  (auch  die  Petition  sieht  ja 
einen  derartigen  Paragraphen  vor). 

Über  dieses  Alter  hinaus  (16  oder  18  Jahre)  er- 
scheint aber  die  Bestrafung  einer  Verführung  unzulässig, 
da  man  doch  auch  nicht  daran  denkt,  die  Verführung 
eines  Mädchens  zu  bestrafen,  die  ganz  anders  in  deren 
Lebensschicksal  eingreift,  wie  homosexuelle  Akte  mit  fast 
großjährigen  jungen  Männern.  Vergewaltigung,  d.  h.  mit 
Gewalt  ausgeführte  homosexuelle  Handlungen  oder  solche 
mit  Unzurechnungsfähigen  ausgeführte,  verdienen  aller- 
dings Bestrafung,  daher  ist  Ausdehnung  des  §  176  Nr.  1 
und  2  auf  derartige  Handlungen  am  Platze  und  zwar 
einerlei,  ob  der  Vergewaltigende  Vorgesetzter  oder  Arbeit- 
geber ist.  Endlich  sind  homosexuelle  Handlungen,  die 
unter  Mißbrauch  eines  gewissen  Autoritätsverhältnisses 
begangen  werden,  schon  nach  §  174  strafbar.  Den  Miß- 
brauch anderer  Autoritätsverhältnisse  als  der  in  §  174 
genannten,  speziell  hinsichtlich  der  homosexuellen  Hand- 
lungen strafbar  zu  erklären,  dazu  liegt  nicht  der  min- 
deste Grund  vor;  ein  weit  größeres,  mindestens  gleiches 
Interesse  bestände  zum  Schutze  der  schwächeren  Mädchen. 

In  dem  Artikel  von  Schneidt:  „Ragout  fln^<  in 
einer  weiteren  Januamummer  der  „Zeit  am  Montag" 

berichtet  Schneidt  über  die  Menge  von  Schreiben,  die  er 
aaf  seinen  ersten  Artikel  hin  von  Seiten  Homosexueller  empfangen 
habe.  In  ironischer,  geistreicher  Weise  spottet  er  über  das  pöbel- 
hafte Benehmen  dieser  Homosexuellen  und  ihre  rohen  und  ordi- 


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—     515     — 

nären,  dazu  anonymen  Beschimpfungen.  Nur  zwei  Briefe  seien 
unterzeichnet  gewesen,  der  eine  von  Brand,  der  andere  von  Bab. 
Beide  Schriftsteller  nimmt  Schneidt  von  den  Elementen  aus,  die 
er  in  seinem  ersten  Artikel  angegriffen,  jedoch  bekämpft  er  die 
Anschauungen  beider,  namentlich  hält  er  die  künstlerische  Behand- 
lung imd  Verherrlichung  der  Homosexualität  für  um  so  gefähr- 
licher, je  größer  der  ästhetische  Gehalt  des  Kunstwerkes  sei. 

Die  Homosexuellen^  welche  auf  die  scharfen,  aber 
teilweise  berechtigten^  jedenfalls  durchaus  in  anständigem, 
ernstem  Tone  gehaltenen  Angriffe  für  gut  befunden  haben, 
mit  Schimpfworten  zu  antworten,  haben  die  treffliche 
Abführung  seitens  Schneidt  verdient. 

Es  ist  eifreulich,  daß  Schneidt  jedoch  gerecht  genug  war, 
anzuerkennen,  daß  es  unstreitig  auch  eine  ganze  Menge  höchst 
achtbarer  Personen  unter  den  Homosexuellen  gäbe,  denen  man 
schweres  Unrecht  zufügen  würde,  wollte  man  ihr  Bildungsniveau 
und  ihre  Ethik  nach  derjenigen  dieser  Briefschreiber  beurteilen. 

Sper,  Br.  A»,  Capri  und  die  Homosexuellen.  Eine 
psychologische  Studie.  Orania-Verlag,  Oranienburg- 
Berlin. 

Davon  ausgehend,  daß  das  Klima  auf  Ausbildung  und 
Bichtung  des  Geschlechtstriebes  einen  gewissen  Einfluß  ausübe, 
stellt  Verfasser  die  nicht  unanfechtbare  Behauptung  auf,  daß  die 
Homosexualität  im  Süden  und  namentlich  in  Italien  weit  ver- 
breiteter als  im  Norden  sei.  In  der  sog.  „arkadischen  Zone"  sei 
die  eigentlich  nicht  als  Laster,  vielmehr  nur  als  eigenartig  antro- 
pologische Erscheinung  zu  betrachtende  Homosexualität  populär 
und  epidemisch.  Besonders  in  Capri  habe  sie  von  jeher  geblüht, 
woran  abgesehen  vom  Klima  die  paradiesische  Schönheit  der 
dortigen  männlichen  Jugend  hauptsächlich  Schuld  sei. 

In  Italien,  wo  Päpste  und  überhaupt  die  edelsten  Vertreter 
der  Nation  der  Männerliebe  gehuldigt,  bedeuteten  die  gegen  Krupp 
erhobenen  Anschuldigungen  nicht  vieL 

Dem  gegenüber  ist  zu  berücksichtigen,  dafi  bei  den 
noch  herrschenden  Vorurteilen  auch  für  einen  Krupp  die 
öflFentliche  Enthüllung  seines  Naturtriebes  eine  Brand- 
markung bedeutete,  die  ihn  in  den  Tod  jagen  konnte. 

38* 


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—     516     — 

Die  Verteidigung  Krupps  fuhrt  Sper  überhaupt  zu  einer 
schiefen  Beurteilung  der  Homosexualität.  Er  geißelt  zwar  die 
Ungerechtigkeit  des  §  175  und  fordert  seine  Aufhebung,  aber  er 
stellt  eine  falsche  Unterscheidung  zwischen  edler  und  sinnlicher 
Homesexualität  auf  und  bringt  sie  in  einen  unrichtigen  Gegensatz 
zueinander. 

Nach  Sper  sollte  man  meinen,  es  gäbe  eine  große 
charakteristische  Klasse  von  Homosexuellen,  die  an  TöUig 
keuscher,  schwärmerischer  Liebe  und  idealem  Schönheits- 
kult sich  begnügten,  und  dann  im  Gegensatz  zu  dieser 
Kategorie  eine  Klasse  sinnlicher  Gesellen.  Keusche  Homo- 
sexuelle kommen  nun  gewiß  vor,  ebenso  wie  keusche 
Heterosexuelle,  sie  sind  aber  selten.  Meist  hat  der 
Homosexuelle  Bedürfnis  nach  sinnlichem  Verkehr  und 
huldigt  ihm  auch.  Deshalb  braucht  er  aber  kein  sinn- 
licher Geselle,  kein  Wüstling  zu  sein  und  kann  trotzdem 
edlere  Liebe  empfinden.  Man  braucht  die  Homosexuellen, 
wenn  man  sie  verteidigen  will,  nicht  als  Engel  zu  malen, 
sie  verlieren  nichts  an  Achtung,  sie  werden  nicht  zu 
Lüstlingen  gestempelt,  wenn  man  der  Wirklichkeit  ent- 
sprechend zugesteht,  daß  die  meisten  —  ebenso  wie  die 
Heterosexuellen  —  des  sinnlichen  Verkehrs  bedürfen  und 
ihn  ausüben. 

Endlich  muß  entschieden  der  Auffassung  wider- 
sprochen werden,  als  habe  der  Kaiser  in  seiner  berühmten 
Essener  Bede  sich  auf  den  Standpunkt  der  neueren 
Forschungen  über  Homosexualität  gestellt,  die  die  Be- 
seitigung des  §  175  verlange.  Davon  ist  nichts,  aber 
auch  gar  nichts  aus  der  Rede  herauszulesen. 

Was  schließlich  die  Frage  betrifft,  ob  tatsächlich 
Krupp  homosexuell  gewesen  ist  oder  nicht,  so  will  ich 
nur  bemerken,  daß  mir  schon  drei  Jahre  vor  Krupps  Tod 
in  Rom  von  Deutschen  mitgeteilt  wurde,  Krupp  sei  homo- 
sexuell. 


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—     517     — 

Einige  Monate  später  wurde  mir  dasselbe  in  Baden- 
Baden^  wo  Krupp  eine  Villa  besitzt,  erzähljb.  Endlich 
äufierte  sich  mir  gegenüber  ein  heterosexueller  adliger 
Herr  bald  nach  Krupps  Tode,  daß  in  seinen  Kreisen  es 
schon  vor  etwa  zehn  Jahren  allgemein  gesagt  wurde,  es 
schicke  sich  nicht  flir  einen  Krupp,  der  griechischen 
Liebe  zu  huldigen. 

Sper  verfolgt  dann  den  Zweck,  Krupp  von  dem  Verdacht 
der  Homosexualität  und  mindestens  von  demjenigen  eines  ge- 
schlechtlichen Verkehrs  mit  Männern  zu  reinigen,  wobei  er  sich 
jedoch  in  Widersprüche  verwickelt  und  sich  zahlreicher  —  viel- 
leicht absichtlicher  —  Unklarheiten  schuldig  macht. 

Er  meint,  Krupp  sei  ein  Opfer  des  italienischen  Milieu  ge- 
worden. Der  Italiener  aus  dem  Volk  habe  den  Verkehr  des 
Millionärs  Krupp  mit  armen  Landleuten  nur  homosexuell  deuten 
können.  Krupp  sei  aber  nicht  homosexuell,  vielmehr  Mann  in 
der.  Wortes  tiefster  Bedeutung  gewesen. 

Diese  Behauptung  von  Sper  paßt  jedoch  schlecht  zu 
der  fast  im  gleichen  Satze  von  Kjupp  gegebenen  Cha^ 
rakteristik  als  einer  „hypersensitiven  Künstlernatur",  als 
ein  Mann,  über  dessen  Wesen  ein  fast  femininer  Hauch 
ausgebreitet  gewesen  sei,  eine  Charakteristik,  die  eher 
auf  einen  Homosexuellen,  als  auf  einen  Vollmann  hin- 
weist 

Des  weiteren  heifit  es  doch  sicherlich  die  ganze 
Sache  auf  den  Kopf  stellen,  das  tragische  Ende  Krupps 
als  Beweis  von  der  Unwahrheit  des  über  ihn  verbreiteten 
Gerüchts  aufzufassen,  weil  kein  Homosexueller  in  ver- 
hängnisvolle Erregung  gerate,  keiner  in  der  Beschul- 
digung der  Homosexualität  eine  Beleidigung  erblicke  (!). 

Alles,  was  Sper  in  dieser  Beziehung  sagt,  läßt  sich 
nicht  halten:  Gesellschaftlich  ist  ja  der  Homosexuelle 
nicht  anerkannt;  noch  in  den  weitesten  Kreisen  —  und 
gerade  in  den  hochkonservativen,  orthodoxen  Kreisen 
Krupps  —  gilt  der  Homosexuelle  als  lasterhafter  Mensch, 
als  Verbrecher,  jedenfalls  dann,  wenn  seine  Homosexualität 


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—     518     — 

öflFentlich  bekannt  wird.  Den  besten  Beweis,  wie  wenig  die 
Homosexualität  den  neuen  wissenschaftlichen  Forschungen 
entsprechend  beurteilt  wird,  lieferte  das  Gtebahren  der 
meisten  Zeitungen  im  Falle  Krupp;  keine  wagte  zu  ver- 
künden, daß  die  Homosexualität  kein  Laster  sei  und 
ihre  Betätigung  keine  ehrenrührige  Handlung  bedeutet 
Das  Komitee  allein  hat  öffentlich  Protest  gegen  diese 
Auffassung  erhoben. 

Tamowsky,  Llnstinet  sexuel  et  ses  manifestations 
morbides  au  double  point  de  Tue  de  la  Juris- 
prudenee  et  de  la  Psychiatric.  Paris,  1904,  Car- 
rington. 

Das  Buch  ist  die  franzöBiscbe  Übersetzung  des  schon  vor 
Jahren  erschienenen  verdienstvollen,  aber  zur  Zeit  in  vielen 
Punkten  überholten  Originalwerkes,  in  welchem  Tarnowsky  als 
einer  der  Ersten  die  angeborene  Perversion  eingehend  besprochen 
hat,  wenn  er  auch  in  vielen  Fällen  eine  Erwerbung  annimmt. 
Besonders  bemerkenswert  ist  auch  der  Abschnitt  über  die  psychische 
Hermaphrodisie,  der  noch  heute  Beachtung  beanspruchen  kann. 

Der  Übersetzung  hat  der  bekannte  französische  Professor 
Laccasagne  eine  Bibliographie  der  Homosexualität  beigefugt,  die, 
wie  er  bemerkt,  entnommen  sei  teils  persönlichen  Notizen,  teils 
dem  „Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen/'  Die  Bibliographie, 
die  mit  Ausnahme  von  drei  oder  vier  Büchern,  bei  denen  kurze 
Notizen  angegeben  sind,  nur  die  Titel  anfuhrt,  ist  ziemlich  un- 
vollständig. 

Anscheinend  ist  nur  die  Bibliographie  des  Jahrbuches  I 
benutzt,  und  auch  aus  dieser  sind  gerade  hochwichtige  homo- 
sexuelle Sachen  (z.  B.  Eckhouds  Werke)  bei  Seite  gelassen,  wäh- 
rend manche  Schrift,  deren  homosexueller  Charakter  überhaupt 
fraglich  ist,  Aufnahme  gefunden  hat.  Die  neueste  Literatur  seit 
dem  ersten  Jahrbuch  fehlt  völlig.  * 

Taruffl,  Caesare,  Hermaphrodlsmus  und  Zengungs- 
Unfähigkeit.  Eine  systematische  Darstellung  der 
Mißbildungen  der  menschlichen  Geschlechtsorgane. 
Übersetzt  von  Dr.  med.  Teuscher.  Berlin,  1903,  Ver- 
lag von  Barsdorf. 


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—     519     — 

Nach  einem  historischen  Überhlick  über  die  den  Herma- 
phrodismus  berührenden  Forschungen  wird  in  Teil  I  der  ana- 
tomische Hermaphrodismas  behandelt  in  folgenden  Artikeln: 

1.  Hermaphrodismus  der  spezifischen  Geschlechtsdrüsen. 

2.  Hermaphrodismus  der  aplasischen  Geschlechtsdrüsen. 

3.  Pseudo- Hermaphrodismus;  A.  Männlicher.  B.  Weiblicher. 
Teil  n  enthält:  Feminismus  (der  feminierte  Mann)  d.  h. 

FäUe,  wo  im  Äußern,  im  Körperbau  usw.  beim  Manne  sich  Cha- 
raktere des  Weibes  finden,  besonders  wu*d  Kleinheit  der  Gestalt 
hervorgehoben,  Mikrosomie,  die  bis  zum  Nanismus  (Zwerg- 
haftigkeit)  geben  könne. 

Infantilismus:  Fortdauer  vom  Habitus  und  Äußerem  des 
Kindes. 

Gynäkomastie:  Weibliche  Brüste  bei  Männern. 

Zweiter  Abschnitt:  Invirilismus  (Virago,  Kap.  I),  d.  h.  an- 
geborene Entwicklung  eines  oder  mehrerer  Teile  eines  Weibes  mit 
psychischen  und  funktionellen  Eigenschaften,  die  denen  des  Mannes 
ähnlich.    Dazu  gehören  besonders: 

Weibliche  Makrosomie  (Kap.  II),  also  hohe  Statur,  Hyper- 
trichosis  (Kap.  III),  Bartwuchs  bei  dem  Weibe. 

Makrosomie  und  Hypertrichosis  könnten  für  sich  allein  ge- 
nommen, nicht  als  wesentlich  und  ausschließlich  für  den  Inviri- 
lismus betrachtet  werden,  denn  der  eine  oder  andere  oder  beide 
könnten  fehlen,  und  dennoch  könnten  Frauen  aus  andern  Gründen 
als  Viragines  zu  betrachten  sein. 

Auch  die  Elephantiasis  (Kap.  lY)  (d.  h.  außergewöhnliche 
Größe)  und  Hypertrophie  der  Clitoris,  die  nicht  die  anatomischen 
Eigenschaften  des  Penis,  sondern  nur  eine  grobe  Ähnlichkeit  zeige, 
sei  nur  als  Pseudo-Invirilismus  zu  bezeichnen  und  mache  nicht 
den  Typus  der  Virago  aus,  könne  aber  bewirken,  daß  die  Frau 
zur  Tribade  werde. 

Unter  dem  „Psychologischen  Invirilismus'*  (Kap.  V) 
erwähnt  Verfasser  in  §  1,  betitelt:  „Psychopathie",  durch  männ- 
liche psychologische  Eigenschaften  ausgezeichnete  Frauen  (Jeanne 
d'Arc  usw.)  (in  Kunst  und  Wissenschaft  hervorragende  Frauen  usw.), 
und  in  §  2  „Der  psychisch-sexuelle  Invirilismus"  die  Fälle 
von  Satyriasis,  während  er  in  §  3  „Sexuelle  Perversion",  die 
konträre  Sexualempfindung  im  allgemeinen  bespricht.  Dabei 
bringt  er  kaum  mehr,  als  die  Einteilungen  und  Eesultate  aus 
Eürafft-Ebing,  dagegen  enthält  Kapitel  VI.,  das  speziell  dem  „Tri- 
badismus"  gewidmet  ist,  einige  weniger  bekannte  historische  und 


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—     520     — 

literarische  Notizen,  so  von  Marokkanischen  Wahrsagerinnen,  Sa- 
hacat  genannt  (d.  h.  Fricatrices),  die  als  Bezahlung  fär  ihre  Weis- 
sagungen von  den  sie  konsultierenden  Frauen,  die  ihnen  gefielen, 
geschlechtlichen  Verkehr  verlangten,  femer  z.  B.  zwei  Stellen  aus 
der  Schrift  des  berühmten  italienischen  Arztes  Girolamo  Merenziale 
aus  dem  17.  Jahrhundert  „Variorum  lectionum  in  medicinae  scrip- 
toribus",  von  denen  eine  unter  Anführung  von  Ci taten  in  griechischer 
Sprache  den  Gebrauch  der  Cunilingui  Weiber  im  Altertum  be- 
spreche. (Nach  Haller  13.  Kap.  des  2.  Buches:  Miscellanea  in 
antiquitate  sumpta  loci  veterum  emendati,  ezplicati,  pleraque 
practica,  conciliata  in  poetarum  italorum  veterum  locis.) 

Der  dritte  Abschnitt  beschäftigt  sich  wieder  mit  den  urethro- 
sezualen  Neubildungen  und  das  zweite  Kapitel  dieses  Abschnitts 
„Psycho-sezuelle  Pathologie",  behandelt  die  psychischen 
Alterationen  und  Einflüsse,  die  die  Mißbildungen  der  Geschlechts- 
organe zur  Folge  hätten,  insbesondere  wird  auch  Ehescheidung 
und  Ungültigkeit   der  Ehe  als  Folge  der  Mißbildung  besprochen. 

Sämmtlichen  Abschnitten  sind  umfangreiche  Belege,  Darstel- 
lungen und  Berichte  über  die  einzelnen  Fragen  beigegeben. 

Das  Buch  enthält  eine  große  und  zum  Teil  wert- 
volle Fülle  des  Materials,  die  ganze  Disposition  scheint 
mir  aber  unklar  und  unübersichtlich,  überhaupt  macht 
das  ganze  Werk  den  Eindruck  des  wissenschaftlich  un- 
genügend Vorbereiteten,  der  vorwiegenden  Mosaikarbeit, 
der  mangelhaften  Synthese. 

Weininger,  Br.  Otto,    Geschlecht  und  Charakter. 

Eine  prinzipielle  Untersuchung.     Wien  und  Leipzig, 
1903,  Wilhelm  Braumüller. 

Das  Buch  beabsichtigt,  die  geistigen  Differenzen  der  Ge- 
schlechter in  ein  System  zn  bringen.  Das  Einzelproblem  des 
Geschlechtsgegensatzes  bilde  den  Ausgangspunkt  für  die  höchsten 
und  allgemeinsten  Menschheitsprobleme. 

Die  bisherige  scharfe  Unterscheidung  zwischen  Mann  und 
Weib  sei  unrichtig.  Die  geschlechtliche  Differenzierung  sei  nie 
eine  vollständige.  Alle  Eigentümlichkeiten  des  männlichen  Ge- 
schlechts seien  irgendwie,  wenn  auch  noch  so  schwach  entwickelt, 
beim  weiblichen  Geschlecht  nachzuweisen  und  umgekehrt. 


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—     521     — 

£b  gäbe  unzählige  Abstufungen  zwischen  Mann  und  Weib, 
sexuelle  Zwischenformen.  Man  könne  einen  idealen  Mann  und 
ein  ideales  Weib,  die  in  der  Wirklichkeit  nicht  existierten,  nur 
als  sexuelle  Typen  aufstellen.  Jeder  Mensch  bewege  sich  in  der 
Wirklichkeit  zwischen  diesen  zwei  idealen  £xtremen.  Es  gebe  in 
der  Erfahrung  nicht  Mann  und  Weib,  könne  man  sagen,  sondern 
nur  Männliches  und  Weibliches. 

Das  Geschlecht  sei  nicht  auf  gewisse  Organe  oder  Stellen 
beschränkt,  jede  Zelle  des  Organismus  sei  geschlechtlich  charak- 
terisiert, habe  eine  bestimmte  sexuelle  Betonung,  diese  sexuelle 
Charakteristik  der  Zelle  könne  einen  verschieden  hohen  Grad 
haben.  Die  Geschlechtlichkeit  des  Individuums  werde  durch  die 
innere  Sekretion  der  Keimdrüse  beeinflußt,  diese  Sekretion  müsse 
in  gewissem  Maße  als  ergänzende  Komplementärbedingung  hinzu- 
kommen, um  ein  bestimmt  qualifiziertes  Masculinum  oder  Femi- 
ninum hervorzubringen.  Die  verschiedenen  Zellen  eines  und  des- 
selben Organismus  würden  nicht  immer  die  gleiche  und  sehr  oft 
nicht  eine  gleich  starke  Charakteristik  besitzen. 

Es  läge  durchaus  nicht  in  allen  ZeUen  eines  Körpers  der 
gleiche  Gehalt  an  Männlichem  und  Weiblichem.  Daher  z.  B. 
Männer  mit  sehr  schwachem  Bart,  Menschen  mit  rechter  weiblicher 
und  linker  männlicher  Hüfte  und  dergl. 

Wenn  auch  weite  AbstILnde  in  der  sexuellen  Charakteristik 
zwischen  den  verschiedenen  Zellen  oder  Organen  desselben  Lebe- 
wesens eine  Seltenheit  bildeten,  so  müsse  man  doch  die  Spezi- 
fizität  derselben  für  jede  einzelne  Zelle  als  allgemeinen  Fall  an- 
sehen. 

Die  verschiedenen  Grade  der  ursprünglichen  sexuellen  Cha- 
rakteristik zusammen  mit  der  (bei  den  einzelnen  Individuen 
wahrscheinlich  qualitiv  und  quantitiv)  variierenden  inneren  Sekretion 
bedingten  das  Auftreten  der  sexuellen  Zwischenformen. 

Weiningers  Annahme,  daß  das  Männliche  und  Weibliche  in 
verschiedenen  Verhältnissen  sich  auf  die  Lebewesen  verteile,  führt 
ihn  zu  einer  Erklärung  der  sexuellen  Anziehung,  zu  einem  Natur- 
gesetz, daß  darin  bestünde,  daß  immer  ein  ganzer  Mann  und 
ein  ganzes  Weib  danach  trachteten,  zu  sexueller  Vereinigung 
zusammen  zu  kommen,  wenn  auch  das  Männliche  und  Weibliche 
in  jedem  einzelnen  Fall  auf  die  zwei  verschiedenen  Individuen  in 
verschiedenen  Verhältnissen  verteilt  sei.  Die  sexuelle  Anziehung 
sei  zwischen  denjenigen  Individuen  am  größten,  von  denen  das 
eine  ebensoviel  Männliches  wie  das  andere  Weibliches  besitze. 
Dieses  Gesetz  der  sexuellen  Anziehung  sei  nicht  das  einzige,  es 


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—     522     — 

kfimen  noch  sehr  viele  andere,  noch  nicht  genügende  bekannte 
Faktoren  hinzu. 

In  dem  Gesetz  der  sexuellen  Anziehung  sei  zugleich  die  Er- 
klärung der  konträren  Sexualempfindung  zu  suchen.  Jeder  Kon- 
träre weise  auch  anatomisch  gewisse  Charaktere  des  andern  Ge- 
schlechts auf.  Schon  das  zeige  die  Unrichtigkeit  der  Anschauung, 
wonach  der  konträre  Sexualtrieb  im  Laufe  des  Lebens  erworben 
sei  und  das  normale  Geschlechtsgefühl  überdecke.  Ebensowenig 
sei  die  konträre  Sexualempfindung  ein  auf  Grund  heriditärer  Be- 
lastung ererbtes  krankhaftes  Symptom. 

Die  Homosexualität  sei  kein  Bückschlag  oder  unvollendete 
Entwicklung  oder  mangelhafte  Differenzierung  der  Geschlechter, 
überhaupt  keine  Anomalie,  die  nur  vereinzelt  dastünde  und  als 
Rest  einer  früheren  Undifferenziertheit  in  die  sonst  völlig  voll- 
zogene Sonderung  der  Geschlechter  hineinrage.  Die  Homosexu- 
alität sei  vielmehr  als  die  Geschlechtlichkeit  der  sexuellen  Mittel- 
stufen in  den  kontinuierlichen  Zusammenhang  der  sexuellen 
Zwischenformen  einzureiben. 

In  jedem  menschlichen  Wesen  sei  entsprechend  dem  mehr 
oder  minder  rudimentär  gewordenen  Charakter  des  andern  Gre- 
schlechts  auch  die  Anlage  zur  Homosexualität,  wenn  auch  noch 
schwach,  vorbanden.  Es  gäbe  eigentlich  keine  völlig  Invertierte, 
sondern  nur  Bisexuelle,  bei  denen  entweder  die  Homo-  oder 
Heterosexualität  schließlich  die  Oberhand  gewonnen. 

Das  konträre  Geschlcchtsgefühl  sei  keine  Ausnahme  vom 
Naturgesetz,  sondern  nur  ein  Spezialfall  desselben.  Ein  Indivi- 
duum, das  ungefähr  zur  Hälfte  Mann,  zur  Hälfte  Weib  sei,  ver- 
lange eben  nach  dem  Gesetz  der  sexuellen  Anziehung  zu  seiner 
Ergänzung  ein  anderes,  das  ebenfalls  von  beiden  Geschlechtem 
etwa  gleiche  Anteile  habe. 

Dies  sei  auch  der  Grund,  daß  die  Konträren  fast  immer  nur 
untereinander  ihre  Art  von  Sexualität  ausübten. 

Das  therapeutische  Verfahren  der  Suggestion,  mit  dem  man 
die  sexuelle  Perversion  heute  bekämpfe  und  das  nur  minimale 
Erfolge  aufweise,  zeige  die  Unzulänglichkeit  der  bisherigen  Er- 
klärungstheorien der  konträren  Sexual empfindung.  Halte  man  eine 
Therapie  der  konträren  Sexualempfindung  unbedingt  für  wünschens- 
wert, so  könne  die  Suggestionskur  nur  da  Erfolg  haben,  wo  man 
den  Konträren  Neigung  für  das  seiner  Natur  entsprechende  Kom- 
plement einzuflößen  suche,  d.  h.  Neigung  für  das  möglichst  männ- 
liche Weib;  man  müsse  den  Homosexuellen  an  die  Tribade  weisen» 
Der  Sinn  dieser  Empfehlung  könne  aber  nur  der  sein,  dem  Kon- 


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—     523     - 

trären  die  BefolguDg  der  noch  in  Kraft  stehenden  Gesetze  gegen 
homosexuelle  Akte,  die  eine  Lächerlichkeit  seien,  möglichst  leicht 
zu  machen. 

Es  sei  ganz  verwerflich  und  auch  mit  den  Prinzipien  des 
Strafrechts,  das  nur  das  Verbrechen,  nicht  die  Sünde  ahnde,  völlig 
unvereinbar,  dem  Homosexuellen  seine  Art  des  Geschlechtsverkehrs 
zu  verbieten  und  dem  Heterosexuellen  die  seine  zu  gestatten. 

Die  Subsnmption  der  Konträren  unter  die  sexuellen  Zwischen* 
stufen  und  das  entwickelte  Gresetz  ihres  Geschlechtsverkehrs 
scheine  allerdings  für  eine  Klasse  von  Fällen  nicht  zu  passen. 
Es  gäbe  nämlich  Männer,  die  sehr  wenig  weiblich  seien  und  trotz* 
dem  sich  von  Personen  des  eigenen  Geschlechts  mehr  angezogen 
fühlten  als  von  Frauen,  durchaus  männliche  Männer,  auf  die  das 
eigene  Geschlecht  eine  stärkere  Wirkung  ausübe  als  auf  Männer, 
die  weiblicher  seien  als  sie. 

Diese  Männer  könne  man  im  Gegensatz  zum  Homosexuellen 
als  Päderasten  bezeichnen.  Während  der  Homosexuelle  derjenige 
sei,  der  weibliche  Männer  und  männliche  Weiber  bevorzuge,  könne 
der  Päderast  sehr  männliche  Männer,  aber  ebensowohl  sehr  weib- 
liche Frauen  lieben,  das  letztere,  soweit  er  nicht  Päderast  seL 
Dennoch  werde  die  Neigung  zum  männlichen  Geschlecht  bei  ihm 
stärker  sein  und  tiefer  gehen  als  die  zum  weiblichen.  Die  Frage 
nach  dem  Grund  der  Päderastie  bilde  ein  Problem  ftir  sich,  das 
er,  Weininger,  bei  seiner  Untersuchung  unerledigt  lassen  wolle. 

Sein  Prinzip  der  sexuellen  Zwischenstufen  wendet  Weininger 
auch  auf  die  Charakterologie  an.  Auch  von  dem  Charakter  könne 
man  wissenschaftlich  nicht  mehr  wie  bisher  sagen,  er  sei  männlich 
oder  weiblich  schlechthin,  sondern  man  müsse  fragen,  wie  viel 
Mann,  wie  viel  Weib  in  einem  Menschen  sei.  Das  verschieden 
abgestufte  Beisammensein  vom  Männlichen  und  Weiblichen  sei 
Hauptprinzip  aller  wissenschaftlichen  Charakterologie,  diese  Tat- 
sache sei  besonders  von  der  speziellen  Pädagogik  zu  berücksichtigen, 
die  sie  bisher  außer  acht  gelassen. 

Auch  für  die  Frauen  frage  sei  das  Prinzip  der  Zwischen- 
formen von  Bedeutung.  Das  Emanzipationsbedüriiiis  und  die 
Emanzipationsfahigkeit  einer  Frau  läge  nur  in  dem  Anteil  an 
Männlichem  begründet,  den  sie  besitze.  Unter  Emanzipation  sei 
zu  verstehen  der  Wille  des  Weibes,  dem  Mann  innerlich  gleich 
zu  werden,  zu  seiner  geistigen  und  moralischen  Freiheit,  zu  seinen 
Interessen  und  seiner  Schaffenskraft  zu  gelangen.  Das  wirkliche 
Weib  habe  gar  kein  Bedürfnis  und  keine  Fähigkeit  zu  dieser 
Emanzipation.    Alle  wirklich  nach  Emanzipation  strebenden,  alle 


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—     524     — 

mit  einem  gewissen  Recht  berühmten  und  geistig  irgendwie  her- 
vorragenden Frauen  wiesen  stets  zahhreiche  männliche  Züge  auf 
und  es  seien  dem  schärferen  Blick  auch  immer  anatomisch-männ- 
liche Charaktere,  ein  körperlich  dem  Manne  angenähertes  Aus- 
sehen an  ihnen  erkennbar.  Nur  den  vorgerückteren  sexuellen 
Zwischenformen,  man  könne  beinahe  schon  sagen  jener  sexuellen 
Mittelstufen,  ,die  gerade  noch  den  Weibern  beigezählt  werden 
könnten,  entstammten  jene  Frauen  der  Gegenwart  wie  der  Ver- 
g^genheit,  die  von  Vorkämpfern  von  Emanzipationsbestrebungen 
zum  Beweise  für  gewisse  Leistungen  von  Frauen  angeführt  würden. 
Gleich  die  erste  geschichtliche  Frau  dieser  Art,  Sappho,  sei  kon- 
trärsexuell. Man  habe  Sappho  von  philologischer  Seite  sehr  eifrig 
von  dem  Verdacht  wirklicher  Liebesverhältnisse  mit  Frauen  zu 
reinigen  gesucht,  als  ob  der  Vorwurf  gleichgeschlechtlicher  Liebe 
eine  Frau  sittlich  sehr  stark  herabwürdigen  würde.  Dies  sei 
keineswegs  gerechtfertigt. 

Die  Neigung  zu  lesbischer  Liebe  einer  Frau  sei  Ausfluß 
ihrer  Männlichkeit,  sei  aber  geradezu  Bedingung  ihres  Höher- 
stehens. Katharina  II.  von  Rußland,  Christine  von  Schweden, 
Georges  Sand  seien  bisexuell  oder  ausschließlich  homosexuell, 
ebenso  wie  alle  Frauen  und  Mädchen  von  auch  nur  einigermaßen 
in  Betracht  kommender  Bedeutung,  die  der  Verfasser  kennen  ge- 
lernt habe. 

Auch  diejenigen  bedeutenden  Frauen,  über  die  keine  Zeug- 
nisse lesbischen  Empfindens  vorlägen,  würden  ihren  Gehalt  an 
Männlichkeit  dadurch  offenbaren,  daß  ihr  sexuelles  Komplement 
auf  Seite  der  Männer  nie  ein  echter  Mann  sein  werde.  Zum  Bei- 
spiel das  Verhältnis  von  Georges  Sand  zu  Musset  und  zu  dem 
weiblichsten  der  Musiker,  Chopin,  dasjenige  von  Daniel  Stern 
zu  dem  weiblichen  Liszt,  von  Mme.  Stael  zu  dem  homosexuellen 
Hauslehrer  ihrer  Kinder,  August  Schlegel  usw. 

Der  Unsinn  der  Emanzipationsbestrebungen  läge  in  der  Be- 
wegung, in  der  Agitation,  durch  welche  verleitet  auch  die  Weiber 
daran  teilnehmen  wollten,  die  gar  kein  Bedürfnis  und  keine  Fähig- 
keiten dazu  besäßen.  Freier  Zulaß  zu  allem  sei  nur  für  diejenigen 
zu  verlangen,  deren  wahre  psychische  Bedürfnisse  sie  stets  in 
Gemäßheit  ihrer  körperlichen  Beschaffenheit  zu  männlicher  Be- 
schäftigung triebe,  für  die  Frauen  mit  männlichen  Zügen. 

Trotz  seiner  Auffassung  von  Mann  und  Frau  als  bloße  Typen, 
ideale  Gebilde,  während  in  der  Wirklichkeit  lediglich  Mischungen 
aus  diesen  zwei  Typen  vorkämen,  betont  Weininger  im  ersten 
Kapitel:  „Die  sexuellen  Typen"  des  zweiten  Teiles,  daß  „Mensch*' 


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—     525     — 

zunächst  wenigstens  in  ein  und  derselben  Zeit  entweder  Mann 
oder  Weib  sein  müsse.  Damit  stehe  im  Einklang,  daß  fast  alles, 
was  sich  für  ein  Masculinum  oder  Femininum  schlechtweg  halte, 
auch  sein  Komplement  für  das  „Weib"  oder  den  „Mann*'  schlecht- 
weg ansähe.  Daher  fülle  auch  in  den  Beziehungen  zweier  Kon- 
trärer das  eine  Individuum  die  männliche,  das  andere  die  weib.* 
liehe  Funktion  aus.  Das  Verhältnis  Mann- Weib  erweise  sich  hier 
als  fundamental  an  der  entscheidenden  Stelle,  als  etwas,  worüber 
nicht  hinauszukommen  sei. 

In  den  folgenden  Kapiteln  des  zweiten  Teils  wird  die  Frage 
der  Zwischenstufen  und  der  Homosexualität  kaum  noch  berührt, 
nur  im  Kapitel  „Mutterschaft  und  Prostitution*'  wird  die  mann* 
liehe  Prostitution  gestreift  Die  Prostitution  sei  in  der  Natur  der 
Frau  begi*ündet  Dem  echten  Manne,  den  materiell  noch  öfter 
ein  widriges  Schicksal  treffe  und  welcher  Armut  intensiyer 
empfinde  als  das  Weib,  sei  gleichwohl  die  Prostitution  fremd 
und  männliche  Prostituierte  (unter  Kellnern,  Friseurgehilfen  usw.) 
seien  immer  vorgerückte  sexuelle  Zwischenformen. 

In  seinem  zweiten  Teile  will  Weininger  die  Inferiorität  des 
Weibes  gegenüber  dem  Manne  nachweisen. 

Wirkliches  Bewußtsein  habe  nur  der  Mann,  die  Frau  lebe 
unbewußt.  Genialität,  d.  h.  Leben  in  bewußtem  Zusammenhang 
mit  dem  Weltganzen,  sei  nur  an  die  Männlichkeit  geknüpft,  sie 
stelle  ideal  potenzierte  Männlichkeit  dar.  Logik  und  £thik  seien 
nur  beim  Manne  zu  finden,  nur  der  Mann  habe  eine  Seele,  die 
Frau  habe  keinen  Willen,  keinen  Eigenwert  der  menschlichen 
Persönlichkeit.  Die  Frau  sei  ganz  Sexualität.  Alle  Weiblichkeit 
sei  Unsittlichkeit  und  müsse  überwunden  werden.  Der  Mann 
müsse  sich  von  der  Geschlechtlichkeit  erlösen,  nur  so  erlöse  er 
auch  die  Frau.  Lediglich  das  wäre  Frauenemanzipation,  daß  sich 
die  Frau  unter  die  sittliche  Idee,  unter  die  Idee  der  Menschheit 
stelle.  Es  komme  lediglich  darauf  an,  ob  der  kategorische  Impe- 
rativ in  der  Frau  lebendig  werden  könne. 

Vieles  in  dem  Buche  von  Weininger,  namentlich  in 
dem  zweiten,  gegen  die  Eigenart  der  Frau  gerichteten 
Teil,  muß  ich  als  übertrieben,  tiberspannt,  falsch,  vieles 
geradezu  als  Beispiel  abgeschmackten  Philosophierens 
bezeichnen.  Trotzdem  wird  man  doch  dem  großzügig 
gedachten  Werk  nicht   die  Bedeutung   absprechen   und 


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—     526     — 

die  hohe  Begabung  des  leider  (im  Jahre  1903)  durch 
Selbstmord  dahingeschiedenen  Verfassers  bewundern. 

Seit  Schopenhauer  ist  es  wohl  das  erste  Mal,  daß 
in  einem  ernsteren  philosophischen  Werk  auch  die  Lösung 
des  homosexuellen  Problems  versucht  worden  ist 

In  allem  was  Weininger  über  die  geschlechtlichen 
Zwischenstufen  sagt,  ist  ja  wenig  neues  zu  finden,  nament- 
lich haben  Hirschfeld  und  Möbius  ähnliches  vor  ihm  auf- 
gestellt. Hoch  erfreulich  bleibt  es  jedoch,  daß  Weininger 
sich  in  den  Bahnen  der  neuesten  Spezialwissenschaft 
über  Homosexualität  bewegt  und  insbesondere  die  An- 
schauungen dieses  Jahrbuchs  verwertet  hat. 

Den  meisten  Ausflihrungen  Weiningers  über  sexuelle 
Zwischenstufen  und  sexuelle  Anziehung  möchte  ich  bei- 
stimmen, unrichtig  ist  jedoch  die  Behauptung,  die  Kon- 
trären fühlten  sich  meist  zu  Konträren  geschlechtlich 
hingezogen.  Viele  Konträre  haben  so  viel  Weibliches  an 
sich,  daß  ihr  sexuelles  Komplement  nur  der  Normalmann 
sein  kann.  Mit  Unrecht  macht  sodann  Weininger  eine 
scharfe  Trennung  zwischen  dem  weiblich  und  dem  männ- 
lich gearteten  Homosexuellen,  den  er  Päderast  nennt. 
Dieser  sogenannte  Päderast  fällt  nicht  aus  der  Reihe  der 
Zwischenstufen  heraus.  Auch  er  hat  zweifellos  trotz 
seiner  oft  hervorragenden  männlichen  Eigenschaften  des 
Geistes  und  des  Charakters  eine  Mischung  weiblicher 
Gefühlselemente,  die  ihn  sexuell  auf  den  Mann  hin- 
weisen. Da  aber  das  Männliche  andererseits  stark  in 
ihm  vertreten  ist,  so  kann  es  nicht  ver wundem,  wenn 
er  z.  B.  Jünglinge  mit  weiblichem  Typus  bevorzugt. 

Die  Mischung  des  Männlichen  und  Weiblichen  in 
einem  Menschen  kann  ebenso  verschieden,  so  eigenartig 
gestaltet  sein,  daß  auch  die  verschiedenste  sexuelle  An- 
ziehung, der  verschiedenartigste  sexuelle  Geschmack  ent- 
steht, ganz  abgesehen,  daß  Weininger  selbst  zugibt,  daß 


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—     527     — 

auch  andere,  bisher  nicht  ergründete  Elemjsnte  bei  der 
sexuellen  Beziehung  mitspielen.  Deshalb  kommen  auch 
bei  der  Liebe  der  Konträren  alle  möglichen  nur  er- 
denklichen Variationen  vor. 

MSbius    hat    in    einer    eigenen   Broschüre    Gesehleclit 
und  ünbeselieidenheit  (Halle,  1904,  Marhold) 

gegen  Weiningers  Buch  eine  sehr  scharfe  und  namentlich  hin- 
sichtlich des  zweiten  Teiles  des  Werkes  berechtigte  Kritik  ver- 
öffentlicht. 

Unter  anderem  wendet  sich  Möbius  gegen  die  Anmaßung 
Weiningers ;  neue  Gesichtspunkte  auf  dem  Gebiet  der  Sexualität 
und  der  Differenzierung  der  Geschlechter  entdeckt  zu  haben. 

Besonders  aber  interessiert  hier  ein  Punkt,  über  welchen 
zwischen  Möbius  und  Weininger  Meinungsunterschiede  bestehen. 

Möbius  bekämpft  lebhaft  die  Ansicht  Weiningers,  die  ge- 
schlechtlichen Zwischenstufen  seien  eine  normale  Erscheinung. 

Das  Zwischenreich  zwischen  Mann  und  Weib  gehöre  der 
Pathologie  an.  Auch  wenn  man  die  Grenzen  der  Zwischenstufen 
weit  stecke,  blieben  sie  immer  Ausnahmen. 

Sehe  man  von  den  Zwischenformen  ab,  so  zahlreich  sie  auch 
sein  mögen,  so  zerfalle  doch  die  Menschheit  in  richtige  Männer 
und  richtige  Weiber.  Weil  die  Zwischenformen  krankhaft  seien, 
so  gelte  der  Satz:  Je  gesunder  ein  Mensch  sei,  um  so  entschie- 
dener sei  er  Mann  oder  Frau.  Wären,  wie  Weininger  glaubt,  die 
Zwischenformen  die  Wirklichkeit  und  die  Typen  nur  die  ge- 
dachten Enden  der  Reihe,  so  wäre  der  Hermaphrodit  das  realste 
Geschöpf.  Er  sei  es  aber  nicht,  sondern  er  sei  nur  das  Extrem 
einer  krankhaften  Abweichung. 

Bedauerlich  sei ,  daß  durch  das  Bestreben  mancher  der 
Homosexuellen,  sich  für  normal  zu  halten,  immer  neue  Wirrungen 
entstünden.  Sie  hielten  etwas  unrichtiges  für  wahr,  weil  sie  es 
aus  ihrem  bedrängten  Zustande  heraus  wünschten. 

Möbius  und  Weininger  stimmen  darin  überein,  daß 
zwischen  dem  Vollmann  und  dem  Vollweib  sich  zahl- 
lose Zwischenstufen,  darunter  auch  die  Homosexualität, 
einreihen. 

Ist  man  hierüber  einig  und  zieht  man  die  Grenzen 
dieser  Zwischenstufen  so  außerordentlich  weit,  wie  Möbius 


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—     528     — 

es  tut,  dani\  wird  man  auch  kaum  einen  Vollmann  und 
ein  Vollweib  in  der  Wirklichkeit  finden,  weshalb  auch 
gerade  aus  den  eigenen  Anschauungen  von  Mobius  her- 
aus die  Ansicht  Weiningers  von  der  einzigen  Realität 
der  Zwischenformen  sich  deduzieren  läßt  und  ihre  Be- 
rechtigung herleitet.  Bei  der  Streitfrage,  ob  die  Zwischen- 
stufen als  krankhaft  oder  natürlich  zu  betrachten  seien, 
handelt  es  sich  im  Grunde  nur  um  einen  Wertstreit^ 
denn  einmal  kann  und  soll  ja  auch  gar  nicht  eigentliche 
Krankheit,  sondern  nur  Anomalie ,  Abnormität  gemeint 
sein,  zweitens  aber  wird  von  Möbius  selbst  hervorgehoben 
(vgl.  oben  die  Besprechung  von  „Geschlecht  und  Entartung**)» 
daß  die  Entartung,  welche  die  Homosexualität  darstelle, 
keineswegs  notwendigerweise  Minderwertigkeit,  oft  sogar 
das  Gegenteil  bedeute. 

West,  Dr.  Ludwig,  Homosexuelle  Probleme.     Im 

Lichte  der  neuesten  Forschung  allgemeinverständlich 
dargestellt    Berlin,  1903,  Carl  Messer  &  Co. 

Der  Verfasser  hat  aus  den  wichtigsten  wissenschaftlichen 
Arbeiten  über  Homosexualität,  insbesondere  aus  den  Werken  von 
Krafft-Ebing  und  Moll,  sowie  ans  den  Jahrbüchern  die  haupt- 
sächlichsten Fragen  über  Homosexualität  zusammenzustellen  ver- 
sucht, wobei  er  oft  ganze  Abschnitte  —  allerdings  meist  mit  aus- 
drücklicher Quellenangabe  —  fast  wörtlich  wiedergibt.  Nament- 
lich die  Jahrbücher  sind  reichlich  benutzt.  Eigene  Gedanken 
bringt  Verfasser  nicht.  In  seiner  Einleitung  macht  er  auch  aus- 
drücklich darauf  aufmerksam,  daß  er  nur  bezweckt  habe,  in  einem 
verhältnismäßig  kurzen,  allgemeinverständlichen  Buch  dem  Nicht- 
gelehrten auf  Grund  der  von  der  Wissenschaft  als  richtig  aner- 
kannten Tatsachen  Aufklärung  zu  verschaffen. 

Einige  Irrtümer  sind  zu  berichtigen. 

1.  Seite  29  heißt  es:  Konträre,  Konträrsexuelle  sind  neuere 
Bezeichnungen,  die  noch  umfassender  sind  als  homosexuell,  inso- 
fern sie  nicht  nur  auf  die  gleichgeschlechtliche  Liebe,  als  auf  alle 
Anomalien  des  Geschlechtstriebes,  sowie  auf  Fetischismus,  Sadismus, 
Masochismus,  Flagellantismus,  Koprolagismus ,  Nekromanie  usw. 
anwendbar  seien. 


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—     529     — 

Dieselbe  Bedeutung  haben  die  Ausdrücke  „Sexuelle  Inversion" 
„Perversion"  usw. 

Diese  Auslegung  der  Begriflfe  „sexuelle  Inversion" 
und  „konträr-sexuell"  ist  durchaus  unrichtig. 

Kein  einziger  wissenschaftlicher  Autor  hat  jemals 
die  Worte  „konträr",  ,,konträr- sexuell"  und  „sexuelle 
Inversion"  in  diesem  Sinne  gebraucht.  Diese  Worte 
lassen  sich  auch  nur  auf  gleichgeschlechtliches  Gefühl 
ihrem  Sinne  nach  anwenden. 

Nur  das  Wort  „Perversion"  hat  umfassendere  Be- 
deutung und  bezeichnet  nicht  bloß  die  Homosexualität, 
sondern  auch  alle  sonstigen  se:i^uellen  Anomalien. 

2.  In  Kapitel  IV  meint  Verfasser:  „Zweifellos  gibt  es  gerade 
unter  den  Homosexuellen  einen  außerordentlich  großen  Prozent- 
satz, der  dem  fleischlichen  Genuß  überhaupt  abhold  und  nur  far 
die  sog.  „platonische  Liebe"  empfanglich  ist." 

Der  Homosexuelle,  der  der  sinnlichen  Befriedigung 
—  womit  natürlich  nicht  immissio  penis  in  anum  ge- 
meint sein  soll  —  abhold  ist,  bildet  eine  ebenso  große 
Seltenheit  wie  der  Heterosexuelle,  der  dem  Geschlechts- 
verkehr mit  dem  Weibe  abgeneigt  ist 

3.  Kapitel  VIII  warnt  Verfasser  davor:  Dichterische  oder 
wissenschaftliche  Stümper  wegen  ihrer  Homosexualität  zu  bedeu- 
tenden Männern  zu  stempeln. 

Hierin  gebe  ich  ihm  Eecht,  dagegen  geht  er  viel  zu 
weit,  wenn  er  Platen  geradezu  als  einen  Stümper  be- 
zeichnet War  auch  Platen  kein  Dichter  ersten  Ranges,  so  ist 
es  eine  arge  Übertreibung,  ihn  aus  der  Reihe  der  Künstler 
streichen  zu  wollen.  Ein  feinfühliger  Mensch  und  ein 
Talent,  das  in  der  deutschen  Literatur  eine  geachtete 
Stellung  einnimmt,  bleibt  er  deshalb  doch  und  die  Homo* 
sexuellen  dürfen  ihn  mit  Stolz  zu  den  ihrigen  rechnen; 
möchten  sie  nur  viele  Individualitäten,  als  Menschen  und 
Künstler  gleich  ausgezeichnet  wie  Platen,  aufweisen! 

Jahrbuch  VI.  34 


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—     530     — 

IVlllielm,  Amtsrieliter  Dr.  £ugen,  Ein  Fall  ron 
Homosexualität  (Androgynle),  im  Archiv  für  Kri- 
minal-Anthropologie und  Kriminalistik  von  Groß, 
Bd.  XIV,  Nr.  1,  2. 

Die  Prozeßgeschichte  des  wegen  Vergehens  gegen  §  175 
durch  das  Landgericht  Straßburg  zu  zwei  Jahren  Geföngnis 
unter  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  auf  5  Jahre 
verurteilten  K.  wird  mitgeteilt. 

K.  hatte  abends  in  Frauenkleidern  mit  falschen  Brüsten  und 
Perrücke  versehen,  Männer,  die  er  über  sein  Greschlecht  täuschte, 
an  sich  gelockt  und  sich  von  ihnen  gegen  Bezahlung  a  posteriori 
gebrauchen  lassen  oder  Onanie  per  os  mit  ihnen  ausgeübt 

K.  hatte  erst  wenige  Monate  vor  seiner  Verhaftung  eine  im 
Jahre  1898  durch  das  Landgericht  Mülhausen  wegen  w.  ü.  und 
Diebstahls  gegen  ihn  ausgesprochene  Gefängnisstrafe  von  sy^  Jahren 
verbüßt. 

Auch  in  Mülhausen  hatte  er  in  Frauenkleidung  Männer  an 
sich  gelockt.  Früher  soll  K.  jahrelang  in  der  Schweiz  als  Frau 
gelebt  haben  und  als  Kellerin  gedient  haben. 

Das  Gutachten  des  Gerichtsarztes  in  Mülhausen  über  den 
körperlichen  Zustand,  dem  sich  dasjenige  des  Straßburger  Ge- 
fängnisarztes anschloß,  konstatierte  einen  völlig  weiblichen  Habi- 
tus.   Es  besagt: 

„K.'s  Gesicht  ist  jenes  eines  Weibes.  Wenn  dasselbe 
rasiert  ist ,  so  muß  man  es  von  nahe  betrachten ,  um  darin 
einen  Bart  zu  vermuten.  Sein  Auftreten,  sein  ganzes  Wesen,  die 
Stimme,  seine  Manieren,  sein  tänzelndes  Gehen  und  Stehen  sind 
dasjenige  einer  Frauensperson.  Wenn  man  ihn  in  entblößtem, 
nackten  Zustand  mit  bedeckter  Geschlechtsgegend  betrachtet  und 
seine  rund  geformten  Glieder  und  seinen  runden  fetten  Rumpf  vor 
sich  hat,  so  ist  man  ganz  erstaunt,'  bei  diesem  Menschen  männ- 
liche Geschlechtsteile  zu  finden.  Diese  Geschlechtsteile  sind  vor- 
handen, befinden  sich  aber  in  verkümmertem  Zustande.  Sie  sind 
nicht  größer  als  jene  eines  in  die  Pubertät  eintretenden  Knaben. 
Auf  Befragen  gibt  K.  auch  zu,  noch  niemals  mit  einem  Mädchen 
geschlechtlichen  Umgang  gehabt  zu  haben.  Er  habe  überhaupt 
keine  Neigung  zum  weiblichen  Geschlecht." 

Nachdem  das  Gutachten  den  Zustand  des  After  beschrieben, 
sagt  es  als  Endergebnis:  „Hiernach  bestehen  bei  K.  die  gewöhn- 
lichen sämtlichen  Merkmale,  welche  man  in  der  Regel  bei  den 
passiven  Gewohnheitspäderasten  vorfindet." 


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—     531     — 

In  der  an  die  „Prozeßgeschichte"  sich  anschließenden  „Be- 
urteilung" des  Falles  bezeichnet  der  Verfasser  K.  als  deutlichen 
und  typischen  Homosexuellen. 

1.  Verfasser  betont,  daß  die  Richter  bei  Beurteilung  gleich- 
geschlechtlicher Handlungen  umgekehrt  wie  bisher,  davon  aus- 
gehen müßten,  daß  sie  in  der  Regel  als  Ausfluß  konträrer  Sexual- 
empfindung zu  betrachten  seien,  da  nach  den  maßgebenden  Sach- 
verstandigen KrafiFt-Ebing,  Moll,  Hirschfeld  usw.  die  konträre 
Sexualempfindung  eine  weitverbreitete  Erscheinung  und  nach 
den  Ärzten,  welche  die  meisten  Konträren  untersucht  (Moll  und 
Hirschfeld)  die  frühere  Ansicht,  daß  Homosexualität  als  Resultat 
eines  Lüstlingslebens  vorkomme,  falsch  sei. 

Gestützt  auf  die  Beschreibung ,  die  Krafi^-Ebiog  und  Fuchs 
von  der  Klasse  der  Homosexuellen  geben,  deren  homosexuelles 
Wesen  sogar  im  Körperbau  zum  Ausdruck  komme,  macht  Verfasser 
aufmerksam,  daß  das  Gutachten  des  Mülhauser  Gerichtsarztes 
über  den  Habitus  des  K.  beweise,  daß  eine  besonders  typische 
Androgynie  vorliege.  Obgleich  das  Gutachten  des  Gerichtsarztes 
die  Homosexualität  mit  keiner  Silbe  erwähne,  so  wirke  es  doch 
durch  die  bloße  Feststellung  der  körperlichen  Beschaffenheit  des 
K.  überzeugend,  und  demonstriere  quasi  ad  oculos  auch  den  den 
Forschungen  über  Homosexualität  skeptisch  Gegenüberstehenden, 
daß  es  sich  bei  diesem  Weib-Mann  nicht  um  einen  Heterosexu- 
ellen, der  aus  Überdruß  am  Weib  zu  gleichgeschlechtlichen  Hand- 
lungen gelangt  sei,  sondern  um  einen  geborenen  Homosexuellen, 
um  ein  Naturspiel,  um  eine  Zwischenstufe  zwischen  Mann  und 
Weib  handle. 

Als  besonders  typisch  für  die  angeborene  Homosexualität 
des  K.  bezeichnet  dann  Wilhelm  die  Neigung  des  K.  zum  Tragen 
von  Frauenkleidem.  Das  Anlegen  der  Frauenkleider  sei  offenbar 
nicht  bloß  erfolgt,  um  besser  normale  Männer  des  Geldes  wegen 
an  sich  zu  locken,  sondern  die  Verkleidung  habe  K.'s  innerstem 
weibischen  Wesen  entsprochen,  da  die  Neigung  zum  Anlegen  von 
Frauenkleidem  gerade  effeminierten  Urningen  eigen  sei. 

2.  Die  Frage  nach  der  Zurechnungsfiähigkeit  des  K.  benützt 
der  Verfasser,  um  sich  im  allgemeinen  über  die  hinsichtlich  der 
strafrechtlichen  Verantwortung  der  Homosexuellen  bestehenden 
Ansichten  zu  verbreiten. 

Nach  den  meisten  Ärzten  gälte  die  konträre  Sexualempfin- 
dung als  krankhafte  Erscheinung,  jedoch  nur  in  den  seltensten 
Fällen  derart  krankhaft,  daß  sie  die  Anwendung  des  §  51  bedinge. 

34* 


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—     532     — 

Ob  und  wie  weit  K.  zurechnungsfähig  gewesen  sei,  könne  nicht 
gesagt  werden,  da  eine  psychische  Untersuchung  nicht  stattge- 
funden habe. 

Nur  einzelne  wenige  Autoren  würden  die  Homosexualität  an 
und  fiir  sich  als  Strafausschließungsgrund  anerkennen,  so  s.  B. 
Wachenfeld. 

Würde  man  Wachenfeld  beistimmen,  so  w&re  K.  zweifellos 
wegen  Unzurechnungsfähigkeit  freizusprechen  gewesen. 

3.  Erörtert  Wilhelm  die  Frage,  ob  nicht  im  Falle  der  Ab- 
änderung des  §  175,  den  er  in  seiner  jetzigen  Gestalt  für  durchaus 
unhaltbar  erachtet,  die  männliche  Prostitution  zu  bestrafen  oder 
wenigstens  wie  die  weibliche  unter  Kontrolle  zu  stellen  sei. 

Dem  Aufsatz  sind  einige  Bemerkungen  von  Näcke 
beigefügt  Auch  er  hält  es  für  nahezu  sicher,  daß  R.  ein  Homo- 
sexueller und  zwar  der  effiminierten  Art  sei.  Gegen  die  Ansicht 
des  ärztlichen  Gutachtens,  insoweit  es  aus  dem  Analbefunde  sicher 
auf  passive  Päderastie  schließen  wolle,  müsse  Protest  eingelegt 
werden,  da  ein  absolut  sicheres  Zeichen  hierfür  nicht  existiere. 

Soweit  das  Leben  des  K.  bekannt  sei,  weise  nichts  auf 
eigentliche  psychiatrische  Symptome.  Mangels  solcher  würde  er 
K.  für  zurechnungsfähig  gehalten  haben.  K.  sei  aber  zu  hart  be- 
straft worden.  Homo-  und  Heterosexualität  seien  gleichzustellen. 
Vom  Homosexuellen  sei  nicht  mehr  sexuelle  Abstinenz  zu  ver- 
langen, als  vom  Heterosexuellen.  Lasse  man  die  Prostitution  für 
die  Heterosexuellen  bestehen,  so  sei  es  nur  logisch,  die  gleichen 
Grundsätze  auch  auf  die  männliche  Prostitution  anzuwenden.  Wie 
sollten  gewisse  Homosexuelle  sonst  ihren  Geschlechtstrieb  be- 
friedigen. Sicher  wirke  die  männliche  Prostitution  nicht  demo- 
ralisierender als  die  weibliche  und  nur  das  damit  so  häufig  ver- 
bundene Erpresserunwesen  sei  zu  fürchten,  viel  weniger  dagegen 
die  Gefahr  der  syphilitischen  Ansteckung.  Es  sei  endlich  auch 
nicht  einzusehen,  warum  es  an  und  für  sich  einem  Manne  oder 
einem  Weibe  verwehrt  sein  solle,  sich  andersgeschlechtlich  zu 
kleiden.  Das  ethische  Gefühl  werde  dabei  doch  nicht  verletzt, 
höchstens  nur  die  Sitte. 

Das  Interessanteste  und  Betrübendste  an  dem  Fall 
des  K.  ist  die  Tatsache^  daß  trotz  der  unzähligen  Schriften 
und  Erörterungen  über  die  homosexuelle  Frage  in  den 
letzten  Jahren  zwei  deutsche  Gerichtsärzte  es  fertig 
brachten,  bei  der  Untersuchung  eines  wegen  Vergehens 


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—     633     — 

gegen  §  175  Angeklagten  die  wie  selten  sonnenklar  schon 
im  Körperbau  zutage  tretende  homosexuelle  Natur  des 
Angeklagten  auch  nicht  mit  einer  Silbe  zu  erwähnen 
und  daß  von  dem  Staatsanwalt,  dem  Untersuchungsrichter 
und  den  aburteilenden  Eichtern,  wie  dies  aus  dem  Urteil 
der  mitgeteilten  Prozeßgeschichte  und  dem  Urteil  hervor- 
geht, auch  nicht  einer  daran  dachte,  die  Frage  der  Homo- 
sexualität zu  berühren.  Man  mag  die  Verurteilung  des 
K.  angesichts  der  erschwerenden  Umstände  bei  der  Be- 
gehung der  homosexuellen  Handlungen  nicht  zu  hart 
finden,  man  kann  es  auch  begreifen,  daß  Kichter  die  aus 
konträrer  Sexualempfindung  fließende  gleichgeschlecht- 
liche Handlung  aus  diesem  oder  jenem  Grunde  nicht 
nur  für  strafbar,  sondern  auch  für  strafwürdig  halten, 
aber  eines  muß  man  verlangen,  daß  der  Eichter  die 
konträre  Sexualempfindung  kennt  und  bei  einem  aus 
§  175  Angeklagten  die  Grundfrage  entscheidet,  ob  die 
Tat  eines  Homo-  oder  Heterosexuellen  vorliegt,  denn 
erst  nach  Beantwortung  dieser  Frage  ist  es  für  ihn  mög- 
lich, zur  Frage  des  Strafmaßes  Stellung  zu  nehmen. 

Leider  —  dies  beweist  der  Prozeß  des  K  —  haben 
die  meisten  Eichter  für  die  homosexuelle  Frage  nicht 
das  leiseste  Verständnis  und  urteilen,  ohne  auch  nur  sich 
Eechenschaft  darüber  zu  geben,  ob  sie  einen  Hetero- 
oder  Homosexuellen  vor  sich  haben. 


Kapitel  11. 

Die  neueste  Richtung. 

Bab,  £dwln,  eand.  med.,  Die  glelchgescUeehtliehe 
Liebe  (Lleblingminne).  Ein  Wort  über  ihr  Wesen 
und  ihre  Bedeutung.  Berlin,  Verlag  von  Hugo  Schild- 
berger. 


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—     534     — 

Bab  bekämpft  die  Unterscheidung  Krafft-Ebings  von  „Per- 
version** und  „Perversität**.  Auch  die  Perversität  sei  eigentlich 
nichts  widernatürliches.  Denn  alle  Dinge,  die  tatsächlich  seien, 
seien  natürlich. 

Oleich  dieser  Ausgangspunkt  ist  nichts  als  trüge- 
rischer Sophismus.  Zwar  liegt  jede  Handlang  innerhalb 
der  Natur;  aber  insofern  eine  Handlung  der  Natur  des 
Handelnden  widerspricht,  kann  man  sie  als  unnatürlich 
bezeichnen;  deshalb  lassen  sich  auch  die  sogenannten 
sexuellen  Surrogathandlungen  Heterosexueller,  weil  der 
Natur  des  Heterosexuellen  inadäquat,  als  widernatürlich 
qualifizieren. 

Mit  Recht  betrachtet  ßab  das  homosexuelle  Empfinden  weder 
als  Laster  noch  als  Krankheit.  Beweis  dafür  seien  die  homosexuellen 
Größen  der  Weltgeschichte.  Wenn  Männer  wie  Michelangelo, 
Winckelmann,  Friedrich  der  Große,  weil  homosexuell,  Verbrecher 
seien,  so  sei  es  geradezu  eine  Ehre  Verbrecher  zu  sein.  Dagegen 
leugnet  Bab,  daß  der  Urning  als  Angehöriger  eines  sogenannten 
„dritten  Geschlechts"  aufzufassen  sei. 

Denn  einmal  würden  gar  nicht  alle  diejenigen  Personen, 
welche  in  körperlicher  Hinsicht  an  das  andere  Geschlecht  er- 
innerten, umisch  empfinden,  und  zweitens  fände  sich  das  urnische 
Empfinden  auch  bei  Personen,  die  nur  unwesentliche  Abweichungen 
vom  Grundtypus  ihres  Geschlechts  aufwiesen. 

Dem  ist  entgegenzuhalten,  daß  man  schon  wegen 
des  auffallenden  charakteristischen  Greschlechtsmerkmals 
der  konträren  Sexualempfindung  ihre  Träger  als  An- 
gehörige einer  besonders  gearteten  Menschenklasse  be- 
zeichnen kann,  abgesehen  davon,  daß  so  gut  wie  stets 
beim  Urning  noch  mehr  oder  weniger  zahlreiche,  dem 
entgegengesetzten  Geschlecht  zukommende  körperliche 
oder  geistige  Merkmale  vorhanden  sein  werden. 

Ferner  ist  zu  erwägen,  daß  diejenigen  Personen, 
welche  in  körperlicher  Hinsicht  an  das  andere  Geschlecht 
erinnern,  ohne  zugleich  homosexuell  zu  empfinden,  tat- 
sächlich auch  Zwischenstufen  darstellen,  die  man  jedoch, 


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—     535     — 

um  eine  Verwechselung  dieser  Kategorie  mit  den  eigent- 
lichen sexuellen  Zwischenstufen,  den  Homosexuellen,  zu 
vermeiden,  nicht  als  drittes  Geschlecht  wird  hezeichnen 
dürfen. 

In  der  Streitfrage:  Angeborensein  oder  Erwerb  der  Homo- 
sexualität stimmt  Bab  keinem  der  bisherigen  Forscher  bei. 

Er  verwirft  nicht  nur  die  Theorie  von  der  auf  die  Embryo- 
nalanlage zurückzuführenden  Entstehung  der  Homosexualit&t,  er 
leugnet  nicht  nur  jedes  Angeborensein  der  Homosexualität ,  son- 
dern überhaupt  auch  der  Heterosexualität. 

Um  diese  Ansicht  auf  einen  Grund  zu  stützen ,  greift  Bab 
zu  der  kühnen  Behauptung,  es  gäbe  überhaupt  nur  primäre 
körperliche  Geschlechtscharaktere,  die  Mann  und  Frau  unter- 
schieden; dagegen  existierten  keinerlei  psychische  sekundäre  cha- 
rakteristische Unterschiede  in  den  seelischen  und  geistigen  Eigen- 
schaften zwischen  Mann  und  Weib,  und  daher  sei  es  auch  unrichtig, 
daB  der  Mann  nur  für  das  Weib,  das  Weib  nur  für  den  Mann 
geschlechtlich  empfinde. 

Bab  ist  es  vorbehalten  geblieben,  diese  offensichtlich 
falsche  Behauptung,  die  jeder  taglichen  Erfahrung  und 
nicht  minder  den  wissenschaftlichen  Untersuchungen  aus 
den  letzten  Jahren  (eines  Ellis  und  Möbius)  widerspricht, 
als  erster  und  einziger  aufzustellen. 

„Daß  es  permanente,  komplementäre  Unterschiede  zwischen 
Mann  und  Weib  gibt,  Unterschiede,  die  ursprünglich  wohl  auf 
das  Geschlecht  zurückzuführen  sind  und  von  da  ausgehend  sich 
über  das  ganze  physische,  geistige  und  sittliche  Wesen  beider  er- 
streckt haben,  daran  kann  kein  vernünftiger  Mann  zweifeln'*, 

sagt  mit  Eecht  Edward  Carpenter  („Wenn  die 
Menschen  reif  zur  Liebe  werden'*,  S.  124). 

Konsequent  seiner  Ansicht  meint  Bab :  Der  einzelne  Mensch 
empfinde  von  Anfang  an  bis  zu  einem  gewissen  Grade  für  Per- 
sonen beiderlei  Geschlechts. 

Die  Menschen  würden  nicht  geboren  als  Männer,  Weiber 
oder  Homosexuelle.  Niemand  liebe  die  „Männer**  oder  die  „Weiber**, 
sondern  nur  bestimmte  Typen  von  Männern  oder  Weibern. 

Dabei  reagiere  man  auf  diesen  Typus  ursprünglich  ziemlich 
unbekümmert  darum,  welchem  Geschlecht  er  angehöre. 


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—     536     — 

Erst  Einflüsse  während  des  Lebens  bewirkten  suggestiv,  daß 
später  die  meisten  Menschen  nur  für  die  Reize  des  einen  Gre- 
schlechts  empfanglich  zu  sein  glaubten. 

Diese  Typentheorie,  sowie  die  Theorie  des  auf  beide 
Geschlechter  gerichteten  Triebes  kann  auf  manche  psychi- 
sche Hermaphroditen  zutreffen,  keinesfalls  aber  auf  die 
große  Menge  der  ausgesprochenen  Homo-  und  Hetero- 
sexuellen. Den  Grundgedanken  dieser  Theorien  hat  Bab 
anscheinend  von  Weininger  (s.  oben)  entlehnt,  ihn  jedoch 
in  mißverständlicher.  Weise  ins  Extreme  verzerrt 

Der  Gedanke  an  Erwerbung  der  Hetero-  und  Homo- 
sexualität intra  vitam  und  an  Massensuggestion  als  Ur- 
sache der  allgemeinen  Verbreitung  der  Heterosexualitat 
ist  nicht  zuerst  von  Bab  ausgesprochen;  ich  selbst  habe  ihn 
im  Jahrbuch  III  als  logische  Schlußfolgerung  bezeichnet, 
für  den  Fall,  daß  man  das  Angeborensein  der  Homo- 
sexualität leugnet  Was  ich  aber  als  nicht  annehmbare 
Hypothese  zum  Beweis  für  das  Angeborensein  der  Homo- 
sexualität vorgebracht  habe,  stellt  Bab  als  sichere  Tat- 
sache auf,  obgleich  gerade  die  bisher  gründlichsten  Unter- 
suchungen über  die  Entstehung  des  Geschlechtstriebes 
(MoUs  Libido  sexualis]  das  Eingeborensein  der  Eeaktions- 
fähigkeit  auf  bestimmte  Beize  erwiesen  haben. 

Wäre  die  Theorie  der  Massensuggestion  für  die  Be- 
stimmung der  Sichtung  des  Geschlechtstriebes  zutreffend, 
so  wäre  ganz  unerklärlich,  warum  gewisse,  denselben  Ein- 
flüssen wie  die  übrigen  ausgesetzten  Menschen  entgegen 
der  allgemeinen  Suggestion  zur  Liebe  zum  gleichen  Ge- 
schlecht verleitet  werden ;  femer,  warum  von  zahlreichen 
Knaben,  die  gegenseitig  masturbierten,  nur  eine  ver- 
schwindend kleine  Zahl  später  den  gleichgeschlechtlichen 
Trieb  aufweist,  und  warum  die  in  der  Jugend  empfangene 
„homosexuelle  Suggestion"  nicht  alle  beeinflußt  hat. 

Daß  diese  Erklärung  durch  Massensuggestion  nicht 
richtig  sein  kann,  fühlt  wohl  Bab  selber,  da  er   —  im 


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—     537     — 

Widerspruch  mit  seiner  Theorie  —  selbst  zugibt,  daß 
eine  Anlage,  also  ein  angeborener  Faktor,  vorhanden  sein 
muß,  damit  ausgesprochene  homosexuelle  Liebe  entstehe. 

Im  zweiten  Teil  bespricht  Bab  den  §  175,  seine  willkürliche 
Auslegung ,  seine  Ungerechtigkeit  und  Zwecklosigkeit.  Gleich- 
berechtigung für  die  Homosexuellen  und  ihre  Liebe,  nicht  bloß 
Mitleid  sei  zu  verlangen. 

In  einem  Anhang  versucht  Bab  eine  Widerlegung  des 
„Umischen  Menschen'^  von  Hirschfeld,  die  mit  den  unrichtigen 
Anschauungen  Babs  steht  und  föllt  Er  bemängelt  Hirschfelds 
Untersuchungen  der  Homosexuellen.  Die  Übereinstimmung  in 
den  Autobiographien  will  er  auf  suggestiven  Einfluß  von  Lek- 
türe usw.  (!)  zurückführen.  Die  femininen  Eigenschaften  der  Homo- 
sexuellen auf  Erziehung,  Gewohnheit  usw.  Die  bei  Weibermangel 
begangenen  Surrogathandlungen  gewisser  Heterosexueller  auf  den 
Durchbruch  des  gewöhnlich  durch  Suggestion  unterdrückten  gleich- 
geschlechtlichen Triebes. 

Zum  Schluß  verwahrt  sich  Bab  dagegen,  als  habe  er  den 
Wert  des  für  die  Bekämpfung  der  bisherigen  Ansicht  von  der 
Homosexualität  als  eines  Lasters  höchst  verdienstvollen  Hirsch- 
feldschen  Buches  unterschätzen  wollen.  Er  habe  aber  einen 
Schritt  weiter  als  Hirsch feld  gewagt  und  die  Homosexualität  nicht 
wie  Hirschfeld  als  Mißgestaltung,  sondern  als  Ausfluß  eines  selbst- 
verständlichen, natürlichen,  allen  Menschen  innewohnenden, 
aber  meist  unterdrückten  Triebes  dargestellt. 

Bab,  Edwin,  eand.  med.,  Frauenbewegang  und 
männliche  Kultur,  im  ;,Eigenen''  von  Brandy  Juni- 
nummer. 

Die  Stellung  der  Frau  sei  heute  widerspruchsvoll:  Einmal 
erscheine  die  Frau  als  Beherrscherin  des  Mannes,  während  sie 
andererseits  wieder  vom  Manne  als  seine  Sklavin,  als  seine  ent- 
rechtete Dienerin  behandelt  werde.  Hiermit  im  Zusammenhang 
stehe  das  geschlechtliche  Problem. 

Dem  jungen  Manne  ständen  von  der  Zeit  der  Pubertät  bis 
zum  heutigen  heiratsfähigen  Alter,  d.  h.  ungefähr  bis  zum  30.  Jahre 
nur  drei  Auswege  offen,  um  seineu  Geschlechtstrieb  zu  befriedigen: 
Der  gefährliche  Verkehr  mit  der  Prostitution,  durch  den  er  selbst 
zu  einer  Giftquelle  für  seine  ganze  Umgebung  werden  könne,  oder  die 


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—     538     — 

Jagd  auf  ehrbare  Mädchen ,  wodurch  namenloses  Unglück  ent- 
stünde, oder  endlich  die  Masturbation,  die  gewöhnlich  im  Über- 
maß getrieben  werde  und  so  zu  den  schwersten  Schädigungen 
führe. 

Aus  diesem  Zustande  sei  die  Frauenbewegung  und  besonders 
die  abolitionistische  Bewegung  entstanden. 

Im  alten  Griechenland  habe  es  eine  Frauenbewegung  nicht 
gegeben.  Die  Frau  habe  eine  untergeordnete  Stellung  einge- 
nommen. Eine  Gkschlechtsfrage  habe  damals  nicht  existiert,  sie 
sei  einfach  durch  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  der  Männer  gelöst 
worden.  Die  Verachtung  des  Weibes  habe  in  Griechenland  die 
Lieblingminne  zu  der  heute  den  meisten  Forschem  unverständ- 
lichen Blüte  gebracht.  Die  damaligen  Männerliebhaber  seien  nicht 
die  Halbweiber,  die  Urninge  im  Sinne  der  heutigen  wissenschaft- 
lichen Autoritäten  gewesen. 

Im  Gegensatz  zu  Griechenland  zeige  das  alte  Judentum  das 
Ideal  des  Familienlebens;  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  sei  bei 
den  Juden  so  gut  wie  unbekannt  gewesen. 

Heute  könnten  die  altjüdischen  Zustände  für  uns  ebenso- 
wenig maßgebend  sein,  als  die  Wiedereinführung  griechischen  Ge- 
schlechtsleben mit  seiner  Sklavenstellung  der  ehrbaren  Frau  und 
seinem  Hetärentum  wünschenswert  wäre. 

Von  jedem  sei  das  Beste  zu  nehmen  und  die  sexuelle  Frage 
zugleich  mit  der  Frauenfrage  zu  lösen. 

Die  eine  Bewegung,  die  dem  Ziele  näher  führe,  sei  die 
Frauenbewegung.  Sie  bedürfe  aber  zur  Ermöglichung  einer  voll- 
kommenen Lösung  der  sexuellen  Frage  einer  Ergänzung.  Diese 
sei  die  noch  ganz  junge  Bewegung  für  männliche  Kultur,  deren 
Organ  der  „Eigene"  sei.  Diese  Bewegung  sei  nicht  mit  der  Be- 
wegung zu  Gunsten  der  Homosexuellen  und  der  Abschafiung  des 
§  175  zu  verwechseln.  Letztere '  gehe  von  der  Ansicht  aus,  es 
gäbe  eine  Anzahl  von  Personen,  die  sich  nur  zu  Angehörigen  des 
eigenen  Geschlechts  hingezogen  fühlten,  und  fordere  für  diese  die 
Beseitigung  der  den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  bestrafenden 
Bestimmung. 

Die  Bewegung  für  männliche  Kultur  verlange  von  dem  Jüng- 
ling, daß  er  sich  in  engster  Freundschaft  einem  zu  ihm  passenden 
Manne  anschließe,  daß  er  nicht  der  allgemein  gestellten  Forderung, 
er  dürfe  nur  das  Weib  lieben,  Folge  leiste  und  seinen  gleich- 
geschlechtlichen Liebestrieb  unterdrücke,  daß  er  nicht  in  den 
Armen  einer  feilen  Dirne  sich,  seine  Familie  und  den  Staat  ge- 
fährde,   daß  er  nicht  Jagd  auf  ehrbare  Weiber  mache,    daß    er 


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—     539     — 

auch  nicht  durch  maßlose  Masturbation  sich  in  früher  Jugend 
seiner  wertvollsten  Kräfte  beraube  und  an  der  Degeneration  des 
Volkes  arbeite. 

Durch  Verbreitung  dieser  I^ieblingminne  würde  die  gerade 
durch  die  heutigen  Zustände  gezüchtete  männliche  Prostitution 
verschwinden.  Auch  die  Bewegung  für  männliche  Kultur  erhebe 
entschiedenen  Einspruch  gegen  das  Fortbestehen  des  §  175,  aber 
sie  lege  keinen  Hauptwert  auf  diese  Forderung.  So  lange  die 
Strafbestimmung  bestehe,  werde  sie  von  den  Anhängern  männ- 
licher Kultur  noch  berücksichtigt  werden  müssen,  die  Liebling- 
minne brauche  aber  nicht  zu  Handlungen  zu  führen,  die  unter 
§  175  fielen. 

Wenn  die  Wiedereinsetzung  der  Lieblingminue  in  ihre  alt- 
griechischen Kechte  auch  ein  Aufblühen  der  Liebe  des  Weibes 
zum  Weibe  zur  Folge  habe,  so  sei  dies  kein  Schade.  Vermieden 
müsse  nur  werden,  daß  die  Lieblingminne  Verachtung  des  Weibes 
nach  sich  zöge.     Dafür  zu  sorgen,  sei  die  Frauenbewegung  da. 

Beide  Kulturen,  die  Frauenbewegung,  welche  zu  altjüdischen, 
die  Bewegung  für  männliche  Kultur,  welche  zu  altgriechischen 
Idealen  zurückführten,  würden  miteinander  verschmolzen,  eine 
höhere,  vollkommenere,  wirklich  menschliche  Kultur  hervorbringen. 

Gotamo,  In  die  Zukunft,   im  ^.Eigenen''  von  Brand, 
Jannamuminer. 

Die  Homosexuellen  litten  am  meisten  von  allen  Menschen 
unter  der  die  heutigen  Zustände  beherrschenden  konventionellen 
Lüge.  Durch  die  Vorurteile  der  Menge  in  eine  jammervolle  Lage 
versetzt,  suchten  viele  Homosexuelle  in  rasendem  Sinnentaumel 
Vergessen  und  würden  allmählich  unfähig  zu  großer,  schöner 
Liebe. 

Der  erste  Schritt  zur  Besserung  der  Lage  der  Homosexu- 
ellen sei  die  Aufhebung  des  Strafparagraphen.  Dies  sei '  aber 
nicht  das  letzte  Ziel:  Nicht  Duldung,  sondern  Gleichberechtigung 
der  homosexuellen  Liebe  sei  zu  erstreben.  Die  ganze  griechische 
Kulturgeschichte  sei  der  sprechendste  Beweis,  zu  welch  herrlicher 
sittlicher  Hohe  der  gleichgeschlechtliche  Trieb  gefördert  werden 
könne.  Wenn  auch  mit  der  Aufhebung  des  §  175  die  Zahl  der- 
jenigen, die  ihren  schlummernden  homosexuellen  Trieb  ziir 
Entfaltung  brächten ,  zunehmen  wünle ,  so  wäre  dies  kein 
Unglück. 


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—     540     — 

Würde  die  Möglichkeit  des  Auslebens  aller  unserer  Anlagen 
geboten,  so  müsse  sich  die  Kulturstufe  erhöhen  und  dann  werde 
sich  auch  eine  edle  Form  fdr  alles  finden. 

Unsere  Sportplätze  würden  eine  ähnliche  Rolle  spielen  wie 
die  Gymnasien  zu  Athen. 

Die  Befürchtung,  ein  eventueller  „geschlechtlicher  Verkehr" 
könne  den  Jünglingen  an  Leib  und  Seele  schaden,  sei  unbegründet 
Einmal  sei  dieser  Verkehr  doch  nicht  die  Hauptsache  und  viele 
würden  auch  in  Zukunft  ganz  gut  das  Leben  ohne  ihn  aushalten. 
Sodann  aber  sei  die  von  vier  Fünftel  der  Jugend  geübte  Onanie 
und  der  Verkehr  mit  Dirnen  weit  schädlicher  für  Tugend  und 
Gesundheit. 

Auch  eine  erniedrigende  Stellung  der  Frau  sei  nicht  zu  be- 
fürchten. Die  Frauen  könnten  nur  gewinnen,  wenn  der  Mann 
aufhöre,  sie  als  ausschließliches  Objekt  der  Kurmacherei  zu  be- 
trachten. Die  Beziehungen  der  beiden  Geschlechter  würden  freier 
sein  auf  beiden  Seiten,  dafür  vornehmer  und  glücklicher. 

Mayer,  Dr.  Eduard  von,  Männliche  Enltar.     Ein 

Stück  Zukunftsmusik,  im  „Eigenen"  von  Brand, 
Januarnummer.  Erörterungen  über  den  Unterschied 
zwischen  Mann  und  Weib. 

Der  Mann  bedeute  die  rastlose  Tätigkeit,  das  fortschrittliche 
Prinzip,  die  Frau  das  stoffliche,  konservative.  Die  Frau  sei  das 
filtere,  der  Mann  das  jüngere  Ergebnis  der  lebendigen'^Entwickelung. 

Das  weibliche  Prinzip  der  leiblichen  Behai*rlichkeit  müsse 
sich  beugen  unter  die  Notwendigkeit  der  richtunggebenden  Männ- 
lichkeit Die  wahre  Kultur  bedeute  die  Vollentfaltung  der  männ- 
lichen Persönlichkeit.  Heute  wirke  das  Gemeinleben  nicht  zuletzt 
unter  dem  grundsätzlich  und  instinktiv  sozialisierenden  imd  gleich- 
macherischen  Einflüsse  der  Frau  notwendig  ertötend  auf  das 
Persönlichkeitsgefdhl.  Um  der  Frauen  willen  habe  eine  prüde 
Heuchelei  um  sich  gegriffen,  durch  die  alle  natürlichen  Dinge 
künstlich  entwertet  und  entheiligt  worden  seien.  Die  Vorherrschaft 
der  Frau  habe  das  Liebesleben  des  Mannes  dermaßen  mit  Be- 
schlag belegt,  daß  sie  ihn  lieber  in  den  Armen  der  gemeinen 
weiblichen  Käuflichkeit  sähe,  als  daß  sie  ihm  einen  veredelnden 
Liebesverkehr  mit  seinen  Geschlechtsgenossen  gestattete,  mögen 
auch  die  glänzendsten  Zeugen  der  Vergangenheit  und  die  ganze 
Natur  mit  feurigen  Zungen  zu  Gunsten  der  gleichgeschlechtlichen 
Lieblingminne   reden.     Sie  witterten   nur  zu  gut,    daß  der  Manu 


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—     541     — 

am  Manne  wieder  männlich  werden  würde,  daß  das  Echo  in 
gleichgestimmter  Mannesseele  mit  ganz  anderem  Mut  den  Kampf- 
ruf des  Mannes  erfüllen  würde,  als  die  laue  allzu  persönliche  Zn- 
Stimmung  des  Weibes.  Nur  dann  würde  eine  männliche  und 
daher  wirkliche  menschliche  Kultur  entstehen,  wenn  der  Mann 
wieder  Mann  würde  und  die  männliche  Selbstherrlichkeit  wieder 
gewänne. 

Die  drei  Aufsätze  von  Bab,  Gotamo  und  Mayer 
bringen  die  Theorie  einer  als  „neueste"  zu  bezeichnenden 
Eichtung  zum  Ausdruck.  In  allen  bedeutenden  Be^ 
wegungen  bilden  sich,  sobald  sie  einen  gewissen  um- 
fang erreicht  haben,  extreme  Richtungen,  und  dies 
um  so  leichter,  je  größer  der  Widerstand  gegen  die 
Bewegung  ist;  denn  Reaktion  ruft  notwendigerweise 
Gegenreaktion  hervor.  So  kann  man  mit  Bestimmt- 
heit behaupten,  daß  die  Beibehaltung  des  §  175  trotz 
Petitionen  und  wissenschaftlicher,  seine  Unhaltbarkeit 
feststellender  Forschung,  auch  übertriebene  Forderungen 
gewisser  Homosexueller  und  ihrer  Verteidiger  gefördert 
und  geradezu  erzeugt  hat  Je  länger  der  §  175  fort- 
besteht, je  mehr  die  Verfechter  veralteter  Vorurteile 
gegen  die  Beseitigung  der  Strafandrohung  sich  stemmen, 
um  so  intensiver  wird  auch  der  Kampf  gegen  die  ihr  zu- 
grunde liegenden  Anschauungen  toben.  Ich  sehe  den 
Augenblick  kommen,  wo  die  Gegner  der  Homosexualität 
selbst  die  Aufhebung  des  §  175  wünschen  werden,  nur 
damit  die  immer  mehr  in  den  Vordergrund  der  öffent- 
lichen Diskussion  tretende  homosexuelle  Frage  wieder 
mehr  zurückgedrängt  wird,  damit  nicht  die  Bewegung 
einen  Umfang  und  eine  Bedeutung  gewinne,  die  die 
Gegner  mehr  befürchten  werden,  als  die  Beseitigung  der 
Strafe  selber.  Vielleicht  bedauern  die  Herren  dann,  daß 
sie  so  lange  gezögert  haben,  das  beste  Agitationsmittel 
—  den  §  175  —  den  Homosexuellen  zu  entziehen.  Nur 
wenn  der  §  175  aufgehoben  ist,  werden  maßlose  Forde- 
rungen von  Seiten  der  Homosexuellen  verschwinden,  erst 


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—     642     — 

dann  wird  eine  ruhige,  objektive  Beurteilung  der  homo- 
sexuellen Liebe  möglich  sein. 

Der  „ neuesten ''  Richtung  Grundprinzip  und  Ziel 
enthalten  manches  Anerkennenswerte  und  Richtige,  weisen 
jedoch  teilweise  auch  überspannte  und  maßlose  Forde- 
rungen auf. 

Das  Ziel  soll  sein:  Ausbildung  einer  männlichen 
Kultur,  die  allein  eine  wirklich  menschliche  bedeute. 
Als  eiae  Hebung,  Besserung  der  Kultur  muß  man  aller- 
dings die  Befreiung  der  homosexuellen  Menschenklasse 
von  Strafe  und  sozialer  Ächtung  betrachten.  Die  Frei- 
gabe und  Anerkennung  der  homosexuellen  Liebe  mag 
auch  dazu  beitragen,  daß  die  oft  übertriebene,  demüti- 
gende Vergötterung  des  Weibes,  und  die  den  Mann  herab- 
würdigende Herrschaft  der  Frau  vermindert  werde.  An 
der  gesamten  heutigen  Kultur  wird  aber  wenig  geändert 
werden.  Nur  wer  hypnotisiert  durch  die  gleichgeschlecht- 
liche Frage  einseitig  auf  das  homosexuelle  Problem  hin- 
starrt, kann  die  Bedeutung  des  Problems  dermaßen  über- 
schätzen, daß  er  von  seiner  Lösung  eine  Umwälzung  in 
den  Grundlagen  der  heutigen  Kultur  erwartet  Wer  auf 
eine  solche  Umwälzung  zählt,  vergißt  den  Hauptgrund, 
warum  seine  Hoffnungen  doch  nur  utopistische  sein 
können,  nämlich  die  geringe  Anzahl  der  Homosexuellen. 
Wenn  auch  die  Zahl  der  Homosexuellen  bedeutender  ist, 
als  man  früher  glaubte,  so  bleibt  sie  doch  immer  im 
Vergleich  zu  der  großen  Masse  der  Heterosexuellen  eine 
sehr  kleine.  Der  Einfluß  der  Homosexuellen  wird  daher 
stets  nur  ein  minimaler  bleiben.  In  diesem  Punkte  setzt 
nun  allerdings  das  Grundprinzip  der  neuesten  Richtung 
ein,  das  Bab  dahin  ausgesprochen  hat,  daß  jeder  Mensch 
bisexuell  und  daher  auch  homosexuell  veranlagt  sei. 

Diese  Ansicht  habe  ich  schon  oben  bei  der  Kritik 
des  Buches  von  Bab  widerlegt  Sie  widerspricht  so  sehr 
jeder   Erfahrung   und    jeder   Wirklichkeit,    daß   weitere 


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—     543     — 

Worte  zu  ihrer  Widerlegung  unnötig  sind.  Da  nun  tat- 
sächlich die  Mehrzahl  der  Menschen  das  entgegengesetzte 
Geschlecht  liebt,  wird  die  Freigabe  der  homosexuellen 
Liebe  nicht  die  von  Bab  erhoffte  Bedeutung  haben. 
Namentlich  aber  wird  sie  zur  Lösung  der  Geschlechts- 
frage zwischen  Mann  und  Frau,  zur  Lösung  des  Prosti- 
tutionsproblems usw.  so  gut  wie  gamicht  beitragen. 

Eine  unbegreifliche  Verblendung  bedeutet  es,  wenn 
Bab  dem  normalen  Jüngling  für  die  Zeit  bis  zu  seiner 
Heirat  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  empfehlen  will, 
eine  Liebe,  die  heutzutage  von  der  Mehrzahl  seines  Ge- 
schlechts als  widernatürlich  empfunden  wird  und  seinem 
legitimen  sinnlichen  und  sentimentalen  Liebesbedürfnis 
keinen  Ersatz  bietet  Dieses  Verlangen  stellt  das  Gegen- 
stück dar  zu  der  Forderung  der  Heterosexuellen,  der 
Homosexuelle  dürfe  nur  mit  dem  Weibe  verkehren. 

Mit  der  Anerkennung  der  homosexuellen  Liebe 
werden  wohl  innige,  edle  und  schöne  Verhältnisse 
zwischen  Männern  möglich  werden  und  auch  wohl  zahl- 
reicher als  heute  in  die  Öffentlichkeit  treten,  einen  be- 
sonders großen  Umfang  oder  eine  hervorragende  Wichtig- 
keit wird  jedoch  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  nicht 
erlangen.  Denn  die  in  dem  heterosexuellen  Triebe  der 
Mehrzahl  der  Männer  begründete  Liebe  zum  entgegen- 
gesetzten Geschlecht  hat  eine  derartige  Entwickelung, 
Verfeinerung  und  Bedeutung  erlangt,  daß  die  homo- 
sexuelle Liebe  ihr  gegenüber  nur  eine  untergeordnete 
ßoUe  spielen  wird. 


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—     544     — 

Kapitel  III. 

Homosexualität  und  Erwerbung. 

Canfeynon,  Dr.,  La  PM^rastle.  Bibliotheque  popa- 
laire  des  connaissances  mödicales,  Paris,  Nouvelle 
librairie  mödicale. 

An  der  Hand  der  verschiedensten  wissenschaftlichen  Werke 
über  Homosexualität,  aus  denen  eine  Anzahl  von  Stellen  aus  dem 
Zusammenhang  gerissen,  wiedergegeben  wird,  hebt  das  Büchlein 
hauptsächlich  die  grobsinnlichen  Seiten  und  die  nach  außen  hin 
am  meisten  in  die  Augen  fallenden  Erscheinungen  der  Homo- 
sexualität hervor. 

Man  vermißt  nicht  nur  den  von  den  neuesten 
Forschungen  über  die  Frage  durchdrungenen  Geist,  son- 
dern es  fehlt  jeder  Versuch  einer  Erörterung  des  Wesens 
der  Homosexualität  und  jede  systematische  Darstellung. 
Statt  dessen  wird  ein  oberflächliches  Gemengsei  verschie- 
dener Angaben  von  Autoren  zusammengetragen,  mit  der 
Tendenz,  die  Homosexualität  als  Laster  zu  brandmarken. 
Obgleich  anerkannt  wird,  daß  die  Homosexuahtät  oft 
einen  angeborenen  Trieb  bildet,  wird  das  populär  ge- 
schriebene Werkchen  doch  nur  dazu  beitragen,  in  Frank- 
reich die  bisherigen  Vorurteile  und  gehässigen  Anschau- 
ungen über  die  Homosexuellen  unter  der  großen  Menge 
zu  bekräftigen. 

DUhren,  Dr.  Engen,  Das  Oeschlechtsleben  in  Eng- 
land. Bd.  ni.  Der  Einfluß  äußerer  Faktoren  auf 
das  Geschlechtsleben  in  England.  Fortsetzung  und 
Schluß.     Berlin,  1903,  M.  Lilienthal. 

Die  Homosexualität  wird  besprochen  S.  3 — 64.  Dühren 
glaubt,  daß  die  Zahl  der  Homosexuellen  in  England  keine  große 
sei,  und  meint,  daß  überhaupt  unter  den  germanischen  Völkern 
die  Homosexualität  weniger  verbreitet  sei  als  unter  den  südeuro- 
päischen Nationen.     Auch  in  England  lasse  sich,  wie  in  andern 


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—     645     — 

gennanischen  Ländern,  eine  gelegentliche,  lediglich  auf  Erworben- 
Bein  zurückzufahrende  Zunahme  der  HomOBezualität  in  bestimmten 
Kreisen  beobachten,  unter  dem  Einfluß  äußerer  Faktoren,  sei  es 
höfischer  Korruption  oder  effeminierter  Kunst-  und  Moderichtungen. 
Förderlich  für  die  Entstehung  der  Homosexualität  in  England  sei 
außerdem  noch  die  Einrichtung  der  nur  von  Männern  frequentir- 
ten  Klubs  und  der  beliebte  gymnastische  Sport,  hinderlich  dagegen 
der  wie  nirgends  sonst  in  gleichem  Maße  bestehende  Abscheu 
vor  gleichgeschlechtlichen  Handlangen.  Daher  aach  die  überaus 
strengen  Strafvorschriften,  die  auch  Dühren  als  barbarisch  und 
einer  zivilisierten  Nation  unwürdig  bezeichnet,  ebenso  wie  er 
den  §  175  abgeschafft  sehen  möchte,  obgleich  der  Staat  auf 
andere  Weise  Vorkehrungen  treffen  müsse,  um  einer  Ausbreitung 
des  homosexuellen  Verkehrs  Schranken  zu  setzen. 

Dühren  gibt  dann  einen  geschichtlichen  Überblick  über  das 
Vorkommen  der  Homosexualität  in  England.  Die  ersten  ge« 
schichtlichen  Spuren  der  Homosexualität  in  England  gingen  bis 
auf  die  Zeit  der  Normannen  zurück.  Die  größere  Verbreitung 
der  Perversität  sei  anscheinend  diesen  Trägem  französischen 
Geistes  und  französischer  Sitte  zu  verdanken.  (?) 

Anführung  homosexuell  verdächtiger  Persönlichkeiten: 

William  Rufus,  der  zweite  normannische  König  (11.  Jahr- 
hundert), Eduard  II.  (14.  Jahrhundert)  und  sein  (von  Marlowe  dra- 
matisiertes) Verhältnis  zu  Gaveston,  Nikolaus  Udall  (16.  Jahr- 
hundert), Verfasser  der  ersten  englischen  Komödie  (wegen  w.  ü. 
verurteilt,  trotzdem  später  bei  Eduard  VI  in  hoher  Gunst),  Jakob  I 
(„Bex  fuit  Elisabeth,  nunc  est  regina  Jacobus^O* 

Die  Ausschweifungen  der  Restaurationszeit  auf  sexuellem 
Gebiet  seien  auch  der  Ausbreitung  der  Päderastie  sehr  günstig 
gewesen.  Unter  Karl  IL  seien  die  päderastischen  Verhältnisse 
zahlreich  gewesen.  Beweis  auch  das  Päderastendrama  „Sodom^* 
von  Rochester,  in  welchem  bezeichnender  Weise  der  homosexuelle 
Geschlechtsakt  als  ein  neues  Raffinement  gegenüber  den  bis  zum 
Überdruß  genossenen  heterosexuellen  Liebesfreuden  aufgefaßt 
werde.  Im  17.  Jahrhundert  hätten  sich  eigene  päderastische  Klubs 
gebildet.  Bericht  über  den  Klub  „The  Mollies  Club'*  nach  Edward 
Ward  (Zusammenkunft  weibischer  Homosexueller,  Nachäffung 
weibischer  Gewohnheiten,  Verkleidungen,  simulierte  Zeremonien: 
Kindstaufe  usw.).  Im  18.  Jahrhundert  sei  die  Päderastie  besonders 
durch  einige  Ausartungen  der  Mode  begünstigt  worden.  Auch 
der  damals  sehr  verbreiteteten  Unsitte  der  Männer,  sich  unter- 
einander zu  küssen,  sei  eine  ursächliche  Bedeutung  für  die  Ent- 
Jahrbuch VI.  35 


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—     646     — 

Btehung  homosexueller  Neigungen  beizumessen.  Im  18.  Jahrhundert 
Vorhandensein  von  Knabenbordellen  und  mehrerer  geheimer  pft- 
derastischer  Klubs.  Im  Jahre  1798  Aufhebung  eines  päderastischen 
Klubs  durch  die  Polizei  und  die  Verhaftung  von  18  als  Weiber 
verkleideten,  geschminkten  Päderasten  im  Klublokal.  Überhaupt 
zahlreiche  Prozesse  gegen  Päderastie  im  18.  Jahrhundert  Zu 
Beginn  des  19.  Jahrhunderts  Entdeckung  eines  berüchtigten  Klubs 
der  sog.  „Vere  Street  Coterie".  Genaue  Beschreibung  des  für  die 
Zwecke  der  Homosexualität  eingerichteten  Klubhauses  (Zimmer 
mit  Bett,  Damenkleiderzimmer,  eine  Kapelle  für  simulierte  Trau- 
ungen zwischen  Männern  usw.,  Soldaten,  Bediente,  Kellner  stets 
zur  Verfügung  der  Homosexuellen  im  Klub  vorhanden).  Ver- 
haftung von  23  Homosexuellen  im  Klub.  Sieben  von  ihnen  zu 
längeren  Gefängnisstrafen  und  zur  Schaustellung  am  Pranger  ver- 
urteilt. Schilderung  der  Prangerszene  und  des  von  den  Verurteilten 
ausgestandenen  fürchterlichen  Martyriums  nach  damaligen  Zeitungen. 
Die  Verurteilten  von  der  wütenden  Menge  und  besonders  von 
Weibern  fast  zu  Tode  geworfen,  durch  Steine,  stinkende  Fische, 
in  Fäulnis  übergegangene  Tierleichen  usw. 

Erwähnung  weiterer  Skandale  aus  dem  19.  Jahrhundert:  Ge- 
schlechtsverkehr eines  der  angesehensten  Prediger  in  Edinburg, 
Mr.  Greenfield,  mit  Pensionären.  Wegen  des  Ansehens  der  Be- 
teiligten sei  die  Sache  niedergeschlagen  und  die  Tat  auf  Geistes- 
krankheit zurückgeführt  worden.  Der  letzte  Eiarl  von  Findlater 
lind  Seafield,  schon  zu  Lebzeiten  wegen  seiner  homosexuellen 
Neigungen  bekannt,  habe  sein  ganzes  Vermögen  einem  Sachsen, 
Namens  Fischer,  seinem  früheren  Pagen  und  dann  Privatsekretär 
vermacht  Flucht  eines  Großgrundbesitzers  aus  der  Nähe  von 
Glasgow.  Flucht  eines  Edinburgher  Advokaten,  Mr.  John  Wood, 
eines  in  großem  Ansehen  stehenden  Philantropen ,  nach  Amerika 
nach  Entdeckung  homosexueller  Akte  mit  Schülern  der  von  ihm 
gegründeten  Anstalt.  Bericht  über  das  Treiben  der  Londoner 
Päderasten,  besonders  der  prostituierten,  zu  Beginn  der  zweiten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  nach  einer  Schrift  „Vokels  Preceptor", 
ferner  eine  Schilderung  der  Päderastie  in  London  vor  etwa  20 
Jahren  aus  einer  1881  erschienenen  Schrift.  Die  Convicte,  Colleges 
und  Alumnate  in  England  erklärt  Dühren  für  Brutstätten  homo- 
sexueller Praktiken  und  meint,  die  dort  empfangenen  Eindrücke 
drängten  viele  für  ihr  ganzes  Leben  in  perverse  Bahnen.  Er- 
wähnung des  Falles  Wilde.  Auch  Dühren  ist  der  Ansicht,  daß 
Wilde's  Strafe  überaus  hart  gewesen  und  keineswegs  seinem  Ver- 
gehen entsprochen  habe.    Von  Männern,  die  homosexuell  gewesen 


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—     547     — 

sein  sollen,  nennt  Dahren  noch  Symonds,  den  Maxquis  von  Anglesey 
(Bericht  aus  dem  Jahrbuch  3,  S.  543—544)  und  den  unter  der 
Königin  Anna  lebenden  englischen  Gouverneur  von  New- York, 
Lord  Combury,  der  trotz  seiner  hohen  Stellung  in  Weiberkleidem 
kokettierend  und  mit  allen  Allüren  der  Courtisane  in  den  Straßen 
herumgegangen  sei. 

Über  weibliche  Homosexualität  verbreitet  sich  Dühren  S.  51 
bis  64  unter  Anführung  einer  Anzahl  von  Zitaten  aus  verschie- 
denen Werken.  (Aus  dem  Schäfer-Roman  „Arkadia^^  von  Sir 
Philipp  Sidney,  aus  den  Memoiren  des  Grafen  Grammont  —  Ver- 
hältnis der  Miß  Hobart,  einer  Hofdame  am  Hofe  Carls  H.  mit 
einem  Kammerfräulein,  Miß  Temple  —  femer  aus  Mitteilungen 
von  Archenholtz  über  geheime  tribadische  Klubs.)  Auch  in  diesem 
Abschnitt  sucht  Dübren  die  Entstehung  der  Homosexualität  auf 
Gelegenheitsursachen  zurückzuführen.  Einen  Beweis  hierfür  will 
er  u.  a.  sehen  in  den  häufigen  leidenschaftlichen  Verhältnissen 
zwischen  Schauspielerinnen,  Choristinnen,  Balleteusen  oder  in  dem 
gleichgeschlechtlichen  Verkehr  Prostituierter.  Erwähnung  ver- 
schiedener Weibmänner,  z.  B.  der  unter  Carl  I.  lebenden  Bäuberin 
MoUy  Cutpurse,  die  als  Mann  gekleidet  Diebstähle  und  Baub- 
anfölle  in  der  Nähe  von  London  ausgeführt,  femer  der  Seeräuberin 
Maria  Read  (Anfang  des  18.  Jahrhunderts).  Ausführungen  über 
den  bekannten  Chevalier  d'Eon,  der  als  Weib  gelebt 

An  einigen  anderen  Stellen  des  Buches  wird  gelegentlich 
noch  . Homosexuelles  kurz  berührt,  so  z.  B.  bei  Erwähnung  der 
obszönsten  aller  englischen  erotischen  Zeitschriften  „The  PearP^ 
die  Erzählung  „Lady  Pockingham'^  Sodann  gibt  Dühren  eine 
genaue  Inhaltsangabe  des  berüchtigten  obszönen  Päderasten- 
dramas  von  Rochester  aus  dem  17.  Jahrhundert  (S.  342 — 364  über 
Rochester  überhaupt).  Hieraus  sei  erwähnt,  daß  im  ersten  Akte 
der  auftretende  König  eine  Proklamation  erläßt,  die  allen  Homo- 
sexuellen und  Päderast£n  völlige  Freiheit  in  der  Betätigung  ihrer 
Neigungen  zusichert,  und  sich  zwei  Höflinge  als  Geliebte  aus- 
wählt. 

Auch  in  diesem  Buche  des  Pseudonymen  Verfassers 
finden  sich  die  gleichen  Gedankengänge,  wie  in  seinen 
übrigen  Werken,  insbesondere  in  seinen  unter  seinem 
wahren  Namen  veröffentlichten  Beiträgen  zur  Psycho- 
pathia  sexualis.  Auch  jetzt  wieder  macht  sich  Dühren- 
Bloch  der  fortgesetzten  Verwechslung  von  Ursache  und 

35* 


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—     548    — 

Wirku&g  schuldig.  £me  Widerlegung  der  Ansichten  von 
Dübren  erübrigt  sich  angesichts  meiner  £rüheren  Aus- 
führungen bei  Besprechungen  des  Marquis  de  Sade  (vgl 
Jahrbuch  111,  S.  339),  sowie  der  Bekämpfung  der  gleichen 
Anschauung  durch  Hirschfeld  in  seinem  ,,ümischen 
Menschen^'  (Jahrbuch  V,  S.  1  f  Igd.).  Dühren  hat  in  seinem 
jetzigen  Werk  noch  yiel  mehr  Material  als  im  Marquis 
de  Sade  benutzt  und  zusammengetragen.  Das  Buch 
verrät  den  ernsten  Gelehrten  und  ungemein  fleißigen 
Forscher  und  ist  von  bleibendem  Wert  für  die  Kenntnis 
der  Kultur  und  der  sexuellen  Zustände  in  England«  Es 
verdient  das  höchste  Lob  für  seine  Gründlichkeit  und  Ge- 
lehrsamkeit. Soweit  allerdings  die  selbständigen  Schlüsse, 
die  Dühren  aus  dem  bearbeiteten  Quellenmaterial  zieht,  in 
Betracht  kommen,  erhält  man  den  Eindruck  der  lediglich 
aus  Büchern  geschöpften  Weisheit,  während  man  den 
lebendigen  Quell  persönlicher  Erfahrung^  direkten  Stu- 
diums des  Homosexuellen,  wie  er  in  der  Wirklichkeit 
leibt  und  lebt,  vermißt.  Dieser  Mangel  genügender 
Kenntnis  mit  den  Homosexuellen  selbst  verschuldet  es 
wohl,  daß  gleich  bei  Beginn  des  Buches  Dühren  recht 
anfechtbare  Behauptungen  über  die  Anzahl  der  Kon- 
trären aufstellt  Hätte  er  mit  einer  Anzahl  vielgereister 
Homosexuellen  über  die  Verhältnisse  in  England  ge- 
sprochen, so  würde  er  erfahren  haben,  daß  die  Homo- 
sexualität nach  der  Sachkunde  und  Erfahrung  von  Homo- 
sexuellen, die  England  kennen,  dort  sehr  verbreitet  ist 
Ganz  positiv  unrichtig  ist  sodann  Dührens  Ansicht,  die 
Dr.  Hirschfeld  bekannten  1500  Homosexuellen  stellten 
den  größten  Teil  der  in  Deutschland  lebenden  Homo- 
sexuellen dar,  weil  sicherlich  fast  alle  Homosexuelle  an 
das  Komitee  sich  wendeten.  Demgegenüber  ist  zu  er- 
widern, daß  fast  nur  Gebildete  sich  an  das  Komiti 
wenden  und  nur  wenige  Homosexuelle  aus  dem  Volke^ 
femer,  daß  unter  den  Gebildeten  wieder  eine  sehr  große 


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—     549     — 

Anzahl  aus  den  verschiedensten  Gründen  niclit  mit  dem 
Komitee  in  Verbindung  tritt.  Mir  persönlich  sind  viele 
Homosexuelle  bekannt,  die  sich  nicht  dem  Komitee  an- 
vertrauen. Wenn  ich  von  den  mir  genau  bekannten  Ver- 
hältnissen der  von  mir  bewohnten  deutschen  Mittelstadt 
ausgehe,  so  finde  ich,  daß  in  derselben  unter  den  etwas 
über  100000  zählenden  Einwohnern  und  der  nidht  ge- 
ringen Anzahl  der  vorhandenen  Homosexuellen  nur  höch- 
stens vier  dem  Komitee  bekannt  sind.  Ahnliches  trifft  in 
anderen  Städten  zu. 

In  manchen  Städten  haben  sich  überhaupt  keine 
Homosexuelle  dem  Komitee  entdeckt  Danach  kann  man 
ruhig  behaupten,  daB  die  1500  im  Jahre  1902  dem 
Komitee  bekannten  Homosexuellen  nur  eine  verschwin- 
dend kleine  Anzahl  aller  deutschen  Homosexuellen 
bilden. 

Fuchs,  Dr.  Alfred^  Zwei  Fälle  von  sexueller  Para- 
doxle,  in  Jahrbücher  für  Psychiatrie  und  Neurologie, 
Bd.  XXni,  Heft  1  und  2,  S.  207—213. 

Der  eine  Fall  bezieht  sich  auf  ein  5V4  Jahre  altes  Mädchen, 
das  im  vierten  Jahre  beim  Masturbieren  betroffen  worden  war. 
Es  wurde  festgestellt,  daß  zwischen  dem  zweiten  und  vierten 
Jahre  ein  19 jähriges  Kindermädchen  fast  zwei  Jahre  lang  gegen- 
seitige Manustapration  mit  dem  Kinde  getrieben.  Das  Kinder- 
mädchen führte  dem  Kinde  sogar  Spielkameraden  und  erwachsene 
Personen  weiblichen  Geschlechts  zwecks  gegenseitiger  Onanie  zu. 
Sie  versuchte  es  auch  mit  einem  vierjährigen  Knaben^  den  sie  in 
Gegenwart  der  Kleinen  manustuprierte.  So  gern  aber  die  Kleine 
mit  weiblichen  Personen  zu  allem  zu  haben  war,  erklärte  sie,  da 
nicht  mit  zu  tun.  Entlassung  des  Dienstmädchens  seitens  der 
Eltern  und  Bestrafung  des  Kindes,  Alles  aber  unnütz.  Das  Kind 
zu  Verwandten  nach  dem  Orient  geschickt  Dort  fand  das  Kind 
aber  reichlich  türkische  Dienerinnen,  die  sich  von  ihm  manustu- 
prieren  ließen  und  ihm  ein  gleiches  erwiesen.  Cynisches  offenes 
Erzählen  des  Kindes  über  seine  „Verhältnisse".  Sehnsucht  nach 
dem  Dienstmädchen. ,    Als  das  Kind  vom  Orient  zurückgekehrt, 


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—    550    — 

war  es  durch  keine  Strafe  oder  Drohung  abzuhalten ,  offen  yor 
den  Eltern  und  vor  Fremden,  sowie  auch  insgeheim  zu  onanieren. 
Oft  wahre  Paroxysmen  von  Wut  und  Verzweiflung  infolge  der 
Sehnsucht  nach  dem  Dienstmädchen.  Unterbringung  des  Kindes 
in  eine  Anstalt  und  wöchentliche  Hypnotisierung.  Nach  einiger 
Zeit  Besserung  des  Aussehens  des  Kindes;  öftere  Ausübung 
der  Onanie  infolge  der  Einrichtung  der  Anstalt  sicherlich  un- 
möglich. 

Fuchs  hofft,  daß  bei  längerem  Verweilen  in  der  Anstalt  das 
Kind  seine  Vergangenheit  vergessen  werde.  Er  bemerkt:  Aus  der 
Anamnese  des  Kindes  ersähe  man  so  recht  die  Bedeutung  der 
Verfuhrung  im  Kindesaller  für  die  Determinierung  des  Sexual- 
triebes. Das  Kind  könne  möglicherweise  durch  Einfluß  der  Ver- 
führerin für  immer  in  die  konträre  Richtung  geleitet  worden  sein. 
Wenn  es  auch  jetzt  gelingen  werde,  den  vorzeitig  geweckten 
Trieb  zu  redressieren,  so  könnten  doch  im  Pubertätsalter  Bruch- 
stücke der  Erinnerung  lebendig  werden,  und  es  könnte  das  Kind, 
welches  sich  voraussichtlich  normal  zum  Weibe  entwickeln  werde, 
wieder  dort  anknüpfen,  wo  es  heute  aufgehört  habe.  Dann  könne 
man  vor  dem  Rätsel  konträrer  Sexualempfindung  ohne  sekundäre 
somatische  Begleiterscheinungen  stehen. 

Aus  dem  Falle  des  znr  homosexuellen  Geschlechts- 
austibung  verführten  Kindes  lassen  sich  keine  Schlüsse 
über  die  Entstehung  der  Homosexualität  ziehen,  da  ab- 
gewartet werden  muß,  wie  das  großjährige  Mädchen  später 
fühlen  wird.  Auffällig  ist  die  Tatsache,  daß  das  Kind 
vor  der  Onanie  mit  dem  Knaben  Widerwillen  hatte,  also 
ganz  entschieden  zum  weiblichen  Geschlecht  sich  hinge- 
zogen fühlte.  Ob  da  nicht  die  Vermutung  einer  zwar  früh- 
zeitig geweckten,  aber  nichts  destoweniger  ab  origine 
vorhandenen  starken  homosexuellen  Veranlagung  nahe 
liegt? 

Gonrmont,  Remy  de,  Physlqne  de  Tainour.  Essai 
sur  rinstinct  sexuel.  Paris,  Soci6t6  du  Mercure  de 
France. 

„Das  Liebesleben  in  der  Natur**  könnte  man  als  Untertitel 
dem  Buche  beifügen.     Gourmont  beschreibt  die  Äußerungen  dea 


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-     551     — 

Geschlechtstriebes  in  dem  Tierreich,  bei  Insekten,  Fischen,  Vögebi, 
Vierfüßlern  usw.  Er  will  zeigen,  wie  das  Sexualleben  des  Men- 
schen nur  ein  winziges  Teilchen  der  universellen  Sexualität  bildet. 
U.  a.  werden  beschrieben:  Ungeschlechtliche  Fortpflanzung,  Par- 
thenogenesis  (Zeugung  ohne  Hilfe  des  Männchens),  Unterschiede 
in  den  Charakteren  der  Männchen  und  Weibchen  (dimorphisme 
sexuel),  Art  und  Weise  der  Kopulation,  Arten  der  Geschlechts- 
organe, Polyandrie,  Polygamie  usw. 

Die  Frage  der  gleichgeschlechtlichen  Handlungen  wird  nur 
ganz  kurz  gestreift:  Gourmont  unterscheidet  zwei  Arten  von  Ur- 
sachen, äußere  und  innere.  Die  „Verirrung"  aus  innerer  Ursache 
finde  manchmal  ihre  Erklärung  darin,  daß  die  gleichen  Arterien 
die  Geschlechtsgegend  sowohl  vorn  wie  hinten  durchzögen,  die 
gleichen  Nerven  sie  belebten. 

Ob  nicht  Gourmont  hiermit  die  allgemein  verworfene 
Ansicht  von  Mantegazza  über  die  Nervi  erigentes  auf- 
tischt? Wie  aus  den  Angaben  der  benutzten  Biblio- 
graphie am  Ende  des  Buches  hervorgeht,  hat  Gourmont 
zwei  Blicher  von  Mantegazza,  dagegen  leider  kein  einziges 
wissenschaftliches  Buch  über  geschlechtliche  Anomalien 
befragt  Besonders  zu  bedauern  ist  auch  die  Tatsache^ 
daß  der  Aufsatz  von  Karsch  über  die  Päderastie  bei 
Tieren  ihm  unbekannt  geblieben  ist. 

Die  Verirrungen  der  Tiere  seien  in  der  Regel  ganz  einfach 
zu  erklären  aus  einem  blinden  heftigen  Drang,  der  in  Ermange- 
lung des  normalen  Geschlechtsaktes  zur  ersten  besten  Surrogat- 
handlung führe,  aus  einem  Bedürfnis  des  Männchens,  den  erregten 
Geschlechtsteil  durch  Entleerung  des  Samens  auf  irgend  eine 
Weise  zur  Ruhe  zu  bringen.  Die  bei  Tieren  anwendbaren  all- 
gemeinen Erklärungsversuche  könne  man  auch  auf  die  Menschen 
anwenden,  doch  dürfe  man  nicht  vergessen,  daß  für  ihn,  da  seine 
geschlechtliche  Empfindsamkeit  geeignet  sei,  jeden  Augenblick 
geweckt  zu  werden,  die  UrBachen  der  Verirrungen  sich  ins  Uu- 
eudliche  vermehrten.  Es  würde  sehr  wenig  „Verirrte"  geben, 
wenn  die  Sitten  und  Gewohnheiten  die  Vereinigung  der  beiden 
Geschlechter  im  gewünschten  Augenblick  stets  möglich  machten. 
Es  würden  nur  die  Verirrungen  infolge  anatomischer  Grundlage 
bleiben;  sie  wären  weniger  häufig  und  weniger  gebieterisch,  wenn 


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—     552     — 

die   geschlechtlichen   Beziehiuigen    durch    die  Sitten    erleichtert 
w&ren,  anstatt  daß  man  danach  strebe,  sie  zu  erschweren. 

„Es  ist  schwer,  besonders  wenn  es  sich  um  den  Menschen 
handelt,  zwischen  normal  und  anormal  zu  unterscheiden.  Was  ist 
normal,  was  anormal?  Die  Natur  kennt  dieses  Adjectivum  nicht/' 
(S.  98.) 

Bedeutsam  für  die  Stelle,  welche  die  Hermaphrodisie  in  der 
Natur  spielt,  sind  die  Ausfcihrungen  Gourmonts  über  gewisse 
Molluskenarten,  speziell  über  die  Gasteropoden ,  welche  die  Ge- 
schlechtsteile beider  Geschlechter  aufweisen,  zu  gleicher  Zeit  als 
Männchen  den  Geschlechtsakt  ausüben  und  als  Weibchen  begattet 
werden  (S.  141).  Ebenso  sind  beweiskräftig  für  das  Vorkommen 
von  Zwischenstufen  aus  dem  Tierreich  die  Bemerkungen  über  die 
Hermaphroditen  bei  Ameisen  und  Schmetterlingen,  bei  denen 

„ganz  wunderliche  Wesen  entstehen,  halb  das  Eine,  halb  das 
Andere."  (S.  223.) 

Man  siebt,  von  der  Homosexualität  scheint  Gonr- 
mont  keine  Ahnang  zu  haben  oder  wenigstens  sich  von 
ihr  eine  total  unrichtige  Vorstellung  zu  machen.  Was 
er  unter  „Verirrungen  auf  anatomischer  Grundlage'* 
versteht,  bleibt  unklar;  geschlechtliche  psychische  Ano- 
malie als  Folge  von  Mißbildungen  der  Geschlechtsorgane 
sind  sehr  selten  im  Vergleich  zu  den  landläufigen  Fällen 
von  Homosexualität.  Vielleicht  meint  er  cerebrale  Grund- 
lagen. Ebenso  werden  auch  in  der  Regel  homosexuelle 
Handlungen  unter  den  gewöhnlichen  Eulturverhältnissen 
nicht  infolge  Erschwerung  in  den  Beziehungen  der  beiden 
Geschlechter  vorgenommen.  Solche  Schwierigkeiten  be- 
stehen doch  in  den  Großstädten  —  und  auch  auf  dem 
Lande  —  nur  als  Ausnahmen,  während  umgekehrt  bei 
den  herrschenden  Anschauungen  größere  Schwierigkeiten 
für  den  homosexuellen  Verkehr  vorhanden  sind.  Ich 
wandere  mich,  daß  ein  so  eigenartiger,  kühner,  vor- 
urteilsfreier Geist,  wie  Gourmont,  der  auf  den  verschie- 
densten Gebieten,  in  der  Belletristik,  Philologie,  Philo- 
sophie usw.  eine  ganz  hervorragende  Schärfe  und  Weite 


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—     55S    — 

dee  Blickes  bekundet  hat^   doch   so   wenig  der  Homo- 
sexualität gerecht  wird. 

Allerdings,  die  Begriffe  Ton  ;,widematürlich'^  auf 
gleichgeschlechtliche  Handlung  angewendet,  verwirft  er. 

Jolly,  Dr.,  Perrerser  Sexnaltrieb  nnd  Sittlichkeits- 
Terbrechen.  11.  Vortrag  des  Zyklus  „Gerichtliche 
Medizin'S  gehalten  am  18.  März  1U02,  abgedruckt  in 
„Klinisches  Jahrbuch".  Bd.  XI,  Heft  1,  Jena,  1903, 
Gustav  Fischer. 

Die  Homosexualitflt  will  J0II7  ganz  ebenso  wie  die  übrigen 
sexuellen  Anomalien  beurteilt  wissen.  Er  meint,  nur  in  einer 
ganz  kleinen  Anzahl  von  Fftlien  sei  die  Homosexualität  als  an- 
geborene Erscheinung  zu  betrachten,  dagegen  sei  sie  ganz  sicher 
in  den  weitaus  meisten  Fftlien  erworben,  zum  Teil  in  früher 
Kindheit  (infolge  von  Onanie  —  dauernder  associativer  Ver- 
knüpfung von  gewissen  Einwirkungen  mit  den  sexuellen  Regungen 
usw.),  zum  Teil  im  späteren  Leben  (z.  B.  infolge  Weibermangels 
usw.  Beispiele:  die  Verbreitung  im  Altertum,  Zustände  in  Ge- 
fängnissen us^.).  Unter  den  gewordenen  Homosexuellen  befänden 
sich  zweifellos  eine  nicht  geringe  Anzahl  von  ps^chopathischen 
Naturen  mit  verminderter  Widerstandsfähigkeit  gegen  patho- 
logische Verknüpfungen.'  Ebenso  sicher  sei  es  aber,  daß  doch 
eine  ganze  Menge  von  gesunden  Individuen  diese  Neigung  bei- 
behielten. Als  angeblichen  Beweis  fdr  die  häufige  Erwerbung 
einer  homosexuellen  Perversität  beruft  sich  Jolly  darauf,  daß  in 
der  Irrenanstalt  Stephansfeld  bei  Straßburg  unter  den  ehemaligen 
Fremdenlegionären  eine  große  Anzahl  mit  perversen  Neigungen 
gefunden  worden  seien. 

Dieser  Beweis  scheint  mir  recht  schwach.  E^inmal 
kann  ja  gar  nicht  entschieden  werden,  ob  nicht  diese 
Neigungen  in  Verbindung  und  infolge  der  Geisteskrank* 
heit  auftraten,  da  es  sich  um  Geisteskranke  handelt. 
Zweitens  aber  können  diese  Handlungen  „faute  de  mieux'S 
in  Ermangelung  von  weiblichem  Verkehr  vorgenommen 
worden  sein,  ohne  daß  wirkliche  homosexuelle  Neigung 
vorgelegen  hat.     Von  homosexuellem  Triebe  wäre  nur  zu 


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—     554     — 

sprechen,  wenn  diese  Kranken^  obgleich  ihnen  Gelegen- 
heit zu  weiblichem  Verkehr  geboten,  diesen  verschmäht 
und  den  männlichen  vorgezogen  hätten.  Trotz  des 
Ansehens,  das  der  1903  leider  verstorbene  JoUy  als 
Psychiater  genießt,  dürfte  er  der  homosexuellen  Frage 
nicht  gerecht  geworden  sein.  Zur  Kenntnis  der  Homo- 
sexualität gehört  persönliche  Untersuchung  der  Homo- 
sexuellen, und  zwar  vieler  Homosexueller;  ob  und 
wie  viele  Homosexuelle  Jolly  untersucht  hat,  darüber 
schweigt  er. 

Jolly  und  die  Psychiater  seiner  Denkungsart  sind 
allerdings  durch  gewisse  allgemeine  Anschauungen  und 
Grundsätze  ihrer  Spezialwissenschaft  gleichsam  zu  ihren 
Schlußfolgerungen  in  der  Frage  der  Homosexualität  ge- 
zwungen. Ihr  Gedankengang  ist  dabei  wohl  etwa  fol- 
gender: „Ein  angeborener  homosexueller  Geschlechtstrieb 
kann  nur  etwas  krankhaftes  sein.  Solch  ein  krankhafter 
Trieb  darf  aber  nicht  allein  als  einziges  krankhaftes 
Symptom  betrachtet  werden,  sonst  würde  man  ja  — 
glauben  diese  Psychiater,  obgleich  Moll  diese  Befürch- 
tung als  unbegründet  nachgewiesen  hat  —  in  die  heute 
nicht  mehr  anerkannte  Monomanielehre  zurückfallen. 
Wenn  daher  ein  homosexueller  Trieb  festgestellt  wird, 
so  müssen,  soll  er  als  angeboren  gelten  dürfen,  noch 
andere  krankhafte  Erscheinungen  vorhanden  sein.  Fehlt 
es  aber  an  solchen,  wie  dies  bei  manchen  Homosexuellen 
eben  der  Fall  ist,  dann  kann  nach  obigen  Grundsätzen 
auch  der  homosexuelle  Trieb  nicht  angeboren  sein,  weil 
ja  sonst  —  da  angeborener  und  krankhafter  Trieb  diesen 
Psychiatern  identisch  ist  —  ein  als  einziges  krankhaftes 
Symptom  sich  darstellender  Trieb  bestehen  würde,  was 
ja  nicht  sein  darf."  Der  Grundirrtum  der  Deduktionen 
dieser  Psychiater  besteht  darin,  daß  sie  nicht  einsehen, 
daß  ein  angeborener  homosexueller  Trieb  nicht  notwen- 
digerweise als  etwas  Krankhaftes  zu  betrachten  ist,  oder 


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—     555     — 

wenn  man  ihn  für  krankhaft  erklären  will,  er  auch  bei 
sonst  normalen  und  gesunden  Menschen  als  einziges 
nachweisbares  anormales  Symptom  vorkommen  kann,  wie 
Moll  dies  nachgewiesen  hat.  Allerdings  ist  nicht  zu  ver- 
kennen, daß  es  in  der  Wissenschaft,  wie  auf  allen  Ge- 
bieten^ den  meisten  Menschen  schwer  fällt,  Anschauungen, 
die  gewissen  für  bindend  erklärten  Regeln  zuwiderlaufen, 
für  berechtigt  zu  halten  und  das  bequeme  Ruhekissen 
einmal  liebgewonnener  und  als  richtig  angenommener 
Meinungen  zu  verlassen,  um  ohne  jede  Voreingenommen- 
heit die  neuen  Anschauungen  zu  prüfen  und,  wenn  er- 
forderlich, an  Stelle  der  alten  zu  setzen.  Dies  macht 
das  Verhalten  so  mancher  Arzte  begreiflich,  die,  bevor 
sie  auch  nur  100  Homosexuelle  genau  untersucht  haben, 
ein  definitives  Urteil  abgeben  zu  dürfen  glauben.  Ein 
weiterer  Grund,  warum  viele  Psychiater  einfnch  die 
meisten  Homosexuellen  für  lasterhafte  Menschen  er- 
klären, liegt  darin,  daß  diese  Psychiater,  sobald  sie  fest- 
stellen, daß  die  Homosexuellen  nicht  zu  den  Kranken 
zu  zählen  sind,  glauben  —  und  zwar  mit  Recht  —  daß 
diese  Leute  sie  überhaupt  nichts  angehen.  Da  die  Be- 
urteilung dieser  Homosexuellen  nicht  mehr  in  das  Gebiet 
der  Wissenschaft  der  Geisteskrankheiten  fällt,  so  geben 
sich  diese  Psychiater  auch  nicht  weiter  die  Mühe,  eine 
andere  Beurteilung  der  Homosexuellen  zu  suchen,  als  die 
landläufige. 

Sie  schließen  sich  dann  eben  der  hergebrachten 
Meinung  an.  Nur  der  Psychiater,  der  echter  Psychologe 
ist  und  das  Gebiet  seiner  Wissenschaft  nicht  allzu  eng 
umgrenzt,  nur  der  Arzt  oder  Gelehrte,  welcher  alle  Arten 
des  Geschlechtstriebes,  mögen  sie  nun  krankhaft  sein 
oder  bloß  angeborene  physiologische  Varietäten  dar- 
stellen, studiert,  kann  auch  den  Homosexuellen  gerecht 
werden. 

Angesichts  des  Standpunktes,   den  JoUy  einnimmt, 


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—    556    — 

ist  nicht  zu  Terwunddriiy  daß  er  alle  auf  die  ADnahme 
eines  körperlichen  Substrats  der  Homosexualität  ab- 
zielenden Theorien  verwirft,  wenn  auch  die  kategorische 
Form,  in  der  diese  Ansicht  ausgesprochen  ist,  verblüfft 
und  die  eiQfache  Behauptung,  diese  Theorien  seien 
„positiv  falsch'^  zu  bezeichnen,  den  Mangel  jeglichen 
Gegenbeweises  gegen  die  festgefügten  wissenschaitlichen 
Argumentationen  eines  Krafft-Ebing  und  gegen  die  Tat- 
sachen der  Gynandrie  und  Androgynie,  bei  welchen  schon 
im  äußeren  Körperbau  die  Homosexualität  zum  Ausdruck 
kommt,  nicht  zu  ersetzen  vermag.  Letztere  Tatsache 
wurde  von  JoUy  überhaupt  nicht  erwähnt  Natürlich; 
denn  sonst  hätte  der  apodiktisch  klingende  Satz  „positiv 
falsch'^  nicht  zur  Anwendung  kommen  können.  Wie 
andere  Nervenärzte  über  die  Frage  denken,  kann  man 
pben  bei  Möbius  und  Löwenfelds  Werken  nachlesen. 

Obgleich  Jolly  die  Petition  nicht  untei-schrieben  hat,  so  be- 
fürwortet er  doch  die  Aufhebung  des  §  175,  weil,  wenn 
die  Polizei  überall  einmal  kräftig  zugreifen  würde,  eine  außer- 
ordentliche Menge  von  Skandalprozessen  in  den  verschiedensten 
Kreisen  zum  Schaden  der  öfiPentlichen  Moral  entstünde  und  tat- 
sfichlich  jetzt  schon  weitgehende  Duldung  geübt  werde,  femer, 
weil  die  Unterscheidung  zwischen  strafbarem  und  straffreiem 
gleichgeschlechtlichen  Verkehr  doch  nur  eine  höchst  spitz- 
findige seL  Solange  der  Paragraph  bestehe,  müsse  er  aber  auf 
die  Homosexuellen  Anwendung  finden,  da  sie  nur  in  den 
seltensten  Fällen  als  geisteskrank  und  unzurechnungsfähig  zu  be- 
trachten seien. 

Keller^  Alexandre,  La  Grhee  antiqne  amonreuse. 

Paris,  1902,  Librairie  L.  Borel. 

Das  Buch  enthält  Übersetzungen  aus  Longus,  Plato,  Theokrit^ 
Bion,  Moschus,  Sappho  und  Anacreon,  mit  lüsternen  Abbildungen 
ausgestattet.  Es  sind  nur  Bruchstücke  ausgewählt,  die  die  hete- 
rosexuelle Liebe  besingen,  auch  der  Auszug  aus  Plato  behan- 
delt nur  die  Liebe  an  und  für  sich.  Wie  Verfasser  im  Vorwort 
zum  Bruchstück  aus  Plato  ausdrücklich  hervorhebt,  hat  er 


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—     557     — 

„absichtlich  alle  Anspielaogen  auf  ein  LaBter  ausgeschieden, 
an  dem  das  ganze  griechisch-römische  Altertum  gelitten  zu  haben 
scheint  und  dem  die  Besten  sich  nicht  immer  haben  entziehen 
wollen." 

Es  wäxe  besser  gewesen,  Keller  hätte  literarische 
Zeugnisse  über  die  ideale  Ausgestaltung  dieses  mit  Tiefe 
der  Empfindung  und  Erhabenheit  des  Geistes  gepaarten 
,,La8ters"  wiedergegeben^  anstatt  den  Exzerpten  Über  die 
„nicht  lasterhafte"  heterosexuelle  Liebe  durch  die  ero- 
tischen Bilder  den  Stempel  des  Lasterhaften  und  somit 
seiner  Ausgabe  überhaupt  diesen  Charakter  aufzudrücken. 

Erticzka,  Freiherr  Dr.  Hans,  £ln  an  Sadismus 
grenzender  Fall,  in  Groß'  Archiv  für  Kriminal- 
Statistik  und  Kriminalistik,  Bd.  XIV,  Nr.  1  und  2. 

£iu  ISjähriger  bisher  anbescholtener  Barsche  hatte  einen 
13jährigen  Knaben  mit  sich  ins  Feld  genommen  und  durch  Würgen 
und  Schlagen  mit  Holzpflöcken  getötet,  nachdem  oder  während 
er  das  Rind  —  wie  die  Verletzungen  des  Leichnams  am  After 
und  Mastdarm  aufv^eisen  —  gewaltsam  per  anum  gebraucht  hat. 
Das  Gutachten  besagt,  daß  weder  ein  auf  sadistische  Befriedigung 
abzielender  Lustmord  noch  Homosexualitfit  vorliege.  Vielmehr 
handele  es  sich  nur  um  eine  Surrogathandlung,  die  der  Erregung 
infolge  Alkoholgenusses  und  dem  durch  den  Mangel  normaler 
sexueller  Befriedigung  gesteigerten  Geschlechtstriebe  zuzuschrei- 
ben sei. 

Verurteilung  des  Täters  zu  langjährigem  schwerem  Kerker. 

Mayer,  Oberarzt  Dr.,  Müncbener  medizinische  Wochen- 
schrift, Nr.  12: 

Päderastie  sei  in  China  allgemein  verbreitet  und  gelte  nicht 
als  schändlich  und  widemattirlich ;  bei  dem  niedrigen  intellek- 
tuellen Standpunkt  der  Frau  erhalte  sie  unter  Freunden,  wie  bei 
den  Griechen,  eine  ideale  Seite.  Bei  den  Kulis  in  Niederländisch- 
indien, bei  den  Auswanderern  nach  der  Mongolei  werde  sie  durch 
den  Frauenmangel  bedingt  Versuche  zur  Unterdrückung  hätten 
in  Hollands  Kolonien  zu  blutigem  Aufruhr  geführt  Sie  werde 
zuerst  erwähnt  unter  den  Han  zwischen  einem  Kaiser  und  seinem 


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—     558     — 

Diener.  Der  Dichter  Li-ta6-pu  habe  sie  besangen,  ebenso  die 
Bücher  Tsin-pi-me'i  und  Ping-hua-pan-tiSn  (herrlicher  Spiegel 
gleichartiger  Blumen).  Diese  Bücher  mit  ihren  obscönen  Ab- 
bildungen in  chinesischer  Sprache  zu  besitzen,  sei  verboten,  man 
habe  sie  aber  in  mandschurischer!  Eine  riesige  Schundliteratur 
existiere  darüber.  Sie  heiße  Lu-tse  (Ofen),  der  Vorgang  t'sang- 
hou-tse  (ein  Eisen  in  den  Ofen  schieben).  Sie  werde  als  teurer 
Luxus  betrachtet.  Ihre  Angehörigen  zerfielen  in  zwei  Kategorien 
Eine  niedere:  Schauspieler^  früher  Vergewaltigte,  die  durch  Alter 
oder  Krankheit  Herabgekommenen  der  höheren  Klassen;  sie  trieben 
sich  in  Theatern  und  Gasthäusern  herum.  Die  höhere  Klasse  be- 
stehe aus  jungen  Menschen,  die  mit  4— 5  Jahren  gekauft  oder 
gestohlen  und  körperlich  und  geistig  für  ihr  Geschäft  erzogen 
würden.  Die  Kinder  würden  massiert,  die  Analöfinung  durch 
Zinnstü«ke  ausgedehnt,  diese  schmerzliche  Prozedur  durch  schmerz- 
lindernde Mittel  angeblich  gemildert;  sie  würden  in  Gesang  und 
Musik,  namentlich  klassischen  Gesängen  unterrichtet  und  mit 
13 — 14  Jahren  in  ihr  Geschäft  eingeführt.  Bei  besonderen  Gast- 
mählern, sowie  im  Theater  lasse  man  die  , Jungen  Knaben" 
kommen,  die  Hsiau-Kou  hätten  äußerst  gewählten  Anzug;  Ge- 
schlechtskrankheiten seien  ebenfalls  verbreitet.  Die  Hsiau-Kou 
wohnten  in  öffentlichen  Häusern  (tang-ming-öl)  und  gingen  ge- 
wöhnlich nicht  auf  die  Straße.  Ihre  Häuser  unterschieden  sich 
von  denen  der  weiblichen  Prostitution  durch  rote  Glaslaterncn 
und  die  Aufschrift  Sie  zahlten  keine  Abgaben.  In  vielen  Häusern 
finde  man  Prostituierte  beiderlei  Geschlechts.  Der  Preis  eines 
Hsiau-Kou  sei  der  doppelte  und  mehr  eines  Mädchens.  Für  den 
Kaiserlichen  Hof  existierten,  wie  man  behaupte,  spezielle  männ- 
liche Prostituierte,  größtenteils  Eunuchen.  Sie  wohnten  im  Nan- 
fa,  der  verbotenen  Stadt  (Haus  des  Südens),  der  Minister  der 
Hofangelegenheiten  habe  sie  zu  besorgen. 

Mclclicrs,  Otto,  Was  soll  das  Volk  Tom  dritten 
Geschlecht  wissen?  Auch  eine  Aufklämngsscbrift, 
herausgegeben  gegen  das  „Wissenschaftlich-Humani- 
täre Komitö".  Flugblatt  Nr.  3,  herausgegeben  von 
der  Geschäftsstelle  des  Ordens  für  Regeneration,  Otto 
Melchers,  Bremen,  Hamburgerstraße  29  h. 

Als  Ziel  der  Bestrebungen  des  Komites  wird  die  Freigabe 
geschlechtlicher  Mißbräuche  der  ärgsten  Art,  die  Erleichterung  der 


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—     559    — 

VerfQhrang  UDBchuldiger  Knaben  nnd  Jünglinge  bezeichnet  Zum 
Bew^se  dieser  Behauptung  wird  auf  den  Aufsatz  in  der  Januar- 
nummer des  ,yEigenen":  „In  die  Zukunft^^  hingewiesen. 

Insofern  in  diesen^  Au&atz  übertriebene  Wünsche 
und  Forderungen  zum  Ausdruck  kommen^  werden  sie 
auch  vom  Komit^  mißbilligt  Ich  beziehe  mich  auf 
meine  scharfe  Entgegnung  zu  diesem  und  ähnlichen  Ar- 
tikeln des  „Eigenen^^  und  meine  auch  von  Dr.  Hirschfeld 
gutgeheißene  Beurteilung.  Wenn  dann  als  weiterer  Grund 
angegeben  wird^  daß  nach  Aufhebung  des  §  175  Knaben 
über  14  Jahren  den  Päderasten  freigegeben  seien,  so 
scheint  Melchers  die  Petition  nur  flüchtig  gelesen  und 
übersehen  zu  haben,  daß  Schutz  der  Jünglinge  bis 
16  Jahre  verlangt  wird.  Über  das  Schutzalter  an  und 
für  sich  kann  man  überdies  verschiedener  Meinung  sein. 
Mag  die  Grenze  von  16  Jahren  zu  niedrig  dünken ,  so 
erhöhe  man  sie  auf  18  Jahre.  In  der  Grundfrage,  ob 
die  Konträren  gegen  Handlungen  mit  Erwachsenen  zu 
bestrafen  seien,  ist  aber  schließlich  Melchers  trotz  seines 
feindseligen  Pathos  mit  dem  Eomitö  einig.  Denn  er  muß 
zugeben,  daß  es  eine  ungerechte  Härte  sei,  Personen,  die 
von  Geburt  an  schwer  unter  einer  perversen  Veranlagung 
litten,  mit  Gefängnis  zu  bestrafen.  Warum  dann  der 
ganze  Entrüstungsapparat  und  das  Verdammungsurteil 
gegen  das  Komitö?  Allerdings  in  einem  Hauptpunkte 
entfernt  er  sich  von  dem  Komit^. 

Er  befindet  sich  nämlich  in  dem  irrigen  Glauben, 
daß  die  meisten  gleichgeschlechtlichen  Handlungen  von 
verdorbenen  Wüstlingen  ausgingen  und  bezeichnet  über- 
haupt die  gleichgeschlechtliche  Neigung  als  eine  schwere, 
durch  Generationen  ausgebildete  Entartung,  die  den  ge- 
sund gebliebenen  Teil  des  Volkes  zu  vergiften  drohe. 
Deshalb  nennt  er  es  eine  Schmach,  für  diese  „Verirrung" 
einzutreten  und  ermahnt  „die  Gesamtheit  dazwischen  zu 
fahren  und  den  Sumpf  der  Entartung  zu  säubern«.   Das 


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—     660    — 

Heilmittel  mit  dem  klangvollen  Namen,  welches  „dsLB 
Volk  auf  eine  gesunde  Grundlage"  wieder  stellen  könne, 
hat  denn  auch  Melchers  gleich  zur  Hand,  nämlich  in 
dem  „Orden  für  Regeneration"^  zu  dessen  Beitritt  er 
das  Volk  auffordert. 

Pelman,  Carl,  Strafreelit  und  yermluderte  Zurecli- 
nnngsfäliigkelt,  in  der  Politisch-Anthropologischen 
Revue,  Jahrg.  2,  Nr.  1,  Aprilnummer. 

Zu  den  Entarteten ,  die  eine  Gruppe  der  vermindert  Zu- 
rechnungsfähigen bildeten,  zählt  Pelman  auch  geschlechtlich 
Perverse  y  fügt  aber  hinzu ,  „falls  man  eine  angeborene  sexuelle 
Perversität  überhaupt  noch  gelten  lassen  wolle".  Pelman  glaubt 
letzteres  ßei  nicht  erwiesen.  Dem  Bestreben  der  Urninge,  die 
sexuell  Perversen  zu  einer  großen  sozialen  Bedeutung  aufzubau- 
schen, lägen  keine  entsprechenden  Tatsachen  zu  Grunde  und  ihre 
Zahl  schrumpfe  unter  der  Lupe  der  Kritik  sehr  .erheblich  zu- 
sammen. Das  erworbene  Laster  überwiege,  Mitleid  sei  nicht  am 
Platze.  Der  sexuell  Perverse  könne  geisteskrank  sein,  sei  es  aber 
nicht  an  und  für  sich;  die  Geisteskrankheit  müsse  durch  Symptome 
auf  einem  anderen  Gebiet  nachgewiesen  sein.  Solange  der  §  175 
bestehe,  müsse  der  nicht  geisteskranke  Perverse  die  Folgen  des 
Paragraphen  tragen. 

Auch  für  Pelman  gilt  das  oben  bei  [Besprechung 
von  JoUys  Vortrag  Gesagte. 

Puppe,  G.,  Über  larylerte  sexuelle  Perversität,  in 

der  Ärztlichen  Sachverständigen-Zeitung,  1902,  Nr.  24. 
Aus  dem  Referat  von  Ernst  Schnitze  im  Centralblatt 
für  Nervenheilkunde  u.  Psychiatrie,  15.  Oktober  1908, 
S.  661. 

Zwei  mitgeteilte  Gutachten  betreffend  sexuell  perverse  In- 
dividuen, deren  Straftaten  an  sich  keineswegs  einen  perversen 
Charakter  hatten,  nichtsdestoweniger  aber  zur  Befriedigung  des 
Geschlechtstriebes  dienten.  Der  Eine,  homosexuell  und  Sadist, 
war  wegen  Betruges  angeklagt.  Er  hatte  Schwindeleien  verübt, 
uuj  eine  von  ihm  gegründete  Jugendwehr  unter  allen  Umständen 


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—     561     — 

aufrecht  erhalten  zu  können.  Er  hatte  sich  dann  einen  roman- 
tischen Namen  zugelegt  und  unter  fälschlicher  Nennung  von  Auf- 
sichtsratsmitgiiedem  ein  Armee-  und  Marine vorbereitungs-Institut 
für  junge  Männer  von  14 — 18  Jahren  gegründet  Züchtigung  von 
Knaben,  sowie  Lektüre  solcher  Ereignisse  wirkten  sexuell  erregend. 
Der   andere  Fall   betrifft  einen  heterosexuellen  Fetischisten. 

Stern,  Bernhard,  Medizin,  Aberglaube  und  Ge- 
schlechtsleben In  der  Türkei.  Mit  Berücksich- 
tigung der  moslemischen  Nachbarländer  und  der  ehe- 
maligen Vasallenstaaten.  Berlin,  1903,  Verlag  von 
H.  Barsdorf,  2  Bde. 

Kapitel  42,  Bd.  XLII,  S.  210—221   handelt  von 
der  „Päderastie  und  Sodomie". 

Auch  der  Koran  bestrafe  den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr, 
nenne  aber  nicht  die  Höhe  der  Strafe.  Dagegen  werde  leicht 
Straflosigkeit  zugesichert^  so  schon  im  Falle  der  bloßen  Rene. 
Das  moslemische  Gesetz  gestatte  auch  der  Frau  die  Ehescheidung, 
wenn  der  Mann  Päderastie  treibe.  Es  gäbe  jedoch  kein  Beispiel 
solcher  Scheidung.  Seit  den  Zeiten  Bajesids  sei  der  gleichge- 
schlechtliche Verkehr  sehr  verbreitet  in  der  Türkei.  Sultan  Mo- 
hamed,  der  Eroberer  von  Konstantinopel,  sei  ein  berüchtigter 
Knabenliebhaber  gewesen.  Die  Osmanen  hätten  nach  der  Er- 
oberung Konstantinopels  eine  Menge  christlicher  Knaben,  die  sich 
durch  schöne  Gestalt  und  Geist  am  meisten  ausgezeichnet,  als 
Pagen,  als  Itschoghlan  zum  innersten  Dienst  des  Hofes  berufen 
und  geschlechtlich  gebraucht  Die  Knabenliebe  habe  nicht  selten 
den  triftigen  Grund  eines  Christenkrieges  abgegeben,  dessen  Beute 
die  gelichteten  Reihen  der  Rekruten  und  Pagen  mit  neuem  An- 
wuchs zu  füllen  verheißen  habe.  Während  bei  Medem  und  Per- 
sem die  Knabenliebe  mit  dem  Eunuchentum  verbunden  gewesen 
sei,  während  dort  die  schönsten  Knaben  verschnitten  worden  seien, 
um  nicht  nur  als  widernatürliche  Wächter  des  Harems,  sondern 
als  Buhlknaben  zu  dienen,  hätten  die  Türken  einen  anderen,  männ- 
licheren, staatsnützlicheren  Weg  eingeschlagen.  Die  Janitscharen- 
knaben  und  Pagen  seien  mit  wenigen  Ausnahmen  unentmannt 
geblieben.  Griechische,  serbische,  bulgarische,  ungarische  Knaben 
seien  nicht  als  Eunuchen  verschnitten,  sondern  nur  als  Moslems 
beschnitten,  in  den  Übungen  der  Waffen  unterrichtet  worden;  nach- 
dem sie  der  Lust  ihres  Herrn  und  Meisters  gefröhnt,sei  ihnen  der  Weg 
Jahrbuch  VI.  36 


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—     562     — 

EU  den  ersten  Stellen  des  Staates  und  des  Heeres  durch  Gunst 
und  Greschicklichkeit  offen  gestanden.  Aus  diesen  Pflanzschulen 
seien  die  größten  Mffnner  des  osmanischen  Reiches  hervorgegangen. 
Der  zum  Großvezier  und  Schwiegersohn  des  Sultans  Suleiman 
aufgestiegene  Rustan  —  ein  geborener  fiLroate  —  sei  ein  ehe- 
maliger Zögling  der  Pagenkammer  des  Serail  gewesen.  Die  Sitten- 
verderbnis der  Ulema  und  Richter  sei  allezeit  noch  Srger  als 
die  der  Sultane,  Paschas  nnd  Veziere  gewesen.  Als  das  „größte 
Ärgernis  des  Gesetzes**  gelte  in  der  osmanischen  Geschichte  der 
Oberstlandrichter  Tschiwisade,  „vielberüchtigt  darch  seine  Un- 
wissenheit und  Knabenschfinderei/* 

Fast  im  ganzen  Orient  seien  die  Masseure  in  den  Bädern 
Jünglinge,  die  sich  selbst  zur  Päderastie  anböten.  Bosnische 
Lieder  besängen  die  Päderastie  mit  Männern  und  Frauen.  Ein 
Sarajevoer  Lied  schildere  den  Schmerz  eines  von  einem  Päde- 
rasten  geplagten  Burschen. 

In  allen  Städten  des  Orients  bevölkerten  Knaben  verschie- 
dener Nationen  die  öffentlichen  Häuser  in  nicht  viel  geringerer 
Zahl  als  Mädchen.  An  Feiertagen  sähe  man  solche  Knaben  in 
ihrer  auffallend  reichen  weibischen  Tracht,  mit  falschen  Haaren, 
singend  und  tanzend,  selbst  in  den  Straßen  umherziehen  und 
Lüstlinge  locken.  In  Konstantinopel  träfe  man  sie  mit  bleichen 
hageren  Gesichtern,  in  weiten  goldgestickten  Hosen,  namentlich 
in  den  Kaffeeschenken  von  Galata.  In  Stambul  existierten  be- 
sondere Freudenhäuser  Imam-Eweler,  Häuser  des  Imams  genannt, 
in  denen  nur  Knaben  die  Funktionen  der  Freudonmädchen  aus- 
übten. Ein  russischer  Arzt  habe  schon  im  Jahre  1846  zehn  solcher 
Häuser  erwähnt  Seither  habe  sich  die  Zahl  nach  einer  dem  Ver- 
fasser von  einem  türkischen  Polizeibeamten  gemachten  Mitteilung 
verdreifacht.  Schließlich  berichtet  Verfasser  noch  kurz  über  die 
von  Hahn  in  den  bekannten  „albanesischen  Studien"  gemachten 
Angaben  über  die  Knabenliebe  bei  den  Gegen  Albaniens,  wo  die 
Knabenliebhaberei  unter  den  unverheirateten  Männern  eine  natio- 
nale Leidenschaft  darstelle. 

Gelegentliche  Bemerkungen  über  den  gleichgeschlechtlichen 
Verkehr  befinden  sich  noch  in  diesem  II.  Band  Kap.  26:  „Die 
Ehe  im  Islam"  S.  20.  Der  türkische  Liebesschriftsteller  Omer 
Haleby  führt  in  seiner  Verteidigung  der  Polygamie  als  eine  Ur- 
sache der  Päderastie  die  Monogamie  an. 

„Die  Monogamie  kann  aber  leicht  zum  Ehebruch,  zur  Onanie, 
zur  Päderastie  verführen;  denn  die  Laster  kommen  wie  Unglücks- 


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—     563     — 

fUle,  immer  in  Gruppen  und  Ketten,  eines  hängt  dich  an  das 
andere  an.  0  Ihr  Gläubigen ,  folget  nicht  den  Prinzipien  und 
Batschlfigen  jener  Götzendiener ,  welche  sich  fälschlich  Diener 
Jesu  nennen;  denn  sie  geben  vor,  ihn  als  Muster  anzuerkennen, 
und  machen  aus  seiner  Lehre  den  Tempel  Satans  und  der 
Vielgötterei." 

Es  ist  ergötzlich,  zu  sehen,  wie  hier  ein  Osmane  die 
gleichen  Vorwürfe  gegen  die  Monogamie  erhebt,  welche 
meist  der  Christ  gegen  die  Polygamie  schleudert  und 
jeder  in  den  Eheeinrichtungen  des  Volkes  des  anderen 
eine  Ursache  der  Päderastie  erblickt.  Sollte  da  nicht 
die  Überzeugung  sich  aufdrängen,  daß  der  gleichge- 
schlechtliche Verkehr  von  Monogamie  und  Polygamie 
unbeeinflußt  ist! 

Kapitel  43:  Eunuchen  und  Perversitäten,  Seite  230, 
berichtet  Stern  über  die  Eunuchen,  die  Männern  als  Weiber 
dienen.    Er  zitiert  Omer  Haleby: 

,,Wenn  sich  diese  Eunuchen  a  retro  gebrauchen  lassen,  so 
sind  sie  die  schlimmsten  Feinde  der  Frauen,  deren  peinlichste, 
wildeste  und  eifersüchtigste  Wächter;  und  sie  sind  nicht  bloß 
eifersüchtig  auf  die  Frauen,  sondern  auch  auf  einander.^^ 

Im  gleichen  Kapitel  S.  233  erwähnt  Stern  den  weih  weib- 
lichen Verkehr:  „Die  indischen  Frauen  in  den  Harems  üben  mit- 
einander das  Auparischtaka  oder  „die  Krähe^'  d.  h.  den  cunilingus. 
Er  zitiert  femer  einen  Abschnitt  aus  Hammer:  „Geschichte  des 
Osmanischen  Reiches*'  über  eine  türkische  Sappho,  die  Dichterin 
Mihiri  aus  Amasia,  die  ihr 

„lediges,  aber  nicht  jungfräuliches  Leben  der  Liebe  ge- 
weiht". 

Wie  dies  gewöhnlich  in  Büchern  über  türkische  Zu- 
stände geschieht,  stellt  auch  Stern  die  Sache  so  dar,  als 
ob  der  gleichgeschlechtliche  Verkehr  in  der  Türkei  weit 
hänfiger  ausgeübt  werde  ^  als  im  übrigen  Europa.  Es 
mag  nun  auch  sein,  daß  er  besonders  häufig  in  der  Tür« 
kei  vorkommt^  aber  ich  glaube  nicht,  daß  das  Verhältnis 
der  Häufigkeit  des  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  zur 
Häufigkeit  des  normalen  Verkehrs,  sowie  das  Verhältnis 
der  Anzahl  Homosexueller,  die  gleichgeschlechtlich  yer- 

36» 


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—     664     — 

kehren,  zu  der  Anzahl  Heterosexueller,  die  gleich- 
geschlechtlichen Verkehr  ausüben,  in  der  Türkei  wesent- 
lich anders  sei,  als  im  übrigen  Europa.  Wenn  der 
gleichgeschlechtliche  Verkehr  öfter  als  in  Europa  gepflegt 
wird,  so  scheint  aber  überhaupt  auch  der  Koitus  zwischen 
Mann  und  Weib  oft  in  übermäßiger  Weise  ausgeübt  zu 
werden.  So  berichtet  Stern  von  dem  Sultan  Ibrahim,  der 
einmal  in  24  Stunden  24 mal  koitiert  habe..  Sodann  ist 
zu  beachten,  daß  die  Homosexuellen  in  der  Türkei  un- 
gehemmt und  ohne  sozialer  Ächtung  zu  verfallen,  ihren 
Trieb  befriedigen  können.  Die  Homosexualität  wird  daher 
offener  hervortreten,  ihre  Äußerungen  werden  öfters  nach 
außen  hin  sich  bemerkbar  machen,  während  im  übrigen 
Europa  die  Homosexuellen  ihr  Geschlechtsleben  auf  das 
Sorgfältigste  in  Dunkel  hüllen,  und  das  große  Publikum 
nur  infolge  von  Skandalgeschichten  und  Prozessen  von  dem 
homosexuellen  Leben  und  Treiben  etwas  erfährt.  So 
kommt  der  Heterosexuelle  leicht  zu  dem  Glauben,  die 
'  in  Europa  ihm  verborgen  bleibenden  Homosexuellen  seien 
weniger  zahlreich  als  in  der  Türkei:  Für  das  häufigere 
Vorkommen  des  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  in  der 
Türkei  braucht  man  daher  nicht,  wie  das  so  oft  geschieht, 
als  Grund  die  infolge  der  polygamen  Sitten  angeblich 
entstandene  Übersättignug  am  Weibe  und  die  Sucht  nach 
neuen  Genüssen  zu  sehen.  Auch  Stern  weiß  von  keinem 
einzigen  Männerliebhaber  zu  berichten,  der  infolge  voran* 
gegangener  Exzesse  beim  Weibe,  später  eine  Begierde 
für  Jünglinge  erworben  hätte.  Wenn  die  maßlose  Weiber- 
liebe derartige  Wirkungen  öfter  zeitigen  würde,  so  wären 
sie  doch  z.  B.  bei  dem  oben  erwähnten  Ibrahim  zu  er- 
warten gewesen,  der  aber  trot?  seiner  Unzahl  von  Sul- 
taninnen, Sklavinnen  und  Günstlinginnen  bis  zu  seinem 
Lebensende  anscheinend  keinen  Überdruß  am  Weibe  be- 
kam und  keine  Lust  zeigte,  die  Liebe  zum  Weib  mit 
der  Begierde  zum  Mann  zu  vertauschen. 


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—    565     — 

Ebenso  blieb  der  Prophet  Mohammed  trotz  seiner 
elf  Frauen  (die  letzte  heiratete  er  noch  kurz  vor  seinem 
Tode)  Weiberfreund,  auch  ihn  verleitete  nicht  der  häutige 
Besitz  des  Weibes  zum  Wechseln  seiner  Natur.  Was 
die  gesetzliche  Verpönung  des  gleichgeschleohthchen  Ver- 
kehrs anbelangt,  so  scheint  die  Strafe  nur  auf  dem  Papier 
zu  stehen.  Die  Bedeutung  —  oder  viehnehr  Bedeutungs- 
losigkeit —  des  Verbots  wird  sofort  klar,  wenn  man  be- 
rücksichtigt, was  alles  ebenso  wie  die  Päderastie  mit 
korrektionellen  Strafen  bedroht  ist.  So  z.  B.  f&hrt  Stern 
in  einer  Linie  mit  der  Strafe  der  Päderastie  an  (S.  53): 
„Die  Strafe  der  Witwe  für  die  Verheiratung  während  der 
gesetzlichen  Wartezeit,  oder  die  Strafe  für  den  freien 
Verkehr  der  beiden  Geschlechter,  wenn  ein  Mann  und 
eine  fVau,  die  nach  dem  Gesetz  sich  nicht  sehen  dürfen, 
sich  in  familiärer  Weise  treffen,  miteinander  plaudern, 
schäkern  und  gemeinsam  ein  Mahl  nehmen!  Oder  die 
Strafe  für  den  Ungehorsam  der  Frau  gegen  den  Willen 
des  Mannes." 

Die  Schilderung,  die  Stern  über  die  heutige  Knaben- 
prostitution in  Konstantinopel  gibt,  ist  nach  Erkundigungen, 
die  ich  von  Homosexuellen  eingezogen  habe,  die  mit  den 
türkischen  Verhältnissen  bekannt  sind,  unrichtig. 

Dereine  sehr  zuverlässige  Gewährsmann  schreibt  mir: 

,ySicher  ist,  daß  fiLuabenbordelle,  wie  sie  noeh  vor  10  Jahren 
bestanden  haben  sollen,  nicht  mehr  existieren,  sondern  von  der 
Polizei  aufgehoben  worden  sind.  Auch  die  „poetische"  Beschrei- 
bung der  auf  den  Straßen  herumsiehenden  oder  in  Kneipen 
sitzenden  Knaben,  besonders  in  Galata,  also  in  dem  Fremden- 
viertel,  ist  absolut  unzutreffend.  Dagegen  sind  einige  Bäder  be- 
kannt, in  denen  die  Diener  die  Funktionen  der  Freudenmädchen 
verrichten,  immer  aber  unter  dem  Mäntelchen  der  „Badebedienung^^ 
Für  den  Fremden  bietet  Konstantinopel  weniger  Gelegenheit  zum 
homoseznellen  Verkehr,  als  irgend  eine  andere  europäische  Groß- 
stadt. Kuppler  und  schmutzige  Hotelchen,  in  denen  man  über- 
dies geprellt  wird,  existieren  zwar,  aber  ganz  ebenso  im  geheimen, 
wie  in  anderen  Großstädten.^^ 


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—     566     — 

Salgo,  Dr.,  Die  sexuellen  Perrersitäten  Tom  psychi- 
atrischen und  forensischen  Gesichtspunkte.  Vor- 
trag, gehalten  auf  dem  2.LaDdeskongreß  der  uDgariBchen 
Irrenfirzte;  in  der  „Pester  medizinisch- chirurgischen 
Presse'^  No.  1  vom  4.  Januar  1903. 

Aas  der  zeitlichen  und  örtlichen  Ubiquitfit  der  Homoseza- 
alität  und  weil,  wie  er  glaubt,  die  Möglichkeit  des  normalen  Ver- 
kehrs neben  dem  homosexuellen  in  den  meisten  Fällen  bestehe, 
schließt  Salgo,  daß  die  angeborene  Inversion  eine  seltene  Er- 
scheinung sei.  Die  Behauptung  des  Angeborenseins,  meint  Salgo 
weiter,  stamme  aus  sehr  wenig  zuverlässigen  Informationen,  aus 
den  oft  lügenhaften,  an  der  Verschleierung  des  wahren  Ursprungs 
ihres  Lasters  interessierten  Homosexuellen.  Die  Homosexualität 
sei  meist  auf  äußere  Ursachen  zurückzufahren:  Auf  Abstumpfung 
der  Libido  infolge  von  Exzessen,  Notstand  regulären  Geschlechts- 
verkehrs, z.  B.  infolge  Krankheit  der  Frau  (!)  usw.  Die  bei  sexuell 
Perversen  angeblich  oft  vorhandene  sogenannte  psychische  Dege- 
neration sei  kaum  mehr  als  ein  Schlagwort  und  kein  Beweis  der 
Krankhaftigkeit,  ebenso  die  sog.  somatischen  Stigmata,  deren  Ab- 
hängigkeit von  Störungen  des  Zentralnervensystems  unerwiesen 
sei.  Sexuelle  Perversität  könne  allerdings  als  Ausfluß  einer  Greistes- 
störung  vorkommen!,  z.  B.  im  Verlaufe  maniakaliscber  Erregungs- 
zustände, beigewissen  Formen  seniler  psychischer  Involution,  bei  den 
von  Magnan  beschriebenen  Fällen  anfallsweise  auftretender  Zu- 
stände mit  den  Begleiterscheinungen  der  Anxietät,  Palpitation, 
Trübung  des  Bewußtseins,  großer  Unruhe,  die  in  sexuell  perversen 
Handlungen  zur  Entladung  kämen.  Die  sexuelle  Perversität  sei 
nur  dann  als  krankhaft  zu  betrachten,  wenn  sie  mit  vielen  an- 
deren und  charakteristischeren  Rrankheitssymptomen  ein  Krank- 
heitsbild ausmache.  Anlangend  die  forensische  Seite  der  homo- 
sexuellen Frage  befürwortet  Salgo  die  Straflosigkeit  des  homo- 
sexuellen Verkehrs.  Wolle  man  ihn  wegen  der  Vereitelung  der 
Fortpflanzung  bestrafen,  so  müsse  man  auch  unzählige  Akte  im 
heterosexuellen  Geschlechtsverkehr  mit  Strafe  bedrohen,  die  aber 
so  verbreitet  und  so  intimer  Natur  seien ,  daß  eine  strafende  Kon- 
trolle undenkbar  sei.  Die  strafrechtliche  Verfolgung  der  Perver* 
sitäten  richte  sich  daher  gamicht  gegen  ihre  gesellschaftsfeindliche 
Seite,  sondern  scheine  eher  einer  ästhetischen  Empörung  gegen 
Geschmacksverirrungen  zu  entspringen.  Ein  gesetzgeberisches 
Einschreiten  gegen  individuelle  Geschmacklosigkeiten  sei  jedoch 
kaum  denkbar,   und  zwar  auch  dann  nicht,   wenn  man  die  Q-e- 


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—     567     — 

flchmacksverirmoffen  moraliBche  Yerimuigen  nennen  wolle.  Eine 
Handlung  sei  erst  dann  unmoralisch ,  wenn  auch  Dritte  dadurch 
berührt  würden;  solange  die  zwischen  zwei  Personen  verübte  per- 
verse Handlung  geheim  bleibe,  sei  sie  weder  moralisch  noch  un- 
moralisch zu  nennen.  Sie  werde  es  erst,  wenn  sie  zur  Kenntnis 
Dritter  gelange  und  deren  berechtigtes  Empfinden  verletze.  Daß 
sie  aber  zur  Kenntnis  gelange,  sei  in  vielen  Fällen  gerade  ein 
Umstand,  der  gegen  ihre  Verfolgung  spräche,  da  die  Anzeige 
meistens  durch  einen  Erpresser  erfolge.  Die  „Chantage*^  blühe 
auch  gerade  da  am  meisten,  wo  die  homosexuelle  Handlung  straf- 
bar sei. 

Salgo  macht  über  Wesen  und  Entstehung  der  Homo- 
sexualität Ausführungen,  die  im  allgemeinen  denjenigen 
von  Jolly  (siehe  oben)  ziemlich  ähnlich  sind.  Ich  ver- 
weise daher  auf  meine  Erwiderung  gegen  Jolly.  Das 
dort  Gesagte  gilt  auch  gegenüber  den  Auslassungen 
von  Salgo. 

Allerdings  ist  die  Auffassung  von  Salgo  eine  weniger 
wissenschaftliche,  noch  mehr  auf  veraltetem  Standpunkt 
fußende,  als  diejenige  von  Jolly.  Man  darf  wohl  seiner 
Verwunderung  darüber  Ausdruck  verleihen,  daß  auf  einem 
Ärztekongreß  ein  Mann  über  Homosexualität  Vortrag 
gehalten  hat,  der,  wie  seine  Auslassungen  beweisen,  von 
dem  Wesen  der  Homosexualität  keine  Ahnung  und 
sicherlich  niemals  noch.  Homosexuelle  untersucht  hat. 
Eine  bemerkenswerte  Tatsache  bedeutet  es  übrigens,  daß 
Männer  wie  Jolly  und  Salgo,  die  einen  den  Forschem 
über  Homosexualität  entgegengesetzten  Standpunkt  ein- 
nehmen, trotzdem  die  Beseitigung  der  Bestrafung  des 
homosexuellen  Verkehrs  verlangen. 

Schrcnck-Notzing,  Freiherr  Ton,  Beiträge  znr 
forensischen  Beurteilung  Ton  SittUchkcltsyer- 
gchen  mit  besonderer  Berücksichtigang  der 
Pathogenese     psychosexueller     Anomalien,     in 

„Kriminal  -  psychologische    und    psycho  -  pathologische 


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—     568     — 

Studien".     Leipzig,    1902,    Verlag  Ton  Johann  Am- 
brosius  Barth. 

Kapitel  2,  3  und  4  der  Abhandlung  hat  Verfasser 
schon  früher  im  Archiv  fUr  ,,  Kriminal- Anthropologie  und 
Kriminalistik"  von  Groß  veröflFentlicht  Sie  sind  auch 
schon  von  mir  im  Jahrbuch  II,  S.  361  besprochen  worden. 
Neu  ist  nur  Kapitel  I:  „Einleitende  Bemerkungen  über 
Homosexualität^^ 

Verfasser  hebt  den  gewaltigen  Einfluß  der  geschlechtlichen 
Faktoren  für  das  Seelenleben  und  ihre  große  Bedeutung  in  medi- 
zinischer, strafrechtlicher  und  sozialer  Hinsicht  hervor.  Er  gibt 
eine  kurze  Beschreibung  der  Äußerungen  und  Wirkungen  des 
homosexuellen  Gefühles,  wobei  er  erwähnt,  daß  ihm  eine  Anzahl 
von  Ehen  bekannt  sei,  in  denen  infolge  der  auf  Homosexualität 
zurückzuführenden  Unfähigkeit  des  Ehemannes  zur  Ausübung  des 
normalen  Verkehrs  die  Frau  virgo  intacta  sei.  Verfasser  skizziert 
dann  seine  bekannte  Assoziationstheorie,  die  er  dahin  zusammen- 
faßt, daß  die  meisten  geschlechtlichen  Verirrungen  sich  als  Pro- 
dukt ungünstiger  äußerer  Anlässe  bei  vorhandener  erheblicher 
neuropathischer  Konstitution  und  Labilität  des  Trieblebens  dar- 
stellten. Gegen  die  jüdisch-christliche  Anschauung  in  geschlecht- 
lichen Dingen  sich  wendend,  spricht  er  von  der  Einseitigkeit  und 
Härte  dieses  ursprünglich  gegen  ganz  bestimmte  heidnische  Un- 
sitten gerichtete  und  mit  den  Bedürfhissen  der  heutigen  Kultur 
nicht  mehr  übereinstimmenden  Ideals,  das  beigetragen  habe  zur 
Förderung  der  Prostitution,  sowie  der  zahlreichen  Verirrungen 
und  Erkrankungen  des  Sexualtriebes,  und  zur  Ausbreitung  der 
Heuchelei  und  Lüge  im  geschlechtlichen  Leben.  Dieser  Auf- 
fassung stellt  Verfasser  das  griechische  Ideal  gegenüber;  die  Ge- 
schichte der  Geschlechtsverhältnisse  im  alten  Griechenland  lehre, 
daß  hohe  Kultur  und  Sittlichkeit  sehr  wohl  vereinbar  Sei  mit 
einer  natürlichen,  freieren,  mehr  den  Bedürfnissen  des  mensch- 
lichen Wesens  entsprechenden  Auffassung  des  sexuellen  Lebens. 
Der  Staat  solle  eher  die  kommende  Generation  ins  Auge  fassen 
und  sich  mehr  um  die  Verhütung  der  Fortpflanzung  von  Trunken- 
bolden, Syphilitischen,  Verbrechern  usw.  kümmern,  anstatt  mit 
der  Bevormundung  der  Einzelindividuen  in  sexueller  Beziehung 
auch  da,  wo  kein  Schaden  für  einen  Dritten  oder  das  Allgemein- 
wohl daraus  erwachse,  so  weit  zu  gehen,  wie  er  dies  mit  §  175 
tue.  Durch  innere  Reformen  (Aufgabe  der  Heuchelei  in  sexuellen 


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DiDgen,  Erleichterung  der  Eheschliefiong  für  normale  Indi- 
viduen, Gewährung  vernünftiger  sexueller  Befriedigung  usw.X 
würde  perversen  Richtungen  des  Geschlechtstriebes  der  Boden 
entzogen. 

Meine  von  Schrenck-Notzing  abweichende  Auffassung 
über  Entstehung  und  Beurteilung  der  Homosexualität 
und  die  Einwände  gegen  des  Verfassers  Theorie  habe 
ich  schon  im  Jahrbuch  11^  S.  363^  und  an  anderen 
Stellen  niedergelegt.  Obgleich  Schrenck-Notzing  die  in 
den  Jahrbüchern  hauptsächlich  vertretene  Anschauung  über 
das  Angeborensein  der  Homosexualität  bekämpft,  erkennt 
er  doch  in  einer  Anmerkung  (Anm.  2  zu  Kapitel  11), 
welche  Hirschfeld  im  vorigen  Jahresbericht  ganz  ab- 
gedruckt hat,  in  unparteiischer  Weise  ,,die  riesige, 
unermüdliche  Arbeitskraft,  die  zähe  Ausdauer  und  die 
geschickte  Organisation^^  an,  wie  sie  in  dem  unternehmen 
zutage  trete.  Eines  gevdssen  Widerspruches  macht  sich 
Schrenck-Notzing  schuldig,  indem  er  dem  griechischen 
Ideal  in  gleichgeschlechtlichen  Dingen  Lob  spendet  und 
trotzdem  die  gerade  in  Griechenland  zu  gesunder  Blüte 
entwickelte  Jünglingsliebe  als  krankhaft  bezeichnet  Der 
Forderung  des  Verfassers  nach  sozialen  Reformen  auf 
geschlechtlichem  Gebiet  wird  man  voll  und  ganz  zu- 
stimmen müssen;  deshalb  braucht  man  aber  nicht  seine 
Folgerung  für  richtig  zu  halten,  daß  dann  die  Homo- 
sexualität auf  ein  Minimum  zusammenschrumpfen  werde. 
Denn  ist  die  Homosexualität^ '  wie  ich  glaube,  eine  an- 
geborene, zu  allen  Zeiten  und  an  allen  Orten  verbreitete, 
dem  normalen  Trieb  parallele  Leidenschaft,  so  werden 
soziale  Verbesserungen  nur  wenig  die  Zahl  der  Homo- 
sexuellen beeinflussen. 

Spassoff,  Contribution  ä  l'^tude  de  riustinct  sexuel 
et  de  ses  transformatlons  dans  les  maladies 
mentales.  These  pour  le  doctorat  en  m^decine. 
Toulouse,  1901,  Imprimerie  Saint  Cyprien. 


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—     570     — 

Eine  für  die  Frage  der  Entstehang  des  G-eschlechts- 
triebes  und  seiner  Anomalien  unbedeutende  Dissertation« 
Das  wichtigste  Werk  über  den  Geschlechtstrieb,  Molls 
Untersuchungen  über  die  Libido  sexuaiis,  ist  nicht  ein- 
mal genannt 

Der  Geschlechtstrieb  ist  fttr  den  Verfasser,  wie  jeder  Trieb, 
eine  etwas  komplizierte  Beflexbewegnng  mit  einer  gewissen  Bewiißt- 
seinsbeteiligung;  in  dem  Trieb  sei  wahischeinlich  eine  psychomcH 
torische  Bewegung:  Begierde,  Erregung  nsw.  mit  mehr  oder  we- 
niger Beteiligung  des  Willens  enthalten.  £r  fQhrt  den  Greschlechts- 
trieb  auf  zwei  Ursachen  zurück:  Die  Notwendigkeit  und  Begierde 
der  Entleerung  der  durch  die  Geschlechtsdrüsen  hervorgebrachten, 
durch  Sekretion  entstandenen  Produkte,  durch  welche  auch  die 
etwaigen  sexuellen  Centren  erregt  würden.  Die  zweite  Ursache 
sei  der  Gedanke  der  Fortpflanzung.  In  den  Geschlechtsanomalien 
sei  entweder  ein  übertriebenes  Beharren  des  lediglich  organischen 
Reflexes  ohne  Beteiligung  des  Bewußtseins,  ohne  getroffene  Wahl 
usw.  vorhanden,  oder  aber  lediglich  die  Äußerung  des  psychischen 
Teiles  des  Aktes  infolge  Vergessens  des  organischen  Ursprungs, 
daher  die  rein  ideale  Liebe  ohne  physischen  Zweck. 

Wie  unrichtig  die  Auffassung  ist,  als  ob  das 
psychische  Komponent  der  Geschlechtsliebe  der  Gedanke 
an  Fortpflanzung  sei,  geht  daraus  hervor,  daß  auch  der 
Koitus  zwischen  Personen  verschiedenen  Geschlechts  fast 
niemals  zu  diesem  Zweck  stattfindet  Man  kann  daher 
auch  nicht  bei  den  Anomalien  das  Fehlen  dieses  Zweckes 
als  Charakteristikum  betrachten.  Übrigens  zeigt  sich 
auch  bei  den  Erörterungen  der  sexuellen  Anomalien  seitens 
Spassoff  seine  Theorie  völlig  unzulänglich.  So  operiert 
er  bei  der  Erklärung  der  Paresthesie,  insbesondere  der 
Inversion,  fast  nur  mit  der  Störung  der  Geschlechts- 
zentren, obgleich  er  das  Vorhandensein  der  letzteren  kurz 
vorher  bei  der  Erörterung  des  Geschlechtstriebes  zu  leugnen 
geneigt  war,  jedenfalls  ihnen  keine  entscheidende  Be- 
deutung beimaß. 

Nach  Spassoff  entsteht  die  Inversion  infolge  der  in  der 
Jagend  aus  Nachahmung,  Furcht  vor  Geschlechtskrankheiten  oder 


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—     671     — 

Weibermangel  betriebenen'  Onanie,  welche  Neurasthenie  verar- 
Sache  und  das  normale  Geschlechtszentrum  ins  Wanken  bringe. 
Auch  auf  Grund  angeborener  Schwäche  des  Gkhims  könnten  falsche 
Ideenassoziationen  und  eine  Ablenkung  in  perverse  Bahnen  statt- 
finden. 

Der  zweite  Teil  der  Schrift  hat  ein  gewisses  Interesse.  Ver- 
fasser hat  versucht,  in  den  Irrenanstalten  Salnt-Lisier  und  Mont- 
auban  (Südfrankreich)  die  Art  des  Geschlechtstriebes  der  Irren 
festzustellen.  Von  169,  bei  denen  Feststellungen  möglich  gewesen 
seien,  hätte  er  nur  19  g^efiinden,  bei  denen  der  Geschlechtstrieb 
nicht  eine  Anomalie,  Hyperästhesie,  Anästhesie  oder  Paresthesie 
aufgewiesen  hätte. 

Da  Verfasser  zu  den  Paresthesien  alle  Formen  ge- 
schlechtlichen Verkehrs  außerhalb  des  normalen  Koitus 
rechnet^  z.  B.  auch  Onanie,  so  weiß  man  nicht,  wieviel 
Fälle  gleichgeschlechtlicher  Akte  in  den  aufgestellten 
Tabellen  sich  befinden^  und  wüßte  man  es  auch^  so 
würde  dies  angesichts  der  Verhältnisse,  unter  denen  diese 
Akte  beobachtet  wurden,  noch  nicht  entscheiden,  um  wie- 
viel Fälle  von  Inversion  es  sich  handelte.  Irgend  welche 
Schlüsse  für  die  Entstehung  oder  Verbreitung  der  Homo- 
sexualität lassen  sich  daher  aus  der  Statistik  nicht  ziehen. 
Verfasser  betont  übrigens  zum  Schluß  selbst^  daß  seine 
Untersuchungen  ihm  keine  bestimmten  Schlußfolgerungen 
gestatteten. 


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—     572     — 

Kapitel  IV. 

Die  Anhänger  der  Strafe. 

Anderson,  Marie  (Frau),  Wider  das  dritte  Ge- 
schlecht. Ein  Wort  zur  Aufklärung  über  die  kon- 
träre Sexualempfindung  und  die  Abschaffung  des 
§  175  StG.B.  BerUn,  1903,  Verlag  von  Hugo  Ber- 
müUer. 

Mit  heiligem,  feurigem  Entrüstungseifer  hat  Ver- 
fasserin alle  vor  den  wissenschaftlichen  Forschungen  über 
Homosexualität  herrschenden  Vorurteile  wieder  aufgetischt 
Das  Märchen  vom  Wtistlingsleben,  die  Fabel  von  der 
bei  den  Passiven  am  anus  bestehenden,  besonders 
erregbaren  Nerven,  die  Mythe  von  der  Sucht  der  Aktiven 
nach  größerer  Enge  bei  Ausübung  des  Beischlafes  als 
Ursachen  der  Homosexualität,  diesen  gesamten  veralteten 
Hokuspokus  hat  die  gute  Dame  neu  aufgewärmt.  Auf 
eine  Widerlegung  werde  ich  mich  selbstverständlich  nicht 
einlassen,  es  würde  den  Elukubrationen  der  streitbaren 
Amazone  allzu  große  Ehre  angetan.  Nur  eine  Frage: 
Wenn  die  Homosexuellen  aus  Sucht  nach  dem  Engeren 
den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  wählen,  warum  suchen 
sie  beim  Manne,  was  sie  bei  der  Frau  auch  finden 
könnten?' 

Trotz  der  anscheinend  unheilbaren  Verblendung  der 
Frau  Anderson  war  sie  doch  gütig  genug,  einen  Licht- 
strahl der  neueren  Forschungen  in  ihre  dunklen  Vor- 
stellungen eindringen  zu  lassen,  insofern  sie  wenigstens 
das  Vorkommen  angeborener  Konträrsexualempfindung 
nicht  leugnet;  allerdings  hat  dieser  Lichtstrahl  nicht 
vermocht,  ihr  Verständnis  genügend  zu  erhellen;  denn  in 
einem  Atem  bezeichnet  sie  die  angeborene  ümingsliebe 
als  Kranldieit  und  als  schändliches  Laster  und  will  diese 


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—     573     - 

„kranken  Lasterhaften^'  wie  Aussätzige  aus  der  Gesell- 
schaft ausgeschlossen  wissen,  damit  sie  nicht  Normale  in 
das  Lager  ihrer  ekelhaften  Leidenschaft  zögen;  gleich- 
zeitig bringt  sie  es  dann  wieder  fertig,  diese  geborenen 
Uranier  mit  dem  körperlichen  Zwitter  zusammenzuwerfen. 

Die  Beleidigungen  und  Beschimpfungen,  mit  denen 
die  anmutige  Verfasserin  die  Bestrebungen  des  Komitees, 
die  sie  als  Skandal  bezeichnet,  gegen  den  die  Behörden 
einschreiten  sollten,  überschüttet,  ihre  Entstellungen  der 
Volksschrift,  die  sie  eine  Empfehlung  des  Lasters  und 
gröbsten  Unfugs  nennt,  ihre  Verleumdungen  gegen  das 
Komitee,  welches  sie  als  Beschützer  überspannter,  raffi- 
nierter Wollüstlinge  und  Volksvergifter  darstellt,  wird 
man  nicht  so  sehr  auf  weibliche  Perfidie,  als  vielmehr 
auf  weibliche  Subjektivität  zurückführen,  auf  unüberlegte, 
aus  blindem  Haß  und  instinktivem  Abscheu  entspringende 
Gefühlsreaktion,  auf  Unkenntnis,  auf  mangelnde  Fähig- 
keit, dem  eigenen  Wesen  Fremdartiges  und  dem  eigenen 
Temperament  Femliegendes  objektiv  zu  beurteilen,  auf 
die  Unmöglichkeit,  den  Bann  eingewurzelter  Vorurteile 
zu  brechen. 

Man  wird  der  Verfasserin  nicht  einmal  wegen  ihrer 
geistigen  Ergüsse  zürnen,  viel  eher  möchte  man  sie  be- 
mitleiden, daß  sie  die  ernste  wissenschaftliche  Frage  der 
Homosexualität  in  einem  Unrat  des  Monströsen,  Törichten, 
Falschen  und  Vorurteilsvollen  ersticken  zu  dürfen  glaubt. 
Aber  nicht  nur  Mitleid  wird  man  ihr  zollen,  sondern 
auch  Dank  spenden  für  eine  Art  der  Feindschaft  und 
Bekämpfung,  die  dem  Komitee  nur  Sympathien  objektiv 
Denkender  einbringen  kann.  Von  solchen  Gegnern  wie 
Frau  Anderson  hat  das  Komitee  nichts  zu  befürchten, 
schon  deshalb,  weil  derartige  Streitschriften  der  Lächer- 
lichkeit anheimfallen,  und  auch  hier  der  Grundsatz  sich 
bewahrheitet: 

Le  ridicule  tue. 


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—     574    — 

Quanter,   Badolf,    Wider   das    dritte   ^esehlecht. 

Ein  Wort  zur  Aofkläning  über  die  konträre  Sexaal- 
empfindung und  die  Ab8cha£fung  des  §  175  nach 
Frau  Marie  Anderson.  Zweite^  zugleich  neubearbeitete 
Ausgabe.   Berlin,  1904,  Verlag  von  Hugo  Bermüller. 

Ein  wackerer  Eitter  ist  in  der  Person  von  Quanter 
der  Frau  Anderson  zu  Hilfe  geeilt  und  hat  nicht  nur 
die  Elukubrationen  der  tapferen  Dame  in  festeren  Zu- 
sammenhang und  in  logischeres  Gefüge  zu  bringen  ver- 
sucht, sondern  ist  auch  durch  selbständige  Ausführungen, 
die  diejenigen  der  kühnen  Streiterin  noch  um  die  Hälfte 
an  umfang  übertreffen,  gegen  die  Homosexuellen  und  das 
Komitee  zu  Felde  gezogen.  Noch  nachdrücklicher  als 
Frau  Anderson  will  Quanter  durch  geschichtliche  Bei- 
spiele nachweisen,  daß  Homosexualität  meist  ein  Laster 
sei.  Hierbei  glaubt  er  besonders  in  den  römischen 
Cäsaren  gute  Beispiele  vorzufilhren.     Er  vergißt  dabei: 

1.  daß  der  Verkehr  mit  Frauen  neben  dem  homo- 
sexuellen Trieb  einhergehen  kann,  weil  entweder  ohne 
heterosexuelle  Veranlagung  dieser  Verkehr  aus  den  ver- 
schiedenen Gründen  stattfindet,  oder  weil  psychische 
Hermaphrodisie  besteht,  daß  also  dieser  Verkehr  nicht 
die  homosexuelle  Handlung  als  Laster  erweist; 

2.  daß  selbst,  wenn  in  der  römischen  Zeit  gleich- 
geschlechtliche Handlungen  als  Laster  Normaler  vor- 
gekommen sein  mögen,  dies  nicht  beweist,  daß  regel- 
mäßig dies  die  Quelle  der  Homosexualität  ist,  weil  die 
neuere  Untersuchung  zahlreicher  Homosexueller  ergeben 
hat,  daß  regelmäßig  angeborener  Trieb  vorliegt; 

8.  daß  Ausschweifungen  mit  Männern  auch  bei  Homo- 
sexuellen vorkommen,  ebenso  wie  mit  Weibern  bei 
Heterosexuellen,  und  daß  daher  Sioheußlichkeiten  römischer 
Cäsaren  im  Verkehr  mit  Männern  nur  beweisen,  daß  es 
auch   homosexuelle  Wüstlinge   gibt,    ebenso   wie   es   an 


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—     575     — 

heterosexuellen  nicht  mangelt,  daß  aber  die  Exzesse  der 
Homosexuellen  nicht  beweisen,  daß  sie  ursprünglich 
heterosexuell  waren. 

Wie  hoch  der  Wert  der  Quanterschen  Beweisführung 
zu  veranschlagen  ist,  geht  daraus  hervor,  daß  er  z.  B.  von 
einem  so  offenbar  geborenen  Konträren,  dem  alle  Zeichen 
völligster  Effemination  darbietenden  Heliogabal  behauptet, 
er  sei  kein  Urning  gewesen.  Quanter  mag  ihn  homo- 
sexuellen Wüstling  nennen,  einverstanden,  aber  ihn  als 
einen  durch  Überdruß  am  normalen  Verkehr  zu  einem 
Liebhaber  gleichgeschlechtlicher  Handlungen  Gewordenen 
zu  bezeichnen,  beweist  nur  Quanters  Verblendung. 

Nach  dem  historischen  Überblick,  der  als  Schreck- 
gespenst dienen  soll,  geht  Quanter  zur  Aufklärung  nach 
seiner  Art  über.  Diese  Aufklärung  ist  ganz  die  von  der 
Frau  Anderson  beliebte.  Auch  er  leugnet  und  verhöhnt 
einfach  die  Resultate,  die  die  bisherige  Forschung  auf  homo- 
sexuellem  Gebiet  ergeben  hat,  setzt  an  ihre  Stelle  seine 
theoretischen,  durch  keine  Erfahrung  bestätigten  De- 
duktionen und  zieht  sich  auf  den  durch  Jahrhunderte 
lange  Vorurteile  sanktionierten  Standpunkt  zurück.  Auch 
er  läßt  es  —  in  galanter  Nachahmung  der  liebenswürdigen 
Frau  Anderson  —  an  Schmähungen  und  Wutausbrüchen 
nicht  fehlen  gegenüber  den  Homosexuellen  und  allen 
denjenigen,  welche  es  wagen,  in  irgend  einer  Weise  für 
sie  einzutreten,  oder  auch  nur  die  Beseitigung  des  §  175 
zu  befürworten.  Desgleichen  schreckt  er  nicht  zurück 
vor  direkten  Verunglimpfungen  und  Beschimpfungen  des 
Komitees  und  des  Dr.  Hirschfeld,  ja  sogar  vor  Vorwürfen, 
wie  Handeln  wider  besseres  Wissen. 

Durch  den  saftigen  Ton  und  das  an  Kraftworten 
reiche  Auftreten  sucht  Quanter  seine  Unkenntnis,  Un- 
erfjBthrenheit  und  Unwissenheit  in  der  homosexuellen  Frage 
zu  verbergen.  In  dem  ganzen  Buch  ist  auch  nicht  eine 
einzige  Stelle,  welche  auf  persönliche  Erfahrung  hinweist. 


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—     576     — 

welche  zeigen  würde^  daß  Quanter  überhaupt  jemals 
Homosexuelle  kennen  gelernt  hat. 

Er  spricht  also  von  der  ganzen  Frage,  wie  ein 
Blinder  von  der  Farbe,  wagt  es  jedoch  nichtsdestoweniger, 
den  selbstverständlichen  Satz,  „in  den  homosexuellen 
Fragen  könnten  nur  diejenigen  als  Sachverständige  gelten, 
welche  zahlreiche  Homosexuelle  kennen  gelernt'',  als  den 
heillosesten  Unsinn  zu  bezeichnen,  wobei  er  sich  zu  dem 
heillosesten  Unsinn  versteigt,  die  wahren  Sachverstän- 
digen, Männer  wie  KraflPb-Ebing,  Moll,  Hirschfeld,  Fuchs, 
Schrenck-Notzing,  welche  Hunderte  von  Homosexuellen 
untersucht  haben,  für  parteiisch,  für  Richter  in  eigener 
Sache,  für  Verteidiger  des  Lasters  um  jeden  Preis  zu  erklären. 

Für  Quanter  sind  einwandsfrei  nur  diejenigen,  welche 
von  den  Forschungen  und  Feststellungen  in  der  homo- 
sexuellen Frage  nichts  wissen  wollen,  mögen  sie  auch 
nicht  einmal  ein  Dutzend  oder  überhaupt  jemals  einen 
Homosexuellen  studiert  haben. 

Am  höchsten  preist  daher  Quanter  auch  die  Ansicht 
eines  gewissen  Scholta,  der  das  schöne  Wort  von  der 
„homosexuellen  Schweinerei' '  geprägt  hat. 

Die  traurige  Methode  Quanters,  die  unbequemen 
Ergebnisse  anerkannter  Sachverständiger  einfach  dadurch 
hinwegzueskamotieren,  daß  er  die  einfachsten  Grundsätze 
der  wissenschaftlichen  Methodik  auf  den  Kopf  stellt, 
richtet  das  ganze  Buch  und  stellt  den  Verfasser  außer- 
halb des  Kreises  ernst  zu  nehmender  Autoren,  so  daß 
eine  Widerlegung  sich  erübrigt.  Alles,  was  zu  antworten 
wäre,  kann  übrigens  Quanter  in  meiner  Widerlegung 
der  Wachenfeldschen  Schrift  im  Jahrbuch  IV  finden. 

Fischer,  Wilhelm,  Die  Prostitution,  Ihre  beschichte 
and  Ihre  Beziehungen  zum  Verbrechen  und  die 
kriminellen  Ausartungen  des  modernen  0^ 
schlechtslebens.    Stuttgart-Leipzig,   Verlag  Daser. 


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—    577    — 

Mehr  oder  weniger  zasammenIläDgende  Extrakte  aus 
verschiedenen  Werken  über  Prostitution  und  geschlecht- 
liche Dinge  in  populärer,  an  der  Oberfläche  haftender 
Form;  unter  den  salbungsvollen  und  moralisierenden 
Phrasen  schaut  nichtsdestoweniger  die  ,,pikant  sein 
wollende"  Absicht  hervor. 

In  Kapitel  5  „Perverse  Laster  bei  den  Griechen"  wird 
Sokrates  als  ein  weiser  Don  Juan  bezeichnet,  der  sich  von  As- 
pasia  dem  Alkibiades,  einem  ihrer  Liebhaber  habeverkuppehi  lassen. 
Femer  Mitteilung  zweier  Bruchstücke  aus  Lucian,  das  eine  die 
Schilderung  der  Rynäden,  das  andere  die  Erzählung  der  zu  les* 
bischer  Liebe  verfiihrten  Le&na. 

Das  ist  ungefähr  alles,  was  Verfasser  über  die  Ho- 
mosexualität bei  den  Griechen  zu  sagen  weiß. 

Am  Schlüsse  des  Kapitels  empfiehlt  er  das  Studium  der 
antiken  Geschichte,  um  daraus  die  Lehre  zu  ziehen,  daß  nicht  nur 
der  §  175  beizubehalten,  sondern  auch  auf  die  Tribadie  auszu- 
dehnen sei. 

Kapitel  10  „Die  Prostitution  im  Mittelalter'*  enthält  eine 
Anzahl  von  Angaben  Über  Lesbismus,  insbesondere  über  Weiber 
in  Männerkleidern,  die  verschiedenen  Werken  entnommen  sind. 

Kapitel  26:  Im  Schlußwort  polemisiert  Verfasser  gegen  die 
Aufhebung  des  §  175,  es  sei  keine  Veranlassung  vorhanden,  die 
Knabenschändung  noch  zu  privilegieren  (als  ob  dies  etwas  mit  der 
Beseitigung  des  §  175  zu  tun  hätte);  femer  werden  die  angeblichen 
Gefahren  geschildert,  die  aus  der  Straflosigkeit  der  schon  längst 
gemeingefährlich  gewordenen  (!)  Tribadie  entständen. 

Die  Tribadie  finde  sehr  leicht  unter  der  heranwachsenden 
Jugend  ihre  Opfer,  denn  sie  stille  die  Brunst  unter  den  Küssen 
der  Freundschaft,  ohne  die  natürlichen  Folgen  der  natürlichen 
Liebe. 

Die  Freundinnen  der  jungen  Frau  seien  schuld,  daß  so 
manche  Ehe  schon  am  Traualtar  zertrümmert  liege. 

Gerland,   Heinrich.     Anläßlich   der  Besprechung   des 
Buches  von  Koehler  ,,Reformfragen  des  8trafrechts^< 

im  „Gerichtssaal"  Bd.  63,  Heft  1,  S.  78  sagt  öerland: 

„Bezüglich  der  Bestimmung  des  §  175  wäre  einmal  zunftchst 
die  Entstehung  einer  derartigen  Strafsetzung  zu  ergründen. 
Jahrbuch  VI.  37 


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—     578     — 

Zweifellos  beruht  de  auf  veralteten  religiösen  Yorstellaugen 
und  namentlich  wäre  es  interessant  zu  untersuchen,  warum  wohl 
Pftderastie,  nicht  aber  lesbische  Liebe  so  häufig  unter  Strafe  ge- 
stellt wird. 

Der  Beibehaltung  des  §  175  stimme  ich  bei,  nicht  aber  einer 
Forderung,  ihn  auf  lesbische  Liebe  auszudehnen.  Meine  Ansicht 
kann  ich  indes  hier  nicht  eingehender  begründen.^* 

Eine  Ergründung  der  Entstehung  der  Straf  bestimmung 
ist  nicht  mehr  nötig.  Gerland  mag  meinen  Aufsatz  im 
Jahrbuch  I  über  die  geschichtliche  Entwickelung  der 
Bestrafung  des  homosexuellen  Verkehrs  nachlesen,  wo 
ich  betonte,  daß  eine  Strafe  für  homosexuelle  Akte 
zwischen  Männern  bei  Griechen  und  Römern  vor  Ein- 
führung des  Christentums  als  solche  nicht  existierte  und 
heryorhob,  daß  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  dem 
Christentum  ein  Greuel  war,  da  ihm  jede  Fleischeslust 
als  Sünde  erschien  und  sogar  die  Ehe  nur  als  Notbehelf 
galt  (S.  109). 

Gerland  trifft  ja  selbst  das  Richtige,  wenn  er  die 
Strafen  aus  alten  religiösen  Vorstellungen  ableitet  Warum 
aber  dann  noch  die  Strafe  aufrecht  erhalten  wollen,  heute, 
wo  die  Entstehung  einer  Strafbestimmung  aus  religiösen 
Vorstellungen  keinen  Strafgrund  mehr  abgibt,  namentlich, 
wenn  es  sich  um  alte  und  veraltete,  nicht  mehr  an- 
erkannte Vorstellungen  handelt. 

Auch  über  die  Frage,  warum  Päderastie,  nicht  aber 
lesbische  Liebe  so  häufig  unter  Strafe  gestellt  wird,  be- 
darf es  keiner  großen  Untersuchung.  Das  Rätsel  ist 
leicht  gelöst. 

Zu  Zeiten,  wo  die  Anschauungen  über  geschlecht- 
lichen Verkehr  am  unduldsamsten,  strengsten  waren,  wo, 
wie  zur  Zeit  des  kanonischen  Rechtes,  jede  vom  normalen 
Verkehr  zwischen  Mann  und  Weib  abweichende  sexuelle 
Handlung  bestraft  wurde,  war  auch  der  gleichgeschlecht- 
liche Verkehr  zwischen  Weibern  mit  Strafe  belegt. 


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—     579     — 

Heute  dagegen,  wo  immerhin  die  Anschauungen 
über  sexuelle  Delikte  mildere  geworden  sind  und  der 
Gesetzgeber  eine  Bestrafung  des  gleichgeschlechtlichen 
Verkehrs  nur  beim  Vorliegen  eines  dem  normalen  Koitus 
ähnlichen  Aktes  für  angebracht  hält  —  die  geschichtliche 
Ent Wickelung  des  §  175  beweist  diese  einschränkende 
Absicht,  die  die  Praxis  dann  wieder  erweitert  hat  — 
wird  die  lesbische  Liebe  nicht  mehr  bestraft^  weil  ein 
dem  normalen  Koitus  nachgebildeter  Akt  zwischen 
Weibern  nur  äußerst  selten  möglich  ist  Die  Fälle  des 
Verkehrs  mittels  Instrumentes  oder  des  Koitus  bei  ver- 
größerter Klitoris  sind  zu  selten  und  gesucht,  um  eine 
Strafbestimmung  zu  rechtfertigen. 

Zu  diesem  einen  Orund  kommt  aber  noch  ein  zweiter. 
Gesetzgeber  ist  der  Mann,  nicht  die  Frau.  Während  nun 
gegen  den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  zwischen  Männern 
der  normale  Mann  heutzutage  einen  derartigen  instinktiven 
Abscheu  empfindet,  daß  sich  dieser  Abscheu  in  einer  Straf- 
androhung gegen  diesen  verabscheuten  Verkehr  entladet, 
ist  ein  derartig  starkes  Ekelgefühl  gegenüber  dem  weib- 
lichen gleichgeschlechtlichen  Verkehr  beim  Manne  nicht 
vorhanden,  weil  die  Anziehung,  die  das  Weib  als  solches 
auf  den  Mann  ausübt,  ihre  sexuellen  Handlungen  in  den 
Augen  des  Mannes  verklärt  und  selbst  gleichgeschlechtliche 
Praktiken  der  Frau  eine  abstoßende  Wirkung  nicht  oder 
wenigstens  in  bedeutend  geringerem  Maße  als  ähnliche 
Handlungen  des  Mannes  aufkommen  lassen.  Der  Ab- 
scheu des  Mannes  vor  gleichgeschlechtlichen  Handlungen 
des  Weibes  mußte  überhaupt  im  gleichen  Verhältnis  ab- 
nehmen, in  dem  die  Vergötterung  und  Verhimmelung 
des  Weibes  in  den  letzten  zwei  Jahrhunderten  zu- 
genommen hat,  deshalb  ist  z.  B.  gerade  in  einem  Lande 
wie  Frankreich,  wo  die  Frauenliebe,  die  Galanterie,  die 
Verehrung  des  Weibes  zur  höchsten  Blüte  gelangt  ist, 
die     Beurteilung     des     gleichgeschlechtlichen     Verkehrs 

87* 


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—     580    — 

zwischen  Männern  und  zwischen  Weibern  eine  so  grund- 
verschiedene, deshalb  wird  dort  oft  der  eine  ekelhaftes 
Laster  und  schauerliche  Immoralität,  der  andere  bloße 
Spielerei,  yerzeihliche  Sünde  genannt. 

Vielleicht  ist  es  auch  die  gleiche  übelangebrachte 
Galanterie  gegen  die  Damen,  welche  Gerland  eine  Be- 
strafung der  männlichen  Homosexuellen  befürworten  läßt^ 
während  er  den  Damen  kein  Haar  krümmen  will. 

KOhler,  Dr.  August,  Beformft*agen  des  Stnft*eclits. 

München,  1903,  C.  ü.  Beckersche  Verlagsbuchhandlung. 

Köhler  verlangt  Abänderung  des  §  175,  aber  Abänderung 
einmal  im  Sinne  einer  Verschärfung,  nämlich  Ausdehnung  auf  die 
Weiber,  sodann  zweifelsfreiere  Bestimmung  der  Art  des  strafbaren 
Verkehrs.  . 

Einer  Entscheidung,  welche  von  den  verschiedenen  Grundan- 
schauungen über  die  Perversität  richtig  sei,  bedürfe  es  nicht.  Jeden- 
falls habe  sie  schädliche  Folgen  für  das  Familienleben  und  wider- 
spräche den  sittlichen  Gefühlen  der  überwältigenden  Mehrheit  in  der 
menschlichen  Gesellschaft.  Dieser  Trieb  bedinge  keineswegs  Un- 
zurechnungsfähigkeit und  sei  meist  unterdrückbar. 

Köhler  ist  Anhänger  der  Vergeltungstherien,  er  ver- 
wirft die  Anschauungen  der  neueren  Schule  und  will  als 
Strafzweck  lediglich  die  gerechte  Vergeltung  (S.  7)  an- 
erkennen. 

Bei  diesem  Standpunkt  ist  es  völlig  unbegreiflich,  wie 
Köhler  angesichts  der  wissenschaftlichen  Feststellungen 
betreflfend  das  Wesen  der  Homosexualität  den  Fortbestand 
des  §  175  verlangen  kann  und  es  für  gleichgültig  erklart,, 
welche  Grundanschauung  über  die  Homosexualität  die 
richtige  sei. 

Gerade  derjenige,  welcher  der  Stihnetheorie  huldigt, 
wird  mindestens  dann  die  Aufrechterhaltung  des  §  175 
nicht  befürworten  können,  wenn  die  Homosexualität  kein 
Laster  Normaler,  sondern  einen  angeborenen  Trieb  bildet. 


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—     581     — 

Ein  großer  Teil  der  für  die  Straflosigkeit  des  gleich- 
geschlechtlichen Verkehrs  geltend  gemachten  Grründe,  wie 
z.  B.,  daß  kein  Recht  Dritter  verletzt  werde,  daß  der 
Staat  kein  Recht  habe,  lediglich  unmoralische  Handlangen 
zn  strafen  usw.  treffen  zxx,  einerlei,  wie  man  sich  zu  den 
Grundanschauungen  der  Homosexualität  stellt 

Aber  wenn  man  diese  Gründe  nicht  ftlr  durch- 
schlagend hält,  so  kommt  gerade  für  den  Anhänger  der 
Sühnetheorie  als  entscheidend  in  Betracht,  aus  welcher 
Quelle  regelmäßig  der  gleichgeschlechtliche  Verkehr  fließt. 

Denn  ist  diese  Quelle,  wie  dies  tatsächlich  zutrifft, 
nicht  Laster  Normaler,  sondern  meist  eingewurzelter  Trieb 
einer  anders  gearteten  Menschenklasse,  so  fällt  jede  ge- 
rechte Vergeltung  weg. 

Diese  setzt  mindestens  voraus,  daß  eine  lasterhafte, 
sündhafte  Handlung  vorliegt,  daß  eine  Schuld  gesühnt 
werden  soll 

Die  Bestrafung  von  Handlungen,  die  aus  angeborenem 
Trieb  fließen,  widerspricht  der  Vergeltungs-  und  Sühne- 
theorie. Dabei  ist  es  gleichgültig,  ob  diese  Handlungen 
etwa  Schaden  anstiften  oder  nicht;  denn  die  Vergeltungs- 
theorie rechtfertigt  ja  die  Strafe  nicht  wegen  des  an- 
gerichteten Schadens,  ihr  Zweck  ist  ja  nicht  die  Un- 
schädlichmachung. 

Deshalb  würde  eine  Strafe  auch  unzulässig  sein, 
selbst  wenn  die  Homosexualität  schädliche  Folgen  für 
das  Familienleben  hätte.  Derartige  Folgen  zieht  aber 
nicht  die  Straflosigkeit  der  Homosexualität,  sondern  die 
jStraf  barkeit  nach  sich.  Durch  die  Strafandrohung  werden 
eher  Homosexuelle  zur  Heirat  veranlaßt  Derartige  Hei- 
raten aber  können  schädliche  Folgen  haben,  nicht  der 
gleichgeschlechtliche  Verkehr  zwischen  Erwachsenen.  Die 
Verletzung  des  sittlichen  GeftLhles  der  Mehrheit  des  Volkes 
kann  einie  Bestrafung  nicht  rechtfertigen,  weil  dieses 
Gefühl  auf  unrichtigen  Voraussetzungen,  auf  Unkenntnis 


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—     582     — 

über  das  Wesen  der  Homosexualität  beruht  Tatsächlich 
widerspricht  dem  sittlichen  Gefühl  des  aufgeklärten  Teiles 
des  Volkes  schon  jetzt  die  Bestrafung  der  Homosexuellen. 
Die  Frage,  ob  der  homosexuelle  Trieb  Unzurechnungs- 
fähigkeit bedingt  oder  nicht,  hat  mit  der  Frage  der  Be- 
seitigung des  §  175  nichts  gemein. 

Es  ist  Köhler  zuzugeben ,  daß  die  Homosexualität 
nur  selten  die  Zurechnungsfähigkeit  ausschließt.  Die 
Frage  der  Zurechnungsfähigkeit  hat  Bedeutung  daflir, 
ob  die  jetzt  angedrohte  Strafe  im  Einzelfall  wegzufallen 
hat  oder  nicht,  dagegen  nicht  dafür,  ob  das  Gesetz  in 
Wegfall  zu  kommen  hat. 

Enhlenbeck,  L.,  Bas  StraJFrecht  als  soziales  Organ 
der  natürlichen  Auslese,  in  der  Politisch-Anthropo- 
logischen Bevue,  Januar  1903. 

Die  Grundsätze  der  Selektion,  der  natürlichen  Auslese  auch 
auf  das  Strafrecht  anwendend,  warnt  Ruhlenbeck  vor  dem  heut- 
zutage herrschenden  Humanitarismus  gegenüber  dem  Verbrechet 
und  vor  den  Anschauungen ,  die  auf  Grund  der  Determination 
alles  Geschehens  manches  Verbrechen  als  pathologisch  entschul- 
digten. 

Ein  interessantes  Beispiel  biete  der  gegenwärtige  Ansturm 
unserer  infolge  ungünstiger  Bassenkreuzungen  und  mitwirkender 
sonstiger  Mißverhältnisse  an  Zahl  erschreckend  zunehmenden  De- 
generierten gegen  §  175. 

Mit  keiner  absoluten  Strafrechtstheorie  lasse  sich  diese  Straf- 
androhung rechtfertigen,  nicht  einmal  aus  der  individualistisch- 
geschichtlichen  Ableitung  des  Strafgedankens  aus  der  Rache.  Nur 
der  Selektionsgedanke  halte  Stich.  Diese  Strafuorm,  die  kein 
Recht  eines  Dritten  verletze,  vielmehr  gegen  ein  an  für  sich  die 
Menschenehre  beleidigendes,  unwürdiges  Verhalten  gerichtet  sei, 
sei  diejenige,  bei  der  zuerst  die  bewußte  Selektion  als  Strafprinzip 
zum  historischen  Durchbruch  gelange. 

Auch  die  Selektionstheorie  kann  die  Bestrafung  des 
gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  nicht  rechtfertigen.  Die 
Betätigung  des  homosexuellen  Triebes  hat  mit  einer  Be- 


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—    583     — 

leidigung  der  Menschenehre  nichts  gemein,  noch  viel 
weniger  aber  läßt  sich  die  Bestrafung  eines  der  Menschen- 
ehre unwürdigen  Verhaltens  mit  dem  äelektionsgedanken 
in  Verbindung  bringen. 

Der  Hauptgesichtspunkt  der  Selektionstheorie  ist  die 
Verhütung  einer  ungeeigneten  Portpflanzung.  Die  Natur 
sorgt  nun  gerade  beim  Homosexuellen  dafUr»  daß  er 
dieser  Fortpflanzung  aus  dem  Wege  gehe,  indem  sie 
ihm  den  Trieb  zum  Manne  eingepflanzt  hat 

Einer  Ausscheidung  des  Homosexuellen  aus  der  Ge- 
sellschaft bedarf  es  wahrlich  nicht,  um  seine  Fortpflanzung 
zu  verhüten^  falls  man  ihn  für  einen  Minderwertigen  und 
Degenerierten  hält.  Eine  Heirat  und  Fortpflanzung  der 
Homosexuellen  ist  viel  eher  beim  Bestehen  einer  Be- 
strafung der  homosexuellen  Liebe  zu  befürchten,  als 
ohne  ein  solches  Gesetz,  weil  manche  Homosexuellen 
sich  im  Hinblick  auf  die  Straf  bestimmung  durch  Heirat 
,,heilen^<  oder  den  Ärgwohn  homosexueller  Veranlagung 
beseitigen  wollen.  Übrigens  mag  man  von  der  Selektions- 
theorie aus  bei  Aufhebung  des  §  176  eine  Verheiratung 
Homosexueller  verbieten  und  bestrafen.  Nur  die  wenigsten 
Homosexuellen  werden  sich  über  ein  solches  Gesetz  be- 
schweren! 

Wüst,  Fritz.    In  dem  ,,iristokratlssismu8<S  der  von 

Wüst  herausgegebenen  winzigen  „Zeitschrift  für  Kunst 
und  Leben*',  bringt  er  verschiedene  Aufsätze  über 
Homosexualität : 

1.  Das  dritte  Geschlecht  in  No.  10. 

2.  Die  Hede  (Diskussionsrede.  D.  K)  des  Fritz  Wüst  über 
die  Homosexualität,  gehalten  in  der  11.  Halbjahreskonferenz  des 
wissenschaftlich-humanitären  Komit^s  in  Nr.  l4. 

3.  Die  sexuellen  Perversitäten  in  Deutschland.  1.  Rede  an 
die  deutsche  Nation  in  Nr.  17. 

4.  Herren  und  Ludewigs,  Damen  und  Dirnen.  6.  Bede  an 
die  deutsche  Nation  in  Nr.  28. 


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•^     584     — 

Nr.  1  war  mir  nicht  zagänglich. 

Nr.  2.  Wüst's  Rede  auf  der  Konferenz.  Die  Forderung 
der  Straffreiheit  des  homoBezuellen  Verkehrs  sei  ein  Beweis  für 
das  schnelle  Sinken  der  modernen  Gresellschaft.  Die  Homosexuellen 
seien  Entartete.  Die  Möglichkeit,  daß  ein  Homosexueller  zu  einem 
Individuum  seines  Geschlechts  sich  hingezogen  fühlte,  sei  durchaus 
unsinnig.  Die  Freigabe  des  homosexuellen  Verkehrs  würde  all- 
gemeine Demoralisation  und  Untergang  jeder  Gresellschaft  bedeuten. 
Alle  würden  erbärmliche,  lasterhafte  Schweinehunde  werden. 

Er,  Wüst,  halte  im  Gegensatz  zu  Hirschfeld  alle  Pllderasten 
für  Wüstlinge,  ob  durch  eigene  Schuld  oder  durch  Entartung  dazu 
geworden,  sei  gleichgültig. 

Glaube  so  ein  Mensch  nicht  mehr  gesund  zu  werden,  könne 
er  sich  totschießen. 

Die  Homosexuellen  wollten  sich  nicht  bessern,  weil  sie  zu 
faul  seien,  weil  es  ihnen  zu  unbequem  sei;  sie  zögen  ein  erbärm- 
liches Betragen  und  die  elende  Schweinerei  yor. 

Ein  Zeichen  von  viehischer  Verkommenheit  liege  schon  z.  B. 
darin,  wenn  wie  Dr.  Hirschfeld  erzähle,  ein  Mensch  mit  dem 
größten  Widerwillen  den  Beischlaf  ausführe. 

Wer  habe  denn  den  Dreckjuden,  von  dem  Dr,  Hirschfeld 
erzähle,  er  habe  mit  größter  Überwindung  seine  vier  Kinder  fertig 
gebracht,  dazu  veranlaßt 

Die  ^,geistigen  Führer*^,  zu  denen  Wüst  anscheinend 
in  erster  Linie  sich  selbst  zählt  (denn  er  sagt:  ^,wir,  die 
geistigen  Führer<<)  hätten  unbedingt  die  Pflicht^  diesen 
gemeinen  Unfug  der  homosexuellen  Ausschweifung  als 
solchen  anzuerkennen.  Man  beachte  diesen  für  die  kon- 
fuse Geistesverfassung  des  Mannes  charakteristische  Bildung 
des  Schlußsatzes,  in  dem  er  gerade  das  Gegenteil  aus- 
drückt von  dem,  was  er  sagen  will. 

3.  Die  sexuellen  Perversitäten  in  Deutschland. 
Deutschland  beginne  in  das  Stadium  des  Abwärtsganges  einzu- 
treten; das  zeige  die  sich  allmählig  immer  mehr  einbürgernde  An- 
erkennung der  sexuellen  Perversitäten.  Zwar  so  weit  wie  z.  B.  in 
Frankreich  sei  es  noch  nicht  gekommen.  Dort  seien  die  ge- 
meinsten Exzesse  an  der  Tagesordnung,  die  bei  den  meisten  Leuten 
dieser  sinkenden  Gesellschaft  nicht  nur  nicht  als  Beleidigung, 
sondern   als   vornehme  Passion   gelten  würden.    Dort   lache  man 


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—     585    — 

die  jangen  Leute  auB,  die  noch  so  naiv  seien,  auf  natürliche  Art 
ihre  Sinne  zu  befriedigen. 

Noch  sei  die  deutsche  Kultur  die  erste  der  Welt,  die  deutsche 
Intelligenz  die  höchste;  wer  wolle  bestreiten,  daB  das  deutsche 
Militär  an  jeder  militärischen  Tugend  jedes  andere  der  Welt  weit 
hinter  sich  lasse.  Es  sei  kein  Zweifel:  Der  Deutsche  sei  der  erste, 
beste,  stärkste  Mensch  der  Welt  und  er  wolle  der  erste,  beste  und 
stärkste  Mensch  der  Welt  bleiben. 

Würde  die  perverse  Belästigung  erlaubt,  d.  h.  stillschweigend 
gestattet,  so  sei  die  Demoralisation  des  Staates  notwendig;  er 
würde  immer  tiefer  sinken,  bis  seine  Nachbarn  über  ihn  herfielen 
und  ihn  knechteten. 

4.  Herren  und  Ludewigs,  Damen  und  Dirnen.  Die 
Wahrheit  über  die  Homosexuellen  sei:  Die  meisten  unterließen  den 
Verkehr  mit  Weibern  nicht  deshalb,  weil  sie  keine  liebten  und 
sich  erst  zum  Verkehr  mit  ihnen  zwingen  müßten,  sondern  weil 
sie  keine  hätten,  keine  für  sie  passenden  erreichen  könnten.  Es 
gäbe  auch  für  die  Homosexuellen  Weiber,  zu  denen  sie  sich  nicht 
zwingen  müßten,  nämlich  die  männlichen  Weiber,  die  die  Normal- 
männer wenig  reizten. 

Diese  würden  die  Homosexuellen  allerdings  nicht  so  leicht 
finden  oder  erreichen,  deshalb  dürften  sie  sich  aber  nicht  den 
ersten  besten  Individuen  in  die  Arme  werfen.  Das  Heilmittel  für 
alle  Homosexuellen  und  Heterosexuellen  sei,  anständig  zu  bleiben. 
Anständig  sein,  heiße,  sich  vor  sich  selbst  rechtfertigen  zu  können. 
Jeder  Mensch  sei  um  so  anständiger,  je  bessere  Weiber  er  ge- 
brauche oder  zu  erreichen  strebe. 

Die  Homosexuellen  behaupteten,  um  anständig  zu  sein,  bliebe 
ihnen  nur  Onanie  oder  Selbstmord.  Gesetzt,  sie  hätten  Hecht,  sei 
nicht  die  Päderastie  gefahrlicher  als  Onanie?  Er,  Wüst,  wisse  auch, 
daß  jeder  Selbstmord  durchaus  anständig  sei. 

Die  Herren  Homosexuellen  sollten  sich  nicht  zum  weiblichen 
Verkehr  zwingen,  am  wenigsten  zum  Dirnen  verkehr  —  und  dies 
gelte  auch  für  die  Normalen  —  sondern  sich  zwingen,  sich  zum 
weiblichen  Verkehr  nicht  zwingen  zu  müssen, 

Aus  dem  wüsten  Wust  des  Herrn  Wüst  (man  ver- 
leihe das  billige,  aber  verlockende  Wortspiel)^  habe  ich 
die  Hauptgedanken  im  Gewände  ihrer  stilistischen  Schön- 
heit angeführt,  um  die  Bibliographie  auch  mit  etwas 
Komik  zu  erheitern.    Vielleicht  ist  aber  gar  nicht  das 


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—     586    — 

Lachen  am  Platz,  wenn  man  die  eigentlichen  Ursachen 
des  Verhaltens  des  Herrn  Wüst  ergründet.  Den  Schlüssel 
hierzu  und  damit  den  Maßstab  für  die  richtige  Beurteilung 
der  konfusen,  teilweise  gemeinen  Schimpfereien  des  an 
patriotischem  Dünkel^  an  unheilbarer  chauvinistischer 
Verblendung  und  an  verderblichem  Sittlichkeitsfanatismus 
kranken^  an  unverdautem  Nietzscheismus  leidenden  Über- 
menschleins Wüst  gibt  dieser  selbst  an  die  Hand.  Denn 
in  einer  Anmerkung  (in  Nr.  23)  wehrt  er  sich  ausdrücklich 
gegen  den  Vorwurf  der  Unzurechnungsfähigkeit  und  be- 
hauptet, von  einem  Kollegium  hervorragender  Ärzte  auf 
Geistesstörung  untersucht  und  für  gesund  befunden  worden 
zu  sein. 

Wenn  irgendwo,  so  scheint  hier  das  Sprichwort  sich 
zu  bewahrheiten: 

Qui  s'excuse  s'accuse. 


Anhang  zu  Kapitel  IV. 

Oesetzesauslegiing. 

Brunner,  Dr.  Aug.,  Oberlandesgerlehtsrat,  Ab*- 
grenzung  der  Übertretung  gegen  die  Öffentliche 
Sicherheit  von  dem  Verbrechen  der  Unzucht 
wider  die  Natur  zwischen  Personen  des  gleichen 
Geschlechts.  BechtsprechuDg  des  Kassationshofes 
in  Wien,  Entscheidung  vom  11.  Juli  1902,  mitgeteilt 
im  „Gerichtssaal",  Band  LXIII. 

A.  wurde  vom  Landgericht  wegen  „Unzucht  wider  die 
Natur^*  auf  Grund  §  129  I  6  österreichisches  St-G.  zu  6  Monaten 
schweren  Kerkers  verurteilt,  weil  er  zwei  ELnaben  an  ihren  Ge- 
schlechtsteilen betastet,  gegen  ihren  After  gegrififen  und  ihr  Glied 
berührt  habe. 

Der  Kassationshof  hob  auf  Nichtigkeitsbeschwerde  des  A.  hin 
das  Urteil  des  Landgerichts  auf,  nahm  lediglich  den  Tatbestand 


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—     587     — 

einer  Übertretung  des  §  516  Sf.-G.  an  (gröbliche  Verletzung  der 
Sittlichkeit  und  Schamhaftigkeit  auf  eine  öffentlich  Ärgernis  er- 
regende Weise)  und  erkannte  nur  auf  4  Wochen  strengen  Arrestes. 

Das  Urteil  des  Kassation shof es  geht  davon  aus,  daß  der 
Begriff  „Unzucht  wider  die  Natur"  des  §  129  St.-G.B.  nur  im 
Wege  der  historischen  Interpretation  erläutert  werden  könne  und 
gibt  einen  geschichtlichen  Überblick  über  die  Bestrafung  der  w.  U. 
(Kanonisches  Becht:  Carolina,  Theresiana,  Josephinisches  Gesetz 
von  1787.) 

Aus  dieser  Entstehungsgeschichte  ergäbe  sich,  dass  §  129 
mindestens  einen  onanieartigen  Akt  zwischen  Personen  des  gleichen 
Geschlechts  voraussetze.  In  keinem  Stadium  der  Gesetzgebung 
im  Laufe  der  Zeit  seien  Akte,  wie  die  des  A.,  zur  widernatürlichen 
Unzucht  gerechnet  worden. 

Das  Österreichische  Becht  erfordere  nicht  wie  das  deutsche 
,,beischlafähnliche  Handlungen*^,  andererseits  seien  nicht  alle  un- 
züchtigen Handlungen  zwischen  Personen  des  gleichen  Geschlechts 
strafbar,  wie  z.  B.  das  Ergreifen  der  Geschlechtsteile. 

Die  Handlung  des  Täters  müsse  mindestens  so  weit  gegangen 
sein,  daß  sie  als  Selbstbefleckung  mit  Benutzung  des  Körpers 
einer  anderen  Person  des  gleichen  Geschlechts  sich  darstelle. 
Die  Handlung  des  A.  könne  aber  nicht  als  solch  ein  onanieartiger 
Akt  aufgefaßt  werden. 

Es  folgen  noch  Bemerkungen  über  das  germanische  und 
römische  Becht 

Im  alten  germanischen  Becht  seien  zu  den  unsittlichen 
Angriffen  auch  bloße  Berührungen  gezählt  worden.  Sie  seien 
als  Injurien  mit  Buße  belegt  worden.  Wahrscheinlich  seien  straf- 
bar gewesen  nicht  nur  Angriffe  auf  Frauen,  sondern  auch  auf  Un- 
mündige beiderlei  Geschlechts. 

Bezüglich  des  römischen  Bechts  wird  behauptet,  in  alt- 
romischer  Zeit  sei  der  Mißbrauch  einer  Person  mannlichen  Ge- 
schlechts strafbar  gewesen,  und  später  habe  auch  die  lex  scantinia 
die  Päderastie  bestraft.  Augustus  habe  für  stuprum,  adulterium 
und  Päderastie  Kriminalstrafe  angesetzt  Insofern  unzüchtige 
Handlungen  nicht  zu  den  Kriminaldelikten  gehörten,  seien  sie  mit 
der  Injurienklage  verfolgt  worden,  diese  habe  daher  z.  B.  Platz 
gegriffen,  wenn  es  sich  bloß  um  den  Versuch  der  Verführung 
eines  freien  Knaben  gehandelt,  da  Augustus  nur  die  Vollendung 
mit  krimineller  Strafe  belegt  habe. 


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—     588     — 

Wie  aas  der  ausführlichen  Begründung  des  Kassations- 
hofurteils  hervorgeht,  ist  der  Begriff  der  Unzucht  wider 
Natur  nach  §  129  des  österreichischen  Gesetzes  ein 
weiterer,  als  der  Begriff  der  w.  U.  des  §  175.  Denn  in 
Österreich  wird  auch  gegenseitige  Manustupration,  in 
Deutschland  nur  die  beischlaf  ähnliche  Handlung  bestraft. 

Demnach  ist  die  Angabe  Wachenfelds  in  seinem 
Buch  ^^Homosexualität  und  Strafgesetz'^  unrichtig,  wo- 
nach der  Tatbestand  des  §  129  Ost  StG.  ganz  derselbe 
sei  wie  derjenige  des  §  175  R.St.G.B. 

Auf  diesen  Irrtum  Wachenfelds^  der  mir  vor  ^wei 
Jahren  entgangen  war,  hat  mich  auch  ein  anonymer 
homosexueller  Herr  brieflich  aufmerksam  gemacht,  indem 
er  sehr  richtig  hinzufügte: 

,,Ixi  einem  wUsenschaftlichen  Bache  eines  ordentlichen  Pro- 
fessors der  Bechte  sollte  man  eigentlich  derartige  Irrtümer  auf 
rein  jaristiachem  Qebiet  nicht  erwarten." 

Übrigens  hat  Wachenfeld  auch  versäumt,  zu  er- 
wähnen, daß  schon  der  Versuch  nach  österreichischem 
Recht  strafbar  ist  Die  Handlungen  des  A.  wären  nach 
deutschem  Recht  niemals  unter  den  Begriff  der  „w.  U." 
zu  subsumieren  gewesen,  da  sie  noch  weniger  f&r  bei- 
schlafähnliche, als  für  onanieäbnliche  gehalten  werden 
können. 

Die  historische  Entwickelung  des  vom  §  175  auf- 
genommenen Begriffes  der  w.  ü.  ist  nicht  die  gleiche 
wie  diejenige  des  österreichischen  Gesetzes.  Sie  fährt 
dahin,  wie  ich  an  anderen  Stellen  des  näheren  ausgeführt 
habe  (vgl  Jahrbuch  IV,  S.  692  ff.),  daß  man  unter  dem 
Begriff  der  „w.  U.''  nur  eigentliche  Päderastie  (immissio 
penis  in  anum),  nicht  aber  sonstige  Handlungen,  auch 
nicht  beischlaf  ähnliche,  wie  das  Reichsgericht  annimmt, 
zu  verstehen  ist. 

Die  Ausführungen  des  Urteils  über  das  römische 
Recht   sind  meiner  Ansicht  nach   nicht  zutreffend.     Es 


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—    589    — 

ist  kein  Beweis  Yorhanden,  daß  die  lex  scantinia  die 
Päderastie  an  und  für  sich  —  auch  beim  Fehlen  yod 
qualifizierenden  Momenten  —  bestraft  habe,  ebenso  fehlt 
es  an  Anhaltspunkten  daf)ir,  daß  unter  Augustus  die 
Päderastie  mit  Eriminalstrafen  belegt  worden  sei^ 
Wegen  der  näheren  Gründe  meiner  Ansicht  verweise  ich 
auf  meine  Widerlegung  des  Wachenfeldschen  Buches, 
Jahrbuch  IV,  S.  680,  wo  ich  mich  ausfuhrlich  über  die 
Frage  verbreitet  habe. 

Was  Ist  unter  beischlafShnllehem  Akte  zu  rer- 
stehen?  Reichsgerichtsentscheidung  Bd.  36,  Nr.  13^ 
S.  32;  Urteil  des  IV.  Strafsenats  vom  19.  Dezember 
1902. 

Der  erste  Richter  habe  den  Tatbestand  des  §  175  teils  darin 
gefunden,  daß  die  beiden  Angeklagten  nebeneinander  sitzend  „ihre 
Hosenschlitze  aufgemacht  und  gegenseitig  in  die  Schlitze  hinein- 
gegrififen  und  sich  umarmt  haben^%  teils  darin,  daß  die  Ange- 
klagten —  soviel  ersichtlich  ohne  jede  Entblößung  —  sich  auf- 
einander gelegt  und  beide  in  dieser  Lage  mit  ihren  Unterleibern 
beischlaffthnliche  stoßende  Bewegungen  gegeneinander  gemacht 
haben/' 

Anlangend  den  ersten  Punkt  fehle  jeder  Ausspruch,  daß  und 
inwiefern  hier  ein  beischlafähnlicher  Akt  angenommen  sei.  Bei 
dem  zweiten  Punkt  sei  unklar,  wie  die  Strafkammer«  die  Beischlaf- 
ähnlichkeit aufgefaßt  habe.  Eine  solche  könne  nur  da  ange- 
nommen werden,  wo  die  eine  Mannsperson  bei  beischlafähnlichem 
Gebrauch  des  Gliedes  den  Körper  der  anderen  mit  dem  Glied  be- 
rührt habe.  Habe  eine  Entblößung  des  Gliedes  auf  Seiten  des 
aktiven  Teiles  nicht  stattgefunden,  wie  dies  anscheinend  hier  der 
Fall  gewesen,  so  sei  in  Ermangelung  einer  unmittelbaren  Be- 
rührung des  gemißbrauchten  Körpers  mit  dem  Glied  des  andern. 
—  abgesehen  von  besonderen,  hier  in  keiner  Weise  angezeigten 
Ausnahmefällen  —  ein  beischlafähnlicher  Akt  nicht  anzunehmen 
und  deshalb  der  Tatbestand  des  §  175  zu  verneinen. 

Der  Fall  zeigt  deutlich  die  Neigung  gewisser  ünter- 
gericbte,  den  §  175  wenn  nur  irgendwie  möglich  —  und 
selbst  wenn  unmöglich  —  anzuwenden  und  den  Begriff 


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—     590    — 

^, beischlafsähnlich''  ins  Unbegrenzte  auszudehneD.  Er 
beweist  weiter  die  Unrichtigkeit  der  reichsgerichtlichen 
Rechtsprechung,  welche  nicht  nur  immissio  penis  in 
anum,  sondern  sogenannte  beischlafsähnliche  Handlungen 
bestraft,  d^  unter  den  Begriff  ,,beischlafsähnlich'<  schließe 
lieh  mit  etwas  gutem  Willen  auch  solche  Handlungen, 
die  dem  Beischlaf  ganz  unähnlich  sind,  untergebracht 
werden  können. 


Kapitel  V. 

Der  Geschlechtstrieb  an  und  für  sich  (ohne 
Berücksichtigung  der  Homosexualität).^) 

Elbcsklrehen,  Johanna,  Die  Sexualempfindung  bei 
Weib  und  Mann.    Leipzig,  1903,  Magazin- Verlag. 

Verfasserin  bekämpft  die  Anschanung,  als  sei  der  Geschlechts- 
trieb bei  Mann  und  Frau  qualitativ  verschieden.  Die  Qualität  des 
Triebes  sei  bei  beiden  die  gleiche. 

Nicht  die  Sehnsucht  nach  der  Mutterschaft  treibe  das  Weib 
in  die  Arme  des  Mannes,  sondern  das  elementare  sexuelle  Ver- 
langen nach  einem  bestimmten  Manne. 

Der  angebliche  Unterschied  in  der  Qualität  des  Sexualtriebes 
zwischen  Mann  und  Weib  sei  das  Produkt  der  doppelten  Sexual- 
moral und  -praxis  und  letztere  die  Folge  der  bei  der  Frau  not- 
wendigen Brutpflege,  der  sog.  Mutterschaft. 

Schwangerschaft  und  Brutpflege  seien  die  Ursachen  der  ge- 
schlechtlichen Sklaverei  der  Frau,  der  doppelten  Sexualmoral. 

Die  Liebe  der  Frau  sei  aber  durch  Erziehung,  Leid  und 
Sorge  für  das  Kind  tiefer  als  die  des  Mannes  geworden,  als  Mensch 
stehe  das  Weib  höher  als  der  Mann. 

^)  Die  Bibliographie  für  dieses  Kapitel  macht  auf  Vollständig- 
keit keinen  Änspntchy  da  es  sich  nicht  um  Homosexualität  handelt. 
Wegen  der  Wichtigkeit  der  allgemeinen  Fragen  über  den  Geschlechts- 
trieb für  die  Homosexualität  war  jedoch  die  Aufnahme  der  folgen- 
den Schriften  in  die  Bibliographie  angezeigt. 


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—     591     — 

Der  Mann  von  der  Sorge  am  das  Kind  frei,  habe  sich  im 
Obermaß  und  unbeschränkt  seinem  Geschlechtstrieb  hingegeben. 

Aus  der  doppelten  Sexualpraxis  seien  entstanden  einerseits 
die  Prostitution,  da  ein  Teil  der  Frauen  den  geschlechtlichen 
Ausschweifungen  der  Männer  dienen  müßten,  andererseits  die  per- 
verse Unterdrückung  des  Geschlechtstriebes  der  Frau  und  seiner 
physiologischen  Befriedigung. 

Efie  physiologische  G^schlechtsbefriedigung  des  Mannes 
hätte  nie  der  Prostitntion  bedurft. 

Die  Geschlechtsempfindung  des  Mannes  habe  infolge  großer 
Willensschwäche  und  Überreizung  der  Phantasie  auf  sexuellem 
Gebiet  einen  pathologischen  Zustand  erreicht. 

Eine  normale  physiologische  Gleichung  zwischen  Mann  und 
Frau  sei  nur  möglich,  wenn  das  pathologische  Plus  des  männ- 
lichen Geschlechtstriebes  und  seine  Befriedigung  auf  das  physio- 
logische Maß  sich  vermindereund  das  pathologische  Minus  der 
weiblichen  Geschlechtsbefriedigung  auf  das  physiologische  Maß 
sich  erhöbe. 

Auch  ich  glaube,  daß  die  Geschlechtsempfindung  bei 
Mann  und  Frau  qualitativ  die  gleiche  ist;  dagegen  bin 
ich  der  Meinung,  welche  Autoritäten  wie  Krafft-Ebing 
und  Löwenfeld  verfechten,  daß  der  Trieb  beim  Manne 
durchschnittlich  starker  ist  als  beim  Weibe,  daß  also  ein 
quantitativer  Unterschied  besteht,  und  daß  dieses  größere 
Plus  auf  Seiten  des  Mannes  nicht,  wie  Verfasserin  glaubt, 
einen  pathologischen  Zustand,  sondern  einen  in  der 
Natur  des  Mannes  physiologisch  begründeten  bedeutet. 

ElUs,  Hareloek,  Das  OeschlcchtsgefilhL  Eine  bio- 
logische Studie  (übersetzt  von  Eurella).  Würzburg, 
1903,  Sttibers  Verlag. 

Teil  I  enthält  eine  Analyse  des  Geschlechtstriebes.  Nach 
Erörterung  der  verschiedenen  Theorien  über  den  Geschlechtstrieb, 
wobei  er  die  Untersuchungen  Molls  als  die  vielleicht  tiefgehendsten 
aller  bisherigen  Versuche  einer  Erforschung  der  fundamentalen 
Probleme  des  Geschlechtsinstinkts  bezeichnet,  gibt  er  eine  neue 
Erklärung  des  Geschlechtstriebes.  Die  Unterscheidung  Molls  von 
KontrektationS'  und  Detumeszenztriebe  befriedigt  EUis  insofern  nicht, 
als  Moll  keine  intimen  Beziehungen  zwischen  beiden  Trieben  finde. 


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—     592     — 

Ellis  sucht  diese  Beziehungen  herzostellem  Dem  Detnmes- 
zenztrieb  gebe  die  Tumescenz  vorans,  d.  h.  ein  Stadiam,  in  dem 
unter  dem  parallelen  Einfluß  innerer  und  äußerer  Reize  Vor- 
stellungen, Wünsche  und  Ideale  in  dem  Bewußtsein  sich  bildeten, 
wobei  zugleich  der  ganze  Organismus  eine  Energieladung  erhalte 
und  der  Sammelapparat  kongestiv  an  Blutgehalt  zunehme. 

Durch  diesen  ersten  Prozeß  werde  die  Spannung  herbei- 
geführt, welche  der  zweite  Prozeß,  die  Detumeszenz,  löse.  Nor- 
maliter  verlange  der  Detumeszenztrieb  nicht  immer  Befriedigung 
und  es  sei  ein  Irrtum  zu  glauben,  daß  es  nur  eines  äußeren  Reizes  be- 
dürfe, um  ihn  sofort  auszulösen,  vielmehr  seien  bei  beiden  Geschlech- 
tem sehr  mannigfaltige  und  lange  fortgesetzte  Einwirkungen  er- 
forderlich, um  die  Turgeszenz  hervorzurufen,  die  dann  durch  die 
Detumeszenz  ausgeglichen  werde. 

Durch  zahlreiche,  sehr  interessante  Beispiele  aus 
der  Natur  und  Völkerkunde  sucht  Ellis  den  dem  De- 
tumeszenztrieb vorangehenden  Zustand  der  Tumeszenz 
und  seine  allmähliche  Entstehung  nachzuweisen.  Be- 
sonders der  Tanz  sei  ein  besonders  günstiges  Mittel  zur 
Hervorbringung  der  Tumeszenz. 

Als  Verbindungsglied  zwischen  Kontrektations-  und 
Detumeszenztrieb  scheint  mir  allerdings  die  Annahme 
des  sogenannten  Zustandes  der  Tumeszenz  sehr  richtig. 
Ellis  dagegen  läßt  den  Zustand  der  Kontrektation  in 
denjenigen  der  Tumeszenz  aufgehen.  Ich  halte  dafür, 
daß  der  Kontrektationstrieb  von  der  Tumeszenz  zu  trennen 
ist  und  daß  man  den  Geschlechtstrieb  in  die  drei  Kom- 
ponenten zerlege.  Kontrektation^  d.  h.  das  psychische 
Begehren  nach  einem  bestimmten,  sexuell  passenden 
Individuum  kann  vorhanden  sein  und  ist  vorhanden  vor 
dem  eine  direktere  organische  Wirkung  hervorbringenden 
Zustand  der  Tumeszenz.  Kontrektation,  d.  h.  das  Sehnen 
nach  dem  adäquaten  Objekt  ist  ein  von  dem  schon  durch 
das  Objekt  in  Wallung  gebrachten,  die  Detumeszenz  vor- 
bereitenden Zustand  der  Tumeszenz  verschieden. 

Nach  Erörterung  der  Beziehungen  zwischen  Erotik  und 
Schmerz   im    zweiten   Teil   behandelt   Ellis   im   dritten   den   Qe- 


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—     593    — 

Bchlechtstrieb  beim  Weib.  Er  kommt  dabei  zu  dem  Ergebnis, 
daß  die  Verteilung  des  Geschlechtstriebes  auf  beide  Geschlechter 
eine  ziemlich  gleichmäßige  sei,  jedoch  unterscheide  sich  der  Ge- 
schlechtstrieb des  Weibes  von  dem  des  Mannes  durch  gewisse, 
Wohlabgegrenzte  Merkmale.  So  z.  B.  zeige  er  größere  äußerliche 
Passivität,  er  sei  komplizierter,  weniger  geeignet,  spontan  in  die 
Erscheinung  zu  treten  und  häufiger  der  äußeren  Anregung  be- 
dürftig, während  sich  der  Orgasmus  langsamer  einfände,  als  beim 
Manne. 

Er  entwickele  sich  erst  nach  dem  Beginn  des  regelmäßigen 
Geschlechtsgenusses  in  seiner  vollen  Stärke. 

Die  Geschlechtssphäre  habe  eine  größere  Ausdehnung  und 
sei  difiuser  verteilt  als  beim  Manne. 

Ein  Appendix  enthält:  eine  Abhandlung  über  den  Geschlechts- 
trieb bei  Naturvölkern  und  zwölf  Autobiographien,  die  einen  Ein- 
blick in  die  Entwicklung  des  normalen  Geschlechtstriebes  ge- 
währen sollen. 

Im  Fall  11  und  12  kommen  auch  gleichgeschlechtliche  Hand- 
lungen und  Gefühle  vor.  Der  Autobiograph  von  Fall  11  scheint 
ein  psychischer  Hermaphrodit  zu  sein,  denn  nach  dem  Tode  seiner 
Frau  lebt  er  mit  einem  alten  Schulfreund,  mit  dem  er  früher 
manustupriert  hatte,  in  eheähnlichem  Verhältnis  zusammen. 

Alle  12  Fälle  lehren,  daß  ein  Punkt,  den  man  bis- 
her als  charakteristisch  für  die  sexuellen  Anomalien,  ins- 
besondere für  Homosexualität,  angesehen  hatte,  nämlich 
die  frühen  Regungen  des  Triebes,  auch  bei  der  Hetero- 
sexualität  vorzukommen  scheinen.  Denn  in  allen  Bio- 
graphien wird  von  —  mehr  oder  weniger  bestimmten, 
mehr  oder  weniger  unbewußten  —  geschlechtlichen 
Regungen  und  Empfindungen  im  frühen  Eindesalter  ge- 
sprochen.! 

Jastrowltz,  Dr.  M«,  Einiges  Aber  das  Physiologische 
und  über  die  außergewöhnlichen  Handlungen  Im 
Liebesleben  der  Mensehen.  Vortrag,  gehalten  am 
22.  Juni  1903  im  Verein  für  innere  Medizin  zu  Berlin. 
Leipzig,  1904,  Verlag  von  Thieme. 

Jahrbuch  VI.  38 


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—     594     — 

Die  Homosexualität  oder  überhaupt  die  eigentlichen  Ano- 
malien werden  nicht  behandelt,  sondern  nur  gewisse  außergewöhn- 
liche Verhältnisse  innerhalb  der  heterosexu^len  liebe. 

Eine  Hauptrolle  für  die  Äußerung  des  Geschlechtstriebes 
schreibt  Jastrowitz  einem  Sekret  zu,  das  dem  Hauptteile  nach  als 
Sauerstoff  der  Fortpflanzung  diene,  zum  Teil  aber  auch  —  und  zwar 
seien  dies  wahrscheinlich  Begleitsubstanzen  —  in  die  Körpersäfte 
der  Individuen  aufgenommen  werde  und  erogen  wirke. 

Je  stärker  beanlagt  und  je  enthaltsamer  ein  Individuum  sei, 
um  so  mehr  trete  eragoger  Stoff  ins  Blut,  um  so  mehr  werde  es 
dadurch  gepeinigt  und  zur  Liebe  angetrieben.  Bei  der  geschlecht- 
lichen Anziehung  walte  das  Prinzip  der  Ergänzung.  Im  allge- 
meinen wirke  auf  das  eine  Geschlecht  die  typischsten  charakte- 
ristischsten Eigenschaften  des  andern  am  stärksten. 


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Teil  II. 
Belletristik. 

Der  Eigene.  Ein  Blatt  für  männliche  Eultor,  Kunst 
und  Literatur.  Herausgeber  Adolf  Brand.  Nummern 
Januar  bis  Juli  1903.  Januar  bis  April  Verlag  von 
Spohr,  Leipzig;  Mai  bis  Juli  Verlag  Charlottenburg, 
Buch-  und  Kunsthandlung  „Der  Eigene",  Adolf 
Brand  &  Co. 

Im  Jahrbuch  IE,  S.  393  habe  ich  über  die  früheren 
Versuche  Brands^  eine  homosexuelle  Zeitschrift  heraus- 
zugeben, berichtet  Seit  der  5.  Nummer  des  „Eigenen" 
aus  dem  Jahre  1899  war  das  Blatt  infolge  der  ver- 
schiedensten Umstände  wieder  eingegangen.  Im  Jahre  1903 
ist  der  „Eigene"  abermals,  in  neuem  Gewand,  in  einer 
noch  geschmackvolleren  Ausstattung  als  sein  Vorgänger 
aus  dem  Jahre  1899,  erschienen. 

Das  Äußere  des  „Eigenen"  verdient  das  höchste  Lob. 
Zahlreiche  Vignetten  und  Kunstblätter  verleihen  ihm  den 
Charakter  einer  echten  Kunstzeitschrift.  Sehr  schöne 
Photographien  italienischer  Jünglinge  in  ausgesuchtester 
Komposition ,  vorzügliche  Eeproduktionen  berühmter, 
plastischer  Werke,  Zeichnungen  von  Fidus  usw.  zeigen 
die  Schönheit  des  männlichen  Geschlechts  auf  den  ver- 
schiedenen Altersstufen  und  in  den  mannigfachsten 
Formen:  Die  Zartheit  des  zum  Jüngling  heranreifenden 
Knaben,    die  Anmut  und  Liebenswürdigkeit   des  Jung- 

38* 


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—     596     — 

lings,  die  Stärke  und  Bjraft  des  Mannes,  die  Würde  und 
Erhabenheit  des  Greises. 

Der  literarische  Inhalt  steht  bei  weitem  nicht  auf 
gleicher  Höhe.  Manches  Gute  findet  sich  vor,  aber  auch 
viel  Mittelmäßiges  und  Diiettantenhaftes  im  weniger 
guten  Sinne. 

I.  Die  Lyrik  (Januamummer). 

Clitus,  Zur  Wanderfahrt. 

Schwerdtfeger,  Wulf,  Was  tust  du  für  mich? 

Helling,  Viktor,  Der  Offiziersposten. 

Brand,  Adolf,  Der  Abend. 

Geiß  1er,  Karl  Wilhelm',  Der  Stellvertreter. 

Rößner,  A.  von,  Bußtag. 

Katte,  Max,  Wenn  Du  .  .  . 

Hadrian,  Der  Schopf. 

•Hamecher,  Peter,  Im  Garten. 

Lehnhard,  Paul  K,,  Entgegnung. 

Caesareon,  An  Narkissos. 

Februamummer. 

Brand,  Adolf,  Raphael. 
Brand,  Adolf,  Im  Kerker. 
Brand,  Adolf,  Neue  Liebe. 
Lenau,  Nikolaus,  Am  Rhein. 
Hadrian,  Dolabella. 

Märznummer. 

Burchard,  Ernst,  Glückliche  Fahrt. 
Burchard,  Ernst,  Beichte. 

Nicholson,  John  Gambril,  Mein  Traumengel.  Übersetzt 
von  B.  Esmarch. 

Kupffer,  Elisar,  Chanson  de  Ciarens. 
Brand,  Adolf,  Meine  Seele. 
Brand,  Adolf,  Wiegenlied. 
Brand,  Adolf,  Sehnsucht 

Aprilnummer. 

Nicholson,  John  Gambril,  Mein  Garten  der  Sehnsucht 
Übersetzt  von  B.  Esmarch. 

Brand,  Adolf,  Das  Fischerhaus. 


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—     597     — 

Brand,  Adolf,  Minnelied. 

Brand,  Adolf,  Bahnhof  Friedrichstraße. 

Swinburne,  Charles  Algernon,  Hermaphroditas. 

Katte,  Max,  Zeus  and  Ganymed. 

Hadrian,  Ganymed. 

Image,  Kennst  Du  das  Weh? 

Mainammer. 

Brand,  Adolf,  Waldfrei. 

Brand,  Adolf,  Kahnfahrt 

Schiller,  Freundschaft. 

Ehren  fr  ied,  Walter,  Liebeslied. 

E.  V.,  Verlorenes  Glück. 

Evers,  Franz,  An  einen  Jüngling. 

Juninummer. 

Lindemann,  Frido,  Antinous. 

Schwerdtfeger,  Wulf,  Unterwegs. 

Ernest,  Amand,  Im  Strudel  der  Hauptstadt  verloren. 

Orestes,  In  Sanssouci. 

Brand,  Adolf,  Bergnacht. 

Julinummer. 
Faustino,  Ganymed. 
Lysis,  Der  junge  Pan. 
Meyer,  Hugo  Christoph  Heinrich,  Hylas. 

Alle  diese  Gedichte  haben  direkt  homosexuellen  In- 
halt oder  Beziehung  zur  Homosexualität. 

Die  Gedichte  weisen  im  allgemeinen  keine  besondere 
künstlerische  und  psychologische  Eigenart  auf.  Man  kann 
nicht  sagen,  daß  charakteristische  Merkmale  der  homo- 
sexuellen Liebe  hervorträten. 

Das  gleichgeschlechtliche  Empfinden  ist  im  Durch- 
schnitt weder  in  das  seelische  und  soziale  Leid  des 
Liebesparia  getaucht,  noch  mit  seelischen  Sonderheiten 
eines  „dritten  Geschlechts"  gefärbt.  Mit  den  gleichen 
Tönen,  in  denen  der  Mann  das  Weib  zu  preisen  pflegt, 
besingen  die  Liebhaber  ihres  eigenen  Geschlechts  ihr 
Gefühl,  jenseits  von  Krankheit  und  Ächtung,  mit  Natür- 
lichkeit und  Selbstverständlichkeit 


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—     598     — 

Unter  den  verschiedenen  Dichtem  des  „Eigenen" 
verdient  Brand  hervorgehohen  zu  werden.  Er  hat  Farbe, 
Rhythmus,  Sinn  für  Wortschönheit  und  musikalischen 
Klang,  dabei  Feuer  und  Temperament,  das  allerdings 
manchmal  etwas  ausgelassen  und  zügellos  sich  äußert 
Manches  erscheint  zwar  in  frischer  Ursprünglichkeit  hin- 
geworfen, aber  die  Leichtigkeit  seines  Schaffens  verführt 
ihn  oft  dazu,  die  künstlerische  Ausführung  zu  vernach- 
lässigen. 

Von  den  übrigen  Dichtem  möchte  ich  Schwerdtfeger 
nennen,  der  in  seinen  zwei  Gedichten  seelische  Züge 
psychologisch  und  tief  in  wenig  Worten  auszudrücken 
vermochte,  ferner  Ehrenfried,  dessen  kraftvolles,  empfin- 
dungsreiches Liebeslied  den  echten  Dichter  verrät. 

Hadrians  Gedichte  gefallen  durch  sinnliche  Frische 
und  schalkhaften  Ton,  die  Verse  von  Nicholson  durch 
innige  Schlichtheit 

Zur  Lyrik  kann  man  außer  den  obigen  Gedichten 
noch  zählen  einige  poetische  oder  wenigstens  in  ge- 
hobenem oder  rhythmischen  Stil  geschriebene  Prosa- 
stücke,   nämlich: 

Januarnummer. 

Caesareon,  Ein  Wort  voraus  an  die  Besseren.  (Die  Hoff- 
nung auf  das  Herannahen  einer  besseren  Zeit,  wo  die  Schönheit 
siegt  and  die  besseren  Gresetze  gibt.) 

Februamammer. 
Andrä,  Dalio,  Vier  Poesieen. 

Mainammer. 

Brand,  Adolf,  Inseln  des  Eros  (das  gleiche  Poem,  welches 
die  eine  der  beiden  Nummern  des  „Eigenen"  1898  eröffnete,  das 
ich  schon  im  Jahrbuch  II  warm  lobte). 

Juninammer. 

Hille,  Peter,  Antinoas,  Sophokles,  Michelangelo,  Shake- 
speare. 


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—     599     — 

Julinnmmer. 

Ein  EroBJünger,  Wenn  der  Ginster  blüht.  (Erinnerang 
an  erste  Jugendliebe.) 

IL  Novellistik. 

An  erster  Stelle  ist  zu  nennen: 

Hanns  Fuchs,  der  drei  Novellen  veröffentlicht: 

Gewittemacht  (Februamummer).  Das  Abenteuer  zwischen 
einem  zur  Manöverzeit  einquartierten  homosexuellen  Rittmeister 
und  dem  gleichföhlenden  Sohn  des  Hausherrn. 

Eine  Keieebekanntschaft  (Märznummer).  Die  zufällige,  knrze 
Bekanntschaft  des  in  einem  kleinen  Städtchen  verweilenden  Rezi- 
tators mit  einem  jungen  italienischen  >  Orgelspieler.  Von  der 
Schönheit  des  Jungen,  der  Anmut  seines  Charakters  und  Offenheit 
seiner  Seele  bestrickt  und  durch  seine  traurige  Familiengeschichte 
gerührt,  gibt  ihm  der  Rezitator  das  nötige  Reisegeld,  um  in 
die  Heimat  zurückzukehren.  Bis  zum  nächsten  Zuge  bringen 
beide  traute  Stunden  (jer  Freundschaft  miteinander  zu,  der  Wohl- 
täter beglückt  durch  die  [erfrischende  Nähe  des  lieben  Natur- 
burschen. 

Das  Plauderstündchen  (Mainummer).  Freundschafts-  und 
Liebesbuud  zwischen  Kurt  und  Emesto,  den  vornehmen  Gesandten- 
söhnen  in  Hamburg. 

Die  Novellen  sind  gut  geschrieben,  sie  bilden  ab- 
geschlossene, proportionierte  Stimmungsbilder  voll  Anmut 
und  scharf  geschauten  Konturen. 

Caesareon,  Sterben  in  Schönheit  (Februamummer).  Die 
Fahrt  des  Homosexuellen  auf  den  Lagunen  Venedigs  und  hinaus 
auf  die  gefahrvolle  See  allein  mit  dem  geliebten  Gondoliere  und 
dann  der  Tod  des  Homosexuellen,  der  in  seiner  Villa  am  Corner 
See  von  der  Hand  seines  geliebten  Gondolieres  während  der  Um- 
armung sterben  darf. 

Die  künstlerisches  Streben  verratende  und  poetisch 
angehauchte  Erzählung  leidet  an  überschwenglicher  Ge- 
fühlsrhetorik und  etwas  konfuser  Symbolik. 

Caesareon,  Brief  an  eine  Mutter  (Märznummer). 
Geständnis   des  Sohnes   an   seine  Matter   von   seiner  Liebe 


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—     600     — 

zum  eigenen  Geschlecht,  von  den  Leidenschaften,  die  ihn  be- 
glücken. 

Immoralicns,  Es  lebe  die  Tugend  (Märznummer). 

Der  durch  die  gestrengen  „moralischen'^  Schwestern  wegen 
„Unsittlichkeit"  des  Stückes  am  Theaterbesuch  verhinderte  Junge 
entschädigt  sich  an  demselben  Abend  für  den  Genoß  in  den 
Armen  des  Freundes,  den  er  in  seinem  Schlafzimmer  aufsucht 

Eine  burschikos  und  leichtgeschürzte,  auch  in  Stil 
und  Ton  etwas  nachlässig  gehaltene  Erzählung. 

Rehren,  Ludmilla  von,  Sonderlicher,  denn  Frauenliebe 
ist  .  .  .  (Aprilnummer). 

Das  Geständnis  eines  Homosexuellen  an  den  Freund,  der 
sich  verheiratet  hat,  von  seiner  seit  der  Kindheit  bestehenden  ver- 
borgenen Liebe,  seiner  Eifersucht  bei  der  Verlobung  und  seinem 
Schmerz,  da  er  von  dem  Freund  nun  auf  immer  scheidet 

Arden,  Hans,  Marcel  (Aprilnummer). 

Gallus  war  nach  der  Verführung  des  jungen  Marcell  in  ein 
Kloster  gegangen,  der  Zufall  führt  später  auch  Marcel  dorthin, 
auch  er  hat  nun  eine  Jugendknospe  geknickt  und  sucht  Vergessen- 
heit und  Vergebung,  Wiedersehen  beider  Freunde;  sie  sterben 
beide  durch  Gift. 

Eine  exzentrische  Erzählung^  deren  psychologischer 
Untergrund  längerer  Ausführung  bedürfte,  um  überhaupt 
verständlich  zu  sein,  und  mehr  zu  bedeuten,  als  ein 
bloßes  Gerippe. 

Caesareon,  Es  soll  (Mainummer). 

Erinnerung  an  die  erste  Bekanntschaft  des  geliebten  Freundes, 
an  den  Schmerz  bei  der  längeren  Trennung,  an  das  Wiedersehen 
des  vor  Sehnsucht  erkrankten,  sterbenden  Geliebten. 

Eine  sentimental  lyrische  Variation  mit  etwas  ver- 
dunkeltem Hauptgedanken  über  das  Thema:  „Es  soll 
Menschen  geben,  die  sterben,  wenn  sie  lieben." 

Ein  Erosjünger,  Im  Frühlingsgarten  (Mainummer). 
Erinnerungen  an  den  ersten  Geliebten,  die  beim  Anblick  des 
schönen  Sees  und  der  prächtigen  Natur  auftauchen. 


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—     601     — 

Diogen,  Ist  es  nötig?  (Janinummer). 

Die  Freundschaft  zwischen  dem  homosexuellen  Herrn  und 
dem  urwüchsigen  Naturburschen,  den  er  sich  zum  Diener  ge- 
nommen hatte  und  der  Durchbruch  der  Liebe  des  Burschen  zu 
seinem  Herrn. 

E3ine  frisch  empfundene,  liebenswürdige  Novelette. 

Außer  diesen  zum  ersten  Male  veröffentlichten  Erzählungen 
sind  noch  wiedergegeben: 

Die  Sterbeszene  aus  Essebac,  ,,D6dä".  Übersetzt  von 
G^rg  Herbert  (Märznummer). 

Ulrichs,  Manor  (Aprilnummer). 

Die  an  Edgar  Poe  erinnernde  phantastisch -symbolische  und 
doch  im  guten  Sinn  rührende  Erzählung  des  toten  Freundes,  der 
nachts  den  Geliebten  aufsucht,  bis  ihn  dieser  zu  Tode  geliebt,  in 
das  Grab  folgt 

Drachmann,  Holger,  Alkibiades  an  der  Leiche  des  Char- 
mides  aus  dem  Drama  „Alkibiades'^,  Szene  aus  dem  1.  Akt. 

Andersen,  Freundschaftsweihe  (Juninummer). 

Ein  Bild  herzlicher  Männerfreundschaft  zwischen  Natur- 
burschen im  heutigen  Griechenland,  die  der  Priester  wie  eine 
Ehe  einsegnet. 

UL  Verschiedenes. 

Roeßler,  Arthur,  Der  arme  Lelian  (Januamummer). 
Biographisches  und  Kritisches  über  Verlaine. 

Gaulke,  Die  Homosexualität  in  der  Weltliteratur  (Februar- 
nummer). 

Erwähnt  wird  kurz  die  homosexuelle  persische  Literatur, 
dann  die  homosexuelle  Lyrik  von  Shakespeare,  Michelangelo, 
Platen  und  Wilde  besprochen. 

Lucifer,  Dr.,  Zur  Erziehung  des  homosexuell  veranlagten 
Knaben. 

Durch  Strenge  und  Züchtigung  sei  die  homosexuelle  Anlage 
nicht  zu  unterdrücken;  der  bedauernswerte  Knabe  sei  mit  doppelter 
Liebe  zu  behandeln;  seinem  Gefühlsleben  gebe  man  die  ruhige 
Entfaltung,  lasse  ihn  schwärmen  in  glühenden  Freundschafts- 
bündnissen, das  rein  Sexuelle  werde  auf  diese  Weise  selteüer  die 
Oberhand  gewinnen.  Herangewachsen  kläre  man  ihn  über  seine 
Lage  auf. 


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—     602     — 

Herder,  Über  die  Schamhaftigkeit  der  Griechen  nnd  Vir- 
gils  (Janin  ammer). 

Eine  warme  Verteidigung  des  antiken  Empfindens  für  Jüng- 
lingsschönheit,  die  zeigt,  wie  schön  vor  Jahrzehnten  der  erhabene 
Geist  eines  Herder  sich  über  die  Vorurteile  seiner  Zeit  hinaus- 
gesetzt hat. 

Die  Nummern:  Januar,  Februar,  März  und  April  enthalten 
noch  einen  Aufsatz  von  Dr.  0.  Kiefer:  „Der  schöne  Jüngling 
in  der  bildenden  Kunst  aller  Zeiten^^ 

Verfasser  bespricht  die  hauptsfichlichsten  Kunstwerke  (der 
Plastik  und  Malerei),  welche  die  schönen  Jüngsiingskörper  dar- 
stellen. 

Seine  Arbeit  zerfallt  in  vier  Teile:  Altertum,  Renaissance 
bis  Raphael,  bis  Murillo,  bis  zur  Gegenwart. 

Kiefers  Arbeit  verdient  alles  Lob,  sie  ist  kunstsinnig,  ver- 
ständnisvoll und  anregend  geschrieben. 

Kiefer  betont,  wie  die  Beschäftigung  des  Künstlers  mit  dem 
Jüuglingskörper  und  seine  Darstellung  von  den  jeweils  herrschen- 
den Anschauungen  über  die  Männerliebe  abhänge. 

Am  Schlüsse  seiner  Arbeit  sagt  Kiefer: 

Es  sähe  so  aus,  als  ob  unsere  Zeit  an  Künstlern  mit  echt 
hellenischem  Schönheitsempfinden  ärmer  sei  wie  irgend  eine 
andere  Zeit  künstlerischen  Aufschwunges.  Da  gelte  es  zu  kämpfen 
für  alle,  die  sich  zu  des  Eros  Schönheitsbanner  bekennten,  zu 
kämpfen  für  eine  freie  'geläuterte  Religion  und  Weltanschauung 
der  Schönheit,  die  sich  nicht  muckerisch  die  Augen  zuhalte  vor 
der  schönsten  Erscheinung  des  Menschenlebens,  vor  dem  hüllen- 
losen jungen  Menschen.  Nur  das  heutige  bornierte  Philistertum 
mit  seinem  Ideal  des  ;,Hurrapatriotismus"  und  seinem  Muckertum 
sei  im  letzten  Grund  schuld  daran,  daß  wir  keinen  Praxiteles^ 
keinen  Michelangelo  hätten. 

Man  müsse  die  Wurzel  des  Baumes  anders  nähren,  wenn 
man  schönere  Blüten  und  bessere  Früchte  haben  wolle. 

Schließlich  enthalten  sämtliche  Nummern  Besprechungen  von 
homosexuellen  Neuerscheinungen,  sowie  die  beiden  letzten  Nummern 
homosexuelle  Annoncen. 

Der  „Eigene"  des  Jahres  1903  hatte  leider  wie  sein 
Vorgänger  nur  ein  kurzes  Dasein.  Es  konnten  nur  sechs 
Nummern  herausgegeben  werden.   Das  weitere  Erscheinen 


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—     603     — 

der  Zeitschrift  wurde  infolge  strafrechtlicher  Verfolgung 
unmöglich  gemacht,  die  im  November  zur  Verurteilung 
von  Brand  zu  2  Monaten  Gefängnis,  yon  Spohr  zu 
150  Mark  Geldstrafe,  wegen  Verbreitung  unzüchtiger 
Schriften  führte.  Ich  kann  mit  dem  besten  Willen  in 
dem  „Eigenen*^  keine  einzige  unzüchtige,  d.  h.  porno- 
graphische Zeile  finden.  Nirgends  begegnet  man  einer 
aus  Geilheit  entsprungenen  oder  einer  auf  Erregung  von 
Geilheit  abzielenden,  auf  die  niedere  Sinnlichkeit  speku- 
lierende Absicht.  Damit  entfällt  aber  der  Begrifif  „des 
Unzüchtigen".  Mag  man  selbst  vom  heterosexuellem 
Standpunkt  die  Darstellung  homosexueller  Liebe  für  ab^ 
stoßend  halten,  so  ist  deshalb  das  gesetzliche  Erfordernis 
des  „Unzüchtigen"  nicht  gegeben. 

Demolder,  Eugene,  Le  Jardinier  de  la  Pompadour. 

Zuerst  publiziert  im  „Mercure  de  France'^,  November 
und  Dezember  1903,  Januar  und  Februar  1904. 

In  diesem  hübschen  Roman,  der  unter  der  Dienerschaft  der 
Pompadour,  der  Geliebten  Ludwigs  XV.,  spielt,  befindet  sich  die 
Figur  eines  homosexuellen  Koches,  der  zwar  als  boshafter  un- 
sympathischer Mensch  gezeichnet,  nichtsdestoweniger  in  ergötz- 
licher Weise  silhouettirt  ist. 

Agathon  Piedfin  war  zuerst  Koch  bei  Klosterbrüdern.  Dort 
hat  ihm  ein  Abt  „den  Frauenhaß  eingeimpft  und  ihn  gelehrt,  die 
Frauen  zu  entbehren".  Seither  kaun  er  nicht  genug  über  die  Ge- 
fährlichkeit und  Unreinheit  des  Weibes  schimpfen. 

Gegenüber  den  Jünglingen  sind  seine  Gesinnungen  ganz 
andere. 

Einen  kleinen  Neger  der  Marquise  nimmt  er  in  seine  Gunst 
auf,  angeblich,  um  ihn  Gott  zuzuführen  und  ihn  vor  den  Ver- 
suchungen des  Teufels  und  der  Evatöchter  zu  bewahren.  Nicht 
minder  freundlich  zeigt  er  sich  gegen  einen  frisch  vom  Lande 
gekommenen  jungen  Bedienten,  den  14jährigen  blauäugigen  Valöre. 
Als  dieser  einmal  vom  Baden  kommend  seinen  nackten  Leib  ab- 
trocknet, entgeht  er  nur  mit  Mühe  den  kühnen  Liebkosungen  des 
Koches. 


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—     604     — 

Fazy,  Edmond,  La  nourelle  Sodome.    Paris,  Edition 
moderne. 

Das  neue  Sodom  ist  Konstantinopel  mit  seiner  torkischen 
Pascba-  und  Günstlingswirtschaft. 

Joseph-ben-Juda,  der  Sohn  armer  jüdischer  Eltern,  der  keine 
18  Jahre  alt,  schon  in  alle  Geheimnisse  des  Geschlechtslebens 
eingeweiht,  später  noch  durch  zahlreiche  Griechen,  Türken,  Euro- 
päer in  sämmtlichen  Künsten  der  Liebe  vervollkommnet  ward 
und  in  der  Dämmerung  oder  im  „Morgengrauen  in  Skutari*'  ein- 
trägliche Spaziergänge  abzuhalten  pflegte,  wird  im  17.  Lebens- 
alter der  Geliebte  des  Marineministers  Deliberader  Pascha,  der 
selbst  in  seiner  Jugend  aus  Vergnügen  den  Buhljungen  spielte. 

Joseph  heißt  jetzt  Selim  Pascha  und  führt  den  Titel  eines 
Privatsekretärs  des  Pascha.  Bald  wird  er  nebenbei  Journalist 
und  Dichter  und  allgemein  in  der  Gesellschaft  bekannt. 

Im  21.  Jahre  schickt  ihn  Deliberader  nach  Paris  zur  Re- 
gelung finanzieller  und  politischer  Sachen. 

Auch  in  Paris  findet  Selim  Gelegenheit  zur  Zerstreuung. 
Ein  Kuppler  von  Jungfrauen  und  unschuldigen  Epheben  versorgt 
ihn  jeden  Tag  mit  einer  Neuigkeit  und  auf  dem  Boulevard  findet 
er  die  gewissen  Jünglinge, 

„die  manches  Herz  an  sich  ziehend  unter  den  Fremden 
herumschwirren". 

In  Genf,  wo  Selim  kurze  Zeit  weilt,  langweilt  er  sich. 

„Diese  Protestanten  haben  wohl  dieselben  Laster  wie  er, 
aber  sie  schämen  sich  ihrer".    (S.  52.) 

Nach  Konstantinopel  zurückgekehrt,  wird  er  dem  Sultan 
vorgestellt 

Die  wunderbare  Schönheit  des  26jährigen  Selim, 

,,seine  Frische,  die  Zartheit  seiner  Ohren  und  Lippen,  die 
melodische  Harmonie  seiner  Glieder  entzücken  den  Sultan.  Er 
schaudert  vor  ihm  wie  vor  einem  heidnischen  Götzenbild,  das  le- 
bendig werden  würde**. 

Seine  Augen  und  sein  Herz  können  sich  nicht  mehr  von 
ihm  trennen;  Selim  wird  der  erste  Günstling  des  Sultans. 

Ein  prachtvolles  Haus  mit  herrlichen  Gärten  ist  für  ihn  er- 
baut worden.  Selim  hat  Zeiten  der  Langeweile,  die  er  durch 
Ausschweifungen  zu  heben  sucht.  Er  richtet  eine  ganze  Schule 
von  Gitonismus  ein. 

In  einem  jungen  türkischen  Zigeuner  Seifoullet  erwächst 
Selim   ein  Rivale.     Seifoullet,   der   Prostituierte,   geschminkt  wie 


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—     605     — 

ein  Weib,  mit  dem  Gang  nnd  den  Gesten  einer  Frau  weiß  sich 
bei  Deliberader  einzuschmeicheln  und  bald  wird  auch  er  dem 
Sultan  vorgestellt.  Der  schlaue  Selim,  um  durch  zeitweilige  Ab- 
wesenheit die  Sehnsucht  des  Sultans  wieder  zu  wecken,  erbietet 
sich  zu  diplomatischen  Missionen  nach  St.  Petersburg  und  Berlin. 

Auch  in  St.  Petersburg  begegnet  er  seinesgleichen,  so  dem 
russischen  Diplomaten  von  Mittau,  „die  Frau,  und  wenn  es  sein 
muß,  der  Mann  aller  Männer".  In  Berlin  wie  überall  braucht 
Selim  Zei-streuungen  einer  besonderen  Art:  Er  tanzt  im  Hotel 
zum  König  von  Portugal  mit  den  Originalen  der  Psychopathia 
sexualis,  und  in  einer  Kneipe  in  der  Nfihe  des  Stettiner  Bahn- 
hofes wird  ihm  Börse  und  Schmuck  gestohlen,  aber  er  ist  klug 
genug,  sich  nicht  bei  der  Polizei  zu  beschweren.  (S.  222.) 

In  Konstantinopel  hat  Seifoullet  den  Sultan  gegen  die  Anders- 
gläubigen aufgestachelt.  Als  die  Pest  ausbricht,  sieht  der  Sultan 
die  Krankheit  als  Rache  Gottes  wegen  Duldung  der  Fremden  an. 
Er  befiehlt  ihre  Ausrottung.  Mordbrennerei,  Notzucht  von  Frauen 
und  Männern  ohne  Unterschied  mit  nachfolgendem  Totschlag, 
Niedermetzelung  aller  Gesandten.  Der  Sultan  fällt  selbst  dem 
entfesselten  Fanatismus  der  Menge  zum  Opfer,  die  ihn  als  ver- 
steckten Fremdenbesehützer  betrachtet.  Die  europäischen  Mächte 
rächen  den  Tod  ihrer  Gesandten,  bemächtigen  sich  Koustanti- 
nopels  und  teilen  die  Türkei  in  Distrikte  unter  dem  Oberbefehl 
eines  militärischen  Präfektes.  Selim  hat  sich  rechtzeitig  auf  Seite 
der  Europäer  geschlagen,  mit  ihm  wird  der  Friedensschluß  her- 
beigeführt. Er  lebt  lange  hochgeehrt  in  der  nunmehr  geordneten 
und  glücklichen  Türkei. 

Auch  außerhalb  des  Lebenslaufes  von  Selim  bringt  Fazy 
zahlreiche  Episoden  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs.  (S.  25  ff.) 
Luki-Laras-Bey,  mit  dem  Spitznamen  Panama-Bey,  eine  der  Haupt- 
persönlichkeiten der  englisch-türkischen  Bank  hat  seine  Stellung 
„der  Preisgabe  seines  Körpers  und  desjenigen  seiner  Frau"  ver- 
dankt. Er  will  einen  höchstens  15  Jahre  alten  Sekretär  haben. 
Selim,  der  wie  keiner  dazu  geeignet  ist,  ihm  den  ersehnten  Lecker- 
bissen zu  verschaffen,  führt  ihm  einen  Zögling  des  Bischofs  von 
Smyma,  den  15jährigen,  vom  Bischof  seinem  Freund  warm  em- 
pfohlenenen  Athanasius  zu,  den  Jüngling  „mit  dem  wallenden 
Haar,  der  jungfräulichen  Stirn,  den  Augen  glänzend  und  lieblich 
wie  der  Abendstem". 

S.  46.  Gheikh  Salad  wurde  in  seiner  Jugend  von  einem  kur- 
dischen Weib,  das  ihn  mit  ihrem  jungen  Ehemann  ertappte, 
durch  Scheerenschnitte  zum  Eunuchen  gemacht. 


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—     606     — 

S.  55.  Szene  zwischen  dem  Sultan  and  seinem  Narr  und 
Zwerg,  der  in  gewisser  Beziehung  wie  ein  Riese  begabt  ist. 

S.  76.  Im  Bade  versucht  der  Sultan  seinen  gewohnten  Masseur, 
einen  Jüngling  aus  Bithynien,  ,,reizend  wie  Hylos'*  zu  vergewal- 
tigen; aber  es  mißlingt  ihm  jämmerlich,  trotz  des  genossenen 
Cantharid  enpul  vers. 

S.  228.  Der  wirkliche  oder  angebliche  Sohn  von  Deliberader 
Pascha,  Ali  Nedim  Bey,  der  türkische  Gesandte  in  Paris, 

,,die  Dirne,  die  im  Lyceum  zu  Byzanz  Französisch  und  .  .  . 
den  Rest  studierte,  von  seinem  würdigen  Vater  eingeübt,  spielt 
in  Paris  eine  glanzvolle  Rolle  und  die  Mitglieder  des  französischen 
Kasinos  erröten  nicht,  ihn  bei  sich  aufzunehmen.  Ali  Nedim  Bey, 
bald  Encolpe,  bald  Giton  des  Scheusals,  den  er  seinen  Vater 
nennt." 

Die  homosexuellen  Momente  in  der  Charakteristik 
des  Selim  sind  in  obigem  Referat  herausgeschält  und  zu 
einem  zusammenhängenden  Ganzen  verwoben^  im  Boman 
kommt  ihnen  teilweise  s.ur  nebensächliche,  mehr  episoden- 
hafte Bedeutung  zu;  sie  verschwinden  in  dem  Gesamtbild 
des  gestriegelten,  parfümierten,  diplomatischen,  schlauen 
und  mit  europäischem  Kulturfimis  übertünchten  Buhl- 
jungen und  Emporkömmlings. 

Den  politisch -sozialen -satirisch  -  erotischen  Roman 
Fazys,  der  den  in  den  geschilderten  Zuständen  und 
Kreisen  Eingeweihten  verrät,  füllt  ein  buntscheckiges 
Gewimmel,  in  welchem  die  Symposien  Selims  und  die 
Exkurse  über  Literatur  und  Philosophie  mit  den  Wahn- 
sinnsphanthasien  des  „verrückten  Sultans"  wechseln.  In 
spöttischen,  gewollt  verzerrten  Konturen,  in  sprunghaftem 
Stil  und  wenig  harmonischer  Komposition  wird  ein 
kaleidoskopartiges  Gemälde  entrollt,  das  stellenweise  an 
Neronische  Zeiten  erinnert  und  die  Homosexualität  nur 
als  käufliche  Hingabe  oder  Resultat  geiler  Sinneslust  ab- 
gelebter Paschas  und  Giftpflanze  verrotteter,  türkischer 
Wirtschaft  kennt 


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—     607     — 

Fuchs,  Hanns,  Ciaire.  Ein  masochistischer^)  Roman  in 
Tagebuchblättem  und  Briefen.  Berlin,  1903,  Bars- 
dorf. 

Der  homosexuelle  Etienne  hat  ein  Yerhältnis  mit  dem  kon- 
trärsezuellen  Walter,  einem  jungen  Assifltenzarzt.  Etienne  weilt 
zum  Sommeraufenthalt  mit  seiner  Schwester  Ciaire  und  deren 
Gratten  Kurt  in  Baden-Baden,  von  wo  aus  er  auch  mit  Walter 
korrespondiert 

Aus  seinen  Briefen  lernen  wir  seine  Biographie  kennen. 

Etienne  hat  nie  die  Kämpfe  der  Homosexuellen  durch- 
gemacht; frühzeitig  wurde  er  von  seinem  homosexuellen  Haus- 
lehrer aufgeklart;  Offizier  geworden,  nahm  er  schon  im  25.  Lehens- 
jahr, des  öden  militärischen  Berufes  überdrüssig,  seinen  Abschied. 

In  Baden-Baden  hat  Etienne  ein  vorübergehendes  Abenteuer 
mit  einem  Baron  Krailsheim.  Dieser  ist  Sadist;  Etienne  muß 
Schimpf  Worte  und  Schläge  erdulden.  Nur  einmal  gibt  er  sich 
dem  Baron  hin,  aber  seine  den  Eigentümlichkeiten  des  Sadisten 
abholde  Natur  fühlt  sich  durch  die  Liebesform  des  Barons  zu- 
rückgestoßen. 

Etienne  sehnt  sich,  müde  des  verweichlichenden  Genuß-  und 
Badelebens  nach  ernster  Arbeit 

Er  kauft  ein  Schloß  in  Bayern  und  zieht  dorthin  mit  Walter, 
der  seine  Stelle  aufgibt,  und  mit  dessen  Mutter.  Etienne  arbeitet 
an  einem  Roman,  Walter  an  einem  wissenschaftlichen  Werk. 

Ihre  Liebe  wird  immer  inniger,  verklärter,  sie  spornt  sie  an 
zu  intensiver  Arbeit    Ihre  Werke  haben  großen  Erfolg. 

Das  Liebesglück  der  Beiden  ist  ein  harmonisches,  unge- 
trübtes.. 

„Was  wir  uns  seelisch  sind**,  schreibt  Etienne  an  seine 
Schwester,  „ist  nicht  zu  sagen.  Ich  frage  mich  oft,  wie  es  über- 
haupt möglich  gewesen  ist,  daß  ich  ohne  den  Freund  einmal  leben 
konnte.  Die  Jahre,  in  denen  ich  ohne  ihn  war,  sind  nutzlos,  in- 
haltslos verstrichen.  Könnte  ich  sie  noch  einmal  leben!  Oder  sie 
wenigstens  vergessen!   Meine  Seele  lag  in  banger  Haft,  bis  er  in 


^)  Über  Sadismus  und  Masochismus  j  insbesondere  die  belle- 
tristische Literatur  dieser  Anomalie  orientiert  unter  den  in  letzter 
Zeit  erschienenen  Schriften  am  besten  die  gemeinverständlich  und 
doch  wissenschaftlich  geschriebene  Broschüre  von  Eulenburg  ,^Sadis- 
mus  und  Masochismus^'  (Wiesbaden,  1902,  Verlag  von  Bergmann, 
In  den  Grenzfragen  des  Nerven-  und  SeelenlebenSy  Nr,  19), 


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—     608     — 

meines  Lebens  Kreis  trat.  £r  ist  in  Wahrheit  mein  Erlöser  ge- 
wesen"  (S.  162). 

Etiennes  Schwester  Ciaire  hat  inzwischen  ihren  Gatten  ver- 
lassen. Sie  liebte  ihn  nie  und  sehnte  sich  schon  längst  nach 
einer  Liebe,  deren  Inhalt  ihr  selbst  nicht  völlig  klar  war.  Infolge 
einer  Zeitungsannonce,  wonach  ein  gestrenger  Herr  eine  Dame 
sacht  und,  nachdem  sie  sich  mit  diesem  Manne  (Ralph  von  Bode) 
brieflich  in  Verbindung  gesetzt,  wird  sie  sich  ihres  eigentlichen 
Empfindungslebens  bewußt.  Sie  ist  Masochistin  und  findet  in 
Ealph,  dem  Sadisten,  ihr  Ideal.  Sie  lebt  mit  ihm  zusammen, 
allen  sonstigen  Familien-  und  Standesrücksichten  zum  Trotze.  An 
den  Mißhandlungen,  Demütigungen,  Qualen,  die  ihr  ihr  Herr  zu- 
fügt, empfindet  sie  die  höchste  Wollust,  sie  schwelgt  in  der 
Stellung  der  Dienerin,  der  Sklavin.  Die  harmonisch  verklärte 
ruhige  Liebe  ihres  Bruders  kann  sie  nicht  begreifen.  Ihre  Liebe 
wächst  zur  grenzenlosen  Leidenschaft,  die  sie  in  unsagbares 
Liebesglück  versetzt. 

Aber  eines  Tages  wird  sie  von  Ralph,  der  ihrer  überdrüssig 
geworden,  verlassen.  Etienne  nimmt  die  vom  Gipfel  ihres  namen- 
losen Glücks  herabgesunkene,  an  Geist  und  Körper  gebrochene 
Schwester  in  sein  Haus  auf,  wo  sie  bald  stirbt.  Ihr  Mann,  der 
sie  stets  als  Kranke  und  Verirrte  betrachtet,  hat  ihr  nie  gegrollt 
und  nur  Worte  des  Verzeihens  und  des  Mitleids  für  sie  gehabt. 

Das  Hauptinteresse  des  Romans  konzentriert  sich 
dem  Titel  entsprechend  auf  die  masochistische  Heldin 
„Ciaire".  Fuchs  hat  sich,  wie  mir  scheint,  in  die  abnorme 
Gefühlsweise  seiner  Heldin  trefflich  hineinzuleben  gewußt 
und  ein  pathologisches  Bild  geschaffen,  dem  man  stellen- 
weise recht  packende  Wirkung  zuerkennen  muß.  —  Die 
wilde  Glut,  die  unbändige  Leidenschaft,  das  Schwelgen 
in  Qualen  und  Demütigungen  der  krankhaft  Liebenden 
sind  recht  charakteristisch  und  anschaulich  getroffen. 

Gegenüber  der  Abnormität  krankhafter  Leidenschaft- 
lichkeit und  Zügellosigkeit  in  der  Empfindung,  welche 
Ciaire  kennzeichnen,  sticht  die  ideal  schöne  und  edle 
homosexuelle  Liebe  zwischen  Etienne  und  Walter  scharf 
und  auffallend,  in  absichtlich  festgehaltener  Tendenz,  ab. 
Hier  ist  alles  Schönheit,  Ruhe,  Abgeklärtheit>  Harmonie 
und  stetes,  wahres  Glück. 


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—     609    — 

Die  Tendenz  tritt  allzu  unverkennbar  hervor.  Fuchs 
will  die  Homosexualität  als  völlig  gesunde,  maßvolle,  die 
schönsten  Blüten  des  Geistes  und  der  Seele  zeitigende 
Liebe  schildern,  im  Gegensatz  zu  wirklich  krankhaften, 
Körper  und  Geist  zerrüttenden  Anomalien,  wie  Sadismus 
und  Masochismus. 

In  dem  Verhältnis  zwischen  Etienne  und  Walter  wird 
ein  Beispiel  edler,  vollkommener  Liebe  aufgestellt^  einer 
Zuneigung,  beglückend  die  Liebenden  und  nützlich  dem 
Gemeinwohl,  wie  sie  die  Heterosexualität  nur  selten  auf- 
weist. Unter  dieser  Idealisierung  leidet  die  Lebenswahr- 
heit und  plastische  Gestaltung. 

Einzig  und  allein  Ciaire  weist  Individualität  und 
Charakteristik,  Belief  und  Kolorit  auf.  Etienne  und  Walter 
ermangeln  des  Fleisches  und  Blutes,  sind  Schemen,  Per- 
sonifikationen abstrakter  Gedanken. 

Einen  Vorzug  wird  man  der  homosexuellen  Idylle 
aus  dem  arkadischen  Traumland  zuerkennen  müssen,  die 
Fähigkeit,  auf  die  bisher  noch  im  großen  Publikum 
herrschenden  irrtümUchen  Anschauungen  einen  günstigen 
Einfluß  auszuüben  durch  die  Art  und  Weise,  wie  die 
Homosexualität  von  Fuchs  aufgefaßt  und  dargestellt 
wird. 

Der  Enterbte  des  Liebesglücks  hat  sich  bei  ihm  in 
einen  Beglückten  verwandelt,  der  Verfehmte  in  einen  sich 
seiner  Liebe  Freuenden. 

Die  tendenziöse  Seite  des  Romans  und  besonders 
der  Mangel  an  Kraft  und  Charakteristik  in  der  Dar- 
stellung der  Homosexualität  mögen  den  künstlerischen 
Wert  des  Werkes  beeinträchtigen;  dagegen  ist  es  völlig 
falsch,  dem  Roman  diesen  Wert  wegen  des  behandelten 
Stoffes  an  und  für  sich  abzusprechen,  wie  dies  in  einer 
Kritik  der  Straßburger  Post  vom  15.  Juli  1903  ge- 
schehen ist. 

Jahrbuch  VI.  39 


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-r        610       -.. 

&rfln-Lesehkirch,  Dr.,  Lieder  eines  Einsamen,  ge- 
widmet den  Tschandalas  der  Liebe.  Leipzig,  1903, 
Verlag  von  Spohr. 

54  Gedichte,  von  denen  nur  wenige  offen  die  homosexuelle 
Leidenschaft  des  Dichters  aussprechen.  Meist  werden  Gef&hle, 
Stimmungen  und  Seelenleiden  besungen,  die  gerade  oft  den  Homo- 
sexuellen als  Folgeerscheinungen  seiner  von  der  Welt  verpönten 
Liebe  und  seiner  durch  die  Vorurteile  geschaffenen  unglücklichen 
Lage  beherrschen:  Das  Gefühl  der  Vereinsamung,  der  Sehn- 
sucht nach  einer  gleichempfindenden  Seele,  Traurigkeit,  Ver- 
zweiflung usw. 

Die  Widmung  „Den  Tschandalas  der  Liebe"  und  einige  deut- 
lich homosexuelle  Gedichte  am  Schlüsse  der  Sammlung  weisen 
uns  die  Quelle  von  des  Dichters  Leid  und  Wehe.  Die  Notlage 
des  Homosexuellen,  seine  unverschuldete  Verdammung  bringt 
Nr.  22:  „Fatum"  cum  Ausdruck. 

In  Nr.  25  wagt  der  Dichter  die  Ursache  seines  Grams  noch 
nicht  zu  nennen. 

Aber  in  Nr.  28:  „Flut  und  Brand"  verrät  er  sein  Geheimnis: 

„Lodernde  Gluten 
Züngelnder  Brunst, 
Schäumende  Fluten 
Wogenden  Meeres  — 

Ihr  nicht  so  glühend  brennt 
Auch  nicht  so  schäumend  rennt, 
Wie  der  Begierden  Glut 
Und  wie  der  Lüste  Flut, 

Die  mich  durchrast. 
Mich  brennend  umfaßt. 
Wenn  ich  dich,  Liebling  seh", 
Zu  dir  um  Liebe  fleh!" 

Seiner  Leidenschaft  will  der  Dichter  nicht  mehr  vdder- 
stehen,  denn  schuldlos  hat  ihn  der  Naturtrieb  ergriffen:  Nr.  29 
„Schuldlos". 

Die  Sammlung  von  Dr.  Grün-Leschkirch  muß  man 
als  ein  poetisches  Erzeugnis  schwächsten  Grades  be- 
zeichnen.   Verse  wie  die  folgenden: 


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oder 


—    611     — 

„Deiner  Schönheit  junge  Pracht 
Sehnsuchtsvoll  mich  zittern  macht"  — 

,,E8  ist  so  mein  Schicksalslos^ 
Schon  bestimmt  im  Mutterschoß"  — 


können  auch  den  niedrigstgesteilten  Ansprüchen  nicht 
genügen.  Derartige  Verse  mit  den  gezwungensten  Um- 
stellungen^ Jahrmarktsreimen  und  einer  Banalität  in 
Ausdruck  und  Empfindungsweise,  die  jedem  poetischen 
Gefühl  ins  Gesicht  schlägt,  finden  sich  aber  nicht  selten. 
Wie  die  Worte  auf  dem  Titelblatt:  „Erste  Folge" 
ankündigen,  plant  der  Dichter  noch  einen  zweiten  Band 
oder  vielleicht  sogar  mehrere.  Zu  ihrer  Veröffentlichung 
vermag  ich  ihn  jedoch  nicht  zu  ermutigen.  Dichtungen 
wie  diese  ,,Lieder  eines  Einsamen'^  wirken  nur  nachteilig 
auf  den  Geschmack  des  Publikums  und  als  unfreiwillige 
ironische  Illustrierung  der  Übertreibungen,  welche  den 
von  manchen  Homosexuellen  der  angeblichen  künst- 
lerischen Überlegenheit  des  üraniers  gezollten  Lob- 
preisungen anhaften. 

Heller,  Ludwig,  Die  Spiegel,  in  der  „Freistatt^  kri- 
tische Wochenschrift  für  moderne  Kultur,  Nr.  44, 
1902. 

Eine  symbolistische  Erzählung,  anscheinend  durch 
das  Schicksal  Ludwig  11.  und  sein  Verhältnis  zu  Kainz 
angeregt 

Der  exzentrische  König  sehnt  sich  ruhelos  nach  dem  gleich- 
gestimmten  Freund,  den  er  endlich  in  dem  bleichen  Jüngling,  dem 
herrlichen  Schauspieler  gefunden  zu  haben  glauht.  Als  er  jhm 
aber  seine  Liehe  gesteht,  flieht  dieser  entsetzt.  Seither  bemäch- 
tigt sich  wieder  ungestillte  Sehnsucht  und  Verzweiflung  der  Seele 
des  Königs,  bis  er  in  der  Gallerie  der  hundert  Spiegel  im  Wahnsinn 
zusammenbricht. 

39» 


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Offenstadt 

Unter  der  ^,Hölle  des  Soldaten^^  ist  das  Militärlazarett 
verstanden.  Als  typisches  Beispiel  wird  ein  Militär- 
lazarett Südfrankreichs  mit  seinen  verlotterten  und  schmäh- 
lichen Zuständen  heschrieben. 

La  Hire  geißelt  besonders  die  Gleichgültigkeit  und 
Härte  gewisser  Militärärzte,  sowie  die  Nachlässigkeit,  den 
Egoismus  und  Cynismus  der  zur  Holle  der  Ejrankenpileger 
völlig  ungeeigneten  Soldaten. 

Im  Mittelpunkt  steht  ein  als  Krankenpfleger  eingestellter 
junger  Literat,  de  Sainte  Ciaire,  der,  anfanglich  von  dem  besten 
Willen  beseelt,  allmählig  unter  dem  Einfluß  des  verderblichen 
Milieus  in  den  Schlamm  der  Unehrlichkeit  und  Charakterlosigkeit 
hineingerissen  wird. 

Unter  den  schwarzen  Flecken  in  dem  dunklen  Gemälde 
begegnet  man  auch  homosexuelle  Liebschaften. 

Offizier  Dulaurier,  der  gewöhnlich  barsche  und  ungerechte 
Vorgesetzte,  bekundet  gegen  den  Krankenpfleger  Maxime, 

„einen  kleinen,  blonden  Mann,  stets  rasiert  wie  ein  Schau- 
spieler und  mit  geschmeidigen  Gesten  eine  mehr  als  wohlwollende 
Nachsicht  und  einen  dauernden  Schutz.*' 

In  den  Nächten,  in  denen  Dulaurier  Wache  im  Speise- 
saal hält,  fehlt  Maxime  regelmäßig  in  der  Schlafstube  seiner 
Kameraden.  Eines  Abends^ sieht  ein  Krankenpfleger,  durch  das 
Schlüsselloch  spähend,  in  dem  Zimmer  des  Leutnants  „interessante 
Dinge**  und  erzählt  am  andern  Morgen  den  Kameraden,  daß 
Maxime 

„nicht,  wie  man  bisher  geglaubt,  familienlos  sei,  er  habe 
vielmehr  eine  Tante.** 

Übrigens  scheute  Maxime  mit  der  lasterhaften  Gleichgültige 
keit  eines  Pariser  voyou  keineswegs  die  Anspielungen  und  prahlt 
sogar  mit  seinem  „Beschützer**  (S.  94). 

Auch  der  Krankenpfleger  Cailotte  wird  eines  Abends  von 
einem  Kameraden  im  Bette  eines  nur  leicht  erkrankten,  mädchen- 
haft aussehenden  hübschen  Husaren  entdeckt;  später  dann  war 
es  ein  Jäger  zu  Pferd,  der  „für  seine  Zerstreuung**  sorgte. 

„Diese  skandalösen  Tatsachen,  die  keinen  Skandal  erregten, 
waren   das   Tagesgespräch.     Übrigens    mehrten    sich    die   Fälle 


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—     618     — 

schnell,  besonders  unter  den  schlechten,  oft  bestraften  »Soldaten. 
Sie  maßten  manchmal  zwei  Monate  ohne  Aosgaofi^  bleiben  und  sie 
benutzten  die  erzwungene  Gemeinschaft  in  der  Arreststube,  am 
untereinander  ihr  Bedürfnis  nach  dem  Weib  zu  befriedigen"  (S.  95). 
In  einer  schwülen  Sommernacht  werden  Dulaurier  und  Maxime, 
die  im  Garten  ihren  Gefühlen  freien  Lauf  lassen,  vom  Oberarzt 
beobachtet.  £r  wird  keine  Anzeige  erstatten,  am  den  Skandal 
zu  vermeiden,  aber  er  veranla&t,  am  andern  Tag  Dulaurier,  seine 
Versetzung  in  die  Kolonien  zu  beantragen.  Er  wolle  ihm  bloß 
eine  Warnung  geben,  er  wisse,  daß  keine  Strafe  ihn  von  seiner 
Krankheit  heilen  könne.  In  Südafrika  mangele  es  an  Offizieren, 
dort,  setzte  er  spöttisch  hinzu,  werde  Dulaurier  in  jeder  Be- 
ziehung sich  wohl  fühlen  (S.  106).  Maxime  wird  einfach  aus 
dem  Lazarett  entfernt  und  erhält  14  Tage  Arrest. 

Der  Roman  gehört  zu  den  Produkten  des  in  Frank- 
reich längst  überwundenen  krassen  Naturalismus,  er  führt 
ein  Konglomerat  von  Niedertracht  und  Gemeinheit  vor 
Augen.  Deshalb  ist  auch  die  Homosexualität  eigentlich 
nur  als  Laster  dargestellt,  und  zwar  als  Resultat  der 
Abgeschlossenheit  vom  Weib,  zu  der  die  Soldaten  im 
Lazarett  gezwungen  sind.  Nur  in  Dulaurier  scheint  La 
Hire  den  geborenen  Konträren  zu  erblicken. 

Hoche,  Jales,  Le  rice  mortel.    Paris,  1903,  Librairie 
illustr6e,  I.  Tallandier. 

Der  Millionär  Ostermann  hat  seine  beiden  Kinder  Lucette 
und  Maxime  nach  eigenartigen,  von  den  landläufigen  völlig  ver- 
schiedenen Prinzipien  über  Moral  und  Erziehung  aufgezogen. 

Von  der  Anschauung  ausgehend,  daß  die  gewöhnlichen  heuch- 
lerischen Auffassungen  der  Geschlcchtsliebe  als  einer  Sünde 
und  eines  schmählichen  Mysteriums,  andererseits  wieder  die  Ver- 
himmelung  derselben  als  eines  überschwenglichen  Gefühles  zum 
großen  Teil  an  der  Schlechtigkeit  und  dem  Unglück  der  Menschen 
schuld  seien,  hat  er  frühzeitig  seine  Kinder  über  die  Geheimnisse 
des  Geschlechtslebens  aufgeklärt  und  ihnen  den  Gedanken  ein- 
gepflanzt, daß  es  sich  um  nichts  weiter  als  um  Befriedigung  eines 
—  weder  guten  noch  bösen  —  natürlichen  Bedürfnisses  handele, 
in  der  Zuversicht,  daß  Kinder,  denen  man  alle  Laster  bloßlege, 
weder  schlecht  noch  lasterhaft  würden. 


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Lucette  und  Maxime  haben  frühzeitig  die  halbe  Welt  be- 
reist.  Lucette  hat  niemals  Liebe  zum  Manne  verspürt,  ihre  An« 
schauungen  haben  sie  vor  Torheiten  bewahrt.  Die  erste  prak* 
tische  geschlechtliche  Erfahrung  sucht  sie  bei  einer  Bekannten 
ihres  Vaters,  Madelaine,  zu  erlangen.  Gelegentlich  einer  im  ge- 
meinsamen Bett  zugebrachten  Nacht  verführt  sie  Madelaine  zu 
sinnlichen  Handlungen. 

Madelaine,  die  Idealistin,  ^ie  an  Liebe  und  Poesie  glaubt, 
schftmt  sich  ihrer  Handlung,  während  Lucette  zu  fühlen  beginnt, 
daß  die  Liebe  doch  kein  leeres  Wort  sei. 

Spftter  geht  Lucette  in  der  praktischen  Anwendung  der  ihr 
eingepflanzten  väterlichen  Theorie  soweit,  ihrem  Bruder  den  Inzest 
vorzuschlagen. 

Maxime  hat  seine  Neugierde  und  seinen  Geschlechtstrieb 
mit  hunderten  von  Frauen  der  verschiedensten  Rassen  befriedigt; 
die  Liebe  ist  ihm  stets,  getreu  der  Erziehung,  die  er  genossen, 
nur  eine  vom  Standpunkt  der  Hygiene  zu  betrachtende  Handlung 
ohne  höhere  Bedeutung  gewesen.  Zweimal  hat  er  auch  gleich* 
geschlechtlichen  Verkehr  kennen  gelernt  In  Jafia  war  es  das 
Abenteuer  mit  einem  mädchenhaft  aussehenden  jungen  Syrer,  dem 
er  in  einer  schwülen  Nacht,  angeekelt  von  dem  „brutalen  Sinnen- 
genuß^^  mit  dem  Weib  aus  einem  Gefühl  plötzlicher,  zarter  An- 
wandlung sich  hingegeben.  Später  dann  ließ  er  sich  von  dem  in 
Algier  aufgewachsenen  „der  bestialischen  Paarung  mit  den  mau- 
rischen Bordelldirnen  überdrüssigen^'  blasierten  Dosmont  verführen, 
den  Sinnenlust  jeder  Art  lockt. 

Was  Maxime  in  Jaffa  aus  fast  entschuldbarer  Neugierde,  auö 
unbewußter  Anziehung,  aus  Güte  erduldet,  tat  er  mit  Dosmont 
aus  Eitelkeit,  aus  reiner  Perversität,  um  ihm  zu  beweisen,  daß  er 
zu  Allem  f^hig  sei.  Sein  Verhältnis  mit  Dosmont  ist  aber  nur 
vorübergehend;  Madelaine  weckt  in  ihm  die  bisher  unbekannte 
Liebe.  Er  gesteht  ihr  'alle  seine  Abenteuer,  auch  seine  homo- 
sexuellen Fehltritte.  Madelaine  verzeiht  ihm  alles,  aber  seinQ 
Frau  will  sie  niemals  werden,  denn  ihre  .verschiedene  Erziehung 
habe  aus  ihnen  Menschen  gemacht,  die  sich  nicht  würden  ver- 
stehen können.  Verzweifelt  und  von  Madelaine  verstoßen  gibt  er 
sich  immer  mehr  dem  Gedanken  an  den  jungen  Syrer  hin.  Eine 
gewaltige  Sehnsucht  nach  ihm  bemächtigt  sich  seiner.  Bei  diesem 
Jüngling  will  er  die  Liebe  suchen,  er  schifft  sich  nach  Syrien  ein, 
stürzt  sich  aber  unterwegs  ins  Meer. 

Der  Romau  will  die  verhängnisvollen  Wirkungen 
einer    freien,    eigenartigen    Erziehungsmethode    demon- 


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—     615     — 

strieren,  obgleich  der  Verfasser  im  Vorwort  die  Absicht 
einer  bestimmten  Tendenz  von  sich  weist 

Dieser  Versuch  ist  recht  schwach  und  wenig  über-r 
zeugend  ausgefallen.  Auch  bei  anderen  Erziehungsarten 
kommen  ähnliche  homosexuelle  Handlungen  wie  die  yon 
Maxime  begangenen  vor.  Der  Verfasser  ist  sich  aber 
selbst  nicht  recht  klar  darüber^  ob  er  die  Homosexualität 
Maximes  als  ein  Produkt  seiner  Erziehung  oder  ein  Stück 
seiner  angeborenen  Natur  darstellen  will.  Denn  zu  Beginn 
des  Romans  hebt  er  ausdrücklich  Maximes  effeminiertes 
Äußere  hervor  und  gegen  Schluß  bringt  er  eine  Seite  aus 
einem  medizinischen  Werke  des  Psychiaters  Magnan  über 
die  angeborene,  trotz  aller  Hindemisse  und  Widerstände 
sich  durchdringende  Inversion,  eine  Schilderung,  die 
Maxime  als  auf  seinen  Zustand  passend  anerkennt. 

Und  trotzdem  die  glühende  Leidenschaft  zu  Madelaine, 
an  die  sich  die  plötzliche  Sehnsucht  nach  dem  jungen 
Syrer  gleichsam  nur  als  Ersatz  für  verschmähte,  hetero- 
sexuelle Liebe  anschließt. 

Man  könnte  an  psychische  Hermaphrodisie  denken^ 
aber  der  ganze  Charakter  ist  so  widerspruchsvoll  und 
verschwommen,  daß  man  von  bestimmter  Charakteristik 
nicht  sprechen  kann.  Der  Roman,  welcher  mit  seinem 
Aufputz  von  Philosophisterei  und  sexueller  Anomalie  auf 
andere  als  künstlerische  Interessen  spekuliert,  worauf  auch 
der  Untertitel:  „Ausnahmssitten''  hindeutet,  hinterläßt 
einen  gemischten  und  verworrenen  Eindruck. 

S.  251 — 258  findet  sieb  ein  allgemeiner  Exkurs  ttber  die 
Homoseznalität  mit  Bezug  auf  ihre  Verbreitung  im  Orient  and 
besonders  in  Marokko. 

Hoche  meint,  die  Zunahme  der  Inversion  würde  im  Gegen- 
satz zu  den  heutigen  AnBcbauungen  die  Rolle  des  Mannes  in 
Mißkredit  geraten  lassen,  weil  alsdann  die  Eigenschaft  der  passiven 
LiebesfKhigkeit  geschätzt  würde. 

Die  Homosezualitfit  sei  im  Orient  eine  Folge  der  Abge- 
schlossenheit der  Frauen.    Ebenso  würde  die  Frauenemanzipation, 


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—     616     — 

welche  einem  ähnlichen  Ziel  entgegensteuere,  die  gleichen  Wirk- 
kungen  hervorrufen.  Der  Triumph  des  Feminismus  würde  eine 
Art  Trennung  der  Geschlechter  erzeugen  und  beide  zur  Unisexu* 
alität  hindrängen.  In  Marokko  spielten  die  Lustknaben  dieselbe 
Rolle  wie  bei  uns  die  weiblichen  Prostituierten.  Jeder  Student 
und  überhaupt  jeder  sogenannte  Gebildete  habe  seinen  Knaben. 
Der  passive  Teil  sei  allgemein  verachtet,  aber  in  gewissen  Gegen- 
den seien  seine  Funktionen  als  eine  Art  Noviziat  der  Männlichkeit 
betrachtet.  Vielleicht  solle  dies  bedeuten,  daß  man  die  am  meisten 
charakteristischen  Empfindungen  der  Fi-au  habe  kennen  lernen 
müssen,  um  sich  von  ihrem  Geschlecht  loszumachen  und  ein  Mann 
zu  werden.    Vielleicht  bedeute  es  auch  gar  nichts. 

Hoche,  Jules,  La  carriire  de  Lneette.     Librairie 
illustr^e,  Tallandier,  1903. 

Roche  erzählt  das  weitere  Schicksal  der  Lucette  (vgl.  den 
vorher  besprochenen  Roman:  „Le  vice  mortel'O»  Nach  dem  Tode 
ihres  Bruders  und  ihres  Vaters  findet  sie  endlich  den  Mann,  der 
imstande  ist,   ihr  Liebe  einzuflößen  und  sie  dauernd  zu  fesseln. 

Sie  beichtet  ihm  ihre  homosexuellen  Experimente: 

„Ich  habe  früher  mit  Freundinnen  gewisse  wollüstige  Ver- 
suche angestellt,  die  ich  kennen  zu  lernen  für  nötig  hielt,  und 
mit  ihnen  Zärtlichkeiten  ausgetauscht,  die  für  viele  das  Verderben 

bedeutet  hätten Aber   es  gibt   überhaupt   keine   Laster, 

sondern  nur  lasterhafte  Menschen." 

Ihr  Geliebter  verzeiht  ihr:  „Du  hast  Recht,  ein  Vergnügen, 
das  keinen  schlechten  Hang  darstellt,  nicht  in  eine  Gewohnheit 
ausartet  und  niemanden  verletzt,  ist  kein  Laster,  weder  vom  in- 
dividuellen noch  vom  sozialen  Standpunkt  .  .  .  Das  Wort  Laster 
ruft  auch  den  Gedanken  an  eine  Handlung,  deren  man  sich 
schämt,  oder  wenigstens  an  einen  häßlichen  und  unsauberen  Akt 
hervor  und  das  konnte  bei  Dir  nicht  der  Fall  sein!'^ 

Lucette  atmet  auf:  „Gewiß,  es  war  gerade  das  Gegenteil 
von  etwas  Schmutzigem  oder  Häßlichem  und  die  Scham  war 
immer  fem  von  den  in  meinen  Augen  unschuldigen  Liebkosungen 
mit  Jenny  oder  Alice.  Überdies  wußte  ich,  daß  ich  sie  mora- 
lisch nicht  gefährdete,  da  sie,  besser  unterrichtet  als  ich,  die  Ini- 
tiative unserer  Spiele  ergrifien.  Endlich  bildeten  die  Liebkosungen 
für  mich  außer  der  Anziehung  eines  kurzen  Vergnügens  ein  not- 
wendiges psychisches  Untersuchungsmittel,  eine  wertvolle  Unter- 
stützung meiner  eigenartigen  Erziehung. \\ 


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—    617     — 

Ohne  diese  Ablenkang,  meint  Lucette,  würde  sie  wohl  dem 
ersten  besten  Manne  einmal  in  die  Arme  gesunken  sein  and  hätte 
dann  niemals  die  wahre  Liebe  gefunden  (S.  206—208). 

Lucette  eriimert  in  vielen  Punkten  an  Claudine,  sie 
ist  aber  mit  weniger  Ursprünglichkeit  und  Urwüchsigkeit 
gezeichnet^  wie  überhaupt  der  ganze  Roman  Ton  Hoche 
eine  nicht  ohne  Talent  geschriebene,  aber  die  Willysche 
Verve  und  witzsprühende  Phantasie  nicht  erreichende 
Imitation  der  Claudine-Bücher  darstellt. 

Janitsehek,  Maria,   Mlmlkiy.     Ein   Stück  modernen 
Lebens.    Leipzig,  1903,  Hermann  Seemanns  Nachf. 

Die  Unterredung  der  jungen  Leute  während  des  Besuches 
bei  ihrem  Freunde,  dem  16jährigen  verwöhnten  Lucian,  weist 
homosexuelle  Andeutungen  auf. 

Der  abgeschmackte,  greisenhafte  19jährige  Mirzo  antwortet 
auf  die  verwunderte  Frage  Emils,  des  jungen  Lehrers  Lucians, 
ob  denn  der  erst  17jährige  Alojs  schon  eine  Maitresse  habe: 

„Noch,  wollen  Sie  sagen,  der  Mann  ist  IT  Jahre  alt,  in  den 
Jahren  ist  man  allerdings  schon  über  das  Weib  hinaus,  der  Junge 
ist  eben  naiv  geblieben.  Als  ich  in  seinem  Alter  stand,  war  ich 
nicht  nur  über  das  Weib,  sondern  auch  schon  über  Antinous 
hinaus*'  (S.  118). 

Der  Gedanke  liegt  nahe,  Verfasserin  habe  überhaupt  den 
Freundeskreis  Lucians  als  homosexuell  verdächtigen  wollen.  8o 
K.  B.  sagt  Lengthien,  der  ,Junge  Mensch  mit  dem  blassen  Gesicht 
und  den  glimmenden  Augen'^  zu  Emil,  ihn  „vertraulich^'  ansehend : 

„Ich  glaube  mich  nicht  zu  irren,  wenn  ich  voraussetze,  daß 
Sie  einer  der  ünsem  werden"  (S.  114) 

und  S.  135  heißt  es: 

„Sie  machen  allerlei  Dummheiten,  die  Jungen  spielen  Tibe- 
rius,  maskieren  sich  ab  Mädel  und  so  weiter.^' 

Die  Verfasserin  spricht  sich  nicht  dentlich  aus,  aber 
es  scheint  ihr  darauf  anzukommen,  die  Homosexualität, 
die  ihr  Blüte  jugendlichen  Geckentums  und  lächerlichen 
Snobismus  scheint,  in  satirisch  karikierten  Bildern  blasierter, 
dekadenter  Jünglinge  zu  verwenden.   Allerdings  noch  eine 


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—     618     — 

andere  Seite  der  Homosexualität  läßt  sich  yielleicht  in 
dem  Eoman  finden. 

Der  verzogene^  kränkliche  neuropathische  Lacian  zeigt  große 
Anhänglichkeit  an  den  schönen  Emil,  der  einen  Einfloß  wie  sonst 
niemand  auf  ihn  gewinnt.  Lucian  wird  auch  von  Eifersacht  ef- 
faßt,  als  Emil  fdr  ein  Mädchen  sich  interessiert  und  bricht  in  die 
Worte  aus:  ^»Das  leide  ich  nicht,  laß  die  Weiber!*'  Schließlich 
verfällt  er  in  Tobsucht,  als  er  den  Freund  in  den  Armen  der 
Mutter  trifft. 

Das  Verhältnis  zwischen  Lucian  und  seinem  jugend- 
lichen Lehrer  und  Gesellschafter  Emil  ist  wohl  einer 
homosexuellen  Deutung  fähige  obgleich  ich  nicht  sicher 
bin^  daß  es  von  der  Verfasserin  in  diesem  Sinne  gedacht 
worden  ist^  wie  eine  Besprechung  des  Romans  im  „Eigenen'', 
Juninummer,  ohne  weiteres  annimmt 

Aber  im  Grunde  braucht  man  nicht  notwendig  die 
Grenzen  der  £Yeundschaft  als  überschritten  zu  betrachten, 
und  das  Verhalten  Lucians^  der  übrigens  mit  dem  Dienst- 
mädchen seiner  Mutter  geschlechtlich  yerkehrt,  ist  ohne 
homosexuelles  Moment  begreiflicL 

Eine  nicht  uninteressante  —  aber  nur  sehr  bedingt 
richtige  —  Erörterung  über  die  allmähliche  Entfremdung 
der  beiden  Geschlechter  und  die  Ursache  der  Homo- 
sexualität legt  Verfasserin  gegen  Schluß  des  Bomans  in 
den  Mund  der  emanzipierten,  knabenhaften  LilitL 

Sie  verwirft  den  Heiratsantrag  Emils:  „Heiraten ,  nein,  das 
konnte  ich  nicht  Wo  ist  denn  das  Ergänzende  bei  euch  zu 
finden?  Ihr  seid  ja  viel  schwächer  und  schwankender  als  wir. 
Ihr  seid  ja  weniger  als  wir.  Hast  du  es  nicht  verfolgt,  das 
neueste  Zeichen  der  Zeit,  daß  sich  das  gleiche  Geschlecht  dem 
gleichen  Geschlecht  zuzuwenden  beginnt?  Die  Ergänzung  fehlt 
zwischen  Mann  und  Weib.  Die  Weiber  sind  wie  die  Männer 
geworden,  weil  die  Männer  wie  die  Weiber  geworden  sind.  Die 
Frau  findet  bei  der  Frau  mehr  als  beim  Mann.  Und  der  Mann 
findet  die  Eigenschaften,  die  er  früher  vom  Weib  begehrte  und 
an  ihm  liebte,  viel  eher  bei  seinen  eigenen  —  Geschlcchtsgenossen 
(S.  244—245). 


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Lcpage,  Francis,  Les  fansses  Yierges.  Roman  pas- 
sionnel  illustre  par  la  Photographie  d'aprfes  nature. 
Paris,  1902,  Ed.  Oflfenstadt. 

Jano  kommt  frühzeitig  in  die  Rlosterschule,  sie  befreundet 
sich  mit  der  altersgleichen  14jäbrigen  Suzanne.  Allmählich  nimmt 
die  zärtliche  Freundschaft  einen  sinnlichen  Charakter  an.  Von 
einer  Lehrerin  werden  sie  in  einer  Kammer  auf  dem  Speicher 
in  verdächtiger  Stellung  überrascht.  Beide  müssen  die  Schule 
verlassen.  Der  Vater  von  Jane,  der  mit  einer  Geliebten  zusammen- 
lebt, läßt  Jane  bei  einer  alten  Tante  wohnen  und  möchte  sie 
möglichst  bald  verheiraten.  Ein  passender  Bräutigam  ist  bald 
gefunden.  Es  ist  Henri  Dalberg,  der  sich  in  Jane  verliebt.  Aber  Jane 
will  nichts  von  Heirat  wissen.  Zwei  Wochen  bringt  sie  bei  Su- 
zanne auf  dem  Landgut  ihrer  Eltern  zu.  Beide  schlafen  in  einem 
gemeinsamen  Zimmer. 

„Die  zwei  Wochen  waren  für  die  beiden  Freundinnen  eine 
fortgesetzte  Wollust.  Ihre  Leidenschaft,  bisher  durch  die  Zucht 
der  Schule  zurückgehalten,  dann  durch  die  Abwesenheit,  be- 
friedigte sich  mit  Wut"  (S.  131). 

Vor  dem  Weggange  von  Jane  beschließen  beide,  sich  form- 
lich zu  heiraten. 

„Diese  Absicht,  scheinbar  ziemlich  seltsam,  war  in  Wirk- 
lichkeit durchaus  logisch  und  ohne  den  Hintergedanken  eines 
ruchlosen  Baf&nements.  Weil  die  jungen  Mädchen  sich  wirklich 
liebten,  warum  sollten  sie  nicht  diese  Liebe  auf  endgiltige  Weise 
einsegnen  und  sie  gleichsam  legitimieren?  Sie  sahen  nicht,  daß 
ihre  Leidenschaft  anormal  war,  sie  sündigten  ^anz  offenherzig. 
Was  sie  aufrichtig  empörte,  war  die  Ehe  des  Mannes  mit  der 
Frau.  Ihr  eigenartiges  Schamgefühl  konnte  nicht  einmal  den 
Gedanken  einer  männlichen  Umarmung  ertragen'^  (S.  137). 

]Eines  Abends  ahmen  sie  in  der  alten  Kapelle  die  Heirats- 
zeremonie nach  und  schwören  sich  ewige  Treue.  Suzanne  muß 
ihre  Eltern  auf  einer  Reise  nach  Amerika  begleiten.  Die 
Freundinnen  sind  lange  getrennt.  Henri  fährt  fort,  um  Janes 
zu  werben.    Lange  widersteht  sie. 

„Henriks  Liebe  hatte  zuerst  Jane  überrascht,  dann  ihr  ge- 
schmeichelt; später  hatte  sie  in  diesem  Gefühl,  dessen  natürliche 
Erscheinungsform  sie  nicht  kannte j  einen  Beiz  des  }^euen  gefun- 
den und  sogar,  ohne  sich  dessen  klar  bewußt  zu  werden,  etwas 
Perverses  ....  denn  einen  Mann  zu  lieben  war  für  sie  eine  per- 
versö  verbotene  Sache"  (S.  205). 


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Zugleich  zog  sie  ihre  durch  den  Verkehr  mit  Suzaxme  ge- 
weckte Sinnlichkeit  allmählich,  aber  unwiderdtehlich  £am  Maune 
hin.  Nach  und  nach  erscheint  ihr  der  Gedanke,  einem  Manne 
anzugehören,  nicht  mehr  ^^monströs  und  ekelhaft''  (S.  208). 

Halbgezwungen  gibt  sie  ihr  Jawort,  das  sie  aber  bald  wieder 
bereut.  In  der  Brautnacht  kämpft  ihr  Gefühl  für  Suzanne  ver^ 
geblich  gegen  die  stürmische  Umarmung  des  Mannes,  der  unwider- 
stehlich ihre  Sinnlichkeit  entfacht 

Nachher,  als  sie  zu  sich  kommt,  schämt  sie  sich  der  Wollust, 
die  sie  in  den  Armen  des  Mannes  empfunden,  sie  hat  Ekel  vor  sich 
selbst  und  vor  dem  Manne,  der  sie  besessen.  Suzanne  hat  in- 
zwischen keinerlei  Nachrichten  von  Jane  erhalten  ^  sie  kann  sich 
ihr  Schweigen  nicht  erklären.  Plötzlich  erföhrt  sie  von  Jane*8  Heirat 
('urch  eine  Zeitungsnotiz.  Sie  kehrt  bald  mit  ihren  Eltern  nach 
Europa  zurück  und  sucht  sofort  Jane  auf.  Sie  trifft  sie  allein  zu 
Hause.  '  Jane  bittet  sie  unter  Tränen  um  Verzeihung,  sie  habe 
doch  nur  Suzanne  geliebt.  Aber  Suzanne  will  für  immer  scheiden 
von  der  Treulosen.  Jane  klammert  sich  an  die  Freundin,  beide 
sinken  sich  liebend  in  die  Arme.  Henri,  der  nichts  ahnend  nach 
Hause  kommt,  überrascht  die  beiden  halbentkleidet  in  rasender 
Liebesumarmung.  Von  blinder  Wut  ergriffen,  will  er  mit  einem 
Stuhl  die  beiden  Liebenden  erschlagen.  Aber  Jane  kommt  ihm 
zuvor.  Sie  entnimmt  dem  Nachtkästchen  den  geladenen  Revolver 
Heurfs,  und  als  Henri  trotz  ihrer  Mahnung  mit  dem  erhobenen 
Stuhl  sich  immer  weiter  nähert,  schießt  sie  ihren  Gatten  nieder. 
Dann,  vor  dem  Leichnam  Henris,  stürzt  sie  sich  auf  die  Freundin 
und  umschlingt  sie  in  toller  Liebeswut. 

Einige  interessante ,  gut  getroffene  psychologische 
Einzelheiten  in  der  Darstellung  der  homosexueUen  Leiden- 
schaft, welche  beide  Frauen  beseelt,  verdienen  Lob.  Auch 
die,  wie  Verfasser  mit  Recht  hervorhebt,  in  der  eigen- 
artigen Psyche  der  Heldinnen  wohlbegründete  Veranstaltung 
einer  Heiratszeremonie  zeugt  von  richtigem  Verständnis 
der  umischen  Seele.  Das  tief  Eingewurzelte  der  homo- 
sexuellen Liebe,  der  Kampf  gegen  die  als  pervers  em- 
pfundene Mannesliebe,  die  vorübergehende  Selbsttäuschung 
der  Heldin  über  ihre  Gefühle  gegen  den  Mann,  die 
baldige  Erkenntnis  ihr^s  instinktiven  Ekels  vor  männ- 
licher Berührung,  die  siegreiche  Liebe  zur  Freundin  auch 


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inmitten  der  stürmischen,  männlichen  Umarmung^  die  zwar 
momentane  Sinnlichkeit  zu  wecken  vermag,  aher  das 
eigentliche  natürliche  Liebesempfinden  unberührt  läßt  — 
alle  diese  Momente  sind  mit  Geschick  entwickelt 

Im  allgemeinen  kann  aber  der  Koman  eine  größere 
Bedeutung  nicht  beanspruchen,  er  gehört  zur  Dutzend- 
ware und  ist  auf  Sensation  berechnet.  Auf  diesen  Zweck 
weisen  schon  die  süßlichen,  teilweise  lüsternen  Illustrationen 
hin,  ,^hotographie8  d'aprfes  nature",  wie  es  auf  dem  Titel- 
blatt verlockend  heißt. 

Lorrain,  Jeau,'  Coins  de  Byzance.    Le  rice  errant. 

Paris,  1902,  Ollendorfl 

Den  Hauptteil  des  prickelnden,  geistreichen  Romans 
des  talentvollen,  bekannten  Feuilletonisten  und  Schrift- 
stellers füllt  die  Geschichte  des  russischen  Fürsten  Noro- 
soflF,  des  hundertfachen  Millionärs,  des  an  Leib  und  Seele 
kranken,  bizarren,  despotischen,  kapriziösen  Dekadenten. 

Mit  der  Marke  „Champagner  und  Kaviar"  ließe  sich 
diese  Epope  neronianischer  Verrücktheiten  und  römischer 
Cäsarenlaunen  am  besten  charakterisieren. 

Der  Fürst  lebt  in  Nizza  unter  dem  Eioflaß  einer  polnischen 
Gräfin,  er  umgibt  sich  mit  einem  Heere  von  Parasiten,  Tänzern, 
Schauspielerinnen,  Sängerinnen,  Tingeltangelkünstlem,  Abenteu- 
rern aller  Art,  die  ihn  zerstreuen  sollen. 

Direkt  Homosexuelles  findet  sich  in  dem  Roman  nicht 
Einige  Episoden  enthalten  jedoch  homosexuelle  Anklänge.  So 
z.  B.  wird  der  Fürst  eines  Tages  von  einem  schönen  Matrosen 
Marius,  gefesselt,  er  empfindet  für  ihn  „eine  Art  zarter  und  me- 
lancholischer Freundschaft"  (S.  184).  Marius  und  seinem  Freund, 
Etschegarj,  gelingt  es,  eine  Zeitlang  den  Fürsten  völlig  in  An- 
spruch zu  nehmen  und  durch  ihre  Redseligkeit,  ihre  Erzählungen, 
ihre  Witze,  ihre  Frische  und  ürwüchsigkeit  zu  zerstreuen.  Er 
kann  sich  nicht  mehr  von  ihnen  trennen,  mit  ihnen  besucht  er 
schließlich  die  niedrigsten  Bordelle  und  Kneipen.  In  ihrem  Um- 
gang lebt  er  wieder  neu  auf. 


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—     622    — 

Eine  ZeitlaDg  herrschen  die  beiden  Matrosen  m  der  YilU 
des  Fürsten,  bis  er  wieder  zu  neuen  Spielzeugen,  zu  neuen  Ca- 
prizen  übergeht.  Später  aber,  kurz  vor  seinem  Tode,  als  er,  eine 
wandelnde  Leiche,  noch  ausfährt,  entdeckt  er  auf  der  Straße  einen 
neapolitanischen  Fischer,  dessen  Ähnlichkeit  mit  Marius  die 
früheren  lieben  Erinnerungen  in  ihm  wachruft.  Der  Fischer  muß 
sofort  mit  in  die  Villa  und  wird  in  den  Dienst  des  Fürsten  ein« 
gestellt  Aber  seine  eifersüchtige  Geliebte  veranlaßt  ihn  schon 
am  nächsten  Tage,  zu  fliehen.  Wütend  sucht  ihn  der  Fürst  in 
ganz  Nizza.  Er  flndet  ihn  auf  dem  Markt,  sich  scheu  hinter  seinem 
Mädchen  verbergend.  Als  Norosoff  vorwurfsvoll  an  ihn  heran  tritt, 
streckt  ihn  das  Mädchen  mit  einer  wuchtigen  Ohrfeige  zu  Boden. 

Dies  ist  das  letzte  Abenteuer  des  Fürsten,  der  bald  darauf 
unter  Flüchen  und  Wutausbrüchen  stirbt. 

ran  Berer,  Ad.,  et  STansot-Orland,  Oeuvres  galantes 
des  conteurs  Italiens  (XIV.,  XV.,  XVL  siöcles).  Mer- 
cure  de  France. 

In  der  Januamummer  des  „Mercure  de  France" 
bespricht  Jean  de  Gourmont  die  Sammlung  dieser  lustigen, 
ausgelassenen  Geschichten  und  berichtet  über  eine  homo- 
sexuelle Erzählung  von 

Franzesco  Maria  Molza,  betitelt:  Bidolfo  ron  Florenz. 

Ridolfo  vernachlässigt  seine  Frau,  obgleich  sie  schön  ist,  er 
zieht  ihre  junge  Ganymede  vor« 

„Mein  scheußlicher  Gatte/*  sagt  die  edle  Dame,  „weigert 
sich  andauernd,  in  meinen  Hafen  einzulaufen.**  Sie  tröstet  sich 
mit  einem  Liebling  ihres  Mannes.  Letzterer  überrascht  beide,  läßt 
sich  aber  nichts  merken  und  nimmt  seine  nichtsahnende  Frau  mit 
auf  das  Land.  Dort  zieht  er  einen  Dolch  und  will  sie  töten.  Sie 
fleht  ihn  an,  ihr  wenigstens  den  Anblick  des  tötenden  Stahles  zu 
ersparen. 

„Ihrem  Manne  den  Rücken  kehrend,  hob  sie  die  Röcke  em:: 
por,  zog  ihr  Hemd  über  den  Kopf  und  zeigte  Ridolfo  die  Teile, 
die,  wie  sie  wußte,  ihm  gefielen.  Als  er  sie  sah,  weißer  als  Schnee, 
frisch  und  angenehm,  war  Ridolfo  ganz  geblendet**. 

Und  er  söhnte  sich  mit  seiner  Frau  wieder  aus. 


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—     623     — 

Horel,  Hanrice,  Sapho  de  Lesbos.     Roman.     Paris, 
1903,  Librairie  acad6mique  Didier,  Perrin  et  Co. 

SapphOy  die  ganz  jung  einen  alten,  reichen  Raufmann  in 
Mjtilene  geheiratet,  und  in  ihrer  Ehe  mit  dem  ungeliebten,  ab- 
gelebten Gratten  für  immer  einen  tiefen  Ekel  vor  den  männlichen 
Umarmungen  geschöpft,  hat,  frühzeitig  verwitwet,  alle  Liel^haber 
zurückgewiesen  und  ihr  Liebesbedürfnis  auf  ihre  Freundinnen 
übertragen. 

Ihr  Gefühl  gegen  sie  war  das  einer  Liebenden,  sie  kannte 
die  Eifersucht  und  die  Empfindlichkeit  einer  verliebten  Seele,  und 
wenn  die  eine  oder  andere  ihrer  Freundinnen  heiratete,  war  der 
Hochzeitstag  für  Sappho  ein  Tag  der  Trauer. 

Ihre  Liebesschmerzen  waren  aber,  bis  sie  Gleis  kennen 
lernte,  nur  vorübergehende  gewesen.  Gleis  erst,  die  jugendliche 
Athenerin  f  die  mit  ihrem  infolge  politischer  Wirren  aus  Athen 
verbannten  Vater  nach  Mytilene  gekommen  war,  flößte  ihr  eine 
tiefe  Leidenschaft  ein  und  fand  bei  Sappho  eine  dauernde  Aufs 
nähme. 

Menon,  der  Sohn  des  Pittakos,  des  vertriebenen  Führers  der 
vom  Tyrannen  Mytilenes,  Myrsilos,  unterdrückten  Partei,  kehrt 
im  Verborgenen  zurück,  den  Tyrannen  zu  stürzen.  Er  liebt  Gleis 
und  sie,  seine  Gefühle  erwidernd,  wftre  bereit,  ihn  zu  heiraten, 
aber  Sappho  will  die  Geliebte  nicht  verlieren.  Mit  allen  Mitteln 
der  Überredung  und  den  inständigsten  Bitten  fleht  sie  Gleis  an, 

„ihre  Jungfräulichkeit  nicht  einem  Manne,  ihre  zarten  Glieder 
nicht  seinen  rauhen  Umarmungen  preiszugeben'^ 
und  schildert  ihr  in  düsteren  Farben  die  Hochzeitsnacht, 

„die  etwas  Schreckliches  ist,  den  Mann  in  ein  Tier  vers 
wandelt"  (S.  107). 

Aus  Dankbarkeit  und  Anhänglichkeit  an  Sappho  entschließt 
sich  Gleis  zuerst,  auf  den  Geliebten  zu  verzichten,  aber  als  Menon 
erklärt,  mit  ihr  in  Mytilene  bleiben  zu  wollen,  da  könnte  Gleis 
Menon  heiraten,  ohne  zugleich  auf  die  Nähe  der  Freundin  ver» 
ziehten  zu  müssen. 

Doch  Sappho  will  die  Freundin  nicht  mit  dem  Manne  teilen, 
wütend  ergießt  sich  der  Ausbrach  ihres  gekränkten,  beleidigten 
Gefühls  über  das  Liebespaar,  dem  sie  ihre  Rache  ankündigt. 

In  dem  zweiten  Teil  des  Eomans  tritt  die  homosexuelle 
Leidenschaft  Sapphos  völlig  zurück. 

Neera,  deren  Liebe  Menon  verschmäht,  rächt  sich,  indem  sie 
Menon  dem  Thyrannen  als  Verschwörer  denunziert.  Menon  wird 


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gegen  juenon  vergesseno,  wui  lün  retten,  es  gelingt  inr,  den  ly- 
rannen,  der  sie  besitzen  zu  dürfen  wähnte,  zu  erdolchen.  Menon 
wird  gerettet,  seine  Partei,  unter  Anführung  Yon  Pittakos,  der  in 
Mytilene  eintrifft,  besiegt  die  Ankläger  des  Tyrannen.  Menon 
heiratet  Cleis.  Während  der  Hochzeitnacht  stirbt  Gleis,  yergiftet 
durch. einen  Gifttrank,  den  Neera  ftür  Menon  bestimmt  hatte. 

Der  Verdacht,  Cleis  vergiftet  zu  haben,  ftllt  auf  Sappho. 
Halb  wahnsinnig,  eilt  sie  dem  Meere  zu,  ungewiß,  ob  sie  nicht 
in  dessen  Fluten  den  Tod  suchen  soll. 

Der  Roman  entbehrt  der  Einheit  in  der  Motivation 
und  der  inneren  Geschlossenheit  des  Aufbaues. 

In  dem  ersten  Teil  ist  das  homosexuelle  Verhältnis 
der  Sappho  zu  Cleis  in  den  Vordergrund  gerückt  und  es 
hat  den  Anschein,  als  würde  sich  der  Hauptkonflikt  und 
die  Katastrophe  aus  der  Homosexualität  Sapphos  ent- 
wickeln. Aber  bald  wird  das  Interesse  völlig  von  der 
umischen  Liebe  abgelenkt,  der  Roman  nimmt  eine  von 
ihr  ganz  unabhängige  Richtung,  die  Handlungsweise  der 
Sappho  verliert  den  Zusammenhang  mit  ihrem  homo- 
sexuellen Empfinden. 

Morel  hat  mit  sichtlichem  Behagen  sich  in  die  gleich- 
geschlechtlichen Neigungen  der  Dichterin  zu  Beginn  des 
Romans  versenkt,  mehr  aber,  um  diesen  poetisch  und 
zugleich  auch  etwas  pikant  zu  wtLrzen,  als  der  inneren 
Notwendigkeit  halber.  So  läßt  er  sich  auch  nicht  die 
Gelegenheit  entgehen,  ein  besonderes  Kapitel  einem 
Stimmungsbild  zu  widmen:  Sappho,  im  Kreise  ihrer 
Freundinnen  mit  Gesang,  Dichtung  und  philosophisch- 
ästhetischem Gespräch  sich  vergnügend. 

Die  Psychologie  der  Sappho  erscheint  ziemlich 
schwankend  und  unbestimmt.  An  dem  gleichen  Fehler 
leidet  die  Charakteristik  ihrer  Homosexualität.  Der 
Dichter  erklärt  das  umische  Liebesleben  seiner  Heldin 
aus  dem  durch  den  Geschlechtsverkehr  mit  dem  un- 
geliebten,  alten  Gatten  erzeugten  Ekel  vor  männlicher 


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—     625    — 

Umarmung    und    hebt    andererseits   wied( 
Zeichen  ihrer  angeborenen  Gynandrie  her 

Ihre  flachen  Hüften,  ihre  nervigen  Anne,  ih: 
den  Mangel  an  Grazie  in  ihrem  Gange  —  ^^ei 
eines  Mannes^^  —  sagten  ihre  Nebenbahlerinnen 

Nach  der  etwas  süßlich  poetischen  S< 
homosexuellen  Verhältnisses  läßt  Morel  in  d 
Szene  zwischen  Sappbo  und  den  Verlobt 
Menon  Töne  kräftiger  Sinnlichkeit  zur  Gel 
In  der  gleichen  Szene  gibt  er  ein  interess 
antiker  Moral  und  Empfindungs weise  in  d( 
und  Ruhe,  mit  der  Menon  die  Vergan, 
Geliebten  erfährt:  Er  ist  nicht  nur  einve 
sie  die  Freundin  auch  noch  nach  der  Ehe  b< 
er  wird  nicht  im  geringsten  erschüttert  i 
Wut  ausbrechend,  sich  des  Vorbesitzes 
rühmt, 

^yderen  Küsse  sie  vor  ihm  gekannt,  von  der 
keit  sie  den  besten  Teil  bereits  genommen,  wfihi 
noch  zum  Nachtisch  erscheine"  (S.  135). 

Morels  Roman  verrät  Talent,  aber  mehi 
Mache  als  echtes  Temperament. 

Ryner,  Hans,  La  Alle  manqu^e.    Paris, 
ceaux  et  Co. 

Fran^ois  von  Taulane  kommt  als  Knabe  in  c 
geleitete  Schule.    Die  gegenseitige  Onanie  in  alle 
in    der  Anstalt.    Die   meisten  Lehrer  und   alle 
dem  Laster. 

In  Fran9ois  regt  sich  frühzeitig  ein  anbei 
bedürfnis.  Er  erinnert  sich  der  unschuldigen  Liel 
Onkels  und  die  Bilder  lieber  Kameraden  bevöikei 
Bald  wird  er  das  geschlechtliche  Treiben  um  ihr 

Den    Verführungs versuch    eines   Lehrers    sl 
ebenso  entflieht  er  den  Armen  des  energischen  h{i 
der  auch  „ohne  Liebe  Freuden  genießen  kann.'* 
Jahrbuch  VI. 


liebt,  die  Anstalt  verlassen,  überträgt  er  seine  Liebe  an  Dargant 
Dargant  darf  als  erster  der  eigentliche  Geliebte  von  Franyois  sein. 
Aber  Fran^ois  hat  sich  in  Dargant  getäuscht.  Dargant  hat  nur 
seine  Eitelkeit  befriedigen  wollen,  er  brüstet  sich  offen  mit  der 
Eroberung  des  bisher  im  Rufe  des  Spröden  und  Stolzen  stehenden 
Fran^ois. 

Dieser,  in  seinem  Gefühl  und  seiner  Liebe  tief  gekränkt, 
wird  sich  jetzt  keinem  mehr  anschließen,  er  wird  der  Geliebte 
eines  jeden  Mitschülers  sein,  sich  jedem  preisgeben.  FranQois 
wird  auch  der  Begehrteste,  Meistumworbene  der  Schule.  Einer 
nach  dem  andern  darf  ihn  hinnehmen.  Aber  nur  Einer  konnte 
ihn  dauernd  fesseln,  nur  für  Einen  empfindet  er  tiefere  Anziehung, 
für  den  kräftigen  Pierre.  Pierre,  der  krank  war,  als  die  Än- 
derung in  Francois  Benehmen  vor  sich  ging,  verkehrt  nach  seiner 
Genesung  auch  mit  Francois.  Aber  er  behandelte  ihn  mit  Ver^ 
achtung  wie  eine  Dirne.  Doch  von  Pierre  läßt  sich  Francois 
alles  gefallen;  seine  Brutalität  inmitten  der  Liebkosungen  erhöht 
nur  Francois  Anhänglichkeit  und  sein  Gefühl  sklavischer  Unter- 
würfigkeit zu  dem  geliebten  Pierre. 

Als  Francois  die  Schule  verlassen  hat,  verliebt  er  sich  in 
eine  Kousine,  die  seine  Liebe  erwidert.  Beide  gehen  aufs  Land, 
wo  Lisa  sich  Fran9ois  hingibt  Fran9ois  hat  jedoch  nicht  die 
Fähigkeit  zum  normalen  Geschlechtsverkehr.  Ein  Versuch  ge- 
lingt zwar,  aber  tagelange  Krankheit  ist  die  Folge.  Jede  weitere 
Bemühung  muß  er  mit  erschöpfendem  Siechtum  bezahlen.  Lisa 
hält  längere  Zeit  bei  Francois  in  Liebe  und  Geduld  aus,  doch 
allmählich  erkaltet  ihre  Liebe  an  der  Seite  des  unmännlichen 
Mannes.  Eines  Tages  verschwindet  sie  mit  Pierre,  der  bei  dem 
Paar  zu  Besuch  geweilt  hatte. 

Franrois  versucht  im  Verkehr  mit  Dirnen  seine  Männlich- 
lichkeit  zu  erringen,  aber  vergeblich,  endlich  findet  er  eine  Art 
Gynander,  eine  Dirne,  die  wie  ein  Jüngling  aussieht,  die  imstande 
ist,  ihn  wochenlang  zu  fesseln,  da  sie  sich  mit  anderen  Lieb- 
kosungen, als  den  normalen,  deren  Francois  unfähig  ist,  begnügt 
und  daran  Freude  findet.  Aber  auch  sie  verläßt  ihn  eines  Tages, 
um  einem  kräftigen  Manne  zu  folgen. 

Francois  verweichlicht  immer  mehr,  das  Weib  wird  ihm  völlig 
zum  Ekel,  nur  männliche  Statuen  erregen  noch  sein  Interesse,  im  An- 
legen von  Weiberkleidern  und  Schmuck  findet  er  sein  Vergnügen. 
Aber  den  männlichen  Liebkosungen  will  er  sich  nicht  mehr  hin- 
geben, er  fuhrt  einen  K«ampf  gegen  sich  selbst    Eines  Tages  er- 


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—     627     — 

hält  er  einen  Brief  von  Pierre,  der  ihm  traurig  und  reuig  seine 
,,Rückkehr  zu  dem  einzigen  Herzen,  das  ihn  geliebt,  zur  einzig 
wahren  Schönheit  meldet."  Fraii^ois  weiß,  daß  er  seinem  Trieb 
nicht  wird  widerstehen  können,  daß  er  in  Pierres  Arme  sinken 
wird.  Aber  er  will  meinem  als  schimpflich  empfundenen  Trieb 
entfliehen  und  tötet  sich. 

Ein  zerfahrenes,  stellenweise  an  das  Pornographische 
grenzende,  wenig  empfehlenswertes,  jedenfalls  verfehltes 
Buch,  dieses  „verfehlte  Mädchen." 

Was  Verfasser  beabsichtigt  hat,  bleibt  unklar.  War 
es  die  Sittenschilderung  jugendliclier  Laster,  so  verdient 
sie  den  Vorwurf  der  Unwahrheit  und  Übertreibung.  Wenn 
auch  in  mauchen  Instituten^  unerfreuliche  Zustände  in 
geschlechtlicher  Beziehung  herrschen  mögen  —  mir  selbst 
sind  in  meiner  Jugend  ähnliche  Verhältnisse  nicht  bekannt 
geworden  — ,  so  zweifle  ich  doch,'  daß  es  Institute  gibt, 
worin  eine  derartige  Mißwirtschaft,  eine  derartige  Parodie 
der  Liebe  zwischen  Knaben  existiere. 

Diese  Unwahrheit  wäre  verzeihlich,  wenn  die  Schil- 
derung der  Sittenzustände  wenigstens  eine  künstlerische 
Verkörperung  gefunden  hätte,  etwa  in  der  romantischen 
überlebensgroßen  Zola-Manier;  statt  dessen  jeder  Mangel 
packender  Formung,  ein  kleinhches  Haftenbleiben  an 
den  unsauberen  Irrungen  des  Helden,  um  den  sich  die 
Gesamtdichtung  dreht. 

Kher  als  eine  Sittenschilderung  könnte  man  geneigt 
sein,  das  Buch  als  eine  Studie  der  unheilvollen  Wirkungen 
der  Jugendsünden  auf  die  spätere  Lebensgestaltung  des 
,,Helden"  aufzufassen.  Aber  wie  schon  der  Titel  aus- 
drückt, wird  er  gar  nicht  erst  durch  Versuchungen  oder 
schlechte  Gewohnheiten  homosexuell,  sondern  er  hat  seine 
Homosexualität  mit  auf  die  Welt  gebracht.  An  ver- 
schiedenen Stellen  weist  Verfasser  auf  den  Zwiespalt 
zwischen  seiner  weiblichen  Seele  und  seinen  Organen,  auf 
sein  weibisches  Fühlen  und  seinen  männlichen  Körper  hin. 

40* 


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sexuell  geborene  Mann,  der  schon  vor  dem  Eintritt  in 
das  Institut  von  männlichen  Liebkosungen  träumte,  nie- 
mals zu  den  Liebestaten  des  echten  Mannes  befähigt 
gewesen. 

Berechtigt  somit  war  nur  die  Charakterisierung  des 
verfehlten  Mädchens,  wie  auch  die  Schilderung  der  Dis- 
harmonie und  des  Unglücks  des  geborenen  Homosexuellen, 
der  nicht  wie  die  übrigen  Schüler  in  lasterhafter  Sinn- 
lichkeit und  geschlechtlichen  Spielereien  aufgehen  kann, 
sondern  dazu  verdammt  ist,  sein  Leben  lang  ein  unerreich- 
bares Ideal  zu  verfolgen,  der  schon  in  der  Jugend  nach 
Liebe  lechzt  und  sie  nicht  bei  den  lasterhaften  Kameraden 
und  noch  weniger  später  bei  dem  Weib  finden  wird. 
Schließlich  enthalten  auch  einige  Stellen  manche  für  die 
Psychologie  des  jugendlichen  üraniers  verständnisvolle 
Züge,  die  ein  gewisses  Interesse  beanspruchen.  Völlig 
unnütz  und  überflüssig  war  es  aber,  wenn  man  von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  das  Buch  betrachtet,  zwei 
Drittel  des  Romanes  mit  der  breiten  Schilderung  ge- 
schlechtlicher Kinderfreuden  auszufüllen;  sollte  nicht 
dadurch  der  Gedanke  nahe  gelegt  werden,  daß  es  dem 
Verfasser  um  unlautere  Nebenabsichten  zu  tun  war,  ein 
Gedanke,  den  die  scheußliche  Umschlagszeichnung  —  ein 
lüsterner,  behäbig-häßlicher  Mönch,  der  einen  schönen 
Knaben  auf  dem  Schoß  hält  —  verstärkt. 

Siegfried,   Freuiidesmimie.      Zehn   Gedichte.     Druck 
von  Reichardt,  Groitsch  i.  S. 

Das  beste  ist:  „Des  Freundes  Antlitz",  eine  ziemlich  im- 
nnutige  und  anziehende  Beschreibung  der  Reize  des  Freundes. 

Die  übrigen  Gedichte  enthalten  fast  alle  teils  recht 
holperige,  teils  banale  Verse  und  hätten  eine  VeröflFent>- 
lichung  kaum  verdient. 


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—     629     — 

Stadler,  £mst,  Frenudlnnen«    Ein  lyrisches  Spiel,  im 
„Magazin  für  Literatur",  2.  Februarlieft,  1904. 

Unter  dem  Einfluß  der  mondbeglänztcn  herrlichen  Sommer- 
nacht und  ihrer  aufkeimenden  Sinnlichkeit  sinken  sich  die  Freun- 
dinnen Silvia,  die  15 jährige,  und  Bianca,  die  18jährige,  liebe- 
lechzend in  die  Arme: 

„0  komm!     Das  Leben  bräutlich  glühend  winkt 
Uns  zu  und  lockt.     Die  Fesseln  sind  gerissen  . .  . 
Hörst  du  des  Windes  Wiegen  in  den  Zweigen 
Und  brünstig  dunkle  Stimmen  schwüler  Nacht 
Und  Geigenklang?    Das  ist  der  Hochzeitsreigen, 
Der  uns  mit  Spiel  und  Singen  heimgebracht. 
Fühlst  du  das  Leuchten,  das  am  Esti-ich  schaukelt, 
Von  spätem  Ampelglühen  und  dem  Glanz 
Des  weißen  Monds?    Das  ist  der  Fackel  tanz. 
Der  unsre  Hochzeitsnacht  flatternd  umgaukelt!" 

Das  Gedicht  in  seiner  musikalischen,  poesievollen 
Sprache,  yoU  hinreißenden  Schwungs  und  prächtiger, 
glutvoller  Empfindung,  zaubert  die  ganze  Atmosphäre  der 
berückenden  Sommernacht  mit  ihren  berauschenden 
Düften,  Tönen  und  Bildern  vor  Augen,  unter  deren 
schwülem  Hauch  die  sprossenden  Jugendtriebe,  die  jung- 
fräulichen „Sehnsüchte'^  auflodern. 

„Es  lebt  ein  Hauch  von  wilden,  grenzenlosen 
Sehnsüchten  durch  den  Einklang  dieser  Lieder, 
Und  ringsum  glüht  und  strömt  der  weiße  Flieder 
Und  mischt  betäubend  sich  dem  Duft  der  Rosen. 
Wenn  weit  die  grauen  Stämme  dampfend  gluten. 
Wie  rotgeschweißtes  Erz,  Scharlach umronnen, 
Und  alle  Brunnen,  funkenübergossen, 
In  heißen  Güssen  schluchzend  sich  verbluten. 

Dann  tönt  so  wund  und  weh  ihr  dunkles  Rauschen 
Wie  Regen,  der  auf  welke  Blätter  rinnt, 
Wie  eine  Seele,  die  im  Flnstem  sinnt  .... 
Dann  könnt'  ich  Stunden  ihren  Liedern  lauschen." 

Auch  der  psychologisch -dramatische  Aufbau  zeigt 
künstlerisches  Feingefühl  in  der  geschickten  Steigerung 


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—     630     — 

der  erwachenden,  allmählich  wachsenden  Liebessehnsucht, 
die  unter  der  Wucht  der  glühenden  Leidenschaft  sich 
bis  in  die  Natur  hineinprojizierend  sinnliche  Gestalten  in 
den  feehaft  beleuchteten  Umrissen  vorgaukelt,  um  schließ- 
lich in  der  Umarmung  der  leibhaften  Freundin  ihr  end- 
liches Ziel  und  ihre  stürmische  Erfüllung  zu  finden. 

Das  Werkchen  des  kaum  20jährigen  Dichters  be- 
rechtigt zu  den  schönsten  Hoffnungen. 

Stangen,  £agen,  Antlnonslleder.  Mit  Anhang:  Die 
Insel  der  Seligen.  Zürich,  1903,  Verlag  von  Cäsar 
Schmidt. 

Die  48  Gedichte  tragen  alle  bis  auf  drei:  Im  Eilzug  (S.  37), 
Warum  (S.  38)  und  Blauleuchtende  Hortensienblöten  (S.  52)  homo- 
sexuellen Charakter.  Verschiedene  Gruppen  lassen  sich  unter- 
scheiden : 

I.  Das  Leid  der  verpönten  Liebe,  das  Aufbäumen  gegen 
die  Vorurteile  der  feindseligen  Welt  bringen  zum  Ausdruck  gleich 
das  £inleitung8gedicht: 

1.  Antinous  mein  Gott. 

2.  Sünde  (S.  11). 

3.  Mit  roten  Verben en krönen  (S.  24). 

4.  In  deiner  Liebe  (S.  43). 

5.  Gassenkönig  (S.  42). 

6.  Narkissos  (S.  51). 

Auch  für  die  Uranier  nahen  bessere  Zeiten: 

„Die  Schuld  ist  tot,  die  Liebe  atmet  frei, 
,Vae  victis*  gellt's,  ein  tausendkehliger  Schrei. 
Narkissos  siegt,  sein  Banner  weht  im  Licht  .  .  . 
—  Zum  Leben  reift,  was  jetzt  noch  Traumgesicht.** 

II.  Eine  zweite  Gruppe  von  Gedichten  ließe  sich  über- 
schreiben: Liebessehnsucht  und  Liebesträume. 

Der  Dichter  fühlt  sich  nicht  mehr  als  Verfehmter,  «eine 
Liebe  empfindet  er  nicht  als  die  geächtete,  verpönte;  er  sehnt 
sich  nach  der  Erfüllung  seiner  Wünsche,  nach  Liebe^glück  und 
Lebensfreudigkeit. 


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—     631     — 

1.  Meine  Sehnsucht  (S.  18). 

„Meine  Sehnsucht  ist  wild,  meine  Sehnsu 
Sie  steigt  in  die  tiefsten  Schächte, 
Sie  ringt  mit  dem  gi'oßeu  Entsagangslos 
Und  fordert  Antinousnächte.*' 

2.  Ein  Brief  blatt  (S,  19). 

3.  Ein  Prinzlein  war  es  .  .  .  (S.  20). 

4.  Sommernachtstriebe. 

5.  Wonnetraum. 

6.  Blütenelf  (S.  34). 

7.  In  den  Fittig  der  Sonne  (S.  35). 

8.  Aus  goldenen  Schalen  (S.  39). 

9.  Ein  Hauch  vom  Paradies  (S.  42). 
10.  Ijotoskranz. 

III.  Eine  dritte  Serie  von  Gedichten  schi 
des  Geliebten  und  das  genossene  Liebosglück, 
sinnlich  glühenden  Tonen. 

1.  Gottesdienst  (S.  8). 

2.  In  einer  Vollmondnacht  (S.  0). 

3.  Auf  goldner  Sonnenbahn  (S.  9). 

4.  Zwei  junge  Panter  (S.  14). 

5.  Herzblut  (S.  15). 

6.  Tiger  (S.  16). 

7.  Saul  (S.  17). 

8.  Brautnacht  (S.  22). 

9.  Es  soll  alles  wieder  blühen  (S.  23). 

10.  Komm  her  (S.  25). 

11.  Molluskenhand  (S.  27). 

12.  Das  ist  das  Einzige  (S.  28). 

13.  Wehre  nicht  (S.  30). 

14.  Minne  in  Minne  (S.  33). 

15.  Flut  (S.  40). 

16.  So  bin  ich  beseligt  (S.  41). 

17.  Guglielmo  (S.  50). 

IV.  Der  Dichter  verliert  den  Geliebten, 
dichte  schildert  seinen  Schmerz  und  seine  We 

1.  Salome  (S.  21). 

2.  Ein  Ring  (S.  44). 

3.  Strandgut  (S.  45). 


4.  Lau  mich  (S.  46). 

5.  Erscheinung  (S.  48—49). 

6.  Manchmal  im  Traum  (S.  55). 

Der  Geliebte  hat  in  anderen  Armen  das  Glück  ge- 
sucht. 

7.  Antinous  (S.  55). 

V.    Drei  Gedichte  schildern  fremde  homosexuelle  Gefühle. 

1.  Caesarion  (S.  12). 

Die    Liebe    zwischen    Friedrich    dem    Großen    und 
Caesarion. 

2.  Es  war  einmal  ein  König  (S.  31). 

Anspielung  auf  das  Schicksal  Ludwig  IL  von  Bayern. 

3.  Simon  Johanna  hast  du  mich  lieb  (S.  32). 

Auch  Stangens  Gedichte  wie  diejenigen  von  Hamacher 
und  Brand  sind  nicht  dichterische  Spielereien  mit  anor- 
malen Trieben,  sondern  Ausfluß  eigensten  Empfindens. 
Diese  sentimentale  Gestaltung  der  homosexuellen  Leiden- 
schaft beschäftigt  den  Dichter  nicht  allein,  auch  vor  der 
Ausmalung  der  sinnlichen  Glut,  des  in  der  Erfüllung 
seiner  Wünsche  schwelgenden  Liebesdranges  schreckt  er 
nicht  zurück.  Einige  Gedichte  gehen  sogar  ziemlich  weit 
in  dem  geschlechtlichen  Moment,  unter  andern  z.  B.  das 
gewagte  Gedicht:  „Molluskenhand." 

Stangens  Poesie  legt  mehr  Zeugnis  von  guten  Willen, 
als  von  echter  dichterischer  Begabung  ab. 

Der  Rythmus  und  die  Metrik  wandeln  oft  recht 
holprige  Bahnen.  Nicht  schlecht  gelungene,  teilweise 
hübsche  Sachen  wechseln  oft  mit  weniger  schönen  Ge- 
dichten, in  denen  unpoetische  Wortstellungen,  prosaische 
Verse,  poetisch-banale  Strophen  auffallen. 

An  die  Gedichtsammlung  schließt  sich  eine  Novelle  in 
Prosa  an: 


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—     633     — 
Dlo  Insel  der  Seligen. 

«Woldemar  Lindt,  der  Dichter,  besucht  ei 
Insel  in  der  Havel,  —  die  Insel  der  Seligen  - 
Zeit  in  Abgescliiedenheit  und  Einsamkeit  sein 
gessen.  Das  Einzige,  was  er  auf  der  Welt  liel 
gestorben,  seine  Frau  betrügt  ihn  mit  ihrem  Vi 
hat  Woldemar  an  Selbstmord  gedacht,  um*  au 
entsetzlichen  Ehe  zu  entfliehen. 

Horst,  der  „unheimlich  schöne'^  Kellner 
Wirtschaft,  in  der  Woldemar  absteigt,  erre 
Beide  fühlen  sich  zueinander  hingezogen.  Wol 
Zutrauen  von  Horst,  der  ihm  sein  Lebensschicl 

Nach  Verbüßung  einer  fünflährigen  GefS 
Totschlags,  den  er  in  einer  Zornesaufwallung  a 
seiner  Geliebten  verübt,  wandten  sich  Familie 
ihm  ab,  und  so  mußte  er,  um  nicht  zu  verhuuj 
der  Wirtschaft  auf  der  einsamen  Insel  annehm 

Woldemar,  der  jetzt  Horst  völlig  kennt 
erduldet,  wird  sich  klar  über  das  seltsame  Gefü 
kiimpft  und  das  er  sich  nicht  erklären  konnte. 

Freund  und  Geliebter  soll  ihm  Horst  sein 

„Ich  liebe  dich,  Horst",  bricht  er  aus,  „i 
ich  bisher  nie  geliebt  habe,  viel,  viel  stärker  u 
je  das  Weib  geliebt  habe.    Und  wenn  das  Sür 

„Sünde?'*  Wie  ein  heller,  jubelnder  Schre 
von  Horsts  Mundo.  „So  laß  es  doch  Sünde  sc 
nur  in  den  Himmel  führt."  Er  stürzt  Wolden 
umklammert  seine  Knie. 

„Wir  sind  beide  durch  Staub   und   Sündi 
und  Jammer  gegangen,  wir  sind  beide  über 
gekommen."      „Ja,    wir  sind  über   das  Weib 
Aber   würde  je    ein    Weib    auch    so   gehandel 
Woldemar?    Nie!" 

Seine  Augen  streben  in  des  Freundes  Bli 
Antinous!  Wie  einst  Hadrian,  der  Despot,  we 
durch  die  Liebe  zu  seinem  Liebling,  so  jetzt  ic 

Woldemar  zieht  den  Freund  empor,  an  s< 
Herz.     „Ja,  wie  Hadrian  und  Antinous,  wir  hi 

Die  Freunde,  die  sich  endlich  in  ihrem  e 
funden,  sie  dünken  sich  am  Ziel  aller  Wünsch 
auf  dem  Gipfel  der  Seligkeit. 


schön  diese  Stunde",  da  springt  Woldemar  jäh  empor.  „Zum 
Sterben  schön,  sagst  du?  Ja,  du  hast  Recht.  Die  Welt^  die 
kleine,  hämische  Welt  von  heute,  würde  in  ihrem  Unverständnis 
uns  doch  zu  Tode  hetzen  —  sie  hätte  für  unser  heiliges,  großes 
Lieben  nur  Steinwürfe  und  Geißelhiebe.  Komm,  mein  Geliebter, 
komm  —  — " 

Beide  sind  entschlossen  zu  sterben,  sie  legen  ihre  Kleidung 
ab  und  nackt,  festumschlungen  steigen  sie  in  die  Fluten,  in  den 
freiwilligen  Tod. 

Höher  als  Stangens  Gedichte  schätze  ich  seine  poesie- 
volle Prosa.  Überhaupt  ist  die  interessanteste  Seite  der 
Novelle  der  Stimmungsgehalt  und  das  poetisch  Male- 
rische. 

Besonders  über  die  Schlußszene  breitet  sich  Böcklin- 
sche  Stimmung,  über  das  Bild  dieser  zwei  Männer,  Schiff- 
brüchigen des  Lebens  und  der  Frauenliebe,  die  sich  in 
inniger  Männerliebe  finden  und  der  Welt  entfliehend,  in 
der  hellen  Mondnacht  eng  umschlungen,  hüllenlos  in  die 
silbernen  Fluten  hinabgleiten. 

Das  Psychologische  dagegen  steht  auf  schwachen 
Füßen. 

Zunächst  kann  Horst  sein  Unglück,  seine  Achtung 
gar  nicht  auf  Konto  getäuschter  Liebe  setzen,  sondern 
nur  auf  einen  bösen  Zufall,  die  Hartherzigkeit  seiner 
Familie,  die  Vorurteile  der  Welt  machten  ihn  zum  Aus- 
gestoßenen, also  nicht  über  das  Weib,  sondern  yielmehr 
über  sein  unglückliches  Schicksal  hinweg  gelangt  er  zur 
Homosexualität.  Die  Entwicklung  und  der  Ausbruch 
der  konträren  Liebe  von  Horst  und  Lindt  muß  man 
dem  Verfasser  aufs  Wort  glauben,  den  Beweis  ihrer 
Notwendigkeit  und  Wahrscheinlichkeit  ist  er  schuldig 
geblieben. 

Die  Anziehung  der  beiden  Weltmüden,  das  homo- 
sexuelle Gefühl,  in  das  ihr  Lebenslos  mündet,  sind  wohl 
eher  symbolistisch  für  die  Seelenverwandtschaft  und  den 


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-     635     — 

Schicksalsparallelismiis  beider  Enterbten 
verstehen.  Die  verfehmte  Liebe,  die  si 
sie  nicht  bedeuten  den  passenden  Port 
Refugium  für  die  Weltverstoßenen,  wo] 
um  in  ihr  gegenseitiges  Mitleiden,  Tr< 
und  die  Kraft  zum  befreienden,  weltübe 
zu  finden? 

yiylen,  Ren6e,  1.  Sapho.    Traduction 
texte  grec.     2.  Evocations.     Paris, 

Die  wenigen  erhaltenen,  der  Dichteriu 
geschriebenen  Bruchstücke  —  im  Urtext  um 
Übersetzung  abgedruckt  —  werden  paraphrac 
weniger  langen  Gedichten. 

Auch  die  von  Swinbume  durch  Sapphos  G« 
Verse  —  in  englischem  Text  und  französische 
hat  Vivien  beigefügt. 

In  dem  Gedichtband  „Evocations"  wil 
Leidenschaft  und  ihre  verschiedenen  G( 
Auge  zaubern.  Die  Gedichte  haben  in 
ungefähr  denselben  Charakter,  die  Verse 
tönender,  abgeklärter,  angenehmer  Sprac 
im  allgemeinen  etwas  kraft-  und  farbl« 
etwas  fade  Milch  gereicht,  wo  man  ^ 
erwarten  durfte.  Mehr  Temperament, 
hätte  man  gewünscht. 

Den   meisten   Gedichten    aus   „Evo« 
Frauen  besingen,  sieht  man  an  sich  dei 
Charakter  nicht  an,   sie  sind  nur  homos 
Verse  gleichsam  der  Dichterin  Sappho  in 
werden. 

In  einigen  dagegen  tritt  offen  die  1 
Frau  zu  Frau  aus  dem  Gedicht  selbst  ] 
in  Salto  (S.  70);  Gorgo  (S.  83);  Soir  (S.  9 
(S.  107);  La  Faunesse  (S.  137);  Les  Noyf 


Beide  letzteren  Gedichte  gehören  mit  zu  den  hesten 
der  Sammlung  und  sind  von  kräftigeren,  temperament- 
volleren Akzenten. 

Ein  interessantes  Sonett  —  Sonett  k  l'Androgyne  —  erinnert 
ein  wenig  an  Theophile  Gautiers  berühmtes,  durch  den  Anblick 
des  Hermaphroditen  im  Louvre  veranlaßtes  Gedicht  in  ,,Emaux 
et  Cam^es": 

Souris,  Amantc  blonde,  ou  reve  sombre  araant, 
Ton  Stre  double  attire,  ainsi  qu'un  double  aimant, 
Et  ta  chair  bi-üle  avec  l'ardeur  froide  d'une  cierge 
Mon  coeur  ddconcert^  se  trouble  quand  je  vois 
Ton  front  pensif  de  prince  et  tes  yeux  bleus  de  vierge, 
Tantöt  Tun,  tantöt  l'Autre,  et  les  Deux  ä  la  fois. 

Wedekind,  Frank,  Mlne-Haha  oder  Über  die  körper- 
liche Erziehung  der  Jungen  Mädchen.  München, 
1903,  Albert  Langen. 

Die  phantastisch-parodistische  Erzählung  von  den  Mädchen, 
die  in  einem  Haus  mitten  in  einem  Pai'k  hauptsächlich  zum  Tanz 
erzogen  werden,  enthält  vielleicht  homosexuelle  Andeutungen  (z. 
vgl.  S.  58—59).  Das  häßliche  Mädchen,  Margaretha,  die  ihr  ganzes 
Leben  nicht  aus  dem  Park  herauskam,  weil  sie  zu  einem  an- 
dern Mädchen  gegangen  ist,  als  sie  ein  Rind  war. 

Bei  Wedekind  ist  man  jedoch  nie  recht  sicher,  ob 
man  den  richtigen  Sinn  erraten  hat. 

Willy,  Clandlne  s'en  ra.  Roman.  Paris,  1903,  Ollen- 
dorf. 

Willy  setzt  in  diesem  IV.  Band  die  Lebensgeschichte 
seiner  ausgelassenen  urwüchsigen  Claudine  fort.  Das 
Homosexuelle  tritt  im  Gegensatz  zu  den  früheren  Bänden 
in  den  Hintergrund  und  Claudine  selber  spielt  nicht  mehr 
die  Homosexuelle. 

Auf  die  Geschichte  —  in  Tagebuchfonn  —  einer  Jungver- 
heirateten Frau,  der  bescheidenen,  schüchternen,  zurückgezogenen 
Annie  und  ihre  Charakterumwandlung  konzentriert   sich  das  In- 


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—     637     — 

teresse.  Anoies  Ehemann  Alain  hat  eine  Reise  nach  Amerika 
angetreten  und  seine  junge  Frau  zu  Hause  zurückgelassen,  nicht 
ohne  sie  mit  den  eingehendsten  VerhaltungsmaBregeln  verschen 
zu  haben.  Besonders  vor  allzu  großer  Intimität  mit  dem  Ehepaar 
Renaud-Claudine  hat  er  sie  gewarnt.  Aber  durch  ihre  Schwägerin 
Martha,  eine  Bekannte  Ciaudine's,  wird  Annie  auch  mit  dieser 
näher  befreundet.  Im  modischen  Bad  und  später  in  Bayreuth 
treffen  Annie  und  Marthe  auch  mit  Claudine  zusammen. 

Annie  hat  ihren  Mann,  den  sie  seit  ihrer  Kindheit  kannte, 
zu  lieben  geglaubt.  Er,  ein  positiver,  kühler,  jeder  Leidenschaft 
abholder  Ordnungsmensch,  hat  Annie  stets  als  willenloses  Wesen, 
als  Kind,  als  unterwürfige  Gattin  behandelt.  Sie  hat  nie  gewagt, 
einen  Willen,  einen  selbständigen  Impuls  zu  haben.  Er  hat  sie 
nie  in  iliren  Gefühlen  verstanden,  nicht  einmal  ihre  zurückgedrängte 
Sinnlichkeit  zu  befriedigen  gewußt. 

Der  Umgang  mit  ihrer  Schwägerin,  der  skrupellosen,  be* 
rechnenden  Marthe  und  besonders  mit  der  übermütigen,  temp&: 
ramentvoUen  Claudine.  sowie  die  Abwesenheit  von  ihrem  Gatten,  der 
ihr  in  anderem  Lichte  wie  bisher  erscheint,  bewirken  eine  Um- 
wandlung in  ihrem  Charakter.  Ihre  Individunlität  entwickelt  sich, 
ihr  Liebesbedürfnis  erwacht  und  ihr  Herz  und  ihre  Sinne  sehnen 
sich  nach  einer  gleichempfindenden  Seele.  Mitten  in  der  aus- 
gelassenen Gesellschaft  bewahrt  Annie  eine  gewisse  Unschuld 
und  Naivität.  Von  dem  früheren  Verhältnis  Claudines  und  Rezis 
weiß  sie  nichts;  sie  versteht  nicht  die  Andeutungen ^  die  Marthe, 
die  exzentrische  Calliope  und  Claudine  über  Rezi  wechseln.  Auch 
sonst  ist  ihr  Manches  in  den  gewagten  Gesprächen  der  drei 
Frauen  fremd. 

Annie  erfahrt,  daß  ihr  Gatte  sie  früher  mit  einer  ihrer  Be- 
kannten betrogen.  Sie  ist  entschlossen,  sich  von  ihm  zu  trennen. 
Bei  Claudine,  die  ihr  Vertrauen  und  ihre  Zuneigung  gewonnen, 
sucht  sie  Rat. 

Claudine  ist  ganz  von  der  Liebe  zu  ihrem  Manne  gefangen 
genommen,  beide  sind  ineinander  verliebt,  wie  am  Tage  der  Ver- 
lobung. Diese  Liebe  gibt  ihr  die  Kraft,  die  reizende  Annie  nicht 
zu  verführen,  obgleich  sie  in  Bayreuth  fast  der  Versuchung  unter= 
legen  wäre.  Aus  der  Ferne  gesteht  Claudine  der  Freundin  das 
Gefühl,  das  sie  in  ihr  erweckt: 

„Wie  sehne  ich  mich  nach  Ihnen,  Annie,  die  rosenduftende! 
Sie  müssen  mir  nicht  grollen.  Ich  bin  nur  ein  armes,  die  Schön- 
heit, die  Schwäche  und  das  Zutrauen  liebendes  Tierchen,  und  ich 
habe  Mühe,  es  zu  begreifen,  daß  ich,  wenn  ein  Seelchen  wie  das 


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—     638     — 

Ihrige,  auf  mich  sich  stützt,  wenn  ein  halb  geöffneter  Mund,  wie 
der  Ilirige,  nach  meinem  sich  neigt,  nicht  beide  mit  einem  Kusse 
verschließen  soll.  Ich  verstehe  es  nicht  sehr  gut,  sage  ich  Ihnen, 
obgleich  man  mir  es  erklärt  hat.  Man  hat  Ihnen  wahrscheinlich, 
Annic,  von  mir  und  einer  Freundin  gesprochen,  die  ich  zu  ein- 
fach ,  zu  völlig  liebte.  Es  war  ein  böses  und  reizendes  Mädchen, 
diese  Rezi,  die  zwischen  Renaud  und  mich  ihre  blonde,  nackte 
Grazie  stellen  wollte  und  die  lieblose  Freude  sich  zu  ver- 
schaffen suchte,  uns  beide  zu  verraten.  Ihretwegen  habe  ich  Re- 
naud —  und  auch  Claudiue  —  versprochen,  zu  vergessen,  daß  es 
hübsche,  schwache  und  verlockende  Kreaturen  geben  kann,  die 
eine  Geste  von  mir  zu  entzücken  und  zu  unterjochen  vermöchte. 

Ich  küsse  von  den  Lidern  bis  zum  Kinn  Ihr  Antlitz  .... 
Aus  so  weiter  Feme  verlieren  die  Küsse  ihr  Gift  und  ich  kann 
einen  Augenblick  ohne  Reue  unsem  Traum  in  Bayreuth  weiter 
verfolgen"  (S.  259—62). 

Später  besucht  Claudine  Annie.  Sic  rät  ihr  entschieden, 
ihren  Mann  zu  verlassen,  da  die  ihn  nicht  liebe,  und  auf  die 
wahre  Liebe  zu  warten,  die  sicher  ihr  begegnen  wird.  Claudine 
fühlt,  daß  Annie  bereit  wäre,  diese  Liebe  bei  Claudine  zu  finden. 
Aber  sie  darf  und  will  nicht  Annies  Neigung  nachgeben. 

Beide  Freundinnen  trennen  sich.  Claudine  selber  wii'd  sich 
von  der  Welt  und  ihren  Freundinnen  zurückziehen  und  nur  ihrem 
Renaud  leben.  Annic  wird  sich  von  Alain  trennen,  in  der 
weiten  Welt  umherirrend,  das  Glück  und  die  Liebe  suchen,  die 
sie  noch  nicht  gefunden. 

„Claudine  s'en  va."  Die  frühere  Homosexuelle 
Claudine  verschwindet,  wandelt  sich  um,  so  könnte  man 
den  Titel  deuten.  Die  große,  alles  verzehrende  Liebe 
Claudines  zu  ihrem  Gatten  hat  die  homosexuelle  Neigung 
überwunden,  hat  ihr  die  Kraft  der  Entsagung  gegeben, 
selbst  dann,  als  die  jugendlichen  Reize  der  schönen 
Annie  sie  locken  und  ein  ZugriflF  genügte,  um  die  frische 
Frauenblüte  zu  pflücken.  Nur  geringen  Kampf  kostet 
ihr  die  Überwindung  der  homosexuellen  Empfindung;  im 
Guten  und  Schlechten  stets  instinktiv  und  impulsiv 
handelnd,  drängt  ihre  Leidenschaft  zu  Renaud  ihre  auf- 
keimenden Begehrungen  zurück  und  macht  die  Untreue 
zur  Unmöglichkeit. 


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—     639     - 

Und  wie  die  flammende  Liebe  zam  Gatten  den  Aus- 
bruch der  unter  der  Asche  lodernden  Glut  der  homo- 
sexuellen Lockungen  zurückdämmt,  so  lassen  der  Mangel 
echte^  Liebe  die  Ode  und  Leere  in  Annies  Seele,  ihr 
ungestilltes  Liebesbedürfnis,  ihre  Sehnsucht  nach  liebe- 
vollem Verständnis  sie  zur  leichten  Beute  gleichgeschlecht- 
licher Neigung  werden,  bringen  eine  Umwandlung  in 
ihren  Gefühlen  hervor  und  führen  sie  widerstandslos  den 
Armen  einer  Freundin,  den  Gefilden  Lesbos  zu. 

Willy  betrachtet  in  diesem  vierten  Roman  seiner 
Claudine-Serie,  wie  in  den  drei  früheren,  die  gleich- 
geschlechtliche weibliche  Liebe  mit  entschuldbarem  Lächeln, 
mit  freundlicher  Milde.  Sie  erscheint  ihm  als  eine  bei  jeder 
Frau  zu  erwartende,  psychologische  Möglichkeit,  als  eine 
gleichsam  in  dem  normalen  Bereich  der  Leidenschaft 
liegende  Neigung.  Sie  ist  ihm  weder  Perversion,  noch 
Perversität,  vielmehr  eine  Art  natürliche  Modifikation  der 
Empfindungsweise  der  normalen  Frau. 

Die  lesbischen  Motive  bieten  Willy  willkommene 
Gelegenheit  zu  psychologischen  Finessen  und  pikanten 
Situationen,  ohne  daB  er  sich  kümmerte,  ob  seine  Dar- 
stellung der  Wirklichkeit  entspricht  und  ob  die  logische 
Charakterentwicklung  darunter  leidet.  Auch  „Claudine 
s'en  va"  erfreut  durch  die  sprudelnde  Verve,  durch  die 
ergötzlichen,  oft  an  das  Karikaturhafte  streifende 
Momentphotographie  der  Personen  mit  ihren  Gesten  und 
Reden,  durch  die  gewürzte,  saftige  Sprache  der  welt- 
männischen Pariser  und  Pariserinnen.  Willys  Virtuosität 
und  geistreiches  Talent  verführt  ihn  allerdings  manchmal 
übers  Ziel  zu  schießen  und  artet  in  die  Sucht  zu  ver- 
blüffen und  in  das  unverkennbare  Streben,  den  Gaumen* 
mit  seltenen  Leckerbissen  zu  kitzeln,  aus. 

Die  mäDDliche  Homosexualität  wird  nur  an  einör  Stelle 
gestreift,  in  dem  witzsprühenden,  pöbelhaft  geistreichen  Brief  des 


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—     640     — 

Mneikkritikers  Mangis.     Er  erzählt  von  eiDcm  serbischen  Journa- 
listen, der  Gewohnheiten  k  la  Cambacer^s  gehabt  habe. 

Cambac6rfe8,  der  bekannte  Minister  Napoleon  I.  und 
einer  der  Hauptredaktoren  des  Code  civil  soll  homosexuell 
gewesen  sein. 

Beyerleln,  Franz  Adam,   Jena  oder  Sedan?     Berlin^ 
1903,  Vita. 

Inmitten  der  Nacht  und  Schattenseiten  des  Militaris- 
mus, die  Beyerlein  in  seinem  vielbesprochenen  Roman 
vor  Augen  führt,  glänzen  auch  Lichtpunkte,  unter  denen 
besonders  erstrahlt  das  Herz  und  Gemüt  erhebende, 
rührende  Freundschaftsverhältnis  zwischen  dem  kräftigen 
Bauernburschen  Vogt  und  dem  schmächtigen  städtischen 
Schreiber  Klitzing.  Beyerlein  hat  meiner  Ansicht  nach 
dabei  nicht  an  Homosexualität  gedacht,  aber  die  umische 
Färbung  edelster  Art  läßt  sich  nicht  abstreiten. 

Gleich  am  ersten  Tag  ihres  Soldatenlebens  werden  die  beiden 
Burschen  Freunde.  Voigt  sucht,  wo  er  nur  kann,  den  unbe- 
holfenen, eben  erst  aus  dem  Krankenhaus  entlassenen  Klitzing 
beizaspringen.     Er  sorgt  für  ihn,    wie  eine  Mutter  für  ihr  Kind. 

Vogt  trägt  für  den  Kameraden,  den  die  Soldaten  „verhauen 
wollen",  einen  blutigen  Kopf  davon.  Aus  Dankbarkeit  und 
Rührung  umarmt  Klitzing  Vogt 

„Da  schlug  plötzlich  Klitzing  die  Arme  um  die  Schultern 
Vogts  und  küßte  den  Kameraden."  Und  Vogt  drückte  den 
schmächtigen  Schreiber  fest  an  sich  und  erwiderte: 

„Heinrich,  so  mach  doch  kein  Aufhebens  davon!  Du  bist 
doch  mein  lieber  Freund!"  (S.  153.)  Beide  meiden  die  Dirnen. 
„Begreifst  du,  was  die  andern  an  den  Frauenzimmern  finden?"  fragt 
Vogt  Klitzing.  Nein,  wahrhaftig  nicht.  Du  machst  Dir  wohl 
überhaupt  nichts  aus  Frauenzimmern."  Der  Schreiber  schüttelte 
^verneinend  den  Kopf. 

„Und  Du  Franz!"  erkundigte  er  sich.  „Ich  auch  nicht.  Jetzt 
wenigstens  nicht."  Es  war  bei  Beiden  die  Wahrheit.  Das  Leben 
war  ihnen  in  so  anhaltender  Arbeit  entflohen,  daß  sie  niemals  die 
Muße  ge'funden  hatten,  sich  mit  Liebeleien  abzugeben.  Und  was 
man  nicht  kannte,  vermißte  man  nicht"  (S.  282). 


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—     641     - 

Und  S.  401.  „Vogt  überlegte,  wie  merkwürdig  es  doch  war, 
daß  er  so  wenig  für  die  Franenzimmer  übrig  hatte.  Hin  und 
wieder  gefiel  ihm  wohl  ein  besonders  hübsches  Mädchen,  und  er 
hätte  es  auch  ganz  gern  recht  tüchtig  beim  Kopf  genommen  und 
geküßt,  aber  dazu  war  er  allemal  zu  schüchtern  und  bei  den  ge- 
malten Frauenzimmern  wollte  er  nicht  in  die  Lehre  gehen." 

Vogt  teilt  mit  dem  Freunde  die  Sendungen  des  Vaters,  er 
nimmt  ihn  mit  nach  Hause  in  Urlaub,  wo  Klitzing  zum  ersten 
Mal  in  seinem  Leben  wahres  Glück  empfindet. 

Um  den  in  die  Zugtaue  verwickelten  Vogt  vor  dem  Huf- 
schlag des  ausschlagenden  Pferdes  zu  retten,  stürzt  sich  Klitzing 
dazwischen  und  wird  tötlich  getroffen.  Vogt  möchte  alles  ver- 
suchen, um  den  Freund  dem  Tode  zu  entreißen.  In  rührender 
Naivität  denkt  er  daran,  durch  Einführung  des  eigenen  Blutes 
dem  Sterbenden  die  Gesundheit  wieder  zu  geben.  Aber  ELlitzing 
ist  verloren.  Seit  des  Schreiberleins  Tod  ist  für  Vogt  die  Freude 
am  Soldatenleben  vorbei;  stets  traurig  und  entmutigt  verrichtet 
er  seinen  Dienst,  seit  ihn  die  Nähe  des  Freundes  nicht  mehr 
erhellt 


Jahrbuch  VI.  41 


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Teil  III. 

Besprechungen. 

1.  Besprechungen  des  Jahrbuchs. 

Ärztliche  Zentralzeitung,  31.  Oktober  (Besprechung 
von  Bolgar). 

Beilage  der  Charlottenburger  Zeitung  Neue  Zeit, 
15.  Dezember. 

Breslauer  Morgenzeitung,  23.  März. 

Zentralblatt  für  Nervenheilkunde  und  Psychia- 
trie, 15.  Oktober  (Besprechung  des  Jahrbuchs  IV  von 
Flatau). 

Es  werde  Licht,  Januarnummer  1904. 

Die  Feder,  1.  September  und  1.  Oktober. 

General -Anzeiger  (Magdeburger  Tageblatt),  23.  Oktober. 

Literatar-  und  Unterhaltungsblatt  (Beilage  des 
Hamburger  Fremdenblattes),  10.  Oktober. 

Medice,  26.  August. 

Der  Mensch,  12.  Dezember  (Besprechung  von  Dr.  Kiefer). 

Monatsschrift  für  Soziale  Medizin,  Heft  3  (Be- 
sprechung von  Rechtsanwalt  Dr.  Fuld-Mainz). 

Betont  wird,  daß  die  früheren  zornigen  Auslassungen  über 
das  Erscheinen  des  Jahrbuchs  nachgelassen  hätten. 


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—     643     — 

Selbst  die  Gegner  der  Bestrebungen  müßten  anerkennen,  daß 
die  Aufsätze  des  Jahrbuchs  sich  jeder  Frivolität  fernhielten  und 
unter  dem  Gesichtspunkt  strengster  Wissenschaftlicbkeit  und  Sitt- 
lichkeit die  Probleme  erörterten.  Heute  werde  die  Existenz- 
berechtigung des  Jahrbuchs  kaum  noch  bestritten. 

Münchener  Medizinische  Wochenschrift,  2. Februar 
1904  (Besprechung  Ton  Bleuler-Burghölzli). 

Bleuler  stimmt  mit  Hirschfeld  darin  überein ,  daß  Über- 
sättigung unter  den  Ursachen  des  Uranismus  keine  Rolle  spiele* 
Dagegen  will  er  mehr  Urninge  von  wenig  lobenswerten  Charakter- 
eigenschaften als  Höherstehende  in  seiner  Praxis  getroffen  haben. 

Der  Naturarzt,  August  (Besprechung  Ton  Meienreis) 
und  Februar  1904  (Besprechung  von  Hans  Rau). 

Neue  Zeit,  Nr. 51, 21.  Jahrg.  (Besprechung  von  Kreowski). 

Neue  Medizinische  Presse,  20.  September. 

Psychiatrisch-Neurologische  Wochenschrift, 
24.  Oktober. 

Reformblätter,  Novembernummer,  Was  ist  Homo- 
sexualität? Aufklärende  Besprechung  der  Homo- 
sexualität an  der  Hand  der  Jahrbücher. 

Schmidts  Jahrbücher,  S.  107  u.  Januarnummer  1904, 
S.  110  (Besprechung  von  Möbius). 

Weekblad  van  Het  Recht,  4.  November. 

Wiener  Klinische  Wochenschrift,  25.  Oktober. 

Zukunft,  14.  November  (Selbstanzeige  von  Dr.  Hirsch- 
feld). 

2.  Besprechangen  des  „Urnischen  Menschen^^ 

Äskulap,  Beiblatt  der  Allgemeinen  Deutschen  üni- 
versitätszeitung,  1.  März  1904. 

Archiv  für  Kriminal-Anthropologie  und  Krimi- 
nalistik, Bd.  XII,  Heft  2  —  3,  (Besprechung  von 
Näcke). 

41* 


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—     644     — 

Archiv  für  physikalisch-diätische  Therapie,  in  der 
ärztlichen  Praxis,  Julinummer. 

Deutsche  Medizinal-Zeitung,  17.  August  (Besprechung 
von  Preuß). 

Deutsche  Warte,  ünterhaltungsblatt,  18.  Juni. 

Kampf,  Nr.  100  (Besprechung  von  Senna  Hoy). 

Magazin  für  Literatur,  zweites  Januarheft  1904  (Be- 
sprechung von  Gaulke). 

Medice,  2.  September. 

Der  Mensch,  17.  September. 

Monatsschrift  für  Psychiatrie  und  Neurologie, 
Bd.  XIV,  Heft  4  (Besprechung  von  Lilienstein- 
Bad  Nauheim). 

Enthält  zugleich  Besprechung  von  Blochs  „Beiträge  zur 
Ätiologie  der  Psychopathia  sexualis".  Referent  hält  Blochs  Er- 
klärung der  Homosexualität  aus  Variationsbedürfnis  für  unmög- 
lich. Blocks  Ansicht  dürfe  mehr  als  das  Resultat  eifrigen  {^ite- 
raturstudiums,  als  der  Erfahrung  und  Beobachtung  von  umranken 
aufzufassen  sein. 

Neue  Medizinische  Presse,  20.  Juli. 

Politisch-A.nthropologische  Revue,  November. 

Reformblätter,  Juli. 

Hervorgehoben  wird,  daß  wenn  nur  ein  Zehntel  aller  Arbeiter 
einen  ähnlichen  Charakter  hätten  wie  der  umische  Arbeiter, 
dessen  Biographie  Hirschfeld  mitteile,  es  keine  Arbeiterfrage  gäbe. 

Schmidts  Jahrbücher  (Besprechung  von  Möbius), 
(vgl.  oben). 

Unter  sämtlichen  obigen  Besprechungen  des  Jahrbuchs  und 
des  „Urnischen  Menschen"  ist  eigentlich  nur  eine,  die  von  Preuß 
in  der  Deutscheu  Medizinal-Zeitung,  die  sieh  den  Anschauungen 
Hirschfelds  nicht  in  dem  Kernpunkte  anschließt.  Allerdings 
widerspricht  Preuß  nicht  direkt,  er  hebt  sogar  hervor,  daß  man 
Hirschfelds  Anschauung  von  der  Entstehung  der  Homosexualität 


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—     645     — 

nicht  ohne  weiteres  unbeachtet  lassen  könne,  meint  aber,  man 
müsse  erst  abwarten,  bis  die  Wogen  der  Erregung  sich  gelegt 
und  eine  exakte  Forschung  sine  ira  cum  studio  Klarheit  ge- 
bracht habe. 

Irrtümlich  ist  die  Behauptung  von  Preuß,  daß  die 
meisten  von  Hirschfeld  untersuchten  Homosexuellen  den 
besseren  und  besten  Ständen  angehörten  und  nicht  minder 
falsch  die  bei  Preuß  anscheinend  vorhandene  Meinung, 
als  ob  im  Arbeiterstand  Homosexualität  seltener  wäre 
als  in  andern  Ständen.  Die  meisten  Verurteilungen  aus 
§  1 75  treffen  gerade  Leute  aus  den  Volkskreisen. 

Die  von  Hirschfeld  bekundete  Tatsache,  daß  in  Ländern 
ohne  Straf  bestimmung,  wie  Frankreich  und  Holland,  Homosexuelle 
weniger  zahlreich  seien  als  in  Deutschland,  will  Preuß  darauf  zu- 
rückfuhren, daß  gerade  verbotene  Früchte  am  süßesten  schmeckten. 
Höchstens  nur  aus  diesem  Grunde  würde  er  eine  Aufhebung  des 
§  175  für  nicht  unangebracht  halten. 

Die  größere  Anzahl  daher  gehöriger  Bezensionen  kannte  leider 
nicht  mehr  berücksichtigt  werden,  da  sie  zur  Zeit,  wo  dieser  Ab- 
schnitt der  Bibliographie  hergestellt  wurde,  aus  Anlaß  des  Prozesses 
gegen  Dr,  Hirschfeld  vor  Gericht  gelegen  hqiten.  Sie  werden  im 
Jahrbuch  VII  nachtragsweise  zur  Besprechung  gelangen. 


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Bild  aus  dem  Kopenhagener  „Verbrecheralbum": 
Ein  im  Jahre  1869  wegen  „widernatOrlicher  Unzucht"  verhafteter  Mann. 


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Jahresbericht  1903-1904. 


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Wiederum  halten  wir  in  fortschreitender  Bewegung 
kurze  Rast,  einerseits  um  zurückzublicken  auf  die  Strecke, 
die  uns  das  vergangene  Arbeitsjahr  vorangebracht,  anderer- 
seits um,  wie  der  Dichter  sagt,  rückwärtsblickend  vorwärts 
zu  schauen.  Noch  sind  wir  dem  Ziele  lange  nicht 
so  nahe  gekommen,  daß  wir  hoffen  dürften,  schon  bald 
die  Höhe  zu  ersteigen,  der  wir  entgegenstreben  und 
von  der  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  herunterleuchten. 
Noch  können  wir  nicht  einmal  sagen,  ob  das  größere 
Stück  Weg  vor  uns  oder  hinter  uns  gelegen  ist.  Wohl 
aber  dürfen  wir,  am  Meilenstein  der  Veröffentlichung 
eines  neuen  Jahrbuchs  angelangt,  uns  das  Zeugnis  aus- 
stellen, daß  wir  wieder  ein  Jahr  unverdrossen  fortgesetzter 
Arbeit,  beharrlich  weitergeführten  Kampfes,  aber  auch 
ein  Jahr  vielseitigen  Erfolges  zurückgelegt  haben. 

Ein   Jahr   unverdrossen   fortgesetzter  Arbeit!     Wir 
erwähnen  zuerst  der  Verbreitung  unserer  Petition,  die, 
dank  den  verhältnismäßig  reichlichen  Mitteln,  welche  uns 
dieses  Mal  zu  Gebote  standen,  in  einem  Umfang  versendet 
werden  konnte,  wie  es  uns  bisher  noch  niemals  möglich 
gewesen    war.      Wir    traten    zunächst    an    die    Schul- 
deputationen, die  Mitglieder  der  Provinzial-SchulkoUegien, 
sowie    sämtliche  Direktoren,  Rektoren  und  Lehrer  aller 
höheren    Unterrichtsanstalten    des    Reiches    heran    und 
gewannen  damit  für  die  Petition  einen  Zuwachs  von  un- 
gefähr 750  Unterschriften.    Eine  große  Zahl  dieser  neuen 
Unterschriften   war   wieder   von    bedeutsamen   Zusätzen, 
Äußerungen   des  lebhaftesten  Einverständnisses  und  der 


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—     650     — 

herzlichsten  Anerkennung  begleitet.  Wir  begnügen  uns 
damit,  nur  einige  wenige  davon  hier  zum  Abdruck  zu 
bringen : 

„HoflFentlicb  gelingt  es,  jene  Unglücklichen  vom  §  175  zu  be- 
freien, mit  den  Ausnahmen,  die  gerechter  Weise  zugestanden 
werden  müssen.  Einen  der  Unglücklichen  aus  hoher  Familie,  die 
mir  ans  Herz  gewachsen,  kenne  auch  ich  und  sehe  mit  Herzeleid 
auf  seine  vernichtete  Existenz,  die  er  an  der  Botschaft  in  Ruß- 
land, England  u.  s.  f.  sich  gegründet  hatte." 

„Ich  schließe  mich  umso  lieber  Ihren  Bestiebungen  an,  als 
ich  aus  eigener  Erfahrung  einen  frappanten,  ich  möchte  sagen, 
typischen  Fall  kenne,  durch  dessen  Verfolgung  eine  ganze  Familie 
in  bemitleidenswertes  Unglück  geraten  ist." 

„Bii^  völlig  mit  Ihren  Bestrebungen  hinsichtlich  Abschaffung 
des  §  175  einverstanden  und  zwar  auf  Grund  langjähriger  eigener 
Erfahrungen.     Verfügen  Sic  über  meinen  Namen." 

„Infolge  einer  7  wöchentlichen  Abwesenheit  im  Ausland  bin 
ich  leider  erst  heute  in  der  Lage,  Ihnen  dafür  danken  zu  können, 
daß  Sie  meine  Mitwirkung  zu  einem  so  verdienstvollen  Werke  in 
Anspruch  nehmen." 

„Durch  das  polizeiliche  und  gerichtliche  Verfahren  wird  leicht 
die  Sittlichkeit  mehr  verletzt,  als  durch  die  Straftat  selber." 

„Meine  an  sich  recht  wenig  bedeutende  Unterschrift  gebe 
ich  mit  der  freudigen  Genugtuung,  daß  bereits  eine  so  stattliche 
Zahl  glanzvoller  Namen  für  die  gute  Sache  eintritt,  in  der  sichern 
Hoffnung,  daß  die  kriminalistischen  Auffassungen  unseres  hervor- 
ragenden Strafrechtslehrers  Professors  von  Liszt  in  immer  größeren 
Kreisen  des  gebildeten  Bürgertums  Boden  gewinnen,  und,  von 
ihnen  getragen,  ihrer  praktischen  Verwirklichung  sich  nähern." 

„Ich  unterzeichne  gern,  schon  wegen  des  namenlosen  Un- 
glücks, welches  dieser  F*aragraph,  der  an  mittelalterliche  Institu- 
tionen erinnert,  verursacht  hat,  als  Zerstörung  der  Familie,  Mord 
und  Selbstmord." 

„Ich  gebe  meine  Unterschrift  um  so  lieber,  als  gerade  hier 
ein  solcher  Fall  vor  ein  paar  Jahren  vorgekommen  ist  und  durch 
die  Behandlung  in  der  Öffentlichkeit,  durch  Untersuchungen  usw. 
in   den  jugendlichen  Kreisen  viel  Unheil  angerichtet  hat.     Sogar 


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—     651     — 

kleine  Mädchen,  selbst  aus  den  ersten  Kreisen,  wurden  durch 
diese  öffentlichen  Verhandlungen  über  den  Fall  mit  Ausdrücken 
und  Vorgängen  bekannt  gemacht,  die  ihnen  sonst  wohl  zu  ihrem 
Heile  für  immer  unbekaimt  geblieben  wären.'^ 

„Ich  danke  Ihnen,  daß  Sie  es  mir  ermöglichen,  an  Ihrem 
ernsten  und  wichtigen  Werke  in  bescheidener  Weise  mitzuarbeiten. 
Seit  Jahren  bin  ich  mit  Ihren  Gedanken  und  Gründen  vertraut 
und  werde,  was  an  mir  liegt,  zu  ihrer  Verbreitung  beitragen." 

„Da  ich  unter  anderen  Fällen  auch  einen  kenne,  wo  der 
Unglückliche  es  vorzog,  Selbstmord  zu  begehen,  statt  sich  dem 
Skandal  des  gerichtlichen  Verfahrens  auszusetzen,  so  begrüße  ich 
diese  humanitäre  Bewegung  für  Aufhebung  des  §  175  auf  das 
Herzlichst«  und  bitte  Sie,  meinen  Namen  in  die  Liste  aufzu- 
nehmen." 

„Mit  Vergnügen  ergreife  ich  die  Gelegenheit  bei  der  Um- 
änderung des  §  175  mitzuwirken,  dessen  Bedenklichkeit  sich  mir 
im  Prozesse  eines  erwachsenen  Schülers,  den  ich  vor  Gericht  zu 
beleumunden  hatte,  zur  Evidenz  bewies." 

„Indem  ich  micli  beehre,  dem  wissenschaftlich-humanitären 
Komitee  meinen  Dank  abzustatten  für  die  Möglichkeit,  meine 
Stellungnahme  zu  der  Bewegung  auf  Abschaffung  des  §  175  K.- 
Str.sG.-B.  zum  Ausdruck  zu  bringen,  hege  ich  den  Wunsch,  daß 
die  gesetzgebenden  Körperschaften  durch  eine  zeitgemäße  Änderung 
dieses  entsetzlichen  Paragraphen  der  Humanität  Rechnung  tragen 
werden." 

„Noch  bei  der  Erörterung  des  Falles  Krupp  gehörte  ich, 
völlig  unbekannt  mit  der  hier  in  Rede  stehenden  Materie,  zu 
denen,  die  an  die  Notwendigkeit  des  §  175  glauben.  Erst  nach 
dem  Tode  eines  edeln,  für  das  Schöne,  Wahre  und  Gute  be- 
geisterten Jünglings,  dem  die  Entdeckung  konträrsexueller  Nei- 
gungen den  Revolver  in  die  Hand  drückte,  sind  mir  die  Augen 
aufgegangen  und  übergegangen.  Ein  schwergebeugter  Vater  dankt 
dem  wissenschaftlich -humanitären  Komitee  für  sein  menschen- 
freundliches Wirken." 

Kurz  nach  Ostern  dieses  Jahres  versandten  wir  die 
Petition  zum  zweiten  Mal,  nnd  zwar  jetzt  an  sämtliche 
Ärzte  des  Reiches.  Wir  hatten  ihr  folgendes  Anschreiben 
beigefügt: 


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Hochgeehrter  Herr! 

Wir  gestatten  uns,  Ihnen  beifolgende  Eingabe  zu  unter- 
breiten,  welche  aufs  Neue  den  gesetzgebenden  Körperschaften 
vorgelegt  werden  soll.  Dieselbe  wurde  bereits  dem  letzten  Reichs- 
tage Überreicht  und  von  diesem  der  Regierung  als  Material  über- 
wiesen. Die  Regierung  verschließt  sich,  wie  wir  zuverlässig  mit- 
teilen können,  nicht  den  gewichtigen  Gründen,  welche  für  die 
Abschaffung  des  §  175  R.-Str.-G.-B.  sprechen.  Einer  ihrer  maß- 
gebendsten Vertreter  hat  uns  geraten,  die  öffentliche  Meinung  weiter 
aufzuklären,  damit  die  Regierung  verstanden  wird,  wenn  sie  selbst 
auf  die  Wiederaufnahme  des  verhängnisvollen  Paragraphen  in  das 
Strafgesetzbuch^  dessen  Revision  bevorsteht,  verzichtet. 

Da  sich  bereits  vor  Erlaß  des  jetzigen  Deutscheu  Reichs- 
strafgesetzbuches das  oberste  deutsche  Medizinalkollegium,  vor 
allem  Virchow  und  Langeubeck  energisch  gegen  die  Be- 
stimmung des  §  175  ausgesprochen  haben  und  auch  später  sämt- 
liche medizinische  Sachverständige, .  die  sich  eingehend  mit  Homo- 
sexuellen beschäftigt  haben,  zu  der  Überzeugung  gelangt  sind, 
daß  hier  eine  Konstitutions- Anomalie  vorliegt,  erlauben  wir  uns 
jetzt,  an  die  praktischen  Ärzte  mit  der  ergebensten  Bitte  heran- 
zutreten, ihre  wertgeschätzten  Unterschriften  den  Namen  der 
zahlreichen  hervorragenden  Persönlichkeiten  beifügen  zu  wollen, 
die  sich  aus  lautersten  Motiven  zur  Beseitigung  einer  unzeitgemäßen 
Inhumanität  zusammengefunden  haben. 

Außerdem  würden  wir  Urnen  auch  sehr  dankbar  sein  für  die 
Mitteilung,  ob  Sie  bereits  über  diese  Materie  Erfahrungen  zu  sammeln 
Gelegenheit  hatten,  namentlich  für  die  Mitteilung  daher  gehöriger 
Selbstmordfälle,  unglücklicher  Ehen  und  dergleichen,  überhaupt 
für  alle  Beiträge,  die  das  wissenschaftliche  Verständnis  dieser 
Frage  fordern  und  vertiefen  können. 

Mit  ausgezeichneter  Hochachtung  und  kollegialer  Wertschätzung 

für  das  wissenschaftlich-humanitäre  Komitee 

Dr.  med.  Hirschfeld.  Professor  Dr.  Karsch. 

Die  Anzahl  der  hierauf  eingegangenen  Unterschriften 
beläuft  sich  auf  über  2700,  ein  Erfolg,  der  als  über- 
aus erfreulich  bezeichnet  werden  muß,  namentlich  wenn 


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—     658     — 

man  bedenkt,  daß  der  Arzt,  falls  er  nicht  etwa  auf  Grund 
literarischer  oder  sonstiger  Spezialbeschäftigung  mit  der 
Homosexualität  ein  besonderes  Interesse  für  dieses  Gebiet 
voraussetzen  läßt,  nur  ganz  ausnahmsweise  Homosexuelle 
als  solche  kennen  lernt,  wenn  man  ferner  bedenkt,  daß 
selbst  dieses  Mal  wieder  so  manche  Unterschrift,  wie  das 
nach  unseren  Erfahrungen  immer  geschieht,  der  Rücksicht 
auf  die  Möglichkeit  von  Mißverständnissen  und  Miß- 
deutungen zum  Opfer  gefallen  sein  wird,  wenn  man 
endlich  bedenkt,  daß  wohl  nicht  wenige,  wie  das  ebenfalls 
immer  vorzukommen  pflegt,  zunächst  im  Drang  der 
Tagesarbeit  die  Unterzeichnung  vergaßen  und  dann  die 
Petition  ganz  aus  dem  Auge  verloren.  Mußten  wir  doch 
sogar  einen  Teil  der  Ärzte,  die  schon  seit  längerer  Zeit 
uns  nahe  standen  und  deren  Bereitwilligkeit,  ihre  Namen 
auf  die  Liste  der  Petenten  zu  setzen,  als  selbstverständ- 
lich gelten  durfte,  erst  noch  eigens  daran  erinnern,  und 
wurde  es  doch  Mitte  Juli,  bis  der  Zufluß  von  Unter- 
schriften völlig  ein  Ende  nahm.  Um  so  mehr  verstärkt 
sich  das  Gewicht  dieser  eindrucksvollen  Kundgebung,  mit 
der  2700  Vertreter  praktisch-medizinischer  Wissenschaft 
ihre  Stimme  gegen  das  Unrecht  des  §  175  in  die  Wag- 
schale warfen. 

Zu  großer  Befriedigung  gereichten  uns  die  zahl- 
reichen, zum  Teil  überaus  herzlich  gehaltenen  Zuschriften, 
die  wir  aus  diesem  Anlaß  entgegennahmen.  Freilich  ent- 
rollten viele  von  ihnen  gleichzeitig  auch  erschütternde 
Bilder  des  Elends,  Bilder  voll  gewaltiger  Tragik,  voll 
Blut  und  Verzweiflung.  Man  wünscht  unwillkürlich, 
solche  Bilder,  mit  der  Eindruckskraft  der  unmittelbaren 
Wirklichkeit  ausgestattet,  all  denjenigen  vor  Augen  führen 
zu  können,  die  da  immer  noch  ein  Strafgesetz,  welches 
die  Natur  verfolgt,  rechtfertigen  zu  können  vermeinen. 
Wir  beschränken  uns  wiederum  darauf,  eine  kleine  Aus- 
wahl zum  Abdruck  zu  bringen: 


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der  in  seiner  jetzigen  Fassung  das  größte  Unheil  anrichtet,  halte 
ich  für  ein  dringendes  Erfordernis." 

„Habe  in  meiner  früheren  Stellung  als  begutachtender  Nerven- 
arzt viel  des  namenlosen  Unglücks  kennen  gelernt,  das  der  un- 
selige Paragraph  über  geistig  und  moralisch  höchststehende 
Menschen  gebracht  hat/' 

„Bemerken  möchte  ich,  daß  ich  auf  Grund  zahlreicher,  viel- 
•  seitiger  Erfahrungen,  namentlich  auch  bei  Gericht  die  Überzeugung 
erlangt  liabe,  daß  die  Aufhebung  des  §  175  R.-Str.  G.-B.  Tauseude 
von    dem   schweren  Druck  befreien  wird,    unter  dem  sie  unver- 
schuldet leiden  und  ihre  Lebenslust  einbüßen.'^ 

„Hatte  mehrfach  Gelegenheit,  hierüber  Erfahrungen  zu  sam- 
meln: Selbstmorde  und  unglückliche  Ehen." 

,.Schon  vor  Jahren  bekam  ich  von  Ihnen  eine  ähnliche  Druck- 
schrift zugesandt  und  obwohl  in  völliger  Übereinstimmung  mit 
Ihren  humanen  Bestrebungen  auf  Abschaffung  des  unheilvollen 
Paragraphen,  hielt  ich  es  kaum  noch  für  nötig,  meine  Unterschrift 
zu  geben  und  versäumte  es  leider.  Jetzt  in  meinem  78.  Jahre 
hole  ich  es  aus  Überzeugung  nach.** 

„Eine  ganze  Welt  von  Stimmen  des  Einwandes  gegen  die 
Abänderung  dieses  verderblichen  Gesetzes  ändert  nichts  an  dem 
ehernen  Tatbestand  des  Eingeborenseins  homosexueller  Triebe. 
Wer  wollte  auf  Grund  dieser  wissenschaftlichen  Errungenschaft 
sein  Herz  den  leidenden  Mitmenschen  verschließen  und  am  Kampfe 
nicht  teilnehmen!" 

„Meine  Unterschrift  zur  Petition  zu  geben,  entspricht  einem 
regen  Hei-zensbedürfnis.  Mit  tiefster  Überzeugung  darf  ich  sagen, 
daß  uns  Nervenärzten  nichts  von  gleicher  Tragik  begegnet,  wie 
die  Aussprache  mit  Homosexuellen,  diesen  Ärmsten  aus  der  Gruppe 
der  von  der  Natur  Enterbten.  Man  muß  ihr  verzweifeltes  Klagen, 
ihr  Fürchten,  durch  Befriedigung  des  energisch  fordernden  Triebes 
mit  dem  Gesetz  in  Konflikt  zu  geraten,  ihr  Flehen  um  Befreiung 
von  so  schwerer  Not  gehört  haben,  um  zu  ahnen,  was  im  Innern 
so  grausig  geplagter  Menschen  sich  abspielt.  Mit  klarer  Über- 
legung zu  wissen,  wie  verächtlich  das  Ziel  des  stürmischen  Ver- 
langens ist,  auf  der  anderen  Seite  ängstlich  zu  fürchten,  daß  der 
unselige  Naturtrieb  einmal  mächtiger  sein  dürfte,  als  alle  Vor- 
sätze und  Wünsche,  desselben  Herr  zu  bleiben,  quält  furchtbar 
ein  Wesen,  das  nicht  selten  hoch  über  Ethik  denkt.   Vor  einigen 


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—     655     — 

Wochen  verurteilte  hier  das  Gericht  einen  Mann,  den  seine  homo- 
sexuelle Anlage  in  seiner  Ehe  mit  einer  von  ihm  geachteten  und 
geliebten  Frau  ungezählte  Tränen  kostete,  der  versuchte,  Frau 
und  ELindern  durch  Überraschungen  und  dergleichen  seine  warme 
Liebe  stets  aufs  Neue  zu  beweisen,  dessen  ganze  Lebensgeschichte 
verriet,  daß  die  andersgeartete  Konstitution  ihm  von  Jugend  auf 
anhing  wie  eine  unerträgliche  Qual,  zu  8  Jahren  Zuchthaus  und 
5  Jahren  Ehrverlust.  Das  Gericht  nahm  im  Gegensatz  zum  Ver- 
teidiger das  Verhältnis  des  Lehrherm  zum  Lehrling  an  in  einer 
Anschuldigung  wegen  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs.  Durch  das 
Urteil  ist  die  arme  Frau  aller  Existenzmittel  beraubt,  sind  die 
Kinder  gebrandmarkt  und  der  strebsame  Mann  vernichtet,  der 
unter  dem  Zwange  eines  Triebes  handelte,  dessen  Wucht  und 
Gewalt  zu  schätzen  keiner  sich  vermessen  darf.  Mein  ausfuhr- 
liches Gnadengesuch  . .  .  wurde  leider  abschlägig  beschieden.  Da- 
mit war  ich  darüber  im  Klaren,  daß  wieder  einmal  ein  ai*mer 
Mensch,  ein  sonst  brauchbares  Mitglied  der  Gesellschaft,  unter- 
ging, weil  die  medizinisch-naturwissenschaftliche  Errungenschaft 
schweigen  muß  vor  der  Starre  unglücklicher  Gesetzesparagraphen.'* 

„Ein  mir  bekannter  Philologe  in  Hamburg,  ein  Mann  von 
außergewöhnlichen  Kenntnissen  und  vorzüglicher  Herzensbildung, 
früher  als  Lehrer  an  vornehmen  Bildungsanstalten  tätig  und  hoch 
geschätzt,  kam  durch  homosexuelle  Neigungen  verschiedentlich  mit 
dem  Staatsanwalt  in  Konflikt  und  erlitt,  so  viel  mir  bekannt,  auch 
eine  kürzere  Freiheitsstrafe.  Seit  jener  Zeit  ist  dem  durchaus 
ehrenwerten  Manne  (der  übrigens  aus  sehr  vornehmer  Familie 
stammt)  die  Möglichkeit  einer  seinem  Bildungsniveau  entsprechen- 
den Existenz  durchaus  abgeschnitten.  Der  unglückliche  Mensch 
bewohnt  jetzt  in  einem  Alter  von  ungefähr  65  Jahren  eine  Arbeiter- 
wohnung und  fristet  sein  Leben  kümmerlich  durch  Privatunter- 
richt für  wenige  Groschen.** 

„Von  den  mir  bekannten  Konträrsexuellen  wurde  einer  in 
noch  jungen  Jahren  unter  großem  Widerstände  der  Familie  katho- 
lisch, um  sich  dem  Priester  stände  zu  widmen,  in  der  Hofihung, 
auf  diese  Weise  gegen  sexuelle  Impulse  sich  zu  sichern.  Ein 
zweiter,  der  immer  bestrebt  gewesen  war,  ein  sittenreines  Leben 
zu  führen,  und  dem  infolge  großer  Vorsicht  in  der  Auswahl  seines 
Umgniiges  sein  eigener  Zustand  trotz  großen  Hingezogenseins  zu 
Männern  unbekannt  geblieben  war,  verheiratete  sich  in  der  Hoff- 
nung, endlich  einmal  eine  Befriedigung  seines  überaus  regen  Ge- 
schlechtstriebes zu  erfahren.  Die  Folgen  waren  die  üblichen.  — 
Einige   andere,    die   absolut  keine  Ahnung  von   ihrem  Zustande 


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sehr;  noch  Mitte  der  zwanziger  Jahre  war  es  ihnen,  die  sonst 
ganz  prächtige  Menschen  waren,  tüchtig  und  fleißig  in  ihrem  Be- 
rufe, ganz  fremd,  daß  sie  in  Gefahr  standen,  mit  dem  Strafrichter 
in  Konflikt  zu  kommen/* 

„Ich  habe  früher  den  §  175  —  als  Theologe  noch  befangen 
in  dem  Irrtum  einer  absoluten  Moral  —  für  unentbehrlich  ge- 
halten. Nachdem  ich  mich  aber  durch  das  medizinische  Studium 
davon  überzeugt,  daß  infolge  der  zwittrigen  Anlage  des  mensch- 
lichen Embryos  nicht  nur  Mannlein  und  Fräulein^  sondern  auch 
ungezählte,  geschlechtlich  oft  gar  nicht  genau  zu  bestimmende 
Mittelstufen  vorhanden  sind,  glaube  ich,  daß  dieser  Paragraph 
schon  aus  theoretisch- wissenschaftlichen  Gründen  nicht  aufrecht 
erhalten  werden  darf.  Zur  Pflicht  aber  wurde  mir  der  Protest 
gegen  denselben,  seitdem  ich  als  Nervenarzt  immer  und  immer 
diese  armen  Menschen  zu  Gesicht  bekam.  Niemals  habe  ich  so 
schwere  Formen  der  Hysterie  und  Neurasthenie  beobachtet  als 
bei  diesen  Homosexualen,  die  durch  den  fortgesetzten  vergeblichen 
Kampf  gegen  den  mächtigsten  Naturtrieb  und  die  beständige 
Angst  vor  der  Polizei  und  den  schlimmsten  Erpressern  stets  die 
Symptome  weitgehender  Nervenerkrankung  darboten.  Sie  finden 
sich  nach  meiner  Erfahrung  als  Arzt  in  allen  Ständen.  Ich  habe 
Arbeiter,  Referendare,  Offiziere,  Pastoren  als  Homosexuale  in  ärzt- 
licher Behandlung  gehabt.  Diejenigen  der  bemittelten  Stände 
werden  durch  §  175  krank  und  unglücklich,  diejenigen  der  un- 
bemittelten Stände  werden  durch  denselben  Paragraphen  zu  Er- 
pressern und  Verbrechern  gemacht.  Darum,  weil  diese  Gesetzes- 
bestimmung nichts  bessert,  aber  viel  schadet,  schließe  ich  mich 
diesem  Protest  an.  Sollten  wider  Erwarten  bei  der  Revision  des 
Strafgesetzbuches  abermals  nicht  Gesichtspunkte  der  Gerechtig- 
keit, sondern  falscher  Prüderie  maßgebend  werden,  so  dringe  man 
wenigstens  darauf,  daß  die  Konsequenz  gezogen  und  der  Para- 
graph auch  auf  das  weibliche  Geschlecht  ausgedehnt  werde.  Dann 
wird  in  einigen  Jahren  das  Erpressertum  auch  bei  den  Dienst- 
boten, Bonneu  usw.  soweit  gezüchtet  sein,  daß  kein  Abgeordneter 
mehr  zu  den  Reichstagsverhandlungen  reisen  darf,  ohne  der  lieben 
Gattin  vorher  in  die  Hand  versprochen  zu  haben,  doch  nur  gegen 
den  §  175  zu  sprechen,  der  für  den  Frieden  so  mancher  hoch- 
ehrbaren Häuser  denn  doch  wirklich  recht  gefährlich  sei." 

„Vor  nunmehr  13  Jahren  studierte  ich  in  Freiburg  und  dann 
in  Berlin  mit  einem  Mediziner  B.  H.  aus  der  Umgegend  von 
Dobberan  in  Mecklenburg  zusammen.  In  unserem  großen  Freundes- 


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—     667     — 

kreise  war  dieser  Herr,  ein  fleißiger  Student,  außerordentlicli  beliebt 
und  geachtet  wegen  seiner  guten  Manieren  und  seines  anständigen 
Charakters.  Er  war  ein  fideler  Student,  aber  er  war  nie  aus- 
gelassen oder  übermütig.  Er  machte  dann  sein  Staatsexamen  und 
wurde  Assistent  Alle,  die  ihn  kannten,  wurden  durch  die  Nach- 
richt von  seinem  plötzlichen  Ableben  tief  betrübt  Er  endete 
durch  Selbstmord  aus  Furcht  vor  dem  unseligen  Paragraphen. 
Wie  ich  nachträglich  erfahr,  hatte  er  einigen  unserer  gemein- 
samen Studienfreunde  gegenüber  schon  damals  in  Freiburg  über 
seine  homosexuellen  Neigungen  ganz  offenherzige  Mitteilungen  ge- 
macht G-egenüber  den  Vorwürfen,  die  ich  noch  nach  seinem 
Tode  über  seine  Handlungsweise  gehört  habe,  erkläre  ich  zur 
Ehrenrettung  unseres  leider  zu  früh  dahingeschiedenen  Freundes, 
daß  er  wegen  seiner  bieder-rechtlichen  Ansichten,  wegen  seines 
Fleißes  und  seiner  kameradschaftlichen  Ehrenhaftigkeit  allen,  die 
ihn  kannten,  in  ehrenvollem  Andenken  bleiben  wird  —  trotz  allem 
und  allem.'' 

„Wer,  wie  ich,  gesehen  hat,  welche  verzweifelten  An- 
strengungen von  Urningen  gemacht  werden,  um  von  dem  un- 
seligen Verhängnis  loszukommen,  welche  seelischen  Kämpfe  durch- 
gefochten, welche  materiellen  Opfer  zu  diesem  Zwecke  gebracht 
werden  und  welche  geradezu  bewundernswerte  Energie  von  diesen 
Stiefkindern  der  Natur  entwickelt  wird,  der  wird  alles  daran 
wenden,  um  jenen  unheilvollen  Paragraphen  des  Strafgesetzbuches 
zu  Falle  zu  bringen.  Auch  habe  ich  schon  in  meiner  Praxis  er- 
fahren, daß  dieser  Paragraph  Anlaß  zu  Zwangsvorstellungen  bei 
Disponierten  werden  kann,  die,  ohne  homosexuell  zu  sein,  von  der 
Vorstellung  gequält  werden,  als  Urning  leben  zu  müssen.  Warum 
weisen  Sie  nicht  (für  das  große  Publikum)  mit  auf  den  Punkt  hin, 
daß  jeder  normal  veranlagte  Mensch  das  Unglück  haben  kann, 
unter  seinen  eigenen  Söhnen  einen  Urning  heranwachsen  zu  sehen 
und  dann  die  Ronsequenzen  tragen  zu  müssen?*' 

„Der  §  175  spricht  jeglicher  Kultur  Hohn." 

„Per  noctem  ad  lucem!"    (Durch  Nacht  zum  Licht!) 

„Möchten  Ihre  segensreichen  Bestrebungen  endlich  über  Un- 
verstand, Gleichgültigkeit  und  Heuchelei  den  Sieg  davontragen!" 

„Mir  sind  zwei  Selbstmorde  aus  diesem  Grunde  bekannt  — 
Femer  sind   mir  außer  mehreren  anderen  zwei  Herren  bekannt, 
die   mit   der   höchsten  Aufopferung   für   ihre   ausgebreitete  Ver- 
wandtschaft sorgen  und  deren  Kinder  erziehen  lassen." 
Jahrbuch  VI.  42 


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ernst  nimmt,  von  dieser  Eingabe  ausschließen/* 

,,Mit  Freuden  gebe  ich  meinen  Namen  zur  Unterschrift  zu 
obengenanntem  Zweck,  der  so  manchem  bisher  Unglücklichen 
das  Recht,  ein  geachteter  Mensch  unter  Menschen  zu  sein,  wie- 
dergibt" 

„Ich  stelle  mich  nach  meinen  in  der  Praxis  gesammelten 
Erfahrungen  durchaus  auf  Ihren  Standpunkt  und  wünsche  Ihren 
humanen  Bestrebungen  besten  Erfolg." 

„Die  Bestrebungen  des  wissenschaftlich-humanitären  Komi- 
tees sind  im  besten  Sinne  des  Wortes  „humane"  und  verdienen 
die  eifrigste  Unterstützung  von  allen  Seiten." 

„Ich  bemerke  zu  meiner  Unterschrift,  daß  ich  wiederholt  im 
Laufe  der  Jahre  über  diese  Materie  Erfahrungen  zu  sammeln  Ge- 
legenheit hatte.  In  den  18  Jahren  meiner  früheren  Tätigkeit  in 
einer  kleinen  Stadt  habe  ich  viele  homosexuelle  Klienten  gehabt, 
besonders  da  in  den  beteiligten  Kreisen  mein  volles  Verständnis 
sich  verbreitete.  Dadurch  gewann  ich  einen  Einblick  in  Verhält* 
nisse,  die  Anderen  ängstlich  verschlossen  bleiben,  namentlich  an- 
deren Ärzten." 

„Aus  persönlicher  Erfahrung,  die  ich  namentlich  an  einem 
über  seine  anormale  Konstitution  tief  unglücklichen,  hoch  ge- 
bildeten Manne  machte,  befürworte  ich  diese  Petition  aus  tiefster 
Überzeugung." 

„Meine  Doktorthesen  lauten  über  §  175.  Seit  meiner  Stu- 
dienzeit mich  interessierend  für  die  Frage  des  §  175,  bin  ich  aus 
medizinischer  Überzeugung  und  menschlichem  Empfinden  für  Auf- 
hebung." 

„Vor  etwa  14 — 15  Jahren  ertränkte  sich  in  hiesiger  Gegend 
ein  etwa  50  Jahre  alter  wohlhabender  Junggeselle,  der,  homo* 
sexuell  veranlagt,  durch  Erpressungen  in  den  Tod  getrieben  wurde. 
Für  das  weibliche  Geschlecht  hatte  der  Herr  keine  Neigung." 

„Mir  selbst  ist  ein  Fall  bekannt  aus  dem  Jahre  1888.  Ein 
damals  vielleicht  18 jähriger,  hochgewachsener,  brünetter  Jüngling 
erwies  sich  im  Lauf  der  Behandlung  wegen  Cardialgie  als  anima 
muliebris  in  corpore  virili  inclusa  und  endete  vor  einigen  Jabreu 
durch  Selbstmord." 

„Besonders  unlogisch  ist,  daß  das  Weib,  das  doch  in  allen 
Rechten   gleichgestellt   sein  will,    wegen  des  gleichen  Vergehens 


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—     659     — 

nicht  verfolgt  wird.    Albern  ist  die  Differenzierung  der  Juristen 
zwischen  den  verschiedenen  Arten  des  mannmännlichen  Verkehrs." 

,,In  meiner  Praxis  ereignete  sich  vor  mehreren  Jahren  der 
Selbstmord  eines  talentvollen  jungen  Mannes,  welcher  durch  ano- 
nymen Brief  aus  dritter  Hand^  in  welchem  er  mit  gerichtlicher 
Anzeige  seiner  homosexuellen  Neigung  bedroht  war,  in  den  Tod 
getrieben  wurde." 

„Unterzeichneter  war  Sachverständiger  in  einem  Gerichts- 
verfahren gegen  einen  hochbegabten  cand.  jur.,  den  Sohn  eines 
hohen  Forstbeamten.  Derselbe  wurde  wegen  Verletzung  des 
§  175  zu  mehreren  Monaten  Gefängnis  verurteilt  Er  riß  sich 
von  den  ihn  nach  der  Verurteilung  abfuhrenden  Gerichtsdienem 
los  und  schoß  sich,  nachdem  er  einen  kleinen  Vorsprung  vor 
seinen  Verfolgern  gewonnen  hatte,  in  den  Mund.  Der  Tod  er- 
folgte sofort" 

„Vor  ca.  5  Jahren  habe  ich  als  Polizeiarzt  unserer  Stadt  die 
Leiche  eines  Selbstmörders  aufgehoben,  der  sich  in  der  Nähe  in 
einem  Flüßchen  ertränkt  hatte,  weil  nach  seiner  Verlobung  mit 
der  Tochter  einer  hiesigen  angesehenen  Familie  —  er  selbst  war 
junger  Tierarzt  und  ein  sehr  begabter  und  tüchtiger  Mann  —  das 
beglaubigte  Gerücht  im  Publikum  verbreitet  war,  daß  er  mit 
einem  Fleischergesellen  sexuellen  Umgang  gepflogen  habe.  Ge- 
nannter Fleischer  hatte  nach  geschehener  Verlobung  die  Sache 
weiter  erzählt  und  die  Folge  war  der  Selbstmord  zur  Verhütung 
des  bevorstehenden  Skandals,  von  „Schimpf  und  Schande''. 

„Ich  kenne  aus  meiner  Praxis  einen  Homosexuellen  aus  den 
besseren  Kreisen  und  in  guten  Vermögensverhältnissen,  der  hei- 
ratete —  der  Ehe,  die  keine  glückliche  war,  entsprosste  ein  Kind 
—  und  einige  Jahre  nach  geschlossener  Ehe  durch  Selbstmord 
endete." 

„Eine  Beobachtung:  Homosexualität.  Ehescheidung.  Weiter- 
hin schwere  Neurasthenie  mit  chronischer  Schlaflosigkeit  und  da- 
neben öfteren  Bedrohungen  und  Erpressungsversuchen  auegesetzt 
Die  Homosexualität  äußert  sich  von  jeher  als  fast  unüberwind- 
licher Trieb.  Patient  gehört  den  besten  Ständen  an  und  steht 
geistig  durchaus  hoch." 

„Ich  kenne  hier  einen  etwa  42jährigen  Grundbesitzer,  der 
dieserhalb  bereits  zwei-  bis  dreimal  mit  mehreren  Wochen  Ge- 
fängnis bestraft  worden  ist,  in  unglücklicher  Ehe  lebt  und  zur 
Zeit  dem  wirtschaftlichen  Bankerott  nahe  ist." 

42* 


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rungen  in  dieser  Sache,  die  mich  von  der  Notwendigkeit  der  Ab- 
änderung überzeugt  haben." 

),Als  ich  als  Student  Krafft-Ebings  Psychopathia  sezualis  las, 
empfand  ich  neben  dem  Gefühl  des  Mitleids  für  die  Enterbten 
des  natürlichen  Glückes  mit  noch  tieferem  Bedauern  die  rück- 
ständigen Grundsätze,  nach  denen  ein  krank  veranlagter  Mensch 
dem  Richter,  anstatt  dem  Arzt  übergeben  wird.  Ich  setze  mit 
Freudigkeit  meinen  Namen  mit  unter  die  Petition." 

„Wenn  Weiber,  die  doch  denselben  Drang  und  dieselbe  Be- 
friedigung haben,  straflos  ausgehen,  weshalb  denn  nicht  der 
Mann?    Ist  dieser  denn  ein  Homo  minor?" 

„Ich  hatte  während  meines  Studiums  auf  der  Universität 
einen  Freund,  einen  guten,  idealen,  aufopferungsfahigen  Menschen ; 
Anno  1870/71  ging  er  als  freiwilliger  Krankenpfleger  mit  nach 
Frankreich,  erhielt  für  seine  aufopfernde  Pflege  das  Verdienst- 
kreuz (in  Bayern)  und  errang  später  eine  angesehene  Lebens- 
stellung. In  der  ersten  Zeit  unserer  Bekanntschaft  machte  er 
einen  Selbstmordversuch  aus  dem  Unglücksgefühl  über  seine  Homo- 
sexualität heraus.^* 

„In  meiner  früheren  Praxis  wurde  ein  Herr  von  ca.  50  bis 
60  Jahren  in  angesehener  Zivilstellung  (Notar)  in  der  Ausübung 
des  homosexuellen  Verkehrs  .  .  .  überrascht  und  zur  Anzeige  ge- 
bracht, verurteilt  und  eingesperrt.  Er  starb  bald  im  Gefängnis. 
Die  vorher  gut  situierte  Familie  mit  Frau,  erwachsenen  Söhnen 
und  Töchtern  wurde  hierdurch  aufs  schwerste  betroffen  und  auf- 
gelöst. Die  Söhne  mußten  ihren  Beruf  ändern  (der  eine  studierte 
Theologie).  Die  Familienmitglieder  waren  gesellschaftlich  un- 
möglich geworden." 

„Der  Schlußaufforderung  Ihres  Rundschreibens  entsprechend, 
erlaube  ich  mir,  Ihnen  über  folgende,  mir  bekannte  Fälle  von 
Homosexualität  zu  berichten:  1.  J  .  .  .,  stud.  pbil.,  hochbegabt, 
I.  Vorsitzender  eines  studentischen  Vereins,  von  Jedermann  ge- 
schätzt und  gern  gelitten,  im  Übrigen  anscheinend  von  streng 
sittlichen  Anschauungen,  wurde  Anfang  der  90  er  Jahre  beim  ge- 
schlechtlichen Verkehr  mit  einem  Kellnerlehrling  betroffen.  Der 
Konvent  des  betreffenden  Vereins  beschloß  seinen  Ausschluß.  Es 
bedurfte  der  größten  Mühe  des  Unterzeichneten,  die  Konvents- 
teilnehmer dahin  aufzuklären,  daß  es  sich  um  einen  Fall  patho- 
logischer Art  handle,  so  daß  von  dem  Vorhaben,  den  Betreffenden 
bei  der  Universitätsbehörde  und  bei  der  Staatsanwaltschaft  anzu- 


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—     661     — 

zeigen,  doch  schließlich  noch  Abstand  genommen  wnrde.  Der 
Betreffende  hat  meines  Wissens  später  seine  £xamina  mit  Glanz 
absolviert  and  dürfte  ein  tüchtiges  Mitglied  der  menschlichen 
Gresellschaft,  sowie  auch  ein  tüchtiger  Lehrer  und  Erzieher  ge- 
worden sein.  —  2.  Th  .  .  . ,  Tierarzt,  tüchtiger,  begabter,  in  seinen 
Bekanntenkreisen  geschätzter  und  beliebter  Mann,  verlobte  sich 
Mitte  90  er  Jahre  mit  einer  Dame  aus  gut  bürgerlichen  Kreisen. 
Bald  nach  seiner  Verlobaog  wurden  von  einem  Fleischergesellen, 
mit  welchem  jener  in  homosexuellem  Verkehr  gestanden.  Er- 
pressungsversuche  gemacht.  Als  Th.  den  unverschämten  Forde- 
rungen nicht  oder  nicht  genügend  entsprach,  machte  der  be- 
treffende Fleischergeselle  der  Braut  des  Th.  und  ihrem  Vater 
Mitteilung  über  seine  Beziehungen  zu  Th.  und  den  früher  mit 
demselben  gepflogenen  Verkehr.  Der  Bräutigam  erhielt  seinen 
Ring  zurückgesandt,  sah  sich  öffentlich  bloßgestellt,  nahm  Gift 
und  stürzte  sich  in  den  Fluß.  Seine  pekuniären  Verhältnisse 
hätten  ihm  allerdings  ganz  gut  gestattet,  an  einem  anderen  Orte, 
an  dem  von  seinen  , Verfehlungen*  nichts  bekannt  war,  weiter 
zu  leben." 

„Am  20.  Januar  ds.  J.,  mittags  erhielt  ich  die  Aufforderung, 
sofort  nach  B.  zu  kommen,  wo  sich  eben  der  R.  M.  J.  erschossen  habe. 
Als  ich  vor  dem  Hause  vorfuhr,  empfing  mich  I.  K.  und  geleitete 
mich  an  eine  verschlossene  Tür.  Diese  öfinend,  ließ  er  mich  in 
ein  düsteres,  kaltes,  dunkles  Gemach  eintreten.  Auf  mein  Geheiß 
wurde  der  das  Fenster  schließende  Laden  entfernt  und  nun  bot 
sich  meinen  Blicken  folgendes  grausige  Bild:  Glasscherben  lagen 
vor  dem  Fenster,  in  der  wüst  aussehenden  Stube  stand  an  jeder 
Längs  wand  ein  noch  ungemachtes  Bett,  am  Fußboden  des  einen 
lag  lang  ausgestreckt  eine  menschliche  Gestalt,  deren  Kopf  mit 
Tüchern  umwickelt  war,  auf  denen  Eisstückchen  lagen.  Auf 
der  rechten  Seite  waren  Lachen  geronnenen  Blutes,  den  Unter- 
leib bis  zu  den  Knöcheln  bedeckte  eine  schwarze  Reiseplüsch- 
decke und  unterhalb  dieser  ragten  ein  Paar  gelb-braune  Stiefel 
hervor.  Niederknieend  entfernte  ich  die  Eisstückchen  und  das 
blutige  Kopftuch  und  vor  mir  mit  aschfahlem  und  blutbesudeltem 
Gesicht  lag  röchelnd  R.  M.  J.  Nach  Abwaschung  des  Blutes  sah 
ich  am  rechten  Schläfenbein  eine  etwa  erbsengroße  Schußwunde, 
die  Haare  rings  herum  waren  durch  das  Pulver  verbrannt  und 
die  Haut  geschwärzt.  —  Während  des  Verbindens  wurde  mir  er- 
zählt, daß  der  sehr  tüchtige,  hochachtbare  Mann  von  einer  heftigen 
Leidenschaft  zu  einem  kräftigen  jungen  Stallburschen  von  16 
Jahren  beherrscht  gewesen  sei  und  sich  mit  ihm  vergangen  habe. 


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—     662     - 

—  Die  Rüchenmädchen,  welche  selbst  der  freiesten  Liebe  hul- 
digen und  mit  den  Knechten  nnd  Stallschweizem  kohabitieren, 
aach  mit  jedem  andern,  der  will,  hatten,  als  M.  J.  sich  mit  dem 
Barschen  ins  Zimmer  eingeschlossen  hatte,  darch  das  Schlüsselloch 
geschaut  und  gesehen,  daß  dieser  den  Koitus  inter  femora  ausübte, 
indem  M.  J.  aktiv,  der  Bursche  passiv  war.  Der  Bursche,  später 
von  mir  darüber  befragt,  gab  nur  zögernd  und  widerstrebend 
Auskunft  und  sagte:  „J.  hat  mich  aber  nie  anderweitig  miß- 
braucht/' Es  hatte  auch  niemals  Masturbation  stattgefunden.  Es 
kam  zur  Anzeige  bei  dem  Besitzer.  Am  Vormittage  des  20.  Ja- 
nuar ist  M.  J.  vor  diesen  gerufen  und  von  ihm  zur  Bede  gestellt 
worden.  Er  sollte  sofort  dem  Amtsvorsteher  zur  Bestrafung  zu- 
geführt werden.  Er  hatte  darauf  erwidert,  er  möchte  sich  nur 
noch  einen  Überrock  anziehen,  ist  in  sein  Zimmer  gegangen,  hat 
hinter  sich  abgeschlossen  und,  da  er  sich  sagte:  „Nun  ist  Ehre 
und  Existenz,  alles  dahin !'^,  sich  die  Kugel  in  den  Kopf  gejagt. 
M.  J.  wurde  dem  Krankenhause  zugeführt  und  ist  am  22.  Januar 
d.  J.  mittags  infolge  hinzugetretener  Lungenentzündung  gestorben, 
ohne  die  Besinnung  wiedererlangt  zu  haben.  M.  J.,  ein  sonst 
ganz  ehrenwerter,  hochachtbarer,  sehr  gewissenhafter  Beamter^ 
aus  sehr  angesehener  Familie  stammend,  ist  ein  Opfer  des  §  175 
geworden." 

,.Ich  bin  in  der  Lage,  Ihnen  einen  Fall  aus  dem  Jahre  1893 
mitzuteilen,  der  seiner  Zeit  in  Gießen  zur  Gerichtsverhandlung 
kam.  Ein  Student  der  Jurisprudenz  aus  Gießen,  namens  Th  . .  .  . 
hatte  sich  mit  einem  Knechte  homosexuell  vergangen.  Er  wurde 
zu  einer  minimalen  Strafe  verurteilt.  Nach  Anhörung  der  Urteils- 
verkündigung tötete  sich  der  junge  Mann  vor  seineu  Richtern 
im  Sitzungssaale  durch  einen  Schuß  in  die  Schläfe.'^ 

„Vor  einigen  Jahren  wurde  ich  durch  einen  Homosexuellen, 
Ingenieur,  der  mich  wegen  Lues  maligna  konsultierte,  zugfeich  er- 
sucht, die  Castration  an  ihm  zu  vollziehen,  damit  er  nicht  ein  zweites 
Mal  genötigt  werde,  sich  ev.  durch  Selbstmordversuch  der  Ver- 
haftungsgefahr zu  entziehen.  Von  dem  ersten  Versuch,  seinem 
angeblich  durch  sein  „Laster'*  verfehlten  Leben  ein  Ende  zu 
setzen,  zeugte  eine  charakteristische  Narbe  an  der  rechten  Schläfe. 
—  Dem  Ansinnen  des  Kranken  habe  ich  aus  medizinischen  und 
juristischen  Gründen  nicht  stattgegeben." 

„Die  Ansichten  über  §  175  des  R.-Str.-G.-B.  sind  abhängig 
von  der  naturwissenscliaftlichen  Bildung  und  dem  Grad  mensch- 
lichen  Empfindens.     Fortschreitende   Erkenntnis    von   dem   Ent- 


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—     663     — 

wicklangsgange  organischer  Materien  nnd  somit  auch  des  Menschen, 
ebenso  wie  wahre  Menschlichkeit,  verlangen  gebieterisch  baldigste 
Abschaffung  dieses  so  viel  Unkenntnis  verratenden  und  so  viel 
Leid  bringenden  Paragraphen." 

,,Ihre  Bestrebungen  bin  ich  sehr  gern  bereit  zu  unterstützen, 
zumal  mir  in  meinem  Leben  zwei  derartige  Fälle  entgegengetreten 
sind,  die  einen  recht  unglücklichen  Ausgang  genommen  haben. 
Zu  dem  einen  Fall,  der  vielleicht  auch  in  weiteren  Kreisen  be- 
kannt geworden  ist,  mußte  der  Betreffende,  ein  hoher  Verwaltungs- 
beamter,  ins  Ausland  flüchten.  —  In  dem  zweiten  Fall  handelt  es 
sich  um  einen  näheren  Bekannten  von  mir,  einen  jungen  Arzt, 
der,  eben  verheiratet,  schon  eine  gute  Praxis  hatte.  Er  wurde 
denunziert,  beging  Suicidium  durch  Morphium  und  ließ  seine 
Familie  im  Elend  zurück." 

„Wenn  ich  das  reichhaltige  Material,  das  von  Ärzten  und 
anderen  bereits  angehäuft  ist,  um  einen  Fall  vermehre,  so  geschieht 
das,  um  zu  beweisen,  daß  oft  die  edelsten  Mitbürger  unter  den 
bestehenden  Zuständen  aufs  Empfindlichste  zu  leiden  haben.  — 
Es  handelt  sich  um  einen  hochbegabten,  schriftstellerisch  und  po- 
litisch bekannten  Herrn,  dessen  hochedle  Charaktereigenschaften 
ich  aufs  Höchste  schätze.  Er  war  zuerst  Vikar  und  erzählte  mir, 
daß  er  nach  einer  Erziehung,  die  ihn  völlig  vom  anderen  Ge- 
schlecht abschloß,  in  dieser  Stellung  gern  gerungen,  auch  gern 
nackte  männliche  Körper  gesehen  habe,  ohne  sich  seiner  Veran- 
lagung bewußt  zu  sein.  Dann  widmete  er  sich  der  Politik  und 
Schriftstellerei.  Auf  einer  Agitationsreise  machte  er  eine  Wan- 
derung in  Gesellschaft  eines  Anderen,  der  ihn  zu  mutueller  Onanie 
verführte.  Der  Verführer  wußte  die  Sache  dann  unter  die  Leute 
zu  bringen  und  gab  an,  daß  er  der  Angegriffene  gewesen  sei  — 
Joseph  und  Potiphar  bei  Homosexuellen.  Der  betr.  Herr  war 
natürlich  daraufhin  unmöglich  geworden  und  lebt  seit  einigen 
Jahren  in  Italien.  Obwohl  er  jetzt  seiner  Neigung  zum  gleichen 
Geschlecht  sich  völlig  bewußt  ist,  ist  es  bezeichnend  für  seinen 
Charakter,  daß  er  jetzt  noch  unter  Selbstqualen  zu  leiden  hat  und 
mit  größter  Energie  gegen  seine  Veranlagung  ankämpft.  Ein 
einziger  solcher  Fall  genügt  völlig,  um  die  Absurdität  der  be- 
stehenden Verordnungen  zu  illustrieren.  —  Auf  der  anderen  Seite 
bedenkt  man  nicht,  daß  das  gleiche  „Vergehen"  unter  Frauen 
nicht  selten  geübt  wird,  obgleich  bisweilen  nicht  einmal  Homo- 
sexualität vorliegt.  Erst  letzthin  gestand  mir  ein  junges  Mädchen 
mutuelle  Onanie  zu,  und  solche  Fälle  dürften  nicht  selten  sein." 


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GtLBtwiTt  S.  erh&Dgte  sich,  weil  er  durch  fortwährende  Erpressungen 
sich  ruiniert  sah.  Er  konnte  in  seinem  Geschäft  kaum  die  Summen 
verdienen,  die  gewissenlose  Hallunken  (frühere  Angestellte  usw.) 
durch  Drohung  mit  Anzeige  immer  und  immer  wieder  von  ihm 
erpreßten.*' 

„Eine  Verwandte  von  mir  heiratete  einen  Gerichtsbeamten, 
von  dem  ein  Gerächt  andeutete,  daß  er  perverse  Neigungen  habe 
(mir  persönlich  war  dieses  Gerücht  nicht  zu  Ohren  gekommen, 
auch  der  Braut  nicht).  Nach  etwa  zweijähriger  Ehe  kam  es  zur 
Einleitung  einer  gerichtlichen  Untersuchung  nach  der  angegebenen 
Richtung.  Das  Ergebnis  derselben  wartete  der  Angeschuldigte 
nicht  ab,  sondern  er  verließ  den  Ort  seines  Aufenthaltes  ohne  An- 
gabe seines  späteren  Wohnsitzes.  Die  Untersuchung  führte  nicht 
zu  einer  Verurteilung,  doch  wurde  er  disziplinarisch  seines  Amtes 
entsetzt.  Er  lebte  später  in  Berlin  als  Privatbeamter.  Seine  Ehe 
wurde  geschieden.  Er  hat  sich  insofern  als  ein  anständig  denken- 
der Mensch  erwiesen,  als  er  seiner  geschiedenen  Frau  den  Betrag 
der  Schulden,  die  sie  vor  Eingehung  der  Ehe  für  ihn  bezahlt 
hatte,  ganz  oder  teilweise  zurückerstattet,  ohne  daß  die  Frau 
darauf  Anspruch  erhoben  hatte.  Wie  mir,  allerdings  nicht  von 
der  Frau  selbst,  sondern  von  ihren  nächsten  Verwandten,  mit- 
geteilt wurde,  soll  nie  eine  sexuelle  Annäherung  des  Mannes  an 
die  Frau  erfolgt  sein." 

„Mir  ist  bekannt,  daß  ein  achtbarer,  wohlhabender  Herr  aus 
Furcht,  wegen  seiner  homosexuellen  Neigung  belangt  zu  werden, 
Selbstmord  begangen  hat." 

„Ein  Assistenzarzt  an  einem  Krankenhause,  ein  besonders 
befähigter  Mensch,  endete  vor  ca.  5  —  6  Jahren  durch  Suicidium, 
weil  eine  Anklage  aus  §  175  gegen  ihn  erhoben  werden  sollte. 
Einziger  Sohn  seiner  Mutter." 

„Unlängst  hat  die  Gesundheitskommission  unserer  Stadt 
einstimmig  den  Beschluß  gefaßt,  der  Stadtverordnetenversammlung 
zu  empfehlen,  vorstehende  Petition  zu  unterstützen.  —  Vor  etwa 
zwei  Jahren  gelangte  zu  meiner  Kenntnis  ein  sehr  trauriger  Fall, 
in  welchem  ein  hochgeachteter  juristischer  Staatsbeamter  bald 
nach  seiner  —  gegen  seinen  Wunsch  stattgehabten  —  Verheira- 
tung wegen  schweren  Delikts  gegen  den  §  175  bestraft  und  da- 
durch ein  unglücklicher  Mensch  geworden  ist." 


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—     665     — 

„Der  AufFordeniDg  bin  ich  mit  Freuden  nachgekommen,  da 
ich  Gelegenheit  gehabt  habe,  über  die  Materie  Erfahrungen  zu 
sammeln,  speziell  ist  mir  ein  in  hoher  Beamtenstellung  befindlicher 
Herr  gut  bekannt,  dessen  Frau  infolge  der  Anlage  ihres  Mannes 
in  ihrer  langjährigen  kinderlosen  Ehe  sehr  viel  hat  leiden  müssen 
und  noch  leidet/* 

„Ich  habe  während  meiner  Studienzeit  einen  feingebildeten 
Herrn  aus  hoher  Gesellschaftsklasse  gekannt,  der  ausgesprochen 
homosexuell  war.  Ich  hatte  auf  einem  Studentenkommers,  wo  ich 
stark  berauscht  und  auch  er  wohl  etwas  angeheitert  war,  meinen 
Hausschlüssel  verloren  oder  vergessen  und  wußte  nicht,  wo  ich 
nun  die  Nacht  zubringen  sollte.  Er  bot  mir  an,  mit  in  seine 
Wohnung  zu  kommen  und  auf  seinem  Sopha  zu  schlafen.  Ich 
nahm  das  ahnungslos  an  und  war  dann  sehr  überrascht,  als  er 
mich  dort  leidenschaftlich  zu  küssen  und  zu  masturbieren  anfing. 
Ich  ließ  die  Sache  über  mich  ergehen,  so  unangenehm  und  lächer- 
lich sie  mir  war,  weil  ich  zu  berauscht  war,  um  ernstlich  Wider- 
etand zu  leisten.  Später  lud  mich  der  Betreffende  häufig  zum 
Abendessen  ein.  Da  ihm,  wenn  ich  nüchtern  war,  keinerlei  An- 
näherungen gelangen  —  wir  sprachen  übrigens  ganz  offen  darüber 
und  damals  habe  ich  die  ersten  Kenntnisse  von  der  mannmänn- 
lichen Liebe  erhalten,  die  mir  unbegreiflich  und  lächerlich  er- 
schien —  so  ging  er  später  mit  mir  in  ein  Weinlokal.  Weil  ich 
damals  gern  und  viel  trank  und  er  mich  reichlich  mit  guten 
Weinen  bewirtete,  wurde  ich  öfters  berauscht  und  in  diesem  Zu- 
stande gelang  ihm  dann,  öfters,  teils  in  seiner,  teils  in  meiner 
Wohnung,  die  Erfüllung  seiner  Wünsche.  —  Femer  weiß  ich  von 
einem  Schauspieler,  der  einem  Konfuchs  von  mir,  einem  allerdings 
auffallend  hübschen,  aber  keineswegs  urnischen,  sondern  im  Gegen- 
teil ziemlich  weibertollen  Menschen  in  einer  Weise  den  Hof 
machte,  über  die  wir  uns  oft  königlich  amüsiert  haben:  Kuß- 
hände zuwerfen.  Sträußchen  ins  Fenster  legen.  Liebesbriefchen  — 
Alles  kam  vor.  Es  war  die  reinste  Komödie.  Annäherungen 
sind  dem  Betreffenden,  soviel  ich  weiß,  nie  gelungen." 

„Ich  trete  ganz  entschieden  für  Abschaffung  des  §  175  ein, 
weil  der  Urning  Rechte  dritter  Personen,  ebensowenig  wie  eine 
Tribade,  verletzt  und  somit  nicht  vor  das  Forum  des  Richters, 
sondern  des  Arztes  gehört.  —  Dagegen  möchte  ich  an  dieser  Stelle 
Gelegenheit  nehmen,  scharfe  Strafen  gegen  den  Exhibitionismus 
zu  fordern,  der,  gleichviel,  ob  er  einer  pathologischen  Veranlagung 
entstammt  oder  nicht,  in  hohem  Maße  geeignet  ist,  öffentliches 
Ärgernis  zu  erregen  und  die  Sittlichkeit  zu  gefährden.^' 


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—     666     — 

„In  meiner  Klientel  befindet  sich  ein  Jnnggeselle,  der  sich 
durch  homosexuelle  Veranlagung  fast  vollständig  wirtschaftlich 
ruiniert  hat,  wie  ich  bestimmt  weiß,  da  ich  jahrelang  in  seinem 
Anwesen  wohnte.  Sein  Ansehen  nach  außen  ist  sehr  gesunken, 
da  die  von  ihm  gebrauchten  Subjekte  laut  die  versuchten  Mani- 
pulationen verkündeten.  Eine  Verlobung  ging  plötzlich  zurück, 
meiner  Ansicht  nach  wegen  Lautwerdens  seiner  unglücklichen 
Anlage." 

„Wenn  man  die  homosexuellen  Menschen  als  strafwürdige 
Verbrecher  verfolgt^  so  müßten  logischer  Weise  auch  die  körper- 
lichen Hermaphroditen  für  ihr  körperliches  Zwittertum  bestraft 
werden.  So  wenig  Letzteres  geschehen  kann,  so  sehr  ist  auch  die 
Bestrafung  der  seelischen  Zwitter  verfehlt.  Denn  ob  man  sie 
bisexuell  oder  homosexuell  nennt,  sie  sind  nichts  anderes  als  see- 
lische Hermaphroditen.  Sie  verdanken  dieses  unheimliche  Erbgut 
einer  angeborenen  Anlage,  nicht  einer  falschen  Erziehung.  Äußer- 
lich, d.  h.  primär  eingeschlechtlich,   besitzen  sie  doch  sehr  viele 

sekundäre  Merkmale  des  anderen  Geschlechts Ob  man  diese 

sexuellen  Zwischenstufen  für  etwas  Normales  mit  Weininger  halten 
will,  oder  in  ihnen  mit  MÖbius  Entartungsprodukte  erblickt,  ändert 
an  der  kriminellen  Bewertung  der  Sache  nichts.  Sie  sind  niemals 
mit  Strafe  zu  belegen,  sondern  allerhöchst  regelwidrig  veranlagte 
Menschen.** 

„Meine  Unterschrift  kann  ich  Ihnen  um  so  bereitwilliger 
zur  Verfügung  stellen,  als  ich  mich  gelegentlich  der  schriftlichen 
Phjsikatsprüfung  über  diese  Frage  auszusprechen  hatte  und  zu 
denselben  Anschauungen  betreffs  Änderung  des  §  175  gekommen 
bin,  wie  solche  von  Seiten  des  Komitees  niedergelegt  sind," 

„Mit  ganzem  Herzen  meine  Unterschrift." 

„Statt  besonderer  Bemerkungen  nur  ein  lebhaftes  Bravo!" 

Am  21.  April  kam  die  von  uns  inzwischen  neuer- 
dings eingerichtete,  um  die  ca.  750  Unterschriften 
vom  vergangenen  Sommer  bereicherte  Petition  in  der 
einschlägigen  Kommission  des  Reichstags  abermals  zur 
Beratung.  Es  entspann  sich  darüber  eine  lebhafte 
Diskussion,  die  über  zwei  Stunden  in  Anspruch 
nahm.  Als  Vertreter  der  Regierung  war  Herr  Ober- 
Regierungsrat    Dr.    V.    Tischendorff   erschienen.      Er 


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—     667     — 

erklärte  auf  die  Frage,  wie  sich  die  Yerbündeten 
Begier ungen  zu  einer  Änderung  des  §  175  stellten,  daß 
er  hierüber  eine  Mitteilung  zu  machen  nicht  in  der  Lage 
sei.  Ein  der  Yorliegenden  Petition  wörtlich  gleicher 
Antrag  sei  auch  an  den  Reichskanzler  gelangt  und  den- 
jenigen Materialien  beigefügt  worden,  welche  bei  der 
bevorstehenden  allgemeinen  Revision  des  Strafgesetzbuches 
in  Betracht  zu  ziehen  sein  würden.  Der  Referent,  Ab- 
geordneter Dr.  Thal  er  (Ctr.),  trat  in  längerer  Rede  ent- 
schieden gegen  die  gewünschte  Abänderung  des  Straf- 
gesetzbuches ein.  Er  berief  sich  namentlich  auf  Wachen - 
feld,  daueben  aber  auch  auf  Eulenburg  und  Näcke, 
die  bekanntlich  beide  zu  den  Unterzeichnern  der  Petition 
gehören.  Die  Gründe,  welche  gegen  den  §  175  angeführt 
würden,  könnten  nicht  anerkannt  werden,  und  wie  der 
Staat  alle  Mittel  aufbiete  zur  Bekämpfung  der  Reblaus 
in  den  Weinbergen  und  der  Rotzkrankheit  der  Pferde, 
so  sei  er  auch  verpflichtet,  der  Unzucht  zwischen  Gleich- 
geschlechtlichen entgegenzutreten.  Er  bedauerte,  daß 
in  dieser  Hinsicht  nur  die  Männer  und  nicht  auch  die 
Frauen  unter  Strafe  gestellt  würden.  Würde  man  den 
Wünschen  der  Petenten  Rechnung  tragen,  so  wäre  das 
eine  schwere  Schädigung  des  Staatswohls.  Die  Straf- 
losigkeit der  Homosexuellen  sei  mit  schuld,  daß  Frank- 
reich unter  der  Abnahme  der  Bevölkerung  zu  leiden  habe. 
Einer  solchen  Gefahr  dürfte  sich  das  Deutsche  Reich 
nicht  aussetzen. 

Die  Sozialdemokraten  Abg.  Dr.  Braun  und  Thiele 
traten  dem  Referenten  entgegen.  Man  brauche  keine 
besondere  Vorliebe  für  Homosexuelle  zu  haben,  um  die 
Petition  für  berechtigt  zu  halten,  um  so  mehr  als  nam- 
hafte medizinische  Sachverständige  sich  für  die  Auf- 
hebung des  bezeichneten  Strafgesetzes  erklärt  hätten.  Es 
sei  nachgewiesen,  daß  ein  großer  Teil  der  mit  Strafe 
Bedrohten    unter    dem    Zwang    einer    anormalen    Ver- 

/ 

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—     668     — 

anlagung  stehe.  Die  Annahme  des  Referenten,  daß  die 
Entvölkerung  Frankreichs  auf  die  Straflosigkeit  des 
gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  zurückzufuhren  sei,  sei 
eine  durchaus  irrige. 

Abg.  Dr.  Potthoff  (frs.  Vg.)  führte  aus,  daß  man 
nicht,  wie  es  der  Referent  getan,  auf  die  in  früheren 
Jahrhunderten  gegen  den  Verkehr  zwischen  Gleich- 
geschlechtlichen vorgebrachten  Gründe  einzugehen  habe, 
da  wir  ja  sonst  auch  heute  noch  in  Deutschland  die 
Hexenverbrennung  haben  würden.  Durch  die  Bestrafung 
mache  man  die  Homosexuellen  zu  Märtyrern  und  fördere 
die  von  ihnen  getriebene  Agitation. 

Abg.  Dr.  Mugdan  (frs.  Vp.)  trat  ebenfalls  für  die 
Petition  ein.  Nur  wenn  ein  Zwang  ausgeübt  würde  oder 
falls  Eander  mißbraucht  würden,  sei  eine  Bestrafung  zu 
empfehlen. 

Abg.  Dr.  Hof  fei  (Rp.)  erwiderte,  daß  in  ärztlichen 
Kreisen  die  Mehrheit  sich  der  Forderung  der  Petenten 
gegenüber  ablehnend  verhalte.  Wenn  man  von  natür- 
licher Veranlagung  vieler  Homosexueller  spreche,  so  könne 
er  nur  sagen,  daß  ihm  in  seiner  dreißigjährigen  ärztlichen 
Praxis  noch  kein  solcher  Fall  zur  Kenntnis  gekommen  sei. 

Das  Ergebnis  der  Abstimmung  in  der  Petitions- 
kommission war  folgendes:  Der  sozialdemokratische  An- 
trag, die  Petition  dem  Reichskanzler  zur  Berücksichtigung 
zu  überweisen,  wurde  gegen  5  Stimmen,  der  freisinnige 
Antrag:  Überweisung  zur  Erwägung  gegen  6  Stimmen 
und  ein  anderer  Antrag:  Überweisung  an  den  Reichs- 
kanzler als  Material  gegen  9  Stimmen  abgelehnt.  Die 
Mehrheit  beschloß  Übergang  zur  Tagesordnung. 

.  Nach  den  Bestimmungen  der  parlamentarischen  Ge- 
schäftserledigung mußte  die  Angelegenheit  hierauf  im 
Plenum  des  Reichstags  zur  weiteren  Verhandlung  kommen. 
Diese  Verhandlung  hat  aber  bis  heute  noch  nicht  statt- 
gefunden.  Als  die  Petition  —  am  11.  Juni  —  zur  Sprache 


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—     669     — 

kommen  sollte,  stellte  vielmehr  der  Abgeordnete  Graf 
Hompesch  den  unbegründet  gebliebenen  Antrag,  sie  von 
der  Tagesordnung  abzusetzen.  Dem  Antrag  gemäß  warde 
sodann,  wie  es  auch  mit  noch  anderen  Petitionen  ge- 
schehen war,  Vertagung   des  Gegenstandes  beschlossen. 

Die  Kommission  zur  Vorberatung  eines  neuen  Straf- 
gesetzentwurfs für  das  Deutsche  Reich  ist,  so  viel  wir 
wissen,  innerhalb  des  Berichtsjahres  nicht  zusammen- 
getreten. Danach  zu  urteilen^  dürfte  wohl  noch  eine 
geraume  Zeit  verstreichen  und  noch  manches  Opfer  fallen, 
mancher  rechtschaffene  Mann  sein  Brot,  mancher  Andere 
seine  Heimat  und  seine  Lieben,  und  mancher  Lebens- 
mut und  Widerstandsfähigkeit  verlieren,  bis  durch 
eine  allgemeine  Revision  des  Strafgesetzes  der  folgen- 
schweren Rechtsverirrung  ein  Ende  bereitet  wird,  die 
heute  einer  ganzen  Menschenklasse  ihre  Natur  zum  Ver- 
brechen stempelt,  vorausgesetzt,  daß  es  nicht  gelingt, 
schon  früher  eine  Änderung  herbeizufuhren.  Wir  unter- 
ließen übrigens  dessen  ungeachtet  keineswegs,  an  die 
Mitglieder  der  Kommission  neuerdings  Material  zu  ver- 
senden und  ihnen  die  Bedeutung  einer  Frage,  welche  die 
tiefsten  Interessen  tausender  von  Menschen  berührt,  nach- 
drücklich in  Erinnerung  zu  rufen. 

Anders  steht  es,  wie  in  diesem  Zusammenhang 
erwähnt  werden  mag,  mit  den  neuen  Strafgesetzentwürfen 
in  Österreich  und  der  Schweiz.  Beide  Entwürfe  liegen 
bereits  fertig  vor.  Der  österreichische  hat,  wie  wir  aus 
zuverlässiger  Quelle  erfahren,  den  gegenwärtigen  §  129 
völlig  ausgeschaltet  und  behandelt  den  homosexuellen 
Verkehr  nicht  anders,  als  den  außerehelichen  Umgang 
der  Normalsexuellen.  Der  schweizerische  Entwurf  dagegen, 
der  als  Grundlage  für  ein,  allen  Kantonen  gemeinsames, 
Strafgesetz  gedacht  ist,  setzt  für  homosexuelle  Hand- 
lungen nur  bedingte  Straflosigkeit  fest.  Er  bestimmt: 
„Der  Mehrjährige,  welcher  mit  einem  Minderjährigen  wider- 


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—     670     — 

natürliche  Unzucht  begeht,  wird  mit  Gefängnis  nicht 
unter  6  Monaten  bestraft/'  Auf  eine  von  uns  eingezogene 
Erkundigung  über  die  Begriffe  „Mehrjährig"  und  „Minder- 
jährig'' erhielten  wir  folgende  Antwort: 

Schweizerische  Bundesanwaltschafit. 


MinistSre  public  fiSd^ral.  Bern,  den  17.  Mai  1904. 

Geehrter  Herr! 

Ihre  Anfrage  vom  80.  April  ds.  Jb.,  betreffend  die  Bedeutang 
des  Ausdruckes  „Minderjährig"  in  Art  134  des  revidierten  Vor- 
entwurfes f&r  ein  schweizerisches  Strafgesetz,  kann  ich  dahin  be- 
antworten, daß  in  diesem  Entwurf  überall  unter  „Minderjährigen" 
solche  Personen  beiderlei  Geschlechts  verstanden  sind,  welche  das 
zwanzigste  Altersjahr  noch  nicht  zurückgelegt  haben,  entsprechend 
dem  Art.  2  des  Bundesgesetzes  vom  22.  Juli  1881,  betreffend  die 
persönliche  Handlungsfähigkeit. 

Die  Expertenkommission ,  welcher  der  Unterzeichnete  im 
Jahre  1902/8  präsidierte,  hat  selbstverständlich  die  Literatur  über 
Homosexualität  usw.  gewürdigt,  soweit  ihr  solche  zugänglich  war, 
und  es  wird  dies  auch  in  den  weiteren  Stadien  der  Gesetzes- 
beratung geschehen.  Die  Publikationen  des  wissenschaftlich- 
humanitären  Komitees  lagen  uns  allerdings  bis  dahin  noch  nicht  vor. 

Hochachtungsvoll 
Der  Greneralanwalt:  (gez.)  O.  Eronauer. 

Danach  wäre  der  sexuelle  Verkehr  von  männlichen 
Personen  nicht  strafbar ,  wenn  beide  Beteiligte  über 
20  Jahre  oder  beide  unter  20  Jahre  alt  sind. 

Es  ist  selbstverständlich  unser  Wunsch,  auch  hier 
zu  einer  glücklicheren,  weniger  willkürlichen  Lösung  der 
Frage  beitragen  zu  können. 

Im  Anschluß  hieran  mag  noch  des  Standes  der  An- 
gelegenheit in  Rußland  Erwähnung  geschehen.  Wie  uns 
von  dort  mitgeteilt  worden,  ist  vom  Justizministerium  in 
St.  Petersburg  ein  Geheimerlaß  ergangen,  der  den  Ge- 
richten nahelegt,  homosexuelle  Handlungen  nur  so  weit 
zu   verfolgen,    als   es   sich   mit  Rücksicht  auf  die  vor- 


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-     671     — 

handenen  Umstände  nicht  wohl  vermeiden  läßt.  Nach 
Berichten,  die  uns  schon  früher  geworden  sind,  ist  es 
übrigens,  namentlich  in  den  größeren  Städten,  auch  bisher 
bereits  ähnlich  gehalten  worden.  In  vielen  Teilen  des 
asiatischen  ßußlands  wird  das  Gesetz,  welches  unserem 
§  175  entspricht,  überhaupt  gar  nicht  gehandhabt.  So 
sehr  nun  die  Einsicht  zu  begrüßen  ist,  welche  immerhin 
aus  diesen  Zugeständnissen  spricht,  läßt  sich  doch 
andererseits  wieder  denken,  welch  ernste  Gefahren  ein 
solcher  Zustand  für  den  moralischen  Geist  der  Bechts- 
ptiege,  für  ihre  gesunden  Grundsätze  und  ihr  Ansehen 
in  sich  schließt  Es  ist  der  Fluch  des  Unrechts,  das  man 
zum  Gesetz  erhoben,  daß  aus  ihm,  wie  man  es  auch 
immer  damit  halten  mag,  niemals  Segen,  sondern  nur 
Übel  und  Unheil  erwachsen  kann. 

Neben  unserer  Petition  war  es  besonders  auch  die 
kleine  Schrift:  „Was  soll  das  Volk  vom  dritten 
Geschlecht  wissen?",  deren  Verbreitung  wir  uns  an- 
gelegen sein  ließen.  Die  Schrift  erschien,  nach  sorg- 
fältigen Beratungen  verbessert  und  ergänzt,  in  neuer  — 
neunzehnter  —  Auflage  und  erfüllt  fortgesetzt  ihren 
schönen  Beruf,  Menschen,  die  ihr  eigenes  Selbst  als  ein 
drückendes,  quälendes  Rätsel  empfinden,  Klarheit  und 
Beruhigung  zu  gewähren,  sie  zu  erlösen  von  der  Pein 
des  Gedankens,  mit  ihrem  Geheimnis  ganz  allein  zu 
stehen  in  der  Welt,  und  ihren  Mitmenschen  die  Mög- 
lichkeit eines  richtigen  und  gerechten  Urteils  zu  ver- 
mitteln. 

In  dem  Streben,  die  Ergebnisse  der  Wissenschaft 
zur  Kenntnis  immer  weiterer  Kreise  zu  bringen,  sind  wir 
übrigens  auch  von  einem  Teil  der  Presse  dankenswert 
unterstützt  worden.  Eine  große  Anzahl  von  Artikeln,  in 
Blättern  und  Zeitschriften  der  verschiedensten  Art,  er- 
örterte das  Problem  der  Homosexualität,  die  Beseitigung 
des  §  175  und  die  damit  zusammenhängenden  Fragen, 


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wohlgesinntem  Ton.  Der  Bann  des  Schweigens,  der  noch 
vor  einem  Jahrzehnt,  sogar  noch  vor  einem  halben^  über 
dem  Gegenstand  gelegen  hat,  ist,  wenn  auch  noch  nicht 
gebrochen,  so  doch  schon  wesentlich  erschüttert  Das 
aber  ist  ein  Erfolg,  dessen  Tragweite  wir  nicht  verkennen, 
über  den  wir  uns  aufrichtig  freuen  dürfen.  Hieran  ver- 
mögen auch  Angrifife  von  Gegnern  nichts  zu  ändern. 
Sie  können  vielmehr  nur,  wenn  auch  sehr  im  Widerspruch 
mit  ihrer  Absicht,  die  Entwicklung  beschleunigen,  auf 
Grund  deren  die  Frage  der  Homosexualität  immer  mehr 
in  den  Vordergrund  des  öffentlichen  Interesses  rückt 
Es  gibt  Kreise,  in  welche  die  Wahrheit  kaum  anders  zu 
dringen  vermag,  als  auf  dem  Umweg  ihrer  polemisch 
betonten  Negation.  Unter  diesem  Gesichtswinkel  betrachten 
wir  Veröffentlichungen,  wie  sie  im  Monat  Juni  dieses 
Jahres  der  „ßeichsbote^^  und  die  „Deutsche  Tages- 
zeitung'^,  sowie  ein  kleines  Antisemitenblatt  der  Reichs- 
hauptstadt gebracht  hatten.  Von  der  „Deutschen 
Tageszeitung'^  war  sogar  der  Mord  an  der  kleinen 
Lucie  Berlin  als  Anlaß  benutzt  worden,  um  Beschuldi- 
gungen gegen  die  Homosexuellen  zu  erbeben.  Das  Blatt 
hatte  geschrieben: 

„Wir  wollen  heate  nur  noch  auf  eine  Erscheinung  auf- 
merksam machen,  die  in  ursächlichem  Zusammenhang  mit  dem 
eben  erwähnten  Verbrechen  steht  Wir  meinen  das  schamlose 
Eintreten  für  geschlechtliche  Verirrungen,  für  den  sogenannten 
Homosexualismus,  der  sogar  durch  Eingaben  an  den  Reichstag 
unter  Beihilfe  von  Ärzten,  Professoren  usw.  für  seine  verbreche- 
rische Neigung  die  gesetzliche  Erlaubnis  und  Anerkennung  zu  er- 
wirken bestrebt  ist  ... .  Die  Regierung  erkennt  augenscheinlich 
nicht,  daß  zwischen  Homosexualität  und  Lustmorden  eine  sehr 
nahe  Verwandtschaft  besteht,  und  daß  bereits  Lustmorde  von 
Homosexuellen  zu  verzeichnen  sind.^' 

Wie  sehr  das  literarische  Interesse  fortgesetzt  unserem 
Gegenstande  zugewendet  blieb,  zeigt  wieder  die  umfang- 


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—     673     -^ 

reiche  Bibliographie,  trotzdem  sie  keineswegs  auf  Voll- 
ständigkeit Ansprach  macht  Denn  die  Besprechungen 
des  letzten  Jahrbuchs  sind  darin,  aus  Gründen,  die  bereits 
an  anderer  Stelle  mitgeteilt  wurden,  nur  zum  kleinsten 
Teil  verzeichnet.  Und  gerade  diese  waren,  durch  ihre 
Zahl  sowohl,  als  durch  die  warme  Anerkennung,  die  sie 
beinahe  ausnahmslos  unserer  wissenschaftlichen  Tätigkeit 
zollten,  in  erhöhtem  Maß  bemerkenswert  Der  Reichtum 
und  die  Fülle  des  Materials,  der  wissenschaftlich  ernste 
Geist  und  die  Bedeutsamkeit  der  Arbeiten  haben  fast 
einstimmige  Würdigung  gefunden.  Wenn  nun  das  Jahr- 
buch heuer,  trotzdem  es  zu  einem  so  erfolgreichen  Hilfs- 
mittel für  uns  geworden  ist,  in  stark  verkleinertem  Um- 
fang erscheint,  so  erklärt  sich  das  aus  Gründen,  die  in 
der  besonderen  Eigenart  der  Verhältnisse  liegen,  mit 
denen  wir  rechnen  müssen.  P]s  ist  nicht  etwa  Mangel 
an  Stoff,  der  uns  eine  Reduktion  nahe  legte.  Als  vor 
6  Jahren  der  erste  Band,  280  Seiten  stark,  erschien, 
glaubten  freilich  sehr  viele,  es  werde  sich  der  Stoff  nicht 
finden  lassen,  alljährlich  einen  Band  zu  füllen.  Bald 
aber  zeigte  es  sich,  daß  das  Gebiet  des  Uranismus  einem 
großen  Stück  Lande  gleicht,  welches  lange  verschüttet 
lag.  Als  die  Ersten  zu  graben  begannen,  meinten  sie 
nur  eine  kleine  Fläche  vor  sich  zu  haben.  Je  tiefer  sie 
aber  drangen,  auf  um  so  breitere  Schichten  stießen  sie. 
Wer  auch  immer  sich  an  die  Arbeit  machte,  ob  der  Arzt, 
der  Theologe,  der  Naturforscher,  der  Philosoph  oder  der 
Historiker,  ob  der  Gelehrte,  der  Künstler  oder  der 
Philantrop,  ein  Jeder  fand  unter  der  Decke  Schätze,  von 
denen  er  sich  in  solchem  Umfang  nichts  hatte  träumen 
lassen.  Von  Mangel  an  Stoff  kann  also  nicht  die  Rede 
sein,  dieser  wächst  vielmehr  dem  Forscher  sozusagen 
unter  der  Hand.'  Denn  fortgesetzt  eröffnen  sich  ihm 
neue  Ausblicke  und  fortgesetzt  stößt  er,  erst  ahnend, 
dann  erkennend,  auf  neue  Zusammenhänge.   Ebenso  fehlt 

Jahrbuch  VI.  43 


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aroeitem.  wom  aoer  iieDen  wir  uns  zunacnst  oesummen 
durch  die  Bücksicht  auf  minder  bemittelte  Interessenten, 
aus  deren  £j*eisen  schon  wiederholt  Klage  geführt  worden 
war^  daB  viele  von  ihnen  das  Buch  seines  hohen  Preises 
wegen  nicht  mehr  anzuschaffen  vermöchten.  Dazu  kam 
weiter  der  Umstand,  daß  wir  uns  in  der  propagandistischen 
Verbreitung  des  Werkes  infolge  des  wachsenden  Umfangs 
und  der  dadurch  bedingten  Verteuerung  allmählich  zu 
starke  Beschränkungen  auferlegen  mußten,  so  daß  eine 
Beduktion^  ungeachtet  des  reichlicheren  Zuflusses  von 
materiellen  Mitteln,  im  Interesse  größerer  Beweglichkeit 
und  extensiverer  Wirkung  unserer  Aufklärungsarbeit 
überaus  wünschenswert  erschien.  Wir  werden  daher 
voraussichtlich  auch  in  den  nächsten  Jahren  den  Umfang 
des  heurigen  Bandes  beizubehalten  suchen. 

Durch  die  Freigebigkeit  des  Verlags  von  Max 
Spohr  in  Leipzig  waren  wir  in  den  Stand  gesetzt,  das 
Jahrbuch  sämtlichen  Universitätsbibliotheken  Deutschlands 
und  Österreich-Ungarns  unentgeltich  zur  Verfügung  zu 
stellen.  Wir  hatten  uns  dazu  entschlossen,  um  für  das 
Werk,  wenn  möglich,  die  Begünstigung  zu  erwirken, 
trotz  seines  rein  sexual- wissenschaftlichen  Inhalts  ohne 
erschwerende  Schranken  benutzt  werden  zu  können.  Auf 
unser  an  die  Bibliotheksverwaltungen  gerichtetes  Schreiben 
hin  haben  sich  bis  zur  Zeit^  wo  dieser  Jahresbericht  dem 
Druck  übergeben  wurde,  die  nachfolgenden  Universitäten 
bereit  erklärt:  Budapest,  Erlangen,  Gießen,  Graz,  Halle, 
Jena,  Leipzig,  Marburg,  München,  Prag,  Straßburg, 
Tübingen  und  Würzburg.  Die  Bibliotheksverwaltung  der 
Universität  Erlangen  verwies  in  ihrer  Antwort  noch 
besonders  auf  ein  Gutachten  der  medizinischen  Fakultät, 
das  den  „wissenschaftlichen  Wert  des  Jahrbuchs  für  die 
gerichtliche  Medizin,  die  Psychiatrie  und  die  Kultur- 
geschichte" ehrend  hervorhob.    Die  Universitätsbibliothek 


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—     675     — 

Berlin  will  das  Werk  denjenigen  zugänglich  machen^  die 
sich  entweder  über  ihre  wissenschaftlichen  Absichten 
genügend  ausweisen  können  oder  durch  ihren  Beruf  ein 
Fachinteresse  voraussetzen  lassen.  Die  Universitäts- 
bibliothek Breslau  behält  sich  vor,  von  ihrem  Recht,  in 
jedem  einzelnen  Fall  über  die  Zulässigkeit  der  Benutzung 
zu  entscheiden,  Gebrauch  zu  machen.  Die  K.  K  üniversi- 
tätsbibhothek  Wien  endlich  teilte  uns  mit,  daß  sie  sämt- 
liche Bände  des  Jahrbuchs  schon  besitzt. 

Neben  der  mit  literarischen  Mitteln  betriebenen  Auf- 
klärungsarbeit ging  wieder  diejenige  durch  das  lebendige 
Wort  einher. 

Der  Herausgeber  sprach  auf  der  75.  Versammlung 
Deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  in  Kassel  über  „Das 
urnische  Kind",  desgleichen  zweimal  vor  Berliner  Ärzten 
über  „Sexuelle  Zwischenstufen  unter  nament- 
licher Berücksichtigung  der  Homosexualität.^' 
Auch  ein  Vortrag  Dr.  Merzbachs,  ebenfalls  vor  Berliner 
Ärzten,  galt  demselben  Gegenstand.  Trotz  großer 
Schwierigkeiten,  die  bisweilen  zu  überwinden  waren, 
blieben  wir  ferner  darauf  bedacht,  durch  öffentliche  Volks- 
versammlungen die  Sache  der  Aufklärung  zu  fördern. 
Der  Herausgeber  sprach,  außer  in  Berlin,  in  Dresden,  in 
Frankfurt  a.  M.,  hier  zum  zweiten  Male,  und  in  Hannover, 
immer  unter  zahlreicher  Beteiligung.  Ein  Vortrag  in 
Leipzig  war  verboten  worden,  während  die  Genehmigung 
für  den  in  Hannover  von  Bedingungen  abhängig  gemacht 
wurde.  Wir  glauben,  das  betreffende  Schreiben  des  Herrn 
Polizeipräsidenten  veröffentlichen  zu  sollen; 

„Auf  die  Eingabe  vom  10.  v.  Mts.  gestatte  ich  hiermit  die 
Abhaltung  eines  Vortrags  über  „Die  homosexuelle  Frage".  Ich 
mache  jedoch  dabei  zur  Bedingung,  daß  1.  die  Erörterungen  nur 
eine  wissenschaftliche  Erläuterung  der  Homosexualität,  die  Cha- 
rakterisierung der  Homosexuellen  als  Kranker  statt  als  Verbrecher 
und  somit  nur  eine  Aufklärung  der  Verhältnisse  bezwecken,  welche 

48* 


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sammennange  stenen,  ana  2s.  zu  dem  vortrage  nur  manniicne  rer- 
Bonen,  and  zwar  solche,  die  das  18.  Lebensjahr  überschritten 
haben,  zugelassen  werden.  Falls  Sie  diesen  Bedingungen  nicht 
nachkommen  sollten,  insbesondere,  wenn  Sie  die  Ausübung  der 
zur  2^it  strafrechtlich  verfolgten  sogenannten  widernatürlichen 
Unzucht  den  Versammelten  aus  irgendwelchen  Gründen  empfehlen, 
die  Einführung  dieser  strafbaren  Handlung  als  Zweck  des  Vor- 
trags bezeichnen  und  in  Verfolgung  dieses  Zweckes  etwa  die 
widernatürliche  Unzucht  verherrlichende  Gedichte  oder  andere 
schriftstellerische  Arbeiten  zum  Vortrag  bringen  oder  wenn  Sie 
schließlich  die  Erörterung  des  Themas  der  Homosexualität  zum 
Ausgangspunkte  nehmen  würden,  um  sich  in  anstößiger  Weise 
über  normale  und  anormale  Geschlechts  Vorgänge  auszulassen, 
haben  Sie  die  Auflösung  der  Versammlung  zu  gewärtigen.  Wann 
und  wo  der  geplante  Vortrag  stattfinden  soll,  haben  Sie  mir  ge- 
mäß §  1  des  Vereinsgesetzes  vom  11.  März  1850  rechtzeitig  an- 
zuzeigen. 

Der  Polizei- Präsident  zu  Hannover, 
(gez.)  Steinmeister." 

Von  anderen  Vorträgen,  die  zum  größeren  Teil  un- 
abhängig von  unserem  Komitee  veranstaltet  wurden,  er- 
wähnen wir  noch  diejenigen  Dr.  M.  Eosenthals  in 
Erfurt  und  in  Apolda,  Schriftstellers  M.  Kaufmann  in 
verschiedenen  Orten  der  Schweiz,  so  in  Bern,  Biel, 
Luzern,  Winterthur  und  Zürich,  Eeinhold  Gerlings 
in  Bremen,  Chemnitz,  Döbeln,  Frankfurt  a.  M.,  Köln, 
Magdeburg,  Stralsund  und  Wiesbaden,  L.  S.  A.  M.  von 
Römers  in  Amsterdam,  Delft,  Haarlem  und  Leiden.  Die 
Vorträge  v.  Römers,  der  in  den  Niederlanden  eine 
überaus  rührige,  geschickte  und  opferwillige  Tätigkeit 
entfaltet,  begegneten  einem  nicht  minder  regen  Interesse 
als  diejenigen  in  Deutschland,  weckten  aber  selbstver- 
ständlich auch  Widerspruch.  Namentlich  war  es  der 
niederländische  Ministerpräsident,  Dr.  Kuyper,  der  sich 
auf  einer  Versammlung  der  „Vereinigung  christlicher 
Lehrer"  in  Amsterdam  gegen  v.  Römer  wendete.  Letzterer 


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—     677     — 

antwortete  darauf  in  einem  offenen  Brief  an  den  Minister, 
in  dem  er  betonte,  daß  er  keineswegs  beabsichtige,  die 
„Sünde  Sodoms"  gutzuheißen,  wie  ihm  vorgeworfen  worden 
war.  'EjT  sei  mehrfach  gebeten  worden,  einen  Vortrag 
über  das  homosexuelle  Problem  zu  halten,  und  dieser 
Einladung  folgend,  habe  er  in  Versammlungen  gesprochen. 
Die  Sünde  Sodoms  und  der  üranismus  seien  zwei  ganz 
verschiedene  Dinge  und  nur  Unkenntnis  des  letzteren 
könne  beide  miteinander  verwechseln,  wie  der  Minister 
es  getan  habe.  Er  wies  das  aus  der  Schrift  selber  nach 
und  berief  sich  dabei  auf  eine  große  Anzahl  von  Stellen, 
namentlich  des  alten  Testamentes.  Die  Liebe  von  David 
und  Jonathan  sei,  wie  er  besonders  hervorhob,  als  höchst 
ideale  Form  uranischer  Liebe  aufzufassen.  Er  sei  über- 
zeugt, daß  der  Minister  sich  niemals  so  geäußert  haben 
würde,  wie  er  (auch  früher  schon,  in  der  ersten  und 
zweiten  Kammer  der  Generalstaaten)  getan,  wenn  er  den 
Uranismus  wirklich  gekannt  hätte.  Er,  Schreiber  des 
Briefes,  habe  die  Kühnheit,  zu  behaupten,  daß  es  eine 
heilige  Pflicht  des  Ministers  wäre,  über  eine  Angelegen- 
heit, die  mindestens  2,2  ^/^  der  Menschheit  betrifft,  in 
Holland  also  mehr  als  100  000  Menschen,  sich  Klarheit 
zu  verschaffen. 

Mehr  vielleicht  als  alle  von  uns  im  abgelaufenen 
Berichtsjahr  unternommenen  Schritte  hat  den  Namen 
und  die  Sache  des  Komitees  der  vielbesprochene  Enquete- 
Prozeß  dem  Interesse  der  Öffentlichkeit  nahegelegt. 
Auf  seine  Vorgeschichte  einzugehen,  können  wir  uns 
um  so  eher  versagen,  als  bereits  in  dem  Artikel 
„Das  Ergebnis  der  statistischen  Untersuchungen 
über  den  Prozentsatz  der  Homosexuellen''  aus- 
flihrlich  davon  die  Rede  war.  Dagegen  mag  hier  Er- 
wähnung finden,  daß  der  Anteil,  den  Herr  Pastor  Philipps 
vom  Johannesstift  in  Plötzensee  an  dem  Prozeß  gehabt, 
weit  weniger  entscheidend  war,  als  man  nach  den  Be- 


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wissen,  daß  sehr  wahrscheinlich  auch  ohne  Herrn  Pastor 
Philipps,  wenn  schon  nicht  ohne  den  Einfluß  verwandter 
Inspirationen,  die  Anklage  erhoben  worden  sein  würde, 
was  wir,  um  völlig  gerecht  zu  sein,  ausdrücklich  fest- 
stellen möchten. 

Dies  vorausgeschickt,  bringen  wir  zunächst  die  An- 
klageschrift des  Oberstaatsanwaltes  Isenbiel,  datiert 
vom  13.  März  1904,  zum  Abdruck: 

„Der  praktische  Arzt.  Dr.  med.  Magnus  Hirschfeld  in  Char- 
lotteuburg  wird  angeklagt,  zu  Berlin  und  Charlottenburg  im 
Dezember  1903  durch  eine  und  dieselbe  Handlung 

a)  unzüchtige  Schriften  verbreitet, 

b)  die  Studenten  Walter  Götze  (phil.),  K.  Lange  (jur.), 
B.  Senkpiel  (jur.),  W.  Jakobi  (ing.),  Hans  Heinze  (arch.),  und 
Hans  Wrede  (cand.  med.) 

beleidigt  zu  haben  und  zwar  durch  Verbreitung  von  Schriften. 

Beweismittel: 

A.  £igene  Angaben. 

B.  Das  Eundschreiben  nebst  Antwortkarten. 

Der  Angeschuldigte  hat  im  Dezember  1903  an  8000  Stu- 
dierende der  Universität  in  Berlin  und  der  Technischen  Hoch- 
schule in  Charlottenburg  durch  die  Post  in  geschlossenem  Eouvert 
ein  gedrucktes  Schreiben  versandt,  in  welchem  die  Adressaten 
zur  Beantwortung  der  Frage,  ob  sich  ihr  Liebestrieb  (Geschlechts- 
trieb) auf  weibliche,  männliche,  oder  weibliche  und  männliche 
Personen  richte,  sowie  zu  sonstigen  Mitteilungen  aus  ihrem  Sexual- 
leben, sofern  dieses  von  der  Norm  abweiche,  aufgefordert  wurden. 
Zur  Beantwortung  der  ersterwähnten  Frage  lag  dem  Schreiben 
eine  frankierte  Postkarte  bei,  auf  welcher  die  Buchstaben  W.  M. 
und  W.  +  M.  sowie  die  Zahlen  von  16—30  vorgedruckt  waren. 
Durch  Unterstreichung  der  zutreffenden  Buchstaben  sollte  die 
Kichtung  des  Geschlechtstriebes,  durch  Unterstreichung  der  zu- 
treffenden Zahl    das  Alter  des  Antwortenden  bezeichnet  werden. 

Diese  Rundfrage  hat  bei  vielen  Empfangern  und  deren  Eltern 
sowie  in  der  Presse  gerechte  Entrüstung  hervorgerufen  und  die 
in  der  Anklageformel  benannten  Studenten  haben  dieserhalb  unter 
dem  15.  Januar  bezw.  15.  Februar  1904  Strafantrag  wegen  Be- 
leidigung gestellt. 


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—     679     — 

Der  Angeschuldigte  behauptet,  die  Rundfrage  im  Auftrage 
des  yywissenschaftlich-humanitären  Komitees",  dessen  Vorsitzender 
er  sei,  lediglich  im  Interesse  der  Wissenschaft  erlassen  zu  haben, 
und  zwar  in  so  diskreter  Form,  daß  sich  niemand  dadurch  habe 
beleidigt  fühlen  können.  Das  erwähnte  Komitee  habe  den  Zweck, 
das  Wesen  der  sogenannten  sexuellen  Zwischenstufen  zu  ermitteln. 
Das  versandte  Schreiben  tiägt  auch  die  Überschrift  „Rundfrage 
des  wissenschaftlich-humanitären  Komitees",  ebenso  lautet  die 
vorgedruckte  Adresse  auf  der  Antwortpostkarte:  „An  das  wissen- 
schaftlich-humanitäre Komitee"  in  Charlottenburg,  Berlinerstraße 
104,  II.  In  der  Tat  aber  besteht  dieses  Komitee  eigentlich  über- 
haupt nur  aus  dem  Angeschuldigten  selbst. 

Denn  nach  den  eigenen  Angaben  des  Angeschuldigten  in 
einer  ähnlichen  früheren  Sache  handelte  es  sich  dabei  um  eine 
freie  Vereinigung  ohne  festen  Mitgliederbestand,  welche  wissen- 
schaftliche Konferenzen  veranstaltet.  Zu  diesen  Konferenzen  er- 
läßt aber  das  Sekretariat  (d.  i.  der  Angeschuldigte  und  sein  aus 
freiwilligen  Beiträgen  bezahlter  Privatsekretär)  immer  erst  be- 
sondere Einladungen  an  300—500  Personen  angesehener  Kreise, 
bei  denen  Interesse  für  die  Frage  der  Homosexualität  voraus- 
gesetzt wird.  Daß  die  vorliegende  Rundfrage  auf  einem  beson- 
deren Beschluß  einer  solchen  Versammlung  beruhe,  behauptet  der 
Angeschuldigte  selbst  nicht. 

In  jedem  Falle  rechtfertigt  aber  das  etwaige  wissenschaft- 
liche Interesse,  das  eine  solche  Enquete  haben  könnte,  nicht  die 
schamverletzende  und  ehrenkränkende  Form  des  vorliegenden 
Rundschreibens. 

Es  wird  beantragt, 

die  Hauptverhandlung  vor  der  Strafkammer  des  Königlichen 
Landgerichts  I  zu  Berlin  stattfinden  zu  lassen." 

Rechtsanwalt  Chodziesner-Charlottenburg,  der  zu- 
sammen mit  Justizrat  Wronker-Berlin  die  Verteidigung 
übernommen  hatte,  beantragte  hierauf,  das  Verfahren 
gegen  den  Angeschuldigten  einzustellen,  und  reichte  zu 
diesem  Zweck  eine  ausführliche  Denkschrift  ein,  die  wir 
ebenfalls  hier  folgen  lassen: 

„In  der  Strafsache  gegen  Dr.  Magnus  Hirschfeld  beantrage 
ich,  das  Verfahren  gegen  den  Angeschuldigten  einzustellen. 
Auf  die  Anklage  wird  Folgendes  erwidert: 


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richtigt  werden: 

a)  Es  wird  behauptet,  daß  die  Rundfrage  bei  vielen  Em- 
pfängern und  deren  Eltern  sowie  in  d(;r  Presse  gerechte  Ent- 
rüstung hervorgerufen  habe. 

Die  tatsächliche  Unrichtigkeit  ergibt  sich  daraus,  daß  von 
3000  Befragten  über  1700  die  Karten  anstandslos  in  der  ge- 
wünschten Weise  ausgefüllt  haben.  Nur  zehn  Namen  von  Em- 
pfängern und  deren  Eltern  weisen  die  Akten  auf  trotz  eines  An- 
schlages am  schwarzen  Brett  der  Technischen  Hochschule.  Von 
ihnen  haben  die  beiden  Väter  Rendschmidt  und  Uagemann  ihre 
Anzeigen  zurückgezogen,  desgleichen  die  beiden  Empfänger 
Malbranc  und  Strieboll. 

Beim  besten  Willen  wird  man  10  unter  3000  Personen  nicht 
als  „viele"  bezeichnen  können. 

Im  Gegensatz  zur  medizinischen  Fach-  und  Universitätspresse 
hat  die  Tagespresse  —  deren  Meinung  sonst  für  die  Königliche 
Staatsanwaltschaft  nicht  existiert  —  vereinzelt  gegen  die  Enquete 
Stellung  genommen. 

Es  sollte  gerechterweise,  wenn  man  hierauf  Bezug  nimmt, 
zunächst  aufgeklärt  werden,  ob  die  für  die  Artikel  verantwortliche 
Persönlichkeit  auch  selber  das  Rundschreiben  gesehen  und  mit 
Aufmerksamkeit  durchgelesen  oder  ob  diese  ihre  „gerechte  Ent- 
rüstung'' nicht  vielmehr  aus  der  unverantwortlichen  Quelle  ge- 
schöpft hat,  von  welcher  die  jetzige  Verfolgung  des  wissenschaft- 
lich-humanitären Komitees  und  insbesondere  des  Hen-n  Dr.  Hirsch- 
feld ausgeht. 

b)  Das  wissenschaftlich-humanitäre  Komitee  besteht  weder 
„eigentlich"  noch  uneigentlich  überhaupt  nur  aus  dem  Ange- 
schuldigten selbst.     Nur  der  Sitz  des  Komitees  ist  in  der  Privat- 

,  Wohnung  des  Herrn  Dr.  Hirschfeld.  Es  beteiligen  sich  zu  jeder 
Zeit  verschiedene  Herren  an  den  zur  Aufklärung  über  die  sexu- 
ellen Zwischenstufen  notwendigen  Arbeiten. 

Die  Enquete  an  sich  ist  —  im  Gegensatz  zu  der  Behauptung 
der  Anklage  —  auf  der  11.  Halbjahrskonferenz  beschlossen  worden, 
die  im  Hotel  „Prinz  Albrecht"  tagte  und  von  etwa  150  bis  200 
Personen,  darunter  einer  großen  Anzahl  von  Ärzten,  besucht  war. 
Von  dieser  Versammlung  wurde  die  statistische  Kommission  ge- 
wählt, welche  vorzugsweise  aus  Ärzten  bestand  und  nach  wieder- 
holten eingehenden  Beratungen  die  Form  des  Rundschreibens  be- 
stimmte. 


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—     681     — 

Es  wurden  die  Studierenden  der  Technischen  Hochschule 
aus  der  Erwägung  heraus  für  hesonders  geeignet  zur  Anfrage  ge- 
halten, daß  sie  in  einer  eminent  modernen  Wissenschaft  gebildet 
werden,  der  jede  Sentimentalität  und  Weichlichkeit  fehlt,  bei  der 
klares,  mathematisches  Denken  im  Vordergrunde  steht.  So  konnte 
man  auf  einen  besonders  großen  Prozentsatz  der  Antworten  und 
auf  eine  besondere  Zuverlässigkeit  rechnen. 

IL  Die  Anklage  beschränkt  sich  darauf,  von  der  scham- 
verletzenden und  ehrenkränkenden  Form  des  Rundschreibens  zu 
sprechen.  Worin  diese  Schamverletzung  und  Ehrenkränkung  der 
vorliegenden  Form  besteht,  verschweigt  die  Anklage.  Sie  ist  da- 
her, wie  sie  vorliegt,  gar  nicht  zu  widerlegen,  da  man  bekannt- 
lich nur  gegen  Gründe  ankämpfen  kann.  Sie  reicht  mit  ihren 
Kriterien  „Schamverletzung"  und  „Ehrenkränkung"  allein  nicht 
zur  strafrechtlichen  Verfolgung  der  zur  Anklage  stehenden  Hand- 
lung, Verbreitung  unzüchtiger  Schriften  und  Beleidigung,  aus. 

a)  Verbreitung  unzüchtiger  Schriften.  Unzüchtige  Schriften 
sind  solche,  deren  Inhalt  das  Scham-  und  Sittlichkeitsgefühl  in 
geschlechtlicher  Beziehung  gröblich  verletzt.  (Entscheidung  des 
Reichsgerichts  in  Nr.  8,  Bd.  IV,  S.  37,  Rechtsprechung  des 
Reichsgerichts  in  Nr.  d,  Bd.  HI,  S.  52). 

Der  Inhalt  muß  jedoch  objektiv  unzüchtig  sein.  Die  sub- 
jektive Anschauung  und  individuelle  Empfindung  einzelner  Per- 
sonen ist  nicht  entscheidend.  (Annalen  des  Reichsgerichts,  Bd.  II, 
S.  121,  Entscheidungen  des  Reichsgerichts,  Bd.  XXVI,  S.  370, 
Goltdammers  Archiv,  Bd.  XLIII,  S.  115.) 

Diese  objektive  Unzüchtigkeit  des  Rundschreibens  nimmt 
offensichtlich  nicht  einmal  die  Anklage  an.  Es  dürfte  auch  schwer 
fallen,  unter  Anlegung  des  obigen  Maßstabes  der  Unzüchtigkeit 
sie  in  dem  Rundschreiben  zu  finden.  Vornehmer  und  zurück- 
haltender konnte  sich  dieses  Schreiben  überhaupt  nicht  halten. 
Es  wird  zunächst  der  Zweck  und  die  Bedeutung  der  Enquete 
klargestellt.  Sodann  wird  erklärt,  warum  man  gerade  zu  dieser 
Rundfrage  gekommen  ist  und  warum  man  sich  zuvörderst  an 
die  akademische  Jugend  wendet:  „Weil  wir  bei  ihr  den  sitt-, 
liehen  Ernst  .  .  .  .  voraussetzen  dürfen,  worauf  wir  unbedingt 
rechnen  müssen."     So  spricht  nicht  die  Unzüchtigkeit! 

Es  heißt  dann  wörtlich  weiter:  „Die  Haupt&age,  welche  wit 
Ihnen  vorlegen,  ist  folgende:  „Richtet  sich  Ihr  Liebestrieb  (Ge- 
schlechtstrieb) auf  weibliche  (W),  männliche  (M)  oder  weibliche 
und  männliche  Personen?"  Soll  in  dieser  Frage  eine  grobe  Ver- 
letzung des  Scham-  und  Sittlichkeitsgefühls  gefunden  werden? 


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Behandlung  sexueller  Fragen  einnimmt.  Es  gibt  hier  zwei 
Richtungen:  die  ältere  knüpft  an  die  mittelalterliche  Tradition 
an,  welche  im  Sexuellen  an  sich,  also  abgesehen  von  der  Frage, 
ob  irgend  Jemand  oder  irgend  ein  Interesse  verletzt  wird,  etwas 
Unheimliches  oder  Sündhaftes  wittert,  von  dem  man  am  besten 
gar  nicht  redet.  Die  Folge  dieses  unseligen  Irrtums  ist  vor 
Allem  die,  daß,  nach  der  Ansicht  der  Spezialisten,  wie  Eohleder, 
etwa  99  Prozent  unserer  männlichen  erwachsenen  Jugend  dem 
Laster  der  einsamen  Onanie  verfallen  war  oder  größtenteils  noch 
ist,  einer  Form  der  Unkeuschkeit,  welche  mehr  als  irgend  andere 
oder  doch  noch  am  ehesten  das  Prädikat  der  sogenannten  „Wider- 
natürlichkeit"  verdient  und  die  nach  den  ausgezeichneten  Er- 
wägungen Gustav  Jägers  besonders  auch  in  moralischer  Beziehung 
wahre  Verheerungen  anrichtet,  indem  sie  Lüsternheit,  Unmäßig- 
keit  in  der  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  und  eine  heuch- 
lerische Heimlicheit  erzeugt  und  außerdem  den  Liebestrieb,  auf 
welchem  im  Grunde  alle  menschliche  Sympathie  und  somit  auch 
die  wahre  Moral  beruft,  an  der  Wurzel  anzehrt  (Vgl.  Jäger, 
Entdeckung  der  Seele,  zweite  Auflage,  Band  I,  Seite  263/265.) 

Auf  der  andern  Seite  haben  wir  die  moderne  Strömung, 
welche  eine  Aufklärung  der  Jugend  anstrebt,  nach  dem  Grund- 
satze, daß  Naturalia  non  sunt  turpia  und  daß  Selbsterkenntnis, 
namentlich  auch  Kenntnis  der  eigenen  sexuellen  Veranlagung,  die 
Grundlage  aller  Weisheit  und  aller  Tugend  ist.  Es  wird  hierin 
von  pädagogischer  Seite  vielleicht  mitunter  zu  weit  gegangen,  in- 
dem man  die  systematische  Aufklärung  unerwachsener  Kinder 
befürwortet,  aber  daß  die  geschlechtlich  erwachsene  männliche 
Jugend  wohl  in  jeder  Bichtung  aufgeklärt  werden  kann  und  darf, 
darüber  dürften,  mit  Ausnahme  der  Eückständigsten,  gegenwärtig 
Alle  einig  sein. 

Die  Gegenpartei  dient  unbewußt  nur  der  Verbreitung  der 
Onanie  und  der  Geschlechtskrankheiten,  jwelche  in  hohem  Grade 
am  Marke  der  Volksgesundheit  und  der  Volksvermehrung  zehren. 
Sie  ärgert  sich  über  jede  Diskussion  sexueller  Gegenstände  und 
fürchtet  nichts  so  sehr,  als  die  Aufklärung. 

•Stellte  man  sich  auf  den  Standpunkt  dieser,  so  müßte  die 
Besprechung  sexueller  Fragen  aus  unserem  öfientlichen  Leben 
verschwinden.  Die  in  ganz  Deutschland  bestehenden  großen  Ver- 
einigungen zur  Einschränkung  der  Prostitution,  die  von  ihnen 
abgehaltenen  großen  Volksversammlungen  und  Enqueten,  die  Reden 
der  Parlamentarier,  die  Petitionen  gegen  §  175  St.-G.-B.,  sie  alle 


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w&ren  gebrandmarkt  mit  dem  Stempel  der  Unzüchtigkeit.  Ein 
großer  Teil  der  anthropologischen,  medizinischen,  zoologischen, 
lyrischen  und  anderweitigen  Literatur  müßte  völlig  verschwinden. 

Das  will  aber  der  §  184  St.-6.-B.  nicht.  Er  will  nur  die 
frivole,  dem  Ernst  der  Sache  unangemessene  Behandlung  sexueller 
Themata  ahnden,  welche  bestimmt  ist,  die  geschlechtliche  Lüstern- 
heit zu  reizen,  und  welche  das  normale  Scham-  und  Sittlichkeits- 
gefühl verletzt. 

Nun  ist  zwar  das  normale  Scham-  und  Sittlichkeitsgefühl 
ein  sehr  dehnbarer  Begriff.  Man  geht  aber  keineswegs  mit  der 
Behauptung  fehl,  daß  das  normale  Gefühl  nicht  verletzt  ist,  wenn 
die  g^oße  Mehrheit  der  einer  und  derselben  sozialen  Schicht  an- 
gehörigen  Personen  den  Standpunkt  des  angeblich  Verletzenden 
teilt.  Dieses  Resultat  hat  in  überwältigender  Weise  die  be- 
mängelte Enquete  gezeitigt  Wie  erwähnt,  haben  von  3000  Be- 
fragten über  1700  die  Karten  in  der  gewünschten  Weise  ausgefüllt, 
einige  sogar  unter  Hinzufügnng  anerkennender  Worte,  obwohl  solche 
Bemerkungen  nicht  gewünscht  wurden.  Es  werden  hier  drei  solcher 
Karten  von  normal  veranlagten  Personen  beigefügt.  Und  die  etwa 
1200Nicht-Beantworter?  Der  Motive  zur  Nichtbeantwortung  gibt  es 
eine  ganze  Reihe:  Bequemlichkeit,  Vergeßlichkeit,  Besorgnis,  sich 
zu  kompromittieren,  da  nachträglich  festgestellt  wurde,  daß  die 
Postkarten  „Wasserzeichen"  hatten,  die  bei  jeder  eine  etwas  ver- 
schiedene Lage  haben,  so  daß  besonders  manche  Homosexuelle, 
die  sich  zudem  durch  eine  sehr  begreifliche  Schüchternheit  aus- 
zuzeichnen pflegen,  abgehalten  worden  sein  dürften,  die  Karte 
abzusenden.  Wieder  andere  werden  sich  über  ihre  eigene  Natur 
noch  nicht  ganz  klar  gewesen  sein  und  deswegen  nicht  geantwortet 
haben. 

Zu  den  1700  Beantworten!  ist  also  sicher  noch  eine  große 
Zahl  Anderer  zu  rechnen,  welche  aus  allen  möglichen  Gründen, 
nur  nicht  wegen  Verletzung  ihres  Scham-  und  Sittlichkeitsgefühls 
ihre  Beihülfe  versagt  haben. 

Dem  gegenüber  stehen  sechs  Befragte,  die  sich  in  ihrem 
Gefühl  verletzt  glauben.  Daß  diese  Zahl  nicht  viel  größer  wird, 
djifür  sprechen  folgende  Tatsachen: 

Der  Kriminalkommissar  von  Treskow  hat  bemerkt:  „Es  wird 
versucht  werden,  Studenten,  die  sich  durch  Zusendung  des  Schrei- 
bens beleidigt  gefühlt  haben  und  Strafantrag  stellen,  zu  ermitteln." 
(Bl.  1  der  Akten).  Das  Resultat  waren  die  sechs  Antragsteller. 
Die    beiden   Väter   Rends<?hmidt    und    Hagemann    haben    nichts 


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„Veto!"  eingelegt  haben?    Herr  Hagemaun  verneint  es  freilich! 

Die  Antragsteller  haben,  wie  erwähnt,  auf  einem  Anschlag 
am  schwarzen  Brett  zum  Beitritt  aufgefordert.  Die  Initiative  für 
Gleichempfindliche  war  dadurch  gegeben  und  sie  pflegt  sonst  in 
hohem  Grade  zu  wirken,  da  sich  bekanntlich  nur  Jeder  scheut, 
den  ersten  Schritt  zu  tun.  Der  Erfolg  war  aber  gleich  Null. 
Der  Kriminalkommissar  Hollmann  hat  zwei  Strafanträge  der  Stu- 
dierenden Malbranc  und  StrieboU  zu  den  Akten  gebracht.  Und 
mit  welcher  Begründung  ziehen  diese  beiden  ihre  Anträge  zurück? 
Jener,  weil  er  den  Antrag  in  falscher  Voraussetzung  gestellt  hat; 
dieser,  weil  seine  Beurteilung  des  Falles  infolge  Aussprache  mit 
Anderen  eine  bedeutend  mildere  geworden  ist 

So  einsichtsvoll  sind  diese  jungen  Leute!  Es  wäre  den  An- 
tragstellern zu  empfehlen  gewesen,  in  gleicher  Weise  das  Schreiben 
nicht  sofort  wegzuwerfen,  wie  sie  es  getan,  sondern  es  zwei-  und 
dreimal  durchzulesen  und  mit  Anderen  ihre  Meinungen  auszu- 
tauschen. Auch  sie  wären  von  der  falschen  Voraussetzung  zu 
einer  bedeutend  milderen  Auffassung  gelangt.  So  aber  wissen  sie 
wahrscheinlich  gar  nicht  mehr,  was  das  Schreiben  —  seinem  In- 
halt nach  —  bezweckte  und  welche  Rolle  sie  dabei  spielen  sollten. 
Von  hier  komme  ich  auf  die  Form  des  Handschreibens.  An 
sich  —  seinem  Inhalt  nach  —  ist  es  nicht  unzüchtig.  Was  mag 
wohl  nun  an  der  Form  unzüchtig  sein? 

Wollte  Jemand  den  Prozentsatz  der  Rückgratverkrümmungen 
eruieren,  so  wäre  zur  Feststellung  der  Häufigkeit  solcher  sicht- 
baren Dinge  die  Form  der  Enquete  überflüssig. 

Für  die  Feststellung  der  Häufigkeit  der  Homosexualität  war 
das  aber  der  einzige  Weg,  da  diese  nicht  an  die  Öffentlichkeit 
tritt,  sondern  —  in  ihrer  Betätigung  von  der  herrschenden  Mei- 
nung und  dem  Gesetz  verfehmt  —  sich  scheu  verbirgt.  In  dem 
Rundschreiben  war  —  wie  bereits  erwähnt  —  der  ernste  wissen- 
schaftliche Zweck  für  Jedermann  verständlich  hervorgehoben,  auch 
darauf  hingewiesen-,  daß  das  Resultat  nur  durch  das  ungewöhn- 
liche, aber  wahrhaftig  harmlose  Mittel  der  Enquete  zu  erreichen 
sei.  Das  Mittel  ist  darum  harmlos,  weil  es  an  3000  Personen  der- 
selben sozialen  Klasse  ohne  Auswahl  in  diskreter  Form  —  in 
geschlossenem  Kouvert  —  versandt  wurde.  Die  Antwortkarten 
waren  anonym  und  unpersönlich  gehalten.  Die  Karten  wurden 
als  rein  statistisches  Material  verwertet.  Wenn  überhaupt  in  der 
Geschichte  der  Wissenschaft  und  Literatur  ein  sexuelles  Thema 
zurückhaltend,    diskret,    ernst,    sachlich    und    unter   möglichster 


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Schonung  des  Scham-  nnd  Sittlichkeitagef&hls  behandelt  worden 
ist,  so  liegt  das  hier  vor. 

Im  Übrigen  fällt  mit  der  Verneinung  der  objektiven  ün- 
züchtigkeit  dieser  Teil  der  Anklage  in  sich  zusammen,  da  an  sich 
nicht  unzüchtige,  wissenschaftlichen  Zwecken  dienende  Schriften 
nur  durch  die  Form  einer  gewissen  Schaustellung  (Aufdrängen  in 
schamloser  Form)  zu  unzüchtigen  Schriften  werden.  Eine  Bezug- 
nahme auf  den  vorliegenden  Fall  bleibt  daher  ohne  Weiteres  aus» 
geschlossen. 

b)  Beleidigung.  Die  sechs  Antragsteller  fühlen  sich  in  ihrer 
Ehre  gekränkt  und  verlangen  die  Bestrafung  des  Angeschuldigten. 
Welchen  Eindruck  dieser  Strafantrag  gemacht  hat,  geht  aus  einer 
Einsendung  an  die  am  5.  April  erschienene,  hier  beigefügte 
Nummer  der  ,Welt  am  Montag*  hervor.  Ein  Herr  cand.  phil. 
Johannes  Heinze  •  rückt  weit  ab  von  dem  Antragsteller  Hans 
Hei  uze  und  wünscht  nicht  seines  Namens  wegen  mit  diesem 
identifiziert  zu  werden. 

Ais  Beleidigung  ist  im  Allgemeinen  jede  gegen  die  Ehre 
eines  Anderen  gerichtete  vorsätzliche  und  rechtswidrige  Kund- 
gebung anzusehen.  (Entscheidungen  des  Reichsgerichts,  Bd.  IH, 
S.  433.)  Eine  Kundgebung  liegt  aber  überhaupt  nicht  vor.  Hierin 
liegt  gerade  die  Verkennung  des  Rundschreibens.  Es  enthält 
eben  keine  gegen  den  Adressaten  gerichtete  Kundgebung,  keine 
Behauptung,  keine  Vermutung  und  keine  Zumutung.  Es  fragt,  es 
will  im  Interesse  der  Statistik  etwas  wissen.  Ob  der  Angefragte 
normal  oder  anormal,  homosexuell,  heterosexuell  oder  bisexuell  ist, 
das  ist  den  Fragestellern  an  sich  gleichgültig;  die  Rundfrage  ist 
eben  völlig  indifferent.  Wo  soll  da  also  der  Angriff  auf  die  Ehre 
des  Anderen  liegen?! 

Ein  Angriff  auf  die  Ehre  eines  Anderen  liegt,  wie  das 
Reichsgericht  mit  Recht  festgestellt  hat,  in  der  an  einen  Anderen 
gestellten  Zumutung,  widernatürliche  Unzucht  vorzunehmen,  weil 
man  ihm  zumutet,  §  175  St.G.B.  zu  verletzen. 

Die  Rundfrage  geht  ja  nicht  einmal  so  weit,  zu  fragen,  ob 
der  etwa  anormale  Befragte  sich  betätigt,  sei  es  unter  Verletzung 
von  §  175  StG.B.  oder  auch  ohne  diese  Verletzung.  Es  ist  ledig- 
lich nach  dem  Liebestrieb  (Geschlechtstrieb),  und  zwar  in  völlig 
anonymer  Weise,  gefragt. 

In  dieser  Form  wäre  selbst  eine  mehr  prononzierte  persön- 
liche Anfrage  keine  Ehrenkräukung.  Denn  die  Homosexualität 
ist  nach  der  begründeten  Ansicht  aller  Sachverständigen  eine  an- 
geborene Veranlagung,   eine  vollkommen   unverschuldete  Eligen- 


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uuuuorus    vuu    luiuiucru,     weiuuts    uie    auiicgvuuc    ir cbibiuu    tui    uic 

gesetzgebenden  Körperschaften  des  Deutschen  Reichs  unterzeichnet 
haben,  die  hervorragendsten  Mediziner,  Richter  in  hohen  Stel- 
lungen, Theologen,  Schulräte,  Schuldirektoren  und  unzählige,  au 
der  Spitze  der  deutschen  Nation  stehende  Grelehrte,  Künstler, 
Schriftsteller  und  sonstige  bedeutende  Persönlichkeiten.  Eine 
Sache,  der  diese  Männer  dienen,  sollte  also  in  Wirklichkeit  ge- 
eignet sein,  junge  Studenten  i  d  ihrer  Ehre  zu  kränken,  wenn  mau 
an  sie  die  Bitte  stellt,  auch  ihrerseits  ein  Scherflein  zu  dem 
Kulturwerk  beizutragen?  Daß  die  Antragsteller  erklären,  ihre 
Ehre  sei  dadurch  gekränkt,  das  ist  *kein  gutes  Zeichen  für  sie 
selbst  Wären  sie  bewandert  in  der  schon  seit  Jahren  gegen 
§  175  St.G.B.  vorhandenen  Bewegung,  wären  sie  mit  der  Kultur- 
geschichte vertraut,  so  müßten  sie  wissen,  daß  ein  Teil  der 
bedeutendsten  Männer  des  Altertums  und  der  Gegenwart  homo- 
sexuell veranlagt  waren.  Wenn  man  daher  Jemanden  direkt  fragen 
würde,  ob  sein  liiebestrieb  so  geai-tet  sei,  wie  der  vieler,  an  der 
Spitze  der  Zivilisation  stehender  Männer,  so  könnte  er  sich  selbst 
dadurch  wohl  kaum  beleidigt  fühlen.  Um  wie  viel  weniger  also, 
wenn  man  ihn  nicht  direkt  danach  fragt,  sondern  die  Frage  so 
stellt,  ob  er  normal  oder  anormal  sei,  und  die  Frage  in  der  Form 
stellt,  daß  der  Befragte  sie  nach  Belieben  unter  den  Tisch  fallen 
lassen  oder  beantworten  kann,  ohne  daß  eine  Kontrolle  hierüber 
möglich  ist.  Ja,  bei  dieser  Unpersönlichkeit  von  alternativ  ge- 
stellten Fragen  ist  es  unverständlich,  wie  hier  eine  Beleidigung 
konstruiert  werden  kann. 

Die  Enquete  ist  in  sehr  ähnlicher  Weise  auch  an  5000 
Metallarbeiter  (Eisen-  und  Revolverdreher)  gegangen.  Aus  diesen 
einfachen  Kreisen  ist  an  Dr.  Hirschfeld  ein  Brief  gerichtet  worden, 
der  fast  wörtlich  die  Stelle  enthält: 

„In  Arbeiterkreisen  hat  man  die  Anfrage  als  das  aufgefaßt, 
was  sie  sein  soll,  nämlich  als  eine  wissenschaftliche  Forschung.'* 

Die  Antragsteller  glauben  wohl  auch  nur,  in  ihrem  Ehr- 
gefühl gekränkt  zu  sein.  Sie  stehen  offenbar  auf  dem  Standpunkt, 
daß  von  geschlechtlichen  Dingen  überhaupt  nicht  gesprochen 
werden  darf,  ganz  gleich,  zu  welchem  Zweck  dies  geschieht.  Sie 
ärgern  sich  deshalb  über  die  Enquete  und  insbesonderere  des- 
wegen, daß  man  sie  zur  Mitarbeit  an  einer  ihnen  verhaßten  Auf- 
klärung heranziehen  will.  Sie  verwechseln  darüber  ihre  Meinungs- 
verschiedenheit mit  ihrem  Ehrgefühl.  Sie  werfen  das  Verstandes- 
mäßige und  Gefühlsmäßige  durcheinander. 


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Sollte  aber  wirklich  ihr  Gefühl  verletzt  sein,  so  ist  dies,  wie 
die  Enquete  gelehrt  hat,  ein  krankhaftes,  von  der  Mehrheit  ab- 
weichendes Empfinden,  welches,  wenn  man  es  berücksichtigen 
wollte,  einen  großen  Teil  aller  Wissenschaft,  aller  Kunst  und  Lite 
ratur  unmöglich  machen  würde. 

DaB  sich  anders  Denkende  über  die  Enquete  ärgern  würden, 
darauf  war  das  wissenschaftliche  Komitee  bei  seiner  Enquete  ge- 
faßt, daß  aber  Jemand  sich  persönlich  beleidigt  fühlen  würde,  hat 
weder  der  Angeschuldigte  noch  sonst  Jemand  vom  Komitee  für 
möglich  erachtet.  Selbst  wenn  daher  objektiv  eine  Beleidigung 
in  der  Anfrage  gefunden  werden  sollte,  so  fehlte  zur  Strafbarkeit 
das  Bewußtsein  des  beleidigenden  Charakters,  das  unbedingt  er- 
forderlich ist.  (Entscheidungen  des  Reichsgerichts,  Bd.XXVI,  S.202.) 

Mit  diesem  Bewußtsein  hatte  Dr.  Hirschfeld  das  Rund- 
schreiben nicht  versandt.  Ihm  ist  es  nicht  um  Beleidigungen, 
nicht  um  Unzüchtigkeiten,  sondern  um  ernste,  wissenschaftliche 
Arbeit  zu  tun. 

Seine  bisherige  Tätigkeit  bürgt  für  diese  Auffassung.  Er 
ist  der  Herausgeber  der  umfangreichen,  wissenschaftlich  außer- 
ordentlich anerkannten  Jahrbücher.  Er  ist  der  Verfasser  ver- 
schiedener größerer  und  kleinerer  wissenschaftlicher  Arbeiten. 
Zwei  derselben  mögen  hier  beigefügt  werden,  der  „Umische 
Meusch^'  und  ein  sich  an  den  Inhalt  dieses  Buches  zum  Teil  an- 
schließender Vortrag  über  das  „Umische  Kind",  gehalten  auf  der 
75.  Versammlung  der  Gesellschaft  deutscher  Naturforscher  und  Ärzte 
in  Kassel  und  im  Auftrage  der  Gesellschaft  für  Kinderheilkunde 
herausgegeben.  Medizinalrat  Dr.  Leppmann,  Medizinalrat  Dr.  Naecke, 
Hubertusburg,  Geh.  Sanitätsrat  Dr.  Küster,  Arzt  und  Herausgeber 
der  Allgemeinen  Deutschen  Universitätszeitung,  der  in  dieser 
Frage  besonders  kompetent  sein  dürfte,  sie  und  viele  andere.  Ka- 
pazitäten werden  sich  in  eventuellen  Gutachten  über  die  ernsten 
wissenschaftlichen  Leistungen  des  Angeschuldigten  nur  aner- 
kennend äußern. 

Nicht  zum  Mindesten  wird  auch  eine  demnächst  als  Resultat 
der  Enquete  erscheinende  Schrift  die  ernste  wissenschaftliche  Be- 
deutung seiner  Arbeit  zeigen. 

Sollte  trotzdem  eine  Beleidigung  angenommen  werden,  so 
würde  doch  hier  dem  Angeklagten  als  in  einem  geradezu  schul- 
mäßigen Falle  der  §  193  St.-G.-B.  zur  Seite  stehen.  Denn  es  liegt 
für  einen  Spezialforscher  auf  dem  Gebiete  der  Homosexualität 
und  für  seine  Mitarbeiter,  die  weder  Zeit,  noch  Arbeit,  noch  sehr 
erhebliche   materielle  Opfer   gescheut  haben,    ein  offenbares,  be- 


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erscheinung  nach  Kräften  festzustellen.  Der  §  193  Tvird  nach  der 
Natar  der  Dinge,  in  99  7o  ^^^r  Fälle  freilich  nur  da  in  Betracht 
gezogen  werden,  wo  es  sich  um  Streitigkeiten  oder  Angriffe  han- 
delt Davon  weiß  aber  der  Wortlaut  des  §  193  nichts.  Wenn 
er  schon  für  jene  Fälle  gilt,  so  gilt  er  ä  plus  forte  raison  erst 
recht  für  solche,  wo  von  einer  aggressiven  Beleidigung  überhaupt 
nicht  die  Rede  sein  kann. 

Der  Rechtsanwalt" 

Dem  Antrag  wurde  nicht  stattgegeben  und  es  kam 
am  7.  Mai  vor  der  IV.  Strafkammer  des  Königlichen 
Landgerichts  I  Berlin  zur  Verhandlung.  Ein  Bericht 
des  „Berliner  Tageblattes",  worin  kurz  die  vom 
Angeklagten  zugunsten  der  Homosexuellen  entfaltete  Tätig- 
keit hervorgehoben  war,  hatte  darauf  vorbereitet.  Er 
lautete: 

„Das  dritte  Greschlecht."  Der  Beleidigungsprozeß  gegen  Dr. 
M.  Hirschfeld  aus  Charlottenburg,  der  heute  die  vierte  Straf- 
kammer des  Landgerichts  I  beschäftigen  wird,  hat  eine  interessante 
Vorgeschichte.  Der  seit  dem  Jahre  1896  in  Charlottenburg  prak- 
tizierende Angeklagte  schrieb  im  Jahre  1896,  durch  den  Selbst- 
mord eines  Patienten  —  eines  homosexuellen  Offiziers  —  veranlaßt, 
seine  erste  Schrift  über  die  Ursachen  der  Homosexualität  Nach- 
dem er  infolge  dieser  Schrift  eine  größere  Reihe  homosexuell 
veranlagter  Personen  kennen  gelernt  hatte,  stellte  er  in  einer 
Petition  an  die  gesetzgebenden  Körperschaften  die  medizinischen 
und  juristischen  Gründe  zusammen,  die  für  die  Abänderung  des 
§  175  Strafgesetzbuches  sprechen.  Diese  Petition  wurde  nicht  nur  von 
ärztlichen  und  juristischen  Autoritäten,  wie  v.  Krafft-Ebing,  Rubner, 
Mendel,  Eulenburg,  Neißer,  v.  Liszt,  v.  Lilienthal  unterschrieben, 
sondern  auch  von  zahlreichen  bekannten  Persönlichkeiten  aller 
Gebiete,  wie  Gerhard  Hauptmann,  Ernst  v.  Wildenbruch,  v.  Lilien- 
cron,  Hartleben,  Hermann  Kaulbach,  Max  Liebermann,  Wein- 
gartner,  v.  Sonnentbai,  Tepper-Laski,  v.  Oppenheim.  (Neuerdings 
haben  über  2400  praktische  Ärzte  diese  Petition  unterschrieben.) 
Über  die  Zustimmungen  und  Gegenäußerungen  zu  der  Petition 
verfaßte  Dr.  Hirschfeld  eine  Broschüre,  die  den  Titel  führte: 
„Die  homosexuelle  Frage  im  Urteil  der  Zeitgenossen."  Inzwischen 


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hatte  sich  im  Jahre  1897  ein  Ausschuß  von  MäDnern  als  wissen- 
schaftlich-humanitäres Komitee  konstiiuiert,  das  sich  die  weitere 
Erforschung  der  zwischen  dem  männlichen  und  weiblichen  Ge- 
schlecht liegenden  Übergänge  zur  Aufgabe  setzte.  Dieses  Komitee 
gab  eine  größere  Reihe  von  Schriften  heraus  und  entfaltete  eine 
rege  Propaganda,  um  eine  Änderung  der  über  die  Homosexuellen 
vielfach  herrschenden  Anschauungen  herbeizuführen.  Nachdem 
Dr.  Hirschfeld  die  zwölf  Broschüren  von  Ulrichs  neu  herausgegeben 
hatte,  der  in  den  sechziger  Jahren  als  einer  der  Ersten  die  homo- 
sexuelle Frage  wissenschaftlich  erörtert  hatte,  begründete  er  1899 
das  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen,  ein  umfangreiches  Werk, 
an  dem  Gelehrte  aller  vier  Fakultäten  mitarbeiten.  Unter  den 
in  dieser  Encyklopädie  erschienenen  Arbeiten  ist  eine  unter  dem 
Titel  „Der  urnische  Mensch"  als  separates  Buch  erschienen,  welches 
zur  Zeit  auch  in  holländischer,  englischer  und  französischer  Sprache 
erscheint  Auf  der  im  letzten  Sommer  tagenden  Konferenz  hatte 
das  wissenschaftlich-humanitäre  Komitee  infolge  vielfacher  An- 
regungen in  der  Fachpresse  beschlossen,  eine  statistische  Kom- 
mission zu  ernennen,  die  über  die  Verbreitung  der  Homosexuellen 
Untersuchungen  anstellen  sollte.  Es  wurden  zu  diesem  Zweck 
unter  anderem  größere  Enqueten  in  der  Weise  veranstaltet,  daß 
die  Befragten  -  nachdem  ihnen  die  Bedeutung  der  Umfrage  aus- 
einandergesetzt war  —  aufgefordert  vnirden,  auf  einer  Postkarte, 
die  ohne  Unterschrift  und  Schriftzeichen  abgesandt  werden  sollte, 
Buchstaben  zu  unterstreichen,  die  dem  Komitee  zu  statistischen 
Zwecken  die  sexuelle  Anlage  der  Absender  ersichtlich  machten. 
Die  Resultate  sind  von  Dr.  Hirschfeld  in  einer  Schrift  „Das  Er- 
gebnis der  statistischen  Untersuchungen  über  den  Prozentsatz  der 
Homosexuellen"  bearbeitet  worden.  Darin  wird  die  Zahl  der 
Homosexuellen  in  Deutschland  auf  120Ö000  Personen  berechnet. 
Von  den  8000  Befragten  haben  sich  6  Studenten  trotz  des  diskreten 
Charakters  der  Anfrage  beleidigt  gefühlt  und  Strafantrag  gestellt, 
von  denen  jedoch  zwei  den  Strafantrag  wieder  zurückgenommen 
haben.  In  dieser  eigenartigen  Strafsache  steht  nun  heute  Termin 
zur  Hauptverhandlung  an.  —  Von  den  Verteidigern  Justizrat 
Wronker  und  Rechtsanwalt  Chodziesner  sind  verschiedene 
Sachverständige  und  Zeugen  geladen  worden,  darunter  als  Sach- 
verständige: Sanitätsrat  Dr.  Konrad  Küster,  Herausgeber  der 
Allg.  Universitätszeitung,  Medizinalrat  Dr.  Leppmann  und  Spe- 
zialarzt  Dr.  med.  Merz b ach,  als  Zeugen,  außer  verschiedenen 
Assistenten  und  Studenten  der  technischen  Hochschule,  Obmänner 
und  Mitglieder  des  wissenschaftlich-humanitären  Komitees." 
Jahrbuch  VI.  44 


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Die  Verhandlung  erfolgte,  im  Gegensatz  zu  einem 
Antrag  der  Verteidigung  und  des  Angeklagten,  unter 
gänzlichem  Ausschluß  der  0£fentlichkeit  und  war  von  dem 
Landgerichtsdirektor  Oppermann  geleitet.  Das  Gericht 
wollte  zunächst  darauf  verzichten,  die  geladenen  Sach- 
verständigen und  Zeugen  zu  vernehmen,  da  es  die  Frage, 
ob  die  Enquete  als  Verbreitung  einer  „unzüchtigen 
Schrift^^  und  als  Beleidigung  angesehen  werden  dürfe, 
selbst  entscheiden  zu  können  glaubte.  Schließlich 
wurden  aber  doch  die  Sachverständigen  Geh.  Sanitäts- 
rat Dr.  Küster,  Medizinalrat  Dr.  Leppmann  und 
Dr.  Merzbach  vernommen,  die  sämtlich  den  streng 
wissenschaftlichen  Charakter  der  Rundfrage  hervorhoben. 
Als  Zeuge  wurde  nur  ein  Assistent  der  Technischen 
Hochschule  gehört,  der  die  fast  durchweg  günstige  und 
verständnisvolle  Aufiiahme  der  Enquete  unter  derStudenten- 
schaft  bekundete.  Der  Staatsanwalt  beantragte  wegen 
Verbreitung  unzüchtiger  Schriften  einerseits,  wegen  Be- 
leidigung andererseits  500  Mark  Geldstrafe.  Dem  gegen- 
über beleuchtete  Verteidiger  Justizrat  Wronker  in  ein- 
drucksvollen Worten  die  reinen  und  ernsten  Motive  des 
Angeklagten.  Es  handle  sich  hier  „nimmermehr  um  ein 
unsittliches  Werk,  sondern  um  eine  aus  tiefem  Herzen 
unternommene,  mit  sittlicher  Strenge  und  wissenschaft- 
lichem Ernst  durchgeführte  Arbeit."  Verteidiger  Rechts- 
anwalt Chodziesner  wies  noch  besonders  darauf  hin, 
daß  von  5000  Metallarbeitern,  die  in  gleicher  Weise 
befragt  worden  waren,  kein  einziger  Anstoß  genommen 
hätte.  Zuletzt  nahm  noch  der  Angeklagte  das  Wort  zu 
einer  kurzen  Selbstverteidigung.     Er  sagte: 

„Ich  würde  glauben,  eine  Schuld  auf  mich  zu  laden,  wenn 
ich,  im  Besitz  der  Kenntnisse,  welche  ich  mir  auf  dem  Gebiet 
der  Homosexualität  gesammelt  habe,  nicht  alle  Kräfte  daran  setzte, 
einen  Irrtum  zu  zerstören,  dessen  Folgen  zu  schildern  die  mensch- 
liche Sprache  zu  arm  ist.   Erst  zu  Beginn  dieser  Woche  hat  ein  mir 


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bekannter  bomosezaeller  Stadent  der  Tecbni sehen  Hochscbule  sich 
vergiftet,  weil  er  bomosezueli  veranlagt  war.  In  meiner  ärztlicben  Be- 
handlung befindet  sich  zur  Zeit  ein  Student  derselben  Hochschule,  der 
sich  wegen  Homosexualität  in  die  Brust  geschossen  hat.  Vor  nur 
wenigen  Wochen  habe  ich  in  diesem  Saal  einer  Verhandlung 
gegen  zwei  Erpresser  beigewohnt,  die  einen  homosexuellen  Herrn, 
einen  der  ehrenwertesten  Männer,  die  ich  kannte,  zum  Selbstmord 
trieben,  von  dem  ein  Zweiter,  durch  die  nämlichen  Erpresser  be- 
droht, nur  mit  Mühe  zurückzuhalten  war.  Solche  und  ähnliche 
Fälle  könnte  ich  hundertfach  anfuhren.  —  Ich  glaubte  diese 
Umfrage  veranstalten  zu  müssen,  um  die  Menschheit 
von  einem  Makel  zu  befreien,  an  den  sie  einst  mit 
tiefster  Beschämung  zurückdenken  wird:  Per  scientiam 
ad  justitiam!^^ 

Hierauf  zog  sich  der  Gerichtshof  zu  einer  langen 
Beratung  zurück,  um  sodann,  nach  Verlauf  von  ungefähr 
2  Stunden,  durch  Landgerichtsdirektor  Oppermann  das 
Urteil  bekannt  zu  geben.  Es  lautete,  schon  hier  in  seiner 
schriftlichen  Fassung  wiedergegeben,  wie  folgt: 

„Im  Namen  des  Königs! 

In  der  Strafsache 
gegen  den  Arzt  Dr.  med.  Magnus  Hirschfeld  in  Charlottenburg 
wegen  Verbreitung  unzüchtiger  Schriften  und  Beleidigung  hat  die 
IV.  Strafkammer  des  Königlichen  Landgerichts  I  in  der  Sitzung 
vom  7.  Mai  1904,  an  welcher  teilgenommen  haben: 

Landgerichtsdirektor  Dr.  Oppermann  als  Vorsitzender, 

Landgerichtsrat  Braun, 

Landgerichtsrat  Cohr, 

Amtsrichter  Dr.  Graeber, 

Amtsrichter  Dorendorf  als  beisitzende  Richter, 

Staatsanwaltschaftsrat  Heibig  als  Beamter  der  Staatsanwalt- 
schaft, 

Referendar  Leidert  als  Gerichtsschreiber, 
für  Recht  erkannt: 

Der  Angeklagte  wird  wegen  Beleidigung  unter  Auferlegung 
der  Kosten  des  Verfahrens  mit  200  Mark  Geldstrafe,  an  deren 
Stelle  im  Nichtbeitreibungsfalle  für  je  10  Mark  ein  Tag  Gefängnis 
tritt,  bestraft. 

44» 


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Der  Angeklagte  praktiziert  als  Arzt  in  Charlottenbarg.  Er 
betätigt  sich  außerdem  seit  Jahren  in  wiesen  schaftlicher  Beziehung. 
Den  Gegenstand  seiner  wissenschaftlichen  Forschungen  und  Ar- 
beiten bildet  hauptsächlich  das  Geschlechtsleben  des  Menschen. 
Er  sucht  durch  Schriften  und  Vorträge  darauf  hinzuwirken,  daß 
die  strafrechtliche  Verfolgung  des  geschlechtlichen  Verkehrs 
zwischen  Personen  männlichen  Geschlechts  durch  Gesetz  auf- 
gehoben werde,  und  hat  bereits  im  Jahre  1896  eine  darauf  ab- 
zielende Petition  dem  Deutschen  Reichstag  unterbreitet.  Im  An- 
schluß hieran  hat  sich  durch  den  Zusammentritt  einer  Anzahl 
von  Männern,  welche  dasselbe  Ziel  verfolgen,  das  wissenschaftlich- 
humanitäre Komitee  gebildet,  welches  der  Angeklagte  seit  dem 
Jahre  1897  leitet.  Der  Sitz  des  Komitees  ist  die  Privatwohnung 
des  Angeklagten;  es  stellt  sich  also  als  eine  freie  Vereinigung 
dar,  deren  Mitglieder  Jahresbeiträge  leisten,  soweit  sie  solche  ge- 
zeichnet haben.  Ein  von  ihnen  angestellter  und  besoldeter 
Sekretär  vermittelt  den  Verkehr  zwischen  der  Zentralstelle  und 
den  Mitgliedern.  Der  Zweck  der  Vereinigung  ist,  in  weitesten 
Kreisen  Aufklärung  zu  verbreiten  über  das  richtige  Wesen  der 
Homosexualität,  wissenschaftliche  Erforschung  der  sexuellen  Zwi- 
schenstufen und  im  Endziel  die  Aufhebung  des  §  175  Strafgesetz- 
buches. Dieser  Zweck  wird  angestrebt  durch  Veröffentlichung 
von  Schriften,  so  der  „Jahrbücher  für  sexuelle  Zwischenstufen", 
welche  der  Angeklagte  unter  Mitarbeit  medizinischer  Autoritäten 
herausgibt,  durch  regelmäßige  Monatsberichte  und  durch  Petitionen, 
welche  an  Staatsregierungen  und  parlamentarische  Körperschaften 
gerichtet  werden. 

In  der  letzten  Halbjahrskonferenz  des  Komitees  im  Jahre 
1908,  an  welcher  auch  eine  Anzahl  Gelehrter  des  Auslandes  teil- 
nahmen, wurde  der  Beschluß  gefaßt,  behufs  weiterer  Erforschung 
der  erwähnten  wissenschaftlichen  Fragen  eine  Enquete  durch 
Rundfragen  anzustellen.  Es  wurde  zugleich  eine  statistische 
Kommission  gewählt,  zu  welcher  auch  der  Augeklagte  gehörte, 
und  mit  den  erforderlichen  Vorarbeiten  betraut.  Die  Kommission 
bestimmte  nach  wiederholten  Beratungen  die  Form  des  Rund> 
Schreibens  und  beschloß,  dasselbe  zunächst  an  8000  Studierende 
der  Technischen  Hochschule  in  Charlottenburg  zu  versenden. 
Das  Rundschreiben  ist  vom  Angeklagten  mit  Kenntnis  des  Inhalts 
unterzeichnet  und  im  Dezember  1903  auf  Grund  eines  Namens- 
verzeichnisses der  Technischen  Hochschule  in  8000  Exemplaren 
an  Studierende  zur  Versendung  gelangt.     Anfangs   1004   wurden 


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—     693     — 

von  ihm  Rundfragen  gleichen  Inhalts  an  5000  Metallarbeiter  in 
Berlin  versandt.  Über  das  Ergebnis  der  statistischen  Unter- 
suchungen berichtet  der  Angeklagte  in  einer  Anfangs  Mai  1904 
erschienenen,  bei  den  Akten  befindlichen  Broschüre. 

In  vorstehender  Schilderung  ist  das  Gericht  den  un wider- 
legten, an  sich  auch  glaubhaften  Angaben  des  Angeklagten  ge- 
folgt Den  Gegenstand  der  Anklage  bildete  nun  der  Inhalt  der 
an  die  Studenten  gerichteten  Rundfrage.  Der  Angeklagte  soll 
sich  dadurch  der  Verbreitung  unzüchtiger  Schriften  und  der  Be- 
leidigung der  vier  Studenten:  Walter  Götze,  B.  Senkpiel,  Hans 
Heine  und  W.  Jacobi  schuldig  gemacht  haben.  Die  letzteren 
haben  die  Strafantrage  deswegen  rechtzeitig  gestellt  Die  Stu- 
denten Lange,  Malbrano,  StrieboU  und  Wrede  hatten  gleichfalls 
die  Bestrafung  des  Angeklagten  wegen  Beleidigung  beantragt, 
haben  ihre  Strafanträge  aber  vor  der  Hauptverhandlung  zurück- 
genommen. 

Die  von  dem  Angeklagten  an  die  Studenten  versandten 
Rundfragen  hatten  sämmtlich  den  gleichen  Wortlaut. 

Die  Versendung  erfolgte  durch  die  Post  in  verschlossenem 
Umschlag.  Jedem  Schreiben  lag  eine  frankierte,  an  das  wissen- 
schaftlich-humanitäre Komitee,  Charlottenburg,  Berlinerstr.  104,  II 
adressierte  Postkarte  bei,  auf  der  die  Buchstaben  W.,  M.  und 
W.-hM.,  sowie  die  Zahlen  16  bis  30  vorgedruckt  waren.  Durch 
Unterstreichung  des  betreffenden  Buchstabens  sollte  in  Beant- 
wortung der  gestellten  Frage  der  Empfänger  die  Richtung  seines 
Geschlechtstriebes,  durch  Unterstreichen  der  betreffenden  Zahl 
sein  Alter  bezeichnen.  < 

Nach  der  Behauptung  des  Angeklagten  haben  mehr  als 
1700  Studenten  die  Anfragen  in  der  gewünschten  Weise  anstands- 
los beantwortet,  einige  von  diesen  haben  auf  den  Karten  außerdem 
ihre  Zustimmung  zu  den  Bestrebungen  des  Komitees  Ausdruck 
gegeben. 

Daß  der  Angeklagte  für  den  Inhalt  der  Rundfrage  in  vollem 
Umfange  verantwortlich  zu  machen  ist,  kann  keinem  Zweifel  be- 
gegnen. Ob  das  Komitee,  wie  die  Anklage  behauptet,  eigentlich 
von  ihm  allein  repräsentiert  wird  oder  aus  einer  Vereinigung 
Mehrerer  besteht,  bleibt  hierbei  gleichgültig.  Denn  der  Ange- 
klagte gibt  selber  zu,  daß  die  Form  der  Rundfrage  unter  seiner 
Mitwirkung  bestimmt  worden  ist  und  daß  er  mit  Kenntnis  des 
Inhalts  derselben  seinen  Namen  darunter  gesetzt  und  die  Ver- 
sendung an  die  Studenten  vorgenommen  hat. 


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rieht  unter  Würdigung  der  Bestrebungen  des  wissenschaftlich- 
humanitären Komitees  und  der  hierbei  entfalteten  Tätigkeit  des 
Angeklagten  davon  ausgegangen,  daB  die  Grundlage,  aus  der 
heraus  das  Rundschreiben  erlassen  ist,  eine  streng  wissenschaft- 
liche ist  und  daß  der  Angeklagte  hierbei  im  Interesse  der  Wissen- 
schaft tätig  gewesen  ist  Ob  sein  Standpunkt  bei  der  von  ihm 
angestrengten  Lösung  des  Problems  der  Homosexualität  im  juris- 
tischen oder  medizinischen  Sinne  als  berechtigt  anzuerkennen  ist, 
das  hat  das  Gericht  hier  nicht  zu  entscheiden.  £s  ist  lediglich 
zu  prüfen,  ob  der  Inhalt  des  Rundschreibens  in  objektiver  und 
subjektiver  Beziehung  als  unzüchtig  und  ferner  als  beleidigend 
anzusehen  ist. 

I.  Unzüchtige  Schriften  sind  solche,  deren  Inhalt  das  nor- 
male, im  Volke  herrschende  Scham-  und  Sittlichkeitsgefühl  in 
geschlechtlicher  Beziehung  verletzt.  Es  ist  an  sich  nicht  wohl 
zu  bezweifeln,  daß  in  dem  Rundschreiben  diejenigen  Stellen,  in 
welchen  auf  den  Liebestrieb  zwischen  Männern  untereinander 
und  auf  das  von  der  Norm  abweichende  Sexualleben  der  Adressaten 
als  möglich  hingewiesen  wird,  als  unzüchtig  in  jenem  Sinne  auf- 
zufassen sind.  Andererseits  erscheint  es  unzulässig,  bei  Prüfung 
des  sittlichen  Charakters  einer  Schrift  einzelne  Sätze  und  Stellen 
herauszugreifen  und  nach  diesen  den  Gesammtinhalt  der  Schrift 
zu  beurteilen.  Insbesondere  darf  dies  nicht  geschehen,  wenn,  wie 
in  diesem  Falle,  die  Schrift  wissenschaftlichen  Zwecken  dient 
(Reichsgericht,  Bd.  XXVII,  S.  115.)  Es  handelt  sich  hier  allerdings 
noch  nicht  um  ein  wissenschaftliches  Werk,  welches  unzüchtige  Dinge 
zur  Sprache  bringt  und  nach  seiner  Tendenz  zur  Sprache  bringen 
muß,  sondera  nur  um  die  Vorbereitung  eines  solchen,  wie  es  ja  in- 
zwischen durch  die  Veröffentlichung  des  Ergebnisses  der  Rund- 
frage tatsächlich  zu  Stande  gekommen  ist  Diese  das  wissen- 
schaftliche Werk  vorbereitenden  Rundschreiben  sind  jedoch  nach 
ihrem  Charakter  von  dem  Werke  selbst  untrennbar,  sie  verfolgen 
ebenso  wissenschaftliche  Zwecke,  wie  dieses  selbst.  Das  wissen- 
schaftliche Interesse,  das  ihnen  zur  Grundlage  dient,  überwiegt 
dergestalt,  daß  sie  als  „unzüchtige  Schriften'^  nicht  angesehen 
werden  können.  Es  kommt  hinzu,  daß  diese  Rundschreiben  nicht 
allgemein  verbreitet  sind,  sondern  für  einen  begrenzten  Ejeis  von 
Lesern  bestimmt  waren,  und  zwar  für  Studenten,  also  Menschen 
mit  höherer  Bildung,  die  wenigstens  teilweise  die  wissenschaft- 
liche Tendenz  der  Zuschrift  erfassen  konnten.  (Reichsgerichts- 
Entscheidungen  in  Sti-afsachen,  Bd.XXXII,  S.418,  Bd. XXIII,  S.388.) 


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—     695     — 

Auch  die  Form  der  Verbreitung  der  Rundschreiben  steht  der 
Auffassung,  daß  es  sich  dabei  um  rein  wissenschaftliche  Anfragen 
handelte,  keineswegs  entgegen.  Im  Gegenteil,  sie  bestätigt  die 
Annahme,  daß  keine  Publikation  unzüchtigen  Inhalts  vorliegt. 
Die  Verbreitung  ist  in  der  denkbar  diskretesten  Form  erfolgt, 
unter  möglichster  Schonung  des  Schamgefühls  des  Empfängers. 

Der  gegenteilige  Standpunkt  in  der  Würdigung  dieser  Ver- 
öffentlichung müßte  dazu  fuhren,  daß  wissenschaftliche  Erörte- 
rungen sexueller  Verhältnisse  in  Druckschriften  stets  als  strafbar 
zn  beanstanden  wären.  Darin  würde  aber  eine  unzulässige,  vom 
Gesetzgeber  nicht  gewollte  Beschränkung  der  freien  Forschung 
und  der  Entwickelung  der  Wissenschaft  liegen. 

Da  hiernach  die  Rundfragen  als  unzüchtige  Schriften  in  ob- 
jektiver Beziehung  nicht  zu  betrachten  sind,  so  erübrigt  sich  ein 
Eingehen  auf  die  subjektive  Seite  des  Tatbestandes  in  diesem 
Umfange. 

IL  Der  Rempunkt  des  Rundschreibens  besteht  in  der 
Stellung  der  Frage:  Richtet  sich  Ihr  Liebestrieb  (Geschlechtstrieb) 
auf  weibliche  (W.).  männliche  (M.)  oder  weibliche  und  männliche 
(W.+M.)  Personen?  und  femer  in  der  Aufforderung  an  den  Em- 
pfänger, Mitteilungen  aus  seinem  Sexualleben  zu  machen,  sofern 
dieses  nach  seiner  Ansicht  von  der  Norm  abweiche.  Das  sind 
Zumutungen,  welche  für  den  Empfänger  ehrverletzend  sind.  Der 
Angeklagte  stellt  dadurch  Leuten,  die  er  gar  nicht  kennt  und 
deren  sittliche  Anschauung  ihm' gleichfalls  unbekannt  ist,  das  An- 
sinnen, ihm  ihre  geschlechtlichen  Neigungen  kund  zu  tun,  ja, 
mutet  ihnen  besonders  zu,  ihm  ,streng  wahrheitsgemäß*  zu  be- 
kennen, ob  sie  einen  perversen,  d.  h.  vom  normalen  abweichenden 
Liebestrieb  haben,  also,  mit  anderen  Worten,  in  geschlechtlicher 
Beziehung  sich  in  einer  Weise  betätigen,  daß  sie  dadurch  nicht 
nur  Sitte  und  Anstand  nach  den  heute  geltenden  Begriffen  ver- 
letzen, sondern  auch  der  Gefahr  strafrechtlicher  Ahndung  sich 
aussetzen.  Es  liegt  hierin  zugleich  die  Unterstellung,  daß  die 
Befragten  eines  nicht  nur  durch  Zucht  und  Sitte  verbotenen, 
sondern  sogar  strafbaren,  sie  in  der  allgemeinen  Wertschätzung 
herabsetzenden  Verhaltens  fähig  sein  könnten.  Daß  derjenige,  der 
in  der  Antwortkarte  durch  das  Unterstreichen  der  Buchstaben  M. 
oder  W.  +  M.  seine  Neigung  zum  männlichen  Geschlecht  offen- 
bart, damit  zugleich  zu  erkennen  gibt,  daß  er  diese  Neigung  auch 
betätige,  ist  in  Anbetracht  des  Zweckes  der  Rundfrage  unbedenk- 
lich anzunehmen.  Der  Angeklagte  selbst  hat  die  Fragen  und 
Antworten  nicht  anders  aufgefaßt;  denn  er  hat  in  der  Broschüre, 


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jenigen,  die  ihren  anormalen  Geschlechtstrieb  in  den  Antworten 
bekannt  haben,  denen  gleichgestellt,  die  diesen  Geschlechtstrieb 
auch  betätigen.  Der  Angeklagte  hatte  kein  Recht  dazu,  solche 
Zumutungen  an  unbekannte  Leute  zu  richten  und  ihnen  gegenüber 
Derartiges  zu  unterstellen.  Es  liegt  darin  eine  rechtswidrige 
Kundgebung  gegen  die  Ehre  eines  Anderen.  Sie  ist  für  den,  an 
den  sie  gerichtet  ist,  ehrverletzend  und  beleidigend.  Es  haben 
sich  ja  auch  Empfänger  der  Rundfragen,  durch  deren  Inhalt  ver- 
letzt und  in  ihrer  Ehre  gekränkt  gefUhlt,  wie  die  Strafanträge 
beweisen.  Daß  daneben  eine  große  Anzahl  von  Empfangern  sich 
nicht  beleidigt  gefühlt  hat,  ist  wohl  möglich,  hier  indessen  gleich- 
gültig. Daß  zu  diesen  aber  alle  Empßlnger  außer  den  Antrag- 
stellern gehören,  dieser  Schluß  des  Angekll^^en  ist  schon  deshalb 
unbegründet,  weil  wohl  viele,  die  sich  verletzt  fühlten,  die  An- 
fragen voll  Ärger  in  den  Papierkorb  geworfen  haben  mögen,  ohne 
die  Frage  einer  strafrechtlichen  Ahndung  in  Erwägung  zu  ziehen. 

Der  objektiv  ehr  verletzende  Charakter  der  Rundfragen  wird 
auch  dadurch  nicht  beseitigt,  daß  diese,  wie  bereits  mehrfach 
hervorgehoben,  einem  streng  wissenschaftlichen  Zwecke  dienen. 
Die  Wissenschaft  hat  auch  die  Schranken,  die  ihr  das  Gesetz  zum 
Schutz  der  Einzelnen  zieht,  zu  respektieren.  Es  würde  beispiels- 
weise für  die  wissenschaftliche  Forschung  hochbedeutsam  sein, 
und  die  Aufklärung  wichtiger  Probleme  erheblich  fördern,  wenn 
gesunde  Menschen  mit  Krankheitserregern  geimpft  würden.  Dies 
ist  zweifellos  die  einzige  Art,  wie  mit  denkbar  größter  Zuver- 
lässigkeit die  Entwickelung  und  Fortpflanzung  der  Krankheits- 
erreger sowie  ihre  verderbliche  Einwirkung  auf  den  menschlichen 
Organismus  in  einzelnen  Stadien  beobachtet  werden  könnte.  Es 
liegt  auf  der  Hand,  welche  eminente  Wichtigkeit  für  die  Heil- 
kunde und  für  die  Bakteriologie  eine  solche  Feststellung  hätte, 
wieviele  Tausende  von  einem  solchen  Fortschritt  der  Wissenschaft 
den  größten  Vorteil  für  ihre  Gesundheit  erwarten  könnten.  Und 
doch  stellt  eine  solche,  streng  wissenschaftlichen  Zwecken  die- 
nende Manipulation  einen  unerlaubten,  Eingriff  in  die  Rechts- 
sphäre,  die  körperliche  Integi'ität  des  Mitmenschen  dar,  der  hier- 
gegen durch  die  Gesetze  geschützt  wird.  In  gleicher  Weise  mag 
es  für  die  Wissenschaft  der  Sexualpsychologie  von  höchster 
Wichtigkeit  sein,  das  für  die  Forschung  erforderliche  Material 
durch  die  Beantwortung  der  Rundfragen  zu  erlangen.  Es  mag 
dem  Angeklagten  selbst  zugegeben  werden,  daß  der  von  ihm 
hierbei  gewählte  Weg  der  in  solchem  Falle  einzig  gangbare  ge- 


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—     697     — 

wesen  ist  Dennoch  aber  durfte  er  diesen  Weg  nicht  beschreiten, 
da  derselbe  zu  einem  Eingriff  in  die  Rechtssphftre  Anderer  führte, 
ihre  Ehre  yerletste.  Ein  solcher  Eingriff  ist  und  bleibt  rechts- 
widrig, auch  wenn  er  im  Dienste  der  Wissenschaft  erfolgt.  Der 
Wissenschaft  sollen  damit  keineswegs  ihre  Quellen  unterbunden 
werden,  doch  besitzt  sie  keinen  Freibrief  dazu,  zu  ihrer  eigenen 
Förderung  rücksichtslos  und  nach  Belieben  die  Rechte  Anderer 
zu  verletzen. 

Die  hiernach  bestehende  Rechtswidrigkeit  seines  Handelns 
hat  der  Angeklagte,  der  selbst  irgend  eine  Befugnis  dazu  nicht 
fQr  sich  in  Anspruch  nimmt,  als  mit  den  Verhfiltnissen  des  Lebens 
vertrauter  Mann  gekannt. 

Der  Angeklagte  war  sich  bei  der  Versendung  der  Rund- 
schreiben auch  bewußt,  daß  ihr  Inhalt  für  die  Empflüiger  ehr- 
y erletzend  sei.  Er  kannte  die  Menschen  nicht,  an  die  er  sich 
wandte.  Er  wußte  nicht,  wie  sie  über  die  Bestrebungen  des 
Komitees  dächten  und  welche  Kenntnisse  in  geschlechtlichen 
Dingen  sie  besäßen.  Da  lag  doch  die  Möglichkeit  sehr  nahe,  daß 
Empfänger  der  Anfi*agen  sich  durch  ihren  Inhalt  verletzt  fühlen 
würden.  Ja,  es  könnte  wohl  kaum  Wunder  nehmen,  wenn  junge 
Studenten,  welche  vielleicht  gerade  ein  Gymnasium  in  der  Pro- 
vinz verlassen  haben  und  in  geschlechtlicher  Beziehung  noch  gar 
keine  Erfahrung  besitzen,  durch  die  ihnen  gestellte  Zumutung  in 
die  größte  Erregung  und  Entrüstung  geraten  sind.  Damit  mußte 
der  Angeklagte  als  verständiger  und  gebildeter  Mann  und  als 
Arzt  rechnen.  Er  mußte  sich  sagen,  daß  in  einem  beliebigen 
Kreis  junger  Männer,  die  zum  großen  Teil  das  zwanzigste  Lebens- 
jahr noch  nicht  erreicht  haben,  sich  gewiß  viele  befinden  werden, 
welche  sich  durch  die  Anfrage  in  ihrer  Ehre  verletzt  fühlen. 
Dies  ist  um  so  mehr  anzunehmen,  als  der  Angeklagte  auf  diesem 
Gebiete  der  Rundfragen  schon  Erfahrungen  gesammelt  hat.  Be- 
reits im  Oktober  1902  hat  er  zum  Zweck  einer  wissenschaftlichen 
Enquete  Fragebogen  in  großer  Anzahl  versandt.  Die  verwitwete 
Rittergutsbesitzer  Anna  von  Blankenburg  in  Berlin  hatte  den 
Fragebogen  gleichfalls  erhalten  und,  da  sie  sich  dadurch  verletzt 
fühlte,  gegen  den  Angeklagten  Strafantrag  wegen  Beleidigung 
gestellt,  später  aber  „wegen  der  mit  einem  Prozesse  verbundenen 
Unbequemlichkeiten"  zurückgenommen.  In  diesem  Fragebogen, 
welche  auch  an  Damen  versandt  wurden,  ging  der  Angeklagte  in 
seinem  wissenschaftlichen  Ermittelungseifer  erheblich  weiter,  als 
bei  den  neueren  Rundfragen.  Er  richtete  dort  an  Damen  z.  B. 
die  Frage  (48),  ob  sie  Hang  zu  unanständigem,  herausforderndem 


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zur  Befriedigung  ihres  Geschlechtstriebes  bestimmten  Benifisarten 
den  Vorzug  geben,  wie  Kellnern,  Schauspielern,  Prostituierten, 
namentlich  uniformierten  Standen,  insonderheit  Soldaten,  und 
femer  die  Frage  (78),  ob  bei  ihnen  der  Trieb  bestehe,  die  Ge- 
schlechtsteile zu  zeigen  (Exhibitionismus)  oder  dergleichen.')  Es 
läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  die  an  die  Studenten  versandten 
Rundfragen  in  der  Form  wesentlich  vorsichtiger  abgefaßt  sind» 
als  jene  Fragebogen.  Der  Angeklagte  wußte  eben,  zum  mindesten 
seit  dem  Strafantrage  der  Frau  von  Blankenburg,  auf  Grund 
dessen  er  auch  verantwortlich  vernommen  worden  ist,  daß  es 
Leute  gibt,  die  an  dem  Inhalt  seiner  Anfragen  Anstoß  nehmen, 
wenn  er  diese  auch  f&r  ganz  harmlos  hält.  Mit  Rücksicht  hierauf 
vermutlich  ist  zur  Abfassung  der  Rundfragen  an  die  Studenten 
eine  besondere  Kommission  gebildet  worden,  welcher  der  An- 
geklagte angehörte.  Seine  Besorgnis  nach  der  Richtung,  daß 
durch  die  Form  der  Anfragen  abermals  jemand  verletzt  werden 
könnte,  spiegelt  sich  wieder  in  dem  Monatsbericht  des  wissen- 
schaftlich-humanitären Komitees  vom  1.  Januar  1904.  Im  An- 
schluß an  die  Schilderung  des  Ergebnisses  der  an  die  Studenten 
gerichteten  Rundfragen  erklärt  dort  der  Angeklagte,  es  bestehe 
die  Absicht,  die  statistische  Enquete  tortzusetzen  und  seien  „Vor- 
schläge   über    eine    möglichst   einwandfreie   Form    derselben   er- 


*)  Anmerkung  des  Herausgebers.  Die  hier  erwähnten  Fragen, 
die  selbstverständlich  im  Lichte  des  wissenschaftlichen  Zweckes 
betrachtet  werden  müssen,  zu  dem  sie  gestellt  sind,  lauten  wörtlich: 

48.  „Besteht  Abenteuersucht,  Hang  zu  Überspanntheiten,  zum 
Herumtreiben,  zur  Verschwendung,  zum  Sammeln,  zu  unanstän- 
digem, herausforderndem  Betragen,  zur  Unsittlichkeit?  Halten  Sie 
viel  auf  Ordnung  oder  sind  Sie  in  dieser  Beziehung  lässig?" 

72.  „Fesselten  Sie  mehr  gebildete  oder  gewöhnliche,  sanft- 
mütige oder  rohe,  zierliche  oder  kraftvolle  Naturen?  Geben  Sie 
bestimmten  Berufsarten  den  Vorzug,  wie  Kellnern,  Schauspielern, 
Prostituierten,  namentlich  uniformierten  Ständen,  insonderheit 
Soldaten?" 

78.  „Litten  Sie  an  anderweitigen  geschlechtlichen  Störungen, 
z.  B.  Sucht,  zu  peinigen  (Sadismus),  gepeinigt  zu  werden  (Maso- 
chismus), Leidenschaft  für  bestimmte  Gegenstände,  wie  hohe 
Stiefel,  Taschentücher  oder  Körperteile,  wie  Zöpfe,  Hand,  Fuß, 
Leberflecke  (Fetischismus)?  Besteht  der  Trieb,  die  Geschlechtsteile 
zu  zeigen  (Exhibitionismus)  oder  dergleichen?'* 


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—     699     — 

waDScht/'  Der  Angeklagte  gibt  hiernach  die  £rklftruBg,  er  habe 
MiByerständnisse  befürchtet,  er  habe  es  aber  für  ausgeschlosEen 
gehalten,  daß  sich  jemand  durch  solche  Anfragen  verletzt  fühlen 
könnte.  Dies  wird*  jedoch  darch  den  ausgesprochenen  Wunsch 
widerlegt,  aus  dem  erhellt,  daß  der  Angeklagte  das  Rundschreiben 
keineswegs  als  einwandsfrei  angesehen  hat.  Da  das  Bedenkliche 
aber  nur  darin  liegen  kann,  daß  die  Frage  objektiv  eine  Kränkung 
der  Ehre  anderer  enthalt,  so  war  sich  der  Angeklagte  dieser  ihrer 
Eigenschaft  auch  hiemach  voll  bewußt. 

Die  Annahme,  daß  der  Angeklagte  sich  des  ehrenkränkenden 
Charakters  der  Anfragen  bewußt  gewesen,  wird  dadurch  nicht 
erschüttert,  daß  er  schon  vor  der  Versendung  des  Schreibens  vor 
einem  Kreise  von  Studenten  der  Technischen  Hochschule  einen 
Vortrag  über  die  homosexuelle  Frage  gehalten  Und  daß  er  bei 
Abfassung  dieser  Rundfragen  einen  Studenten  dieser  Hochschule 
zu  Rate  gezogen  hat.  Die  Möglichkeit,  daß  unter  den  3000  Em- 
pfängern der  Rundfragen  sich  viele  durch  ihren  Inhalt  verletzt 
fühlen  würden,  bestand  trotzdem  fort  und  der  Angeklagte  war 
sich  dessen,  wie  oben  dargetan,  unbedenklich  bewußt. 

Wenn  dem  Angeklagten,  wie  wiederholt  betont  ist,  zugegeben 
wird,  daß  er  aus  dem  Motiv  wissenschaftlicher  Forschung  die 
Rundschreiben  versandt  hat,  so  kann  er  deshalb  doch  nicht  etwa 
den  Schutz  des  §  193  Strafgesetzbuchs  für  sich  in  Anspruch 
nehmen.  Die  Berechtigung  zur  wissenschaftlichen  Forschung  auf 
dem  von  ihm  gewählten  Gebiet  soll  dem  Angeklagten  gewiß  nicht 
verkümmert  werden.  Es  fragt  sich  hier  aber,  ob  das  Interesse 
der  Wissenschaft  in  seiner  Berechtigung  so  weit  anzuerkennen  ist, 
daß  ihm  selbst  das  Recht  auf  Achtung  der  Person  zu  weichen 
hat.  (Reichsgericht,  Bd.  XV,  S.  17.)  Diese  Frage  ist  unbedingt 
zu  verneinen.  Es  mag  an  dieser  Stelle  auf  das  verwiesen  werden, 
was  oben  ausgeführt  ist,  daß  nämlich  selbst  ein  streng  wissen- 
schaftliches Motiv  den  dadurch  veranlaßten  Eingriff  in  eine  fremde 
Rechtssphäre  nicht  zu  einem  erlaubten  stempeln  kann,  daß  dieser 
Eingriff  vielmehr  trotzdem  ein  rechtswidriger  ist  und  bleibt.  Die 
gegenteilige  Annahme  würde  auch  zu  unhaltbaren  Konsequenzen 
führen:  Jemand,  der  sich  mit  Syphilis  oder  mit  gleichgeschlecht- 
licher Liebe  wissenschaftlich  befaßt,  würde  dann  straflos  berechtigt 
sein,  jeden  Unbekannten  auf  der  Straße  zu  befragen,  ob  er  schon 
die  Syphilis  gehabt  oder  ob  er  den  Geschlechtsverkehr  mit  Männern 
demjenigen  mit  Weibern  vorziehe.  Es  könnten  dann  auch  mit 
gleichem  Recht  Anfragen  an  Mädchenpensionatc  gestellt  werden, 
ob  die  Insassen  in  ihrem  Liebestrieb  sich  mehr  zu  andern  weib- 


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—     700    — 

liehen  Personen,  als  zu  Männern  hingezogen  fahlen  und  welche 
von  ihnen  der  lesbischen  Liebe  huldigen.  Es  käme  hierbei  ja 
nur  darauf  an,  daß  derjenige,  der  die  Frage  stellt,  glaubhaft 
macht,  daß  er  sich  wissenschaftlich  mit  dem  Geschlechtsleben  der 
Weiber,  besonders  mit  der  Frage  der  Häufigkeit  der  lesbischen 
Liebe  befasse.  Dieser  Fall  würde  dem  vorliegenden  recht  ähn- 
lich sein.  Junge  Mädchen  von  15—16  Jahren  stehen  in  ihrer 
geistigen  und  geschlechtlichen  Entwickelung  etwa  auf  gleicher 
Stufe  mit  einem  jungen  Mann  von  17 — 18  Jahren,  den  Studenten 
in  den  ersten  Semestern.  Beiden  wird  mit  wenigen  Ausnahmen 
ein  Verständnis  für  die  Bedeutung  solcher  wisiaenschaftlichen 
Enqueten  völlig  mangeln.  Sie  werden  aus  den  Anfragen  allein 
nur  das  Eine  herauslesen,  daß  durch  solche  Zumutungen  ihre 
Ehre  empfindlich  gekränkt  sei.  Beide  werden  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  erst  durch  die  Anfragen  von  der  Möglichkeit  homo- 
sexueller Neigungen  Kenntnis  erhalten. 

Der  geschilderte  Rechtszustand  wäre  unhaltbar.  Zur  Be- 
stätigung dessen,  daß  der  Gesetzgeber  das  rein  wissenschaftliche 
Interesse  gegenüber  dem  Recht  auf  Achtung  der  Person  zurück« 
treten  läßt,  mag  an  dieser  Stelle  auf  §  800  Strafgesetzbuchs 
hingewiesen  werden.  Die  dort  unter  Strafe  gestellte  unbefugte 
Offenbarung  von  Privatgeheimnissen  seitens  eines  Arztes  wird 
dadurch  nicht  straf&ei,  daß  die  Privatgeheimnisse  zu  wissen- 
schaftlichen Forschungen  verwertet  und  nur  in  rein  wissenschaft- 
lichem Interesse  geoffenbart  werden.  Ein  vom  Recht  auch 
gegenüber  dem  Recht  auf  Achtung  der  Person  anerkanntes,  mit- 
hin ein  objektiv  berechtigtes  Interesse  liegt  demnach  in  der 
Verfolgung  wissenschaftlicher  Zwecke  nicht  vor,  womit  der  §  193 
Strafgesetzbuchs  hier  ausscheidet.  Daß  der  Angeklagte  ein  solches 
Interesse  wahrzunehmen  geglaubt  habe,  hat  er  selbst  nicht  be- 
hauptet. 

Da  hiemach  der  Tatbestand  der  Beleidigung  nach  allen 
Richtungen  erfüllt  ist,  so  war  die  Feststellung  zu  treffen:  Daß  der 
Angeklagte  in  Berlin  und  Oharlottenburg  im  Dezember  1903 
andere,  nämlich  die  Studenten  Götze,  Senkpiel,  Heine  und 
Jacobi  beleidigt  hat.     Vergehen  gegen  §  185  Strafgesetzbuchs. 

Es  ist  nur  eine  Handlung,  die  beleidigend  gewirkt  hat,  an- 
genommen. Denn  wenn  auch  mehrere  Personen  beleidigt  sind, 
stellt  sich  die  Versendung  des  gleichen  Rundschreibens  an  die 
mehreren  Personen  doch  nur  als  Ausfluß  eines  and  desselben 
Vorsatzes  dar. 


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—     701     — 

Wegen  der  ihm  gleichfalls  zur  Last  gelegten  Verbreitang 
unzüchtiger  Schriften  konnte  aus  den  oben  angeführten  Gründen 
mangels  Beweises  gegen  den  Angeklagten  eine  Feststellung  nicht 
getroffen  werden.  Ebensowenig  konnte  nach  dem  geschilderten 
Sachverhalt  festgestellt  werden,  daß  die  Beleidigung  Öffentlich 
oder  durch  Verbreitung  von  Schriften  erfolgt  sei. 

Bei  Abmessung  der  Strafe  wegen  Beleidigung  ist  in  Betracht 
gezogen,  daß  der  Angeklagte  die  Tat  im  Eifer  wissenschaftlichen 
Interesses  begangen  hat,  daß  er  sich  dabei  aber  in  den  Mitteln 
zur  wissenschaftlichen  Forschung  versehen  hat.  Die  Motive,  die 
ihn  zum  Erlaß  der  Rundfragen  bewogen,  mögen  edel  und  an- 
erkennenswert gewesen  sein,' jedenfalls  hat  sich  in  dem  Sachverhalt 
nirgends  ein  niedriges  Motiv  gezeigt.  Andererseits  ist  nicht  zu 
verkennen,  daß  gerade  durch  solche  Anfragen  junge,  unverdorbene 
Menschen  in  ihren  Geschlechtsempfindungcn  leicht  verwirrt  und 
perversen  Neigungen  in  die  Arme  geführt  werden  können.  Eine 
sittliche  Schädigung  der  Empfänger  war  deshalb  sehr  wohl  mög- 
lich. Der  Angeklagte  hätte  dies  als  Arzt  besonders  in  Erwägung 
ziehen  müssen. 

Hiemach  erscheint  die  festgesetzte  Strafe  angemessen.  Die 
Substituierung  der  Freiheitsstrafe  beruht  auf  §§  28,  29  Straf- 
gesetzbuchs. 

Die  Kosten  des  Verfahrens  treffen  den  Angeklagten  nach 
§  407  Strafprozeßordnung. 

gez.  Oppermann.    Braun.    Cohr. 
Graeber.    Dorendorf. 


Ausgefertigt  Berlin,  18.  Mai  1904. 


(L.  S.)« 


Formal  unterlegen,  hatte  unser  Komitee  oflFenbar 
einen  bedeutsamen  moralischen  Sieg  errungen.  Schon 
die  Überschriften,  unter  denen  die  Blätter  ihre  Berichte 
veröffentlichten,  legten  dafür  Zeugnis  ab.  So  hieß  es  im 
„Tag":  „Die  sittliche  Entrüstung  vor  Gericht",  im 
„Berliner  Tageblatt":  „Der  Kampf  um  die  Forschung**, 
im  „Vorwärts":  „Dr.  Hirschfeld  verurteilt!",  im  „Neuen 
Montagsblatt":  „Die  Schamhaften  und  die  Scham- 
losen", in  der  „Zeit  am  Montag":  „Die  wissenschaft- 
liche Forschung  auf  der  Anklagebank",  in  der  „Morgen- 


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lieber  Publizistik**,  in  der  „Mainzer  Volkszeitnng": 
„Böstrafte  Wissenscbaft",  und  äbnlicb  aucb  in  anderen 
Blättern. 

Im  gleicben  Sinn  waren  zablreicbe  sonstige  Stimmen 
der  Presse  gebalten.  „Daß  die  Denunziation  gegen 
Dr.  Hirscbfeld  von  Studenten  ausgegangen  ist",  äußerten 
die  „Dresdner  Neuesten  Nacbricbten",  „muß  als 
eine  Scbande  für  die  deutseben  Universitäten  bezeiebnet 
werden."  Der  „Vorwärts"  sehrieb:  „Naeb  dieser  Be- 
gründung erbält  man  aueb  für  den  seiner  Zeit  gegen 
Galilei  geftibrten  Inquisitionsprozeß  einiges  Verständnis." 
Das  „Berliner  Tageblatt"  bemerkte:  „Das  Urteil  wird 
in  weiten  Kreisen  bedenkliebes  Kopfsebütteln  erregen!" 
Die  „Berliner  Zeitung":  „Uns  dünkt,  daß  die  be- 
leidigten Studenten  und  der  Herr  Pastor  Pbilipps  auf 
ibren  Sieg  niebt  allzu  stolz  zu  sein  braueben."  Die 
„Welt  am  Montag":  „Das  Urteil  wird  trotz  seiner 
bumanen  Deutung  befremden."  Die  „Leipziger  Volks- 
zeitung": „Jetzt  wird  es  uns  erst  klar,  daß  die  Verur- 
teilung des  alten  Sokrates  zu  Reebt  erfolgt  ist  und  aueb 
naeb  den  beutigen  Beebtsgrundsätzen  erfolgen  müßte." 
Die  „Magdeburger  Volksstimme": 

„Bekanntlich  wurden  auch  Galileo  Galilei  und  Giordano 
Bruno  yemrteilt,  weil  sie  vor  dem  Gesetz  nicht  Halt  gemacht 
hatten.  Allein  das  war  —  vor  beinahe  800  Jahren!  Daß  im 
Jahre  1904  ein  solches  Urteil  möglich  war,  charakterisiert  besser 
als  tausend  Zeitungsartikel  den  ,Geist  unserer  Zeit^" 

Die  „Königsberger  Volkszeitung": 

„Am  Sonnabend  ist  in  Berlin  von  der  Strafkammer  ein  Ur- 
teil gefällt  worden,  das  unbegreiflich  erscheinen  müßte,  wenn  auf 
dem  Gebiete  der  Rechtsprechung  überhaupt  noch  etwas  unbe- 
greiflich wäre  Dr.  Hirschfeld  wurde  wirklich  und  wahr* 

haftig  verurteilt.** 


nigitJypr: 


—     703     — 

Die  „Zeit  am  Montag": 

„Nicht  um  Dr.  Magnus  Hirschfeld  handelte  es  sich  in  dem 
Prozeß,  der  am  Sonnabend  vor  einer  Berliner  Strafkammer  statt- 
fiand.  Seine  Person  kam  nur  soweit  in  Betracht,  als  er  der  Ver- 
treter einer  wissenschaftlicben  Richtung  ist,  die  nach  einer  eigenen 
Methode  Licht  über  ein  Gebiet  zu  verbreiten  sucht,  das  von  der 
wissenschaftlichen  Forschung  bisher  nur  ungenügend  berücksichtigt 
wurde.  Dr.  Hirschfeld  ist  Vorsitzender  des  wissenschaftlich-huma- 
nit&ren  Komitees  in  Charlottenbnrg,  das  mit  Eifer  und  Hingabe 
die  Frage  der  Homosexualität  studiert  und  dem  volkstümlichen 
Verständnisse  näher  zu  bringen  sucht.  Um  eine  wenigstens  an- 
nähernd sichere  statistische  Unterlage  für  die  Beantwortung  der 
Frage  nach  der  Häufigkeit  des  Vorkommens  homosexueller 
Veranlagung  zu  finden,  hat  Dr.  Hirschfeld  im  Einverständnis  mit 
dem  Komitee  eine  Rund&age  an  einige  tausend  Schüler  der 
Technischen  Hochschule  und  Metallarbeiter  versandt,  durch  die 
er  die  Adressaten  im  Interesse  der  Wissenschaft  um  Auskunft 
über  die  Richtung  ihres  Geschlechtstriebes  ersuchte.  Die  Frage- 
bogen waren  so  abgefaßt,  daß  keiner  der  Adressaten  auch  nur 
eine  Silbe  zu  schreiben,  geschweige  denn  seinen  Namen  bekannt 
zu  geben  brauchte.  Lediglich  durch  Unterstreichen  vereinbarter 
Zeichen  sollte  die  Beantwortung  erfolgen.  Eine  persönliche  Bloß- 
stellung war  somit  nach  jeder  Richtung  hin  ausgeschlossen.  Den- 
noch aber  geschah  das  Unglaubliche:  Sechs  Studierende  der  Hoch- 
schule fühlten  sich  durch  die  Anfrage  beleidigt  und  stellten 
Strafantrag.  Natürlich  nahm  sich  die  Staatsanwaltschaft  bereit- 
willig der  Sache  an.  Zwei  der  jungen  Leute  gelangten  nach- 
träglich zu  der  Erkenntnis,  daß  es  ihrer  als  Jünger  der  Wissen- 
schaft doch  nicht  würdig  sei,  gegen  einen  Mann  der  Wissenschaft, 
der  aus  reinster  Gesinnung  heraus  für  Aufklärung  strebt  und 
wirkt,  mit  einer  Klage  vorzugehen.  Sie  zogen  ihre  Sti'afanträge 
zurück,  während  die  übrigen  vier  sie  aufrecht  erhielten. 

Die  Strafkammer  hat  Dr.  Hiischfeld  zu  200  Mark  Geldstrafe 
verurteilt.  In  der  Urteilsbegründung  wurden  zwar  die  Lauterkeit 
seiner  Motive  und  die  strenge  Wissenschaftlichkeit  des  Interesses, 
das  ihn  einzig  leitete,  rückhaltslos  anerkannt,  dennoch  aber  er- 
folgte die  Verurteilung,  mußte  sie  erfolgen  nach  der  Ansicht  der 
Strafkammer. 

Die  Richter  vertraten  die  Anschauimg,  daß  die  Achtung  vor 
der  Person  höher  stehe  als  das  Interesse  der  wissenschaftlichen 
Forschung.     So   wenig   man   am   lebenden   Körper   medizinische 


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—     704     — 

Experimente  machen  dürfe»  so  wenig  dürfe  man  im  allgemeinen 
wissenschaftlichen  Interesse  an  jemanden  eine  Frage  richten,  die 
ihn  kränken  könne. 

In  Anbetracht  der  Zimperlichkeit  der  jungen  Leute,  die  in 
ihrem  Strafantrag  erklärtem,  daß  sie  sich  durch  die  Rundfrage  des 
Dr.  Hirschfeld  beleidigt  fühlten,  konnte  der  Gerichtehof  wohl  zu 
dieser  Auffassung  gelangen.  Ein  zwingender  Grund  dazu  lag  aber 
für  ihn  nicht  vor.  Sein  Urteil  ist  zum  Teil  wohl  auch  aus  den 
herrschenden  Anschauungen  einer  gewissen  Gesellschaftoschicht 
heraus  zu  erklären,  die  auch  den  Richterstand  schon  längst  in 
ihren  Bann  gezwungen  haben.  Pastor  Philipps  von  St  Johannis 
mag  heute  frohlocken.  Wir  andern  aber,  die  wir  bemüht  sind, 
uns  freizuhalten  von  Vorurteilen,  können  das  Geföhl  der  Scham 
darüber,  daß  ein  solcher  Prozeß  in  Deutschland  möglich  gewesen, 
nicht  unterdrücken.  Nicht  um  den  Dr.  Hirschfeld  handelt  es  sich 
hier  und  nicht  um  die  Homosexuellen,  sondern  um  die  Wissen- 
schaft und  ihre  berechtigten  Interessen.  Ihnen  ist  durch  den 
Prozeß  eine  empfindliche  Schädigung  zugefügt  worden." 

Die  „Breslauer  Zeitung": 

„Man  kann  nicht  sagen,  daß  dieses  Urteil  übelwollend  ist, 
aber  dennoch  müssen  wir  es  bedauern.  Die  Hauptechuld  trifft 
jedenfalls  die  Denunzianten,  die  sich  in  sittlicher  Entrüstung  er- 
gangen haben,  statt  die  lediglich  im  Interesse  der  Wissenschaft 
veranstaltete  Umfrage  des  Dr.  Hirschfeld  richtig  zu  verstehen 
und  richtig  zu  würdigen.  Da  es  sich  hier  um  akademisch  ge- 
bildete junge  Leute  handelt,  so  hätte  man  bei  ihnen  wohl  etwas 
mehr  Verständnis  für  einen  wissenschaftlichen  Zweck  voraus- 
setzen dürfen.  Sie  hätten  ja  die  Anfrage  einfach  unbeantwortet 
lassen  können,  wenn  sie  Anstoß  daran  nahmen.  Daß  aus  der 
Anfrage,  wie  der  Gerichtehof  als  möglich  annimmt,  irgendwie  ein 
„sittlicher  Schade"  erwachsen  sei,  glauben  wir  nicht,  und  noch 
weniger,  daß  Dr.  Hirschfeld,  der  ein  wissenschaftlich  recht  dunkles 
Gebiet  durch  ernste  Forschung  zu  klären  versucht,  irgendwie  das 
Bewußtsein  gehabt  hat,  jemanden  beleidigen  zu  wollen." 

Der  „Tag": 

„Seit  Jahren  besteht  ein  sog.  wissenschaftlich-humanitäres 
Komitee,  welches  sich  zur  Aufgabe  gemacht  hat,  die  wichtige  und 
interessante  Frage  der  Homosexualität  einer  gründlichen  Klärung 
zu  unterwerfen  und,  wenn  möglich,  die  Aufhebung  des  §  175  des 
St.-G.-B.  zu  erreichen,  welcher  den  geschlechtlichen  Verkehr  unter 


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—     705     — 

Männern  einer  harten  Strafe  aussetzt,  während  hekanntennaßen 
der  homosexaelle  Verkehr  unter  Frauen  straflos  ist.  £s  kommt 
hei  diesen  Fragen  in  letzter  Linie  darauf  hinaus,  nachzuweisen, 
daß  es  sich  hei  der  Homosexualität  um  eine  unverschuldete 
Anomalie  handelt,  welche  strafrechtlich  zu  verfolgen  eine  Unge- 
rechtigkeit bedeutet.  Das  genannte  Komitee,  dessen  Zusammen- 
setzung wohl  nicht  bekanntgegeben  wird,  ist  offenbar  mit  reichen 
Geldmitteln  versehen  und  hat  in  seinem  Generalsekretär  Dr. 
Magnus  Hirschfeld  in  Charlottenburg  einen  ungemein  rührigen 
und  eifrigen  Vertreter.  Alljährlich  erscheint  ein  aus  einem 
oder  zwei  Bänden  bestehendes  „Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischen- 
stufen'S  in  welchem  eine  reiche  Zahl  interessanter  kasuistischer 
und  statistischer  Daten  niedergelegt  ist.  Es  gehört  eine  aner- 
kennenswerte Selbstlosigkeit  dazu,  sich  im  Dienste  eines  solchen 
Komitees  in  die  Öffentlichkeit  zu  begeben,  und  es  kann  nicht 
wundernehmen,  daß  Angriffe  aller  Art  in  Szene  gesetzt  werden. 
Es  gibt  eben  noch  eine  große  Reihe  von  Menschen,  welche  nicht 
weit  genug  fortgeschritten  sind,  um  bei  solchen  Fragen  das  rein 
Wissenschaftliche  von  dem  Pikanten  zu  trennen,  und  in  der  Auf- 
rollung derartiger  Fragen  eine  unsittliche  Handlung  erblicken. 
Einer  der  wichtigsten  Punkte  der  Arbeiten  des  wissenschaftlich- 
humanitären Komitees  besteht  nun  in  einer  statistischen  Erhebung 
über  die  Zahl  der  augenblicklich  lebenden  homosexuellen  Männer, 
denn  nur  nach  Feststellung  dieser  Zahl  wird  es  möglich  sein,  sich 
ein  Bild  darüber  zu  machen,  wieviel  Menschen  unter  dem  Druck 
jenes  Paragraphen  stehen.  Eine  derartige  statistische  Erhebung 
muß,  das  liegt  klar  auf  der  Hand,  auf  große  Schwierigkeiten 
stoßen,  da  die  meisten  homosexuellen  Personen  aus  ihrer  Anomalie 
ein  strenges  Geheimnis  zu  machen  pflegen  und  nur  ungern  Farbe 
bekennen.  Es  kam  daher  dem  Komitee  darauf  an,  zunächst  bei 
einer  beschränkten  Gruppe  eine  derartige  statistische  Enquete  zu 
veranstalten  und  diese  so  einzurichten,  daß  eine  Kompromittierung 
des  einzelnen  gänzlich  ausgeschlossen  erschien  ....  Was  die 
Statistik  ergab,  interessiert  uns  hier  nicht  weiter,  nur  die  dieser 
Enquete  folgenden  Ereignisse  will  ich  hier  kurz  beleuchten. 
Zunächst  befaßten  sich  einige  Tagesblätter  mit  der  Angelegenheit, 
und  vor  allen  schüttete  die  „Staatsbürger-Zeitung"  ein  gerütteltes 
Maß  voll  Entrüstung  über  das  Komitee  und  seinen  Generalsekretär 
aus.  Man  warf  dem  Komitee  vor,  es  verführe  die  jungen  Leute 
zur  Unsittlichkeit  und  Perversität.  „Die  jungen  Leute,  die  Gott 
sei  Dank  bisher  keine  Ahnung  von  solchen  widernatürlichen 
Dingen  hatten,  erst  darauf  zu  bringen."  ~  In  ähnlicher  Weise 
Jahrbuch  VI.  45 


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Blätter  bewiesen  wieder  einmal  die  ungeheure  Beschränktheit  im 
Geist,  welche  in  manchen  Redaktionen  herrscht,  und  die  absolute 
Verkennung  eines  rein  wissenschaftlichen  Zweckes.  Doch  es  fehlte 
noch  ein  Kritiker:  Herr  Pastor  Philipps!  Auch  dieser  nahm  sich  mit 
gewohnter  moralischer  Entrüstung  der  Sache  an  und  brachte  in 
einer  von  ihm  zum  Kampfe  gegen  die  Unsittlichkeit  einberufenen 
Studenten  Versammlung  dieses  „Attentat  auf  die  studentische  Ehre^* 
zur  Sprache.  In  gleich  geistvoller  Weise  hatte  er  auch  das  An- 
gebot von  Vorbeugungsmitteln  gegen  Geschlechtskrankheiten  einer 
fthnlichen  Kritik  unterzogen.  So  war  denn  mit  einem  Male  aus 
einer  wirklich  ganz  harmlosen  wissenschaftlichen  Enquete  eine  un- 
moralische Handlung  gemacht  worden,  und  Herr  Pastor  Philipps 
hatte  den  Triumph,  die  studentische  Welt  von  einem  so  gefähr- 
lichen Einfluß  zu  befreien.  Denn  infolge  seiner  Opposition  nahm 
sich  die  Staatsanwaltschaft  der  Sache  an  und  versetzte  Dr.  M. 
Hirschfeld  in  den  Anklagezustand ,  weil  er  durch  seine  Umfrage 
die  Unsittlichkeit  gefördert  habe.  Diese  Anklage  endete  mit 
einer  Verurteilung  zu  200  Mark  Geldstrafe  oder  entsprechender 
Haft.  Natürlich  ist  die  Strafe  als  solche  ganz  gleichgültig,  es 
handelt  sich  lediglich  um  das  Prinzip.  Eine  wissenschaftliche, 
ernste,  mit  aller  Vorsicht  inszenierte  Enquete  wird  als  eine  die 
Sittlichkeit  gefährdende  Unternehmung  Grund  zu  einer  Bestrafung. 
Wie  soll  man  denn  derartige  Fragen  in  Zukunft  lösen  oder  zu 
lösen  versuchen?  Gibt  es  wirklich  jemand,  welcher  glaubt,  daß 
durch  solche  Anfrage,  wie  die  oben  geschilderte,  ein  einziger 
Mensch  zur  Homosexualität  geführt  würde?  Ist  das  der  Erfolg 
unseres  aufgeklärten  Jahrhunderts?  Zu  einer  Zeit,  wo  die 
obszönsten  Witzblätter  auf  der  Straße  feilgehalten  werden,  hat  die 
Staatsanwaltschaft  sicherlich  keinen  Grund,  in  moralischer  Ent- 
rüstung eine  derartige  wissenschaftlich-statische  Forschung  vor 
die  Schranken  zu  fordern.  Wenn  es  sich  um  die  Frage  der 
Unsittlichkeit  handelt,  da  dürften  sich  wohl  noch  genügend  Ge- 
biete finden,  wo  die  Staatsanwaltschaft  mit  vollem  Recht  ein- 
zugreifen Veranlassung  hätte.  Herr  Pastor  Philipps  hat  sich  aber 
durch  sein  Vorgehen  in  den  Augen  denkender  Menschen  kein 
Verdienst  erworben,  sondern  nur  mit  seltenem  Geschick  den 
Beweis  erbracht,  daß  er  in  den  Geist  einer  ernsten  wissenschaft- 
lichen Enquete  nicht  einzudringen  vermag.*' 

Die     „Allgemeine     Deutsche     Universitäts- 
zeitung": 


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—     707     — 

,,Wa8  keiner  für  möglich  gehalten ,  Dr.  M.  Hirschfeld  ist 
infolge  seiner  Enquete  bei  den  Studenten  der  Charlottenburger 
Hochschule  wegen  Beleidigung  einiger  sich  infolge  Aufhetzung 
beleidigt  fühlender  Studenten  verurteilt  worden  und  zwar  zu 
200  Mark  Geldstrafe.  Der  Gerichtshof  anerkannte  die  strenge 
Wissenschafclichkeit,  ebenso  die  durchaus  ehrenhaften  Beweg- 
gründe, aber  die  Wissenschaft  miisse  vor  dem  Gesetz  Halt  machen. 
Dadurch,  daß  man  Jemand  befrage,  ob  sich  sein  Liebestrieb 
homosexuell  betätige,  beleidige  man  denselben,  da  dies  nach  dem 
Gesetz  noch  immer  strafbar  sei.  In  der  Anfrage  an  die  Studenten 
ist  aber  von  einer  Betätigung  gar  nicht  die  Rede,  sondern  von 
dem  Empfindungsleben,  das  bekanntlich  angeboren  und  wofür 
deshalb  niemand  bestraft  werden  kann.  Die  Anfrage  war  in  streng 
naturwissenschaftlichem  und  durchaus  nicht  im  strafrechtlichen 
Sinne  gehalten.  Noch  eigenartiger  war  es,  daß  das  Bewußtsein 
der  Beleidigung  angenommen  wurde,  weil  der  Angeklagte  nach 
„einwandsfreien^*  Formen  der  Enquete  gesucht,  selbstverständlich 
um  zuverlässige  Antworten  für  die  Statistik  zu  erhalten,  nicht 
weil  er  eine  Kränkung  der  Befragten  vermutete.  Ebenso  eigen- 
artig war  die  Absprechung  des  Schutzes  berechtigter  Interessen 
(§  198).  Ein  Mann,  der  seit  vielen  Jahren  in  der  eifrigsten  und 
wissenschaftlich  anerkanntesten  Weise  dahin  gearbeitet  hat,  die 
Menschheit  von  mittelalterlicher  Gesetzgebung  und  von  einem 
Makel  zu  befreien,  an  den  sie  einst  mit  tiefster  Beschämung 
zurückdenken  wird,  diesem  wird  der  Schutz  des  §  193  abgesprochen! 
Eigenartig  war  auch  der  Ausschluß  der  Öffentlichkeit,  trotzdem 
Angeklagter  und  Verteidiger  sie  im  vollen  Umfange  wünschten; 
er  war  um  so  weniger  notwendig,  als  die  homosexuelle  Frage 
naturwissenschaftlich  gar  nicht  erörtert  wurde  und  sich  alles  nur 
um  rein  juristische  Fragen  handelte.  Der  Vorsitzende  wies  alle 
dahin  zielende  Aussagen  der  Sachverständigen  als  belanglos  zu- 
rück. Und  doch  waren  diese  von  der  größten  Wichtigkeit;  denn 
wenn  festgestellt  worden  wäre,  daß  die  Geschlechtsempfinduug 
angeboren  und  daß  die  Enquete  nur  auf  diese  angeborene  Em- 
pfindung zielte,  so  war  es  auch  juristisch  klar,  daß  die  Anfrage 
auf  keinen  Fall  beleidigend  war.  Staatsanwalt  und  Gerichtshof 
bauten  aber  ohne  Rücksicht  auf  die  naturwissenschaftliche  Seite 
allein  auf  der  nicht  anwendbaren  juristischen  Unterlage  ihre 
Anklage  auf.  Nicht  sehr  schmeichelhaft  für  die  Studenten  war 
es,  daß  sie  in  Vergleich  mit  einem  Mädchenpensionat  gestellt 
wurden.  Backfische  können  den  wissenschaftlichen  Ernst  einer 
solchen  Anfrage  nicht  verstehen  und  ist  deshalb  eine  derartige  An- 

4Ö* 


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sittlichen  Ernst  zutrauen  und  das  hat  der  Angeklagte  getan.  Der  Gre- 
richtshof  schien  den  Studenten  diesen  durch  seinen  Vergleich  mit 
demMftdchenpensionat  nicht  zubilligen  zu  wollen.  Hierdurch  könnten 
sich  die  Studenten  mit  Hecht  beleidigt  fühlen,  während  ein  Zu- 
trauen des  wissenschaftlichen  Ernstes  seitens  des  Angeklagten  sie 
dagegen  ehren  mußte.  Aber  ein  Gutes  hat  die  Verurteilung  doch. 
Die  Sache  wird  dadurch  erst  recht  an  die  Öffentlichkeit  gebracht. 
Mau  wird  anfangen  darüber  nachzudenken,  man  wird  sehr  bald 
herausfinden,  daß  die  juristischen  Anschauungen  den  natur- 
wissenschaftlichen Erfahrungen  gegenüber  nicht  mehr  haltbar 
sind,  wie  denn  auch  einer  der  Antragsteller  seinen  Antrag  zurück- 
gezogen hatte,  weil  er  nach  besserer  Einsicht  in  die  Frage  sich 
nicht  mehr  beleidigt  fühlen  könnte.*^ 

Die  „Münchner  Jugend": 

„Ein  die  Forschungsfreiheit  gefährdender  Justizirrtum  muß 
die  Verurteilung  des  Dr.  M.  Hirschfeld  in  Charlottenburg  genannt 
werden.  Um  die  Frage,  ob  das  Verlangen  nach  Aufhebung  des 
§  175  des  St-G.-B.  berechtigt  sei,  statistisch  begründen  zu  können, 
hatte  er  eine  große  Anzahl  von  gedruckten  Briefen  versandt, 
deren  Adressaten  ersucht  wurden,  auf  einer  beiliegenden  Postkarte, 
jedoch  ohne  ihre  Namensunterschrift,  Auskunft  über  ihre  geschlecht- 
lichen Neigungen  zu  geben.  Einige  Studenten  nun  sahen,  an- 
gestachelt durch  einen  Pastor,  in  jener  Zumutung  eine  persönliche 
Beleidigung  und  das  Gericht  gab  ihnen  Recht. 

Nun  aber  kann  man  sogar  ein  Gegner  der  Aufhebung  des 
§  175  sein,  ohne  in  der  Tatsache  der  Homosexualität  irgend  etwas 
Schimpfliches  zu  erblicken.  Denn  jener  Paragraph  bedroht  nur 
gewisse  Handlungen  mit  Strafe,  keineswegs  eine  allgemeine 
Neigung  oder  Veranlagung.  Zudem  war  die  Frage  in  äußerst 
dezenter  Form  gestellt  und  sozusagen  unpersönlich,  da  der  Adressat 
seinen  Namen  nicht  zu  nennen  brauchte.  Von  einer  ,,Ab8iclit" 
zu  beleidigen,  konnte  schon  gar  nicht  die  Rede  sein.  Wenn  das 
Erkenntnis  besagt,  daß  „die  Wissenschaft  vor  dem  Gesetz  Halt 
machen  müsse'^,  so  darf  dieser  Satz  als  eine  Negierung  alles  wissen- 
schaftlichen Fortschrittes  bezeichnet  werden,  denn  wer  soll  schließ- 
lich zur  Bekämpfung  schlechter  Gesetze  mehr  berufen  sein,  als 
die  Wissenschaft? 

Es  wäre  schrecklich,  wenn  unsere  Justiz  auf  dieser  schiefen 
Ebene  allmählich  die  gesamte  psychologische  und  soziale  Statistik 
und  wer  weiß,    was  sonst  noch,    lahm  legen  würde.     Eine  ganze 


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—     7Ö9     — 

Masse  wichtiger  Fragen  sind  nur  durch  derartige  Umfragen  zu 
erledigen.  Anstatt  die  gekränkte  Leberwurst  zu  hegen  und  zu 
pflegen,  schreite  man  doch  lieber  zu  einer  gründlichen  Be- 
kämpfung der  zahlreichen  Roheitsdelikte  und  insbesondere  der 
Kindermißhandlungen/^ 

Der  „Münsinger  Albbote": 

„Ein  seltsamer  Prozeß  hat  in  weitgehendster  Weise  die 
Aufmerksamkeit  nicht  nur  der  wissenschaftlichen,  sondern  auch 
der  Laienkreise  erregt.  Es  handelte  sich  um  eine  Beleidigungs- 
klage, die  vier  resp.  sechs  Studenten  der  Technischen  Hochschule 
gegen  den  bekannten  Vorsitzenden  des  wissenschaftlich-humani- 
tären Komitees  angestrengt  hatten  ....  Es  ist  ein  trauriges  und 
nicht  zu  übersehendes  Zeichen  unserer  Zeit,  daß  der  Jugend,  die 
sich  die  Blüte  der  Nation  nennt  —  wenn  auch  nur  teilweise  — 
der  Begriff  der  wahren  Sittlichkeit  so  verwirrt  worden  ist,  daß 
einige  ihrer  Vertreter  sich  durch  eine  wissenschaftliche  Frage 
beleidigt  fühlen  können.  Aber  das  kommt  von  den  verschrobenen 
Ehrbegriffen  her  —  unter  3000  Arbeitern  hätte  sich  gewiß  keiner 
gefunden,  der  sich  beleidigt  gefühlt  hätte. 

Bei  der  Verhandlung  verkannte  der  Staatsanwalt  den  sitt- 
lichen Ernst  des  Angeklagten  nicht,  konnte  sich  aber  —  wenigstens 
nach  außen  hin  —  nicht  dazu  entschließen,  die  „Verbreitung 
unzüchtiger  Schriften'^  fallen  zu  lassen  und  beantragte  500  Mark 
Geldstrafe.  Der  Gerichtshof  schloß  sich  dieser  Anpassung  nicht 
an,  sah  aber  trotz  des  wissenschaftlichen  Zweckes  eine  Beleidigung 
für  feststehend  an  und  erkannte  auf  200  Mark  Geldstrafe  mit  der 
denkwürdigen  Begründung,  die  Forschung  müsse  vor  der  Person 
Halt  machen.  Man  muß  sich  doch  wundem,  daß  die  wissen- 
schaftliche Forschung  nicht  höher  eingeschätzt  wird  und  daß 
Menschen  auf  eine  bloße  Frage  hin,  die  in  feinster  und  diskre- 
tester Form  geschieht,  eine  Verurteilung  des  Fragers  herbeiführen 
können.  Wie  herrlich  weit  haben  wir  es  doch  gebracht,  wehrlose  Tiere 
erklären  wir  der  wissenschaftlichen  Forschung  durch  Vivisektion 
opfern  zu  müssen,  aber  an  den  Menschen  dürfen  wir  im  Interesse 
derselben  wissenschaftlichen  Forschung  keine  Frage  richten,  trotzdem 
ihm  damit  nicht  das  geringste  Leid  geschieht,  nicht  einmal  5  Minuten 
Arbeit  gemacht  wird.  Es  ist  eine  Torheit,  zu  behaupten,  die 
freie  Forschung  könne  ja  auch  einmal  Experimente  an  lebenden 
Menschenkörpem  für  notwendig  ansehen,  und  wenn  man  das  Eine 
gestatte,  müsse  man  das  Andere  auch  zugeben.  Solche  Behaup- 
tungen werfen  ein  grelles  Schlaglicht  auf  die  geistige  Höhe  ihrer 


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heit  zu  gute  kommt,  hat  ein  Recht  darauf  zu  beanspruchen,  daß 
man  ihr  keinerlei  Hindernisse  in  den  Weg  legt,  so  lange  sie  sich 
in  den  Bahnen  wissenschaftlicher  Fragen  hält,  und  die  Beant- 
wortung derselben  sollte  jedermann,  ganz  besonders  aber  den 
Studierten  und  Studierenden  als  eine  Ehrenpflicht  erscheinen,  als 
ein  einfacher  Dank  für  die  gemeinnützigen  Leistungen  der  wissen- 
schaftlichen Forschung. 

Dr.  Hirschfeld  wird  seine  Verurteilung  zu  ertragen  wissen 
in  dem  Bewußtsein,  daß  hunderttausende  ihm  täglich  danken  für 
die  mühevolle  Arbeit,  für  das  heiße  Streben,  das  er  ihrer  Be- 
freiung von  schmählichen  Ketten  widmet,  daß  hunderttausende 
mit  ihm  übereinstimmen  in  dem  Gedanken,  wie  notwendig  die 
Abschaffung  des  §  175  ist,  dieses  Schandfleckes  auf  dem  Schilde 
der  deutschen  Ehre/* 

Selbst  die  Zeitungen  des  Aaslandes,  sogar  Blätter 
von  jenseits  des  Ozeans  widmeten  dem  Urteil  ihre  Auf- 
merksamkeit. So  hieß  es  —  ein  paar  Wochen  später  — 
in  einem  fast  zwei  Seiten  langen  Artikel  des  ^^Argen- 
tinischen  Wochenblatts'^  in  Buenos  Aires,  der  größten 
deutschen  Zeitung  Südamerikas: 

„Die  Begründung  des  Urteils  ist  eine  glänzende  Recht- 
fertigung des  Angeklagten  und  seiner  humanen  Bestrebungen,  so 
daß  selten  ein  Richterspruch  den  Gegensatz  von  Gesetz  und 
Recht  klarer  beleuchtet  hat  als  dieser  Spruch." 

Ähnlich  schrieb  die  „Germania",  Allgemeine 
deutsche  Zeitung  für  Brasilien,  in  San  Paolo,  von  einer 
„ehrenvollen  Rechtfertigung  des  Angeklagten,  dessen  rein 
wissenschaftliche  Ziele  und  humanitäre  Motive  das  Urteil 
anerkannt  habe." 

Selbstverständlich  säumten  wir  nicht,  gegen  das  Urteil 
unsererseits  Revision  anzumelden,  um  so  mehr,  als  wir 
von  den  verschiedensten  Seiten  auf  die  höheren,  all- 
gemeinen Interessen  hingewiesen  wurden,  welche  hier 
in  Frage  ständen.  Die  Begründung  des  Verteidigers 
lautete: 


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—     711     — 

,Jn  der  Strafsache 

gegen  den  Arzt  Dr.  med.  Magnus  Hirschfeld  in  Charlottenburg 
wird  in  Verfolgung  der  Revisionsanmeldung  beantragt, 

das  Urteil  des  Königlichen  Landgerichts  I  Berlin  vom 
7.  Mai  1904  aufzuheben,  insoweit  es  eine  Beleidigung  für  vor- 
liegend erachtet. 

Die  Anfechtung  wird  auf  Verletzung  formeller  und  mate- 
rieller Kechtsnormen  gestützt. 

I.  Es  ist  in  der  mündlichen  Verhandlung  und  im  Urteil 
nicht  festgestellt  worden,  daß  die  4  Antragsteller  über  18  Jahre 
alt,  also  zur  selbständigen  Stellung  des  Strafantrages  berechtigt 
waren.  Bei  einem  Alter  unter  18  Jahren  wäre  kein  giltiger 
Antrag   vorhanden   und  demnach  die  Bestrafung  ausgeschlossen. 

II.  Es  unterliegt  der  Nachprüfung,  ob  der  Rechtsbegriff  der 
Beleidigung  nicht  verkannt  ist. 

Die  im  Urteil  festgestellten  Tatsachen  rechtfertigen  die  An- 
nahme einer  Beleidigung  im  objektiven  Sinne  nicht.  (Vergleiche 
Freudenstein:  System  des  Rechts  der  Ehrenkränkungen,  Han- 
nover 1880.) 

Die  Beleidigung  setzt  die  Mißachtung  der  fremden  Persön- 
lichkeit, eine  gegen  die  Person  gerichtete  Spitze  voraus;  daher 
gibt  es  keine  Beleidigung  eines  Kollektivbegriffes. 

Im  vorliegenden  Falle  ist  —  wie  festgestellt  —  die  unter 
Anklage  gestellte  Rundfrage  an  eine  dem  Angeklagten  nur  als 
Zugehörige  der  Technischen  Hochschule  Charlottenburg  bekannte, 
im  übrigen  aber  unbekannte  Gesammtheit  von  ca.  8000  Personen 
ergangen.  Anstatt  der  Adressen  mit  Namen  hätte  der  Angeklagte 
ebenso  gut  Zahlen  auf  die  verschlossenen  Couverts  gesetzt,  wenn 
damit  der  Zweck  der  ordnungsmäßigen  Verteilung  der  Anfragen 
erreicht  worden  wäre. 

So  unpersönlich  wie  die  ;Form  war  auch  der  Inhalt  des 
Schreibens.  Er  enthält  —  wie  festgestellt  —  unter  Hinweis  auf 
die  wissenschaftliche  und  humanitäre  Bedeutung  der  Enquete  eine 
Aufforderung,  sich  an  dem  geplanten  Werk  der  Aufklärung  nach 
Kräften  zu  beteiligen.  In  erster  Linie  hält  der  Angeklagte  eine 
Beteiligung  der  Angefragten  in  der  Weise  für  möglich,  daß  sie 
unpersönlich  Angaben  über  ihr  Sexualleben  machen.  Dem  An- 
geklagten ist  das  Sexualleben  des  Individuums  an  sich  gleich- 
gültig. Er  will  nur  Zahlen  für  seine  Statistik  haben.  Seine 
Anfrage  ist  ganz  indifferent.    Sie  erklärt  nur  etwa  Folgendes: 


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anormal  veranlagt  sind.  Ich  weiß  nicht,  wie  Du,  Angefragter 
veranlagt  bist,  bitte,  sage  es  mir.  Wer  Da  bist  und  wie  die 
Antwort  ausfallt,  ist  mir  gleichgültig,  wenn  sie  nur  der  Wahrheit 
entspricht. 

Es  ist  lediglich  nach  dem  Trieb  gefragt,  bei  der  Arbeiter- 
enquete das  Wort  sogar  unterstrichen. 

Wer  nicht  antworten  mag,  kommt  nicht  in  Verlegenheit. 
Der  Angeklagte  stellt  niemanden.  Jeder  kann  der  Antwort  ohne 
Verlegenheit  ausweichen.  Das  ist  der  Unterschied  zwischen  der 
diskreten  brieflichen  Anfrage  des  Angeklagten  und  der  vom 
Urteil  —  in  einem  unzutreffeiiden  Vergleich  —  herbeigezogenen 
persönlichen  Anfrage  auf  offener  Straße. 

Die  Angefragten  sind  junge  Leute,  die  eine  Gymnasial- 
bildung hinter  sich  haben,  deren  Aufgabe  es  gegenwärtig  ist,  sich 
mit  wissenschaftlichen  Fragen  zu  beschäftigen.  Der  Angeklagte 
hat  für  sie  Vorträge  über  die  in  Hede  stehenden  Fragen  gehalten. 
Sie  haben  gerade  als  Studenten  der  Technischen  Hochschule  ein 
Fach  gewählt,  das  keine  Zimperlichkeit  verträgt.  Dazu  kommt, 
daß  junge  Männer  überhaupt  mit  sexuellen  Fragen  vertrauter  sind 
als  junge  Mädchen,  daß  das  Schamgefühl  beim  Weibe  von  Natur 
ausgeprägter  ist  und  sein  soll.  Nach  herrschender  Anschauung 
wird  sich  ein  junger  Student  nicht  verletzt  fühlen  durch  die 
Frage ,  ob  er  mit  einem  jungen  Mädchen  verkehrt.  Mit  Recht 
würde  aber  das  junge  Mädchen  aus  der  Pension  eine  derartige 
Frage  als  eine  grobe  Beleidigung  zurückweisen.  An  diesem,  von 
der  ersten  Instanz  gewählten  Vergleich  der  Studenten  mit  den 
Zöglingen  eines  Mädchenpensionats  allein  sieht  man,  wie  die 
Strafkammer  den  objektiven  Begriff  der  Beleidigung  verkannt  hat. 

a)  „Was  eine  Ehrenkränkung  ist,  muß  die  Anschau- 
ungsweise der  betreffenden  Kreise  und  die  Gewöhnung 
der  Beteiligten  ergeben." 

Es  hat  aber  nicht  festgestellt  werden  können,  daß  von  den 
3000  Angefragten  sich  außer  den  4  Antragstellern  noch  Jemand 
beleidigt  gefühlt  hat.  Wohl  aber  ist  festgestellt,  daß  1700  ge- 
antwortet haben.  Die  herrschende  Anschauung  der  Angefragten 
spricht  also  für  den  Angeklagten. 

Der  §  300  St.-G.-B.  kann  ebenfalls  nicht  herangezogen 
werden,  da  gerade  eine  diskrete  Verwertung  des  Anvertrauten 
ohne  Bezeichnung  der  Person  zulässig  ist. 

b)  Ferner  muß  der  Täter  mit  dem  Bewußtsein  der 
Ehrenkränkung  und  dem  Bewußtsein  der  Rechtswidrig- 


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—     713     — 

keit  seiner  Kundgebang  gehandelt  haben:  Der  Animus 
injnriandi  ist  erforderlich. 

Der  Angeklagte  hat  —  wie  festgestellt,  junge  Studenten  zur 
Klärung  eines  noch  dunklen  wissenschaftlichen  Gebietes  heran- 
gezogen, ohne  jede  Nebenabsicht  des  Sinnenkitzels.  Soll  er  sich 
wirklich  dabei  gesagt  haben,  daß  sittlich  gesunde  junge  Studenten 
die  Zumutung,  die  Wissenschaft  zu  fördern,  als  eine  Beleidigung 
auffassen  könnten?  Auf  diese  Idee  konnte  er  nur  dann  kommen, 
wenn  er  ihnen  eine  schmutzige  Phantasie,  eine  schwüle  Sinnlich- 
keit zuschrieb. 

Der  Angeklagte  konnte  die  Möglichkeit  der  Beleidigung  nur 
erwftgen,  wenn  er  den  Inhalt  des  Bundschreibens  für  beleidigend 
hielt.  Da  er  aber  ebenso  wie  die  Strafkammer  die  Homosexualität 
für  abnorm,  krankhaft,  also  ein  unverschuldetes  Übel  hält,  und 
da  er  sich  nicht  darauf  beschränkt  hat,  nach  der  Abnormität  zu 
fragen,  sondern  in  gleicher  Weise  die  Vermutung  des  normalen 
Triebes  unterstellt  hat,  so  konnte  er  von  seinem  Standpunkte  aus 
die  Möglichkeit  der  Beleidigung  sicher  nicht  in  sein  Bewußtsein 
aufnehmen. 

Wie  sollte  auch  der  Angeklagte  zu  der  vorsätzlichen  und 
rechtswidrigen  Kundgebung  der  Mißachtung  gegenüber  Personen 
kommen,  die  für  ihn  gar  nicht  als  solche,  sondern  nur  als  Zahlen 
existierten?! 

Es  ist  bei  der  Frage  nach  dem  Animus  injuriandi  nicht 
gleichgültig  —  wie  die  Strafkammer  sagt  —  daß  hunderte  hinter 
dem  Angeklagten  stehen.  Denn  wo  diese  Vielen  nicht  auf 
die  Idee  kommen,  möglicherweise  zu  beleidigen,  wird  man  wohl 
schwerlich  gerade  bei  dem  einen  Angeklagten  dies  Be- 
wußtsein annehmen  können! 

Es  ist  daher  zwar  das  Bewußtsein  der  Beleidigung  im  Urteil 
festgestellt,  doch  nicht  in  rechter  Würdigung  des  rechtlichen  Be- 
griffes „Animus  injuriandi". 

c)  Bleibt  aber  eine  Beleidigung  in  objektiver  und  subjektiver 
Hinsicht  schließlich  bestehen,  so  muß,  da  der  Angeklagte  sie  be- 
streitet, ex  officio  die  Frage  geprüft  werden,  ob  nicht  der  An- 
geklagte in  Wahrnehmung  berechtigter  Interessen  gehandelt  hat 
und  nach  §  193  St.-Gr.-B.  straffrei  bleiben  muß. 

Die  Wissenschaft  allein  soll  ihm  keinen  Freibrief  zur  Be- 
leidigung ausstellen,  sagt  das  Urteil.  Nun  hat  aber  das  Urteil 
selber  festgestellt,  daß  die  wissenschaftliche  Erforschung  des 
wahren  Wesens  des  Uranismus  der  Abschaffung  des  §  175  St.-G.-B. 
dienen  sollte,  daß  also  objektiv  berechtigte  Interessen  der  Homo- 


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schlagen  war,  den  für  die  Homosexuellen  aus  §  175  St.-G.-B. 
fließenden  Übelständen  der  Bestrafung,  der  Erpressung  (Chantage) 
—  die  übrigens  auch  an  die  Normalsexuellen  herantritt  —  ab- 
zuhelfen. Hierzu  ist  auch  der  persönlich  nicht  Betroffene  be- 
rechtigt, wenn  es  sich  vermöge  besonderer  Eigenschaften  —  des 
eingehenden  Studiums  der  Sache  —  für  berufen  erachten  konnte. 
(Reichsgerichts-Entscheidung,  Bd.  V,  S.  123,  Bd.  XIII,  S.  41. 
Olshausen,  Kommentar  zum  Strafgesetzbuch,  Anmerkung  6c  zu 
§  193  St.-G.-B.) 

Nun  hat  aber  femer  das  Urteil  festgestellt,  daß  der  An- 
geklagte der  Vorsitzende  des  wissenschaftlich-humanit&ren  Komitees 
ist,  welches  sich  die  Aufklärung  der  Homosexualität  zur  Aufgabe 
gemacht  hat  und  dessen  Mitglieder  überwiegend  Homosexuelle  sind. 

Als  Vorsitzender  dieses  Komitees  hat  der  Angeklagte  doch 
wohl  in  Wahrnehmung  berechtigter  Interessen  gehandelt,  wenn 
auch  nur  mittelbar  eigener  Interessen  als  Teil  des  Ganzen,  sodaß 
ihn  aus  dieser  Feststellung  allein  §  198  St-G.-B.  straflos  halten 
muß.  (Olshausen,  Kommentar  zum  Strafgesetzbuch,  Anmerkung 
6  b  zu  §  193.) 

Auf  jedem  der  hier  gerügten  Punkte  beruht  die  Verurteilung. 
Mit  dem  Fortfall  eines  derselben  fällt  auch  die  Möglichkeit  der 
Verurteilung. 

Der  Rechtsanwalt, 

gez.  Chodziesner.^' 

Aber  auch  der  Staatsanwalt  hielt  sich  veranlaßt,  das 
Urteil  eiues  höheren  Gerichtes  anzurufen.  Er  begründete 
seinen  Antrag  auf  Revision,  wie  folgt: 

„I. 

Das  Urteil  der  4.  Strafkammer  des  Landgerichts  I  zu  Berlin 
vom  7.  Mai  1904  wird  insoweit  angefochten,  als  der  Angeklagte 
nicht  auch  zugleich  wegen  Verbreitung  unzüchtiger  Schriften  ver- 
urteilt ist,  und  es  wird  Verletzung  der  §§  184,  78  Strafgesetzbuchs 
durch  Nichtanwendung  gerügt. 

Das  Urteil  erkennt  selbst  an,  daß  diejenigen  Stellen  des 
vom  Angeklagten  verbreiteten  Rundschreibens,  in  welchem  auf 
den  Liebestrieb  zwischen  Männern  und  auf  die  Möglichkeit  eines 
von  der  Norm  abweichenden  Sexuallebens  der  Adressaten  hin- 
gewiesen wird,  geeignet  sind,  das  normale  im  Volke  herrschende 
Scham-  und  Sittlichkeitsgefühl  in  geschlechtlicher  Beziehung  zu 


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—     715     — 

verletzen,  meint  aber,  daß  diese  Stellen  nicht  aus  dem  Zusammen- 
hange gerissen  werden  dürfen. 

Indessen  bilden  diese  Stellen  den  alleinigen  Inhalt  des 
Rundschreibens,  auch  das  angefochtene  Urteil  macht  nicht  er- 
sichtlich, welchen  Inhalt  die  Rundfrage  sonst  noch  haben  sollte. 

Richtig  ist  zwar,  daß  die  wissenschaftliche  oder  künstlerische 
Wirkung  einer  Schrift  derart  vorwiegen  kann,  daß,  was  sonst 
schamverletzend  sein  würde,  diesen  Charakter  verliert.  Aber, 
wie  das  Urteil  selbst  zugibt,  handelt  es  sich  hier  noch  gar  nicht 
um  ein  wissenschaftliches  Werk,  sondern  nur  um  die  Vorbereitung 
eines  solchen. 

Das  Rundschreiben  selbst  hat  keinen  eigenen  wissenschaft- 
lichen Wert,  es  könnte  in  der  vorliegenden  Form  auch  von  jedem 
einigermaßen  gebildeten  Laien  abgefaßt  sein  und  es  dient  nicht 
dazu,  seine  Leser  zu  belehren,  sondern  der  Verfasser  will  sich  im 
Gegenteil  von  den  Lesern  belehren  lassen. 

Die  Berufung  auf  die  Entscheidung  des  Reichsgerichts, 
Bd.  XXVII,  S.  114  ff.  erscheint  daher  sowohl  bez.  der  Hervor- 
hebung der  wissenschaftlichen  Tendenz  als  auch  bez.  der  Be- 
trachtung des  Leserkreises  der  inkriminierten  Schrift  verfehlt. 
In  letzterer  Beziehung  kommt  noch  hinzu,  daß  der  Angeklagte, 
wie  im  Urteil  festgestellt  wird,  eine  ähnliche  Rundfrage  auch  an 
Damen  und  unmittelbar  nach  dem  hier  vorliegenden  Rund- 
schreiben, wie  aus  der  von  ihm  überreichten,  im  Urteil  erwähnten 
Druckschrift  Blatt  117  d.  A.  hervorgeht,  ein  ganz  gleichartiges 
Zirkular  an  Metallarbeiter  verschickt  hat,  daß  aber  auch  in  dem 
vorliegenden  Rundschreiben  Antworten  von  16-  und  17-jährigen 
Studenten  erwartet  wurden,  denen,  wie  an  anderer  Stelle  des  Ur- 
teils zugegeben  wird,  das  Verständnis  für  die  Bedeutung  solcher 
Enqueten  völlig  mangelt.  Die  wissenschaftliche  Verwertung  des 
Ergebnisses  der  Umfrage  in  der  oben  erwähnten  Druckschrift, 
welche  sich  an  fachwissenschaftlich  gebildete  Leser  wendet,  mag 
größere  Freiheiten  für  sich  in  Anspruch  nehmen,  die  Umfrage 
selbst,  die  an  zum  Teil  unreife  Laien  gerichtet  ist,  ist  hiervon 
ganz  verschieden  und  mußte  das  allgemeine  Sittlichkeitsgefühl 
berücksichtigen.  Daß  sie  einen  wissenschaftlichen  Zweck  ver- 
folgte, ist  ohne  Belang.  (Entscheidung  des  Reichsgerichts  in 
Strafeachen,  Bd.  XXIV,  S.  365,  und  in  den  hiesigen  Akten  2.  E. 
M.  87  .08  —  D.  4820  .03.) 

IL 

Für  den  Fall,  daß  vorstehende  Rüge  nicht  durchgreifen  und 
§  73  St.-G.-B.  für   nicht  anwendbar  erachtet  werden  sollte,    wird 


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—     716     — 

Verletzung  des  §  200  St.-G.-6.  durch  Nichtanwendung  gerügt, 
insofern  nicht  auf  Publikationsbefugnis  für  die  Beleidigten  erkannt 
ist.  Es  ist  nicht  ersieh tlich^  warum  in  der  Versendung  eines  und 
desselben  vervielfältigten  Eundschreibens  an  3000  willkürlich  aus- 
gewählte Studenten  keine  „Verbreitung  von  Schriften"  zu  finden 
sein  soll. 

gez.  Isenbiel 
Oberstaatsanwalt. 
An  das  Kgl.  Landgericht  I,  Strafkammer  4  in  Berlin." 

Über  die  Aussichten  der  von  uns  eingelegten  Revision 
Betrachtungen  anzustellen,  wäre  müßig.  Auf  alle  Fälle 
glauben  wir,  hoffen  zu  dürfen,  daß  die  Sympathie  der 
OflFentlichkeit,  wie  sie  in  den  Stimmen  der  Presse  zum 
Ausdruck  kam,  auf  unserer  Seite  bleiben  wird. 

Diese  Sympathie  äußerte  sich  übrigens  nicht  allein 
in  den  Stimmen  der  Presse.  Auch  zahlreiche  Zuschriften 
und  sonstige  Kundgebungen  bewiesen  uds,  daß  der  Aus- 
gang des  Prozesses  für  das  wissenschaftlich-humanitäre 
Komitee  einen  erfreulichen  moralischen  Gewinn  und  einen 
unverkennbaren  Aufstieg  im  urteil  der  öffentlichen 
Meinung  bedeutete.  Wir  erwähnen  zunächst  zweier 
Resolutionen,  einer  vom  „Verein  für  Gesundheitspflege 
des  Volkes  in  Moabit",  und  einer  anderen,  die  nach  dem 
schon  erwähnten  Vortrag  in  Apolda  beschlossen  worden 
war.  Wir  geben,  da  beide  im  Wesentlichen  dieselben 
Gedanken  zum  Ausdruck  bringen,  nur  die  letztere  hier 
wieder: 

„Nach  dem  soeben  gehörten  Vortrage  des  Herrn  Dr.  med. 
Max  Rosen thal- Weimar,  welchen  derselbe  auf  Veranlassung  des 
Gewerkschaftskartells  Apoldas  über  „Widernatürliche  Geschlechts- 
empfindung und  §  175"  am  heutigen  Abend  im  Saale  des  Burger- 
vereins hielt,  fühlen  sich  die  versammelten  Arbeiter  veranlaßt, 
dem  unermüdlichen  Kämpfer  für  Menschlichkeit,  Herrn  Dr.  med. 
Magnus  Hirschfeld,  Charlottenburg,  ihre  vollsten  Sympathien  aus- 
zusprechen. Die  Versammlung  verurteilt  auf  das  Schärfste  das 
Vorgehen  jener   vier  Studierenden   gegen  Herrn   Dr.  Hirschfeld, 


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—     717     — 

sowie  die  von  jenem  Geistlichen  ausgesprochenen  Beleidigungen, 
indem  sie  gleichzeitig  der  Hoffnung  Ausdruck  gibt,  daß  auch  all- 
mählich in  diejenigen  akademisch  gebildeten  Kreise,  die  sich 
heute  noch  zu  Verteidigern  des  §  175  aufwerfen,  soviel  Verständnis 
für  die  homosexuelle  Frage  dringen  möge,  wie  es  die  einfache, 
nicht  akademisch  gebildete  Arbeiterschaft,  die  am  heutigen  Abend 
hier  versammelt  ist,  dieser  Frage  entgegenbringt 

Die  Versammlung  wünscht  den  Be8b*ebungen  des  wissen- 
schaftlich-humanitären Komitees  um  Aufhebung  des  §  175  vollen 
Erfolg,  denn  „über  den  Gesetzen  von  Menschenwerk  steht  das 
Gesetz  der  Natur". 

Als  ehrenvolle  Kundgebung  für  unser  Komitee  erschien 
sodann,  wenigstens  mittelbar,  eine  am  17.  Mai  stattgehabte 
Protestversammlung,  welche  die  Abteilung  für  Sozial- 
wissenschaft an  der  Technischen  Hochschule  Charlotten- 
burg einberufen  hatte.  Als  Tagesordnung  war  angesetzt: 
„Der  Fall  Hirschfeld  und  die  Charlottenburger 
Studentenschaft",  worüber  ein  ausführliches  und  vor- 
nehm gehaltenes  Referat  erstattet  wurde.  Die  Presse 
berichtete  über  den  Verlauf: 

„Ein  Protest  gegen  den  Obskurantismus.  Mit  der  be- 
kannten Rundfrage  des  Dr.  Hirschfeld  über  homosexuelle  Veran- 
lagung und  den  sich  daran  knüpfenden,  durch  die  Presse  zu  all- 
gemeiner Kenntnis  gelangten  Vorgängen  beschäftigte  sich  gestern 
abend  eine  stattliche,  von  der  sozial  wissenschaftlichen  Abteilung 
der  Charlottenburger  Wildenschaft  einberufene  Versammlung. 
Das  Keferat  hatte  Herr  Drenckhahn  übernommen,  der  mit  scharfem 
Spott  das  Verhalten  jener  wenigen  Studierenden  geißelte,  die  sich 
durch  die  Rundfrage  angeblich  beleidigt  gefühlt  und  gegen 
Dr.  Hirschfeld  erfolgreiche  Anzeige  erstattet  hatten.  Manch  gutes, 
kerniges  Wort  wurde  auch  von  anderen  Rednern  gesprochen,  die 
Ankläger  aber  hatten  es  vorgezogen,  an  der  Versammlung  nicht 
teilzunehmen  und  sich  in  Schweigen  zu  hüllen.  In  einer  gegen 
drei  oder  vier  Stimmen  angenommenen  Resolution  wurde  das 
Vorgehen  der  „beleidigten"  Studierenden  auf  das  entschiedenste 
verurteilt,  im  übrigen  wies  die  Versammlung  das  summarische 
Urteil  eines  großen  Teils  der  deutschen  Presse  und  des  Publikums 
zurück,  als  hätten  die  Studierenden  nicht  die  nötige  Reife  und 
Bildung,  um  wissenschaftliche  Arbeiten  und  Forschungen,  im  vor- 


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als   solche   zu    erkennen   und   zu   bewerten.    Für  die  Resolution 
sollen  noch  Unterschriften  gesammelt  werden." 

Derselbe  Tag  brachte  allerdings  auch  einen  öfiFent- 
lichen  AngriflF  auf  uns  und  ganz  besonders  einen  Angriff 
auf  die  von  uns  veranstalteten  Rundfragen.  Er  ging  aus 
von  der  Kreissynode  Berlin  11,  auf  der  zunächst  Synodale 
Pastor  Philipps  heftige  Anklagen  erhob.  Es  hieß  darüber 
in  den  Blättern: 

„Auf  der  Kreissynode  Berlin  II  wurde  von  dem  Synodalen 
Pastor  Philipps  der  Antrag  gestellt:  Die  Kreissynode  ersucht 
ihren  Vorstand,  die  nachstehende  Resolution  zur  Kenntnis  des 
Staatsministeriums  zu  bringen:  Die  Kreissynode  hat  mit  großer 
Besorgnis  von  dem  Treiben  des  sogenannten  „wissenschaftlich- 
humanitären Komitees"  zu  Gunsten  der  „Homosexuellen^^  Kenntnis 
genommen  und  ersucht  die  königliche  Staatsregierung,  ein  wach- 
sames Auge  darauf  zu  haben,  daß  die  Agitation,  welche  sich 
gegen  §  175  des  Heichsstrafgesetzbuches  richtet,  nicht  zu  einer 
staatlichen  Duldung  bezw.  Anerkennung  der  widernatürlichen 
Unzucht  führt,  wie  solches  von  dem  genannten  Komitee  erstrebt 
wird.  Die  Kreissynode  ist  der  Überzeugung,  daß  die  gleich- 
geschlechtliche Unzucht  erwachsener  Personen  ....  bei  normalen 
Menschen  mit  Gefängnis  bezw.  Zuchthaus,  bei  anormalen  dagegen 
als  gemeingefährliche  sittliche  Verirrung  mit  zwangsweiser  Über- 
führung in  eine  Heil-  oder  Irrenanstalt  zu  bestrafen  ist  Ea  wird 
zugegeben,  daß  der  §  175  vom  Eechtsstandpunkte  aus  anfechtbar 
ist,  weil  er  nur  das  eine,  nämlich  das  männliche  Geschlecht  trifft, 
während  das  weibliche  straffrei  bleibt.  Einer  Agitation  zum 
Zweck  der  Änderung  des  §  175  könne  deshalb  die  Berechtigung 
nicht  abgesprochen  werden,  wohl  aber  einer  solchen,  welche  auf 
die  gänzliche  Beseitigung  dieses  Paragraphen  abzielt,  weil  dadurch  • 
die  sittlichen  Grundlagen  unseres  Staats-  und  Volkslebens  zerstört 
würden.  Das  königliche  Staatsministerium  ist  um  Antwort  zu  er- 
suchen. Pastor  Philipps  führte  sodann  noch  weiter  aus,  die 
Homosexuellen  drängten  sich  jetzt  in  dreister  und  frecher  Weise 
an  die  Öffentlichkeit,  sie  hätten  sich  organisiert,  ein  eigenes  Klub- 
haus gegründet  und  unter  dem  Deckmantel  eines  Kampfes  auf 
Abschaffung  des  §  175  suche  die  Bewegung  einen  Boden  für  die 
Ausbreitung  der  widernatürlichen'  Unzucht.  Es  sei  mit  Freuden 
zu  begrüßen,  daß  auf  Anregung  des  Schriftstellers  Otto  v.  Leixner 


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—     719     — 

jetzt  ein  Verband  entstehen  solle,  der  alle  anstllndigen  Leute, 
gleichgültig,  welcher  Partei  und  welchen  Bekenntnisses,  zusammen- 
fügen wolle  zur  Beseitigung  des  wüsten,  unmoralischen  Schmutzes, 
der  das  Volk  je  länger  desto  mehr  verwüsten  und  zersetzen  müsse. 

Syn.  Prediger  Dr.  Runtze  betonte,  daß  gegen  die  Agitation 
der  Homosexuellen  und  gegen  solche  Umfragen,  wie  sie  Dr.  Hirsch- 
feld an  die  Studenten  der  Technischen  Hochschule  gerichtet,  nicht 
laut  genug  Protest  erhoben  werden  könne.  Der  Ausdruck  ,dreist 
und  frech*  sei  in  diesem  Falle  viel  zu  milde,  er  nenne  es  eine  ruch- 
lose Schamlosigkeit,  die  gegen  Alles  verstoße,  was  Sitte  und  Re- 
ligion fordere.    (Beifall.) 

Die  Anträge,  der  Sittenkommission  wurden  sämtlich  an- 
genommen." 

Die  „Berliner  Zeitung"  antwortete  auf  diese  und 
ähnliche  Angriffe  in  einem  Leitartikel  vom  20.  Mai,  in 
dem  es  unter  Anderm  hieß: 

„Man  kann  den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  beklagen, 
verdammen,  bekämpfen.  Aber  man  hat  kein  Recht,  die  glück- 
licherweise doch  nicht  allzu  beträchtliche  Verbreitung  dieses 
Übels  als  eine  schwere  Gefahr  für  unser  staatliches  und  sittliches 
Volksleben  hinzustellen.  Und  man  hat  vor  allem  kein  Recht,  das 
ernste,  aus  ehrlicher  Menschenfreundlichkeit  hervorgehende  Streben 
wissenschaftlich  hochstehender  Männer,  die  Homosexuellen  nicht 
mehr  als  Verbrecher,  sondern  als  Unglückliche,  als  Kranke  zu 
behandeln,  so  zu  schmähen  und  zu  verdächtigen,  wie  dies  auf  der 
genannten  Ereissynode  geschehen  ist.  Es  ist  eine  Ungehörig- 
keit, die  nicht  scharf  genug  zurückgewiesen  werden  kann;  wenn 
der  Pastor  Philipps  den  hochehrenwerten  Unterzeichnern  des  be- 
kannten Gesuchs  an  den  Reichstag  um  Aufhebung  des  §  175  des 
Strafgesetzbuchs  vorwirft,  sie  suchten  unter  einem  Deckmantel 
einen  Boden  für  die  Ausbreitung  der  widernatürlichen  Unzucht. 
Es  fehlt  uns  an  den  hier  anwendbaren  Worten  zur  Bezeichnung 
des  Auftretens  des  Predigers  Dr.  Runtze  gegen  den  bekannten 
Dr.  Hirschfeld,  der  zu  wissenschaftlichen  Zwecken  auch  Studierende 
der  Technischen  Hochschule  für  seine  Sammelforschung  über  die 
homosexuelle  Frage  um  Auskunft  gebeten.  Der  Herr  Prediger 
nennt  diese  Anfrage  an  Studierende  eine  „ruchlose  Schamlosig- 
keit'^  Die  allermeisten  anderen  sind  der  Meinung,  daß  aus  sehr 
duichsichtigen  Gründen    das   aus   den    besten  Erwägungen   eines 


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Vorgehen  des  Herrn  Dr.  Hirschfeld  ganz  künstlich  zu  einer  Be- 
leidigung gestempelt  worden  ist." 

An  Prediger  Dr.  Runtze  richtete  der  Herausgeber 
folgenden  Brief: 

„Geehrter  Herr  Pastor! 

Wie  ich  aus  der  Presse  ersehe,  haben  Sie  auf  der  Kreis- 
synode  meine  im  Interesse  der  medizinischen  Wissenschaft  unter- 
nommene statistische  Umfrage,  deren  ,edle  und  anerkennenswerte 
Motive*  das  Gericht  selbst  hervorhob,  als  ruchlose  Schamlosigkeit 
und  mich  als  dreist  und  frech  beschimpft. 

Ich  habe  geschwankt,  ob  ich  Sie  einfach  der  Staatsanwalt- 
schaft übergeben  solle,  da  es  keinem  Zweifel  unterliegt,  daß  Sie 
für  diese  Äußerungen,  durch  die  Sie  sich  der  schwersten  Belei- 
digung schuldig  gemacht  haben,  eine  erhebliche  Strafe,  höchst 
wahrscheinlich  sogar  eine  Gefängnisstrafe  erhalten  würden. 

Wenn  ich  davon  Abstand  nehme,  so  tue  ich  es  lediglich, 
indem  ich  des  Bibelwortes  gedenke:  „H^rr,  vergieb  ihnen,  denn 
sie  wissen  nicht,  was  sie  tun." 

Damit  Sie  jedoch  in  Zukunft  wissen,  worum  es  sich  handelt, 
übersende  ich  die  soeben  von  dem  Theologen  Caspar  Wirz,  einem 
Vertreter  der  strengsten  kirchlichen  Orthodoxie,  verfaßte  Ab- 
handlung: „Der  Uranier  vor  Kirche  und  Schrift",  femer  die  eben- 
falls von  einem  Geistlichen  herrührende  Abhandlung:  „Homo- 
sexualität und  Bibel",  sowie  meine  eigene  letzte  Arbeit:  „Das 
Ergebnis  der  statistischen  Untersuchungen  über  den  Prozentsatz 
der  Homosexuellen". 

Hochachtend 

Dr.  Hirschfeld." 

Die  Vertreter  des  intransigenten  Orthodoxismus 
würden  sich  vielleicht  doch  etwas  größerer  Duldsamkeit 
befleißigen,  wenn  sie  bedächten,  wie  sehr  auf  solche  Weise 
bekämpfte  Menschen  gereizt,  erbittert  und  der  Kirche 
entfremdet  werden  müssen,  vielleicht  auch  schon  dann, 
wenn  sie  Einblick  nehmen  könnten  in  unsere  Korrespon- 
denz und  in  derselben  Briefen  von  geistlicher  Hand 
begegneten,  die  Sätze  nach  Art  der  folgenden  enthalten: 


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—     721     — 

„Wer  hat  uns  denn  so  geschaffen?  Wir  selbst?  Ich  sage  mit 
Recht:  £ine  jede  Verorteilang  eines  Urnings  ist  eine  Lflstening 
Gottes,  der  nun  einmal  auch  solche  Menschen  geschaffen  hat . . .  /' 

„Grott  segne,  ich  wiederhole  es,  Grott  segne  die  gerechten 
Forderungen  der  Sozialdemokraten!  Ja,  unsere  Herzen  müssen  ihnen 
insbesonders  entgegenschlagen,  da  sie  die  Ersten  waren,  die  auch 
in  uns  mit  Füßen  Getretenen  die  Menschenwürde  und  Menschen- 
rechte erkannten,  anerkannten  und  verteidigten  .  .  .  ." 

„Ich  versichere  Sie,  die  Zahl  der  Uranier  ist  auch  hier  nicht 
kleiner  als  anderswo,  die  Kreise  der  protestantischen  Pastoren 
keineswegs  ausgenommen.  Ich  verkehre  nur  mit  einem  geringen 
Teil  meiner  Amtsgenossen,  aber  selbst  unter  diesen  kenne  ich 
vier,  die  homosexuell  sind,  drei  unverheiratet,  einer  verheiratet, 
selbstverständlich  sehr  unglücklich.  Seine  Frau  hat  ihm  in  ihrem 
Unverstand  und  in  ihrer  Eifersucht  schon  viel  Kummer  gemacht. 
Und  demgemäß  war  er  auch  schon  längere  Zeit  geisteskrank. 
Die  Welt  sagte,  „aus  Überanstrengung",  aber  Sie  werden  den 
wahren  Grund  sich  denken.  Er  fand  kurz  vorher  in  einem 
Katalog  zufallig  die  Anzeige  einiger  Ihrer  Schriften  und  sprach 
dann  auch  mit  mir  darüber.  Wir  lasen  und  lasen.  Wie  wahr 
fanden  wir  Alles,  was  in  dem  Buche  stand!  Ich  selbst  habe  schon 
vor  Jahren  das  Gefühl  gehabt,  ich  müßte  ein  Buch  schreiben, 
ungefllhr  in  Ihrem  Sinne,  um  die  Welt  aufzuklären  über  das  furcht- 
bare Verbrechen,  das  sie  fortgesetzt  begeht.  Wollte  Gott,  es 
würde  auf  diesem  Gebiet  ein  Luther  erstehen,  der  endlich  den 
Wahn  zu  bannen  vermöchte,  welcher  heute  Tausenden  ihr  Leben 
zur  Pein,  zur  Folterqual,  zur  Hölle  macht  .  .  .  ." 

Oder  auch  Briefen  von  Pastoren  wie  der  folgende: 

„Sehr  geehrter  Herr  Doktor  I  Herr  Dr.  N.  dahier  hat  auf 
meine  Bitte  an  Sie  geschrieben  in  Sachen  der  perversen  Veranlagung 
eines  meiner  Söhne.  Ihren  Vorschlag,  bei  meiner  Durchreise  nach 
K.  Sie  aufzusuchen,  werde  ich  ausführen.    Ich  komme,   so  Gott 

will,  am nach  Berlin  und  werde  mich  beeilen,  mit 

Ihnen  zusammenzutreffen  ....  Es  tut  mir  sehr  leid,  daß,  wie  Sie 
schreiben,  eine  Heilung  nicht  möglich  ist  Es  wird  aber  doch 
Mittel  und  Wege  geben,  die  Neigung  oder  vielmehr  die  Begierde 
abzuschwächen,  wie  es  andererseits  auch  eine  Lebensweise  geben 
wird,  die  sie  stärker  macht  Auch  für  die  Erziehung  hoffe  ich 
von  Ihnen  guten  Rat  zu  hören.  Wäre  ein  Aufenthalt  in  einer 
Kaltwasserheilanstalt  oder  sonst  in  einer  Nervenheilanstalt  von 
Jahrbuch  VI.  4Q 


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—     722     — 

Nutzen,  um  die  Neigung  zu  dämpfen?  Und  wenn  ja,  welche? 
Mein  Sohn  raucht  stark  und  meint,  daß  dies  „zur  Beruhigung 
seiner  Nerven"  diene.  Hat  er  darin  Recht?  Wie  verhält  es  sich 
mit  dem  Schlafengehen  und  Aufstehen?  Zu  geistigen  Getränken 
hat  piein  Sohn  gar  keine  Neigung,  und  das  ist  wohl  das  Beste 
für  ihn  ....  Ich  gedenke  den  jungen  Mann  mitzubringen,  damit 
Sie  ihn  sehen.  Er  ist  22  Jahre  alt,  sehr  kräftig,  geistig  gut  ver- 
anlagt, aber  menschenscheu  und  nicht  energisch  gegen  sich  selbst. 
Er  ist  Kandidat  der  Theologie  .  .  .  .'^ 

Wir  haben  bis  heute,  das  dürfen  wir  mit  gutem 
Gewissen  sagen,  noch  Niemand  Anlaß  gegeben,  durch 
unsere  Tätigkeit  in  seinen  religiösen  und  religiös-sittlichen 
Überzeugungen  sich  verletzt  zu  fühlen.  Es  liegt  uns 
nichts  femer,  als  auf  kirchliches  Gebiet  überzugreifen, 
und  wir  wüßten  nicht,  wann  wir  gegen  diesen  Grundsatz 
verstoßen  hätten.  Unser  Ziel  ist  es  einzig,  an  die  Stelle 
eines  naturwissenschaftlichen  Irrtums  die  naturwissen- 
schaftliche Wahrheit  zu  setzen,  den  Gesetzgeber  an  die 
Pflicht  zu  mahnen,  die  ihm  aus  dieser  Wahrheit  erwächst, 
und,  so  weit  es  geschehen  kann,  Unglück  zu  verhüten, 
Unglück  zu  mildern,  Unglück  wieder  gut  zu  machen. 
Daß  wir  auf  diesem  Weg  mit  irgendwelchen  religiösen 
Normen  zusammenstoßen  können,  glauben  wir,  aus 
Achtung  vor  der  Religion,  nicht  annehmen  zu  dürfen. 

In  dem  letztbezeichneten  Streben,  in  dem  Streben, 
Unglück  zu  verhüten  oder  doch  wenigstens  nach  Mög- 
lichkeit zu  mindern,  haben  wir  selbstverständlich  auch 
im  abgelaufenen  Jahr  wieder  Schutz  und  Hilfe  zu  bieten 
gesucht,  so  oft  eine  homosexuelle  Existenz  unter  die 
Räder  des  §  175  geraten  war  und  wir  Kenntnis  davon 
erhalten  hatten.  Wir  übersandten  in  solchen  Fällen 
Material  an  die  Anwälte,  die  Richter,  die  Angehörigen 
und  Vorgesetzten  der  Betroffenen.  Wir  beschränkten 
uns  aber  nicht  darauf  allein,  sondern  unternahmen,  wo 
es  anging,  auch  noch  weitere  Schritte,  die  wir  vielfach 
von  Erfolg  gekrönt  sahen.    Ähnlich  bemühten  wir  uns, 


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—     723     — 

Erpressern  ihre  Opfer  zu  entreißen,  und  wir  dürfen  wohl 
behaupten^  gerade  nach  dieser  Seite  hin  eine  besondere 
yerdiensüiche  Tätigkeit  entfaltet  zu  haben. 

Leider  mußten  wir  uns  nur  allzu  häufig  auch  Fällen 
gegenüber  sehen,  in  denen  von  Hilfe  überhaupt  nicht  die 
Bede  sein  konnte.  Wir  gedenken  hier  ganz  besonders 
der  vielen  Selbstmorde  aus  homosexuellem  Motiv,  die  in 
diesem  Jahre  wieder  zu  verzeichnen  waren.  Es  gab 
keinen  Monat,  in  dem  nicht  solche  Nachrichten  an  uns 
gelangt  wären.  Im  September  allein  belief  sich  ihre 
Zahl  auf  fünf.  Die  meisten  blieben  in  Dunkel  gehüllt 
und  es  soll  auch  von  uns  der  Schleier,  der  darüber  liegtj 
nicht  abgehoben  werden.  Nur  dreier  Fälle  glauben  wir 
erwähnen  zu  sollen. 

Der  erste,  besonders  typische  Fall,  betraf  den 
53jährigen  Konsul  von  Schenk,  Bruder  des  Wies- 
badener Polizeipräsidenten  und  des  Berliner  Regiments- 
kommandeurs. Derselbe,  ein  durch  und  durch  vornehmer 
und  edler  Charakter,  hatte  während  eines  vorübergehenden 
Aufenthaltes  in  Berlin  einen  Schlächtergesellen  kennen 
gelernt^  zu  dem  er  eine  tiefe  Zuneigung  faßte.  Der  junge 
Mann  war  nicht  eben  anspruchslos,  da  aber  v.  Schenk 
ihn  aufrichtig  liebte,  brachte  er  ihm  gern  die  größten 
Opfer,  —  in  wenigen  Wochen  mehrere  tausend  Mark. 
Das  Glück  des  Schlächtergesellen  erregte  den  Neid  seiner 
Kameraden;  diese  —  zumeist  Berliner  Prostituierte  — 
lauerten  dem  alten  Herrn  auf  Schritt  und  Tritt  auf  und 
belästigten  ihn  mündlich  und  schriftlich  mit  Bittgesuchen 
und  Drohbriefen,  In  Verzweiflung  getrieben  wandte  sich 
V.  Schenk  schließlich  an  uns  und  es  gelang  mit  Hilfe 
der  Berliner  Kriminalpolizei,  ihn  vor  den  Verfolgern  zu 
schützen.  Schon  schien  alles  gütlich  enden  zu  wollen, 
als  einer  von  den  Freunden  des  Schlächtergesellen  nicht 
davor  zurückscheute,  die  hochgestellten,  völlig  un- 
beteiligten Brüder  des  Konsuls  zu  behelligen.     Als  der 

46* 


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—     724     — 

beklagenswerte  Mann,  von  dem  der  Gerichtspräsident 
sagte,  daß  er  bis  aufs  Blut  gepeinigt  war,  er  hatte 
mittlerweile  Europa  verlassen,  von  diesem  neuen  Vor- 
gehen Kenntnis  erhielt,  jagte  er  sich  eine  Kugel  in  die 
Schläfe. 

Über  den  zweiten  Fall,  dessen  wir  hier  gedenken 
möchten,  berichteten  die  Blätter: 

«^Selbstmord  eines  Studenten.  Der  23  Jahre  alte  Student 
der  Chemie  Rudolf  Wittgenstein  in  Berlin,  Uhlandstraße  170,  der 
Sohn  eines  Kaufmanns  aus  Wien,  kam  gestern  abend  um  9"/« 
Uhr  in  eine  Gastwirtschaft  in  der  Brand enhurgstraße  und  bestellte 
Milch  mit  zwei  Gläsern.  Nachdem  er  eine  Weile  sehr  verstört  da- 
gesessen hatte,  ließ  er  dem  Klavierspieler  eine  Flasche  Selters 
geben  und  erbat  sich  dafür  sein  Lieblingslied  „Verlassen  bin  ich^^ 
Während  der  Musiker  dieses  spielte,  nahm  der  Student  Cyankali 
und  sank  auf  seinem  Stuhl  zusammen.  Der  Wirt  holte  drei  Ärzte 
aus  der  Nachbarschaft,  aber  sie  konnten  nicht  mehr  helfen,  der 
Vergiftete  starb  unter  ihren  Händen.  Wittgenstein  hinterließ 
mehrere  Abschiedsbriefe.  Seinen  Eltern  schrieb  er,  daß  er  sich 
das  Leben  genommen  habe,  weil  ein  Freund  von  ihm  gestorben 
sei,  ohne  den  er  nicht  länger  auf  der  Welt  bleiben  wolle.  Von 
anderer  Seite  wird  mitgeteilt,  der  junge  Mann  habe  aus  Ver- 
zweiflung über  seiue  perverse  Veranlagung  den  Selbstmord 
verübt." 

Der  Unglückliche  hatte  einige  Zeit  früher  in  unserem 
Komitee  sich  vorgestellt^  doch  reichte  unser  Einfluß  auf 
ihn  nicht  weit  genug,  um  das  Schicksal '  der  Selbst- 
vernichtung von  dem  jungen  Menschenleben  abzu- 
wenden. 

Der  dritte  Fall  ist  der  Selbstmord  des  Pfarrers 
Stahel  von  Ermatingen  in  der  Schweiz.  Stahel  war 
schon  vor  einigen  Jahren  unserem  Komitee  näher  getreten 
und  hatte,  selbst  homosexuell,  unsere  Bestrebungen  seither 
mit  warmem  Interesse  verfolgt.  Da  wurde  plötzlich, 
durch  die  schwer  verständliche  Indiskretion  eines  Arztes, 
sein  mit  ängstlicher  Sorgfalt  bewahrtes  Geheimnis  offen- 


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—     725     — 

bar^  und,  ohnedies  schon  seelisch  bedrängt,  gab  sich  der 
unglückliche  Mann  vor  dem  Altar  der  Ermatinger  Kirche 
den  Tod.  Wir  lassen  noch  ein  paar  Berichte  aus 
schv^eizerischen  Blättern  folgen,  die  für  die  seltene,  fast 
Schwärmeriche  Liebe  zeugen,  mit  dem  die  Gremeinde 
an  Pfarrer  Stahel  gehangen  hatte.  Die  ^^Zürcher 
Zeitung^'  schrieb  nach  der  Begräbnisfeier: 

„Jesus,  Barmherzigkeit!^'  so  liest  man  im  alten  Kirchhof 
von  Ermatingen  auf  dem  verwitterten  Grabstein  eines  längst  ver 
gessenen  Selbstmörders.  „Jesus,  Barmherzigkeit!*'  In  diese  Worte 
kleidete  auch  der  unglückliche  Pfarrer  Rudolf  Stahel  seinen  letzten 
Wunsch  an  die  Menschen,  vorab  an  seine  lieben  Ermatinger.  Und 
fürwahr,  sie  wurde  ihm  nicht  versagt,  diese  Barmherzigkeit.  Unter 
tausendfältigem  Wehklagen  der  Erwachsenen,  in  das  sich  das 
herzzerreißende  Schluchzen  der  Kinderschar  mischte,  wurde  er 
heute  nachmittag  hinausgeführt  auf  den  malerisch  gelegenen 
Hügel  der  Seligen.  „Von  Ermatingen  bringt  mich  keiner  fort, 
die  Ermatinger  müssen  mich  behalten'',  so  äußerte  er  sich  kurze 
Zeit  vor  seinem  Tode  einem  Freunde  gegenüber.  Und  dachten 
die  Ermatinger  etwa  anders?  Aus  der  überwältigenden  Teilnahme, 
welche  die  Bevölkerung  an  dem  herben  Geschick  ihres  Pfarrers 
genommen,  läßt  sich  ihre  Anhänglichkeit  und  Liebe  ermessen,  die 
sie  dem  Unglücklichen  entgegenbrachte  .... 

Die  Fabriken,  Schulen  und  Geschäfte  haben  ihre  Tore  ge- 
schlossen. In  hellen  Scharen  sind  sie  herbeigekommen,  um  ihrem 
geliebten  Seelsorger  ein  letztes  Lebewohl  zuzurufen.  Im  Flur  des 
Pfarrhauses  liegt  er  aufgebahrt,  tief  eingebettet  in  Palmen  des 
Friedens.  Im  anmutigen  Kirchlein  drängt  sich  Arm  an  Arm,  und 
groß  ist  die  Zahl  derer,  die  wegen  Platzmangels  darauf  verzichten 
müssen,  der  kirchlichen  Feier  beizuwohnen.  Auch  das  teil- 
nehmende und  liebevolle  Entgegenkommen  des  katholischen  Pfarrers, 
welcher,  der  Feier  selbst  beiwohnend,  das  Eisengitter  zur  Kapelle 
(die  Kirche  ist  paritätisch  eingerichtet)  hatte  öffnen  lassen  und 
das  Betreten  derselben  ausnahmsweise  gestattete,  vermochte  nicht, 
Allen  Einlaß  zu  ermöglichen.  Liedervorträge  des  Kirchenchores 
und  Kindergesänge  umrahmten  die  Feier.  In  wahrhaft  ergrei- 
fendem, vom  Geiste  der  Versöhnung  getragenen  Vortrage  hielt 
Professor  von  Schultheß-Kechberg  aus  Zürich  die  Abdankung. 
Er  erfüllte  damit  den  ausdrücklich  geäußerten  Wunsch  Pfarrer 
Stahels.     Aus   dieser   Predigt  reproduzieren   wir:    „Gebeugt,    er- 


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—     726     — 

schüttelt,  von  widerstrebenden  Empfindungen  bewegt,  seid  ihr  zn 
dieser  Totenfeier  erschienen.  Es  gilt  eurem  Pfarrer  Stahel,  der 
im  Alter  von  erst  35  Jahren  euch  und  den  Seinigen  entrissen 
worden  ist.  Euch  allen  war  er  ein  warmer  Freund.  Aber  in  das 
Lichtbild  mischen  sich  düstere  Züge.  Ihr  hörtet,  daß  er  in  seiner 
Jtigend  die  Tat  eines  Irrsinnigen  begangen  hatte.  Es  wurde 
ruchbar,  daß  er  sich  eine  Schuld  aufs  Gewissen  geladen.  Der 
Mann,  dessen  Herz  euch  so  rein  schien  und  dessen  Verstand  so 
klar  die  Lebensverhältnisse  beurteilte,  wurde  vor  Gericht  gestellt 
Knd  in  der  Irrenheilanstalt  eingeschlossen  und  schließlich  kam 
sein  Ende  durch  eigene  Hand  an  dieser  geweihten  Stätte,  als  ob 
es  keinen  Gott  gäbe,  als  ob  ein  Christ  so  sterben  möchte.  Was 
sollen  wir  dazu  sagen?!  Einige  Wochen  vor  seinem  Ende  hat  er 
einen  kurzen  Abriß  seines  Lebens  aufgesetzt,  worin  er  bewegt, 
aber  doch  licht  und  klar,  Bild  an  Bild  reiht  Seine  Jugend  war 
freudlos.  Im  Lehrerseminar  zu  Eüsnacht  begann  der  Geist  und 
das  Gemüt  sich  zu  dehnen,  sich  zu  freuen  an  der  Welt,  sich  zu 
entwickeln  zu  hohen,  schönen  Erkenntnissen.  Da  drangen  aus  der 
Tiefe  !  seiner  Natur  unheimliche  Mächte  empor,  rissen  ihn  in 
Schuld  und  Bann,  umnachteten  ihm  die  Sinne,  sodaß  er,  seiner 
selbst  nicht  mehr  bewußt,  beschloß,  mit  einem  Freunde  zu  sterben. 
Er  richtete  auf  ihn  die  Pistole  und  dann  gab  er  sich  selbst  eine 
Kugel  in  die  Brust.  Er  wurde  als  geistig  krank  in  eine  Anstalt 
gebracht  .... 

Heute  vor  einem  Jahre  betrat  Rudolf  Stahel  zuerst  die 
Kanzel  in  Ermatingen.  Die  thurgauische  Kirchenbehörde  aber 
behandelte  in  der  Folgezeit  sein  Verhältnis  zu  euch  in  jener  for- 
malistischen Art,  wie  man  eine  rechtliche  Angelegenheit  zu  be- 
handeln pflegt.  Ihr  aber  gabt  die  Antwort  darauf  durch  die  am 
10.  Mai  erfolgte  einstimmige  Wahl  Stahels  zu  eurem  Pfarrer. 
Wie  freutet  ihr  euch,  und  wie  dankbar  war  er  hinwiederum  für 
den  Schutz,  den  ihr  ihm  botet!  Wie  hing  nun  seine  Seele  an  euch, 

an   seinen  geliebten   Ermatingem! Liebe  Freunde!    Wir 

wollen  ihm  an  seinem  Grabe  nichts  versagen  von  dem  Dank,  von 
der  Anerkennung,  auf  die  er  mit  Fug  und  Recht  Anspruch  er- 
heben durfte.  Er  hatte  ein  überaus  liebevolles  Herz.  In  den 
letzten  Tagen  allerdings  sind  aus  seiner  Feder  gelegentlich  auch 
harte  Worte  geflossen.  Aber  achtet  nicht  darauf.  Das  war  schon 
der  Schlachtruf  im  letzten  furchtbaren  Verzweiflungskampf  ge- 
wesen. Sonst  war  er  milde,  zuweilen  bewunderungswürdig  milde. 
Er  konnte  die,  welche  gegen  ihn  waren,  in  einer  Weise  beurteilen, 
die   in  Staunen   setzen    mußte.     Wo  andere  Gift  und  Galle  ge- 


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—     727     — 

spieen  hätten,  konnte  er  etwa  sagen:  ,, Diese  X.eute  müssen  tief 
unglücklich  sein!"  Mir  ist  es  vorgekommen,  daß  er  mich  mit 
einem  solchen  Wort  verzeihender  Liebe  dermaßen  überraschte, 
daß  ich  ein  Grefuhl  der  Ehrfurcht  vor  ihm  empfand.  Rudolf 
Stahel  war  ein  Sünder:  £r  hatte  Schuld  auf  dem  Gewissen,  wie 
in  dieser  oder  jener  Form,  in  diesem  oder  jenem  Maße  wir  alle. 
Darum  ehrt  ihn.  Hebe  Freunde,  aber  schwfirmt  nicht  für  ihn! 
Werdet  keine  Knechte  eures  Pfarrers  Stahel  und  vor  allem :  Ent- 
zweit euch  nicht  über  ihn!  Er  wollte  Frieden  haben  um  sich  her, 
sein  Herz  umfaßte  alle." 

Von  der  Kirche  bewegte  sich  der  lange  Begräbniszug,  an 
dessen  Spitze  der  ergraute  Vater  und  ein  jüngerer  Bruder  des 
Verstorbenen  schritten,  nach  dem  anmutig  auf  einer  Anhöhe  ge- 
legenen Friedhof.  Hier  sprach  am  offenen  Grabe  Vikar  Boßhard 
von  Zürich  herzliche  Worte  des  Abschiedes  für  den  unglücklichen 
Freund.  „  .  .  .  Wir  wollen  es  uns  nicht  verhehlen:  Dein  Leben 
hat  durch  Tiefen  und  Dunkel  gefuhrt,  aber  du  hast  dich  gesehnt 
nach  Licht,  aufwärts  gestrebt,  und  darin  bist  du  uns  allen,  die 
wir  uns  manchmal  reiner  dünken,  als  du  gewesen  bist,  ein  großes 
Beispiel.  Es  ist  kurze  Zeit  erst,  als  ich  mit  meinem  Freunde  hier 
in  Ermatingen  auf  der  Höhe  umherging,  da  sagte  er  zu  mir,  er 
freue  sich  dieser  schönen,  herrlichen  Gegend  und  der  Bevölkerung, 
welche  ihm  mit  so  großer  Anhänglichkeit  seine  Dienste  lohne. 
Am  letzten  Montag  noch  wai*  es,  da  haben  wir  noch  miteinander 
an  einem  Briefe  gearbeitet,  den  er  hat  schreiben  wollen  an  seine 
liebe  Gemeinde.  In  demselben  stand:  „Ich  habe  mich  bemüht, 
in  Ermatingen  zu  wirken,  ein  Vertreter  des  Amtes,  das  die  Ver- 
söhnung predigt.  Und  nun  komme  ich  noch  einmal  vor  euch,  als 
einer,  der  Euhe  und  Versöhnung  will.  Meinetwegen  soll  kein 
Streit  sein." 

Von  anderen  Schweizer  Blättern  wurde  im  Anschluß 
hieran  noch  mitgeteilt: 

„Bestimmend  für  die  Verzweiflung  Stahels  war  auch  die 
Preisgabe  des  ärztlichen  Geheimnisses  durch  Dr.  Frank,  der  die 
homosexuelle  Veranlagung  bekannt  werden  ließ.  Ein  furchtbarer 
innerer  Kampf  muß  dem  Entschluß  zum  Selbstmord  vorangegangen 
sein,  und  in  der  Verzweiflung,  als  er  seiner  selbst  nicht  mehr 
mächtig  war,  schrieb  er  an  eine  befreundete  Familie  in  Erma- 
tingen:   „Bald  wird  es  von  mir  heißen:   Er  hat  sich  gemordet. 


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—     728     — 

Das  ist  falsch.  Es  muß  heißen:  Er  ist  gemordet  worden.*^  Diese 
Worte  scheinen  von  den  Verehrern  als  Vermfichtnis  aufgefaßt  zu 
werden,  und  sie  nennen  bereits  die  Gegner,  die  teilweise  auch  in 
der  Hauptstadt  ihr  Domizil  haben,  als  Mörder  Stahels.  .... 

Die  Leute  lassen  sich  das  freundliche  Bild  8tahels  nicht 
rauben.  Sie  hüten  seine  letzten  Zeilen  und  bald  wird  überall 
seine  Photographie  die  Stube  zieren. '^ 

Die  Anerkennung,  welche  den  Verdiensten  von  Ura- 
niern nach  ihrem  Tode  gezollt  wird,  kann  das  Leid  nicht 
wieder  gut  machen^  das  ihnen  zu  Lebzeiten  aus  ihrer 
Natur  erwachsen  ist. 

Es  war  ein  eigenartiger  Zufall,  daß  im  Juni  d.  J. 
im  Beisein  des  deutschen  Kaisers  innerhalb  weniger  Tage 
zwei  Männern  aus  alter  und  neuer  Zeit,  die  in  weitesten 
Kreisen  als  homosexuell  galten,  Denkmäler  enthüllt  wurden, 
—  Kaiser  Hadrian  und  Friedrich  Alfred  Krupp. 
Wie  viel  äußerlich  Gegensätzliches  und  doch,  wie  viel 
innerlich  Verwandtes  enthalten  diese  beiden  Namen.  Wir 
glauben,  diesem  Bericht  einen  versöhnlichen  Abschluß  zu 
geben,  indem  wir  ihn  mit  der  Wiedergabe  dieser  beiden 
Standbilder  enden. 

Friedrich  Hebbel  sagt  einmal: 

„Wenn  es  heilige  Pflicht  ist,  einen  Toten, 
Wer  er  auch  immer  sein  mag,  zu  bestatten. 
So  ist  die  Pflicht  noch  heiliger,  ihn  von  Schmach 
Zu  reinigen,  wenn  er  sie  nicht  verdient/^ 

Im  Dienste  dieser  Pflicht  arbeiten  wir,  flir  die  Ehre 
vergangener,  flir  das  Recht  gegenwärtiger,  flir  das  Glück 
zukünftiger  Menschen. 

Charlottenburg,  Berlinerstraße  104, 
1.  September  1904. 

Dr.  M.  Hirschfeld. 


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Standbild  des  Kaisers  Hadrian  auf  der  Saalburg, 
enthQIlt  im  Beisein  des  deutschen  Kaisers  am  16.  Juni  1904. 


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Standbild  von  F.  A.  Krupp  in  Kiel, 

enthüllt  Im  Beisein  des  deutschen  Kaisers  am  22.  Juni  1904. 


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VIL  Abrechnung  (pro  1903). 

a)  Von  den  Zeichnern  von  Jahresbeiträgen 
für  das  Jahr  1903  bei  den  Geschäftsstellen  in  Charlotten- 
burg, Frankfurt  a.  M.  und  Leipzig  eingegangene  Beträge: 


Lfd.! 

Nr.  I 


Name  resp.  Chiffre  der  Fondszahler 


3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

18 

14 

15 

16 

17 

18 

19 

20 

21 

22 


P.  R.  und  R.  A.  in  RuBland  .  .  . 
R.  V.  St  J.  85  +  51  +  42.50  .  .  . 
Dr.  phil.  A.  in  Charlottenburg.     .     . 

Dr.  Aletrino,  Amsterdam 

Max  A.  in  Berlin  SW 

P.  A.  in  Kopenhagen 

Willy  Arlt,  Charlottenburg  .... 

Carl  A.  in  Seh 

G.  B.  in  Köln 

E.  0.  B.  in  L 

M.  B.  L 

Mark  vom  See  (Seehase) 

Überzeugt 

F.  W.  B.  in  Frankfurt 

Marcus  Behmer 

Berthold  B.  in  A 

Georg  B.  in  Berlin 

Fräulein  M.  B, 

Fmil  B.  in  Charlottenburg    .... 

E.  B.  in  P. 

S.  B.  jr.  in  B 

Eduard  Bertz,  Schriftsteller,  Potsdam 


Fol. 


Mk. 


158 

200.- 

188 

178.60 

178 

10.- 

202 

20.- 

137 

8.- 

14 

25.- 

88  1 

'e.— 

161 

5.— 

193 

30.- 

199 

100.- 

19 

20.— 

209 

10.- 

128 

35.- 

184 

20.- 

114 

10.— 

118 

22.— 

132 

20.- 

110 

6.- 

208 

20.- 

47 

50.- 

165 

7.— 

20 

20.- 

Übertrag         822.50 


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—     730 


Lfd. 

Nr. 


28 

24 

25 
26 
27 
28 
29 

30 
31 
32 
38 
84 
35 
36 
87 
38 
39 
40 
41 
42 
43 
44 
45 
46 
47 
48 
49 
50 
51 
52 
53 
54 


Name  resp.  Chifire  der  Fondszabler 


Fol. 


Mk. 


Übertrag 

Greorg  B.  in  K 

da.  Extrabeitrag  f.  Jahrbuch     . 

Alfred  B.  in  C 

do.  Extrabeitrag 

Carl  B.  in  Frankfurt 

Al&ed  Böhm,  Berlin 

Dr.  C.  B.  In  Berlin 

Jean  B.  in  Berlin 

Adolatus 

do.     Extrabeitrag 

Chemiker  F.  Brinkmann,  Berlin    .... 

V.  B.  in  K .     .     .    . 

Rechtsanwalt  Dr.  B 

102 

C.  B.  75  

E.  B ,  Brüssel 

0.  C,  Magdeburg 

Holland  1000 

H.  S.  C.  1034 

Ch.  in  Berlin 

M.  Cl.,  New- York 

Dr.  Cl.  in  F 


G.  H. 


R. 


211 

82 

109 
81 

164 
58 

187 

» 

29 

78 
111 

91 
100 

15 
198 
215 
165 
172 
197 

46 
109 
206 
108 
127 

5 

36 
159 

50 
114 
175 

23 

Dr.  Ernst  Eckart,  Berlin 104 

Egon  EickhofF,  Berlin |    71_ 

Übertrag 


Alexander  Cohen,  Berlin,  II.  Semester 

J.  C,  Berlin 

Dr.  D.  in  E 


Wladimir  Davidow,  ELlin  bei  Moskau 

Fabrikbesitzer  D.  in  S 

Fürst  D 

Josef  Glinnowski 

Rittergutsbesitzer  D 

Sten  D 

W.  H.  E.  in  Seh 

E. 


822.50 

100.- 
20-— 
25.— 
25.- 
20.— 
25.— 

100.— 

8.- 

50.— 

5.— 

20.— 

20.— 

12.— 

6.- 

30.- 

100.— 
20.— 
80.- 
20.— 
12.— 
20.— 
20.— 
10.— 
20.- 
20.— 
20.— 
60.— 
20.— 
20.— 
50.— 
2.— 
20.- 
85.— 
24.- 
20.- 


1830.50 


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—     781     — 


Lfd. 
Nr. 


Name  resp.  Chifire  der  Föndszahler 


Fol. 


Mk. 


55 
56 
57 

58 
59 
60 
61 
62 
63 
64 
65 
66 
67 
68 
69 
70 
71 
72 
73 
74 

75 

76 
77 
78 
79 
80 
81 
82 
88 
84 
85 
86 


Obertrag 

Eidgenössische  Bank 

Emil  E.  in  Berlin 

Max  E.  Sch.-D 

do.  Extrabeitrag 

G.  E.  in  Berlin 

C.  E.  E.  in  Berlin 

Frau  Therese  Eschholz,  Berlin 

Ingenieur  B.  E 

P.  E.  in  Berlin ,    .    .     . 

Bobert  E.  in  Berlin .     . 

K.  F.  in  L 

Gustav  F.  in  Charlottenburg 

M.  F.  durch  P 

A.  F.  in  H 

Agricola 

Ph.  F.  in  Osnabrück 

F.  F.  in  Hamburg 

V.  F.  in  Berlin 

Freiherr  v.  F.  in  H 

L.  F.  in  B 

Dr.  Benedict  Friedlaender,  Berlin      .    .     . 
do.  Extrabeitrag 

E.  F.  in  Ch 

do.         Extrabeitrag  f.  Jahrbuch     .    . 
Reichsfreiherr  v.  Fürstenberg,  Heiligenhofen 

Willy.  F.  in  B 

Siegfried  Gabriel,  Berlin 

F.  J.  in  Florenz 

Bechtsanwalt  Dr.  G.  in  Frankfurt     .     .     . 

Ludwig  G.  in  Berlin 

0.  Gerstenberg  in  Berlin 

A.  V.  G.  (Baden) 

G.  in  Z 

Dr.  Adolf  G.  in  Berlin 

F.  W.  G.  in  Berlin 


82 
71 

47 

19 

40 
86 
129 
215 
68 
140 
103 
224 
54 
33 
182 
84 
42 
131 
83 
183 
166 

V 

56 

« 

221 
43 

145 

228 
31 
28 
89 
28 

185 
6 

200 


Übertrag 


1830.50 
24.25 

1.— 
50.— 

6.— 
10.— 
25.- 
20.- 
20-— 

18.- 
80.— 
10.— 
20.- 
8a.20 

100.— 
20.- 
20.— 
10.- 
80.— 
20.- 

150.— 

100.— 
20.- 
10.— 

100.— 
10.— 
36.— 
25.- 

100.— 
10.— 
20.- 
5.- 
21.- 
25.- 
37 


2969.95 


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—     732 


Lfd. 
Nr. 

Name  resp.  Chiffre  der  Fon 

dszahler 
Übertrag 

Fol. 

I      M.. 

2969.9^ 

87 

Martin  G.  in  Berlin .... 

117 

1          *•- 

88 

H.  G.  in  Amsterdam     .     .     . 

24 

10.— 

89 

U.  G.  in  Chemnitz  .... 

30 

12. - 

90 

H.  G.  in  Hamburg  .... 

27 

'        20.— 

91 

C.  G.  in  Bayern 

45 

1        20.— 

92 

Baron  de  G.  in  W 

189 
94 

1        20.- 
25.- 

98 

K.  G.  in  B 

94 

cand.  F.  G 

ISO 
10 

1        10.- 

95 

L.  N.  in  Posen 

1      100.- 

96 

M.  H.  in  Wien 

^» 

75 

17.- 

97 

F.  II.  in  Hamburg   .... 

52 

1        20.- 

98 

E.  H.  in  Karlsruhe  .... 

6 

1        20.— 

99 

B.  H.  in  Berlin 

162 

4.— 

100 

K.  H.  in  Hannover  .... 

141 

5.- 

10t 

J.  H.  in  Potsdam     .... 

74 
3 

1          ^•'~ 

102 

0.  H.  in  V 

20.— 

108 

Frau  H.  in  Berlin    .... 

78 

!    1'^- 

104 

A.  H.  in  München   .... 

21 

'        70.- 

105 

W.  H.  in  Berlin 

67 

■; 

222 
119 
101 
155 

1        10.— 

106 

W.  H.  A.  in  Berlin 

1        30.— 

107 

Mercur  in  Frankfurt 

20.— 

108 

R.  H.  in  Berlin 

1          2.— 

109 

V.  H.-H 

1        20.— 

110 

H.  in  Frankfurt   ........ 

1        *'^' 
60.— 

111 

Waldemar  Heßling,  Grunewald 

.... 

1        20.— 

112 

Rechtsanwalt  Eugen  Heudtlaß, 

Berlin   .    . 

88. 

1        21.— 

do.                        Extrabeitrag 

n 

7.— 

113 

K.  H.  in  D 

183 

20.- 

lU 

W.  K.  H.  in  D 

78 

1      100.— 

115 

gilvantis 

194 

i        26.- 
10.- 

do.     Extrabeitrag     .     .     . 

116 

Dr.  phil.  H.  in  H 

64 

20.- 

117 

K.  R.  Z.,  Frankfurt .... 

162 

30.- 

118 

C.  C.  Aa. 

190 

21.— 

do.      Extrabeitrag  5  +  20 

Übe 

!        25.- 

rtrag 

3790.95 

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733     — 


Lfd. 

Nr. 

Name  resp.  Ghiffire  der  Fondszahler 

Fol. 

Mk. 

119 
120 

Übertrag 

Dr.  med.  H.  in  Newark 

Dr.  L.  H.  in  G 

38 
196 
120 
41 
59 
124 
14 
114 
219  •■ 
82    > 

196 
84 
192 
112 
229 
180 

7 
216 
108 

80 
98 
217 
164 
133 
55 
171 
198 
84 
173 
96 
104 

130 

195  1 

^1790.95 

i        lO,— 

5,_ 

121 
122 

Dr.  H.  in  Berlin 

Th.  H.  in  D 

20,- 
20.— 

12B 

Paul  H.  in  Berlin 

1.— 

124 

Siegfried  J.  in  B 

20.— 

125 
126 

Dr.  pbil.  J.  in  Berlin 

H.  J.  in  H 

20.- 
20.— 

127 
128 

129 

Richard  J.,  II.  Semester 

W.  J.  in  F 

do.         Extrabeitrag  63.80  +  25  .     .     . 
A.  J.  in  Seh 

6.— 
180.- 

88.80 
5  — 

180 

Dr.  M.  Katte 

30.— 

131 
1B2 

W.  K.  in  Leipzig 

R.  V.  K 

20.- 
6.— 

18B 

Dr.  Richard  K 

25.— 

1B4 

M.  K.  in  M 

20.— 

135 
136 

Professor  Dr.  F.  Karsch,  Berlin    .... 
Carl  K.  in  Berlin 

40.- 
24.— 

137 
188 

Konrad  K.  in  Berlin 

0.  K.  72 

1        80.- 
80.— 

139 
140 

P.  S.  (durch  Dr.  Hirschfeld) 

F.  K.  in  Hamburg 

200.- 
80.— 

141 
142 

Paul  K.  in  L 

20.— 

Fritz  K.  in  Berlin 

12.— 

148 

W.  Kl.  durch  P 

20.— 

144 

Musikdirektor  K 

2.— 

145 
146 

0.  K.  100,  IV.  Quartal 

R.  K.  V.  Fr 

6.- 
20  — 

147 

Architekt  K 

8.— 

148 

Otto  K.  in  Berlin 

10. 

149 

Ernst  K.  pro  1902 

20.— 

do.       pro  1903    

20.— 

150 
•l51 

Richard  Ko.  in  Berlin 

A.  K.  A 

20.- 
30.— 

1                                                                      Übe 

rtrHg  1 

4824.75 

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Uta, 

Nr. 


152 
153 
154 
155 
156 
157 
158 
159 
160 
161 
162 
168 
164 
165 
166 
167 
168 
169 
170 
171 
172 
178 
174 
175 
176 
177 
178 
179 
180 
181 
182 
183 
184 
185 
186 


Name  reap.  ChifiPre  der  Fondszahler 


Obertrag 

F.  K.  in  Berlin 

Chr.  K.  in  B.N 

Rudi  K.  in  Berlin 

Richard  Kr.  in  Berlin 

Robert  Krüger  in  Berlin 

de  K.  in  Konstantinopel 

Oscar  K.  in  Berlin 

W.  K.  in  Köln 

O.  K.  in  Berlin 

Frau  F.-Lehmann,  Berlin 

Schriftsteller  Paul  R.  Lehnhard     .... 

Carl  L.  in  Berlin 

B.  L.  in  Berlin 

J.  L.  in  Breslau 

A.  L.  in  Berlin 

E.  M.  in  B 

Heinr.  Lichte  in  Berlin 

F.  B.  in  Dresden 

Dr.  L.  in  G 

Paul  L.  in  Charlottenbarg 

Dr.  Lilienstein 

Dr.  med.  L.  in  F 

J.  L.  aus  K 

Dr.  phil.  L.  in  Holland 

L.  W.  1877 

Karl  A.  L.  in  L 

Willy  L.  in  Berlin 

Dr.  A.  L.  in  Berlin 

L.  in  Charlottenburg 

Arthur  L.  in  B 

Georg  L.  in  F 

Dr.  Paul  Lutze,  Köthen 1    44 

L.  M.  in  L I  182 

M.  200 I  207 

H.  M.  in  Berlin '    92_ 

Obertrag 


Fol. 


178 
20 
126 
153 
65 
49 
132 
9 
129 
85 
141 
64 
220 
52 
131 
94 
11 
61 
40 
209 
156 
39 
203 
146 
93 
37 
208 
202 
225 
154 
126 


Mk. 

4824.75 
20.— 

5.— 
10.— 
12.— 

4.— 
20.- 

1 

a.— 

20 

10.— 
12.- 
10.— 
80.— 
20 — 
20.— 
30.— 
18.— 

20 

25.— 
20.- 
20.- 
20.— 
20.— 
30.- 
25.— 
20.— 
24.- 
24.— 
10.— 
12.- 
10.— 
20.- 
20.— 
25.— 
7.— 


5421.75 


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735 


Lfd. 

Nr. 


Name  resp.  Chiffre  der  Fondszahler 


Fol.  1  Mk. 


187 
188 
189 
190 
191 
192 
198 
194 
195 
196 
197 

198 
199 
200 
201 
202 
203 
204 
205 
206 
207 
208 
209 
210 
211 
212 
213 
214 
215 
216 
217 
218 
219 
220 


Übertrag 

Frau  Reg.-Rat  Dr.  Martha  Marquardt,  Berlin  159 

R.  M.  E 8 

Richard  M.  in  Berlin 204 

cand.  arch.  M 29 

J.  M.  in  Hannover 24 

M.  0.  23 70 

Freiherr  v.  M 16 

Dr.  Th.  M 140 

Otto  M.  in  L 160 

Otto  M.  in  Berlin 35 

Jul.  M.  in  Berlin 66 

do.             Extrabeitrag  f.  Jahrbuch.  ,, 

Friedel ;  188 


S.  M.  in  Ch 

E.  G.  H 

Professor  N.  in  St  P 

Nobody 

F.  N.  in  Breslau,  II.  Semester  .    .    . 

J.  F.  in  Wien  (Falieri) 

Integer  vitae 

N.  N.  in  Hamburg 

E.  0.  in  B 

„Ohne  Namen" 

Dt,  Karl  von  Oppell,  Charlottenburg 

Otto  Christoph 

P.  0.  in  C 

J.  P.  in  C 

O.  P.  durch  P 

P.  P.^in  Berlin 

L.  I.  P.  in  D 

D.  M.,  St.  Petersburg 

Baron  v.  P.  in  St 

Erich  P.  in  L. .     . 

Numa  Praetorius 

Dr.  med.  Pr.  in  F 


97 
167 
34 
72 
3 
205 
32 
59 
10 
53 
106 


177 
102 
219 
58 
5 
147 
187 
45 
11 
63_ 

Obertrag 


5421.75 
iO.- 
20, - 

26.— 
50.- 
80.— 
20.— 
50.— 
10.- 
20.— 
20.— 
20.— 
21.- 
20.- 
20.— 
20.— 
24.— 
25.— 
20.— 
20.— 
60.— 

140.- 
25,- 
20.— 
10.— 
20.— 
20.— 
20.— 
4.— 
35.- 
40.— 
20.- 
10.- 

200.— 
40.- 


6617.75 


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L.fd 

Nr. 


22' 
22 
25 
21 


"> 


r 

r 


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737 


Lfd. 

Nr. 


252 
253 
254 
255 
256 
257 

258 
259 
260 
261 
262 
263 
264 
265 
266 
267 
268 
269 
270 
271 

272 
278 
274 
275 
276 
277 
278 
279 
280 
281 
282 
288 
284 


I  ' 

Name  resp.  Chiffre  der  Fondszahler        I  Fol.  |       Mk. 


W.  S.  in  M 

E.  0.  S.  in  D.     ...... 

Franz  S.  in  Berlin 

Dr.  S.  in  Rotterdam     .... 

Dr.  Sp.  in  M 

Pauline  S 

do.       Extrabeiträge  5  +  5  . 
S.  H.  in  San  Francisco  I  20. — 

J.  Seh.  in  B 

G.  Seh.  in  Chg 

E.  S.  in  Ch 

J.  S.  77,  München 

R.  S.  in  H 

Alex  Seh.  in  B 

S.  u.  T.  in  B •    .     . 

Pastor  S.  in  U.-S.-A 

y.  Seh.  in  B 

H.  S.  0 

C.  Seh.  in  Leipzig 

Dr.  Seh 

H.  Seh.  in  Riga  pro  1902     .     . 
do.  pro  1903     .     . 

S.  in  D 

Otto  Seh.  in  Berlin 

Ernst  Seh.  in  H 

Paul  Sch.-D 

A.  G.  Seh 

Jonkheer  Dr.  jur.  J.  A.  Schorer 
Dr.  Alfred  Schroeder    .... 

Emil  S.  in  Berlin 

Graf  Seh 

E.  S.  in  E 

G.  Seh.  in  Berlin 

Robert  Seh.  in  Berlin  .... 
R.  S.  in  Berlin 


Obertrag  i 


37 
186 
127 
180 
102 


79 
148 
138 
134 
4 
51 
148 
213 
22 
124 
48 
191 
86 


7867.25 
25.— 
20.- 
10.— 
10.— 
40.- 
20.- 
10.— 
88.20 
24.— 
20.— 
20.— 
25.- 

20 

10.— 
10.- 
50.— 
10.— 
100.- 
25.- 
50.— 


18 

86.- 

jj 

36.— 

99 

20.- 

112 

4.- 

25 

20.— 

104 

4.— 

137  i 

6.- 

31 

20.- 

106 

40.— 

39 

10.— 

67 

50.— 

30 

20.— 

27 

25.- 

16 

2.— 

118 

5 

krag 

8747.45 

Jahrbuch  VI. 


47 


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Name  resp.  Chifire  der  Fondazahler 

Fol. 

1 

Mk. 

285 
286 
287 

Übertrag 
Dr.  jur.  Stegemann,  Referendar,  Parchim  . 

Ad.  St.  in  Prankfurt 

Ch.  St.  in  Berlin 

76 
17 
115 
73 

152 
57 
163 
204 

2 
205 
216 
87 

218 
58 
151 
125 
144 
36 
172 
220 

147 
101 
184 
192 
70 
44 
113 
8 
167 
191 

8747.45 
25.— 
20.— 
12.— 

288 

G.  St  in  P 

20. 

289 

do.         Extrabeitrag 

H.  St.  in  Leipzig. 

a.— 

40.— 

290 

Alfr.  St  in  Berlin 

8.— 

291 
292 

Ludwig  St 

J.  S.  in  B 

80.- 
20.— 

298 
294 

N.  N.  in  V 

Leoni  Thiel 

20.- 
20.— 

295 
296 

Baron  Carl  v.  T.  in  R 

Dr.  M.  M.,  Rom 

20.- 
50.— 

297 

do.            Extrabeitrag 

do.                   do.           für  Weiterbe- 
stand des  Jahrbuches 

E.  T.  in  Köln 

20.- 

200.- 
20.— 

298 

E.  T.  in  Flensburg 

20.— 

299 

Baron  v.  T.-R 

50.— 

300 
801 

Modest  Tschaikowsky,  Klin  bei  Moskau    . 
ü.  in  Berlin 

40.- 
86.— 

802 

C.  L.  A.  H 

22.— 

808 

Paul  V.  in  Berlin 

25. 

804 

V.  V.  in  Wien 

25.50 

805 

do.           Extrabeitrag  für  Jahrbuch  . 
Paul  V.  in  R. 

10.— 
12.— 

806 

H.  W.  in  Berlin 

10.— 

807 

I.  W.  in  F.  durch  P 

20.— 

808 

Wilh.  W.  in  M 

20.— 

309 
810 

Fr.  W.  in  Berlin 

Opernsänger  W 

5.— 
10.— 

811 

P.  W.  in  Berlin 

20.— 

812 

0.  W.  21  in  B 

25.— 

313 
314 

H.  W.  in  Berlin 

E.  W.  Hellek 

Übe 

20.- 
8«.— 

rtrag  1 

9681.95 

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Lfd. 
xNr. 


315 
316 
317 
318 
319 
320 
321 
322 
323 
324 
325 
326 

327 
328 
329 
330 

331 
382 
333 
334 


Name  resp.  Chiffre  der  Fondszahler 


Übert 


Wilh.  W.  in  H 

Non  moriar,  sed  vivam 

Otto  W.  in  Ch 

Dr.  H.  W.  in  Berlin    .    . 
Ajo  W.  in  Berlin     .     .    . 
Otto  Wiesenthaly  Hamburg 
M.  W.  in  Berlin  .... 

Harry  W.  in  Ch 

J.  W.  in  R,  (Ch.)     .     .     . 

Caesareon 

Leo  W.  in  E 

Professor  C.  Wirz,  Mailand 

do.  Eztrabeitr.  10.90 

K.  W.,  Schanmbnrg-Lippe 

Wolf  in  C 

P.  A.  W.  in  D 

L.  W.,  Berlin 

do.          ExtrabeitrSge 
Ernst  W.  in  Berlin  .     .     . 
St.  V.  Z.  in  B 


20 


Maximilian  Bayer,  Karlsruhe 
Gertrud  Zucker,  Friedenau   . 

a)  Summe  der  Jahre 


+  50 


bogle 


—     740     — 


b]  Außerdem  erfolgten  1903  folgende  einmalige  Zahlungen: 


Datum 

11^  Januar 
11.      „ 
20.      „ 

17.  Februar 
22.        „ 

18.  März 
1.  April 
9.     „ 

30.     „ 

9.  Mai 
28.     „ 
26.    „ 

5.  Juni 
16.     „ 
28.     „ 

5.  Juli 
14.     „ 
U.     „ 

3.  August 

3.       „ 

14.  Septbr. 
1.  Oktober 
1.       „ 

1.       » 
1.       „ 

1.  V 

1.       » 
1.       „ 

1.       » 

1.  „ 

10.        „ 

15.  „ 


Name  resp.  Chiffre 


S.  K 

Konferenzsammlung 
0.  W.  durch  Max  G. 
H.  R 


N.  N.,  Hamburg 

C.  H.  in  Berlin 

Emma  W.  in  G 

Ungenannt,  Düsseldorf 

Münchener  Subkomitee,  I.  Rate    .    . 

Ungenannt,  Wien 

Frau  A.  W.  in  Berlin 

Einzelbeitrag 

B.  L.  in  M 

C.  B.  75,  Witten 

Incognitus  durch  Dr.  J 

Konferenzeammlung  195.40  +  4.60    . 

N.  N.  in  Berlin 

Aug.  F.  in  E 

Victor  Wilhelm  Sammlung  in  Köln  . 

C.  H.  in  M.  durch  K 

Aug.  F.  in  E 

Brüssel 

F.  K.  in  N 

E.  Z 

N.  N 

Maaß 

X.  Y 

W 


S.  B.  . 
L.  Hirt  . 
Seh  .  .  d  . 


C.  F.,  Dresden    .... 
Müll.  W.  R.  H.,  München 


Mk. 


5.— 
400.— 

20 

1.— 

10.— 

2.— 

2.50 

20 

50.- 

8.- 

3.- 

1.— 

2.60 

20.— 

28.— 

200.— 

100.— 

3.— 

12.— 

20 

3 

40.— 

20.— 

20.— 

7.— 

8.— 

—.50 

1.— 

8.— 

1.— 

1.— 

5.— 

100 


Übertrag  |i    1102.60 


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741     — 


Datum 


18.  Oktober 

81.  „ 

31.  „ 

31.  „ 

10.  Novbr. 

14.  „ 

27.  „ 
19. 
29. 
31. 


Name  resp.  Chififrc 


Mk. 


Dezbr. 


Obertrag 

DetmeriDg 

Franz  W.,  Berlin 

Fritz  H.,  Berlin 

Ühle,  BLlein-Zscbachwitz 

X.  P.  100  durch  F.  ü.  in  M 

Barth.  Seh.  in  T.,  Kr.  7.60 

V.  R.  in  R 

Arzt  S.  W 

G.  B.      .     

Münchener  Subkomitee,  II.  Rate  .    .    . 

Tessmer,  für  nnbest.  Petitionen  zurück 

für  leere  Eisten  von  Spohr  zurück  .    . 

für  Volksschriften,  um.  Menschbrosch., 
Jahrbücher  nsw.  20,  14,  12,  15.50,  18, 
0.20,  1,  1.20,  2.30,  10,  8,  9.35,  3,  4,  0.20, 
20,  4,  3.40,  36.80,  5, 10.40,  3,  3.90,  5, 10, 
4.20,  1,  1.20,  0.60,  3,  25,  5, 15.50, 12.50, 
4,  10.60,  1,  25,  14.45,  23,  21.20,  8,  17,  1 

für  Jahrbucheinbände  n.  Portos:  2,  1.75, 
1.50,  3,  2.20,  3,  1.50,  1,  2,  2,  1.50,  4,  3, 
1.50,  3,  2,  3,  1.70,  2,  3,  2.43,  4,  5,  0.50, 

3,  1.50,  0.25,  1.50,  3,  1.50,  2.75,  1.75,  2, 
1.50,  3,  3.50,  1.50,  1.70,  3,  3.50,  5,  3.25, 
3.25,  7,  3.50,  5,  3,  3,  2.70,  3.50,  3,  1,75, 

4,  3.50,  3.25,  1.50,  1.50,  3.40,  1.75,  3,  3, 
5.45,  2,  3.50,  2,  5,  4.50,    5 

für  Monatsberichte:  3,  5,  5,  3,  3,  5,  3,  10, 
8,  6,  3,  3,  4.95,  4,  5,  3,  8,  8,  3,  4,  3,  3,  8, 
8,  3,  4.35,  6,  5,  8,  3,  3,  2,  5,  4,  10,  5,  3, 

5,  3,  8,  8y  5}  5,  3,  5,  3,  5,  8,  5,  3,  3,  5,  8, 


3,  3 


b)  Summe  der  einmaligen  Zahlungen 


1102.60 

20.— 
6.- 
2.— 

20.- 

100.- 

6.40 

20.— 
2.— 
5.— 

50.— 
8.99 
9.50 


408.50 


187.83 


218.30 


2166.12 


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—     742 


Ausgaben  laut  Buch: 


Mk. 


Petitionsversandt  an  ca.  25000  Direktoren  und 
Lehrer  höherer  Lehranstalten,  Schnldepatationen 
und  Provinzial-Schulkollegieu 

Rezensionsexemplare  vom  Jahrbuch  u.  umischen 
Menschen  an  Zeitungen,  Zeitschriften,  Autoritäten 
usw.,  sowie  sonstige  Propaganda  (198.65)  .... 

Jahrbächer  an  die  Fondszeichner 

Volksschriften 

Unkosten  der  Monatsversammlungen  u.  Konfe- 
renzen (Einladungen,  Portos  usw.) 

Fragebogenstatistik  bis  81.  Dezember     .    .    .    . 

Statistische  Enquete,  technische  Hochschule    .    . 

Zeitungsausschnitte,  Abonnements  usw 

Bücher,  Bilder  und  Einbände  für  Bibliotheksbücher 

Inventar,  Präparate  Zwitter  und  Embryo,  Akten- 
schrank,  Stempel,  Emailleschild  usw 

Monats-  und  Konferenzberichte 

Schreibmaterialien  (Papier,  Kuverts  usw.)    .    .    . 

Portos 

Gehalt  des  Sekretärs 

Diverses:  Save-Depot,  Inv.-Marken,  Oessionsstempel, 
Bote,  Spesen  und  Baarauslagen  bei  behördlichen, 
gerichtlichen  und  sonstigen  Konferenzen  in  Berlin, 
sowie  bei  den  Kongressen  der  internationalen  kri- 
minalistischen Vereinigung  in  Dresden  und  der 
Naturforscher  in  Kassel  usw 

Subkomitee  Frankfurt  f.  dortige  Monatsberichte, 

Einladungen  usw.  durch  J 68.80 

für  Portos,  Aktenmappe  usw.  durch  P.  .    .    .    21. — 


2405.49 

2920.20 

2879.70 

215.60 

504.50 
249.— 
315.15 
158.85 
268.85 

68.70 

249.85 

178.95 

604.11 

1490.- 


575.65 


84.80 


12658.40 


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—     743     — 

Gesamt- Einnahmen: 

a)  Beitrage  der  Fondszeichner    .    .    .    Mk.  10374.35 

b)  Einmalige  Zahlungen „       2166.12 

c)  Überschuß  vom  Jahre  1902    .    .    .      „  501.64 

Mk.  13042.11 

Gesamt-Ansgaben: 

Wie  vorseitig Mk.  12,658.40 

Mithin  Überschuß  am  31.  Dezbr.  1903    Mk.        383.71 

Charlottenburg  und  Leipzig,  31.  Dezember  1903. 
Dr.  Hirschfeld.  Max  Spohr. 

Gegengezeichnet : 
Fabrikbesitzer  J.  Heinr.  Denker,  Suliugen. 
Rittergutsbesitzer  W.  Jansen,  Friemen. 


Anmerkungen  zur  Abrechnung: 

1.  Wir  bemerken,  daß  diese  Abrechnung  nur  die  Beiträge 
für  1908  und  nachträgliche  Eingänge  für  1902  enthält,  während 
alle  Eingänge  für  1904  —  auch  die  bereits  im  Jahre  1903  ge- 
zahlten —  erst  in  der  nächsten  Abrechnung  erscheinen. 

2.  Die  Abrechnungen  sollen  fernerhin  schon  im  ersten 
Quartal  nach  Ende  eines  Geschäfts-Kalenderjahres  den  Fond- 
zahlem  zugestellt  werden,  damit  dieselben  zeitiger  in  den  Besitz 
der  Quittungleistung  kommen  und  bitten  wir  daher,  noch  aus- 
stehende Beiträge  für  1904  baldigst  einzusenden,  damit  die  Rech- 
nunglegung  rechtzeitig  und  möglichst  vollständig  erfolgen  kann. 

3.  In  dieser  Abrechnung  haben  bereits  43  Fondszahler  die 
Nennung  ihres  vollen  Namens  gestattet  und  wäre  es  sehr  er- 
wtlnscht,  wenn  diese  Zahl  sich  noch  erheblich  steigern  würde,  um 
so  mehr,  als  viele  Fondsbeiträge  von  Personen  eingehen,  die  kein 
persönliches,  sondern  rein  sachliches  Interesse  an  unserer  Be- 
wegung nehmen;  eine  Dekouvrierung  als  Homosexualer  ist  also 
mit  der  Namensnennung  nicht  verbunden. 

4.  Unser  Fonds  wächst  von  Jahr  zu  Jahr,  die  Zahl  der 
Fondszahler  ist  von  243  (1902)  auf  334  (1903)  gestiegen,  der  Ge- 
sammteingang  von  7942.46  Mark  (1902)  auf  13042.11  Mark  (1903) 


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—     744     — 

eine  erfeuliche  Steigerung  im  Verhältnis  zu  früheren  Jahren;  die 
Befreiungsaktion  verlangt  naturgemäß  jedoch  immer  mehr  Mittel, 
sodaß  die  vorhandenen  Beträge  fast  ausschließlich  für  den  Kampf 
selbst  verwendet  werden  mußten  und  wir  die  vielen  Unterstützungs- 
gesuche ihrer  Existenz  beraubter  —  sehr  häufig  dem  Selbstmord 
naher  —  Homosexueller  leider  unberücksichtigt  lassen  mußten. 
Wieviel  mehr  hätte  geleistet,  wieviel  Elend  hätte  gelindert  werden 
können,  wenn  eine  zehnfache  Anzahl  Opferwilliger  die  Arbeiten 
des  Komitees  unterstützen,  wenn  wohlhabende  Persönlichkeiten 
durch  Kapitalzuwendungen  einen  eisernen  Bestand  schaffen  würden, 
aujs  dessen  Ertrag  Würdigen  Beistand  gewährt  werden  könnte. 


Wissenschaftlich-humanitäres  Komitee  München. 

München,  31.  Dezember  1908. 

Abrechnung: 

A.  Einnahmen  vom  1.  Oktober  1902  bis  31.  Dezember  1903: 

1.  An  Teilnehmerbeiträgen      .    .    .    Mk.  415«  — 

2.  An  freiwilligen  Beiträgen   ...      „       41. — 

3.  Erlös  aus  verkauften  Schriften   .      „      89*90 

Summa  Mk.  495.90 

B.  Ausgaben  für  gleichen  Zeitraum     .    .    Mk.  467.54 
Mithin  ÜbeiBchuß  am  81.  Dzbr.  1908   .     Mk.    28.36 


Die  Ausgaben  verteilen  sich  für: 

1.  Inventar Mk.  41.95 

2.  Archiv  und  Bibliothek „  128.40 

8.  Propaganda „  58.71 

4.  Druckarbeiten „  41.10 

5.  Schreibmaterialien „  20.25 

6.  Schreibgebühren „  28.15 

7.  Porti „  44.88 

8.  Beitrag  an  das  Berliner  Komitee    .      „  100. — 

9.  Diverse  Spesen »  4.60 

Summa    Mk.  467.54 

Gezeichnet:  J.  Seh  edel.  Gegengezeichnet:  Dr.  C.  Hauck. 


Druck  von  Metzger  &  Wittig  in  Leipzig. 


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