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Jahrbuch
für
sexuelle Zwischenstufen
mit besonderer Berücksichtigung der
Homosexualität
Herausgegeben unter Mitwirkung namhafter Autoren
im Namen des wissenschaftlich -humanitären Komitees
Dr. med. Magnus tlirschfeld,
prakt. Arzt in Charlottenburg.
VI. Jahrgang.
Leipzig.
Verlag von Max Spohr.
1904.
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Inhaltsverzeichnis.
Seite
Homosexualität und Bürgerliches Gesetzbuch. Von Dr. jur.
Numa Praetorius 1
Erster Abschnitt Homosexualität und Ehe ... 8
Zweiter Abschnitt Homosexualität und Entziehung
des Pflichtteils (bezw. des standesgemäßen Unter-
halts) 88
Dritter Abschnitt. Homosexualität und Handlungs-
fähigkeit 36
Der Uranier vor Elirche und Schrift. Eine Studie vom ortho-
dox-evangelischen Standpunkt Von Prof. Caspar
Wirz, V. D. M 68
Das Ergebnis der statistischen Untersuchungen über den
Prozentsatz der Homosexuellen. Von Dr. Magnus
Hirschfeld 109
Die physiologische Freundschaft als normaler Gruudtrieb
dies Menschen und als Grundlage der Soziabilität. Von
Dr. Benedict Friedlaender 179
1 03 Beobachtungen von mehr weniger hochgradiger Entwicke-
lung einer Grebännutter beim Manne (Pseudohermaphro-
ditismus masculinus internus). Mitgeteilt von Dr. Franz
von Neugebauer-Warschau 215
58 Beobachtungen von periodischen genitalen Blutungen
menstruellen Anscheins, pseudomenstruellen Blutungen,
Menstruatio vicaria, Molimina menstrualia usw. bei Schein-
zwittem. Mitgeteilt von Dr. Franz von Neugebauer-
Warschau 277
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— rv —
Seite
Vorläufige MitteiliiDgen über die Darstellang eines Schemas
der Geschlechtsdifferenzierongen. Von L. S. A. M. von
Böm er- Amsterdam 827
Aus dem Seelenleben des Grafen Platen. Von Prof. Ludwig
Frey 357
Die Bibliograpliie der Homosexualitftt für das Jahr 1903.
Von Dr. jur. Numa Praetorius 449
Teil I. Homosexuelle Schriften mit Ausnahme der
Belletristik . . ' 457
Teil II. Belletristik 595
TeilUL Besprechungen 642
Jahresbericht 1903—1904 647
Abrechnung für 1903 729
Bilderverzeichnis.
Graf V. Platen- Hallermünde Titelbild
Photographie eines femininen Mannes 327
Photographie zweier Frauen mit Vollbärten 449
Bild aus dem Kopenhagener ,, Verbrecheralbum": Ein im
Jahre 1869 wegen „widernatürlicher Unzucht" verhafteter
„Mann" 646
Standbild des Kaisers Hadrian auf der Saalburg, enthüllt am
16. Juni 1904 729
Standbild von F. A. Krupp in Kiel, enthüllt am 22. Juni 1904 730
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Homosexualität
und
Bürgerliches Gesetzbuch.
Von
Dr. jur. Numa Praetorius.
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Einleitung.
Die Hauptbedeutung der konträren Sexaalempfindung
für die Jurisprudenz liegt auf dem Gebiete des Straf-
rechts, der praktisch wichtigste Konflikt der Homo-
sexualität mit dem Gesetz wird durch § 175 des Straf-
gesetzbuchs hervorgerufen, der, trotzdem hunderte von
Männern aller Wissenschaften und aller Berufe, Medi-
ziner, Juristen, Gelehrte aller Fächer seine Aufhebung
verlangen, immer noch fortbesteht und die Homosexuellen
wegen ihres gleichgeschlechtlichen Verkehrs mit schimpf-
licher Strafe bedroht.
Bei dieser Wichtigkeit der strafrechtlichen Seite
der Homosexualität ist es nicht zu verwundern, wenn
gerade sie immer wieder zum Gegenstande der Erörte-
rung gemacht wird, während das Verhältnis der Homo-
sexualität zum Zivilrecht so gut wie nicht behandelt
worden ist. ^) Eine gleich große Bedeutung wie im Straf-
recht kommt der Homosexualität im Zivilrecht nicht zu,
aber auch hier spielt sie eine Rolle bei einer Anzahl von
Rechtsverhältnissen, auch hier werden manche Fragen
^) Nur Moll berübrt das Thema ia seiner Konträren
Sexualempfindung, 3. Aufl., S. 503 u. S. 580 — 583, ferner in
seinen Untersuchungen über die Libido sexualis, Bd. I,
Tl. 2, S. 693—695; zu erv^ähnen ist außerdem eine von Moll
angeführte Arbeit von Allan M^Lane Hamilton, The civil
responsibility of sexual pervcrts, in American Journal of
Insanity, April 1896, Nr. 4, welche mir leider nicht zugäng-
lich war.
1*
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— 4 —
eine verschiedene Lösung erfahren, je nachdem man
Wesen und Natur der konträren Sexualempfindung auf-
faßt Im Zivilrecht gleichfalls wird das bisherige Vor-
urteili welches in der Homosexualität ein Laster und
schändliches Verbrechen erblickt, zu ganz anderen Resul-
taten führen, als die Feststellung der Wissenschaft, wo-
nach die gleichgeschlechtliche Liebe den Ausfluß eines
dem Organismus eingepflanzten Triebes darstellt. Auf
dem Gebiete der Homosexualität ist zwar noch manches
streitig. Aber soviel steht doch schon auf Grund der
wissenschaftlichen Forschung der letzten 30 Jahre fest,
daß die bisherige Auffassung des gleichgeschlechtlichen
Verkehrs als eines Lasters und einer strafwürdigen Im-
moralität für fast alle Fälle falsch war und daß die
Urninge nicht gleichsam willkürlich die normalen Ge-
fühle aufgegeben haben, um sich aus freien Stücken der
Männerliebe zuzuwenden, sondern daß sie — wie Krafi't-
Ebing in einem seiner letzten Gutachten so trefl'end sich
ausdrückt — lediglich „dem Gesetz in ihren Gliedern
folgen". ')
Noch nicht völlig aufgeklärt ist dagegen die Frage
über die Entstehung der konträren Sexualempfindung;
Ob und zu welchem Prozentsatz dieser Trieb infolge
zwingender Assoziation in frühester Kindheit oder im
Pubertätsalter auf Grund äußerer und innerer Umstände
sich entwickelt oder ob er im Embryo schon latent
existiert und in der Bisexualität des Fötus seinen Ur-
sprung hat (einerseits Binet, Schrenk-Notzing usw., an-
dererseits EUis, Hirschfeld, Krafl't-Ebing, Moll, Näcke usw.).
Für die rechtliche Beurteilung der Homosexualität
sind diese Fragen aber überhaupt ohne Bedeutung, da-
') Krafft-Ebing, Drei Konträrsexuale vor Gericht,
in den Jahrbüchern für Psychiatrie und Neurologie,
Bd. XIX, Heft 2, 1900. (Vgl. mein Referat in diesem Jahrbuch^
JJd. III, S. 378.)
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-. 5 -
gegen ist von einschneidender Wichtigkeit die Tatsache^
daß unter den maßgebenden Forschern jedenfalls das
ah zweifellos gilt, daß es sich bei den Homosexuellen
nicht um Wüstlinge und Verbrecher, sondern um Leute
mit anormaler Oeschlechtsrichtung handelt, mag nun
diese Geschlechtsrichtung stets eingeboren oder öfters
erworben sein.
Eine wichtige Rolle wird sodann auch im Zivilrecht
die bestrittene Frage spielen und je nach ihrer Beant-
wortung zu anderen Ergebnissen fahren müssen, ob die
Homosexualität eine krankhafte oder natürliche Erschöi-
nung ist.
Beztighch dieses Punktes lassen sich wohl drei Haupt-
meinungen unterscheiden:
' 1. Die erste geht im wesentlichen dahin, daß die
konträre Sexualempfindung stets krankhaft sei, jedoch
nicht als vereinzelte krankhafte Erscheinung vorkomme,
sondern nur ein Symptom einer allgemeinen Degenera-
tion, nur einen Teil eines Komplexes von geistigen Er-
krankungen darstelle. Als Hauptvertreter dieser zahl-
reichen Gruppe^) konnte bis vor kurzem KrafFt-Ebing ^
*j Vgl. die bei Moll, Untersuchungen Über die Libido
sexualis, Bd. I, Tl. 2, S. 646figd. angeführten zahlreichen An-
hänger dieser Meinung.
*) In der letzten Zeit Beines Lebens hat sich Krafft-Ebing
mehr der unten angeführten dritten Ansicht zugewendet, denn in
dem Bericht für den 13. internationalen medizinischen
Kongreß zu Pari« 1900 (abgedruckt in den Archives de
Neurologie, Vol. X, 2. söiie, No. 59 u. 60, vgl. Jahrbuch III,
S. 384) sagt er, daß die sexuelle Perversion nach ihm nur das
Äquivalent des normalen Geschlechtssinnes bilde, und in seinen
neueren Studien auf dem Gebiete der Homosexualität, Jahrbuch III,
S. 7, gelangt er zu dem Ergebnis, daß das Vorhandensein konträrer
Sexualempfindung „nicht der Annahme einer üngetrübtheit der
seelischen Funktionen präjudiziere und mit normaler geistiger
Funktion verträglich sei**.
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— 6 —
gelten, der die konträre Sexualempfindung in den ver-
schiedenen Auflagen seiner Psychopathia sexualis als
„funktionelles Degenerationszeichen und Teilerscheinuiig
eines neuropsychopathischen , meist hereditär bedingten
Zustandes" definierte.
2. Die zweite Ansicht erblickt gleichfalls in der
Homosexualität stets eine krankhafte Erscheinung, nimmt
aber an, daß sie auch ganz vereinzelt als einziges Krank-
heitssymptom bei Menschen anzutrefl*en sei, die sonst
keine krankhaften Anzeichen aufwiesen.^)
3. Andere endlich, welche gleichfalls anerkennen,
daß die Homosexualität bei sonst durchaus normalen
Personen vorhanden sein könne, halten sie in diesem
Falle nicht für krankhaft, sondern nur dann, wenn sie
— was allerdings oft zuträfe — einen Teil eines Degene-
rationszustandes bilde. ^)
Alle Ärzte stimmen aber darin überein, daß die
konträre Sexualempfindung jedenfalls nur eine krankhafte
Erscheinung leichteren Grades und niemals eine
eigentliche Geisteskrankheit im engeren Sinne darstellt.
Teilt man eine der beiden ersteren Anschauungen,
sieht man also in der konträren Sexualempfindung eine
krankhafte Erscheinung, dann wird die Homosexualität
im Zivilrecht da eine Erörterung nötig machen, wo der
*) Moll, Die konträre Sexualempfindung, S. 407 flgd.,
und Untersuchungen über die Libido sexualis, Bd. I,
Tl. 2, S. 732.
*) Ellis u. Symonds, Das konträre Geschlechtsgefühl
(deutsch von Kurella, Bibliothek für Sozial Wissenschaft,
Bd. VII). — Hirschfeld, Die objektive Diagnose der Homo-
sexualität, Jahrbuch' I. — Derselbe, Der urnische Mensch,
Jahrbuch V. — Näcke, Probleme auf dem Gebiete der
Homosexualität, in der Allgemeinen Zeitschrift für
Psychiatrie und psychiatrisch • gerichtliche Medizin,
Bd. LIX, Heft 6.
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— 7 —
Einfluß geistiger Störungen in Betracht kommt, d. h.
namentlich:
a) Bei der Deliktsfähigkeit, d. h. bei der Verant-
wortung für unerlaubte schädigende Handlungen,
b) bei der Geschäftsfähigkeit,
c) bei der Entmündigung.
Hält man dagegen, wie ich es tue, mit der dritten
Gruppe die konträre Sexualempfindung nicht für krank-
haft, dann kann die Frage ihres Einflusses auf die Zu-
rechnungsfähigkeit gar nicht aufgeworfen werden.
unabhängig aber davon, ob die Homosexualität als
krankhafte Erscheinung zu gelten habe oder nicht, wird
sie von Bedeutung werden:
1. bei den Voraussetzungen der Gültigkeit der Ehe
und der Ehescheidung,
2. bei gewissen über die Enterbung und die Ali-
mentationspflicht geltenden Grundsätzen.
Da die meisten Ärzte die konträre Sexualempfindung
als krankhafte Erscheinung auffassen, werde ich von
diesem Gesichtspunkte aus die Bedeutung der Homo-
sexualität für die Deliktsfähigkeit, Geschäftsfähigkeit und
Entmündigung besprechen. Die praktische Wichtigkeit
dieser Frage ist jedoch eine geringere, im Vergleich zu
dem größeren praktischen Interesse, das die Erörterung
des Einflusses der Homosexualität auf die Ehe be-
ansprucht Deshalb werde ich mit der Behandlung
dieser wichtigsten Frage beginnen (erster Abschnitt) und
nach Besprechung der Beziehungen zwischen Homo-
sexualität und Enterbung im zweiten Abschnitt den
dritten Abschnitt der Frage nach dem Einfluß der
Homosexualität auf die Handlungsfähigkeit widmen.
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Erster Abschnitt.
Homosexualität und Ehe.
Die Homosexualität kommt im Eherecht nach zwei
Richtungen hin in Betracht: 1. bei der Frage der Gültig-
keit der Ehe, 2. bei der Ehescheidung.
Kapitel I.
Gültigkeit der Ehe.
Eine Ehe kann für ungültig erklärt werden aus
zweierlei Arten von Gründen: Gewisse Gründe hindern
überhaupt das gültige Zustandekommen einer Ehe, der-
art, daß die Ehe von vornherein nichtig ist, z. B. eine
Ehe zwischen nahen Verwandten; aber auch in diesen
Fällen bedarf es zur Feststellung der Nichtigkeit einer
Klage, der sogenannten Nichtigkeitsklage.
Andere Gründe berechtigen lediglich zur Anfech-
tung der Ehe; hier ist die Ehe an und für sich gültig
und erzeugt die vollen Wirkungen einer gültigen Ehe,
nachträglich kann aber die Ehe mit ihren Wirkungen
aufgehoben werden, derart, daß sie als von vornherein
nichtig betrachtet wird.
Die Ehe ist nichtig oder anfechtbar nur aus den in
dem Gesetz ausdrücklich bestimmten Gründen.
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— 9 —
§ 1-
Was nan die Nichtigkeit anbelangt, so kennt das
Gesetz unter den Nichtigkeitsgrtinden nicht das Vor-
handensein von seelischen oder körperlichen Zwischen-
stufen. Zunächst bilden nicht einmal körperliche Zwischen-
stufen, körperliche Hermaphrodisie oder Pseudoherma-
phrodisie (Mißbildungen an den Oeschlechtsteilen) einen
Nichtigkeitsgrund.
Obgleich körperliche Zwitter schon lange bekannt
sind, hat es das B.G.B. abgelehnt, besondere Bestim-
mungen für die Zwitter zu treffen. Das preußische Land-
recht (I, 1, §§ 19 — 23) enthielt verschiedene Vorschriften
hinsichtlich der Zwitter. Andere Gesetze, wie der Code
civil, das badische Landrecht, das österreichische Gesetz-
buch, übergehen sie. Ihrem Beispiel folgt das B.G.B.
Die Motive (Mugdan, „Materialien zum Bürgerlichen Ge-
setzbuch", Einführungsgesetz und Allgemeiner Teil I,
S. 370) besagen:
„Nach dem heutigen Stande der medizinischen
Wissenschaft darf angenommen werden, daß es weder
geschlechtslose, noch beide Geschlechter in sich ver-
einigende Menschen gibt, daß jeder sogenannte Zwitter
entweder ein geschlechtlich mißbildeter Mann oder ein
geschlechtlich mißbildetes Weib ist. Der im bayerischen
Landrecht I, 3, § 2^ und sächsischen Gesetzbuch § 46
aufgenommene Satz des römischen Rechtes (1 10, D 1, 5),
daß der Zwitter dem bei ihm überwiegenden Geschlecht
zuzuzählen sei, trifft das Richtige, folgt aber aus der
Sachlage von selbst; sobald die eine oder die andere
Form erkennbar vorliegt, handelt es sich um eine durch
Feststellung dieser Form lösbare Ungewißheit. Aller-
dings mögen auch Mißbildungen nicht schlechthin aus-
geschlossen sein, bei welchen die Feststellung des wahren
verdeckten Geschlechts durch Untersuchung des Lebenden
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— 10 —
sich Dicht bewirken läßt. Es wird jedoch ratsam sein,
von solchen entfernten Möglichkeiten, mit welchen auch
das bisherige Recht nicht rechnet, abzusehen und es da-
bei zu belassen, daß, wenn bei der Beurteilung von Ver-
hältnissen in Frage kommt, ob eine Person dem einen oder
dem anderen Geschlecht angehört, der Sachverhalt aber
nicht in Gewißheit gesetzt werden kann, diejenigen Rechts-
folgen eintreten, welche sich nach den Umständen aus dem
Zustande der Ungewißheit bezw. Unerweislichkeit ergeben."
Diese Ausführungen erscheinen mir zum großen
Teile recht bedenklich. Wie die neueren Forschungen
bewiesen haben, gibt es gar nicht selten Fälle, wo es
schwer, ja unmöglich ist, das Gescfilecht zu bestimmen,
und wo beide Organe, das eine mehr oder weniger ent-
wickelt als das andere, vorhanden sind. ^) Aber auch da,
wo ein Organ entschieden überwiegt und nur verkümmerte
Rudimente des anderen bestehen, genügt doch die Tat-
sache, daß solche Wesen oft jahrelang dem dem geringer
entwickelten Organ entsprechenden Geschlecht zugezählt
werden und oft auch den sexuellen Trieb dieses Ge-
schlechts verspüren, um zu zeigen, daß es eine gewisse
*) Vgl. vor allem die bedeutsamen Arbeiten von Neugebauer
in diesen Jahrbüchern, Bd. IT, IV und V, ferner Dr. Theodor
Landau, Über Hermaphroditen, nebst einigen Bemer-
kungen über die Erkenntnis und die rechtliche Stellung
dieser Individuen, in der Berliner Klinischen Wochen-
schrift, 13. April 1903, Nr. 15, welcher hervorhebt, daß es oft unmög-
lich ist, das Geschlecht eines sogenannten Hermaphroditen zu be-
stimmen, und es für unverständlich erklart, daß das B.G.B. keine
Bestimmung über Zwitter triflPt. Tatsächlich träfen die Voraussetzungen
der Motive nicht zu und darum liege eine offenkundige Lücke des
Gesetzes vor. — Vgl. auch die daselbst zitierten Worte von
Virchow, „es gäbe Leute, bei denen überhaupt keine ausgeprägten
Geschlechtsdrüsen vorhanden seien. Es existiere wirklich ein Indi-
viduum neutrius generis. Man könne sich daher anstellen wie
man wolle, so werde man eben doch nicht sagen können, es sei
eine Frau oder ein Mann."
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— 11 —
Willkür bedeutet, sie einem bestimmten Geschlecht ein-
zureihen und göltige Ehen solcher Zwitter wie zwischen
Mann und Frau zuzulassen.
Ebensowenig wie das körperliche Zwittertum sind
die seelischen Zwischenstufen unter den Nichtigkeits-
gründen aufgenommen.
§2.
Nun gibt es allerdings eine ganze Reihe von Gründen,
die im Gesetz nicht aufgezählt sind, die aber das Zu-
standekommen einer Ehe hindern, nämlich alle die Fälle,
wo es überhaupt an der natürlichen Grundlage einer Ehe
fehlt, wo eine Verbindung vorliegt, die gar nicht An-
spruch erheben kann, auch nur den Schein derjenigen Ver-
bindung zu bieten, welche das Gesetz als Ehe verstanden
haben will, so z. B. eine Ehe zwischen Kindern unter
7 Jahren oder eine Ehe zwischen Männern, da die Ehe
ihrem BegriflF nach, wie ihn das Gesetz kennt. Erwach-
sene und Personen verschiedenen Geschlechts voraus-
setzt. In allen diesen Fällen bedarf es gar keiner Klage
zur Feststellung der Nichtigkeit, es liegen nur tatsächliche
Verhältnisse vor, an die sich irgend welche rechtlichen
Folgen nicht knüpfen. ^) Demnach wäre z. B. eine Ehe,
die ein Homosexueller mit einem anderen Homosexuellen
oder mit einem Normalen einginge, z. B. in Weiberklei-
dung unter Beibringung falscher Papiere und Täuschung
des Standesbeamten, ganz und gar nichtig. Jedermann
könnte sich trotz des vollzogenen Trauaktes auf die
Nichtigkeit berufen, einer Feststellung der Nichtigkeit be-
dürfte es nicht.
Es ließe sich nun fragen, ob derartigen Fällen nicht
die Fälle, wo ein Homosexueller eine Frau heiratet,
gleichzustellen wären.
*) Vgl. Endemann, Einführung in das Studium des
B.G.B. Ein Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, Bd. II,
§ 160, Anm. 1.
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— 12 —
Im Sinne gewisser Homosexueller, die sich öfters
als drittes Geschlecht bezeichnen, könnte vielleicht be-
hauptet werden, der Homosexuelle sei gar kein wirklicher
Mann, folglich läge in einer Ehe mit einer Frau nur ein
tatsächliches Verhältnis.
Diese Argumentation wäre völlig unhaltbar. Wenn
es sich um körperliche Zwischenstufen bezw. körperliche
Hermaphrodisie handelt, dann kann allerdings der Fall
eintreten, daß Nichtigkeit angenommen wird, wenn z. B.
eine Person, die für einen Mann gehalten wurde, eine
Frau geheiratet hatte und später bei genauerer ärztlicher
Untersuchung als dem anderen Geschlecht zugehörig
erkannt wird.^) In solchen Fällen wird auch oft das
geschlechtliche Fühlen hermaphroditisch sein und beiden
Geschlechtem zuneigen. Eine Ehe wird aber in solchen
Fällen als nicht vorhanden angesehen nicht wegen des
geschlechtlichen Fühlens, sondern weil die Person auf
Grund ihrer Geschlechtsorgane dem gleichen Ge-
schlecht wie der andere Eheteil zugerechnet wird.
An und für sich kann dagegen nicht einmal ohne
Weiteres bei vorhandener körperlicher Herma- oder
Pseudohermaphrodisie von einer Scheinehe die Rede sein,
wie aus den oben angeführten Motiven, welche ausdrück-
lich die regelmäßige Gültigkeit von Ehen sog. Zwitter
anerkennen, hervorgeht
Die Homosexualität hat nun regelmäßig mit der
Hermaphrodisie überhaupt nichts zu tun, mag auch bei
letzterer manchmal psychische Hermaphrodisie mit der
körperlichen einhergehen.
*j Französische Gerichte haben sogar in Fällen, wo die Frau
der weiblichen Geschlechtsorgane fast ganz crmangelte, trotzdem
die Gültigkeit der Ehe angenommen, andere haben allerdings
wiederum in solchen Fällen die Nichtigkeit ausgesprochen. (Vgl.
Dalloz, Mariage, Suppldmcntdu Repertoire, Bd. X, No. 28
und 29.)
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— 13 —
Der konträre Manii und das konträre Weib weisen
zwar oft eine Anzahl sekundärer und tertiärer Geschlechts-
Charaktere des Weibes bezw. des Mannes auf, die sich
sogar in einem an das entgegengesetzte Geschlecht er-
innernden Gesamthabitus äußern können, regelmäßig
werden sie aber die Geschleclitsorgane des Mannes bezw.
des Weibes in normalei' Ausgestaltung besitzen. Nur
auf letzteren Umstand legt aber die bisherige Wissen-
schaft, auf der das Gesetz auch beruht, Gewicht. Wenn
nun das Gesetz sogar bei Mißbildungen der Geschlechts-
organe, bei vorhandenem Zweifel über das Geschlecht
eines angeblichen körperlichen Zwitters eine Ehe nicht
ohne Weiteres für nichtig hält, wird dies noch weit
weniger bei der Ehe Homosexueller der Fall sein. Der
bezw. die Homosexuelle, mögen sie schließlich noch so
weibisch oder männlich sein, gelten als Mann bezw. Weib
und die Ehe mit einer Frau bezw. Mann gilt als Ehe
zwischen Personen verschiedenen Geschlechts. Niemals
wird eine solche Ehe einer Scheinehe zwischen Personen
desselben Geschlechts gleichgestellt werden dürfen.
§ 3.
Die Homosexualität ist zwar kein Nichtigkeitsgrund^
kann aber bei der Anfechtung der Ehe bedeutsam werden»
Es fragt sich nämlich, ob ein Ehegatte, dem die zur
Zeit der Eheschließung schon vorhandene Homosexualität
des anderen Teiles verborgen geblieben war, wegen Irr-
tums die Ehe anfechten und somit für ungültig erklären
lassen kann.
a) Bei allen noch vor Inkrafttreten des B.G.B. —
also vor 1900 — geschlossenen Ehen beurteilt sich die
Frage gemäß Art 198 E.G. z. B.G.B. nach dem bis-
herigen Landesrecht.
Nach den bis 1900 in Geltung befindlichen einzelnen
Landesrechten war die Frage der Anfechtung einer Elift
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— 14 —
wegen Irrtums sehr verschieden normiert und überhaupt
im allgemeinen ziemlich streitig.^]
Das kanonische Recht berücksichtigt als trennendes
Ehehindemis nur den Irrtum über die Person und den
freien Stand. Dagegen ist nach der herrschenden An-
sicht der Irrtum über Eigenschaften der Person gleich-
gültig. Auf einem ähnlichen Standpunkt steht auch das
protestantische Kirchenrecht. Doktrin und Praxis neigen
aber dazu, einzelne Fälle des Irrtums über persönliche
Eigenschaften^ z. B. Schwangerschaft oder Mangel der
Virginität der Frau, sowie auch Impotenz als Anfech-
tungsgrund anzuerkennen. Der Code civil kennt eine
Ungültigkeit wegen Irrtums über Eigenschaften nicht und
die herrschende Anschauung erklärt den Irrtum über
bloße Eigenschaften für belanglos^ während eine Anzahl
Schriftsteller allerdings auch den Irrtum über soziale,
moralische und sogar physische Eigenschaften für erheb-
lich erachtet.^
Nach diesen Rechten ist demnach jedenfalls nach
herrschender Auffassung auch ein Irrtum über die Hetero-
sexualität bedeutungslos.
Das sächsische Gesetzbuch hat die Frage ziemlich
kasuistisch geregelt. Unter anderem gilt die Einwilligung
beim Eheabschluß für ausgeschlossen, wenn der andere
Ehegatte schon vor der Ehe mit gewissen näher bezeich-
neten unheilbaren geistigen oder körperlichen Krank-
heiten oder Gebrechen behaftet, namentlich unheilbar
unfähig zum Beischlaf gewesen ist oder wenn er „wider-
natürliche Unzucht" mit einem Menschen getrieben oder
wenn der eine Ehegatte erst nach der Ehe erfährt, daß
der andere nach dem vorangegangenen Verlöbnis eine
*) Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürger-
lichen Gesetzbuch, Familienrecht, S. 42 u. 43.
») Vgl. Zachariä-Crome, Bd. III, § 437, Anm. 1 u. 3.
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— 15 —
unzüchtige Handlung begangen hat, wegen deren die
Ehescheidung verlangt werden könnte. In Sachsen würde
demnach ftir Ehen, die vor 1900 geschlossen sind, die
Homosexualität die Ungültigkeit der Ehe rechtfertigen,
wenn sie Impotenz bewirkt oder wenn sie vor der Ehe
zu einer gleichgeschlechtlichen unter § 175 fallenden
Handlung geführt hat.
Das preußische Landrecht berücksichtigt dagegen
den Irrtum in weiterem Maß und erklärt ihn für erheb-
lich, wenn er sich auf solche Arten persönlicher Eigen-
schaften bezieht, die bei Schließung der Ehe vorausge-
setzt zu werden pflegen.
Welche Eigenschaften als Anfechtungsgrund aner-
kannt werden, erscheint nicht unzweifelhaft Während z.B.
Förster^) hervorhebt, daß der Richter sich an die spe-
ziellen, von dem protestantischen Kirchenrecht als An-
fechtungsgründe anerkannten Fälle (Mangel der Yirginität
der Frau, unheilbare Impotenz des Mannes, unheilbare
ekelerregende Krankheit] zu halten habe, um ein all-
zugroßes Arbitrium zu vermeiden, scheint das Reichs-
gericht*) keine Spezialisierung der Fälle für notwendig
zu erachten und schließt sich der Anschauung der Kirchen-
schriftsteller an, welche ganz allgemein Mängel, die das
Wesen der Ehe unmittelbar gefährden, für erheblich er-
achten und als Anfechtungsgrund anerkennen „die Nicht-
kenntnis ungewöhnlicher, die Persönlichkeit so nahe
angehender Eigenschaften, daß man aus in der sitt-
lichen Natur .der Ehe beruhenden Gründen voraussetzen
muß, der andere Teil würde, wenn er über jene Eigen-
schaften unterrichtet gewesen wäre, in die Eheschließung
nimmermehr eingewilligt haben.*'
') Theorie und Praxis des preußischen Privatrechts,
Bd. 111, § 203, S. 501.
») R.G., Bd. XVII, S. 248.
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— 16 —
Demnach dürfte die Anfechtung wegen Irrtums über
Eigenschaften nach preußischem Recht ungefähr unter
denselben Voraussetzungen zulässig sein wie nach dem
B.G.B. Die folgenden auf das B.G.B. bezüglichen Aus*
fuhrungen werden daher auch im großen und ganzen von
der Anfechtung nach preußischem Recht gelten.
b) Bei allen seit 1900 geschlossenen Ehen findet
lediglich das B.G.B. Anwendung und zwar behandelt
§ 1333 die Frage der Anfechtung einer Ehe wegen Irr-
tums. Dieser Paragraph lautet:
;^Eine Ehe kann von dem Ehegatten angefochten
werden, der sich bei der Eheschließung in der Person
des anderen Ehegatten oder über solche persönliche
Eigenschaften des anderen Ehegatten geirrt hat, die ihn
bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdi-
gung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe
abgehalten haben würden."
Bildet nun die Homosexualität eine solche Eigenschaft,
wie sie der zweite Satz dieses Paragraphen im Auge hat?
Das Gesetz definiert den Begriff der „persönlichen
Eigenschaft" nicht, ebensowenig tun dies die Motive.
So viel steht fest und erhellt deutlich aus den Proto-
kollen, sowie aus den Beratungen der Reichstagskommis-
sion, welche „die Verhältnisse" gestrichen hat, ^) daß per-
sönliche Verhältnisse, d. h. äußere Umstände im Gegen-
satz zu persönlichen Eigenschaften nicht unter § 1333
fallen, d. h. nicht eine Eigenschaft zur persönlichen
im Sinne des Paragraphen stempeln. Aber damit ist
noch nicht gesagt, welche Eigenschaften als persönliche
zu betrachten sind. Da der Begriff „persönliche Eigen-
schaft" vom Gesetz nicht begrenzt ist, so hat man den-
selben in weitestem Sinne aufzufassen, mit der Einschrän-
kung, daß Eigenschaften, welche lediglich durch Um-
*) Mugdan, Materialien zum B.G.B., Familienreclit>
S. 713 u. 1210.
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— 17 —
stände und Verhältnisse einer Person zukommen, eben
nicht als persönliche im Sinne des Gesetzes zu gelten
haben. So sagt denn z. B. auch Endemann :^] ,, Unter
persönlichen Eigenschaften sind alle geistigen^ sittlichen^
körperlichen Eigenschaften zu verstehen", femer: „Der
Ton liegt auf dem, was die Eigenart der Persönlichkeit
ausmacht/'
Die Richtung des Geschlechtstriebes, Hetero- oder
Homosexualität; ist nun sicherlich als eine persönliche
Eigenschaft zu betrachten. Hat die Homosexualität Un-
möglichkeit der Erektion beim Weibe und daher Unfähig-
keit zum normalen Coitus zur 'Folge, so wird sie schon
dieser Impotenz wegen einen Änfechtungsgrund abgeben.
Denn die Impotenz wird allgemein zu den die Anfech«
tung begründenden Mängeln gerechnet.^
Aber auch dann, wenn trotz der Homosexualität die
Fähigkeit zum normalen Verkehr mit dem Weibe besteht^
muß die Richtung des Geschlechtstriebes als persönliche
Eigenschaft aufgefaßt werden. Die Homosexualität ver-
leiht dem Homosexuellen ein eigenartiges Gepräge, sie
wurzelt in seiner Natur und bringt nicht bloß auf ge-
schlechtlichem Gebiet, sondern im gesamten Fühlen,
Denken und Wollen, ja sogar im äußeren Habitus eine
') Endemann, oben zitiert, Bd. II, S. 65; Anm. 8 nennt
er als Beispiele: VerschwendungsBucht , QuerulantenwahnBinn,
quartalweise auftretendes Delirium, Mangel der Jungfrauschaft,
Schwangerschaft, Impotenz, geheime, ekelhafte Krankheiten. —
Vgl. auch Seidlmayer, in Jherings Jahrbüchern, 2. Folge,
Bd. X, Heft 3 u. 4, 1903, Über Personen- und Eigenschafts-
irrtum bei der Eheschließung nach B.G.B., insbesondere
S. 214 u. 215.
•) Vgl. Die Motive, Mugdan, S. 1210. — Ferner Kuhlen-
beck, B.G.B., zu § 1333, Anm. 2. — Staudinger, B.G.B.,
zu § 1338, Anm. 2^ — Endemann, B.G.B., Bd. 11, S. 65. —
Frühere Bechte, wie z. B. das sächsische Landrecht, erklärten
ausdrücklich den Irrtum über die Beischlaff&higkeit für erheblich.
Jahrbuch VI. 2
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— 18 —
Anzahl von Gestaltungen hervor, die ihn vom normalen
Manne unterscheiden und ihn geradezu als Zwischen-
stufe zwischen beiden Geschlechtern charakterisieren.
Dabei ist es einerlei, ob man, wie ich es tue, die
Homosexualität lediglich als physiologische Erscheinung
betrachtet oder ob man sie für ein krankhaftes Symptom
hält, denn zu den relevanten Mängeln persönlicher Eigen-
schaften sind insbesondere auch geistige Defekte zu zählen. ^)
Desgleichen wird § 1333 B.G.B. Anwendung finden
können, wenn man, den bisherigen Vorurteilen folgend,
die Homosexualität als Laster betrachtet, sowie in den
seltenen Fällen, wo gleichgeschlechtlicher Verkehr Nor-
maler vorliegt, z. B. in den Fällen der Prostitution
Normaler aus Gewinnsucht, denn auch die Eigenschaften
des Charakters stellen sich als persönliche dar, so z. B.
schreibt Endemann gewissen Handlungen, welche einen
Rückschluß auf einen verwerflichen Charakter zulassen,
die Bedeutung bei, daß sie die Anfechtung ermöglichen.
Von letzterem Gesichtspunkte aus wird man überhaupt
das absichtliche Verschweigen der Homosexualität bei
Abschluß der Ehe — ganz ohne Rücksicht darauf, ob
man die Homosexualität für eine physiologische oder
krankhafte oder lasterhafte Erscheinung hält — als An-
fechtungsgrund ansehen können, insofern in dieser Ver-
heimlichung oft die „persönliche Eigenschaft« der un-
ehrenhaften Gesinnung zu erblicken ist.*)
*) Die Protokolle, vgl. Mugdan, Familienrecht, S. 724, er-
wähnen ausdrücklich gewisse Krankheiten, neben Tuberkulose,
Syphilis auch Epilepsie. -— Kuhlenbeck, B.G.B., zu § 1383,
nennt „geistige Defekte, Schwachsinn, auch geringeren Grades,
Geisteskrankheit oder Disposition zu einer solchen, Belastung mit
einem Krankheitskeim, der sich auf die Kinder vererbt". — Ende-
mann, B.GB., oben S. 17, Anm. 1 zitiert, erwähnt zeitweise auf-
tretendes Delirium, Querulantenwahnsinn.
*) Planck, zu § 1383, Anm. 2 a, der zu den persönlichen
Eigenschaften ausdrücklich „Lauterkeit des Charakters" zählt. —
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— 19 —
Ein Schriftsteller Holder*) definiert den Begriff der
„persönlichen Eigenschaft'^ anders als die herrschende
Meinung, Er nimmt solche Eigenschaften aus, die bei
jedermann mehr oder weniger vorhanden sind, z. B.
Intelligenz, Gedächtnis, Klugheit usw. ,,Die Bestimmung
des Gesetzes umfasse nicht den Irrtum über die Art
oder die Ausdehnung, in der eine bestimmte Eigenschaft
dem anderen Ehegatten zukomme/^
Im Sinne von Holder könnte man deshalb vielleicht
geneigt sein, da der Geschlechtstrieb bei jedermann be-
steht, einen Irrtum über seine Gestaltung für belanglos
zu halten. Man könnte vielleicht um so eher dazu ge-
langen, weil Holder insbesondere Irrtum über körper-
liche Mängel — ja sogar Impotenz (worin er zweifellos
Unrecht hat) — nicht als Anfechtungsgrund anerkennt.
Die ganze Auffassung Hölders über die persönlichen
Eigenschaften halte ich aber für irrig. Einmal schränkt
er diesen Begriff in unzulässiger Weise ein, indem er
nicht die Eigenschaften des Körpers und Geistes an und
für sich dazu rechnet, andererseits dehnt er den Begriff
in einer dem Gesetz nicht entsprechenden Weise aus,
indem er auch die durch äußere Verhältnisse bedingten
Eigenschaften dazu zählt
Selbst aber, wenn man die Begriffsbestimmung Höl-
ders billigen würde, müßte man doch immer die kon-
träre Sexualempfindung als persönliche Eigenschaft im
Sinne des § 1333 betrachten.
Denn nach Holder sind persönliche Eigenschaften
solche, „denen Bedeutung für die Persönlichkeit ihres
Inhabers zukommt, so daß diese im Falle der Existenz
Ferner Heymann, Zum persönlichen Eherecht, in der
Deutschen Juristen-Zeitung, Nr. 5, 1902, S. 111.
^) Die Anfechtung der Ehe wegen Irrtums über die
Person, in Jherings Jahrbüchern, 2. Folge, 6, Bd. XLII,
Heft 1—3.
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— 20 —
der Eigenschaft eine andere ist; als im Falle ihrer
Abwesenheit", Bei der Wichtigkeit der konträren Sexaal-
empfindung für die gesamte Persönlichkeit trifft die De-
finition jedenfalls auch für die Homosexualität zu.
c) Die Anfechtung findet nur statt, wenn bei Ab-
schluß der Ehe ein Irrtum des einen Ehegatten über die
persönlichen Eigenschaften des anderen bestand. Dabei
ist es gleichgültig, ob der getäuschte Teil den Irrtum
verschuldet hat oder nicht, also ob er durch Nach-
forschungen oder Erkundigungen die wahre Natur des
anderen hätte entdecken können. Wenn dagegen der
eine Teil die konträre Sexualempfindung des anderen
kennt, z. B. indem der Konträre seine Ehehälfte vor der
Ehe aufgeklärt hat, dann ist die Anfechtung nicht zu-
lässig. Zweifel können allerdings über die Frage ent-
stehen, ob eine wirkliche Aufklärung stattfand, z. B. sind
bloße Andeutungen nicht genügend, die tatsächlich nicht
verstanden oder mißverstanden wurden, mag sie der Kon-
träre auch für hinreichend gehalten haben, dem anderen
Teil über die wahre Sachlage Aufschluß zu geben.
Unerheblich ist es sodann, ob der Mangel einer vor-
ausgesetzten Eigenschaft verschuldet ist oder nicht. Die
erworbene Homosexualität in Fällen, wo man ihre Ent-
stehung bezw. Entwicklung auf ein Verschulden des
Homosexuellen zurückführen will, ist bezüglich.der Frage
der Anfechtung ebenso zu behandeln, wie die angeborene
Homosexualität, desgleichen kommt es an und für sich
nicht darauf an, ob die Homosexualität schon vor der
Ehe zu gleichgeschlechtlichen Handlungen geführt hatte
oder nicht. An und für sich genügt vielmehr die Tat-
sache, daß das Gefühlsleben ein durchaus abnormes ist,
im Einzelfalle kann aber die Frage, ob etwa vor der
Ehe gleichgeschlechtlicher Verkehr gepflogen worden ist
oder nicht, bei der Anwendung des § 1333 von Bedcu«
tung werden (s. weiter unten).
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— 21 —
Nicht jeder Irrtum über das Geschlechtsgefühl be-
gründet aber das Recht auf Anfechtung der Ehe, viel-
mehr muß der Irrtum ein derartiger sein, daß, wenn
der andere Ehegatte die ihm unbekannt gebliebenen
Fehler gekannt hätte, dies ihn bei verständiger
Würdigung des Wesens der Ehe von deren Ein-
gehung, abgehalten haben würde.
Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ent-
scheidend „einmal der subjektive Standpunkt des sich
irrenden Ehegatten; von ihm aus, für seine Verhältnisse,
Bildungsgrad usw., muß der Mangel in den persönlichen
Eigenschaften des anderen Ehegatten als wesentlich er-
scheinen''. ^) Hiermit muß sich aber außerdem verbinden,
„daß nach objektiver Würdigung der Mangel mit der
Erfüllung der sittlichen Aufgaben und der natürlichen
Zweckbestimmung der Ehe unvereinbar wäre".^ Diese
beiden subjektiven und objektiven Kriterien werden oft
beim Irrtum über die HeteroSexualität vorhanden sein.
Regelmäßig würde die Kenntnis von der bei dem einen
Ehegatten bestehenden Homosexualität den anderen von
dem Abschluß der Ehe abgehalten haben und durch-
gängig wird man es als eine verständige Würdigung des
Wesens der Ehe betrachten, wenn der getäuschte Teil
wegen der homosexuellen Natur des anderen die Ein-
gehung der Ehe verweigert hätte.
Die Homosexualität ist für beide Teile von so ein-
schneidender Bedeutung, daß sehr oft einem Ehegatten
nicht zuzumuten ist, mit einem (oder einer) Homosexuellen
zusammen zu leben. Die Homosexualität bewirkt eine
Disharmonie im Denken, Fühlen und Wollen zwischen
den Ehegatten, sie zwingt den Homosexuellen, mit der
Lüge, durch die er durch das Leben geht, in die Ehe
*) Endemann, Familienrecht, § 162, Nr. 2, S. 658.
«) Ibid.
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— 22 —
zu treten und seine geheime und wahre Natur seiner
Ehehälfte zu verbergen, sie hindert eine seelische Ge-
meinschaft, wie sie das Wesen einer echten Ehe voraus-
setzt. Oft wird sie auch die körperliche Vereinigung
unmöglich machen, stets aber den Geschlechtsverkehr für
den homosexuellen Teil als lästige Pflicht erscheinen
lassen und dem anderen mehr oder weniger als solche
fühlbar werden. Die konträre Sexualempfindung, indem
sie den davon Betroffenen in Gefahr bringt, seiner Natur
nachzugeben und gleichgeschlechtlichen Verkehr zu pflegen,
bringt femer die Gefahr der sozialen Achtung des Homo»
sexuellen, ja sogar der strafrechtlichen Verfolgung mit
sich, demnach nicht nur die Gefahr, daß die inneren Be-
dingungen einer glücklichen Ehe nicht vorhanden sind,
sondern auch, daß die äußeren durch Schande, soziale
Vernichtung und Verlust der äußeren Stellung zerstört
werden. Endlich besteht auch die Möglichkeit der Ver-
erbung der Anomalie in derselben oder anderer Form
auf die Nachkommen.
In den Fällen, wo die Homosexualität schon seit
der Ehe zu gleichgeschlechtlichen Handlungen geflihrt,
wo sich durch greifbare Tatsachen die Wichtigkeit und
Gefährlichkeit der Homosexualität für ein ersprießliches
eheliches Zusammenleben ergeben hat, wird man am
ehesten den Irrtum des einen Teils über die Geschlechts-
natur des anderen für erheblich erachten. In diesen
Fällen wird ja oft auch Ehescheidung möglich sein und
die Wahl zwischen Ehescheidungs- und Anfechtungsklage
bestehen, es können aber auch wenigstens die Voraus-
setzungen der Ehescheidungsklage fehlen (z. B. bei bloßer
gegenseitiger Onanie oder Homosexualität des Weibes
und Mangel der Voraussetzungen des § 1568 B.G.B.).
Wenn lediglich vor der Ehe, dagegen nicht mehr
nach der Ehe gleichgeschlechtlicher Verkehr stattge-
funden hat, bezw. ein solcher Verkehr nicht mehr nach-
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— 23 —
weisbar ist, werden eher Zweifel über die Zulässigkeit
der Anfechtung aufkommen. Gerade in solchen Fällen
ist § 1333 besonders praktisch wichtig, da hier mangels
nachweisbarer homosexueller Akte seit der Ehe eine Ehe-
scheidungsklage auf Grund der Homosexualität nicht er-
hoben werden kann. Bei der Entscheidung dieser Frage
über die Anwendbarkeit des § 1333 wird alles auf die
Umstände im konkreten Falle ankommen. Hier haben
die Sätze zu gelten: ,,Die Gründe haben bloß relative
Bedeutung, die Umstände des Falles entscheiden."^)
„Die Würdigung ist vom Standpunkte der Individualität
und der individuellen Interessen des Irrenden vorzu-
nehmen."^
So z. B. kann es vorkommen, daß die Frau durch
Anzeige eines früheren Geliebten ihres Ehemannes von
dessen Homosexualität und früherem gleichgeschlechtlichen
Verkehr erfährt oder daß der Homosexuelle seiner Frau
seine wahre Geschlecbtsnatur eingesteht.^ Seit der Ehe
hat aber der Homosexuelle vielleicht nicht den mindesten
Verdacht gleichgeschlechtlichen Verkehrs auf sich ge-
laden und durch sein Verhalten die Hoifnung erweckt,
seinem Triebe nicht mehr zu erliegen. Die homosexuelle
Natur des Gatten hat sich nach keiner Richtung hin
störend geltend gemacht und auch sonst ist das Zusammen-
leben vielleicht kein schlechtes gewesen. Hier wird nicht
ohne Weiteres anzunehmen sein, daß die Ehefrau, wenn
sie die Homosexualität gekannt hätte, die Ehe nicht
eingegangen wäre, denn ein homosexueller Trieb, den der
Mann insoweit beherrschen kann, daß er auf seine Be-
tätigung verzichtet, und der ihn andererseits an einem
^) EndemanD, Familienrecht, § 162.
*) Heymann, ZumpersönlichenEhereclit, inderDeut-
schen Juristen-Zeitung, Nr. 5, 1902, S. 112; ebenso Holder,
B.G.B., § 119, undinJherings Jahrbüchern, Bd. XLII, S. 29.
^) Ein solches freiwilliges Bekenntnis ist mir bekannt.
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— 24 —
bis zur zufälligen Entdeckung der Anomalie ertxäglichen
Zusammenleben mit der Frau nicht hindert, kennzeichnet
nicht ohne Weiteres die Ehe als ein unhaltbares Ver-
hältnis. Hier wird der Richter insbesondere zu prüfen
haben, ob nicht etwa der andere Teil die Entdeckung
der Homosexualität als Vorwand benützt, um aus sonstigen,
an und für sich nicht triftigen Gründen die Anfechtung
der Ehe herbeizuführen.
Noch größere Schwierigkeiten bietet der Fall, wo
der Homosexuelle überhaupt noch niemals homosexuellen
Verkehr gepflogen hat, andererseits die Möglichkeit eines
normalen Coitus mit der Frau besteht.
Derartige Homosexuelle gibt es, die, obgleich über
ihre Natur völlig im Unklaren, aus den verschiedensten
Gründen Enthaltsamkeit geübt und vielleicht gerade
zwecks „Heilung" geheiratet haben. Auch hier wird die
Elitscheidung, ob § 1333 Anwendung zu finden habe
oder nicht, davon abhängen, ob und inwiefern die kon-
träre Sexualempfindung des einen Gatten störend auf
das eheliche Zusammenleben eingewirkt hat. Eine An-
fechtung auf Grund des § 1333 ist keineswegs ausge-
schlossen, da die Anfechtungsgründe durchaus relativer
Natur sind und dem subjektiven Standpunkt des im Irr-
tum befindlichen Ehegatten, sowie seinen sittlichen und
religiösen Anschauungen eine Hauptbedeutung zukommt
Die eigenartige Geschlechtsnatur des Homosexuellen
kaim z. B. schon längst eine tiefe Disharmonie, eine
völlige Zerrüttung des ehelichen Lebens hervorgebracht
haben. Wenn nunmehr der Ehegatte nach Entdeckung
des wahren Grundes des gespannten und unbefriedigenden
Ehelebens — der* Homosexualität des anderen Teiles —
die Gewißheit erlangt, daß er für immer auf ein eheliches
Zusammenleben, das den Namen eines Ehebundes ver-
dient, verzichten muß, und in seinem sittlichen Gefühl
durch den Gedanken einer lebenslänglichen Verbindung
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— 25 —
mit einem dem eigeDen Geschlecht in. Liebe zugewandten
Gatten aufs tiefste verletzt wird, so vermag sein Irrtum
über die Geschlechtsnatur des anderen Teiles die An-
fechtung der Ehe zu rechtfertigen.^)
Andererseits wird es wieder Fälle geben, wo auch
dann, wenn gleichgeschlechtliche Handlungen vor oder
sogar nach der Ehe vorgekommen sind, trotzdem der
Irrtum über die Geschlechtsnatur bedeutungslos ist. Z. B.
wenn ein homosexueller Mann mit einer homosexuellen
Frau einen Ehebund eingeht oder wenn ältere Leute
sich heiraten, die dabei von vornherein eher einen
Freundschafts-, als einen Ehebund im Auge haben und
dem Geschlechtsleben sowie den auf seinem Boden ent-
springenden Gefühlen keine oder nur geringe Bedeu-
tung beimessen. Hier läßt sich oft behaupten, daß
auch die Ehe bei verständiger Würdigung ihres Wesens
und bei Kenntnis der Sachlage abgeschlossen worden
wäre.
d) Eine besondere Art der Anfechtung der Ehe
wegen Irrtums ist der Fall der Anfechtung wegen arg-
listiger Täuschung:
§ 13B4 bestimmt: „Eine Ehe kann von dem Ehe-
gatten angefochten werden, der zur Eingehung der Ehe
durch arglistige Täuschung über solche Umstände be-
stimmt worden ist, die ihn bei Kenntnis der Sachlage
und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe
von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden."
*) Die Anfechtung einer Ehe wegen sexueller Anomalie erkennt
auch an: Ho che (Berlin 1901, Verlag Hirsch wald) in seinem Lehr-
buch der gerichtlichen Psychiatrie S. 345 : „Die sexuellen Anomalien
müssen in zweifacher Hinsicht gewürdigt werden. Einmal wird durch
sie die sexuelle Seite des Ehelebens direkt berührt und auch auf diese
nimmt das Gesetz Rücksicht; und dann ist zu befurchten, daß bei
erhaltener Potenz die Anomalie in gleicher oder ähnlicher Form
bei den Deszendenten auftritt."
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\
— 26 —
Während § 1333 die Anfechtung der Ehe nur wegen
Irrtums über persönliche Eigenschaften gestattet, läßt
§ * 1 334 die Anfechtung zu wegen Irrtums nicht bloß
über persönliche Eigenschaften, sondern über alle Um-
stände, die bei Kenntnis der Sachlage und bei verstän-
diger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung
der Ehe abgehalten haben würden, falls der Irrtum durch
arglistige Täuschung hervorgerufen worden ist.
Insofern es sich daher um Irrtum über eine persön-
liche Eigenschaft handelt, also bei der Anfechtung wegen
Homosexualität, ist § 1334 praktisch für die Anfechtung
ohne Bedeutung, da eine Anfechtung ohne Rücksicht auf
arglistige Täuschung schon auf Grund des Irrtums mög-
lich ist.
Würde man dagegen die Homosexualität nicht für
eine persönliche Eigenschaft im Sinne des § 1333 halten,
dann wäre die Anfechtung wegen Irrtums nur beim Vor-
handensein der Voraussetzungen des § 1334 zulässig,
d. h. der Irrtum müßte durch arglistige Täuschung
hervorgerufen sein. Demnach müßte in erster Linie der
homosexuelle Ehegatte bei Eingehung der Ehe Kenntnis
von seiner Homosexualität gehabt haben. Nicht immer
aber würde schon die Tatsache dieser bloßen Kenntnis
auf arglistige Täuschung schließen lassen, z. B. wenn
der Homosexuelle sich keine deutliche Rechenschaft seiner
Anomalie und ihrer Wichtigkeit für das Eheleben gibt;
sein Verhalten müßte sich vielmehr als eine absicht-
liche Täuschung des Willensentschlusses des Gegners
durch Vorspiegelung falscher oder Entstellung oder Unter-
drückung wahrer Tatsachen charakterisieren (also durch
die Vorspiegelung, er sei heterosexuell, durch Unter-
drückung der Tatsache seiner Homosexualität.^)
0 Vgl. Endemann, Bd. 1, § 73, S. 312.
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— 27 —
Kapitel II.
Ehescheidung.
Die Homosexualität kann von besonderer Wichtig-
keit lür die Frage der Ehescheidung werden. Während
eine Aufhebung der Ehe gemäß § 1333 eine Nichtig-
keitserklärung der Ehe bedeutet, d. h. bewirkt, daß die
Ehe als nie geschlossen gilt, hat die Ehescheidung
nur zur Folge, daß die Ehe durch das Urteil aufgelöst
wird, an der Gültigkeit der Ehe bis zur Scheidung wird
dagegen nichts geändert. Nichtigkeitserklärung und Schei-
dung der Ehe haben demgemäß auch verschiedene prak-
tische Wirkungen.
Der während der Ehe gepflogene gleichgeschlecht-
liche Verkehr bildet einen Scheidungsgrund einmal gemäß
§ 1565 B.G.B., wonach ein Ehegatte auf Scheidung klagen
kann, wenn der andere Ehegatte sich des Ehebruchs
oder einer nach den §§ 171, 175 StG.B. strafbaren Hand-
lung schuldig macht. Wird ein unter § 175 fallender
Verkehr nachgewiesen, so muß die Ehescheidung auf An-
trag des anderen Teiles hin ausgesprochen werden, denn
die in § 1565 B.G.B. angeführten J'älle stellen absolute
Scheidungsgründe dar. Da nach den Entscheidungen des
Reichsgerichts unter widernatürlicher Unzucht im Sinne
des § 175 SiG.B. nicht nur inmissio penis in anum, son-
dern auch sogenannte beischlafsähnliche Handlungen ge-
meint sein sollen, so müssen auch die letzteren Handlungen
als Scheidungsgrund anerkannt werden, dagegen wird
gegenseitige Onanie, weil nicht unter § 175 fallend, keinen
Scheidungsgrund nach § 1565 B.G.B. abgeben. Weil femer
die Handlung eine solche sein muß, die den Tatbestand
des § 175 erfüllt, so erfordert sie eine schuldhafte Be-
gehung im strafrechtlichen Sinne; wenn demnach auch
eine dem objektiven Tatbestand des § 175 entsprechende
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- 28 —
Handlung vorliegt, aber die subjektive Seite, z. B. wegen
Unzurechnungsfähigkeit, fehlt, ist die Ehescheidung auf
Grund § 1565 B.G.B. unzulässig. Hierbei ist aber der
Zivilrichter an eine Entscheidung des Strafrichters, welcher
einen Homosexuellen des Vergehens gegen § 175 St.G.B.
lediglich wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen
hatte, nicht gebunden, er kann vielmehr die subjektive Seite
frei würdigen und zur Annahme gelangen, daß der Be-
klagte für das strafbare Vergehen gegen § 175 verant-
wortlich zu machen ist und daß demgemäß die Voraus-
setzungen des § 1565 B.G.B. gegeben sind. Ist die Tat ver-
jährt, d. h. sind 5 Jahre seit der Begehung verstrichen,
und hatte der klagende Teil keine Kenntnis von der
strafbaren Handlung des Beklagten (bezw. hatte er noch
innerhalb 6 Monate nach erlangter Kenntnis Eheschei-
dungsklstge erhoben,^) so kann die homosexuelle Hand-
lung trotzdem noch als Ehescheidungsgrund benutzt wer-
den, da richtiger und herrschender Auffassung nach die
Verjährung nur den Strafanspruch des Staates, nicht aber
die Rechtswidrigkeit der Handlung beseitigt.*)
Das Becht auf Scheidung ist ausgeschlossen, wenn
der Ehegatte der homosexuellen Handlung zugestimmt
hat. Diese Zustimmung kann ausdrücklich oder still-
schweigend erfolgen. Eine stillschweigende Zustimmung
ist unter Umständen schon dann anzunehmen, wenn die
Frau den fortgesetzten homosexuellen Verkehr ihres
Mannes kennt und trotzdem keinen Einspruch dagegen
erhebt und nicht auf Abstellung des Verkehrs drängt,
ihn also geradezu duldet.
^) Die Scheidungsklage muß in den Fällen der §§ 1565 bis
1568 binnen 6 Monaten von dem Zeitpunkte an erhoben werden,
in dem der Ehegatte von dem Scheidungsgrunde Kenntnis erlangt
(§ 1571, Satz 1).
*) Liszt, Lehrbuch des Strafrechts, S. 263 (6. Aufl.). —
Kries, Lehrbuch des deutschen Strafprozeßrechts, S. 8.
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— 29 —
Derartige Ehen, in welchen die Frau den gleichge-
schlechtlichen Verkehr ihres Mannes kennt und aus den
verschiedensten Motiven (aus Furcht vor Skandal, aus
Gleichgültigkeit oder aus dem Streben, ihrerseits freie
Hand zu haben, sogar aus Verständnis für die Natur
des Mannes) nicht dagegen einschreitet, sind nicht selten.
Die Frau kann selbstverständlich jeden Augenblick
ihre Zustimmung zurücknehmen, bezw. indem sie Ein-
spruch erhebt, ihre Mißbilligung zu erkennen geben. Auf
den von diesem Angenblick an fortgesetzten homosexuellen
Verkehr kann sie dann die Ehescheidungsklage stützen.
Sie muß aber ernstlich ihren Willen auf Unterlassung
des Verkehrs kundgetan haben; ihr Protest, der nach
längerer frtiherer Duldung erfolgt, darf sich nicht als
ein bloß formeller, als ein lediglich der Ehescheidungs-
klage halber erhobener Scheinprotest darstellen.
Die homosexuelle Handlung kommt dann im Ehe-
scheidungsrecht noch in Betracht im Hinblick auf § 1568
B.G.B. Absatz 1 des Paragraphen lautet:
„Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen, wenn der
andere Ehegatte durch schwere Verletzung der durch die
Ehe begründeten Pflichten oder durch ehrloses und un-
sittliches Verhalten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen
Verhältnisses verschuldet hat, daß dem Ehegatten die
Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann."
Dieser Paragraph ist wichtig für diejenigen Fälle,
wo ein unter den § 175 StG.B. fallender Verkehr nicht
vorliegt, bezw. nicht nachweisbar ist, sondern lediglich
gegenseitige Onanie feststeht; ferner in allen Fällen homo-
sexuellen Verkehrs der Ehefrau, da in allen diesen Fällen
ein Ehescheidungsgrund gemäß § 1565 oder einem
sonstigen Paragraphen nicht gegeben ist
Die Vornahme homosexueller Handlungen muß zweifel-
los mindestens als eine schwere Verletzung der durch die
Ehe begründeten Pflichten betrachtet werden, da jeder
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— 30 —
Ehegatte durch Eingehung der Ehe zu unverbrüchlicher
Treue dem anderen Ehegatten gegenüber und zu dem
Verzicht auf irgend welchen außerehelichen Geschlechts-
verkehr sich verpflichtet; der gleichgeschlechtliche Ver-
kehr des verheirateten Ehegatten wird aber auch meist
als ehrloses und unsittliches Verhalten zu bezeichnen sein.
Eine Pflichtverletzung oder ein ehrloses und unsittliches
Verhalten liegt nur vor, wenn sie verschuldet sind, also
wenn die Handlung, die eine solche Bezeichnung ver-
dienen soll, in zurechnungsfähigem Zustande begangen
worden ist. ^) Freisprechung des homosexuellen Ehe-
gatten im Strafprozeß wegen der auf der Homosexualität
gegründeten Unzurechnungsfähigkeit wird gewöhnlich auch
den Zivilrichter veranlassen, die Verschuldung zu ver-
neinen, prinzipiell aber ist nicht ausgeschlossen, daß der
Zivilrichter zu einem anderen Schlüsse gelangt und den
Homosexuellen für die Begehung der homosexuellen
Handlung als verantwortlich behandelt.
Bei dem Begriff „verschuldet hat" des § 1568 darf
man selbstverständlich nicht die Verschuldung wegen des
Bestehens der Homosexualität an und für sich für aus-
geschlossen erachten. Die Homosexualität ist allerdings
nicht verschuldet, ebensowenig wie der normale Trieb an
sich, aber die Handlungen, die während der Ehe zur
Befriedigung des homosexuellen Triebes vorgenommen
werden, sind ebenso verschuldet, wie die Handlungen des
Heterosexuellen, durch welche er die eheliche Treue
bricht. Der normale Ehegatte erhält allerdings in der
Ehe, bei deren Eingehung vorausgesetzt wird, daß er
eine von ihm geliebte Person heiratet, die gesetzlich
sanktionierte Gelegenheit, seinen Trieb in einer staatlich
*) Davidson, Das Recht der Ehescheidung nach
dem B.G.B., S. 23, Anm., und die dort zitierten Entscheidungen
des Reichsgerichts.
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— 31 —
anerkannten Form seiner Natur gemäß zu befriedigen,
während der Homosexuelle in der Ehe nicht diese Ge-
legenheit findet und die Ehe für ihn den Charakter, den
sie für den Normalen hat, gar nicht besitzen kann. Durch
die Eingehung der Ehe bindet er sich aber freiwillig und
verspricht eheliche Treue; seine untreue ist yerschuldet,
wenn sie auch moralisch entschuldbarer erscheint, als der
Ehebruch des Normalen.
Durch die Verschuldung muß eine so tiefe Zerrüt-
tung des ehelichen Verhältnisses herbeigeführt worden
sein, daß dem Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht
zugemutet werden kann. Hiermit ist dem richterlichen
Ermessen ein weiter Spielraum gelassen; es besteht kein
Zwang für den Richter, im Gegensatz zu § 1565, bei
einem im Rahmen des § 1568 in Betracht kommenden
homosexuellen Verkehr wegen des letzteren an und flir
sich die Ehescheidung auszusprechen, sondern nur dann,
wenn die in § 1568 geforderte Zerrüttung der Ehe be-
steht. Wann eine solche anzunehmen ist, wird ganz von
den Umständen, von der Häufigkeit des homosexuellen
Verkehrs, von dem Anlaß der Verübung usw. abhängen.
Obgleich der homosexuelle Verkehr dem Konträren
weniger zur Schuld anzurechnen ist, als die Untreue eines
Normalen mit einer Frau, so wird er doch in der Regel
leichter eine Zerrüttung der Ehe, wie sie § 1568 vor-
sieht, hervorbringen. Alle oben im ersten Abschnitt
Kapitel I über die Wichtigkeit der Homosexualität für
den Bestand der Ehe entwickelten Gesichtspunkte sind
auch hier in Rücksicht zu ziehen. Andererseits wird
sogar mehrmaliger gleichgeschlechtlicher Verkehr eines
Homosexuellen nicht notwendigerweise eine die Eheschei-
dung rechtfertigende Zerrüttung zur Folge haben, so
z. B. könnte es sein, daß die Anwendbarkeit des § 1568
verneint würde, wenn der Homosexuelle nur zufällig und
bei besonderen Gelegenheiten seinem Triebe unterlegen
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— 32 —
wäre, seine Schwäche aber bereute und stets ernstlich
gegen seine Neigung angekämpft hätte; umgekehrt liegt
die Möglichkeit vor, daß man bei einem auch nur ein-
maligen gleichgeschlechtlichen Verkehr eines Normalen,
z. B. aus Gewinnsucht, die Voraussetzungen des § 15C8
als gegeben erachten und die Scheidung bewilligen
würde.
Bei den schon vor 1900 geschlossenen Ehen ist die
Scheidung wegen einer in den §§ 1565 — 1568 B.G.B.
bezeichneten Verfehlung, also auch wegen gleichgeschlecht-
lichen Verkehrs nur zulässig, wenn die Verfehlung auch
nach den bisherigen Gesetzen einen Scheidungsgrund
bildet« (Art. 201 E.G. z. B.G.B.).
Der gleichgeschlechtliche Verkehr war nun nach den
meisten Rechten dem Ehebruch gleichgestellt und galt
wie dieser als absoluter Scheidungsgrund, so nach dem
preußischen Landrecht, dem sächsischen Landrecht, der
Doktrin des katholischen und protestantischen Eirchen-
rechts.
Nach dem Code civil dagegen bildet gleichgeschlecht-
licher Verkehr keinen absoluten Scheidungsgrund, jedoch
fällt er meist unter den Begriff der die Scheidung zu-
lassenden „groben Beleidigung''. In den Fällen, in denen
gleichgeschlechtliche Handlungen vom Richter als Pflicht-
verletzung oder unsittliches oder ehrloses Verhalten nach
§ 1568 B.G.B. aufgefaßt werden, wird auch so gut wie
stets eine grobe Beleidigung im Sinne des Code civil
vorliegen und daher die Ehescheidung in diesem Falle
statthaft sein.
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- 33 —
Zweiter Abschnitt
Homosexualität und Entziehung des
Pflichtteils
(bezw. des standesgemäTsen Unterhalts).
Die Homosexualität kann eine Rolle spielen bei der
Entziehung des Pflichtteils.
Der Pflichtteily d. L die Hälfte des gesetzlichen Erb-
teils^ die Aszendenten ihren Abkömmlingen, Kinder ihren
Eltern und der eine Ehegatte dem anderen hinterlassen
müssen, kann aus gewissen Gründen den Pflichtteils-
berechtigten entzogen werden.
unter diesen Gründen, welche den Erblasser zur
Entziehung des Pflichtteils gegenüber einem Abkömmling
berechtigen, wird in § 2333 Nr. 6 B.G.B. der Fall genannt:
„Wenn der Abkömmling einen ehrlosen oder unsittlichen
Lebenswandel wider den Willen des Erblassers führf
Nach den bisherigen Auffassungen über gleichgeschlecht-
lichen Verkehr bedeutete die Vornahme homosexueller
Handlungen eine besonders schwere Unsittlichkeit, ein
scheußliches Laster, eine von Verrohung und Gemeinheit
zeugende Gesinnung, eine weit schlimmere Handlung, als
außereheliche Geschlechtsakte mit Personen des anderen
Geschlechts. Im Bannkreis dieser veralteten Anschauungen
'Würde man daher wohl geneigt sein, weit leichter in der
Begehung homosexueller Handlungen einen unter den
§ 2333 Nr. 5 fallenden unsittlichen Lebenswandel anzu-
nehmen, als wenn es sich bloß um heterosexuelle Dinge
handelte; ja es bestünde wohl die Möglichkeit, daß man
eine einzelne homosexuelle Handlung, namentlich wenn
Jahrbuch VI. 3
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— 84 —
sie za einer gerichtlichen Verurteiiang geführt hätte, für
die Anwendang des § 2838 Nr. 5 als hinreichend er-
achten könnte.
Bei der Auslegung des § 2833 Nr. 6 und des Be-
griffes ,, unsittlicher Lebenswandel'^ darf man nun selbst-
verständlich nicht diese veralteten unrichtigen Anschau-
ungen zu Grunde legen und auch letztwillige Verfügungen
von Erblassern, die, mit den neueren Forschungen un-
bekannt, in diesen Irrtümern befangen waren, berück-
sichtigen. Wenn konträre Sexualempfindung des Ab-
kömmlings vorliegt, so ist davon auszugehen, daß die
homosexuelle Handlung aus der homosexuellen Natur
fließt und nicht anders zu beurteilen ist, als die hetero-
sexuelle Handlung des Normalen. Deshalb wird in der Vor-
nahme einer vereinzelten homosexuellen Handlung kaum
ein unsittlicher Lebenswandel zu erblicken, insbesondere
einer Verurteilung aus § 175 St.G.B. kein besonderes Ge-
wicht für die Anwendung des § 2838 Nr. 5 B.G.B. beizu-
messen sein, da sie keineswegs einen Beweis fiir einen
unsittlichen Lebenswandel liefert; denn gerade der Un-
erfahrene, der Neuling, der, welcher mit der homo-
sexuellen Welt unbekannt ist, wird am leichtesten in
strafrechtliche Konflikte geraten und, von seinem Triebe
überwältigt, am ehesten ohne Überlegung und Berech-
nung sich vielleicht an einem Normalen vergreifen.^)
^) Wenn Endemann, B.G.B., Bd. III, S. 618, Anm. 25, sagt:
Die allgemeinen Sittenanschauungen müßten maßgebend sein bei
der Entscheidung der Frage, ob ein unsittlicher Lebenswandel im
Sinne des § 2S83 Nr. 5 vorliegt, so ist dies, auf die Anschauungen
über Homosexualität angewandt, dahin zu berichtigen, daß die auf
veralteten Vorurteilen beruhenden Anschauungen nicht maßgebend
sind, auch wenn sie in weiten Kreisen noch herrschen. Daher
ist auch sein Beispiel für die Anwendung des § 233B Nr. 5, „näm-
lich der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte infolge gerichtlichen
Urteils'^ ^^r den Fall nicht im allgemeinen richtig, daß die Ver-
urteilung wegen Vergehens gegen § 175 StG.B. erfolgte. — Vgl.
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— 86 —
Ein unsittlicher Lebenswapodel im Sinne des § 2333
Nr. 5 wird ungefähr unter denselben Voraussetzungen an-
zunehmen sein, unter denen man einen solchen bei hetero-
sexuellem Verkehr bejahen würde. Also z. B. wenn der
Homosexuelle ohne Rücksicht auf Stellung und Stand
einen fortgesetzten ausschweifenden, allgemein Ärgernis
erregenden Verkehr pflegt, mit verdächtigen Burschen
kneipt und zusammenlebt^ u. dgl.
Faßt man die konträre Sexualempfindung mit der
herrschenden Anschauung als krankhafte Erscheinung auf^
dann wird man in der Beurteilung eines homosexuellen
Lebenswandels noch milder sein und das Verhalten des
Homosexuellen nicht gleich dem des Heterosexuellen^
sondern weniger streng beurteilen; denn wenn die
Homosexualität krankhaft ist^ so wird man weniger leicht
als bei Heterosexuellen aus einer maßlosen, zu Exzessen
fuhrenden Betätigung des Geschlechtstriebes von einem
unsittlichen Lebenswandel sprechen dürfen.
Unter den gleichen Umständen , die gemäß § 2333
Nr. 5 den Erblasser berechtigen, den Abkömmlingen den
Pflichtteil zu entziehen, braucht er ihnen gemäß § 1611
Abs. 2 auch nur den notdürftigen, anstatt den standes-
gemäßen Unterhalt zu gewähren. Hier gilt bezüglich
,,de8 unsittlichen Lebenswandels '^ das eben über den
§ 2333 Nr. 5 Gesagte.
auch den Aussprach von Heller in der Deutschen Juristen-
Zeitung, Nr. 5, 1902, S. 246: ^^Irrtümliche Volksauffusungen sind
durch Aufklärung zu hek&mpfen, aher nicht in der Gesetzesaus-
legung zu berücksichtigen.^^
S*
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— 36 —
Dritter Abschnitt.
Homosexualität und Handlungsfähigkeit
Die Frage des Einflusses krankhafter Störung der
Geistestätigkeit ist im Zivilrecht keine völlig einheitliche,
sie macht bei allen drei Rechtsbegriffen, Deliktsfähigkeit,
Geschäftsfähigkeit und Entmündigung, eine besondere Er-
örterung notwendig. Sie läßt sich nicht einfach durch
eine Untersuchung darüber erschöpfen, ob Zurechnungs-
oder Unzurechnungsfähigkeit besteht. In jedem Falle ist
zu prüfen, ob die konträre Sexualempfindung die gesetz-
lichen Erfordernisse erfüllt, welche gerade die Delikts-
fähigkeit oder die Geschäftsfähigkeit ausschließen oder
die Entmündigung begründen.^)
Kapitel I.
Die Deliktsfähigkeit
Wer durch eine unerlaubte Handlung, wie sie die
§§ 823 — 826 B.G.B. vorsehen, einen Schaden verursacht
(also außerhalb des Vertragsrechts), z. ß. Leben, Gesund-
heit, Eigentum vorsätzlich oder fahrlässig verletzt, ist
zum Ersatz des Schadens verpflichtet Nach § 827 B.G.B.
') Mit Unrecht erklären manche Autoren, so z. B. Holder,
Kommentar zum B.G.B., Erläuterung 3 zu § 104, sowie Stau-
dinger, B.G.B., zu § 6 lA 4d, die Voraussetzungen der Ent-
schädigung wegen Geisteskrankheit für die gleichen wie diejenigen
der Geschäftsunfähigkeit
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— 37 —
ist dagegen derjenige für den Schaden nicht yerantwort-
lich^ welcher im Zustand der Bewußtlosigkeit oder in
einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zu*
stand krankhafter Störung der Greistestätigkcit einem an-
deren Schaden zufügt Der Unzurechnungsfähige braucht
also den von ihm angerichteten Schaden grundsätzlich
nicht zu ersetzen.^)
Der § 827 spricht you einem Zustand der Bewußt-
losigkeit und Yon einem die freie Willensbestimmung
ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistes-
tätigkeit Die Bewußtlosigkeit als Grund für die An-
nahme mangelnder Verantwortung werde ich nicht weiter
erörtern; denn eine Bewußtlosigkeit wird die Homo-
sexualität an und für sich nie erzeugen; im bewußtlosen
Zustand ausgeführte^ auf der Grundlage der konträren
Sexualempfindung beruhende Handlungen werden nur im
alkoholischen Rauschzustand oder im epileptischen Zu-
stand vorkommen, also in Fällen^ wo diese Zustände
die Ursache der Bewußtlosigkeit bilden und letztere nicht
spezifisch der Homosexualität zuzuschreiben ist^
Dagegen erfordert der im § 827 weiter vorgesehene
Zustand der krankhaften Störung der Geistestätigkeit
welche die freie Willensbestimmung ausschließt, eine
nähere Prüfung.
Verlangt wird: 1. Eine krankhafte Störung der
Geistestätigkeit
Sieht man in der konträren Sexualempfindung eine
krankhafte Erscheinung, dann ist sie auch als eine krank-
hafte Störung der Geistestätigkeit zu bezeichnen. Die
') Die Aasnahme des § 829, wonach der Ersatz des Schadens
gleichwohl unter bestimmten Voraussetzungen aus dem Vermögen
des unzurechnungsfähigen Schädigers verlangt werden kann, än-
dert an dem Prinzip des § 827 B.G.B. an und für sich nichts und
ist für die folgende Untersuchung nicht weiter von Belang.
*) Vgl. Moll, Die konträre Sexualempfindung, S. 478.
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— 38 —
meisten Ärzte geben dies auch zu, Moll insbesondere,
der das Vorkommen der Homosexualität als isoliertes
Symptom anerkennt^ faßt sie stets als Störung der Geistes-
tätigkeit im weiteren Sinn auf. Der Kontrektations-
trieb als ein psychisches Symptom falle unter den
Begriff der Geistestätigkeit^ der homosexuelle Eontrekta-
tionstrieb sei krankhaft, deshalb läge krankhafte Störung
der Geistestätigkeit vor, auf eine Störung der Intelligenz
sei der Begriff nicht zu beschränken, i)
Mit der Feststellung, daß eine krankhafte Störung
der Geistestätigkeit vorliegt, ist aber noch nicht die Un-
zurechnungsfähigkeit festgestellt, yielmehr muß noch das
zweite Erfordernis des § 827 hinzukommen^ nämlich daß
durch die Störung die freie Willensbestimmung ausge-
schlossen werde.
Die meisten Ärzte sind nun der Meinung, daß die
konträre Sezualempfindung nur selten zur yöUigen Be-
seitigung der Zurechnungsfahigkeit ftihre. Sowohl die-
jenigen, welche die Homosexualität nur als Symptom eines
Komplexes krankhafter Erscheinungen, als Zeichen einer
allgemeinen Degeneration betrachten, als auch diejenigen,
welche, wie Moll, das Vorkommen der konträren Sexual-
empfindung als alleinige krankhafte Erscheinung annehmen.
Die Möglichkeit aber, daß die Homosexualität
unter Umständen die Zurechnungsfähigkeit ausschließe,
wird von den meisten Ärzten anerkannt. So haben be-
sonders Schaefer^ und MoU^) die Ansicht vertreten, daß
*) Moll,Diekonträre SexualempfiDduDg,S.473;Unter-
Buchangen über die Libido sezualis, Bd. I, Tl. 2, S. 785.
*) Schaefer, Über die forensische Bedeutung der
konträren Sezualempfindung, in der Yierteljahrsschrift
für gerichtlicheMedizin und öffentlichesSanitätswesen,
Bd. XVII, Heft 2, S. 290—308.
^} Moll, Die konträre Sexualempfindung, S. 474, und
Untersuchungen über die Libido sexualis, Bd. I, Tl. 2,
S. 727—812.
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— 39 —
der kontieren Sexualem pfindung unter Umständen die
Kraft zukomme, die freie- Willensbestimmung auszu-
schließen. Diese Auffassung hat Moll ganz eingehend
und in wissenschaftlich schöner Weise entwickelt^)
^) Beide, Schaefer and namentlich Moll, nehmen solche Un-
zarechnuugsfähigkeit infolge konträrer Sezualempfindung nur in
seltenen Ausnahmeföllen an, dahei gehen sie davon aus, daß efi
sich um krankhaft gesteigerte Triebe handeln müsse. Sie betonen
also die Krankhaftigkeit der Triebstarke, demnach schließt eigent-
lich auch nach ihnen nicht die Homosexualität an und für sich die
Zurechnangsföhigkeit aus. Unter Betonung der Notwendigkeit der
Feststellung ganz außergewöhnlicher Triebstftrke bin auch ich der
Ansicht, daß unter Umstanden solche Stärke des Triebes die Un-
zurechnungsfähigkeit zur Folge haben kann, nur ist dann eben
die krankhafte Erscheinung die Stärke des Triebes, nicht die
Homosexualität an und für sich. Solche krankhafte Triebstärke
kann aber ebensogut bei normaler Triebrichtung vorkommen, also
ergibt sich wieder das Resultat, daß der Grund für die Annahme
der Unzurechnungsfähigkeit nicht in der Homosexualität als solcher
zu erblicken ist.
Eins muß allerdings betont werden, daß die Homosexualität
sich durchschnittlich mit größerer Stärke geltend macht, als die
Heterosexualität (was wohl zum Teil auf die infolge der allge-
meinen Ächtung des gleichgeschlechtlichen Triebes vorhandene
größere Schwierigkeit seiner Befriedigung zurückzuführen ist), und
deshalb Fälle krankhaften geschlechtlichen Reizes häufiger bei
Homosexuellen, als bei Heterosexuellen zu finden sein mögen oder
mindestens wegen des leichteren Konflikts der Homosexuellen mit
dem Gesetz und den sozialen Anschauungen häufiger bekannt und
eher Anlaß zur Untersuchung der Frage geben werden.
Wegen dieser größeren Stärke des homosexuellen Triebes
darf man aber den Trieb selbst nicht als einen krankhaften be-
trachten. Zwischen Moll und mir besteht also der Unterschied,
daß er den homosexuellen Trieb als solchen für krankhaft hält
und daher bei vorhandener anormaler Stärke dann eher zur Prä-
sumption der Unzurechnungsfähigkeit gelangt, während er bei der
normalen Liebe auch beim Vorhandensein anormaler Stärke be-
sonderen Nachweis für die Unzurechnungsfähigkeit verlangen muß,
weil eben hier festzustellen sind: 1. krankhafte Störung der
Geistestätigkeit, 2. derartiger Grad, daß die freie Willensbestim-
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— 40 —
Bei dieser Frage nach dem Ausschluß der freien
Willensbestimmung ^ wird man zunächst nach einer Er-
läuterung des Begriffes „Ausschluß der freien Willens-
bestimmung^' suchen müssen.
Es ist hier nicht der Ort, die Frage der Willens-
freiheit und -Unfreiheit, des Indeterminismus und Deter-
minismus zu erörtern.
Der Entscheidung dieser Streitfrage bedarf es für
den Zweck dieser Arbeit nicht. Nur muß allerdings ins
Auge gefaßt werden, daß man — mag man dem Deter-
minismus oder dem Indeterminismus huldigen — mit
dem Begriff der Freiheit des Willens, der freien Willens-
bestimmung nichts oder wenig anfangen kann. Auch die
Umschreibungen der freien Willensbestimmung mit regel-
mäßiger Bestimmbarkeit durch Vorstellungen^) oder mit
normalem, vernunftgemäßem Willen*) ergeben sehr dehn-
bare Definitionen und führen zu einer allzu häufigen An-
mung aasgeschlossen ist Bei der Homosexualität bedarf Moll
dagegen nicht des besonderen Nachweises der krankhaften Stö-
rung der Geistestätigkeit, sondern nur desjenigen sub 2.
Für mich müssen nicht nur beim hotero-, sondern auch beim
homosexuellen Trieb beide Voraussetzungen nachgewiesen werden,
also auch bei der Homosexualität muß Krankhaftigkeit der Trieb-
stärke oder sonstige ausnahmsweise Krankhaftigkeit der Homo-
sexualität, die eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit be-
deutet, festgestellt werden, und zwar eine solche, welche einen
die freie Willensbestimmung ausschließenden Grad aufweist.
Praktisch wird der Unterschied nicht groß sein, weil ja auch
Moll nur in seltenen Ausnahmefällen Unzurechnungsfähigkeit in-
folge konträrer Sexualempfindung annimmt und auch er eine be-
sondere Hyperästhesie des Triebes fordert, durch welche die
Freiheit des Willens beseitigt wird.
') Liszt, Lehrbuch des deutschenStrafrechts, 6. Aufl.,
§ 38, S. 141. — Über Liszts Definition vgl. Mol 1s Bedenken in
seinen Untersuchungen über die Libido sexualis, Bd. I,
Tl. 2, S. 814 und 815.
') Endemann, Lehrbuch des B.G.B., Bd. I, S. 149.
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— 41 —
nähme der ünzarechnangsf&higkeii Am besten scheint
mir noch die von Moll gegebene Begrifiisbestimmnng:
Der Ausschluß der freien Willensbestimmung durch eine
krankhafte Störung der Geistestätigkeft sei dann anzu-
nehmen, wenn die Störung eine solche sei^ daß die
Gegenmotive^ welche die Handlung unterdrücken^ nicht
geweckt werden oder nicht wirken können.^)
Selbstverständlich gibt auch diese Umschreibung
keine Formel, mit welcher alle Schwierigkeiten leicht zu
lösen wären. .
Aber diese Definition dürfte doch eine Handhabe von
größerer Sicherheit gewähren zur Feststellang, ob Zu-
rechnungsfähigkeit besteht oder nicht Zur Lösung der
Frage im Ejinzelfall kommen dann noch folgende Momente
in Betracht
Zunächst ist zu berücksichtigen die Art und der
Grad der krankhaften Erscheinung.
Gewisse Geisteskrankheiten lassen sofort die Unzu-
rechnungsfähigkeit vermuten, gewisse tjrpische, schwere
Krankheitsbilder schließen unbedingt die Verantwortlich-
«keit aus. Wenn neben oder als Teil solcher typischen,
schweren Erankheitsbilder, einer Paranoia, einer Mania,
einer progressiven Paralyse, Homosexualität einhergeht, so
wird Unzurechnungsfähigkeit bestehen wegen der typischen,
die Verantwortung ausschließenden Paranoia, Mania usw ,
nicht wegen der Homosexnalität Diese Fälle berühren
uns hier nicht Die Homosexualität kommt aber selten
bei solchen Geisteskrankheiten im engeren Sinne vor, viel-
mehr bildet sie regelmäßig höchstens nur eine krankhafte
Erscheinung leichteren Grades. Derartige geistige Er-
krankungen leichteren Grades, wie die Homosexualität,
werden aber nur ganz ausnahmsweise die Unzurechnungs-
0 UnterBUchuDgen über die Libido sexnalis, Bd. T,
Tl. 2, S. 767.
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- 42 -
fähigkeit nach sich ziehen. Bei ihr muß schon eine be-
sondere Stärke des Triebes^ ein impulsivähnlicher Drang,
eine durch die Homosexualität yöUig beherrschte, krank-
hafte Psyche vorhanden sein, welche die Handlungen des
Konträren in abnorm starker und krankhafter Weise be-
einflußt. Das heißt also: Wenn man auch anerkennt,
daß die Deliktsfähigkeit infolge des homosexuellen Triebes
bzw. seiner krankhaften Steigerung ausgeschlossen sein
kann, so wird man doch niemals von einer unbedingt
und in abstracto bestehenden Unzurechnurigsfahigkeit auf
Grund des homosexuellen Triebes reden dürfen, vielmehr
stets nur von Fall zu Fall bei jeder einzelnen konkreten
Handlung die Stärke des Triebes und seinen Einfluß auf
die Psyche des Handelnden ins Auge zu fassen haben.
Denn nur die genaue Berücksichtigung der tatsächlichen
Umstände, nicht die Psyche des Handelnden, für sich
allein, ermöglicht die Entscheidung der Frage nach der
Zurechnungsfähigkeit des Homosexuellen. So kann z. B.
trotz des gleichen äußeren Verstoßes gegen § 175 St.G.B.
die Zurechnungsßlhigkeit des einen Homosexuellen für
seine Handlung ganz anders zu beurteilen sein als die- .
jenige eines anderen Homosexuellen. Die Zurechnungs-
fähigkeit des Homosexuellen, der in einer alle Überlegung
und alle Gegenmotive zurückdrängenden sinnlichen krank-
haften Erregung, seinem blinden Drang folgend, sich zu
einem geschlechtlichen Angriff hinreißen läßt, wird viel-
leicht zu verneinen sein, während sie bei einer mit kaltem
Blut und kluger Berechnung ausgeführten, planmäßigen
Verführung keinem Zweifel unterliegt.
Aber nicht nur die Handlungen verschiedener Per-
sonen, die beide homosexuell sind, sondern auch ver-
schiedene Akte ein und desselben Homosexuellen können
in dem einen Fall in dem Zustand der ünzurecbnungs.
fähigkeit, in dem anderen in dem Zustand der Zurech-
nuDgsfähigkeit begangen worden sein.
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— 43 —
Ich weiß wohl, daß die Psychiatrie im allgemeinen
abgeneigt ist, die Verantwortung ein und derselben Person
für gewisse Handlungen anzunehmen und für andere
zu leugnen. Ich stimme jedoch völlig der Ansicht von
Moll bei, daß man unbedingt die Möglichkeit partieller
Zurechnungsfähigkeit (also Zurechnungsfähigkeit für die
einen, Unzurechnungsfähigkeit fbr die anderen Hand-
lungen) anerkennen muß.^)
Die Möglichkeit partieller Zurechnungsfähigkeit
dürften insbesondere folgende Erwägungen rechtfertigen:
Die Zurechnungsfähigkeit ist von der Motivation abhängig
und reicht soweit, als die Gegenmotive wirken können.
Diese Gegenmotive sind je nach den in Betracht kom-
menden Handlungen verschieden. Demnach ist es nicht
auffällig, wenn auch die Zurechnungsfähigkeit bei der
einen Handlung vorhanden ist, bei der anderen fehlt
Die Motive, die von der Begehung der einen Hand-
lung abhalten sollen, können mit der Krankheit im engsten
Zusammenhang stehen, die Krankheit kann gerade nur
^) Diese partielle Zarechnungsf&higkeit ist wohl za anter-
scheiden von der verminderten Zurechnangsfähigkeit, welche nicht
den AasBchluß der Zurecbnungsfahigkeit in gewissen Fällen
bedeutet, sondern das Bestehen der ZurechnungsfKhigkeit voraus-
setzt und nur einer Minderung der Zurechnungsf&higkeit gleich-
kommt
Vgl. die Untersuchungen über die Libido sexualis,
Bd. I, Tl. 2, S.780n. folg. und die dort S. 782, Anm. 1 u. 2 u. S. 780,
AnuL 1 — 3 angeführte juristische Literatur. Wegen Anerkennung
einer „partiellen^* Zurechnungsfähigkeit auch zu vgl. Dernburg,
Pandekten, T, § 56 (letzter Absatz). — Vgl. auch Holder, Kom-
mentar zum B.G.B., Anm. 3 zu § 104, S. 241: „Die freie Willens-
bestimmung ist ausgeschlossen, je nachdem das praktische Be-
dür&is den Ausschluß rechtfertigt oder nicht** — Bolze, Ent-
scheidungen des Reichsgerichts, Bd. IV, S. 12, Nr. 41 und
Bd. II, S. 10, Nr. 28; femer Dalloz, Repertoire, Dispositions
entre vifs et testaments, Bd. XYI, Nr. 194, und Suppl. du
Repertoire, Bd. V, Nr. 74.
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— 44 —
infolge gewisser bestimmter Reize eine abnorme Reaktion
hervorrufen^ während sie sich bei anderen Reizen nicht
geltend macht und das Verhalten des Kranken nicht
beeinflußt oder kaum anders als das des Normalen.
Wenn man nun schon anerkennt, daß im Strafrecht
die UnzurechnuDgsfä.higkeit eines Eonträrsexuellen für
eine gegen § 175 yerstoßende Handlung nicht notwen-
digerweise die Unzurechnungsfähigkeit ßir eine andere
Handlung zur Folge hat, so wird man noch viel weniger
die von einem Eonträrsexuellen begangene schädliche
Handlung im Zivilrecht bei der Frage des Schaden-
ersatzes als die Handlung eines unzurechnungsfähigen
betrachten müssen, auch wenn der Betreffende im Straf-
prozeß wegen Vergehens gegen § 175 auf Grund des
§ 51 StG.B. freigesprochen worden ist
Die verschiedenartige Beurteilung des Geisteszustan-
des des Homosexuellen im Straf- und Zivilprozeß kann
zunächst überhaupt seinen Grund in prozessualen Ge-
sichtspunkten haben.
Der Zivilrichter ist an das Urteil des Strafrichters
nicht gebunden, er hat die gesamte Sachlage nach seinem
Ermessen zu prüfen, er kann neue Gutachten über den
Geisteszustand der homosexualen Partei anordnen und
zur Annahme der Zurechnungsfähigkeit gelangen, trotz-
dem der Strafrichter das Gegenteil feststellte. Sodann
ist die Stellung des Konträren im Zivilprozeß eine andere
als im Strafprozeß. In letzterem ist er Angeklagter und
es gilt zu seinen Gunsten der Satz: „In dubio pro reo".
Im Falle von Zweifeln über die Zurechnungsfähigkeit
müssen ihm die Zweifel zu gute kommen, was Frei-
sprechung zur Folge hat Im Zivilprozeß ist er dagegen
lediglich beklagte Partei, der die klagende Partei gegen-
übersteht Wenn er Schaden angerichtet hat und des-
halb auf Schadenersatz belangt wird, so muß er, um
sich zu befreien, beweisen, daß er unzurechnungsfähig
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— 45 —
war, daß die Voraussetzuligen des § 827 zur Zeit der
schädigenden Handlang gegeben waren.
Der Satz „in dubio pro reo" hat im Zivihrecht
keinen Sinn^ wo es keinen Angeklagten gibt; bloße
Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit können den vollen,
im Zivilprozeß regelmäßig dem beklagten Schädiger ob-
liegenden Beweis der Unzurechnungsfähigkeit nicht er-
setzen.
Eine abweichende Beurteilung der Zurechnungs-
fähigkeit im Straf- und Zivilrecht kann aber auch in
der Verschiedenheit der in Betracht kommenden Motive
zu suchen sein. So wird im Zivilrecht insbesondere der
Gesichtspunkt der ,,Schädlichkeit'< der Handlung im
Vordergrund stehen und die Frage sich auf werfen^ ob
nicht das Bewußtsein, daß aus der Handlung für den
anderen ein körperlicher Schaden entstehen konnte^ ein
wirksames Motiv gegen die Befriedigung des Triebes
hätte bilden und die aus ihm resultierende Handlung
hätte verhindern müssen.
Deshalb steht z B. die Tatsache, daß die Zurech-
nungsfähigkeit im Strafrecht bezüglich der Begehung
einer beischlafähnlichen Handlung verneint worden ist,
nicht der zivilrechtlichen Haftung des Freigesprochenen
für einen durch Paedicatio einem Dritten zugefügten
Schaden entgegen, weil die Triebstärke vielleicht nicht
derart war, daß diese gefährlichere Handlung nicht hätte
unterbleiben und die Einsicht in diese Gefährlichkeit
nicht als geeignetes Gegenmotiv hätte wirken können.
Sodann aber sind überhaupt nicht nur die objek-
tiven, sondern auch die subjektiven Voraussetzungen für
die Haftbarkeit wegen zugefügten Schadens im Zivil-
recht andere, als diejenigen für die Strafbarkeit wegen
homosexueller Handlungen. Die Haftbarkeit tritt auch
schon bei bloßer Fahrlässigkeit ein. Daher kann straf-
rechtlich zwar der Vorsatz verneint werden, nichtsdesto-
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- 46 —
weniger ist es möglich, daff derselben Handlang eine
Fahrlässigkeit zu Grande liegt; eine solche genügt aber
in dem Fall des § 828 B.G.B., um den Täter für den
Ersatz des Schadens haftbar zu machen.
Bei dieser Frage der zivilrechtlichen Verantwortung
für die Folgen einer schädigenden Handlung sind zwei
Arten von Fällen zu unterscheiden. Erstens die Fälle^
wo die Handlung direkt zur Befriedigung des homo-
sexuellen Triebes oder im Gefolge dieser Befriedigung
vorgenommen wird^ wo sie aus dem organischen Drang
des Eontrektations- und Detumeszenztriebes hervorgeht,
z. B. ein Homosexueller steckt einen anderen Mann
syphilitisch an oder verursacht durch eigentliche Pae-
dikatio eine körperliche Verletzung. Hier ist die schä-
digende Handlang direkter Ausfluß der Homosexualität,
und hier wird man daher den krankhaften Trieb, aus
dem die Handlung hervorging, unter Umständen für ge-
eignet erachten, auch die Willensfreiheit bei Begehung
der Handlung auszuschließen.
Zweitens die Fälle, wo die schädigende Handlung
nicht zur direkten Befriedigung des Triebes oder in deren
Gefolge vorgenommen wird, sondern nur mittelbar mit
dem Trieb und dessen Befriedigung zusammenhängt; so
z. B. die Fälle, in denen ein Homosexueller einen Neben-
buhler aus homosexueller Eifersucht verletzt.
Während die Fälle der ersteren Art direkten Aus-
fluß der Homosexualität bilden, während bei ihnen die
Befriedigang des Triebes die direkte und unmittelbare
Ursache der Tat darstellt und der Detumeszenz- und
Eontrektationstrieb oft mit fast organischem Zwang zur
Handlung drängen, besteht in der zweiten Eategorie von
Fällen dieser unmittelbare Eausalzusammenhang zwischen
Trieb und Handlung nicht, resultiert die Handlung nur
aus homosexuellen psychischen Motiven, die in der BrCgel
kaum anders zu beurteilen sein werden, als wenn sie
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— 47 —
aas heterosexuellen Mothen begangen worden wäre;
deshalb wird in den ersten Fällen die Znrechnungs*
fähigkeit weit eher zu verneinen sein^ als in den zweiten.
Allerdings kann auch je nach den Umständen in der
zweiten Kategorie von Fällen das homosexuelle Motiv^
aus dem die Handlung entsprangt wegen des krankhaften
und gesteigerten Trieblebens Unzurechnungsfähigkeit be«-
dingen^ aber wohl nur äußerst selten.
Endlich wird eine Unzurechnungsfähigkeit wegen
Homosexualität überhaupt nicht in Frage kommen können
in den Fällen^ wo gar kein homosexuelles Motiv mit-
gewirkt hat, also bei irgend welchen schädigenden Hand-
lungen einea Homosexuellen, die mit dem Trieb in gar
keinem Zusammenhang stehen.
Ein Schriftsteller, Wachenfeld, den ich bisher
nicht erwähnt habe, will die konträre Sexualempfindung
bei Handlungen, die nach § 175 strafbar sind, ganz all-
gemein als Schuldausschließungsgrund gemäß § 51 StG.B.
gelten lassen. Wachenfeld nimmt in seiner Schrift „Homo-
sexualität und Strafgesetz^' (Leipzig, Dieterichsche Verlags-
bachhandlung 1901) S. 97 — 105 an, daß jeder wirkliche
Konträr-Sexuale (worunter er nur den versteht^ bei welchem
völlige Unmöglichkeit des heterosexuellen Geschlechtsver-
kehrs besteht) bei Vergehen gegen § 175 als unzurechnungs-
fähig zu betrachten und daher freizusprechen sei. Die kon-
träre Sexualempfindung sei ein krankhafter Geisteszustand
und hindere den Konträrsexuellen an der Strafeinsicht
homosexueller Handlungen, demnach lägen die Voraus-
setzungen des § 51 StG.B. vor. Diese Auffassung halte
ich für durchaus 'unrichtig. Nicht auf das Vorstellungs-
vermögen ausschließlich, nicht auf die Strafeinsicht kommt
es an, wie Wachenfeld meint, sondern auf das Willens-
vermögen, welches durch mangelnde Strafeinsicht nicht
aufgehoben zu sein braucht, andererseits durch Anomalien
des Gefühls und Trieblebens beseitigt sein kann.
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— 48 —
Es ist hier nicht der Ort^ die Ansicht Wachenfelds
des Näheren zu widerlegen, ich verweise in dieser Be-
ziehung auf meine eingehende Besprechung des Wachen-
feldschen Werkes in dem Jahrbuch IV, insbesondere auf
S. 729—736. Hier sollen nur die für das Zivilrecht aus
der Wachenfeldschen Auffassung sich ergebenden Eonse-
quenzen hervorgehoben werden.
Da nach Wachenfeld für die Frage der Zurechnungs-
fähigkeit die Strafeinsicht maßgebend ist, so folgert er
mit Recht, daß der Konträre für alle sonstigen Delikte,
abgesehen von denen gegen § 175, zurechnungsfähig ist,
da seine konträre Sexualempfindung seine Strafeinsicht
bei den übrigen strafbaren Handlungen nicht aufhebe.
Um so mehr müßte dann angenommen werden, daß der
Konträre für schädigende Handlungen, mögen sie auch
unter dem Einfluß der konträren Sexualempfindung be-
gangen worden sein, zivilrechtlich stets verantwortlich sei
und niemals sich auf Unzurechnungsfähigkeit berufen
könne. Denn im Zivilrecht kommt die Strafeinsicht gar
nicht in Betracht Läßt man das Vorstellungsvermögen
für die Frage der Zurechnungsfähigkeit ausschließlich
entscheiden, dann ist maßgebend, ob der Konträre bei
schädigenden Handlungen die Einsicht in die Schädlich-
keit der Handlung besitzt, diese ist aber von der kon-
trären Sexualempfindung unberührt und wegen des anor-
malen Trieblebens nicht beseitigt
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— 49 —
Kapitel IL
Die Gesohäftsfähigkeit.')
Die Frage des Einflusses geistiger Störungen stellt
sich bei der Geschäftsfähigkeit etwas anders als bei der
Verantwortung für unerlaubte Handlungen dar.
Nach § 104, No. 2 B.G.B. ist geschäftsunfähig:
„Wer sich in einem die freie Willensbestimmung aus-
schließenden Zustand krankhafter Störung der Geistes-
tätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur
nach ein vorübergehender ist"
Während bei der Deliktsfähigkeit von Fall zu FaU
untersucht werden muß^ ob für die einzelne Handlung
die Zurechnungsfähigkeit durch einen die freie Willens-
bestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung
der Geistestätigkeit beseitigt ist oder nichts wird im § 104
die Geschäftsunfähigkeit ganz allgemein unabhängig von
einer bestimmten Handlung normiert. Hier wird für die
Geschäftsunfähigkeit keine Beziehung zu einer bestimmten
Handlung erfordert, femer reicht nicht der Nachweis
einer krankhaften Störung aus, sondern es muß ein
dauernder Zustand der Unzurechnungsfähigkeit bestehen.
Wird solch ein dauernder, die Zurechnungsfähigkeit aus-
schließender Zustand festgestellt, dann liegt Geschäfts-
unfähigkeit vor.
Die Willenserklärung eines solchen Geschäftsun-
fähigen ist aber nach § 105^ Abs. 1 nichtig.
Die konträre Sexualempfindung mag nun zwar an
und für sich als ein krankhafter dauernder Zustand
aufgefaßt werden, jedenfalls aber läßt sich dieser Zustand
0 Nach den Regeln über die Geschftftsfähigkeit beurteilt
sich auch die Frage der Testierfäbigkeit, die nur eine Art der
GeschäftB^Oiigkeit darstellt
Jahrbuch VI. 4
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— 50 —
nicht als ein die freie Willenserklärung dauernd
ausschließender betrachten. Die Homosexualitö.t mag
unter Umständen die Unzurechnungsfähigkeit fär gewisse
Handlungen zur Folge haben, niemals aber ist sie dazu
angetan, die Nichtigkeit aller und jeder Willenserklärungen
des Homosexuellen zu rechtfertigen.
Wenn nun auch die konträre Sexualempfindung eine
absolute Geschäftsunfähigkeit nie nach sich zieht, so be-
steht doch die Möglichkeit, daß man im Einzelfall ge-
wisse Willenserklärungen infolge der Homosexualität für
nichtig erklärt und zwar auf Grund des § 105, Abs. 2,
der lautet:
„Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zu-
stande der Bewußtlosigkeit oder vorübergehender
Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird.''
Im Gegensatz zu § 104 erfordert § 105, Abs. 2 keinen
dauernden und keinen krankhaften Zustand.
Sodann spricht § 105, Abs. 2 auch nicht einmal von
einer die freie Willensbestimmung ausschließenden
Störung. Aus der Entstehungsgeschichte des Paragraphen
ergibt sich aber, daß nur ein redaktioneller Fehler vor-
liegt und auch in § 105, Abs. 2, ebenso wie in § 104 eine
die freie Willensbestimmung ausschließende Störung
verlangt wird.^)
*) Aus den Protokollen — vgl. Mugdan, Materialien, All-
gemeiner Teil, S. 674 — geht hervor, daß man von den nach
§ 104 Unzurechnungsfähigen lediglich diejenigen ausnehmen wollte,
bei denen die Unzurechnungsfähigkeit nur eine vorübergehende
ist, um diese bezüglich des Zugehens einer Willenserklärung
nicht auf die gleiche Stufe mit den dauernd Unzurechnungsfähigen
zu stellen. Dagegen sollte nicht ein Gegensatz geschaffen werden
zwischen solchen, deren Willensfreiheit ausgeschlossen ist, und
solchen, bei denen nur eine bloße Störung der Geistestätigkeit
geringeren Grades besteht In beiden Fällen, sowohl des § 104,
als auch des § 105, Abs. 2 muß die Störung einen Grad erreichen,
der den Ausschluß der freien Willensbestimmung zur Folge hat.
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— 51 —
Za einem weiteren Bedenken gibt § 105, Abs. 2
noch aus einem anderen Grunde Anlaß.
Da der Paragraph nur von einer vorübergehen-
den Störung spricht^ so läßt sich fragen, ob denn die
Homosexualität, die jedenfalls keinen vorübergehenden,
sondern einen dauernden Zustand bildet, unter eine
Störung im Sinne des § 105, Abs. 2 rubriziert werden darf.
Diese Frage wird man aber bejahen müssen, nament-
lich wenn man (wie ich es auch tue) eine partielle Zu-
rechnungs- und Unzurechnungsfähigkeit, eine partielle
Geschäftsfähigkeit und Geschäftsunfähigkeit anerkennt^)
Denn wenn auch § 105, Abs. 2 in erster Linie
vorübergehende Störungen, wie Fieber, Delirien, Schlaf-
trunkenheit, im Auge hat, so muß der Paragraph doch
auch auf einen dauernden krankhaften Zustand in An-
wendung gebracht werden, insofern dieser Zustand nur
vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit, ako nur Un-
zurechnungsfähigkeit filr einzelne Willenserklärungen
nach sich zieht, sonst würde das Ergebnis das sein, daß
weder nach § 104, noch nach § 105 eine Nichtigkeit der
— Goaak, Lehrbuch des Deutschen Bürgerlichen Rechtes
auf den Grundlagen des Bürgerlichen Gesetzbuches,
Bd. I, S. 162, § 55, Nr. 4, definiert gleichfalls die Unzurechnungs-
fähigkeit des § 105, Abs. 2 als einen Zustand, bei dem die freie
Willensbestimmung ausgeschlossen ist. — Auch Schnitze, in
dem Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie, herausge-
geben von Hoche, Tl. 1, Abschnitt 2, Kap. II, S. 200, hält es fUr
selbstverständlich, daß in § 105, Abs. 2 gleichfalls eine die freie
Willensbestimmung ausschließende Störung der Geistestätig-
keit gemeint ist.
^) Über partielle Unzurechnungsfähigkeit s. oben S. 48; femer
wegen partieller Geschäfts- und Testierfähigkeit die Zeitschrift
Das Recht, 25. Januar 1908: „Eine geistige Erkrankung des
Erblassers steht der Gültigkeit seiner letztwilligeu Verfügung
nicht entgegen, wenn diese von der Erkrankung nicht beeinflußt
isf (Urteil des Bayerischen Oberlandesgerichts vom 27. No-
vember 1902.)
4*
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— 52 —
während Torübergehender Unzurechnangsfähigkeit bei
dauerndem krankhaften G^isteszastand abgegebenen
Willenserklärnngen bestünde und solche Willenserklä-
rungen als gültig angesehen werden müßten. Mit an-
deren Worten: Man muß einen Hauptunterschied zwischen
§ 104 und § 105, Abs. 2 darin sehen, daß § 104 den
dauernden Ausschluß der freien Willensbestimmung,
§ 105, Abs. 2 nur den vorübergehenden Ausschluß be-
tri£Ft, und diese dauernde oder vorübergehende Unzu-
rechnungsfähigkeit deckt sich nicht mit der £Vage der
dauernden oder vorübergehenden Störung der Geistes-
tätigkeit, da Störung der Geistestätigkeit noch nicht
Ausschluß der freien Willensbestimmung bedeutet.^)
Die Fälle nun, in denen die konträre Sexualempfindung
bei Abgabe einer Willenserklärung Ausschluß der freien Wil-
lensbestimmung nach sich zieht, werden äußerst selten sein.
Hier gilt das Gleiche, wie das oben bezüglich der
zweiten und dritten Art der unerlaubten Handlungen Aus-
geführte. Hier in gleichem Maße wie dort besteht kein
direkter Zusammenhang zwischen Handlung und Trieb.
Es werden also z. B. Schenkungen oder letztwillige
Verfügungen eines Homosexuellen an einen Geliebten,
auch wenn man die Homosexualität als krankhafte Er-
scheinung betrachtet, nicht ohne weiteres wegen der kon-
trären Sexualempfindung nichtig sein. Je näher das
homosexuelle Motiv liegt, je größer seine Stärke, um so
eher wird man zur Verneinung der Zurechnuugsfähigkeit
gelangen können ; wo ein homosexuelles Motiv ganz fehlt,
>) Planck (B.6.B., zu § 104) wül § 105 nur auf Zustande
vorübergehender Geistesstömngen, die nicht auf Geisteskrankheit
beruhen , wie Fieberdelirien usw., anwenden, dagegen nicht auf
vorübergehende Unzorechnungsföhigkeit, die auf krankhafter
Psyche beruht, indem er leugnet, daß das B.G.B. partielle Ge-
schäftsfähigkeit kenne. — Vgl. dagegen Endemann, Bd. I, § 30,
Nr. 5 und § 85.
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— 53 —
wird auch von vornherein die Frage der Unzurechnungs-
fähigkeit wegen Homosexualität zu verneinen sein.
Wenn auch der Triebe bezw. seine Befriedigung das
Motiv des Rechtsgeschäfts bildet» z. B. bei Schenkungen
an einen Oeliebten, Verkäufen^ um sich die Mittel zur
Befriedigung der homosexuellen Leidenschaft zu ver-
schaffen usw., so handelt es sich doch in erster Linie
um einen psychologischen Vorgang, nicht um direkte or-
ganische Befriedigung des Eontrektations- und Detumes-
zei^ztriebes, weshalb hier die konträre Sexualempfindung
kaum eine andere Rolle wie andere Leidenschaften, z. B.
die heterosexuelle Liebe, spielt^]
Ebenso wie man allgemein anerkennt, daß eine
Leidenschaft nicht berechtigt, die Unzurechnungsfähig-
keit anzunehmen, muß man auch davon ausgehen, daß
die konträre Sexualempfindung nicht Ausschluß der freien
Willensbestimmung bewirkt Immerhin wird man aber,
wenn auch nicht häufig, doch unter Umständen bei
Willenserklärungen, die unter dem Einfluß der konträren
Sexualempfindung abgegeben worden sind, eher als in
den Fällen, wo sonstige Leidenschaften die Erklärung
veranlaßten, zur Annahme der Unzurechnungsfähigkeit
gelangen, wenn man die konträre Sexualempfindung als
eine krankhafte Erscheinung betrachtet
^) Vgl. auch Moll, Untersuchungen über die Libido
sexualis, Bd.I, Tl. 2, S.696: „Es kommt in Frage, ob Schenkungen
usw. schließlich anfechtbar sind, wenn eine homosexuelle Leiden-
schaft Veranlassung dazu gegeben hat. Es sei aber bemerkt, daß
im heterosexuellen Verkehr tSglich dasselbe vorkommt Die Streit-
frage, wann die Liebe anfängt, pathologisch zu werden, ist zu
diffizil, als daß ich sie an dieser Stelle erledigen könnte.'^ — Vgl.
auch Dalloz, Repertoire, Dispositions entre vifs et testa-
ments, No. 288—242, wo in konstanter Rechtsprechung anerkannt
wird, daß bloße Leidenschaften regelmäßig keine Ungültigkeit der
Willenserklärungen bewirken, so auch Dalloz, Nouyeau R^p.,
Obligations, No. 850.
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— 54 —
Im Gegensatz zum Strairecht ist auch bei Willens-
erklärangen^ ebenso wie bei den unerlaubten Handlungen^
der Beweis des Ausschlusses der freien Willensbestim-
mung erschwert, eine Anwendung des im Strafrecht maß-
gebenden Grundsatzes „in dubio pro reo" kann nicht in
Frage kommen, ein dem äußeren Anschein nach gültiges
Geschäft wird bis zum Beweis des Gegenteils, den der-
jenige, welcher sich auf die Nichtigkeit beruft, genau zu
erbringen hat, als zu Recht bestehend angesehen.^)
Kapitel IIL
Die Entinündigung.
Die Entmündigung kann erfolgen wegen Geistes-
krankheit, Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunk-
sucht (§ 6, Nr. 1 — 3 B.G.B.). Hier interessieren nur die in
§ 6, Nr. 1 erwähnten Fälle der Entmündigung wegen
Geisteskrankheit und wegen Geistesschwäche. Das Ge-
setz sagt: „Entmündigt kann werden, wer infolge von
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche seine Angelegen-
heiten nicht zu besorgen vermag."
Eine Bezugfiahme auf die freie Willensbestimmung
findet hier nicht statt. Es kommt lediglich darauf an,
ob die Geisteskrankheit oder die Geistesschwäche Un-
fähigkeit des Kranken zu der Besorgung seiner Ange-
legenheiten bewirkt. Der Unterschied zwischen beiden
Arten der Entmündigung (Geisteskrankheit und Geistes-
schwäche) besteht darin, daß der wegen Geisteskrankheit
Entmündigte völlig geschäftsunfähig ist, d. h. alle seine
Willenserklärungen sind völlig nichtig, während der wegen
*) Vgl. Crome, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen
Gesetzbuchs, S. 363, Anm. 8.
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— 55 —
Geistesschwäche Entmündigte nur eine Beschränkung in
seiner G-eschäftsfähigkeit erleidet und lediglich einem
Minderjährigen über 7 Jahren (zwischen 7 und 21 Jahren]
gleichgestellt wird^ d. h. seine Willenserklärungen sind
nicht nichtige sondern bedürfen nur, um vollgiiltig zu
werden, der Genehmigung des Vormundes. Die Zustände
der Geisteskrankheit und Geistesschwäche, an welche so
verschiedene Folgen geknüpft werden, sind medizinisch
nicht scharf getrennt; die beiden Begriffe erscheinen vom
psychiatrischen Standpunkt nicht einmal als brauchbar
und nicht als dazu angetan^ einen Unterschied, wie den-
jenigen im Gesetz gemachten, zu rechtfertigen. Denn
jede Geistesschwäche ist, psychiatrisch gesprochen, eine
Geisteskrankheit. Das Gesetz hat jedoch nicht eine medi-
zinisch völlig richtige Begriffsbestimmung angestrebt, son-
dern lediglich den Unterschied nach dem für das Ver-
halten des zu Entmündigenden im praktischen Leben
mehr oder weniger wichtigen Charakter der Krankheit
aufgestellt. Es kommt darauf an, wie die Motive sagen,
ob die Krankheit nach der gewöhnlichen Auffassung des
Lebens als Geisteskrankheit oder Geistesschwäche, d. h.
nach dem Gesamtverhalten des Betreffenden als eine
Krankheit höheren oder niederen Grades sich darstellt
Bei der Entmündigung wegen geistiger Störungen ist zu
berücksichtigen, welche Wirkung die Entmündigung wegen
Geisteskrankheit und welche diejenige wegen Geistes-
schwäche nach sich zieht; der Sachverständige hat sich
zu fragen, ob der Kranke noch die Keife eines Kindes
über 7 Jahren besitzt, ob er noch insoweit im Besitz seiner
geistigen Fähigkeiten ist oder ob er sogar dieser Reife
ermangelt und seine geistigen Fähigkeiten schon soweit
eingebüßt hat, daß es sich rechtfertigt, ihm einen gültigen
Willen abzusprechen. „Es muß lediglich der graduelle
Unterschied in der Schwere der Geistesstörung und deren
Einwirkung auf die soziale Stellung des Erkrankten die
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— 56 —
Frage eDtscheiden , ob G-eisteskrankheit oder Geistes-
schwäche vorliegt. Aus der Stärke der im Interesse des
zu Entmündigenden anzustrebenden Schutzwirkung wird
ein Rückschluß auf die Stärke der Ursache gemacht/'*)
Die Homosexualität ist nun jedenfalls höchstens nur
eine geistige Anomalie geringeren Grades, bei welcher
regelmäßig die Intelligenz völlig intakt, ja manchmal be-
sonders hervorragend ist; sie weist keinen derartigen
Defekt auf, daß der Homosexuelle einem Kinde unter
7 Jahren gleichzustellen wäre. Demnach wird überhaupt
die Frage, ob die Homosexualität die Entmündigung
wegen Geisteskrankheit nach sich ziehen könnte, nicht
aufzuwerfen sein.
Es wäre lediglich zu fragen, ob eine Entmündigung
wegen G-eistesschwäche zulässig sein könnte.
Wenn man nun die Homosexualität, entsprechend
der Ansicht der meisten Ärzte, für eine krankhafte Er-
scheinung hält, dann muß man auch, da § 6, Nr. 1 B.G.B.
unter Geistesschwäche alle nicht als Geisteskrankheit im
engeren Sinne zu betrachtenden geistigen Defekte mit
umfassen will^ den Schluß ziehen, daß bei der Homo-
sexualität die eine der in § 6, Nr. 1 aufgestellten Voraus-
setzungen für die Entmündigung — nämlich die Voraus-
setzung der Geistesschwäche im Sinne dieses Paragraphen
— zutrifft. Hiermit ist nun aber nicht gesagt, daß
Entmündigung einzutreten hat, vielmehr ist es nötig,
daß die andere Voraussetzung gegeben sei, nämlich die,
daß infolge der Geistesschwäche Unfähigkeit des
Kranken zur Besorgung seiner Angelegenheiten
bestehe.
') £rn8t Schultze, Die Stellungnahme des Reichs-
gerichts zur£ntmündigang wegen Geistes k rankheit oder
Geistesschwäche und zur Pflegschaft nebst kritischen
Bemerkungen (Halle 1903, Marhold). — Ferner Entschei-
dungen des Reichsgerichts, Bd. L, S. 208—207.
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— 57 —
Unter „ADgelegenheiten" sind nicht bloß Vermögens-
angelegenheiten zu verstehen. Darüber herrscht Ein-
stimmigkeit
Vielmehr umfaßt der BegriflF die gesamten Lebens-
verhältnisse, z. B. die Sorge für die eigene Person, die
Sorge für die Angehörigen, die Erziehung der Kinder usw. ^)
Zweifelhaft ist jedoch, wie weit der Begriff „An-
gelegenheiten*' auszudehnen ist, insbesondere ob auch
öffentliche Interessen, speziell Gemeingefährlichkeit odör
Gefahr, mit dem Strafgesetz in Konflikt zu geraten, in
Betracht zu ziehen sind.
Würde man in letzterem Sinne den § 6 auslegen,*)
so käme man bei den dem Damoklesschwert des § 175
stets ausgesetzten Homosexaellen , namentlich in den
Fällen, wo etwa tatsächlich eine Verurteilung schon
stattgefunden hat, leichter dazu, die Voraussetzungen für
die Entmündigung anzunehmen, als dann, wenn man
diesen öffentlichen rechtlichen Gesichtspunkt bei der Aus-
legung des § 6 gar nicht gelten läßt
Aber auch bei der ausdehnenden Interpretation des
§ 6 wird man niemals lediglich wegen der Möglichkeit
oder des Eintritts eines strafrechtlichen Konflikts die
Entmündigung für zulässig erachten können; denn für
die Entmündigung genügt es nicht, daß eine Unfähigkeit
zur Besorgung einzelner Angelegenheiten oder eines
bestimmten Kreises von Angelegenheiten besteht, also
^) Vgl. Verfügung des preußischen Ministeriums
(Zeitschrift Das Recht, 1900, S. 15). — Silberschmid, Zur
Auslegung des § 6, in Das Recht, 1901, S. 558. — Ende-
mann, Bd. I, S. 145. — Planck (3. Auflage), zu § 6, Nr. 2a. —
Kuhlenbeck, zu § 6, Nr. 1, Anm. 4.
*) So Endemann, Bd. I, S. 145 und Obwlandesgericht Dres-
den (Sächsische Annalen, Bd. XXIII, S. 125). Siehe dagegen
Silberschmid, Zur Auslegung des §6, in der Zeitschrift
Das Recht, S. 553, 1901, der bestreitet, dafi Gemeingeföhrlich-
keit die Entmündigung rechtfertigen könne.
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— 58 ~
insbesondere nicht, daß lediglich eine Unfähigkeit zur
Beobachtung des — überdies durch eine unaufgeklärte
öffentliche Meinung und ein rückschrittliches Gesetz den
Homosexuellen auferlegten — Gebotes sexueller Abstinenz
Torliegt, yielmehr muß eine Unfähigkeit zur Besorgung
aller oder wenigstens so vieler Angelegenheiten fest-
gestellt werden, daß yemünftigerweise der Schutz des
£[ranken gegen sich selbst in Form der Entmündigung
geboten ist^)
Die Homosexualität darf nicht lediglich eine Störung
der Lebensverhältnisse des Kranken auf strafrechtlichem
Gebiet hervorrufen, vielmehr muß die privatrechtiiche,
vermögensrechtliche, familienrechtliche Sphäre in Mit-
leidenschaft gezogen werden, derart, daß eine Fähigkeit,
die diesen Sphären entspringenden Geschäfte und Be-
ziehungen vernünftigerweise zu besorgen und zu regeln,
nicht mehr in genügendem Maße, infolge der Homo-
sexualität, besteht und eine Stütze des Homosexuellen
durch einen Vormund erforderlich erscheint Eine Entmün-
digung könnte man vielleicht in Erwägung ziehen, wenn
z. B. der Homosexuelle infolge seiner Leidenschaft seinen
Beruf vernachlässigt, unsinnige Ausgaben für Geschenke
an Geliebte macht, sich mit männlichen Prostituierten
offen umhertreibt, sich durch sein Benehmen leichtsinnig
kompromittiert, keinerlei Rücksichten mehr auf Ruf,
Stand und Familie nimmt und schließlich in frivoler
Weise sich eine strafrechtliche Verfolgung zuzieht u. s. w.
^) Vocke, Entmündigung wegen Geisteekrankheit
und Geistesschwäche (Vortrag, gehalten auf der ersten Jahres-
versammlung des Vereins Bayerischer Psychiater zu München am
25. Mai 1903), in Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie u.
psychiatrisch-gerichtliche Medizin, Bd. LX,Heft5,S. 724 fd.,
betont ausdrücklich, daß jedenfalls in den Fällen, wo bei sonst
intakter Geschäftsfähigkeit nur Sittlichkeits vergehen, wie z. B.
Päderastie, in Betracht kommen, die Gemeingeföhrlichkeit nicht
als Entmfbidigungsgrund anzuerkennen sei.
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— 59 —
Scheidet man bei der Frage der Entmündigung die
öffentlich rechtlichen Gesichtspunkte^ insbesondere die
Gefahr strafrechtlicher Verwicklungen, ganz aus, so wird
man das ausschließliche Gewicht auf die privatrechtlichen
Angelegenheiten legen. Die Gemeingefährlichkeit oder
Straffalligkeit des Kranken wird nicht mehr, wie es viel-
leicht sonst der Fall wäre, die Wagschale nach der Seite
der Entmündigung hin sinken lassen, vielmehr muß die
Unfähigkeit, die Angelegenheiten zu besorgen, auf dem
geschäftlichen und familienrechtlichen Gebiete so stark
sein, daß lediglich wegen dieser Mängel die Ent-
mündigung sich rechtfertigt.
Wie man sich aber auch zur Frage nach den Voraus-
setzungen für die Entmündigung stellt, so viel ist gewiß,
daß die Entmündigung wegen Homosexualität nur selten
ausgesprochen werden kann.
Mag man auch die Homosexualität als krankhaft
und daher als Geistesschwäche im Sinne des § 6 auf-
fassen, so wird doch für sie in erster Linie zu gelten
haben, was Samter für die unter dem Begriff der so-
genanüten „fixen Ideen'' zusammenzufassenden Geistes-
krankheiten hervorhebt, nämlich: daß sie regelmäßig
nicht mehr zur Entmündigung zu führen haben. Denn
der Homosexualität ist, ebenso wie diesen sogenannten
fixen Ideen, regelmäßig eigen, daß sie „die Fähigkeit
zum Beruf, zum Amte, zur Besorgung aller Angelegen-
heiten völlig intakt läßt und nur das Vorhandensein einer
Zwangsidee zeitigt, welche bei der betreffenden Persön-
lichkeit auch nicht mittelbar mit der Fähigkeit zur Be-
sorgung ihrer Angelegenheiten sich berührt *)
Im allgemeinen wird der Homosexuelle wohl nicht
*) Samter, Streitpunkte aus dem Gebiet des Entmün-
digungsverfahrens und des Irrenwesens, in Gruchots
Sammlung, 6. Folge, Bd. V, 1901, S. Iflgd.
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- 60 —
die Entmündigung wegen seiner Homosexaalität zu be-
fürchten haben. Immerhin kann aber dennoch im Einzel-
fall der eine oder andere Homosexuelle die Entmündigung
zu gewärtigen haben^ namentlich wenn Richter und Sach«
verständige etwa dem von Endemann und vom Oberlandes -
gericht Dresden betonten Gesichtspunkt der Gemein-
gefährlichkeit besondere Bedeutung beimessen. Gerade
bei der Frage der Entmündigung zeigt es sich also^ wie
gefährlich die Theorie der Krankhaftigkeit der Homo-
sexualität für die Freiheit einer ganzen Klasse von
Menschen -^ der Homosexuellen — werden kann und
welche praktische Wichtigkeit es hat, ob man die kon-
träre Sexualempfindung als krankhafte oder physiologische
Erscheinung betrachtet^)
Hält man die Homosexualität nicht für krankhaft,
dann kann eine Entmündigung beim Homosexuellen
wegen seines Triebes höchstens nur insofern in Betracht
kommen, als etwa der Konträre durch seine Leiden-
schaft zur Verschwendung gebracht wird, derart, daß
die Voraussetzungen für die Entmündigung wegen Ver-
schwendung gegeben sind. Der Homosexuelle wird dann
nicht schlechter und nicht besser behandelt, als der
wegen Verschwendung zu entmündigende Normale und
die homosexuelle Geschlechtsrichtung spielt dabei keine
andere Bolle, als etwa die Liebesleidenschaft des Hetero-
sexuellen, der durch sie zum Verschwender wird. Die
Wirkungen der Entmündigung wegen Verschwendung
sind dieselben, wie diejenigen wegen Geistesschwäche,
ihre Voraussetzungen aber andere. Es genügt hier nicht
^) Der Prinz von Bragansa, der im Jahre 1903 wegen an-
geblicher Begehung homosexueller Handlangen vor Gericht ge-
stellt (aber freigesprochen) worden war, soll Zeitungsberichten zu-
folge inzwischen entmündigt worden sein. Vielleicht ist dieser
Fall ein praktisches Beispiel von Entmündigung wegen Homo-
sexaalität
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— 61 —
die Unfähigkeit zur Besorgung seiner Angelegenheiten,
sondern es müssen dem Homosexuellen zweck- und sinn-
lose, in keinem Verhältnis zu seinem Vermögen stehende
Ausgaben nachgewiesen werden , derart, daß er durch
seine Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr
des Notstandes aussetzt, ^^es muß ein die wirtschaftliche
Existenz der betreffenden Person bedrohendes Verhalten
vorliegen, welches einen Hang zur Vermögensverschwen-
dung erkennen lässt^^^)
>) R.G.E., Bd. XXI, S. 167.
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Der Uranier
vor
Kirche und Schrift.
Eine Studie
vom orthodox-evangelischen Standpunkt
Von
Prof. Caspar Wlrz, V. ». M.
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Es ist kaum ein halbes Jahrhundert verflossen, seit
die Wissenschaft angefangen hat, vor die ebenso alten
als verhängnisvollen Vorurteile über die umische Ge-
schlechtsrichtung ihre starken Fragezeichen zu setzen.
Mit raschen Schritten ist sie dann, unbekümmert um das
kritiklose Gerede der großen Menge, weitergegangen in
ihrer erlösenden Tat, an Stelle der Perversität mußte die
Bezeichnung Perversion treten und endlich rang sich
auf empirischem Wege die Gewißheit durch, daß die
Homosexualität eine bloße Anomalie der natürlichen und
unveränderlichen Veranlagung von gleicher Existenz-
berechtigung wie so manche andere sei. Niemand darf
heute leugnen, daß eine gewaltige Summe von Arbeit
von Seiten der Mediziner zur Feststellung der genannten
Errungenschaften aufgewendet wurde, und wenn auch
zugegeben werden muß, daß die Diskussion über die
Frage, ob pathologisches Phänomen oder Normalzustand,
heute noch offen steht, so hat die medizinische Wissen-
schaft doch bereits von ersterem Standpunkte aus die
praktischen Konsequenzen zu ziehen begonnen und die
Jurisprudenz zum Kampfe herausgefordert; denn bisher
über alle Zweifel erhabene gesetzliche Bestimmungen
müssen, wenn die neugewonnenen Thesen richtig sind,
nicht nur als unhaltbar, geradezu als lächerlich erscheinen
in der Theorie, barbarisch in der Praxis. Freunde der
Wahrheit sehen mit wohltuender Befriedigung, wie rasch
Jahrbuch VI. 5
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— 66 —
die Phalanx durchbrochen wurde, die Gegner immer
mehr vor der Macht der Tatsache sich zurückziehen,
indem sie damit selbst ihrem eigenen Gerechtigkeitssinn
das schönste Zeugnis ausstellen. Noch ist der Kampf
nicht zu Ende, aber er wird ruhig geführt, und es
scheint, als ob es sich mehr noch um Bereinigung
von Mißverständnissen als um prinzipielle Differenzen
handelte.
Daß die Mediziner an den Theologen kalt vorüber-
gegangen sind, kaum hie und da sie leise streifend, darf
uns nicht wundern; leben wir doch in einer Zeit, in der
die drei anderen Fakultäten die theologische, die früher
an der Spitze marschierte, als Aschenbrödel nur von der
Seite anzusehen pflegen. Die Theologen selbst haben
sich bis jetzt ziemlich ruhig in der Sache verhalten,
es sei denn, daß man die Beschlüsse von einigen Sitt-
lichkeitskongressen als ernste Kundgebungen auffassen
wolle.
Und doch wäre es zu wünschen, ja notwendig, daß
die Theologen die Frage der Homosexualität aufgriffen,
um sie ernst und würdig zu untersuchen und zu erörtern ;
denn nicht bloß ist der Einfluß der Geistlichen auf das
Volk noch immer ein so großer, daß man sie mit ver-
antwortlich machen kann für den Geist der Zeit, son-
dern es gibt auch in unseren glaubensarmen Tagen eine
viel größere Zahl christlich, gesinnter Menschen, als man
oft annimmt, und unter ihnen einen ebenso starken
Prozentsatz homosexuell Veranlagter als unter den so-
genannten Ungläubigen; ihr Gewissen seufzt aber unter
dem Banne, welcher heute noch auf dem größeren Teil
der Gesellschaft in Bezug auf die Homosexualität ruht,
ihr Glaube ist in Gefahr, ihr zeitliches Glück und ihr
ewiges Heil hängt von dem Ausgang des Streites ab.
Ich meine Christen, die in ihrem Innern Triebe und
Neigungen verspüren, die sie zurück bis in die Jahre
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— 67 -
ihrer zarten Kindheit verfolgen können^ die mit ihnen
groß gewachsen^ die allem ehrlichen Kämpfen und Ringen
zum Trotze immer aufs neue in ihnen sich geltend machten
und denen gegenüber sie nicht immer die nötige Kraft
fanden, sie zu unterdrücken, gegen deren wuchtigen* An-
drang sie alle geistlichen Waffen ehrlich gebrauchten
und doch vielleicht erlagen. Triebe, die ihrer Natur tief
eingewurzelt sind und die doch von allen um sie her,
von Eltern und Geschwistern, Lehrern, Geistlichen, selbst
vom Gesetzgeber als widernatürlich und schändlich be-
zeichnet werden und um deretwillen sie vom Himmel
ausgeschlossen sein sollen. So macht man sie glauben
und treibt sie damit auf Irrwege.
Die Schwächern unter ihnen, die sich mit ihrer Natur
nicht abzufinden verm(')gen, laufen Jahre, Jahrzehnte als
Heuchler auf dem Lebensmarkte herum. Eine falsche Eti-
kette deckt sie vielleicht vor den Menschen, während eine un-
verständige Kirchenlehre sie zu einem unablässigen, qual-
vollen ßüßerleben nötigt und sie nimmer zur Freudigkeit
eines mit Gott versöhnten Herzens durchdringen läßt
Woher soll da die Kraft noch kommen zum Kampfe mit
Fleisch und Blut, und sind sie einmal gefallen, tilgt oft
Selbstmord die Schande, die eine ungerechte Welt und
eine unvernünftige Kirche auf sie geladen.
Die Stärkeren, von der Natürlichkeit ihrer homo-
sexuellen Triebe durchdrungen, lernen mit der Zeit
das Urteil der Menge verachten, sie suchen und finden
zunächst in sich selbst den Halt für den Glauben .
an ihre moralische Existenzberechtigung, aber nicht in
Gott. Der Kirche kehren sie den Rücken, denn sie
mögen. nicht heucheln, die Bibel lassen sie ungelesen,
denn sie mögen nicht immer ihr eigenes Verdammungs-
urteil vernehmen, ihr Gebet verstummt und damit steht
der Puls ihres geistlichen Lebens still. In kalter Gott-
entfremdung führen sie ihr Leben weiter, indem sie sich
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— 68 —
m
selbst irgend eine LebeasphUosophie zurechtzimmern.
Was Wunder, wenn ihnen, die keinen rechten Grund
mehr unter den FüSen haben, auch die Moral sachte
entschwindet! So leiden gar manche Homosexuelle Schiff-
bruch an dem Glauben ihrer Kindheit, weil ihnen niemand
einen anderen Ausweg weist, für den sie so sehr em-
pfanglich und dankbar wären.
Ein Missionsverein hat es sich zur besonderen Auf-
gabe gesetzt, die Frauen und Mädchen Indiens aus ihrer
gedrückten und rechtlosen sozialen Stellung zu befreien.
Ein edles Bestreben, ohne Zweifel würdig des christ-
lichen Bekenntnisses; aber nicht minder dringend und
nicht minder christlich wäre die Befreiung einer zahl-
reichen Klasse von Menschen, die sich mitten in der
Christenheit ihrer Rechte beraubt und von der öffent-
lichen Meinung für vogelfrei erklärt sieht, weil sie so ist,
wie sie ist Christen fühlen Mitleid mit Heiden, sorgen
für entlassene Sträflinge, nehmen sich gefallener Frauen-
zimmer hilfreich an^ nur fiir den Uranier haben sie kein
Herz, und ich meine doch, besseres Verständnis sollte
die Gegensätze versöhnen: Die Christen müßten milder
urteilen, erkennen, daß die Uranier Fleisch und Blut von
ihrem Fleisch und Blute sind, und bei diesen müßte das
Geschrei über Pfaflen und Mucker verstummen. Sollte
die evangelische Kirche hinter den Medizinern und Ju-
risten zurückbleiben und ihrer Pflicht gegenüber den
Homosexuellen sich erst erinnern wollen, wenn man der
• Kirche nicht mehr bedarf?
Die ersten Versuche, die homosexuelle Frage vom
christlichen Standpunkte aus zu prüfen, haben in gleich
vorzüglicher Weise ein katholischer und ein protestantischer
Geistlicher im Jahrbuch II und IV unternommen. Wenn es
ihnen nicht gelungen ist, die Aufgabe ganz zu lösen, so
haben sie wenigstens das Verdienst, die erste Anregung
gegeben zu haben, und jeder weitere Versuch, so auch
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— 69 -
der vorliegende^ wird uns hoffentlicli dem Ziel etw£|,s
näher bringen. Wenn ich meine Aufgabe ausschließlich
Yon konfessionell- protestantischer statt von allgemein-
christlicher Seite auffasse , so geschieht es , weil die
Uranier sich vor zwei Instanzen mit der Frage über
Sein oder Nichtsein zu stellen haben, vor dem Forum
der Kirche und demjenigen der heiligen Schrift, diese
beiden Instanzen aber nach protestantischer Auffassung«-,
nicht zu identifizieren^ einander nicht koordiniert sind,
sondern erstere als der zweiten unbedingt subordiniert
erscheint Da ich meinen Standpunkt unter den kirch-
lichen Parteien auf der äußersten Rechten einnehme,
dürfte, meine Lösung des zweiten Teils, falls sie gelingt,
für Katholiken wie für Protestanten genügen.
Was heute unter dem gemeinsamen Namen pro-
testantische Kirche zusammengefaßt wird, teilt sich in
der Praxis in die lutherische und reformierte und dann
wieder in zahhreiche Fraktionen, die sich im Lauf der
Zeit aus beiden herausgebildet haben. Von diesen gilt
vor allem der Satz: Da ist keine Kirche, die gerecht
sei, auch nicht eine. ^) Der Protestantismus kennt keine
unfehlbare Kirche und keinen unabänderlichen kirchlichen
Lehrbegriff. Die Autorität hat in ihm nur Wert als Be-
stätigung unseres inneren Bewußtseins.
Ein eigentliches Verdammungsurteil enthält nun
weder die lutherische, noch die reformierte alte Kirchen-
lehre über die Homosexualität, weder die Wittenberger,
noch die Züricher, noch die Genfer Theologen haben
sich im Besonderen mit dieser Frage beschäftigt. Was
die einzelnen Reformatoren, in den Irrtümern ihres Zeit-
1) Rom. 3, 10.
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- 70 —
alters befangen, gelegentlich darüber Ungünstiges äußerten,
ist derart, daß ihre Ausdrücke vor dem Licht der heu-
tigen Wissenschaft sich gänzlich verflüchtigen. Gesetzt
aber, sie hätten wirklich ein klares und bestimmtes Ver-
dikt abgegeben, so könnte uns das, da sie alle fehlbare,
sündige Menschen waren, nicht alterieren, und wollte die
heutige Kirche schroffer werden als ihre Begründer, das
heißt homosexuell identisch erklären mit verkommen,
entartet, gefallen, verirrt, so trösteten sich die so Gebrand-
raarkten mit dem Hinweis darauf, daß bis auf unsere
Tage angesehene und auch hochbedeutende Theologen
und Historiker aus dem römischen Lager einen Luther,
Zwingli und Calvin zu lüsternen, unkeuschen Menschen,
Dienern des Fleisches und der Wollust zu stempeln be-
lieben, ja das ganze Reformationswerk auf seiner Urheber
unbezähmbare Sinnlichkeit zurückführen. Mit einer ge-
wissen Meisterschaft behaupten sie diese Position, und
wer es glauben will — glaubt es ihnen eben. Niemand
kann mehr als ich von der Haltlosigkeit der Verun-
glimpfungen unserer Reformatoren tiberzeugt sein, aber
in der Allgemeinheit und Kühnheit, mit der die Angriffe
gegen dieselben gerade in neuerer Zeit sich geltend
machen, glaube ich doch etwas Providentielles erblicken
zu dürfen, ein Memento an die heutige ganze protestan-
tische Kirche, daß man sich hüten muß vor dem Richten,
welches so leicht zum Lästern wird.
Die abendländische Kirche fing an, die Homo-
sexuellen zu verdammen in derselben Zeit, da das Zeter-
geschrei eines unwissenden und fanatischen Priester-
heeres, helldenkenden und frommen Männern zum Trotz,
das Unheil der Hexenprozesse heraufbeschwor. Die
Kirche, die Hunderttausende von Unschuldigen zum
Tode beförderte, hat, vom hl. Stuhl dazu aufgefordert,
ein vollständiges Hexenprozeßrecht ausgebildet, und die
protestantische Kirche steht in diesem Stück leider nicht
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— 71 -
viel besser da als die katholische. Beide haben die
Hexenprozesse geduldet und die namenlose Schande über
sich gebracht, daß der Geist der Revolution dem soge-
nannten christlichen Geiste am Zeuge flicken mußte.
Earchen, die so menschlich schwach sich zeigten, haben
alle Ursache, behutsam zu sein, ehe sie dem weltlichen
Arm gegen eine ganze zahlreiche Klasse ihrer Ange-
hörigen das Schwert wieder in die Hand drücken im
Namen Christi und seines hl. Evangeliums Die Uranier
müßten einer solchen Kirche den Scheidebrief geben und
ihr entgegenhalten : Du sollst den Namen Gottes, deines
Herrn, nicht mißbrauchen, denn der Herr wird dich nicht
ungestraft lassen, wenn du seinen Namen leichtfertig zum
Richten in den Mund nimmst Wenn von vielen Seiten
behauptet wird, die Kirche als solche hätte ein Recht,
ja die Pflicht, fllr die Erhaltung oder Einführung von
Gesetzesbestimmungen einzustehen, welche dem Uranier
geschlechtliche Betätigung verbieten, so ist das eine große
Täuschung. Vor allem mache ich darauf aufmerksam,
was nicht bloß ungebildete Laien, sondern auch Theo-
logen immer und immer wieder übersehen, daß nämlich
ein Moralkodex und ein bürgerlicher Strafkodex nicht
dasselbe sind. Wir können über einen Satz der christ-
lichen Ethik vollkommen einig sein, aber ob sich der-
selbe zu einem Artikel des Strafgesetzes eigne, ist damit
nicht entschieden. Prüfen wir übrigens die Richtigkeit
meiner Behauptung an der Praxis, welche die Kirche
übt. Der Eid ist im neuen Testament deutlich verboten
und diesem Verbot zum Trotz hat ihn die Gesetzgebung
der christlichen Länder in ihren Dienst genommen, und
wenn man zusieht, wie fabrikmäßig bei uns die Eides-
leistung oft betrieben wird, so möchte es nicht bloß vor
den Juden, sondern vor manchen heidnischen Völkern
ein Greuel erscheinen. Bekannt ist das ausdrückliche
Verbot Jesu über die Wiederverehelichung der Geschie-
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— 72 —
denen, und doch ist diese nach den Gesetzgebungen
sämtlicher protestantischer Länder gestattet, ja während
die katholische Kirche in solchen Fällen entschieden
ihre Sanktion verweigert, läßt sich die protestantische
sogar heute, wo ihre Diener nicht mehr Zivilstandes-
beamte sind, alles zumuten. Die außereheliche Ge-
schlechtsbetätigung, d. h. die weibliche Prostitution, wird
so ziemlich in allen christlichen Staaten geduldet. An
die widernatürliche Unzucht in allen Formen, wie sie
auch innerhalb der Ehe vorkommt, wagt man nirgends
zu rühren. Die Beispiele könnten noch vermehrt werden,
welche zeigen, daß die evangelische Kirche auf vielen
Gebieten Gelegenheit hätte, sich ihres Rechtes und ihrer
Pflicht zu erinnern, indem sie Stellung nähme gegen die
Rechtsnormen des Staates, und wenn sie es nicht tut, so
liegt der Grund daran, daß entweder ihr Gewissen nicht
scharf genug ist oder daß es ihr an Mut dazu fehlt.
Wenn man dann aber hört und liest, wie vereinzelte
Theologen Feuer und Schwefel vom Himmel über die
armen üranier regnen lassen mochten^ so mutet einen
das widerwärtig an und man fragt sich unwillkürlich,
ob diese Herren, die päpstlicher als der Papst sein wollen,
ebensoviel „Gewissen" und „Mut" besäßen, wenn sie
eine Ahnung davon hätten, wie vielen hoch über ihnen
stehenden Männern sie das Urteil sprechen.
Gegen eine schroife Stellungnahme der evangelischen
Kirche spricht übrigens noch ein anderer Grund. Ge-
rade die positiven Elemente unserer Kirche dürfen heute
auch als Missionskirche bezeichnet werden, müssen also
wissen, was für Kompromisse unsere Gesellschaften
draußen in der Heidenwelt abzuschließen sich genötigt
sehen. Nicht nur in Sachen der Ehescheidung, auch
betreffs Sklaverei als Rechtsinstitut, Polygamie, Kinder-
ehen usw., deren Unzulässigkeit der Kirche wie den Ge-
sellschafben prinzipiell außer allem Zweifel steht, müssen
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— 73 -
da und dort Konzessionen gemacht werden und werden
tatsächlich gemacht, nicht aus moralischer Laxheit^ son-
dern aus ßücksicht auf die unüberwindliche Macht tief
eingewurzelter, nationaler Gewohnheiten, vor denen ihre
Gemeindeordnungen ebensogut wie die Gesetze der euro-
päischen Kolonialmächte Halt zu machen sich gezwungen
sehen. Wenn es nun der Kirche nach neunzehnhundert-
jährigem Bestände nicht gelungen ist, in unseren Län-
dern den Zwiespalt zwischen dem bürgerlichen Recht
und der christlichen Ethik ganz zu tilgen, wenn auch
die evangelische Kirche ihren Missionsgesellschaften
draußen gegenüber den Heiden ein gewisses Akkommo-
datiousrecht einräumt, warum sollte diese Kirche nicht
in der Heimat zu Konzessionen sich bereit finden lassen
gegenüber so vielen ihrer Glieder, bei denen es sich nicht
bloß um eingewurzelte Gewohnheiten und Mißstände,
sondern um viel tiefer liegende, unausrottbare, weil ein-
geborene Triebe handelt?
Die Theologen müßten vor allem sich Rechenschaft
darüber geben, was dem Uranier Sünde sei und was
nicht; denn für einmal stecken sie ausnahmslos noch
ganz in demselben Labyrinth von Unklarheiten und In-
konsequenzen wie die Juristen, die feststellen sollten,
was strafbar an dem Uranier sei und was nicht, und
dabei eine Verwirrung in der heutigen Rechtspraxis her-
beigeführt haben, die an's Tolle grenzt. Die Aufgabe
des Theologen gestaltet sich noch viel schwerer, weil er
sich nicht an die grobsinnliche Seite der Homosexualität
halten kann, mit der die Polizei allein sich zu beschäftigen
hat Für ihn hat die leiseste Betätigung, jedes Wort,
ja selbst der Blick und der Gedanke Gewicht Es gibt
Geistliche, die kurzweg von dem Uranier verlangen, daß
er sich völHg enthalte. Warum? Weil es widernatür-
lich wäre, wenn sich der Uranier, dem es unmög-
lich ist, ein Weib zu berühren, seiner Natur gemäß
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— 74 —
betätigte. Ich überlasse es jedem verständigen Theologen,
sich selbst mit dieser Logik der öffentlichen Meinung
abzufinden. Ob die Berufung auf Schriftworte begründeter
sei, wird weiter unten gezeigt werden. Uranier, die sich
gänzlich enthalten von jeder Betätigung, gibt es manche,
ja verhältnismäßig vielleicht mehr als unter den Hetero-
sexuellen, von denen Tausende ohne dringendes Bedürfnis
zur Ehe schreiten und, wenn sie einmal darin sind, dann
auch eine Betätigung nicht verschmähen, die sich so leicht
darbietet, deren sie ohne großen Kampf hätten entraten
und dadurch vollkommen werden können. Daß gemein-
hin der christliche Uranier, der sein ganzes Leben der
völHgen Enthaltsamkeit sich zu befleißigen die Gnade
hatte, als ein Heiliger erscheinen muß, ist nach Apo-
kalypse 14, 4 unbestreitbar.^) Wenn einzelne Theologen
von allen üraniern diesen höchsten Grad der Heiligung
verlangen, so begreife ich das nicht, am wenigsten, wenn
das strenge Ansinnen salbungsvoll aus dem Munde solcher
ertönt, die Frau und Kinder haben oder gar zum zweiten-
und drittenmale in die Ehe zu treten für angezeigt er-
achteten. Mit dergleichen heuchlerischen Splitterrichtem
zu rechten, habe ich keine Lust; wer aber die Gewalt
des menschlichen Geschlechtstriebes nicht aus eigner
Erfahrung kennt, der hole sich Belehrung aus den
Schriften eines Augustin, Luther und so vieler, die uns
^) Der Bibel lesezettel im Losnngsbüchlein der Brüdeigemeinde
gibt für den 21. November 1903 an Offenb. 14, 1—3, 5—14. In
dem ganzen Abschnitt, der von den Auserwäblten des Lammes
Gottes redet, sollte Vers 4, der sagt, das seien diejenigen, welche
sich nicht mit Weibern befleckt haben, übersprangen werden,
wohl damit nicht etwa ein Familienvater vor den Augen der
Seinigen erröten mOsse. Ich gebe gern za, der Vers lasse sich
in modernes Deutsch übersetzen: Diejenigen, welche sich in keiner
Weise geschlechtlich betätigt haben; denselben aber umgehen,
wie die Unitätsdirektion tut, ist unstatthaft und zeigt, wie über-
triebene Prüderie leicht zu Schriftfalschung führt
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— 75 —
Autoritäten sind, und er wird aufhören, einen anderen
sittliclien Maßstab an die Homosexuellen anzulegen als
an die Heterosexuellen, bloß weil die Eichtung des von
Gott in sie gelegten Triebes bei den ersteren eine andere
ist, als bei den letzteren. Daß prüde erzogene Männer
und namentlich Frauen auch den sogenannten natürlichen
Geschlechtsakt innerhalb der Ehe oft schon vor, nament-
lich aber nach dem Vollzüge als sündhaft empfinden, ist
bekannt Was ich aber als Sünde empfinde, ist mir
Sünde, ein geschlechtlicher Akt, den mir mein Gewissen
verbietet, ist für mich Sünde, ob er in der Ehe oder
außer der Ehe, ob in heterosexueller oder homosexueller
Weise vollzogen werde. Kein Theologe, der sich über
das Wesen des Uranismus gründlich orientiert hat, kann
weiter, ohne ungerecht zu werden, eine verschiedene
Ethik aufstellen wollen für den Homosexuellen und für
den Heterosexuellen. Daß die gegen den Uranier ge-
richteten gesetzlichen Bestimmungen ihren Zweck nicht
erreicht haben, weil sie weder sühnen, noch bessern, noch
abschrecken, daß sie statt dessen viel Unheil stiften,
indem sie falsche Vorurteile im Volke bestärken und
eine der schlimmsten Verbrecherklassen, die der Erpresser,
großziehen helfen, daneben Tausende in qualvolle Seelen-
kämpfe und so viele zur Verzweiflung treiben, daß wohl
an keinem Gesetze so viel Blut hängt, wie gerade an
diesem, — das ist eine Tatsache, die durch ein er-
drückendes Beweismaterial von Juristen und Medizinern
festgestellt worden ist. Diese Tatsache nicht zu kennen,
gereicht heute einem Theologen nicht mehr zur besonderen
Ehre, sie aber kennen und trotzdem im Namen der Kirche
die Uranier des Rechtsschutzes berauben wollen, hieße
gegen Gott selbst eifern, der Homosexuelle wie Hetero-
sexuelle geschaffen hat und über beide Sonnenscliein und
Regen spendet, hieße ein schweres Unrecht begehen und
vergessen, daß der Apostel Paulus in der Liste derer,
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— 76 —
welche er vom Himmelreich ausschließt, jeweilen nicht
die Päderasten voranstellt, nicht einmal die Hurer und
Ehebrecher, sondern die Ungerechten.^)
Bis jetzt hat übrigens, ich betone es nochmals, die
protestantische Kirche gar nirgends offiziell Stellung zu
der homosexuellen Bewegung genommen, und jener von
vornherein eine feindliche Gesinnung zu unterschieben,
ist einstweilen niemand berechtigt. Ein solches Vorgehen
der Kirche wäre ja auch unklug; denn nicht bloß würde
sie damit manches zarte Pflänzchen in ihrem eigenen
Garten zertreten, auch mancher starke Stamm, der als
kräftiger Pfeiler ihres Gebäudes dient, würde damit zum
Wanken gebracht, und die heutige Kirche hat wahrlich
nicht Ursache, sich selbst zu schwächen.
Auf die Frage: Wie steht der Uranier zur Kirche?
antworte ich also: So lange die Kirche ihn nicht aus-
schließt — und das hat sie nicht getan und wird sie
nie tun — hat er keinen Grund, sich selbst auszu-
schließen. Alle Gnadenmittel derselben sind auch für
ihn da. Der Uranier geht zum Gottesdienste^ nicht um
seine Naturanlage zu bemänteln, aber auch nicht, um für
diese Buße zu tun, sondern lediglich um sich, wie
jeder andere, vor Gott und Menschen als Sünder zu be-
kennen, am Gotteswort, im gemeinsamen Gebet und Ge-
sang sich zu erbauen. Aber bei dem höchsten Weihe-
akte unserer Kirche, wie soll er sich da verhalten? Darf
er da hinzutreten, wo vom Altare das ernste Mahn wort
ihm entgegentönt: „Der Mensch bewähre sich selbst und
also esse er von diesem Brote und trinke von diesem
Kelche"? Ich empfinde voll und ganz, daß es heiliger
Boden ist, auf den ich mich hier hinauswage; aber mit
freudiger Gewißheit drängt es mich, auch hier dem ge-
hetzten und verscheuchten Wilde Mut einzuflößen und
») 1. Cor. 6, 9; 1. Thim. 1, 10.
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— 77 —
ein „sursum cordal'^ zuzurufen. Kommunion ist nicht
bloB Oemeinschaft mit den Menschen, sondern insbe-
sondere Gemeinschaft mit dem Herrn. So wenig der
Uranier zum heiligen Abendmahl kommt und den funktio-
nierenden Geistlichen als verheirateten Mann kennt, sich
Gedanken machen darf, ob dieser Mann, der ihm das
Brot bricht und den Kelch reicht, kurz vorher, vielleicht
in der letzten Nacht, mit seinem Eheweibe getan haben
möchte, was ihn, den üranier, mit tiefem WiderwiUen
erfüllt, so wenig darf und wird der Geistliche, wenn
anders er ein wahrhaft gläubiger Mann ist, den Dränier,
den er als solchen kennt, zurückweisen, sondern sich sagen :
„In diese mir unergründlichen Geheimnisse der Natur
will ich nicht hineinreden, vielmehr das Richten dem
überlassen, der in der Menschen Herz hineinsieht^' ; der
aber fragt glücklicherweise nicht, was für einem Natur-
triebe wir unterworfen seien, sondern ob er Demut und
Glauben bei uns treffe.
Wenn ich das Verbleiben des Uraniers in der
Kirche begründet und gerechtfertigt finde, so tritt jetzt
noch eine Frage an mich heran, die, ob der Uranier
Theologe sein und kirchliche Ämter bekleiden könne.
Und darauf glaube ich mit einem entschiedenen Nein
antworten zu müssen. Ja, es wäre nach meinem Da^-
fürhalten ein Glück, könnte das w. h. Komitee durch
fortgesetzte .Enqueten alle homosexuell veranlagten Stu-
.denten der Theologie über ihre Lage aufklären und sie
rechtzeitig auf die große Gefahr, der sie sich aussetzen,
aufmerksam machen. Ist der Uranier im Amte, so sieht
er sich unverhofft im Konflikt nicht mit der Kirche als
solcher, nicht mit dem Worte Gottes, nicht mit dem
eigenen Gewissen, wohl aber mit der öffentlichen Meinung.
Von der Möglichkeit einer Betätigung will ich gar nicht
reden, wenn nicht tausend Seelenängste folgen sollen.
Auch ein Schatten einer Betätigung in Worten oder
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Handlungen^ die an und für sich harmlos wären^ jeden-
falls nichts Ungesetzliches enthielten^ genügt heutzutage
noch, um die Lästerzungen in Bewegung zu bringen, die
heikelste Situation zu schaffen und die Stellung eines
solchen Mannes unmöglich zu machen. Und wenn er
geht, so folgt ihm die böse Fama nach, wie eine Furie
heftet sie sich an seine Fersen und läßt ihn nicht mehr
zur Ruhe kommen. Meine ersten kirchengeschichtlichen
Arbeiten über eine kleine Landeskirche gaben mir Ver-
anlassung, von der Reformation bis zur Gegenwart auf
eine lange Reihe von Geistlichen zu stoßen, die ihrer
uranischen Veranlagung erlagen. Gehe ich in meiner
Erinnerung 40 Jahre zurück und denke an die Geistlichen,
Verwalter von Rettungsanstalten, Vorsteher von Werken
der innern und äußern Mission, welche sich selbst nicht
kannten und als Uranier durch einen vielleicht geringen
„Fehltritt" Anlaß zu Skandal wurden, so ist deren Reihe
eine lange und zum Selbstmorde habe ich mehr als einen
ZuÜucht nehmen sehen. Der Skandal aber schadet nicht
bloß dem Opfer, sondern der Kirche, der Sache; die
Gläubigen nehmen schweres Ärgernis, die Ungläubigen
schreien Hailoh! Selbst wenn die Veranlagung ein Ge-
heimnis bliebe und deren l^äger die seltene Gnade be-
säße, sich völlig zu beherrschen, er wird doch öfter in
die Lage kommen, wie Petrus in Antiochia, zu heucheln.
Meine Ansicht geht dahin, wer es kann, tut besser, die
Theologie zu meiden, für einstweilen, d. h. so lange die
Dinge liegen, wie sie liegen.
IL
So wenig ich die Kirche und ihre Lehre als unbe-
dingt bindend für das Gewissen des Uraniers hätte gelten
lassen können, so unbedingt hat er sich dagegen zu
beugen unter die hl. Schrift, die als Gotteswort wie
die unumstößliche Grundlage unsres Glaubens, so die
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unveränderlichen, ewigen und allgemeingültigen Normen
für unsere Ethik gibt. Freilich, wenn dem Uranier das
strenge Gebot gilt, nichts dazu zu setzen und nichts
davon zu tun,^) so gilt es nicht minder seinen Gegnern.
Wie der, welcher bloß mit einem philologischen Apparate
ausgerüstet an die Schrift herantritt, überall Steine des
Anstoßes finden wird, über die er strauchelt, so hat der,
welcher nach einem bestimmten philosophischen System
seine Schröpf hömer an die Schrift setzt, um ihr das
Blut abzuzapfen, bald den wohlfeilen Triumph erreicht,
mit dem Finger auf sie hinweisen zu können als auf
einen entseelten Körper, einen überwundenen Standpunkt,
darf sich aber nicht verwundern, daß der Kadaver wieder
aufersteht, während sein System längst der Geschichte
angehört, daß die Schrift durch alle Jahrhunderte hin-
durch sich als unüberwindliclie Festung erweist. Wer
mit starren dogmatischen Begriffen an dieselbe heran-
tritt, läuft Gefahr, den edlen, reinen Text so zu verun-
stalten, daß er alle entscheidende Kraft verliert Die
Bibel ist eben ein Unikum unter den Büchern, man
darf nie sich selbst in dieselbe hineinlesen. Ein Geist
durchzieht sie von der Genesis bis zur Apokalypse, und
wer sich nicht demütig diesem Geiste unterstellt, kommt
in Versuchung, seine vorgefaßte Meinung in dieselbe
liineiiizulesen, anstatt sein Urteil an derselben zu bilden.
Es ist aber auch ebenso unstatthaft, aus der Schrift
eine Erzählung oder ein paar Verse herauszuheben und
von diesen in ihrer Isoliertheit ein Dogma ableiten zu
wollen. Jede Stelle soll in ihrem Zusammenhang auf-
gefaßt, die Schrift durch die Schrift erklärt werden.
Daß man jahrhundertelang mit dogmatischen Vor-
urteilen an die Stellen der Schrift, welche gegen die
Betätigung gleichgeschlechtlicher Liebe zu sprechen
») Offenb. 22, 18, 19.
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— 80 —
scheinen, herantrat und sie immer wieder nach derselben
Schablone auslegte, darf uns nicht wundem, wenn wir
bedenken, daß es gerade für den sittlichen Menschen
nichts Peinlicheres gibt^ als wenn er den einzelnen Akten
der geschlechtlichen Betätigung nahetreten soll. So kam
es, daß von der Reformation bis zur Gegenwart die Exe-
geten gleichsam mit den Fingern vor den Augen an diesen
Stellen vortibereilten und im Vorbeigehen mit den land-
läufigen Ausdrücken: Sodomiterei, Päderastie, widernatür-
liche Unzucht, unnennbare Laster u. a. m. wie mit Schnee-
ballen um sich warfen, ohne daß sich aach nur einer über
seine Terminologie klar zu werden die Zeit genommen hätte.
Schlagen wir denn unsere Bibel auf,^) so treflFen
wir gleich im ersten Buch Moses, Kap. 19, auf eine Er-
zählung, welche stets gegen die üranier ins Feld geführt
wird, um ihnen zu zeigen, wie sehr sie ein Greuel seien.
Man hat sogar ein besonderes Wort von diesem Ereig-
nisse abgeleitet, „Sodomiterei**, von dem freilich niemand
recht weiß, was es bedeuten soll, ob Päderastie oder
Bestialität; der Phantasie bleibt dabei ein großer Spiel-
raum, und diese malt gewöhnlich ins Aschgraue. In
besagter Erzählung, welche ich nicht etwa als Mythus,
sondern als geschichtliche Tatsache auffasse, wird uns
mitgeteilt, daß der Sünde Sodoms und Gomorrhas
vor Gott gedacht wurde und ein Gericht über sie herab-
kam, dessen Widerhall durch alle Zeiten ertönte, sodaß
wir die Propheten, die apokryphischen Schriften des
Alten Testamentes, Jesus und die Apostel auf dasselbe
Bezug nehmen sehen. Nun kommt alles darauf an, zu
wissen, worin die Sünde der Bewohner von Sodom und
^) Von Kommentaren habe ich hauptsfichlich benutzt: Die
Werke Luthers, Calvins und Zwingiis; M. Baumgarten,
Theo!. Kommentar zum Pentateuch; Keil und Dclitsch,
Pentateuch; La Blble annot^e; J. J. Heß, Geschichte
Israels; Bengels Gnomon.
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— 81 -
Gomorrha bestand, durch welche die strafende Gerechtig-
keit in 80 erschütternder Weise herausgefordert wurde.
Die vulgäre Auslegung begnügt sich damit, den bestimmten
Modus, unter welchem die Sodomiter ihren Geschlechts-
trieb zu betätigen verlangt haben sollen, als den Haupt-
grund ihres Untergangs anzunehmen. Ganz ähnlich
verfährt der gewöhnliche Bibelleser bei dem Falle Bath-
seba,^) „David", sagt er, „hat sich geschlechtlich verfehlt,
darum wurde der Prophet zu ihm geschickt und Gottes
Gericht über ihn verhängt", wiewohl der Prophet nichts
von des Königs geschlechtlicher Betätigung erwähnt, nur
von der Ungerechtigkeit und Grausamkeit spricht, zu
der er sich durch seine Sinnenlust hat fortreißen lassen.
Wenn nun die Sünde der Sodomiter geschlechtlicher
Natur war, so mufi dieselbe bei ihnen entweder die
Frucht eines ihnen angeborenen Triebes, d. h. sie müssen
alle zusammen homosexuell veranlagt gewesen sein; dann
stimmt es aber mit dem Begriffe von Gottes Gerechtig-
keit nicht überein, daß er sie, die doch nichts dafür
konnten, daß sie so waren, mit Feuer und Schwefel aus-
rottete. Oder ihr sündliches Verlangen entsprang einem
erworbenen Laster, einer sittlichen Verkommenheit, an
der sie alle ohne Ausnahme krankten. Daß die letztere
Theorie, die in der Tat bisher der christlichen Gedanken-
losigkeit bei der Auslegung unserer Erzählung als Richt-
schnur gedient hat, unhaltbar ist, wird unschwer nach-
zuweisen sein. Doch lassen wir sie einen Augenblick
zu Recht bestehen und nötigen wir ihre Vertreter, sie
konsequent im Detail durchzuführen.
Es ist mir kein protestantischer Theologe bekannt,
der es versucht hätte, das Ereignis nachzuerzählen, außer
Joh. Jac. Heß. Der sonst so geniale Darsteller biblischer
Geschichte steht hier unter dem Eüntiusse der phari*
1) Sam. 11, 12.
Jahrlmch VI.
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— 82 —
säischen Prüderie seiner Zeit und seiner kleinstädtischen
Umgebung, er will sich gegen seine Gewohnheit der
Knappheit befleißigen und fällt dabei ins Unnatürliche.
Folgen wir seiner Leitung und gehen wir noch etwas
mehr auf die Einzelheiten des Ereignisses ein: Wir
werden nach Sodom versetzt, eine wohlhabende, heid-
nische Stadt im fruchtbaren Siddimtale, deren Ein-
wohner durch ihre Sittenlosigkeit weit und breit bekannt
sind. Es ist Abend geworden , unter . dem Tore der
Stadt — dem Orte, der zu politischen Versammlungen
und G-erichtsverhandlungen benützt wird, aber auch den
Männern als Rendezvous dient für Unterhaltung und
Klatsch, nach Art unserer modernen Kaffeehäuser —
sitzen einige müßige Bürger, unter ihnen auch Loth, der
Vetter Abrahams, der einzige Nichtheide in Sodom. Zwei
Fremde kommen an das Tor, -man sieht ihnen schon von
weitem an, das sind keine Handwerksburschen, es sind
vornehme Menschen von seltener Schönheit, wahrhaft er-
habene EIrscheinungen. Trotzdem läßt man sie unfreund-
lich stehen; nur Loth erhebt sich, um sie mit tiefer
Ehrfurcht zu begrüßen und ihnen das Gastrecht in
seinem Hause anzubieten. Nach einigem Zögern ihrer-
seits und wohlbegründetem Drängen von Seiten Loths
kommen sie unter sein DacL Inzwischen hat sich wie
ein Lauffeuer das Gerücht durch die ganze Stadt ver-
breitet, zwei prächtige Jünglinge, „engelschön", sagt
Heß, seien da und bei Loth eingekehrt. Das ist zwar
mehr als griechisch gedacht, aber fahren wir weiter.
Diese Kunde entflammt im Nu die ganze Einwohner-
schaft zu solch wahnsinniger Liebe für die zwei noch
nicht geschauten Schönheiten, daß die gesamte männ-
liche Bevölkerung dieselben zu notzüchtigen begehrt.
Man bemerke wohl, es sind nicht etwa Einzelne, welche
sich vor Loths Hause zusammenfinden, nein, das ganze
Nest ist auf den Beinen, nicht bloß die ausgelassene
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— 83 —
Jagend, auch das besonnene Alter, alles, ganz Sodom ver-
langt die Herausgabe der beiden Fremden. Was weiter
folgt, ist bekannt und können wir es übergehen; doch
sei mir gestattet, zwei Fragen zu stellen.
Was ist von einem Vater zu halten, der^ um zwei
Gäste, die auf etliche Stunden bei ihm und seiner Familie
Herberge genommen, vor einem rohen Pöbel zu
retten, diesem nicht etwa ein paar seiner Sklavinnen,
nein, seine eignen, unbescholtenen Töchter vor die Türe
werfen will? Konsequenter Weise wird man uns nicht
etwa sagen, das sei ein Beweis dafür, wie hoch und
heilig das Gastrecht in jener Zeit gehalten wurde, sondern,
dieser Loth sei eben auch ein unsittlicher Mensch ge-
wesen. Die Reformatoren z. B. sehen in diesem Akt
ein Stück von Sodoms Verkommenheit in Loth. Ich
hätte auch so geurteilt, nach meinen modernen Begriffen
von Sittlichkeit, die ich, in streng protestantischer Lufk
erzogen, von Jugend auf eingesogen habe, wenn mir die
Schrift nicht entgegenhielte: „Aber Loth war ein Ge-
rechter vor dem Herrn" ^) und wenn ich nicht wüßte,
daß derselbe Herr, welcher die Perlen nicht vor die
Schweine wirft, seine Boten nicht dem Hause eines solch
wüsten Menschen anvertraut haben würde.
Ich will die oberflächlichen Bibelausleger weiter
fragen: Glauben Sie nicht, daß das furchtbare Strafgericht
von Sodom den wenigen Geretteten wie ein heilsamer
Schrecken in allen Gliedern nachzittern mußte? Und
trotzdem bekommen wir von den beiden Töchtern Loths,
den einzigen, die mit ihrem Vater dem Verderben ent-
ronnen waren, zu hören, daß sie sich unmittelbar nachher
eines argen Sittlichkeitsvergehens unter erschwerenden
umständen nach § 173 des deutschen Strafgesetzes
schuldig machten, und doch sind diese zwei nach mo-
») 2. Petri 2, 7.
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— 84 —
dernen Sittlichkeitsbegriffen so abscheulichen Weibs-
personen nicht zu Salzsäulen geworden.
Man wird zugeben, daß in einer Zeit, in der die
geschlechtlichen Verhältnisse noch so wenig geregelt
waren wie damals, das Hauptgewicht von Sodoms Schuld
nicht in der beabsichtigten geschlechtlichen Handlung,
ob solche eine perverse oder normale heiße, zu suchen
ist. In der Tat stimmen denn auch alle Theologen vom
Fache, die jüdischen, katholischen und protestantischen,
darin überein, daß sie bei den Sodomitem zwar eine ge-
schlechtliche Yerirrung konstatieren zu müssen glauben,
keiner aber in derselben den alleinigen Grund für das
nachfolgende Strafgericht Gottes zu erkennen vermag,
sondern nur ein begleitendes Moment, welchem die einen
mehr, die andern weniger Gewicht beilegen. Ob sie nun
die geschlechtliche Sünde von Sodom in den Vordergrund
stellen oder mehr zurücktreten lassen, immerhin halten
sie die Annahme fest, als ob die gesamte Bevölkerung
Sodoms und der andern zerstörten Städte einem per-
versen Geschlechtstriebe verfallen gewesen wäre. Luther
spricht von „stummer Sünde", und darin sind die meisten
übrigen Bibelausleger ungefähr einig. Nun wird aber
eine solche Annahme einer näheren Prüfung kaum stand-
halten können. Abgesehen von den Frauen, welche in
diesem Falle als unschuldig und als ungerechtei-weise
mit den Männern zusammen gestraft erschienen, wird
man auch von den letzteren nicht behaupten dürfen, daß
sie alle ohne Ausnahme an derselben moralischen Krank-
heit gelitten haben. Loth selbst ist der beste Zeuge da-
gegen; denn wenn er alle für pervers gehalten hätte,
würde er es für fruchtlos angesehen haben, ihnen seine
Töchter anzubieten. Die kräftigsten Gegenbeweise liefert
übrigens das Gebiet geschlechtlicher Verimingen selbst,
das ich gegen meinen Willen jetzt betreten muß, um die
„Widematürlichkeit" der landläufigen Exegese bloßzulegen.
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— 85 —
Es gibt in ünsern großen Städten öffentliche Häuser,
in denen der natürliche Gebrauch des Weibes zu den
Seltenheiten gehört und ganz anderer Befriedigung ge-
fröhnt wird. In solchen Häusern wird man kaum je
einen Homosexuellen treffen. Aber auch von den Hetero-
sexuellen, die außerehelichen Verkehr suchen, darf nicht
angenommen werden, daß sie alle oder auch nur der
Mehrzahl nach diese Häuser frequentieren, aus dem ein-
fachen Grunde, weil ihnen ein derartiger Geschlechts-
verkehr nicht behagt Geistliche und Ärzte wissen, wie
viele verheiratete Männer in Stadt und Land es gibt,
welche ihre Ehefrauen mit oder gegen deren Willen zur
unnatürlichen Befriedigung des Geschlechtstriebes an-
halten, und doch ist es auch unter den Ehemännern nur
die Minderzahl, weil den meisten ein solcher Verkehr
nicht etwa gegen das Gewissen, wohl aber gegen die
Natur geht.
Wenn in unserer Zeit der Überkultur in den großen
Städten, die gewiß an sittlichem Zerfall nichts zu wün-
schen übrig lassen, die Wüstlinge, welche auf allerlei
künstliche Mittel zur Befriedigung ihrer sinnlichen Lust
geraten, leicht zu finden sind, so bilden sie doch immer
nur eine geringe Minderheit unter der Gesamtbevölkerung
und in einer kleinen Frovinzialstadt, wie Sodom es war,
die sämtlichen männlichen Bewohner derselben als Wüst-
linge sich zu denken, ist auch der schmutzigsten Phan-
tasie nicht möglich. Wir müßten analoge Erscheinungen
in der Geschichte der Menschheit treffen und Orte an-
geben können, wo geschlechtliche Perversitäten so all-
gemein verbreitet waren, daß davon ganze Gemeinde-
wesen vom ersten bis zum letzten Mann angesteckt ge-
wesen wären. Ein nur entfernt ähnliches Beispiel aber
findet sich weder in der alten noch in der neueren Ge-
schichte, weder bei Barbaren noch bei Kulturvölkern.
Zwingli fühlt das Unzulängliche dieser Annahme
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— 86 —
und meinte es habe in Sodom niemand dem von einzelnen
beabsichtigten Bösen widersprochen, dann ist es aber
ebenso unzulässig, daraus, wie es der Reformator tut,
eine Schuld aller abzuleiten. Eine Tat, die einzelne, sei
es aus perversem Naturtrieb oder aus Lasterhaftigkeit,
begehen oder gar nur begehen wollen, kann nicht das
Gericht über alle bringen; denn zehn Gerechte genügten,
um die Stadt zu retten.^) Daß alle umkamen, nötigt
uns, nach einer Schuld zu suchen, an der alle, Männer
und Fraaen, beteiligt waren, und zwar direkt, nicht bloß
nach dem Sprich worte: „Mitgefangen, mitgehangen''; denn
bei einem ähnlichen Volksanflaufe kann es wohl der
Polizei passieren, daß sie mit den Beteiligten auch einige
unschuldige Gaffer faßt, bei Gottes Gerichten aber sind
solche Mißgriffe ausgeschlossen.
Die Gelehrten suchen in yerschiedener Richtung
diese Schuld. Sie sehen die Verworfenheit der Sodomiter
teils in der frechen Verletzung des Gastrechtes, teils in
der Brutalität, mit welcher dieselben geschlechtliche Ex-
zesse zu begehen wagten. In der Tat tritt bei dem
ganzen Hergang die empörende Frivolität in den Vorder-
grund, womit ein Verbrechen der Notzucht unter An-
wendung brutalster Gewalt versucht wird und wobei es
Nebensache ist, ob der schändliche Akt gegen das eine
oder andere Geschlecht geplant war. Die Untat sollte
mitten in ihrer Stadt, öffentlich, vollzogen werden, unter
dem Beifall der ganzen Bevölkerung, von Alt und Jung,
mit Hintansetzung des letzten Restes menschlichen
Schamgefühls und obendrein noch an edlen, gesitteten
Fremden, die das Gastrecht bei Loth genossen. Es ist
bekannt, wie heilig dieses Recht dem Morgenländer zu
allen Zeiten war und welch einen Abscheu die Verletzung
desselben einflößte. In Sodom Wird solches den Fremden
>) Genes. .18, 32.
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— 87 —
mcht bloB nicht gewährt^ yielmehr wenn ein Hintersasse
die heilige Pliicht aasüben will, lehnen sie sich gegen-
über diesem ,JU[ucker*' in ihrer Mitte auf. So erproben
sie sich durch die Tat als des Geschreies, welches vor
Gott gekommen war, würdig, als die ruchlosesten
Schänder des Gastrechtes, und liefern den Beweis, daß
kein Fremder ihre Stadt betreten kann, ohne sich ihrer
rohen Zügellosigkeit ausgesetzt zu sehen.
Bei dieser Auslegung bleibt immer die geschlecht-
liche Verirrung als mitwirkend anerkannt Alle Ausleger
fühlen die Schwierigkeit, keiner überwindet sie ganz,
weil keiner sich gedrungen sah, keiner ein persönliches
Interesse hatte, eine gründliche Lösung zu suchen. Wo
es sich um Legitimation der Theologenehe handelt, sind
Luther, Zwingli und Calvin gleich erfinderisch, sie unter-
werfen das Problem dem eingehendsten Studium und
finden zwar nicht aus dem Wortlaute, aber aus dem
Sinn und Geist der Schrift eine glückliche Lösung, die
ich weit entfernt bin ihnen als Sophisterei auslegen zu
wollen. Ich anerkenne sie als rein evangelisch, gönne
sie ihnen und protestiere dagegen, wenn man den Re-
formatoren die Absicht unterschiebt, als hätten sie damit
nur eine Entschuldigung für die Betätigung ihres Ge-
schlechtstriebes gesucht; aber ebenso begreife ich auch,
daß es jedem üranier in der Seele wehe tun muß, immer
und immer wieder zu hören, daß man seine gleichge-
schlechtliche Liebe mit einem solch wüsten Skandal, wie
er in Sodom passierte, auf gleiche Linie stellt Wenn
unter den Eeformatoren einer homosexuell gewesen wäre
oder wenn die Anschuldigungen, welche gegen Beza er-
hoben werden, auf Wahrheit beruhten, sähe man sich
heute der Mühe überhoben, die Geschichte Sodoms weiteren
Erwägungen zu unterwerfen. So unangenehm die Sache
ist, jetzt muß es geschehen im Interesse der Wahrheit
und zum Schutze von Tausenden.
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— 88 —
Bei der großen Unsicherheit, die sich durch alle
Auslegungen hindurchzieht, darf man sich wohl die Frei-
heit nehmen^ einmal eine Darstellung des Ereignisses zu
Tersuchen^ die auf eine von der landläufigen abweichende
Erklärung desselben führt Ich tue es in folgender Weise:
Loth sitzt unter dem Stadttor mit den Sodomitem,
da die Fremdlinge kommen. Keiner der etwa anlesen-
den Wüstlinge und Lebemänner fühlt bei ihrem Anblick
das Blut in Wallung geraten, daß es ihn gelüstete, an
den zwei schönen Menschen sich zu vergreifen. Keiner
von ihnen dachte auch nur daran, sie in sein Haus ein-
zuladen, um leichter Gelegenheit zu finden, seine Geilheit
an ihnen zu befriedigen. Aber ebensowenig macht einer
von den interessierten^ selbstsüchtigen Bürgern Miene,
das primitivste G^bot der Nächstenliebe nach der Sitte
jener Zeit zu erfüllen und den Fremdlingen Herberge
anzubieten. Diese „christliche'^ Tat überläßt man dem
wohlhabenden Loth. Er läßt sich auch nicht erst bitten,
denn er erkennt in den Ankömmlingen Engel, die Boten
seines Gottes. Daher erhebt er, der vornehme, ange-
sehene Mann, dessen Oheim vor kurzem ganz Sodom
aus der Hand Eedar-Laomers befreit hat, sich alsobald
von seinem Sitze, geht ihnen entgegen, verbeugt sich
demütig vor den Engeln bis zur Erde nieder und ladet
sie ein zur Einkehr unter sein Dach. Die Sodomiter
sind zwar Heiden, aber was sie von Loth hören, be-
stätigen ihnen ihre eignen Augen; sie merken, daß es
sich da um höhere Wesen handelt. Es verbreitet sich
die Kunde in alle Häuser, daß Boten des Gottes Loths
in der Stadt sind in Menschengestalt, sichtbar, greifbar.
Daher die Parole, die alle entflammt: „Heraus mit diesen,
daß wir sie in unsem Tempel bringen, wo Götter sich
mit Menschen paaren! Diese Gelegenheit entrinne uns
nicht, sie sollen noch diese Nacht mit unserm Geschlechte
sich verbinden!^' Ob die Fremdlinge nur Männern oder
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— 89 —
auch Weibern preisgegeben werden sollten, ist Nebensache;
genug, die unzüchtigen Orgien des Heidentums sollten
einen Anlaß seltener Verherrlichungen ßnden. Loth ist
der einzige, der weiß und glaubt, daß es teuflisch sei,
fleischliche Verbindung mit Wesen anderer Art {irigcc
aäg^)^) zu begehren. Er ist zwar noch nicht an Wunder
gewöhnt und sein Olaabe ist noch dunkel; aber in diesem
seinem kindlichen Glauben ist er entschlossen, zum
Schutze der Grottesboten das Äußerste zu opfern, sein
eigen Fleisch und Blut preiszugeben, in der freilich ver-
geblichen Hoffnung, das sinnliche Element möchte bei
der tobenden Menge über das dämonische Verlangen
den Sieg davontragen. Er irrt sich, es ist nicht die
wildschäumende Jugend, die das Wort führt, die Alten
und Besonnenen stehen zuvorderst und drohen, über die
Leiche Loths hinweg ihr Vorhaben auszuführen, sie
wollen sich an dem Gotte Abrahams und Loths selbst
vergreifen. Da treten die Engel ins Mittel und setzen
den Rasenden Schranken. Loth hat sich in heißer Probe
glänzend bewährt, seine Tat ist die Glaubenstat eines
Gerechten, sein Lohn die Rettung für ihn und sein Ge-
schlecht. Daß seine Töchter nachher begehrten, nur den
Samen dieses einzigen Gerechten, der weit und breit
unter den^ännem sich fand, zur Welt zu bringen, be-
greift, wer das Weib als solches versteht.
So tritt die Verletzung des Gastrechtes zurück und
der geschlechtliche Akt kommt wieder in den Vorder-
grund zu stehen. Dieser Darstellung aber wird durch
kein einziges Woi*t im Texte Schwierigkeit bereitet; daß
sie dem Sinn und Geiste der Schrift entspricht, zeigt
mir der Brief Judä, der im 7. Verse die Bestrafung
Sodoms der Bestrafung der Engel, welche in Vers 6
erwähnt sind, gleichstellt Setzen wir letzteren Vers in
^) Judae 7.
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— 90 —
Beziehung mit Genesis 6, wo von den Söhnen Gottes
die Bede ist, welche mit den Töchtern der Menschen
fleischliche Verbindungen eingingen und damit das Gottes-
gericht herausforderten, so liegt die Annahme sehr nahe,
daß die Sodomiter etwas Ähnliches auf umgekehrtem
Wege erzwingen wollten, eine fleischliche Verbindung
mit göttlichen Wesen, vielleicht auch um „Gewaltige*' unter
ihrer Nachkommenschaft zu haben.
Zu dieser Auffassung stimmt dann, wenn im Deute-
ronomium 32, 32 von dem götzendienerischen Israel ge-
sagt wird, sein Weinstock sei von dem Weinstock Sodoms
und Yon den Feldern Gomorrhas, wenn Ezechiel (16,
48 — 50) die Sünde Sodoms als Hochmut bezeichnet
Durch den Hochmut hat Satan gegen Gott sich aufgelehnt
und wurde verstoßen; durch den Hochmut verfielen die
Menschen auf den Turmbau zu Babel und wurden in
alle Welt zerstreut; durch den Hochmut ließ sich die
Stadt Sodom, Alt und Jung, Mann und Weib, verleiten,
sich an Gottesboten zu vergreifen. Ihr heidnischer Aber-
glaube hatte sie dazu gebracht, auf das Fleisch zu säen
und vom Fleische ernteten sie das Verderben.
Will man in der ähnlichen Erzählung im Buche
der Richter, Kap. 19, die Schuld der Bewohner Gibeas
in der Verletzung des Gastrechtes erkennen,, wozu man
auf den ersten Blick versucht sein möchte, so fällt deren
perverses Verlangen wiederum außer Betracht oder wird
wenigstens ganz nebensächlich. Doch sehe ich gerade
in diesem Ereignis eine vollständige Parallele zu Sodom,
weil die Frevler in Gibea Kinder Baals genannt werden
und ihr Attentat gegen einen Mann gerichtet ist, den
sie als Leviten, einen Diener des Tempels Jehovas,
kennen. Auch bei ihnen handelt es sich zunächst um
Tempelprostitution, auch ihr Verlangen ist ein dämoni-
sches, wie bei den Bewohnern Sodoms, doch mit dem
Unterschiede, daß sie sich nicht an einem höheren Wesen
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• — 91 —
selbst, sondern nur an einem Geweihten des Gk>ttes Israels
yergreifen konnten und daher beim Anblick des darge-
botenen jungen Weibes das sinnliche Element, das so
heterosexuell wie bei den Sodomitem war, die Oberhand
gewann, d« h. die fleischliche Erregung den Sieg über
den religiösen Fanatismus davontrug.
Eine zweite Erzählung, Genesis 88, 8 — 10^ genügt
es, kurz zu streifen, um zu konstatieren, daß sie mit
unserm Thema in keiner direkten Beziehung steht Onan
hat mit dem üranismus als solchem nichts zu tun. Es
ist auch die Ableitung des Wortes zur Bezeichnung der
Selbstbefleckung von seinem Namen eine ebenso unglück-
liche und yerwirrende, wie die ähnliche des Wortes
Sodomiterei. Bei Onan ist keine Rede von Masturbation,
noch weniger von einer homosexuellen Handlung. £^
hat als echter Heterosexueller den sogenannten natür-
lichen Beischlaf mit der Thamar vollzogen, aber unter-
brochen, weil ihm die von dem Gott Israels verordnete
Leviratsehe nicht behagte. Sein Wille war mit Gottes
Willen in Widerspruch, d. h. seine Sünde war der Un-
gehorsam, ein Durchbrechen der für eine gewisse Zeit
geltenden Ordnung Gottes, und diese Sünde mußte um
des Beispieles willen streng geahndet werden.
Die Stellen des Alten Testamentes, welche am deut-
lichsten gegen eine Betätigung homosexueller Triebe zu
sprechen scheinen, sind Leviticus 18, 22 und 20, 13,
wo es heißt: „Du sollst nicht beim Manne liegen.''
Luthers Übersetzung: „Beim Knaben" ist zu schwach
und wird dem Grundtexte nicht völlig gerecht Der
Zusatz: „Wie beim Weibe" zeigt, daß nicht von jeder
Art gleichgeschlechtlicher Betätigung, sondern nur von
der Paedicatio und wieder nur von Paedicatio zwischen
Männern die Rede ist. Nun bestätigen aber mit seltener
Übereinstimmung fast alle neueren Forscher auf dem
Gebiete des sexuellen Lebens, daß gerade diese Art
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— 92 — •
geschlechtlicher Betätigung bei den üraniem selten ge-
troffen werde^ jedenfalls nicht mehr als bei Heterosexuellen.
Daß auch bei den genannten zwei Stellen an einen Zu-
sammenhang mit den heidnischen Mysterien zu denken
sei, ist nicht direkt nachzuweisen, doch liegt die Ver-
mutung nahe und findet Unterstützung in der engen
Verbindung, in welcher diese Worte stehen mit der Er-
wähnung des Molochdienstes ^ sowie durch den Hinweis
auf die Heiden, welche dergleichen Greuel getan haben,
während von derselben Handlung, am Weibe begangen,
sowie jedem anderen geschlechtlichen Verkehr zwischen
Männern oder von Weibern mit Weibern nicht die Rede
ist. Da die Verbote unter einer langen Reihe anderer
aufgeführt werden, welche Dinge, die uns ganz gleich-
gültig sind, als Greuel bezeichnen und mit dem Tode
bedrohen, während sie heute nicht einmal als Vergehen
oder Übertretungen angesehen werden, scheint die An-
nahme gerechtfertigt, daß sie mit allen andern auf die
Reinigung Israels vom Heidentume abzielenden Ver-
ordnungen, in deren Mitte sie stehen,' nur für den alten
Bund Geltung haben.
Ich bin weit davon entfernt, die Paedicatio, inner-
halb oder außerhalb der Ehe vollzogen, in Schutz zu
nehmen, nur will mir dünken, die eine mit dem Tode
zu bedrohen, die andere dagegen ungestraft zu lassen,
sei eine Inkonsequenz, die sich wohl gedankenlose Gesetz-
geber der Neuzeit zu leisten imstande sind, der aber,
welcher das mosaische Gesetz inspiriert hat, kann nicht
ohne besonderen Grund so verfahren sein, und dieser
Grund wird an einer andern alttestam'entlichen Stelle, zu
welcher wir uns noch zu wenden haben, unzweideutig
angegeben. Im Deuteronomium 23, 17 nämlich, wo
es heißt: „Unter den Töchtern Israels soll keine Hure
und unter den Söhnen Israels soll kein Hurer sein/'
Der hier gebrauchte hebräische Ausdruck für Hurer
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— 93 —
icn^ läßt keine andere Übersetzang zn als der ,,6eheiligte'S
d. h. eben der zur Kultusprostitution Geweihte. Dasselbe
ist der Fall in der letzten Stelle, der wir im Alten
Testament begegnen, L Könige 14, 24, die von sitt-
lichem Zerfall unter Behabeam spricht^ dem Könige,
welcher die Götzendienste, namentlich den Astartedienst,
wieder eingeführt habe, und dann fortfahrt: „Es waren
auch Hurer im Lande, die taten nach allen Greueln der
Heiden." Es sind dieselben, für welche Paulus das Wort
äQfTtvoxoirai^) gebraucht, über dessen genauere Be-
deutung weder die Beformatoren noch die späteren Aus-
leger sich die Mühe nahmen, Eechenschaft zu geben;
man begnügte sich zu allen Zeiten damit, oberflächlich
solche Stellen mit „Schweinerei", „widernatürliche Unzucht''
abzutun. Luther übersetzt beide Mal äQGWoxoixai mit
Knabenschänder^ Calvin gibt dafür das eine Mal paede-
rastae, das andere Mal masculinorum concubitores, welch
letzterer Ausdruck allein sich mit dem griechischen deckt.
Li allen Fällen ist im Alten Testamente zu denken an
Personen, welche mit unzüchtigen Gottesdiensten in Ver-
bindung stehen.
Auf dieselbe Stufe mit der Hurerei, weil wieder in
Beziehung zum Götzendienste, werden im Gesetze Moses
noch andere Handlungen gestellt: Zauberei und Wahr-
sagerei, das runde Scheren des Haupthaares, das Ge-
nießen des Blutes und anderes mehr.*) Daß der Götzen-
dienst selbst, wie jedes Sicheinlassen mit den Pro-
stituierten des Tempeldienstes, das die völlige Hingebung
an die Götter der Heiden bedingt, als Hurerei bezeichnet
wird, ist bekannt Nun waren alle Völker, in deren
Mitte Israel stand, der Naturreligion ergeben, die heid-
nische Welt glaubte die Natur mit einer Unzahl dämo-
M I. Cor. 6, 9; I. Thim. 1, 10.
■) Leviticufl 19, 26—81.
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— 94 —
Bischer Wesen erflillt, alles sah man für durch Geister
belebt an und dachte die Götter, welche man sich nach
menschlicher Art gestaltete, als Naturwesen dem Natur-
gesetze unterworfen. In deren Dienst trat von frühester
Zeit an vom Orient bis zum Okzident die Magie mit
ihren Metamorphosen, Wundertränken, Wunderkräutem,
Zauberstäben, Zaubergürteln usw., dann gesellten sich
die Mysterien der Geheimkulte dazu, welche die Wollust-
pflege zum Mittel- und Höhepunkt der Gottesyerehrung
machten als Abbild der zeugenden Kraft im vergöttlichten
Naturleben, unsere Missionare können erzählen von der
Macht, womit der Naturdienst die Menschen zu ergreifen
und zu beherrschen vermag , und die Geschichte des
Altertums gibt uns Zeugnis davon in den Beschreibungen
von Hekatomben, Menschenopfern, Entmannungen und
Prostitution. In Ägypten war der Tierdienst mit allen
seinen Ausartungen zum Yolkskultus geworden, in Kanaan
forderte der Moloch die Opfer der Unmündigen und die
Astarte machte den Geschlechtsgenuß bis zur Prostitution
zum heiligen Gesetz. War Israel in Ägypten weniger
der Gefahr ausgesetzt, von den Landesbewohnem zu ihrer
Abgötterei verführt zu werden, weil es in ihren Augen
als ein unreines und daher für die Teilnahme am Kultus
unfähiges Volk galt, so sehen wir den Reiz der Mysterien
auf dasselbe in Kanaan um so unwiderstehlicher wirken.
Gott ließ die Heiden ihre Wege gehen,*) aber Israel
sollte in Lebensgemeinschaft bleiben mit seinem Gott,
der nicht des Volkes eigne Machenschaft war, wie die
Götter der Heiden,*) und nicht ein Produkt seines Denkens,
sondern sich selbst Israel offenbarte. Die Grundlage
dieser Offenbarung war die Heiligkeit Gottes, auf den
die Kreatur ihr eignes Denken und Tun nicht übertragen,
0 Act. 14, 16.
^ Jes. 40, 19, 20; 44„9— 21. Act. 17,
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— 95 —
von dessen Dienst alles Sinnliche ausgeschlossen sein
sollte, als mit seinem Wesen unvereinbar. G-eschlechÜiche
Handlungen aber, die an und für sich nichts Sündliches
enthalten, entspringen immer der niedrigeren Sphäre der
menschlichen Natur, dürfen also in keine Beziehung zur
Verehrung Jehovas gebracht werden. Der Monotheismus
Israels soll dem Natnrdienste in keiner Richtung sich
anpassen, ihm nicht die geringsten Konzessionen machen.
.Daher geht die Tendenz der ganzen mosaischen Gesetz-
gebung darauf hin, Israel auszusondern und rein zu
halten yon aller heidnischen Vermischung, weil es dazu
prädestiniert war, Träger der Offenbarung des allein
wahren Gottes zu sein. Mit protestantisch-puritanischen
Sittlichkeitsbegriffen kommt man bei Moses schlecht weg.
Während bei den ersten Menschen, bei den Patriarchen
und dem Volke Israel geschlechtliche Handlungen immer
als Adiaphora gelten, es sei nur erinnert an die Tat
der Töchter Loths, die Vielweiberei, die nicht nur ge-
duldet, sondern yon Moses sanktioniert war, und anderes
mehr, treten dieselben Handlungen sofort in ein anderes
Licht, sobald sie mit dem Heidentum als solchem, mit
dessen Mysterien, mit der Tempelprostitution zusammen-
hängen, weil mit letzteren der Begriff des Dämonischen
verbunden war.
Damit können wir den Boden des Alten Testaments
verlassen, indem wir mit aller Entschiedenheit sagen : Es
findet sich keine Stelle in demselben, welche den Ura-
nismus verdammt Wenn ich zum Neuen Testamente
übergehe, das ja für uns als Christen unzweifelhaft maß-
gebend ist und an dessen Geboten wir nicht rütteln
dürfen, so werden wohl manche triumphieren : Hier stoßest
Du auf eine Klippe, an der Du nicht vorüberkommst
Ich kenne diese Klippe. Sie liegt im Römerbrief, aber
zu diesem geht es über die Evangelien; erst kommt der
Meister, dann seine Jünger.
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— 96 —
Nun ist allerdings kein einziges Wort aus Jesu
Munde bekannt, womit er unsere Frage entschieden hätte.
Ob er Kenntnis gehabt habe von der Existenz solcher
Wesen, die gleichgeschlechtlich fühlen? Ich glaube, ja.
Jesus, der in allen Stücken als ein Mensch erfunden
wurde, gleich wie wir, nur ohne Sünde, er hat auch ge-
liebt, und ich meine damit nicht jene göttliche Liebe,
mit der er die ganze Welt und sterbend selbst seine
Feinde umfing, sondern eine persönliche Zuneigung
innigster, edelster, zartester Art, die seinem menschlichen
Herzen Bedürfnis war. Elntstellungen des Lebens Jesu,
wie sie ein Renan, ein Bovio sich herausnehmen, er-
scheinen mir als Blasphemien; aber daß Johannes der
Jünger war, den der Herr lieb hatte, daß Jesus sie alle
liebte, aber dieser eine ihm näher stand als die andern,
daß Johannes an seiner Brust lag, das sage nicht ich,
das sagt die heilige Schrift.^] Johannes, der keineswegs
die zarte jungfräuliche Erscheinung ist, welche die Le-
gende aus ihm gemacht hat, sondern der begabte, tief-
sinnige, jugendliche Prachtmensch, der mit ganzer Seele
die Größe seines göttlichen Meisters erfaßt, dessen Ehr-
geiz Jesus zwar zu dämpfen,') dessen fleischlichen Eifer
er in die richtigen Schranken zu weisen hat,^ dessen
Eraftnatur aber seine Anerkennung findet in der Be-
nennung „Donnerssohn",*) Johannes genoß sein Vorrecht
noch am letzten Abend vor der Kreuzigung und holte
an der Brust seines Meisters die Kraft und Charakter-
festigkeit, ihm allein unter allen Jüngern zu folgen bis
vor Gericht und auf Golgatha, ihn nicht zu verlassen,
ihm die menschliche Treue zu beweisen, die dem Menschen-
sohne so wohl tat, daß er diesen seinen Liebling würdig
*) Joh. 13, 23; 21, 20.
«) Marc 10, 35—46.
•) Luc. 9, 52—56.
*) Marc 3, 17.
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— 97 —
fand^ sein TestaioentsYollstrecker zu werden in der einzigen
Angelegenheit^ die er für diese Welt zu besorgen übrig
ließ, der Unterstützung seiner Mutter.
Das Verbot des Ehebruchs vertieft Jesus, indem er
selbst den lüsternen Blick nach der Frau eines andern
der vollendeten Tat gleichstellt.^) Der Verführer der
Unmündigen verdient nach seiner Ansicht, im Meere er-
tränkt zu werden.*) Anderer geschlechtlicher Verhält-
nisse erwähnt er mit keiner Silbe, trotzdem sie ihm wohl
alle bekannt waren. Er, der nicht nötig hatte, daß ihm
jemand sage, was in den Menschen sei, kannte eben
auch die Mannigfaltigkeit ihrer Veranlagung, wußte auch,
daß nicht alle, ja daß nur ganz wenige Verschnittene
vom Mutterleib an sind,') Er redet vom Augenausreißen,
vom Handabhauen, aber nicht vom Ausrotten von Trieben,
die Gott in den Menschen gelegt hat, nicht der Teufel.
Er schlägt das Geschlechtsleben der Menschen überhaupt
nicht so hoch an wie die Schriftgelehrten und Pharisäer,
und wo sie eifern um das Gesetz und streng zu strafen
bereit sind, zeigt er sich selbst in dem Falle der Ehe-
brecherin, bei dem es sich doch noch um Rechte eines
Dritten, des betreffenden Gatten, handelt, außerordentlich
mild und tolerant.*) Sollte ich die Geschichte von Sodom
und Gomorrha nicht richtig ausgelegt haben, so sei hier
daran erinnert, daß Jesus dennoch für jene Leute eine
Hoffnung für die Zeit des Gerichtes offen läßt, wenn er
sagt, Sodom und Gomorrha werde es besser als denen
ergehen, welche ihn verwerfen.*) Ob zwei, ob drei Ge-
schlechter vorhanden sind, darüber hat Jesus sich nicht
geäußert, aber von großer Tragweite ist, daß er von
') Math. 5, 28.
»y Marc. 9, 42.
•) Math. 19, 12.
*) Joh. 8, 1—11.
*) Math. 11, 23, 24.
Jahrbuch VI.
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— 98 —
seiDem erhabenen Standpunkte aus überhaupt alle ge-
schlechtlichen Unterschiede nur für etwas Akzidentelles
am Menschen betrachtet, das nur für diese Welt Geltung
hat; denn in der andern Welt, sagt er, wird weder zur
Ehe genommen, noch zur Ehe gegeben.^) Da ist weder
Mann noch Weib und, setze ich kühn hinzu, weder
Heterosexueller noch Homosexueller; sie sind allzumal
einer in Christo Jesu.*)
Damit sind wir bei dem gefürchteten Paulus an-
gekommen. Diesen, wie in neuester Zeit versucht wurde,
zum Homosexuellen zu stempeln, ist unstatthaft Paulus
denkt und fühlt ganz heterosexuell, und wenn er, der
sich selbst um des Reiches der Himmel willen ver-
schnitten hatte, die Kraft dazu nicht in sich fühlte, so
würde er sich einfach verheiratet haben, wie Petrus und
andere getan. *)
und nun zu dem Briefe dieses Apostels an die
Römer. Es handelt sich um die Stelle Kap. 1 , Vers 26
und 27, mit der wir uns unter allen Umständen ab-
finden müssen. Selbst wenn wir der äußersten Linken
angehörten, könnte uns die Kritik des Neuen Testaments
nicht darüber hinweghelfen; denn die Authentizität des
Römerbriefes ist bis auf die zwei letzten Kapitel von
niemandem im Ernste angefochten worden. Dem Paulus
die richtige Kenntnis der Naturwissenschaft abzusprechen,
wie das im II. Bande des Jahrbuchs geschieht, geht
wieder nicht an, ohne die Inspirationslehre preiszugeben.
Einer meiner theologischen Lehrer hat mit Recht ein-
mal gesagt: Der Geist Gottes bewahrt die Menschen vor
Dummheit. Wenn Paulus, wie ich glaube, bei der Ab-
fassung aller seiner Briefe, also auch desjenigen an die
') Math. 22, 30.
•-'j Gal. 3, 28.
") I. Cor. 9, 5.
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— 99 —
Römer, unter der Leitung des Geistes Gottes stand,
durfte er sich in diesem Briefe keine Albernheit und
keinen Verstoß gegen die Naturgesetze zu schulden kom-
men lassen, um dann aus solchem Irrtum einen allgemein
yerbindlichen ethischen Grundsatz abzuleiten, eine ganze
große Klasse gottgeschafifener Wesen zu verdammen and yon
ihnen zu erklären, daß sie für diese und jene Welt gerichtet
wären und vor Gott nicht bestehen könnten. Seien wir
ruhig, eben weil Paulus unter der Leitung des Geistes
Gottes stand, hat er so geschrieben, daß wir nicht heute
zu sagen brauchen: Wenn er im 19. oder 20. Jahrhun-
dert gelebt hätte, so vrürde er es besser gewußt und
nicht so geschrieben haben, wie er schrieb. Auch bei
unserem Jahrhundert mit seiner Aufklärung braucht
Paulus nicht in die Schule zu gehen.
Um die Stelle im Römerbrief zu verstehen, haben
wir uns Rechenschaft darüber zu geben, wann und an
was für Leute dieser Brief geschrieben wurde. Paulus
stand zu seiner Zeit der ganzen Macht des ungebrochenen
Götzendienstes gegenüber, der im römischen Reich durch
die synkretistische Vermengung abendländischer mit orien-
tali&(chen Gottheiten überaus polytheistisch geworden war,
der heidnischen Welt mit all ihrem ungöttlichen Wesen
und ihren Entartungen der menschlichen Natur. Noch
kannte er Rom nicht aus eigener Anschauung, nur aus
den Berichten seiner Glaubensgenossen, wie z, B. Aquilas
und Priscillas. Was ihm diese und andere schlichte und
einfache, sittenstrenge, in jüdisch-pharisäischem Geiste
aufgewachsene Zeugen über den Sittenzustand der Haupt-
stadt mitteilten, mußte ihn zu tiefem Nachdenken an-
regen. Das kleine Häuflein von Christen erschien ihm
wie eine Oase in dieser großen sittlichen Wüstenei und
er legte sich die Frage vor: Welches ist das Pfund, das
der Herr dieser seiner Gemeinde gegeben, welche be-
sondere Aufgabe hat dieselbe in ihrer Sonderstellung im
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Herzen des Weltreichs? Diese Frage, nicht das eitle
Begehren, eine Weltstadt zu sehen, ließ ihn so dringend
wünschen, selbst nach Rom zu kommen, und als seine
Reise sich verzögerte, unternahm er es, in großen um-
rissen jener Gemeinde ihre Bedeutung und Aufgabe
schriftlich klar zu machen.
Zur Zeit des Paulus treffen wir in Rom die größte
Zivilisation, aber auch das sittliche Verderben hatte
unter den Kaisem seinen Kulminationspunkt erreicht
Freiheitssinn, Gerechtigkeit, Charakterstärke, Seelenadel,
Treue und Ehrlichkeit, sittliche Mäßigung und Enthalt^
samkeit waren seltene Güter geworden; die ganze Tiefe
der Laster und Gebrechen jener Zeit zu schildern, wollen
wir der Kulturgeschichte überlassen. Auch die sexuellen
Exzesse nahmen überhand. Wie jeder Genuß des Lebens,
so war auch das Geschlechtsleben ausgeartet und das
Lasterleben der Heterosexuellen hatte sich als Produkt
der Degeneration mit Schamlosigkeit gepaart Die Ver-
derbnis Babels, die großstädtische Verkommenheit war
das Gepräge der Kaiserstadt; denn mit dem Abfall von
dem lebendigen Gott geht immer die Versinnlichung der
Menschen Hand in Hand; und je größer die materiellen
Mittel sind, welche jener zu Gebote stehen, desto raffi-
nierter .wird der Genuß.
Wieder steht die christliche Welt im Zeichen der
Überkultur. Schon vor 50 Jahren fing man an, Paris
um seiner vielen Lebemänner und Wüstlinge willen das
Seinebabel zu nennen, mußte aber bald zugeben, daß
diese Bezeichnung auch anderswo Anwendung finden
könnte. Wo immer in großen Städten es den oberen
Zehntausend zu wohl geht und sie zu Heiden werden,
da nimmt die Prostitution mächtig überhand und die
degenerierte Männerwelt feiert mit ihren bezahlten Wei-
bern wüste und schamlose Orgien im Themse-, Spree-,
Donau- und in anderen Babel. Dagegen helfen weder
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Predigten noch Gesetze ^ solche Ei*8cheinungen sind
Früchte an einem faulen Baume, dem von einer höheren
Hand jeweilen, wenn es Zeit ist, die Axt an die Wurzel
gelegt mrd,
Nar grobe Unwissenheit und blinder Eifer können
gleichgeschlechtliches Empfinden ^ das ein eingeborener
Zustand, ein Naturtrieb ist, in einen Topf werfen mit
solcher Degeneration, mit Entartung und sittlicher Ver-
kommenheit, sei es im alten Rom, sei es in unsern
Tagen. Wenn aber ein blinder Eiferer die Absicht
hätte, von der Kanzel aus oder in einer Druck-
schrift die Sittenlosigkeit unserer Großstädte zu geißeln,
würde er wohl aus der langen Liste der Laster gerade
das der sogenannten widernatürlichen Unzucht heraus»
heben und bis ins Detail verfolgen, nur um ein Beispiel
zu geben unter vielen anderen? Und wenn er es täte,
so liefe er Gefahr, bei seinen Hörern und Lesern in
den Verdacht zu kommen, daß er gerne in diesem
Schmutze sich wälze, zum mindesten würde man ihn als
sehr plumpen Redner oder Schriftsteller bezeichnen.
Wer nun meint, daß Paulus hier aus der Sittenlosigkeit
Roms ohne weiteres ein Beispiel herausgegrififen habe,,
um dieses bestimmte Laster zu verdammen, erhebt gegen
ihn den Vorwurf der Unschicklichkeit und der Plumpheit
zugleich. Die Verse Römer 1, 26, 27 aus ihrer Um-
gebung herausgenommen könnten ja wohl zu jener
Meinung führen; lassen wir sie aber in ihrem Zu-
sammenhange stehen, so tönen sie ganz anders, und
Paulus erscheint nicht mehr als ungeschickter Stümper,.
zu dem ihn oberflächliche Ausleger machen, der nichts
Besseres zu schreiben gewußt hätte, als allerhand sittliche
Ermahnungen kunterbunt aneinander zu reihen. Er hätte
in diesem Falle ganz gewiß nicht die Frauen voran-
gestellt, er, der nicht gewöhnt ist, die Frau als Krone
der Schöpfung zu bezeichnen. Ein Apostel Jesu, der
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wie jeder sitÜicbe Mensch geschlechtliche Verhältnisse
lieber umgeht, hätte uns keine derartige Stelle hinter-
lassen, die weder seine Römer, noch wir heute in gemisch-
ter Gesellschaft vorzulesen wagten, bloß damit er sagen
könnte, es kommen auch solche Dinge vor. Der Brief,
9.US dem ungeschickte Menschen die zwei Verse unbe-
fagterweise herausschneiden, ist nach einem bestimmten,
wohl durchdachten Plane angelegt, er erörtert die Stel-
lung der Heiden und Juden zam Evangelium, und in
der Einleitung zeigt Paulus, welche Macht das Heiden-
tum über die Gemüter habe, indem es die Menschen
bis zu dem Grade beherrsche, daß sie gegen ihren
eigenen Willen und Trieb geschlechtliche Handlungen
ausüben, in der Meinung, damit ihren Göttern zu dienen.
Von geschlechtlichen Verirrungen ist die Rede, ja, aber
nicht von vereinzelten, sondern von habituellen, tiefer
begründeten, prinzipiellen, von verirrter Ethik, hervor-
gegangen aus verirrter Dogmatik. Wie im 10. Kapitel
des ersten Korintherbriefes, das von der Beteiligung der
Christen am Götzendienst handelt und in Vers 8 auf das
Ereignis hinweist, wo Israel der Verführung der moabi-
tischen Tempelprostitution erlag, ^) so denkt Paulus im
Römerbrief an die geschlechtlichen Kultushandlungen und
nimmt gegen diese Stellung, mit derselben Strenge, wie
der alte Bund und der Apostelkonvent, indem er sie für
ungöttlich und unchristlich erklärt und den Beweis da-
für erbringt. Die heidnischen Mysterien eines Priap,
Bachus, einer Flora, Venus, Isis stehen dem Paulus
vor Augen, deren tiefere Mystik er nicht verkennt,
deren Ursprung er darum als dämonisch und dem
wahren Gott zuwider auffaßt Judentum und Heiden-
tum stellt er im Römerbriefe einander gegenüber, um zu
zeigen, daß beide des Heils in Christo bedürfen. Rom,
M Numeri 25.
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— 103 -
die Hauptstadt, repi^sentiert ihm das ganze Heidentum,
das er nicht mit beschränkter und ungerechter jüdischer
Voreingenommenheit beurteilt, soiKlem von dem Stand-
punkte aus, den sein Meister eingenommen. Aus den
Evangelien wissen wir nämlich, daß die Pharisäer der
gröberen heidnischen Magie eine feinere jüdische gegen-
übergestellt hatten, mit Engel Verehrung und Dämonen-
beschwörung. Jesus selbst bestritt weder die Existenz
noch den EinÜuB einer solchen Greisterwelt, bekämpfte
nur die abergläubische Verehrung der Engel und die
magische Beschwörung. Ganz so Paulus. Er faßt das
Reich Gottes auf als eine Vereinigung aller persiinlichen
Geschöpfe im Himmel und auf Erden in Christo, als die
Herstellung einer Harmonie im Universum, der Einzelne
wird durch die Sakramente geheimnisvoll Christo ein-
verleibt und durch den Glauben wird Christus selbst das
Prinzip, welches in den Seinigen lebt. Dem Gottesreich
gegenüber sieht Paulus ein Reich der Finsternis unter
Satan, eine Macht, k^ovcria, als eine Mehrheit von bösen
Geistern. Diese Macht ist zwar prinzipiell durch Jesu
Tod überwunden, aber der Kampf dauert noch fort bis
zu seiner Parusie. ..rj
Das ist der große Gesichtspunkt, unter dem Paulus
seinen Römerbrief schrieb. Nicht von griechischer Liebe
und nicht von lesbischer Liebe redet er darin, sonst hätte
er sich in diesem Sinne eher an die Korinther oder an
eine der kleinasiatischen Gemeinden gewandt mit seinen
Warnungen. Nicht an eine einzelne sündige Handlung
denkt er, wenn er von den Weibern sagt, daß sie den
natürlichen Gebrauch in den unnatürlichen verwandelt
haben, sondern an die gottesdieustlichen Orgien, bei
denen die Weiber zahlreicher, vielfach allein beteiligt
waren. Darum erwähnt er sie zunächst und dann erst
die Männer, die ein Gleiches tun. Ihre geschlechtlichen
Handlungen sind widernatürlich, weil sie von heterosexuell
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— 104 —
empfindenden Weibern und Männern vollzogen werden
gegen ihren Naturtrieb, in dem falschen Wahne, der Gottheit
wohlzugefallen. Aus der Verkehrung der letzteren leitet
Paulus die Verkehrung der Gottesverehrung ab. Wenn
im Reiche des wahren Gottes fromme Menschen beiderlei
Geschlechtes ihr Fleisch samt seinen Lüsten und Be-
gierden kreuzigen durch den Geist, um dem Gott, der
ein Geist ist, zu gefallen, und niemals sich einfallen
lassen, diesen Gott durch eine fieischliche Handlung
irgend einer Art verehren zu wollen, so hat nach Paulus
die Verirrung des Heidentums, dem die EJrkenntnis der
Heiligkeit Gottes fehlt und welches es nicht als Frevel
empfindet, das Bild des unvergänglichen Gottes in das
Bild von vergänglichen Menschen und von Tieren zu
verwandeln, zur Folge, daß seine Mysterien tierisch-
menschlich sich gestalten, zu einem fleischlichen Ritus
führen, der seinen Priesterinnen und Priestern den gleich-
geschlechtlichen Verkehr, der ihrer Natur entgegen ist,
als ein Opfer auferlegt, die Tempelprostitution gebietet.
Solche Unziemlichkeiten sind der Lohn, der den Heiden
aus ihrer Gottesverkennung erwächst, an die sich dann,
wie Paulus weiter fortfährt, alle andern unchristlichen
Eigenschaften anreihen.
Damit soll nicht gesagt sein, daß unsere Stelle
einzig und allein auf das alte Rom oder die Zeitgenossen
des Paulus Bezug habe. Die Verkehrung des wahren
GottesbegriflFes hatte durch einzelne Irrlehrer bereits im
Morgenlande wie im Abendlande bei den jungen Ge-
meinden Eingang gefunden und es war für die Apostel
keine leichte Sache, das christliche Bewußtsein rein zu
erhalten gegen derartige heidnische Verirrungen. An
solche ist wohl zu denken bei den Werken der Nikolaiten,*)
gegen solche eifert der Brief Judä und der zweite Petri-
M Offeiib. 2, 14, 15.
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— 105 —
brief. Uns erscheint daR Heidentum mit seinen schreck-
lichen Gestalten und Folgen in einem zu fernen und
schwachen Lichte, um seine Wichtigkeit zu erkennen,
wir müssen unsere Missionare darüber befragen, um eine
richtige Vorstellung zu gewinnen; aber an der Hand der
Kirchengeschichte ließe sich leicht nachweisen, wie oft
und bis wie weit hinunter die christliche Kirche sich
bedroht sah von dem Eindringen heidnischer Mysterien,
sodaß immer wieder die Frage des Paulus ertönen
mußte: Wie stimmt Christus mit Belial? Nachklänge
dieser Mysterien sind in späterer Zeit die Verirrungen
des Templerordens, und daß, wo die innere Gott-
entfremdung zu frechem Unglauben oder dunklem Aber-
glauben führt, bald auch der Kultus des Fleisches seine
wüsten Orgien feiert, zeigen Erscheinungen unserer Tage
wie die „schwarze Messe" und Ähnliches.
Ob Paulus jemals sich vor die Frage der Homo-
sexualität gestellt sah, ob ihm jemals konkrete Fälle
gleichgeschlechtlichen Empfindens vor die Augen traten
und ob er sich über dieselben klar zu werden versuchte,
oder ob er daran als an einem unlösbaren Katsel vor-
überging, wer kann das sagen? Über die Zügellosigkeit
im geschlechtlichen Verkehr, über die Verletzung des
Schamgefühles hat Paulus sich deutlich geäußert und
den Wüstlingen spricht er unzweideutig das Urteil an
mehr als einer Stelle in seinen Briefen. Das darf ein
Mann wie er, der sich aller und jeder geschlechtlichen
Betätigung um des Reiches Gottes willen enthält Der-
selbe Paulus verlangt aber nicht von allen gleiche Voll-
kommenheit, wie er sie besitzt, weil er weiß, wie ver-
schiedenen Temperamentes die Menschen sind und wie
schwach das Fleisch ist. Die Christen zu Korinth legten
ihm die Frage vor, was besser sei, heiraten oder Brunst
leiden, und Paulus entschied in seiner weitherzigen
Toleranz für das erstere, d. h. er erkannte es für besser,
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— 106 —
daß der Mensch seine Triebe, welche der Schöpfer in
ihn gelegt hat^ betätige^ als in fortwährendem Kampfe
mit Fleisch und Blut sich selbst aufzureiben^ als sich eia
Gewissen zu machen aus etwas, was an und für sich keine
Sünde ist Man lese nur das 7. Kapitel im I. Korinther-
Brief, um die Weitherzigkeit des Apostels zu erkennen.
So wenig Paulus die heterosexuelle Liebe und deren
geordnete Betätigung verdammt, sondern letztere aus-
drücklich erlaubt, zur Vermeidung von Ausschweifungen,
so wenig kennt er Verbote für die Betätigung der gleich-
geschlechtlichen Liebe. Mochte er die Ausschreitungen
der einen wie der anderen kennen, er tritt auf Einzel-
heiten nicht ein, sondern faßt alles unter demselben
Namen „Unzucht" zusammen und stellt dieser ein ge-
ordnetes Geschlechtsleben, welches das Schamgefühl
nicht verletzt und keinen öffentlichen Anstoß erregt, als
Schutzmittel gegenüber.
Über gewisse Dinge spricht ein züchtiger Mensch
nicht, auch wenn er sie tut und ohne Gewissensskrupel
tut (das wissen Eheleute am besten); aber wenn wir nun
Paulus die Frage vorlegen könnten: Was soll der tun,
der Brunst leidet, dem es aber gegen seine ganze Natur
ginge, wenn er beim andern Geschlechte Befriedigung
suchen müßte, weil er homosexuell empfindet, ist einem
solchen gleichgeschlechtliche Betätigung erlaubt, inner-
halb der Schranken der Schamhaftigkeit und des An-
standest, so wissen wir nicht, wie er diese Frage be-
antworten würde. Die einen legen ihm ein ruhiges und
bestimmtes „Ja" in den Mund, die andern ein ebenso
bestimmtes „Nein", noch andere wagen gar nichts zu ent-
scheiden. In jedem Falle werden wir auf individuelle
Ansichten, auf persönliche Meinungen, die stark unter
dem Einflüsse des eignen Naturtriebes stehen, angewiesen
sein; wo aber nur Meinungen und Ansichten zur Geltung
kommen, muß an der Regel festgehalten werden : Keiner
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richte den andern. Panlus die Absicht nnterschieben^
daß er den Uraniern ein anderes^ strengeres Gesetz für
ihr Geschlechtsleben als den Heterosexuellen habe auf-
erlegen und sie um der Betätigung ihrer natürlichen
Liebe willen zur Steinigung, zum Scheiterhaufen oder
zum Gefängnis in diesem Leben verurteilt, im Jenseits
ewig verdammt wissen wollen, das hieße doch seine
Worte nicht auslegen, sondern verdrehen, die eigene In-
toleranz dem Apostel unterschieben und den zu einem
christlichen Ungeheuer stempeln, der in geschlechtlichen
Dingen so milde Toleranz übte wie sein göttlicher Meister.
Ich schließe, indem ich der festen Überzeugung
Ausdruck gebe, der üranier habe sich nicht gegen die
heilige Schrift zu verteidigen, nicht gegen eine einzige
Stelle derselben, nur gegen eine althergebrachte Aus-
legung. Die heutige Christenheit steht dem Heidentume
ferne, sie kommt höchstens noch an der Peripherie mit
demselben in Berührung, daher denken wir nicht an die
Beziehung vieler Schriftstellen zu demselben; Paulus
aber wie Moses lebten mitten in jener argen Welt und
eiferten für die Reinhaltung des Volkes Gottes von
allen dämonischen Einflüssen. Indem ich mich in die
Lage der beiden Gottesmänner hinein zu versetzen ver-
suchte, glaube ich den richtigen Sinn der in Frage
kommenden Abschnitte gefanden zu haben. Auch wenn
es mir nicht gelungen sein sollte, hoffe ich wenigstens,
mit so viel Ernst an die Frage herangetreten zu sein,
daß niemand mir vorwerfen wird, ich mache mich da-
mit zum Apostel der Unsittlichkeit, wenn ich die weit-
gehendste Toleranz auf christlichem Boden vertrete. Wie
man sich seiner Aufklärung rühmen und doch sehr be-
schränkte Lebensanschauungen haben kann, wie man
nicht orthodox zu sein braucht, um doch bis über die
Ohren in pharisäischen Vorurteilen zu stecken, so läßt
sich andererseits das strengste Bibelchristentum gar wohl
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mit großer Weitherzigkeit yerbinden. Mein Alter, viele
Reisen und jahrelanger Aufenthalt in fremden Ländern
haben meinen Glauben nicht verändert, aber meinen
Gesichtskreis erweitert, und als ich an diese sehr deli-
kate Frage herantrat, da tat ich es im klaren Bewußt-
sein meiner Verantwortung vor Gott. Daß ich sie ganz
gelöst habe, schmeichele ich mir nicht, der Versuch aber
war ein Akt der Anerkennung fär das wissenschaftlich-
humanitäre Komitee, dessen Wirksamkeit mir als eine
Wohltat für Tausende erscheint, als ein Werk der inneren
Mission, das der Unterstützung nicht bloß von Seiten der
Homosexuellen — wo käme dieses kleine Häuflein allein
hin? — sondern auch der Heterosexuellen bedarf und
würdig ist der Hilfe aller, denen an der Wahrheit ge^
legen ist
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Das Ergebnis
der statistischen Untersuchungen über
den Prozentsatz der Homosexuellen.
Von
Dr. Magnus Htrschfeld.
Motto: „Ihren Höhepankt erreicht die
Aufgabe der Statistik in der Entdeckung
von Regelmäßigkeiten und Gesetzen. '*
Dr. Max Haushofer.
Prof. an der k. teohn. Hochschule su MQnchen.
(Lehr- u. Handbuch d. Statistik, 2. AufL, S. 57.)
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Die Frage nach der Zahl der Homosexuellen ist oft
aufgeworfen, die Wichtigkeit ihrer Beantwortung wiederholt
hervorgehoben worden. So betonte Groß^) vor einigen Jahren
die Bedeutung einer zahlenmäßigen Feststellung; er meinte,
,^man müsse feste Anhaltspunkte über die Zahl der Kon-
trären und die Begehung homosexueller Handlungen,
nötigenfalls unter Beihilfe der Homosexuellen, gewinnen,
um die Zahl der Gesetzesübertretungen und die Anzahl
der tatsächlich erfolgten Verurteilungen vergleichen zu
können. Wenn die Prozentzahl der gesühnten Verbrechen
gegen die Zahl der begangenen verschwindend klein sei,
so sei der Strafzweck nicht erreichbar; eine Bestrafung
einer winzigen Anzahl von Fällen verfalle dem Fluche
der Lächerlichkeit Bei der Zweifelhaftigkeit der Straf-
barkeit homosexueller Handlungen bilde dies dann einen
Grund mehr für die Straflosigkeit"
Einen ähnlichen Gedankengang, wie den von Groß
entwickelten, stellte bereits im Jahre 1869 ein un-
bekannter Autor^] in einer ganz ausgezeichneten, jetzt
*) Groß, Besprechung des Baches von Wachen fehl,
Homosexualität und Strafrecht, Archiv für Kriminal-
anthropologie etc., Bd. VI, Heft 3 u. 4, 1901, S. 361— 365.
*) Der Verfasser — ein Arzt — nannte sich als Schrift-
steller sonst M. Kertbeny. Er ist — so weit ich sehe — der
Präger des Wortes „homosexuaP^ Dieses jetzt so viel angewandte
Wort findet sich zum ersten Male auf S. 48 der oben zitierten
Schrift in folgendem Satze: ,,Neben dem normalsexuellen
Triebe der gesamten Menschheit und des Tierreiches scheint die
Natur in ihrer souveränen Laune bei Mann wie Weib auch df^n
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— 112 —
fast verschollenen Monographie an, welche ^en Titel
führt: „§ 143 des Preußischen Strafgesetzbuches vom
14. April 1851 und seine Aufrechterhaltung als § 152
im Entwürfe eines Strafgesetzbuches iiir den Norddeutschen
Bund. Offene y fach wissenschaftliche Zuschrift an Seine
Exzellenz Herrn Dr. Leonhardt, kgl. preußischen Staats-
und Justizminister'' (Leipzig, Serbes Kommissionsverlag^
1869). Der offenbar sehr gut unterrichtete Verfasser
rechnet in seiner Schrift auf die 700000 Einwohner,
welche Berlin damals zählte, 10000 Homosexuelle. (Das
wären 1,425 7o*) ^f nimmt an, daß diese sich einmal
die Woche zu Handlungen verleiten lassen, die der Q-e-
fahr der durch § 143 angedrohten Verfolgung ausgesetzt
sind. Diesen 520000 Fällen jährlich, „welche Sühne zu
fürchten haben'^, standen im Jahre 1867 57 Fälle gegen-
über, welche zur Anzeige gekommen sind; zu einer Ver-
urteilung kam es nur in 18 Fällen, in 35 wurde das
Verfahren eingestellt, 4 blieben „unerledigt". Im Jahre
1868 kam in ganz Berlin bloß ein Fall „widernatürlicher
Unzucht" zur Anzeige.
Der Verfasser von § 143 fährt nach diesen Gegen-
überstellungen wörtlich weiter:
„Dehnt man diesen approximativen Kalkül auf alle
homosexualen Trieb gewissen männlichen oder weiblichen In-
dividuen bei der Geburt mitgegeben, ihnen eine geschlechtliche
Gebundenheit verliehen zu haben, welche die damit Behafteten
sowohl physisch als geistig unfähig macht, auch bei bestem Willen
zur normalsezualen £rektion zu gelangen, also einen direkten
Horror vor dem Gegengeschlechtlichen voraussetzt und es den
mit dieser Leidenschaft Behafteten ebenso unmöglich macht, sich
dem Eindruck zu entziehen, welchen einzelne Individuen des
gleichen Geschlechts auf sie ausüben." Der Verfasser bildet
weiter die Worte: „Homosexualist", „Homosexualistin", „Homo-
sexualismus" und „Homosexualität". Das Wort „heterosexual"
wird nicht gebraucht, dagegen — auch wohl zum ersten Male —
die Bezeichnung „monosexual".
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1212 größere und mittlere Städte Preußens aus, je nach
der Höhe ihrer Bevölkerung — die ganz kleinen Städte
und die ungemein größere Anzahl der Landbewohner
Töllig außer Acht lassend — so erhalten wir ein Zahlen-
resultat über wahrscheinlich verübte, jetzt noch straf-
bedrohte Handlungen, gegen welche die wirklich straf-
rechtlich verfolgten Fälle sich verhalten wie eine Mücke
zu einem Elefanten! Also Tausende und Tausende be-
gehen stündlich, täglich Taten^ welche heute noch straf-
bedroht sind, aber dem Gesetze verfallen jährlich von all
diesen Tätern kaum drei, vier Dutzend! Und diese nicht
etwa, weil sie das straf bedrohte Vergehen so arg übertrieben,
im Gegenteile, nur, weil sie so unglücklich oder so unklug
waren, sich zu sehr zu exponieren, weil sie der Denunzia-
tion unterlagen, zumeist wohl, weil sie zu mittellos waren,
um streng verschlossene Gemächer, treue Diener, willige
Kreaturen zu haben, ihres Geliebten wie aller Mitwisser
Schweigen zu erkaufen, oder weil sie sozial zu niedrig
standen, als daß man mit ihnen so viel „Federlesens''
gemacht hätte. Diese so namenlos geringe Minorität ist
also jährlich der schwerbestrafte Martjr des Paragraphen,
das Opfer der straflos ausgehenden immensen Majorität,
der Sündenbock des Gerechtigkeitsprinzipes!''
Von ähnlichen Gesichtspunkten ging auch Bebel
aus — und zwar stellten die drei genannten Gewährs-
männer ihre Betrachtungen völlig unabhängig von ein-
ander an — als er in seiner ersten ßeichstagsrede über
den § 175^) sagte, daß, wenn ein Strafgesetz nur aus-
nahmsweise gehandhabt werden kann oder gehandhabt
wird, die Frage entsteht, ob die Strafbestimmung noch
aufrecht zu erhalten ist
Läßt sich aus dem zahlenmäßigen Mißverhältnis
^) Vgl. Jahrbuch fUr sexuelle Zwischenstufen, Bd. I,
S. 274.
Jahrbuch VI. 8
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— 114 —
zwischen begangenen und yerurteilten Handlungen,
zwischen bestraften und straffreien Tätern die Ungerech-
tigkeit des heutigen Rechtes erweisen, so wird diese Un-
gerechtigkeit um so größer, wenn das Recht an sich ein
Unrecht ist.
Wir wissen aus der Geschichte und haben es mit-
erlebt, mit welchem Eifer sich edle Männer und mit
ihnen bedeutende Menschenscharen einer einzigen Per-
sönlichkeit annahmen, von der sie glaubten, daß sie
unschuldig verurteilt sei, und wahrlich, es ist besser,
daß Hunderte schuldbeladen frei herumgehen, als daß
einer schuldlos der Freiheit beraubt ist.
Denken wir, wie rastlos Voltaire^) sich für den 1761
hingerichteten Jean Calas verwandte, bis König und Rat
den Fall einer nochmaligen Prüfung unterzogen, Calas
einstimmig für unschuldig erklärten und der unglücklichen
Familie die eingezogenen Güter und vor allem ihre Ehre
zurückgaben, — rufen wir uns zurück, wie Egidy für das
Wiederaufnahmeverfahren in Sachen Zieten stritt, bis
der Tod erst den einen und bald den anderen hin weg-
nahm, — erinnern wir uns, was Zola für Dreyfus tat, wie
sich fast die ganze gebildete Welt mit der Schuldfrage
dieses einen als Person gewiß nicht beachtenswerten
Mannes beschäftigte — in Sachen der Homosexuellen
aber handelt es sich nicht um einen, der möglicherweise
zu Unrecht im Gefängnis schmachtet, sondern um Hunderte,
nicht um Hunderte, die ihr Leben lang in Gefahr
schweben, möglicherweise schuldlos einem Gesetze zu ver-
fallen, das über dem Richter steht, sondern um Tausende
und Abertausende.
Gewiß ist es daher für die Beurteilung unserer
Forderungen von hohem Belang, wenn wir den stati-
*) Dryander, Der Prozeß Calas und die Toleranz,
Barmen 1887, sowie vor allem Voltaire, Sur la tolerance k
cause de la mort de Jean Calas.
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stischen Nachweis führen können, wie groß der Prozent-
satz der Beyölkerang ist, deren Wohl und Wehe hier auf
dem Spiele steht.
Aber auch für die Bewertung des Uranismus selbst
ist es unerläßlich^ daß wir über die Ausdehnung unter-
richtet sind, welche er im Volkskörper einnimmt Bloch ^)
bemerkt ganz richtig: „Das Urningtum würde tatsächlich
soziale Bedeutung besitzen, wenn die von einzelnen Homo-
sexuellen gemachten Angaben über die große Zahl der
Homosexuellen, speziell derjenigen mit angeborener kon-
trärer Sexualempfindung, richtig wären."
Viele wissenschaftliche Unterfragen lassen sich auf
diesem Gebiet ohne statistisches Fundament überhaupt
nicht sicher beantworten, so die Frage, ob — wie oft
behauptet — die Homosexuellen in nennenswerter Weise
der Überyölkerung entgegenwirken,*) ferner, ob die Ziffer
geborener Urninge einen konstanten Quotienten darstellt,
ähnlich der Verhältniszahl männlicher und weiblicher Ge-
burten, ein Umstand, der, wenn statistisch nachweisbar, gewiß
für die Fortpflanzungsbiologie höchst beachtenswert wäre. *)
^) Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexua-
lis, Tl. 1, S. 215, Verlag Dohm in Dresden.
*) Dr. Hans Fischer, Nervenarzt in München, Homo-
sexualität eine physiologische Erscheinung? Berlin 1903,
Gnadenfeld u. Co. In dieser kleinen, aber wertvollen Schrift
heißt es auf S. 11: „Mir scheint vielmehr — es ist freilich eine
Hypothese, welche ich aufstelle, für welche ich schon deshalb,
weil selbstredend eine nur halbwegs brauchbare Statistik über die
Häufigkeit des Homosexualismus fehlt, keinen anderen Beweis, als
den in vorstehenden Ausfuhrungen enthaltenen Induktionsbeweia
bringen kann — mir scheint die Homosexualität eine Selbsthilfe
der Natur gegen die Übervölkerung in solchen Gegenden, in
denen die Dichtigkeit der Menschen eine solche befürchten läßt.*'
») Vgl. Dr. med. E. Rüdin, Zur Rolle der Homo-
sexuellen im Lebensprozeß der Rasse, im Archiv für
Rassen- und Gesellschaftsbiologie, herausgegeben von
Dr. A. Plötz, Jahrg. I, Heft 1, Januar 1904, S. 102 ff.
8*
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— 116 —
Es ist nun yon Yomherein klar, daß einer Ermittelung
der Anzahl der Homosexuellen außerordentlich große
Schwierigkeiten entgegenstehen, die mir früher selbst un-
überwindlich erschienen.
Die Volkszählung kennt nur zwei scharf umgrenzte
Geschlechter. Die Angaben der Eriminalstatistik sind
völlig unbrauchbar. Diejenigen Homosexuellen, welche
zur Anzeige und Aburteilung gelangen, bilden erfahrungs*
gemäß und naturgemäß einen so verschwindend kleinen
Bruchteil der wirklich vorhandenen, daß ihre Zahl für
unsere Zwecke nicht verwertbar ist. Gelangten doch
nach der obigen Berechnung 1867 nur 0,011 und 1868
gar nur 0,00019^0 der wahrscheinlich vorgekommenen
Fälle zur Anzeige. Ungleich mehr Homosexuelle, als
in die Hände der Richter, geraten jedenfalls in die Arme
der Erpresser, aber auch deren Erfahrungen fallen für
die Statistik aus. Ebensowenig bieten die in die Polizei-
listen eingetragenen Homosexuellen ein schlüssiges Mate-
rial. Diese Listen, welche eingerichtet wurden, um „in
vorkommenden Fällen" Anhaltspunkte zu besitzen, um-
fassen zwar in Berlin mehrere tausend Nummern; sie
entstehen in der Weise, daß zuständige Beamte die Namen
derjenigen angeben, von welchen sie direkt oder indirekt
erfahren haben, daß sie homosexuell sind. Es liegt aber
auf der Hand, daß die Eintragungen nicht nur unzuver-
lässig, sondern auch unvollständig sein müssen ^)
Wenn wir uns von den Juristen an die Mediziner
wenden, so bleiben auch diese die Antwort schuldig.
Völlig zutreffend schreibt Merzbach:*) „Die Homosexuellen
^) Ich verdanke diese Angaben dem verstorbenen Kriminal-
direktor v. Meerscheidt-Hüllessem.
*) Die Lehre von der Homosexualität als Gemein-
gut wissenschaftlicher Erkenntnis, von Dr. Georg Merz-
bach, Arzt für Haut- and Geschlechtsleiden in Berlin, in der
Monatsschrift für Harnkrankheiten u. sexuelle Hygiene,
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— 117 -
sind zwar allerorteD, auf dem Lande und in den Städten,
in der Hütte und in den Palästen, bei den Eultuvolkern
wie bei den wilden Stämmen in nicht eben kleiner Zahl
anzutreffen, aber es dürfte doch nur wenige Arzte geben,
denen sich Homosexuelle in dieser Eigenschaft als
Patienten anvertraut haben. Diesen Umstand erklärt
einesteils die begreifliche Scheu des Homosexuellen, sich
selbst dem Arzte in einem Zustand anzOTertrauen, den
die Gesellschaft mit Ächtung und das Gesetz mit harter
Strafe bedroht, anderenteils ihr Bewußtsein, daß sie der
Arzt entweder nicht versteht oder ihnen Rat und Heilung
doch nicht zu bieten imstande ist."
Was hier Merzbach ausführt, gilt nicht nur für
den einfachen praktischen Arzt, sondern auch für den
Spezialarzt, sowohl den für Geschlechtsleiden, als auch
den für Seelenstörungen. Seitdem hervorragende Ge-
richtsärzte und Psychiater wie Casper,^) Westphal,^
Krafft-Ebing^ in den sechziger und siebziger Jahren des
letzten Jahrhunderts dem Gegenstande ihre Aufmerksam-
keit zugewandt haben, haben sich die Psychiater für
besonders qualifiziert erachtet, « nicht nur über das
Heft 1, Jahrg. I, 1904. Unter Mitwirkang hervorragender Mit-
arbeiter herausgegeben von Dr. med. Karl Ries. Verlag Malende,
Leipzig.
*) 1863. Joh. Lndw. Casper, Klinische Novellen zur
gerichtlichen Medizin^ Nach eigenen Erfahrungen, S. 33—52,
Berlin.
") 1870. C. Westphal, Die konträre Sexualempfin-
dung, Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten,
Bd. II, S. 73.
") 1877 erschien die erste Arbeit Krafft-Ebings über die
Homosezualit&t unter dem Titel: Über gewisse Anomalien
des Geschlechtstriebes und die klinisch-forensische
Verwertung derselben als eines wahrscheinlich funk-
tionellen Degenerationszeichens des zentralen Nerven-
systems, Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankheiten,
Bd. VII, 8. 291.
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— 118 —
Wesen, sondern auch über die Zahl der Homosexuellen
selbstäpdige Urteile abzugeben. Entsprechend ihrer Er-
fahrung erklären fast alle^] die Homosexualität für ein
außerordentlich seltenes Vorkommnis. Es ist ein ganz
besonderes Verdienst von Näcke,*) hervorgehoben zu
haben, daß die meisten dieser Autoren keine genügenden
Sachverständigen seien, weil ihr Material viel zu gering
und gewöhnlirfi unter abnormen Verhältnissen beobachtet
sei. Daß aber von den sechs Autoren, welche Näcke
als wirkliche Sachverständige auf dem Gebiete der Homo-
sexualität aufzählt, kein einziger eine bestimmte Meinung
über die Anzahl der Homosexuellen äußert, ist sicher-
lich kein Zufall. Mit der Erfahrung wächst die Vor-
sicht im Urteil. So schreibt MoU:^ „Was die Zahl der
*) Bei Psychiatern und Gerichtsärzten finden sich Angaben
über die Menge der Homosexuellen:
a) 1887. Kräpelin, Kurzes Lehrbuch der Psychiatrie,
Leipzig, S. 581: ,,1 auf 200 (Ulrichs) wahrscheinlich beträchtlich
übertrieben/' Ibidem: „Bisherige Kasuistik umfaßt noch nicht
50 Fälle."
b) 1896. Straßma»nn, Lehrbuch der gerichtlichen
Medizin, 8. 119: „Angaben von Ulrichs zu hoch.'^
c) 1899. Wollenberg, Über die Grenzen der straf-
rechtlichen Zurechnungsfähigkeit bei psychischen
Krankheitszuständen, in Neurologisches Centralblatt,
Nr. 9 : „Große Überschätzung der Zahl der echten Homosexuellen."
(Mach Bloch, a. a. 0., S. 218.)
d) 1900. Gramer, Gerichtliche Psychiatrie. Jena,
S. 279—280: „Zahlen der Literatur zu hoch."
e) 1902. Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psy-
chiatrie, Berlin, S. 494: „Die Häufigkeit wird wohl überschätzt"
*) Dr. P. Näcke, Die Probleme auf dem Gebiete der
Homosexualität, in der Allgemeinen Zeitschrift für
Psychiatrie und psychiatrisch-gerichtliche Medizin,
Bd. LIX, Heft 6, S. 805—829.
^) Dr. Albert Moll, Die konträre Sexualempfindung,
HL Aufl., S. 144, Berlin 1899, W. Fischers medizinische Buch-
handlung.
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— 119 —
Urninge betrifft, so ist es unmöglich, genau anzugeben,
welchen Prozentsatz der Bevölkerung sie ausmachen";
und etwas weiter: ,,Ich habe selbst in Berlin etwa
6 — 700 Urninge gesehen und beobachtet und von etwa
250 — 350 gehört Nach diesem ungefähren Bilde kann
ich feststellen, daß sich die Zahl der Berliner Urninge
mindestens auf 900 beläuft. Daß aber in Wirklichkeit
diese Zahl wesentlich tiberschritten wird, kam ich mit
größter Wahrscheinlichkeit sagen. Ob es 3000 oder
10000 oder sogar, was ich nicht für ausgeschlossen
halte, noch mehr Homosexuelle in Berlin gibt, darüber
kann icli mit Sicherheit nicht urteilen." Ich selbst
habe bis jetzt (1. März 1904) 1892 homosexuelle Männer
und 207 homosexuelle Frauen persönlich kennen gelernt,
sehe fast täglich neue, würde es aber für gänzlich ver-
fehlt halten, wenn ich auf Grund eigener Beobachtung
und Erfahrung eine Ansicht über den Prozentsatz der
Homosexuellen äußern wollte.^)
Auch die Anzahl der Homosexuellen, welche mit
dem wissenschaftlich-humanitären Komitee in Beziehungen
stehen, lassen keinen Schluß auf die Gesamtmenge der
deutschen Uranier zu. Wir betonen dies besonders gegen-
über Dühren-Bloch, ^) welcher die dem Komitee bekannten
^) Da ein Kritiker meines Buches Der urnische Mensch
meinte, ich hfttte die Homosexuellen vielleicht ohne heterosexuelles
Vergleichsmaterial studiert, bemerke ich, daß ich eine allgemeine
ärztliche Praxis ausübe, in der ich durchschnittlich im Tage SO
Personen sehe bezw. untersuche, von denen nur durchschnittlich
3 homosexuell sind.
«) Dr. E. Dühren, Das Geschlechtsleben in England
mit besonderer Beziehung auf London, Bd. III, S. 4 (Berlin
bei Lilieuthal 1903) schreibt:
„Gegenüber den früheren übertriebenen Angaben ist eine Stelle
in der neuerdings vom „Wissenschaftlich-humanitären Komitee"
anläßlich der Anschuldigungen gegen Krupp veröffentlichten
„Erklärung" bedeutsam, in welcher dieses Komitee, das sicherlich
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— 120 —
Homosexuellen für „den größten Teil der in Deutsch-
land lebenden Homosexuellen" hält
Abgesehen von den vielen Menschen, welche
nach dem Gesetz der Trägheit trotz starker Anstoße
nicht aus dem Indifferenzzustand herauszubringen sind,
gibt es zahlreiche Homosexuelle, die in übergroßer Ängst-
lichkeit völlig grundlos fürchten, sie könnten „bekannt
.werden", wenn sie mit dem Komitee in Verbindung treten;
es ist psychologisch nicht uninteressant, daß häufig gerade
diejenigen, welche „bekannt sind", von dieser Besorgnis
erfüllt sind. Von den älteren meinen viele, wenn sie das
Martyrium so lange ertragen haben, wollen sie nun auch
noch den Rest über sich ergehen lassen, sie würden es
ja doch nicht mehr erleben, daß es anders wird; das,
was vielen Normalsexuellen ein Antrieb zum Kampfe ist,
es möge ihren direkten Nachkommen ein besseres Los als
ihnen selbst beschieden sein, fällt bei den meisten Homo-
sexuellen fort. Nicht wenige meinen durch ihre Stellung,
ihre Reichtümer, ihre Klugheit in allen Fährnissen ge-
nügend geschützt zu sein und wieder andere bleiben aus
Bescheidenheit fern, da sie doch nichts bieten und leisten
könnten; manchen ist in ihres Lebens Qual die Hoffnung,
anderen das Ehrgefühl, manchen das Vertrauen und
anderen wiederum die Opferwilligkeit abhanden ge-
kommen; auch aus Nörgelsucht schließen sich viele nicht
über die Zahl der Homosezaellen in Deutschland auf das genaueste
orientiert ist, von „1500 ihm bekannten" Homosexuellen spricht
Da anzunehmen ist, daß das Komitee, welches den reformbedürf-
tigen § 175 des Reichsstrafgesetzbnchs (Bestrafung des homo-
sexuellen Verkehrs mit Gefängnis) gänzlich abgeschafft wissen will,
den größten Teil der in Deutschland lebenden Homosexuellen für
seine Bestrebungen herangezogen hat, so ist daraus wenigstens
der Schluß erlaubt, daß bei einer Bevölkerung von 55 Millionen
die wirkliche Zahl der Homosexuellen in Deutschland eine ver-
schwindend geringe ist/*
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— 121 —
an: ^^Dieser Schritt des Komitees sei Dicht richtig gewesen
und das hätte ganz anders gemacht werden müssen.^'
Gerade nnter den üraniem gibt es so manchen ,,Oeist,
der stets yemeint"; ja eine nicht ganz kleine Schar steht
der Aufklärungsarbeit auf diesem Gebiete überhaupt
feindselig gegenüber, früher wäre es gar nicht so sehr
aufgefallen, wenn sie mit einem Freunde einer anderen
Alters'- und Gesellschaftsschicht viel zusammengewesen
seien, jetzt aber wüßten viele Bescheid und könnten
Argwohn schöpfen. Endlich ist auch zu berücksichtigen,
daß sehr viele Urninge der untersten und wohl auch der
mittleren Volkskreise naturgemäß von dem Vorhanden-
sein des Komitees überhaupt nichts wissen, weil ihnen
der direkte oder indirekte Kontakt mit der wissenschaftlichen
oder auch mit der Tagesliteratur fehlt. So gibt es viele
Gründe, die es begreiflich machen, daß auch dem wissen-
schaftlich-humanitären Komitee nur ein kleiner Bruchteil
der Homosexuellen bekannt ist.
Die Sammelplätze Homosexueller, die umischen
Kneipen, Bäder, Klubs, die sogenannten Striche geben
ebenfalls kein richtiges Bild. Die übergroße Mehrzahl
der Urninge lebt gänzlich zurückgezogen für sich oder
mit einem Freunde, bemüht, ihre „Schwäche" als tiefstes
Geheimnis vor der Welt zu bewahren, insonderheit auch
vor Schicksalsgenossen, bei denen doch die Möglich-
keit eines Skandals nie ganz ausgeschlossen ist. Andere
haben wohl einige homosexuelle Bekannte, hüten sich
aber wohl, Örtlichkeiten aufzusuchen, die als TrefiFpunkte
umischer Personen gelten. Immerhin ist es beachtens-
wert, daß es in Berlin 18 — 20 Restaurants, verschiedene
Bäder und Pensionsanstalten gibt, die fast nur von
Homosexuellen aufgesucht werden, und daß alle Zusammen-
kunftsstätten meist stark frequentiert sind; auf einem der
häufig stattfindenden ümingsbälle, den ich vor einigen
Wochen mit mehreren Gerichtsärzten besuchte, befanden
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— 122 —
sich nicht weniger als 6 — 700 Homosexuelle, von denen
ich höchstens 50 dem Aussehen nach kannte.
Einige Autoren haben Mitteilungen veröffentlicht^
welche ihnen Urninge selbst über die Anzahl der Homo-
sexuellen gegeben haben, teils über die Menge, welche sie
überhaupt kennen gelernt haben, teils über diejenigen,
welche ihnen in der Stadt, in der sie lebten, bekannt ge-
worden sind. Ein Patient Krafft-Ebings ^) kennt in einer
Stadt von 13000 Einwohnern 14 Urninge, in einer andern
von 60000 Einwohnern wenigstens 80, ein Urning hat
Moll ^ mitgeteilt, daß ihm in Magdeburg 70, ein anderer, daß
jemandem in einer Stadt von 60000 Einwohnern 50 Homo-
sexuelle bekannt seien, ein anderer hat in einer Stadt
von 350000 Einwohnern mit 250 Männern Beziehungen
gehabt, ein anderer, der sehr viel gereist ist und sich
genaue Aufzeichnungen gemacht hat, will in 20 Jahren
gar mit 965 Männern sexuell verkehrt haben. Auch ich
besitze eine Reihe ähnlicher MitteiluDgen,*) halte aber
alle diese Angaben für eine Statistik über die Homo-
sexualität unverwertbar, da es sich aus den bereits ge-
M Psychopathia sexualis, 1903, S. 250— 251.
*) Konträre SexuaJempfindung, 1899, S. 145— 146.
*) Aus folgenden Städten liegen mir Nachrichten von Homo-
sexuellen über die Ziffer der ihnen am Platz bekannten Ur-
ninge vor:
Agram 7, Bern 10, Berlin 300—400, Braunschweig 82, Char-
lottenburg 20, Cilli 20, Danzig über 100 (ein anderer kennt 50),
Dortmund 20, Düsseldorf 200, Elberfeld 30, Eutin 4, Flensburg 25,
Görlitz 10, Halle 10, Hamburg 60 (ein anderer kennt 14), Hildes-
heim 15 (ein zweiter kennt 8), Preuß. Holland 4, Innsbruck 20,
Kiel 40, Köln einige Hundert, Königsberg 10, Landau (Pfalz) 3,
Langensalza 6, Lübeck 2, Mannheim gegen 1000 (?), Meißen 15,
Metz 20, München 100 (ein zweiter will „mehrere Tausend" kennen),
Neu-Ruppin 2, Ober-Zauche (Kreis Glogau) 6, PfuUingen 2, Pots-
dam 40, Radebeul 2, Remscheid 3, Straßburg 40—50, Stuttgart 130
(ein zweiter gibt 40, ein dritter 25 an), Triest 24, Weimar 10,
Wien 400.
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— 123 —
nannten Gründen doch immer nur um eine beschränkte
Gruppe handelt, die einem Urning direkt oder indirekt
bekannt geworden ist, namentlich die meines Erachtens
zahlreicheren monogam veranlagten Urninge werden selten
bekannt, auch entsprechen die Gerüchte, die über die
Homosexualität dieser oder jener Person im Umlauf sind,
keinesfalls immer der Wahrheit. Zweifelsohne wohnt auch
vielen Urningen die Neigung inne, die Menge ihrer Leidens-
gefährten zu hoch zu beziffern, doch kommt auch das
Gegenteil vor; so beruft sich Bloch, ^) nachdem er soeben
„die Übertreibungen der Urninge gegeißelt" hat, selbst
auf einen urnischen Gewährsmann, den Grafen Cajus,
welcher annimmt, daß auf 10000 Männer 1 Homosexueller
kommt, und mit vollem Recht hebt Moll*) hervor, daß
sich Ulrichs^ „kaum einer Übertreibung, eher einer
ünterschätzung schuldig gemacht hat. wenn er auf
2000 Seelen oder 500 erwachsene Männer durchschnitt-
lich einen erwachsenen Urning rechnet", demnach zu der
Zeit, als er dies schrieb (1868), in Deutschland etwa 25 000,
in Preußen 10—12000, in Berlin 500—1000 Urninge.
Bei der völligen Unzulänglichkeit der geschilderten
Unterlagen ist es nur zu begreiflich, daß die Meinungen
über die Menge der Homosexuellen ganz außerordentlich
weit auseinandergehen. Sie bewegen sich zwischen 1 auf
50^) und 1 auf 10000, also zwischen 2 pro cent und
0,1 pro mille. Für das gegenwärtige ca. 2,5 Millionen
1) A. a. 0., Bd. I, S. 218.
«) A. a. 0., S. 146.
^) Ulrichs hat seine Ansicht im Gladius furens, 1868,
Vorbemerkung, im Memnon, 1868, I, S. 8, im Incubus, 1869,
S. 5 — 6, im Argonauticus, 1869, S. 4, und Prometheus, 1870,
S. 4, niedergelegt
*) Gustav Jäger, Entdeckung der Seele, 3. Aufl., Bd. I,
8. 257, Leipzig 1884, berichtet, daß ein Gewährsmann von ihm
auf 50 Männer 1 Homosexuellen annimmt.
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— 124 —
Einwohner zählende Groß-Berlin ^) würde somit der
eine 51682, der andere 258 üranier rechnen.
Nach Ulrichs würde Berlin zur Zeit 1292 (bei 1 auf
2000 oder 0,05 7o)» nach dem Verfasser von § 143
86694 (bei 1,42 7^) Uranier beherbergen.^
Die übrigen Autoren begnügen sich damit, die
Homosexualität entweder für ein häufiges, oder für ein
seltenes Vorkommnis zu erklären, ohne allerdings ihre
Vermutungen des näheren zu begründen. Wenn Voltaire")
* ') Die Bevölkerung der Reichehauptstadt betrug Ende 1903
1893665, die der zu Groß- Berlin gerechneten Vororte 691275, zu-
sammen 2 584140 Einwohner.
^ In einer anonymen, ca. 1877 bei Max Marcus in Berlin
erschienenen Schrift Die Geheimnisse der Berliner Passage
ist die Zahl der „Berliner Männerfreunde oder Päderasten" auf
10000 beziffert.
') Die Stelle bei Voltaire findet sich im Dict. philos.,
S. 285, und lautet:
„Ce vice est tr^s-rare parmi nous, et il y serait presqu'in-
connu Sans les d^fauts de l*^ducation publique. Montesquieu
pr^tend qu'il est commun chez quelques nations mahom^tanes, k
cause de la facilit^ d'avoir des femmes; nous croyons que c*est
difficult^ qu^il faut lire."
Kurz vorher, S. 277— 278, Dict. philos., 52, sagt er:
„On n'ignore pas que cette m^prise de la nature est beau-
coup plu$ commune dans les climats douz que dans les glaces du
Septentrion, parce que le sang y est plus allume, et Toccasion
plus fr^quente: aussi ce qui ne parait qu'une faiblesse dans le
jeune Alcibiade, est une abomination degoütante dans un matelot
hollandais, et dans un vivandier moscovite.'^
Die Ansicht Montesquieus, auf die Voltaire sich beruft,
findet sich im Esprit des lois, livre XII, chap. VI, p. 286
(vol. I), und heißt:
„Je dirai bien que le crime contre nature ne fera jamais
dans une soci^te de grands progrös, si le peuple ne s'y trouve
port^ d^ailleurs par quelque coutume, comme chez les Grecs, oü
les jeunes geus faisaient tous leurs exercices nus; comme chez
nous, oüi r^ducation domestique est hors d'usage; comme chez les
Asiatiques, oüi des particuliers ont un grand nombre de femmes
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_ 125 —
von ihr sagt: „Ce yice est tres-rare parmi nous", wenn
Havelock Ellis ^) die echte Homosexualität ein ^^compara-
tively rare phenomenon" nennt und vollends Bloch*)
schreibt: „Wenn behauptet wird, daß auf 50 Männer
1 Homosexueller komme, so ist das natürlich barer Un-
sinn" — so schweben alle diese unbestimmten und un-
sicheren Behauptungen genau so sehr in der Luft, als
wenn der alte Casper^) „die Päderasten aus angeborenem
Triebe als eine zahlreiche Klasse" bezeichnet oder de
Joux^) von einer „ungeheuerlichen Statistik des Misch-
geschlechts" spricht.
Ich glaube, es erhellt aus dem Gesagten, daß als
wissenschaftlich haltbar bisher nur das angesehen werden
konnte, was kürzlich Fischer '^j in den Satz kleidete: „Der
Prozentsatz der Homosexuellen läßt sich nicht einmal
schätzungsweise angeben", und was ich selbst in meiner
ersten Arbeit über den Uranismus *^ äußerte: „Bei dem
dichten Schleier, der geheimnisvoll das Geschlechtsleben
des Menschen umgibt, entzieht es sich jeglicher Berech-
nung, in welchem Zahlenverhältnis diese drei Menschen-
klassen (gemeint sind die Heterosexuellen, Bisexuellen und
Homosexuellen) zu einander stehen; alle bisherigen
Untersuchungen und Schätzungen selbst nam-
hafter Forscher sind mehr oder weniger unzu-
verlässige Vermutungen."
qu'ils m^prisent, tandis que ces autres n'en peuvent avoir. Qae
Ton ne pr^pare point ce crime, qu'on le proscrive par une police
ezacte, comme toutes les violations des moeurs; et Ton verra sou-
daiu ]a nature, ou d^fendre ses droits, ou lee reprendre."
^) Havelock Ellis, Sexual Inversion, 2n. edition, S. 1.
»j Bloch, a. a. 0., Bd. I, S. 215.
^ Casper, Klinische Novellen, S. 82, Berlin 1863.
*) Otto de Joux, Die Enterbten des Liebesglücks.
Ein Beitrag zur Seelenkunde, S. 124, Leipzig 1893.
») A. a. 0., S. 5.
^ Hirschfeld, Sappho und Sokrates, S. 8, H. Aufl., 1902.
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— 126 —
Um zuverlässigere statistische Unterlagen zu erzielen,
wandten wir zwei Mittel an: Stichproben und Rund-
fragen. Wir schlössen, damit wir keine zu hohen Zahlen
erhielten, bei beiden Methoden von vornherein Gruppen
aus, von denen man, wie etwa bei den Schauspielern,
Damenschneidern und anderen Berufen, vielfach und teil-
weise wohl auch mit Recht behauptet, daß unter ihnen
das homosexuelle Element besonders stark vertreten ist.
Auch von Kreisen adeliger Personen nahmen wir — mit
Ausnahme von Stichprobe I und teilweise auch XXI —
aus demselben Grunde vorläufig Abstand. Es würde
sich von verschiedenen Gesichtspunkten aus wohl em-
pfehlen, bei allen diesen Gruppen später Untersuchungen
anzustellen, vorderhand lag uns daran. Minimalzahlen
zu gewinnen, und zwar lieber zu niedrige als zu hohe
Ziffern; deshalb suchten wir uns namentlich bei den
Rundfragen Kreise aus, von denen man theoretisch an-
nehmen durfte, daß in ihnen die Anzahl der Homo-
sexuellen keineswegs größer, eher kleiner sein würde,
als in der übrigen Bevölkerung, das eine Mal Studie-
rende technischer Fächer, das andere Mal Metallarbeiter,
beides also zwei besonders „männliche** Berufe. Von Inter-
esse ist nach dieser Richtung der folgende Brief eines
süddeutschen Ingenieurs, den wir im Anschluß an unsere
erste Enquete erhielten.
„Selbst Techniker, sogar früherer Studierender der
Techn. Hochschule Charlottenburg, habe ich, was die
technisch Gebildeten angeht, mir über den Beitrag, den
diese Männer zur Gemeinde der Homosexuellen stellen,
schon seit lange ein selbständiges Urteil gebildet Der-
selbe ist äußerst klein! — Aus freien Stücken wird wohl
höchst selten ein Uranier den Ingenieurberuf erwählen,
einen Beruf, der wie kaum ein zweiter ganze Männer
braucht, der Produktivität, Energie, Tatkraft, Umsicht,
einen weiten Blick, Organisationstalent und, last not least.
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— 127 —
Mathematik, viel Mathematik (auch mir ein Buch mit
sieben Siegeln!) verlangt. Mich persönlich haben brutale
äußere umstände veranlaßt, diesen meinem ganzen Wesen
widerstrebenden Beruf zu ergreifen, und ich glaube und
weiß z. T., wie mir, so erging es sehr vielen meiner
nmischen Kollegen. Hätten Sie unter den Studierenden
der Universität zu Berlin oder unter den Musensöhnen
einer Malerakademie oder Musikhochschule etc. eine Bm-
frage gehalten, so hätten Sie ohne Zweifel einen wesent-
lich höheren Prozentsatz konstatieren können. Das Mittel
aus beiden dürfte dann m. E. dem wahren Sachverhalt
am nächsten kommen. Da also das technische Fach dem
Urning im allgemeinen nicht liegt, dagegen andere Berufe
zugestandenermaßen sehr, so darf man von den wenigen
Homosexuellen der T. H. zu Ch. nimmermehr einen
Schluß auf die relative Seltenheit der Uranier im all-
gemeinen ziehen."
A. Stichproben.
Bei den Stichproben legten wir besonderen Wert
darauf, daß es sich um gemischte, möglichst indifferente
und nicht zu kleine Gruppen handelte, vor allem auch
nicht um den Bekanntenkreis einer Persönlichkeit, in
welchem möglicherweise die Menge der gleichgeschlechtlich
Empfindenden hätte überwiegen können.
Wir lassen nun eine Reihe von Ermittelungen folgen,
wobei wir bemerken, daß sämtliche Angaben von Personen
herrühren, die uns als unbedingt zuverlässig bekannt sind.
Die Berichterstatter sind, soweit sie selbst Urninge sind,
stets mit eingerechnet Es braucht wohl kaum hervor-
gehoben zu werden, daß nicht der Geschlechtsakt, sondern
der Geschlechtstrieb in jedem Fall als das entscheidende
Moment angesehen wurde.
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— 128 —
L Unter einer Gruppe von im Ganzen etwa 40 Per-
sonen, welche dem höchsten europäischen Adel an-
gehören, befinden sich nach absolut zuverlässigen In-
formationen zwei^ deren Uranismus außer Zweifel steht.
Es ist bemerkenswert, daß ein ungefähr eben so hoher
Prozentsatz nur noch in den Stichproben VIII, XVI,
XXI und XXn vorkommt
• 2 von 40 ^ 57o.
IL Ein lungenkranker urnischer Arbeiter (Stein-
metz) war ein Vierteljahr in einer Berliner Lungenheil-
stätte. In dieser Zeit verweilten in der Anstalt 190
Arbeiter, unter denen er zwei als homosexuell erkannte.
Beide gaben im Laufe näherer Bekanntschaft ihre Ver-
anlagung zu. Es läßt sich wohl annehmen, daß unter
den allen Arbeiterklassen entstammenden Phthisikem der
Prozentsatz der Urninge schwerlich größer sein wird,
als unter der übrigen Bevölkerung.
3 von 190= 1,578 7^,.
in. Ein umischer Offizier kennt 560 Offiziere aus
10 verschiedenen Regimentern; unter diesen befinden
sich 14 Homosexuelle, ziemlich proportional auf alle
Chargen verteilt.
14 von 560 = 2,5 7^.
IV. Ein Einjähriger eines ostpreußischen Infan-
terieregiments gibt an, in seiner Kompagnie 4 Homo-
sexuelle verschiedener Chargen gefunden zu haben.
4 von 125 = 3,2 7^.
V. Ein zu einer achtwöchentlichen Waffentibung
eingezogener umischer Ingenieur fand in seiner Kom-
pagnie außer sich 2 Urninge, einen Unteroffizier und
einen Gemeinen.
3 von 125 = 2,47,,.
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— 129 —
VI. Ein urnischer Briefträger hat unter ca. 1000
Postbeamten eines der größten Berliner Postämter in
mehreren Jahren 18 kennen gelernt^ yon denen er mit
einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit aus-
sagen kann, daß sie ,,so'' sind.
18 von 1000 = 1,8 7^.
YIL Ein Eisenbahnbeamter kennt unter 800
Beamten seines Distrikts 8 Homosexuelle.
8 Ton 800 = 17^.
VIII. Ein Marineoffizier, der sehr zahlreiche und
sorgfältige Beobachtungen angestellt hat, taxiert den
Prozentsatz der Homosexuellen in seinem Stande auf 5
unter 100.
5 Ton 100 = 57o.
IX. Ein Bankbeamter aus einer größeren deutschen
Provinzialstadt gibt an, daß sich unter 50 Kollegen 2
homosexuell yeranlagte befanden.
2 von 60 = 47^.
X. Ein anderer Bankangestellter fand unter ca.
100 in einer Berliner Bank beschäftigten Personen 2
Uranier.
2 von 100 = 27^,.
XL Ein in einer bekannten Eunstanstalt seit 8
Jahren beschäftigter Urning kennt unter 400 Zeichnern,
Ätzern und Setzern usw. 7 Homosexuelle (sich einbegriffen).
7 von 400 = 1,75 7o.
XII. In einem Berliner Warenhause befinden sich
unter ca. 400 im Lager beschäftigten Personen 6 unter
einander bekannte Urninge.
6 von 400 = 1,5 7o.
Jahrbaoh VL 9
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— 130 —
XTTL Ein Nichturning kennt unter ca. 200 An-
gestellten seines Geschäftshauses zwei Homosexuelle.
Auch einer der beiden Chefs des Hauses gilt als Urning.
2 von 200« 17^.
XIV. Unter dem gesamten Personal einer großen
deutschen Firma, etwa 1000 Personen, waren 10 Homo-
sexuelle beschäftigt.
10 von 1000 « l7o.
XV. Ein Student fand in einer größeren Verbindung
von durchschnittlich 100 Aktiven im I. Semester 2 Homo-
sexuelle, im n. Semester 2 Homosexuelle, im III. Semester
3 Homosexuelle, im IV. Semester 4 Homosexuelle, im
V. Semester 2 Homosexuelle, im VI. Semester 1 Homo-
sexuellen, im VII. Semester 2 Homosexuelle, durch-
schnittlich untei: 100 Studenten: 2,28 Homosexuelle.
2 von 100 = 27^.
XVI. Ein Korpsstudent kannte unter 35 Mitgliedern
seiner Korporation 2 Uranier.
2 von 35 «5,717^.
XVII. Ein homosexueller Lehrer berichtet, daß sich
unter 90 Zöglingen eines Lehrerseminars — Internats
— 2 Homosexuelle befanden, die es auch jetzt noch sind. *)
2 von 90 =. 2,22 7o.
XVni. Unter 50 Schülern einer Präparanden-
anstalt (15 — 17jährigen) waren — und blieben — 2 aus-
gesprochen homosexuell.
2 von 50 = 4,0 7^.
^) Derselbe Gewährsmann kannte in dem Lehrerkollegium
des Gymnasiums einer ostpreußischen Stadt, welches aus 12 Lehr-
kräften bestand, einen Oberlehrer (Theologen) und einen Zeichen-
lehrer, die urnisch waren, in einer Berliner Gemeindeschule unter
19 Lehrern während einer Zeit 2 Urninge.
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— 131 —
XIX. Ein Ingenieur wurde in einer großen Er-
ziehungsanstalt im Ausland erzogen, welche 850
Schüler aus verschiedenen Ländern umfaßte. Mutuelle
Onanie und andere sexuelle Akte, auch mit Mädchen,
waren stark yerbreitet Sieben der Zöglinge waren
meinem Gewährsmann schon damals als homosexuell
bekannt
7 von 350 = 27^.
XX. Von 3 der ca. 200 Schüler, mit denen ich selbst
das Domgymnasium meiner Vaterstadt besuchte, weiß ich
jetzt mit Sicherheit, daß sie homosexuell sind. Sexuelle
Akte waren auf dieser Schule verhältnismäßig selten,
traten jedenfalls nicht sichtlich hervor. Von den drei
Schülern war mir damals nichts bekannt, einer führte
einen Mädchen-Spitznamen, die beiden anderen waren
sehr befähigt und beliebt und wichen in mannigfacher
Hinsicht von dem Wesen der übrigen Knaben ab.
3 von 200 =:= 1,5 7^.
XXI. Diese Ermittelung bezieht sich zufälligerweise
auf dieselbe Klosterschule B., auf welcher Roche ^)
seine in der Fachliteratur wiederholt zitierten Be-
obachtungen über die Liebesverhältnisse zwischen Pri-
manern als Amantes und Tertianern als Amati an-
gestellt hat. Hoche, welcher noch in seinen letzten
Veröffentlichungen dem Angeborensein des homosexuellen
Triebes widerspricht, sucht seine Theorie dadurch
zu stützen, daß er auf die „Liebesverhältnisse^^ zwischen
Schülern hinweist, die später ganz normalsexuell würden.
Trotz „schwärmerischer, lyrischer Ergüsse, Mondschein-
promenaden, glühender Liebesbriefe, feuriger Umarmungen
^) fioche, Zur Frage der forensischen Bearteilung
sexueller Vergehen, im Neurologischen Centralblatt,
1896, S. 517—568.
9*
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— 182 —
und Küsse, gelegentlichen Zusammentreffens im Bett, selten
mit Onanie, nie mit Päderastie, entwickelte sich später
der Primaner als durchaus normaler Mensch weiter und
der Tertianer wurde in Prima selbst wieder ein Amans. ^)
Ich verdanke einem urniscben Mitschüler Hoches,
dem Grafen S., einen ausführlichen Bericht über das
Leben und Treiben auf dem altberühmten Erziehungs-
institut, welches 1554 in dem alten Cisterzienser Nonnen-
kloster unter der Schutzherrschaft der Familie von W.
eingerichtet wurde und zur Zeit, als Graf S. das-
selbe besuchte, von Quarta bis Prima gegen 130 Schüler
zählte. Die Hälfte davon waren Adelige, Gutsbesitzers-
und Offizierssöhne, die andern zum großen Teil prote-
stantische Pfarrers- und Domänenpächterssöhne, fast alle
aus Sachsen, Brandenburg, Schlesien, Pommern und Posen.
Graf S. bestätigt, daß zwischen Älteren und Jüngeren
Verhältnisse bestanden, die aber trotz Liebkosungen,
großen Vertraulichkeiten und Eifersuchtsanwandlungen
meist unschuldiger Natur waren, hie und da kam es
wohl zu sexuellen Akten, die jedoch mehr jugendlichem
Gefühlsüberschwang im sexuell noch wenig differenzierten
Übergangsstadium, als wirklichen homosexuellen Neigungen
entsprangen. Bei den meisten älteren Schülern zeigten
sich bereits deutliche Äußerungen ihrer heterosexuellen
Natur^ denen gegenüber sogar die Mägde der Professoren
und Lehrer im Anstaltsgebäude oift einen harten Stand
hatten. Alle, die heterosexuell waren, sind heterosexuell
geblieben und zum Teil sehr glückliche Ehemänner ge-
worden
Von 7 seiner früheren Schulkollegen weiß Graf S.,
daß sie jetzt homosexuell sind, und zwar betont unser
Gewährsmann, daß gerade bei diesen die von Hoche ge-
schilderten äußeren Liebesbezeugungen viel weniger sicht-
») Vgl. auch Bloch, a a. 0., S. 181.
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— 183 —
lieh heryortraten, was er auf eine gewisse Scheu und
Scham zorückf&hrt^ wie sie gleichgeschlechtlich Em-
pfindenden oft schon in der Schule eigen zu sein pflegt
7 von 130 = 5,37^.
XXn. Ein 18 jähriger intelligenter Kaufmann war
unter 52 ca. 14 jährigen Bürgerschülem der Oberklasse
mit zweien befreundet, welche wie er durch ihr weib-
liches Wesen eine gewisse Sonderstellung unter den Mit-
schülern einnahmen. Alle drei befinden sich jetzt in
kaufmännischen Stellungen und yerkehren ausschließlich
homosexuell.
3 von 52 = 5,757^.
XXIII. In einer kleinen Stadt Oberschlesiens waren
— und blieben — von 120 Schülern 2 homosexuell
2 von 120 ^ 1,667^.
XXIV. In einer größeren Stadt der Schweiz befanden
sich unter ca. 120 Gymnasiasten 3 Urninge, von denen
2 Vetter waren.
3 von 120 = 2,57^.
XXV. Ein urnisch veranlagter evangelischer Pastor
teilt mit, daß er unter seinem geistlichen Bekanntenkreis,
der 87 Herren umfaßt, zwei Homosexuelle kenne. Dem
einen von beiden gestand er, um sich mit ihm zu beraten,
seine geschlechtliche Eigenart und erfuhr zu seiner Über-
raschung» daß derselbe sich in der gleichen Lage wie er
selbst befände. Die Homosexualität des anderen verriet
ihm ebenfalls ein unzweideutiges Selbstbekenntnis.
3 von 88 = 3,47^.
XXVI. Ein Priester hat unter 95 katholischen
Geistlichen, die er näher kennen lernte, 2 Urninge ge-
troffen. „Beide haben es mir selbst** — so schreibt er —
>^(extrasakramental) eingestanden, der eine ausdrücklich.
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— 134 —
der andere so gut wie ansdrücklich. Ein Zweifel ist
ausgeschlossen.^' Der Gewährsmann fügt hinzu^ daß nach
seiner Meinung die Homosexualität unter der katholischen
Geistlichkeit stärker vertreten sei, als in irgend einem
anderen Beruf.
3 von 95 = 3,157^.
XXVn. Ein homosexueller 27jähriger Schlächter-
geselle kennt 110 Schlächtermeister und Gesellen. Da-
runter sind, ihn eingerechnet, ganz sicher 4 Urninge,
1 Meister und 3 Gesellen zwischen 25 und 30 Jahren.
Sämtliche haben unserem Gewährsmann ihre rein homo-
sexuelle Neigung zugegeben.
4 von 110 = 3,63 7o.
XXVin. Ein Urning, der regen gesellschaftlichen
Verkehr pflegte, machte die Wahrnehmung, daß sich in
jeder größeren Familie innerhalb dreier Generationen,
also unter ca. 30 Personen, ein Homosexueller findet
Es stimmt das mit der Beobachtung überein, die ich
aus der Kenntnis zahlreicher homosexueller Namen ge-
macht habe, daß es vom höchsten Adel an kaum eine
deutsche Standesfamilie gibt, die nicht unter ihren Agnaten
einen Homosexuellen zählt.
1 von 30 = 3,3 7^,.
XXIX. Wir wiesen oben darauf hin, daß die Zahl
der Homosexuellen, welche ein Urning innerhalb einer
Stadt kennt, für die Statistik nicht verwertbar ist. Anders
ist es in ganz kleinen Ortschaften oder Bezirken, wo
jemand alle Bewohner kennt. Es liegen hier zwei
brauchbare Angaben vor. Ein Volksschullehrer, der aus
einem Dorfe von 300 Einwohnern stammt, kennt unter
den 80 erwachsenen Männern seiner Heimat außer sich
selbst noch einen Urning.
2 von 80 « 2,57^.
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— 185 —
XXX. Ein urnischer Herr^ welcher seit langem in
einem Häuserblock wohnte^ der 10 Häuser mit 93
Parteien und 872 Personen umfaßte^ ermittelte unter
diesen im Laufe der Zeit einen umischen Materialwaren-
händler, einen urnischen Fleischergesellen, einen umischen
Zigarrenverkäufer und einen umischen Musterzeichner.
Er erkannte sämtliche an ihrem Benehmen, drei Tor
allem an ihren Bewegungen, und es bestätigten sich seine
Vermutungen nach genauerer Bekanntschaft
5 von 372 « 1,347^.
Zusammenstellung der Stichproben.
L Hochadel
2 Ton
40 = 5,6 7o,
n. Lungenkranke
8 „
190 = 1,5 „
TTT. Offiziere
14 „
560 = 2,5 „
IV. Eompagniemannschaft
4 „
125 = 3,2 „
V.
3 „
125 = 2,4 „
VI. Postbeamte
18 „
1000 = 1,8 „
Vn. Eisenbahnbeamte
8 „
300 = 1,0 „
VIIL MarineofKziere
6 „
100 = 5,0 „
IX. Bankbeamte
2 „
50 = 4,0 „
X. Bankangestellte
2 .,
100 = 2,0 „
XL Eunstanstaltspersonal
7 „
400- 1,7 „
XII. Warenhanspersonal
6 „
400 = 1,5 „
XTIT. Gesch&flahansangestellte 2 „
200 = 1,0 „
XIV. Firmenperaonal
10 „
1000 = 1,0 „
XV. Verbindungsstudenten
2 »
100 = 2,0 „
XVI. Kouleurstudenten '
2 „
35 - 5,7 „
XVII. Seminaristen
2 ,,
90 = 2,2 „
XVIII. Präparanden
2 „
50 = 4,0 „
XTX. Zöglinge
7 »
350 = 2,0 „
XX. Gymnasiasten
3 „
200 = 1,5 „
XXI. ElosterschOler
7 „
130 = 5,3 „
106 von
5545.
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— 186 —
106 Ton
6546.
XXII. Bürgerschüler
3 „
52 = 5,7 %.
XXm. Stadtschüler
2 „
120 = 1,6 „
XXTV. Gymnasiaaten
3 „
120 = 2,5 „
XXV. Protestantische P&rrer
3 „
87 = 3,4 „
XXVI. Katholische Geistliche
3 „
95 = 3,15 „
XXVII. Fleischer
4 „
110 = 8,6 „
XXVm. Familienmitglieder
1 ,.
• 30 = 3,3 „
XXIX. Dorfbewohner
2 „
80 = 2,5 „
XXX. Bezirksbewohner
5 „
372 = 1,3 „
I
132 von 6611 = 1,99 7^.
B. Umfragen.
I. Die Charlottenburger Studentenenquete.
Den Gegenstand unserer ersten Rundfrage bildeten
3000 Studierende der Technischen Hochschule zu Ghar-
lottenburg. Es handelte sich hier um eine abgegrenzte,
in vieler Hinsicht gleichartige, verhältnismäßig auf hoher
geistiger Stufe stehende Personengruppe, deren Tätigkeit
ebenso sehr im wissenschaftlichen, wie im praktischen
Leben wurzelt, ein im allgemeinen gesunder, kräftiger,
unverkünstelter Menschenschlag, der daher für eine
voraussetzungslose naturwissenschaftliche Untersuchung
besonders geeignet erschien.
Wir sandten in geschlossenem undurchsichtigen
Umschlag, an jeden persönlich adressiert, an sämtliche
Personen mit gleicher Post das folgende Schreiben ab:
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— 137 —
Rundfrage des wiBsenschaftlich-hnmanit&ren Komitees.
Charlottenbarg, Dezember 1908.
Sehr geehrter Herr!
Das unterzeichnete Komitee hat sich die Aufgabe gestellt,
einige Fragen auf dem Gebiete der Sexualpsychologie wissen-
schaftlich zu erforschen.
Die Ergebnisse unserer Enquete werden voraussichtlich nicht
nur von theoretischem Interesse, sondern auch von praktischer
Bedeutung sein, da sie früher oder später auf die Gesetzgebung,
auf das soziale Urteil und somit auf das Schicksal eines erheblichen
Teiles imserer Bevölkerung von Einflufi sein werden.
Da es sich um eine statistische Feststellung handelt, so kann
die Aufgabe nur auf dem Wege der Sammel forsch ung gelöst
werden, und da das Objekt der beabsichtigten Feststellung im
subjektiven Empfindungsleben liegt, so muß eine für die Zwecke
der Statistik hinreichende Zahl von Personen zu freiwilliger und
wahrheitsgemäßer Auskunft tlber den Inhalt ihres intimen Trieb-
lebens gewonnen werden.
Wenn wir uns mit dieser Rundfrage zuvörderst an die aka-
demische Jugend wenden, so geschieht es, weil wir bei ihr den
sittlichen Ernst, die Bereitwilligkeit und die Fähigkeit sicher
voraussetzen dürfen, auf welche wir bei dieser Enquete unbedingt
rechnen müssen.
Die Hauptfrage, welche wir Ihnen vorlegen, ist folgende:
Richtet sich Ihr Liebestrieb (Geschlechtstrieb) auf
weibliche (W), männliche (M) oder weibliche und männ-
liche (M+ W) Personen?
Wir bitten Sie, diese Frage auf einliegender Postkarte
durch bloßes Durchstreichen und Unterstreichen der Buchstaben
^ und M möglichst bald und vor allem streng wahrheits-
gemäß zu beantworten. Namen bitten wir nicht zu nennen, da-
gegen das Alter durch Unterstreichen der zutreffenden Zahl zu
bezeichnen.
Zu besonderem Dank würden Sie uns durch anderweitige
briefliche Mitteilungen aus Ihrem Sexualleben verpflichten, be-
sonders wenn Sie glauben, daß dieses von der Norm abweicht
und daher von wissenschaftlichem Interesse ist Wir bitten jedoch
auch in diesem Falle um baldigste Ausfüllung und Absendung
der beigefügten Karte.
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— 188 —
Indem wir hoffen, daß Sie die kleine Mühe nicht scheuen
werden, zur wissenschaftlichen Lösung dieser Probleme beizutragen,
zeichnet, auf Wunsch gern zu weiteren Auskünften erbötig, unter
Zusicherung strengster Diskretion
Hochachtungsvoll
für
das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee
Dr. med. Hirschfeld.
Die beigefügte Antwortkarte, welche weder auf der
Vorder-, noch aaf der Rückseite mit geheimen Zeichen
versehen war, hatte folgendes Aussehen:
W. M. W. + M.
16, 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30.
Von den 3000 Briefen kamen 103 als unbestellbar
(„unbekannt verzogen", „nicht zu ermitteln") zurück, von
den 2897 Herren, welche in den Besitz der Anfrage ge-
langten, trafen 1756 Autwortkarten ein; von diesen
mußten 60 als fraglich oder unbrauchbar ausgeschieden
werden, von den übrigen 1696 hatten 1593 das W., 26
das M., 77 das W. + M. in völlig einwandfreier Weise
unterstrichen; das W, + M. war von den meisten gleich-
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— 139 —
mäßig unterstricheiiy Yon einigen wenigen war, ohne daß
danach gefragt war, daa W. oder das M. durch zwei
oder mehrere Striche stärker hervorgehoben worden. Es
erklärten sich demnach als
heterosexuell 1593 von 1696 == 94,0^0»
homosexuell 26 „ 1696 = 1,5 „
bisexuell 77 „ 1696 « 4,5 „
abweichend 103 „ 1696= 6,0 „.
Es mußte uns von Tornherein klar sein, daß trotz
größter Vorsicht unser Schritt — der einzig gangbare
und mögliche Weg zur Erhaltung zuverlässiger Resultate
— auf Verkennungen und Widerstände stoßen würde.
In der Tat blieben Anfeindungen nicht aus. Namentlich
die reaktionäre Presse schleuderte heftige Angriffe gegen
uns, bezeichnete die Bundfrage als eine „Unverschämt-
heit", als eine ,3el6idigung", „Belästigung", „Verführung"
der akademischen Jugend. Die „Staatsbürgerzeitung"
(Tom 11. Dezember 1903) schrieb: „Dr. Hirschfeld er-
dreistet sich in dem Bundschreiben, die jungen Leute,
die Gott sei Dank bisher gar keine Ahnung von solchen
widernatürlichen Dingen, hatten, erst darauf zu bringen,
sie zum Nachdenken anzureizen, und die weiteren Folgen
kann man sich dann wohl von selbst ausmalen." Die
„Deutsche Tageszeitung" (12. Dezember 1903) schrieb:
„Wir sind der Meinung, daß in einer solchen Anfrage
eine Beleidigung enthalten ist und daß die Studenten
gegen das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee" Klage
erheben sollten, damit diesem unerhörten Unfug ein
Ende bereitet werde." Dabei kam es den Blättern auf
sachliche Unrichtigkeiten wenig an, so berichteten sie,
die Bundfrage sei „anscheinend in Hunderttausenden
von ikemplaren", ferner, sie sei „der Billigkeit wegen
natürlich in offenem Umschlag" verschickt worden. Ein
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— 140 —
Volksredner drückte sein Erstaunen ans, daß ,;die
Studenten nicht dem Dr. Hirschfeld die Fenster einge-
worfen hätten", das Stärkste aber leistete sich ein Pastor
Philipps, welcher in einer von ihm zum Kampfe gegen
die Unsittlichkeit einberufenen Studentenversammlung im
Langenbeckhause (dem Hause, das nach dem Arzte seinen
Namen führt, welcher sich mit Virchow als einer der
ersten und eifrigsten gegen die Bestrafung der Homo-
sexuellen gewandt hatte) „zwei Attentate auf die studen- .
tische Ehre" zur Sprache brachte; das eine rühre von
einem gevdssen Dr. Hirschfeld her, welcher an die
Studentenschaft einen Fragebogen verschickt habe, auf
dem die Adressaten angeben sollten, ob sich ihre Neigung
in natürlicher oder nicht vielmehr in unnatürlicher
Bichtung bewege, das andere Attentat sei das massen-
hafte Angebot einer Firma, welche ein Vorbeugungs-
mittel gegen ansteckende Krankheiten fabriziere. „Die
Versammlung erhebt" — so heißt es in dem veröffent-
lichten Protest — „gegen die Zusendung solcher Schänd-
lichkeiten einmütig und feierlich den allerentschiedensten
Widerspruch und fordert sämtliche Kommilitonen, denen
solche ehrenrührige Sendungen zugegangen sind, dringend
auf, dem Vorstand des Akademischen Vereins Ethos,
Charlottenburg, Schlüterstraße 70, ihre Namen mitzuteilen,
um dann gemeinschaftlich bei der Kgl. Staatsanwaltschaft
gegen die Urheber der Sendungen die Beleidigungsklage
zu erheben, damit in Zukunft solchem schnöden Treiben
wirksam vorgebeugt werde."
Es waren diese und ähnliche Angriffe gewiß recht
schmerzhafte Nebenwirkungen, doch durfte ich mir nicht
verhehlen, daß sich Wahrheitssucher oft zur Erreichung
ihres Zieles ungleich größeren Widrigkeiten aussetzen
mußten. Was haben Forschungsreisende auf sich ge-
nommen, um ein neues Stück Land dem Wissen zu er-
schließen, und war nicht auch unser Vorgehen eine
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— 141 —
Forschungsreise in ein bisher der Kenntnis entzogenes
Gebiet? Vor allem dachte ich an Semmelweis (1818
bis 1865), dessen statistische Ermittelungen über
die Ursache des Eindbettfiebers — eine Veröffentlichung,
die Tausenden das Leben rettete — als ;,Denunziation<<
erklärt wurden. Die Hebeammen und Ärzte, deren
schlecht gereinigten Händen und Instrumenten er die
Hauptschuld an der großen Verbreitung der Krankheit
beimaß, ruhten nicht eher, als bis der kühne Forscher
seines Amtes entsetzt wurde. Als er tot war, erkannte
man das außerordentliche Verdienst des Mannes an, die
Fachgenossen setzten ihm ein Denkmal und Hegar^)
prägte auf ihn das Trostwort: ,,DerWert und das Verdienst
einer jeden neuen Wahrheit ist um so größer, je weiter
sie über das Niveau der zur Zeit ihrer Entdeckung
herrschenden Ansichten und Lehren hinausgeht«')
Ich gestehe offen, daß mich diese und ähnliche Er-
innerungen weniger emporhoben als niederdrückten. Wohl
^) A. Hegar, L F. Semmelweis, Sein Leben und seine
Lehre, Freiburg i. B., 1882. Vgl. auch Brack, Ignai Philipp
Semmelweis, Wien u. Teschen, 1887, sowie vor allem Semmel-
weis* viel angefeindetes Hauptwerk Die Ätiologie, der Be-
griff and die Prophylaxis des Kindbettfiebers, 1861.
Seine Fachgenossen gelangten erst durch die Pasteurschen Ent-
deckangen and List er sehen Lehren dahin. Semmelweis* grofi-
artige wissenschaftliche Leistungen voll zu würdigen.
*) Ab ich Obiges schrieb, war ich noch nicht wegen der
Enquete in Anklagezustand versetzt worden. Erst nach Fertig-
stellung des Manuskripts, dessen Text daraufhin nicht geändert
ist, hat die Staatsanwaltschaft auf Antrag der Studenten Walter
Gh>etze, K. Lange, B. Senkpiel, W. Jakobi, Hans Heinze und
Hans Wrede (6 von 8000 Befragten) die Anklage erhoben, indem
sie in dem mitgeteilten Rundschreiben eine Beleidigung und Ver-
breitung unzüchtiger Schriften erblickte. Wie das Urteil aus-
fallen wird, weiß ich nicht, das aber weiß ich, daß dieses Urteil
nicht bloß mir, sondern auch dem entscheidenden Gerichtshof und
der Zeitepoehe gesprochen wird.
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— 142 —
wußte ich zur Ehre meiner Widersacher, daß ihre Trieb-
feder nicht böser Wille, sondern mangelnde Erkenntnis
ist, aber ich wußte auch, daß nur zu oft Ignoranten und
Obskuranten die Werke der Wahrheitssucher störten und
zerstörten. Ich will aus den Beschimpfungen meiner
Gegner herauslesen, was an tatsächlichen Einwendungen
in ihnen enthalten ist, um zu zeigen, wie ungerechtfertigt
ihre Schlüsse sind.
Die Bundfrage soll eine Beleidigung sein.
Schließt nicht der ernste und wissenschaftliche
Charakter unserer Fragen, ihre sorgsame Begründung,
schließt nicht der Name und die Tätigkeit des wissen-
schaftlich-humanitären Komitees diese Annahme Ton vorn-
herein aus? Wir fragten auch nicht nach der Betätigung,
nach einer strafbaren Handlung, sondern lediglich nach
der EichtuDg des Geschlechtstriebes, nach der wirk-
lichen Zuneigung. Es kommt hinzu, daß die Ant-
wortkarten auf die geschlossen versandten Briefe ohne
Namennennung, ohne jedes Schriftzeichen zurück-
erbeten wurden, sodaß vollkommen die Möglichkeit ge-
nommen war, die abweichend gearteten Persönlichkeiten
herauszukennen. Nahm trotzdem und alledem der eine
oder andere Herr ein Ärgernis, so war dies gewiß zu
bedauern; wie kleinlich mußte aber dieses Gefühl der
Kränkung gegenüber einer Arbeit erscheinen, von der
ein Biologe sagte — ob mit Recht, wage ich nicht zu
entscheiden — daß ihre Ergebnisse in der Geschichte
der Anthropologie — der Wissenschaft vom Menschen —
eine dauernde Stätte behalten werden. Eine besondere
Freude gewährte es uns, daß viele studentische Kreise,
vor allem auch die „Allgemeine deutsche üniversitäts-
zeituDg'', die Bedeutung der Rundfrage voll anerkannten;
so schrieb in No. 3 derselben (1. Februar 1904) ein Jurist
unter anderem: „Laut der Charlottenburger Enquete er-
klärten sich über 47,7^ flLr bisexuell und über lVi7o
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— 143 —
für homosexuell, also 6,0 7o ^ anormal oder fast ^/^^
der Auskunftgeber. Bei uDgefähr 60 Millionen Ein-
wohnern des Deutschen Reiches, wovon knapp 30 Millionen
männlich sind, ergäbe ^/^^ fast 2 Millionen. Nach Abzug
der Kinder und alten Leute verbliebe eine Million, sogar
reichlich.^) Soll diese warten, bis die hinter die Re-
vision der neueren Strafjprozeßordnung wunderbarerweise
zurückgesetzte viel nötigere Revision des viel älteren
Strafgesetzbuchs den § 175 verbessert oder beseitigt?
Man schätzt diese Zeit auf 15 Jahre. Inzwischen wandern
Tausende ins freiere Ausland, Holland, Fraukreich,
Italien usw. aus oder sterben Hunderttausende im geheimen
Groll gegen das sie knechtende Vaterland. Mein Vor-
schlag geht daher dahin: „Inzwischen möge die juristische
Theorie und Praxis, vor allem das Reichsgericht, seine
weite Auslegung des § 175 aufgeben und zu derjenigen
engeren des früheren höchsten preußischen Oerichtshofes,
des Obertribunals, über denselben § 175 zurückkehren,
wie sie in den Entscheidungen des Obertribunals vom
6. und 28. November 1873 ersichtlich ist. (Zu finden in
„Deutsche Strafrechtspraxis von Pezold, Stiegele und Köbn",
Stuttgart 1877, Bd. I, S. 152, Note 2 zu § 175.)'"* Wenn der
akademische Verein Ethos inCharlot'enbnrg seinen Protest
gegen die Enquete im Namen der „Berliner Studenten-
schaft" erhebt, so ist das um so unverständlicher gegen-
über solchen Zustimmungen und gegenüber der Tatsache,
daß weit über die Hälfte der angefragten Studenten
(1696 von 2897 = 58,5 7^) unsere Frage in völlig sach-
gemäßer, korrekter Weise beantwortete und nur von 60
*) Hier fugt der Heraasgeber, Geh. SanitÄtarat Dr. Konrad
Küster, hinzu: „Die Zahl der Gleichgeschlechtlichen ist noch
eine viel größere, da das weibliche Geschlecht außer Betracht
gelassen ist. Auch bei diesem sind viele Homosexuelle vorhanden.
Die Gesetzgebung hat sie glücklicherweise, wohl aus Unkenntnis,
unberücksichtigt gelassen."
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— 144 —
(8,4 7o der Auskunftgeber = 60 von 1756 und 2,0 7^
der Angefragten = 60 von 2897) unbrauchbare Ant-
worten einliefen, darunter nur wenige ungeziemenden
oder unanständigen Inhalts.
Die Umfrage soll eine Verführung der Jugend in-
volvieren, junge Leute sollen durch die Enquete erst auf
die Homosexualität gebracht werden.
Ob wohl durch eine Statistik über die Verbreitung
der Farbenblindheit schon jemand farbenblind geworden
ist? Solange dies nicht der Fall, halte ich es für aus-
geschlossen, daß jemand durch die Frage, ob er homo-
sexuell sei, homosexuell geworden ist Man muß sehen,
mit welcher Bestimmtheit und Sicherheit die 94 ^^/^ der
Studenten und die 96^0 der Metallarbeiter ihr TT unter-
streichen, wie viele ihr äußerstes Erstaunen über die
bloße Denkbarkeit einer anderen Richtung äußern, mit
welcher Entschiedenheit und Einfachheit auf der anderen
Seite die 67o bezw. 4% das M oder M+W markieren,
um inne zu werden, daß es die Stimme der Natar ist,
die uns hier entgegentritt
Wäre tatsächlich die Richtung des Oeschlechtstriebes
etwas so Schwankendes, daß sie durch eine Anfrage um-
gewandelt werden könnte, so wäre wohl niemand froher,
als der Homosexuelle, der dann gewiß alle Aussicht
hätte, seine ihm so beschwerliche Triebrichtung loszu-
werden. In Wirklichkeit aber verhält es sich anders,
in Wirklichkeit ist die HeteroSexualität etwas absolut
Konstantes, ebenso wie die Homo- und Bisexualität,
konstant nicht nur für die Einzelperson, sondern höchst-
wahrscheinlich auch für die Gesamtbevölkerung.
Die Tatsache, daß bei unserer zweiten Enquete die
Fragestellung im Perfectum („Hat sich Ihr Trieb ge-
richtet?") den Prozentsatz derjenigen, welche sich für
beide Geschlechter bekannten, nicht vermehrte gegenüber
unserer ersten Enquete, bei der im Präsens („Richtet
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— 145 -
sich Ihr Trieb?'') angefragt war, dieses Ergebnis ist ein
weiterer Beweis dafbr, daß der sexuelle Ergänzungstrieb
eine in ihrer Richtung der Persönlichkeit Ton Geburt
an adhärente^ unveräußerliche Eigentümlichkeit ist, welche
weder dadurch^ daß man sie erklärt^ noch dadurjh, daß
man sie statistisch feststellt, geändert wird.
Die Antworten sollen unzuverlässig, der Wahrheit
nicht entsprechend, nicht ernst zu nehmen sein.
Wir bemerken hierzu, daß sämtliche Karten, die
auch nur im geringsten zweifelhaft erschienen, außer
Berücksichtigung gestellt worden sind. Es wurden nur
diejenigen in Berechnung gezogen — und das war
die übergroße Mehrzahl, 96,4^/^ — welche die Buch-
staben in gewünschter Weise mit Strichen versehen
hatten, femer solche, welche das Zeichen ihrer Neigung
— und zwar war dieses fast ausnahmslos das W — an-
statt einfach doppelt bis zehnfach unterstrichen oder
umrahmt hatten, endlich auch die, welche Zusätze bei-
fügten (etwa: „Vivant omnes virgines!" oder „3f mir
einfach unverständlich''), aus denen die beabsichtigte
Antwort sicher hervorging. Wer sich einen Witz er-
lauben wollte, gab dies auch in mehr oder minder
gelungener Form deutlich zu erkennen, ein Spaß, der
lediglich darin bestanden hätte, auf einer anonymen Karte
den Strich unter einem nicht der Wahrheit entsprechenden
Buchstaben .anzubringen, erscheint schon deshalb aus-
geschlossen, weil einem solchen Scherz jedes charakteri-
stische Zeichen eines Witzes mangeln würde und der Zweck,
Heiterkeit zu erzielen, unmöglich erreicht werden könnte.
Die völlig sachgemäße und ernste Art der Beantwortung
bei 58,5 % entsprach nicht nur der ernsten Art der Frage,
sondern auch der Aufnahme, welche nach unseren ein-
gehenden Erkundigungen die Rundfrage bei der über-
großen Majorität der Studenten gefunden hatte. Oerade
die Karten heterosexueller Studenten enthielten häufig
Jfthrbueh VI. 10
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- 146 —
Zusätze, wie ,,Den menBchenfreandlichen Bestrebungen
wünsche vollen Erfolg!" oder „Wünsche Ihrer humanitären
Enquete die besten Erfolge'*; in ähnlichem Sinne äußerte
sich auch eine Beihe von Zuschriften aus den Kreisen
der Befragten, vor allem aber teilten uns zahlreiche
Studenten, in erster Linie zwei Assistenten der Techni-
schen Hochschule mit, daß in den Hör« und Zeichensälen,
innerhalb der Verbindungen, an Stammtischen^ in Kneipen
und Studentenheimen die Rundfrage sehr viel besprochen
wurde, und zwar häufig scherzhaft, daß aber doch fast
überall auch der Ernst des Gegenstandes und die Pflicht
hervorgehoben wurde, wahrheitsgemäße Antworten zu er-
teilen. ^)
^) Wie die Enquete in Arbeiterkreisen aufgenommen wurde,
zeigt u. a. der Brief eines Metallarbeiters, aus dein ich die Haupt-
stelle gleich hier wiedergeben möchte:
„Nun habe ich in diesen Tagen durch die Tageszeitungen
erfahren müssen, daß die Enquete zu einer Klage gegen Sie Ver-
anlassung gegeben hat, weil die Leute durch Ihre diskrete Anfrage
in ihrem SittlichkeitsgefÜhl verletzt sein wollen. Ich möchte hier
ab Arbeiter mit Huß sagen: „0 heilige Einfalt !'^ Wie glücklich
in dieser Beziehung sind doch wir „einfältige^' Arbeiter; denn
ich kann wohl sagen, daß die Enqaete unter den Arbeitern durch-
wegs als das gewürdigt wurde, was sie sein soll und ist. nämlich :
Eine wissenschafüiche Forschung.
Mein Bekanntenkreis unter den von der Enquete betro£feneu
Arbeitern ist ein ziemlich großer und ich kann wobl sagen, daß
unter diesen allen sich auch kaum einer gefunden hat, der nach
dem übersandten Anschreiben der Enquete so verständnislos
gegenübergestanden hätte, daß er diese nicht als eine wissenschaft-
liche Arbeit angesehen und bezeichnet hätte. Wohl fanden sich
einige, welche es für die Arbeiterschaft als überflüssig be-
zeichneten, solche Feststellungen vorzunehmen, jedoch haben Ihre
7t stündigen Ausführuugen in der Dreher Versammlung, sowie kurze
erläuternde Diskussionen von den Kollegen, welche von der
Wichtigkeit der homosexuellen Frage schon einmal rauschen hörten,
diese Zweifler in fast allen Fällen, die mir zu Gehör kamen,
schnell überzeugt, so daß ich wohl behaupten kann, die denkende
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— 147 —
Wenn gleichwohl ein verhältnismäBig nicht kleiner
Teil der Studenten, nämlich 1141 von 2897 » 39,3 7^,
überhaupt keine Antwort erteilte, so läßt sich dies aus
Indifferenz, Abneigung, Unverständnis, Nachlässigkeit
( — wollten antworten, aber kamen nicht dazu, verlegten
die Karte, vergaßen, sie in den Kasten zu stecken usw. — )
und vor allem aus dem Mißtrauen der Befragten erklären,
Eiigenschaften, mit denen bei jeder Enquete gerechnet
werden muß. Ein erfahrener Statistiker teilte mir mit,
daß bei den harmlosesten Umfragen — es gilt dies bei-
spielsweise auch bei Arbeitslosen-Statistiken — bei nicht
wenigen der Beteiligten ein unüberwindlicher Verdacht
besteht, es könnten ihnen aus der Antwort Weiterungen
irgend welcher Art erwachsen. Das anonyme Verfahren
schließt diesen Argwohn nicht ans; so meinten Ver-
schiedene, die Karten könnten in unauffälliger Weise
gekennzeichnet, etwa nummeriert sein. Ein Herr schrieb:
„Das Wasserzeichen in Ihrer geehrten Postkarte werden
wohl manche als geheimes Erkennungszeichen ansehen.^'
Tatsächlich hatten alle unsere Karten das gleiche von
der Behörde vorgesehene Wasserzeichen. Ein umischer
Student schrieb am Tage nach der Versendung sehr
verängstigt, wer uns denn seine Adresse und Anlage
verraten hätte. Will man die Möglichkeit einer gelegent-
lichen falschen Angabe aufrecht erhalten, so ist es jeden-
falls naheliegender, daß einmal ein Homosexueller in
seiner Furcht das W unterstreicht, als daß ein Normal-
sexueller sich für mannliebend erklärt.
Man kann aus der Scheu und Ängstlichkeit, die bei
den Homosexuellen ganz sicher ungleich größer ist, als bei
Arbeiterschaft Berlins versteht, was wissenschaftliche' Arbeit ist,
und wird stets geneigt sein, die Wissenschaft durch ihre Mitarbeit,
soweit dies möglich ist, zu unterstützen, und das dürfte nicht zu
unterschätzen und speziell für Sie und Ihr humanitäres Streben
nicht ohne Interesse sein.'^
10*
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— 148 —
den Normalen, mit Recht folgern, daß sich auch unter
den Schweigsamen noch eine ganze Anzahl verschämter
Urninge befindet; einen, der die Rundfrage nicht beant-
wortete, weil er seinen Argwohn nicht überwinden konnte,
haben wir später persönlich kennen gelernt.
Es ist dieser umstand wohl zu beachten gegenüber
dem Einwand, der erhoben wurde, daß die Zahl der
Nichtbeantworter den Wert der Enqueten erheblich
herabdrücke und daß es nicht angängig sei, die gefundene
Prozentziffer auf die, welche keine Auskunft gaben, zu
übertragen.
Auf den ersten Blick will es allerdings scheinen,
als ob die Nichtbeantworter sämtlich heterosexuell sein
dürften, da die Homosexuellen, in deren Interesse die
Enquete veranstaltet wurde, gewiß alle freudig die Ge-
legenheit wahrnehmen würden, sich einmal in so ungefähr-
licher Weise zu ihrer Natur zu bekennen. Wäre dieses
der Fall, wären also alle Nichtbeantworter normal, dann
müßten wir die Zahl der Abweichenden mit der Gesamt-
zahl der Befragten verrechnen. Auch so kämen noch
erkleckliche Prozentzahlen heraus, nämlich:
Homosexuell 26 von 2897 = 0,897^,
bisexuell 77 „ 2897 = 2,65 „
abweichend 103 „ 2897 = 8,54 „ .
Gegen diese Art der Berechnung spricht aber außer
der obigen Erwägung noch eine weitere Beobachtung.
Würden sich die Homosexuellen in der Tat so unbe-
denklich an unseren Feststellungen beteiligen, so müßte
der Prozentsatz der M sowie der if + TT in den ersten
Tagen nach Versandt der Karten, deren umgehende
Rücksendung erbeten wurde, besonders hoch sein; er
müßte dann nach und nach entsprechend dem zu-
nehmenden Übergewicht der W bis zum Ende des Ein-
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— 149 —
laufes der Antworten sinken. Dies ist nun aber ganz
nnd gar nicht der Fall, wie sich aus folgender Vergleichung
ergibt:
L Enquete.
(Versandt erfolgte am 8. XII. 1908.)
Datum
il
M
M
M+ W
Abnorme
bi8l4.XII.0d.
bis 1. I. 04.
1566
1696
1474 = 94,1%
1593-94,0<»/o
22-1,4«/,
26 = l,57o
70-4,4Vo
77 = 4,67o
99 = 5,8%
103 = 6,0%
Der besseren Übersicht halber fügen wir hier gleich
eine spezialisierte Tabelle bei, welche das Steigen und
Sinken der Prozentzahlen bei unserer zweiten Enquete
veranschaulicht
n. Enquete.
(Versandt erfolgte am 27. II. 1904.)
Datum
ZaU der
% d. Homo-
% der
•/o der Ab-
Antworten
sexuellen
Bisexuellen
weichenden
29. IL
492
1,42
2,84
4,26
1. III.
918
1,10
2,42
3,52
2. III.
1244
1,04
2,64
3,68
4. III.
1568
0,89
2,93
3,82
8. III.
1800
0,94
2,98
8,92
11. III.
1845
1,03
2,98
4,01
16. ra.
1884
1,17
8,08
4,25
22. m.
1912
1,15
8,19
4,84
Betrachten wir diese Tabellen, so sehen wir, wie
beide Male vor Abschluß der Enquete die Anzahl der
Abweichenden etwas in die Höhe geht; namentlich bei
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— 150 —
den Metallarbeitern — und bei den Studenten, wo nicht so
genaue Yergleichszahlen aufgenommen wurden, war es nicht
anders — zeigt es sich deutlich, daß der Prozentsatz der .
Abweichenden zuerst ein verhältnismäßig hoher ist, daß er
dann längere Zeit abnimmt, um gegen Ende wieder er-
heblich zu steigen. Daraus geht hervor, daß wir bei den
Homo- und Bisexuellen zwei G^ruppen unterscheiden
können, eine, die in der Tat sofort ihre Karte ausftillt
und absendet, eine andere, die zögert , zaudert und
zweifelt, bis sie nach tagelangem Schwanken zu einem
positiven Entschluß gelangt. Dürfen wir danach nicht
annehmen, daß es noch eine Beihe von Homosexuellen
gibt, bei denen die Entscheidung schließlich nach der
negativen Seite ausschlägt?
Man wird nach allem schwerlich einen Fehler be-
gehen, wenn man die Prozentsätze der abweichend ver-
anlagten Personen von den Auskunftgebern auf die
Befragten überträgt Im übrigen mag gern zugegeben
werden, daß die Genauigkeit der Feststellungen durch
die Zahl der Nichtbeantworter leidet. Wer aber darauf-
hin unseren Enqueten den Vorwurf der Ungenauigkeit
macht, dem ist zu antworten, daß es hier auf so genaue
Resultate gar nicht ankommt. E^n recht beherzigenswertes
Motto, das den fünfstelligen Logarithmentafeln Theodor
Wittsteins vorgedruckt ist, lautet: ,)Der Maugel an mathe-
matischer Bildung gibt sich durch nichts so auffallend
zu erkennen, als durch maßlose Schärfe im Zahlenrechnen.''
Für den vorliegenden Fall ist es ziemlich gleichgültig,
ob sich der Prozentsatz der Homosexuellen etwas über
oder unter IVsVo hefindet, ob der der Bisexuellen ein
Geringes über oder unter S^o h^gt.
Hätte man früher die Frage aufgeworfen, ob die
Zahl der Homosexuellen nach Hunderten oder Tausenden
betrage, so hätte niemand darauf eine Antwort geben
können, die mehr als eine unsichere oder höchst will-
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— 151 —
kürliche AnDahme gewesen ^äre. Jetzt wissen wir, daß
wir das Verhältnis der Abweichenden zu den sogenannten
Normalen nicht nach Promillen, sondern nach Pro-
zenten zu beziffern haben. Das Ergebnis, daß bei allen
Rundfragen und Stichproben stets eine Zahl gefanden
wird, die innerhalb derselben Größenordnung,
sogar immer in der Nähe von 1,5^ 1^, gelegen ist, diese außer-
ordentliche Übereinstimmung kann unmöglich auf einem
Zufall beruhen, sondern muß yon einem Gesetz abhängig
sein, 7on dem Naturgesetz, daß nur 90— 95^/^ der
Menschen als normalsexuell geboren werden, daß ca. V/^
bis 27o Homosexuelle — also in Deutschland ungefähr
eine Million — , eine für die Fortpflanzung der Art unge-
eignete besondere Gruppe der Bevölkerung bilden und daß
als Übergang zwischen den Hetero- und Homosexuellen
etwa 4^0 Bisexuelle restieren.
n. Drs. V. Römers Amsterdamer Enquete.
Ganz besonders auffallend ist die Übereinstimmung
unserer Rundfrage mit den Resultaten einer Enquete,
welche bereits zwei Jahre zuvor Dr". v. Römer, als er
selbst noch in Amsterdam studierte, in etwas anderer
Form und bedeutend kleinerem Umfange unter seinen
Kommilitonen veranstaltete, v. Römer legte 595 Studenten
fünf Fragen vor, unter denen die vierte lautete: Fühlen
Sie geschlechtlich für Weiber, Männer oder beide? Die
übrigen Fragen bezogen sich auf das Alter der Befragten,
sowie darauf, ob sie der Onanie ergeben waren, ob sie
im Pubertätsalter gleichgeschlechtliche Akte verübt hatten,
endlich ob die Neigung bestand, Freunde zu küssen.
Hierzu ist zu bemerken, daß der Kuß unter männlichen
Personen in Holland ein viel selteneres und daher be-
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— 152 —
deutungSYolleres Vorkommnis ist^ als in Deutschland.
Die Antworten waren mit denselben Ziffern wie die
Fragen versehen und sollten durch Unterstreichen be-
stimmter Antwortsmöglichkeiten (wie „ja", „nein" usw.)
gegeben werden.
Von 595 antworteten 308 = 51,77^, bei uns 58,5 7^.
Von diesen erklärten sich für
heterosexuell 290 = 94,1 7^, bei uns 94,07^ oder 0,1 7o
weniger,
homosexuell 6= 1,97^, bei uns 1,57^ oder'0,47o
weniger,
bisexuell 12 = 3,9 7^, bei uns 4,5 7^ oder 0,67^
mehr,
abweichend 18= 5,87^, bei uns 6,0 7^ oder 0,8 7^>
mehr.
Würde man annehmen, daß alle Schweigenden
heterosexuell wären, was aber bestimmt nicht zutrifft,
wie denn auch v. Römer selbst später unter den Nicht-
beantwortern Urninge kennen gelernt hat, so wäre das
Zahlenverhältnis :
Homosexuell 1,027^, bei un8 0,897o oder 0,2 7^ weniger,
bisexuell 2,01 7^, bei uns 2,65 7^ oderO,67^, mehr,
abweichend 3,037^, bei uns3,547o oder 0,5 7^ mehr.
Die Übereinstimmung zwischen der Charlottenburger
und Amsterdamer Studentenenquete beträgt somit über
997o> die Abweichungen an keiner Stelle 1,0 7o> bei den
meisten Zahlen kaum ^I^^/q. Ich meine, wer hier von
einem Zufall sprechen wollte, könnte mit dem gleichen
Recht die Ähnlichkeit eineiiger Zwillinge für eine bloße
Zufälligkeit erklären, welche von dem Naturgesetz der
1
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— 153 —
Vererbung unabhängig seL Dabei legen wir natürlich
kein Gewicht darauf, daß die Abweichungen so außer-
ordentlich geringfügig, noch nicht einmal YjVo ^i^*^-
Das wird wohl Zufall sein. Die Gesetzmäßigkeit bliebe
bestehen, selbst wenn die Abweichungen zehnmal so
groß wären. Auch bei dem yon Oesterlen an 59351000
Geburten ermittelten Sexual Verhältnis^) von 106,3
Knaben zu 100,0 Mädchen kamen in den verschiedenen
europäischen Staaten Schwankungen von 107,2 bis 105,2
zu 100,0 vor. Was will dieser kleine Spielraum von
27o besagen gegenüber der imposanten Eonstanz dieser
so bedeutsamen, in ihren Grundursachen uns noch so
völlig unverständlichen Verhältniszahl!
m. Metallarbeiterenquete.
Hatten wir uns mit unserer ersten Rundfrage an
akademische Kreise gewandt, so traten wir mit unserer
zweiten Enquete an die Arbeiterklasse heran. Wir
wünschten, eine Bevölkerungsschicht zu untersuchen,
von der man im aligemeinen annahm, daß in ihr das homo-
sexuelle Element nur schwach,*) jedenfalls sehr viel
weniger vertreten sei, als in mittleren und höheren Volks-
^) Als Sexual Verhältnis bezeichnet man das durch die Sta-
tistik festgestellte Verhältnis der geborenen Knaben und Mädchen.
Man vgl. besonders Oesterlen, Handbuch der medizinischen
Statistik; Goehlert, Über das Sexualverhältnis der Ge-
borenen, Sitzungsbericht der k. Akademie der Wissen-
schaften, XII, Wien 1854; auch Sadler, Law of population,
London 1880. Eine gute Literaturubersicht über den Gegenstand
findet sich in dem Artikel Sexualverhältnis, in £ulenburgB
Eeal-Encyklopädie, IIL Aufl., Bd. XXII, S. 417.
•) Vgl. u. a. Näcke, Jahrbuch V, I, S. 197—198.
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— 154 —
schichten. Aus der Erlasse der Lohnarbeiter in Marxschem
Sinne griffen wir die in Berliner Fabriken beschäftigten
Eisen-, Metall- und Eevolverdreher heraus. Wir
wollten eine Abteilung nehmen, deren Arbeit so be-
schaffen ist, daß sie der darchschnittlichen urnischen
Konstitution und Individualität nicht besonders Terlockend
erscheinen kann. Beispielsweise wäre in dieser Hinsicht
der Goldarbeiter ganz anders zu bewerten gewesen, als
der Eisenarbeiter. Gewerkschaftlich organisierte Männer
hatten zudem den Vorzug, daß bei ihnen eine ernstere
Lebensauffassung yorausgesetzt werden durfte.
Ein bemerkenswerter Unterschied gegenüber unserer
ersten Enquete lag in dem Umstände, daß es sich dieses
Mal nicht um eine eng begrenzte Grappe ziemlich alters-
gleicher, fast ausnahmslos lediger Personen, wie bei den
Studenten, handelte, sondern um yerheiratete und un-
verheiratete Leute jeden Alters, vom achtzehnten bis
über das sechzigste Lebensjahr hinaus.
Ferner fragten wir bei dieser zweiten Umfrage —
es geschah dies nach sehr eingehenden Überlegungen —
nicht wie bei der ersten im Präsens nach der Richtung
des Geschlechtstriebes, sondern zogen die Vergangenheit
mit in die Frage hinein, um zu ermitteln, ob sich da-
durch etwa die Zahl derer, welche W + M unterstrichen,
erheblich steigern würde, wie das von denjenigen unserer
Freunde, welche der Bisexualität eine besonders große
Rolle zuschreiben, vorausgesetzt wurde.
So richteten wir denn an 5721 Eisendreher, deren
Adressen uns von dem Verbände deutscher Metallarbeiter
in sehr dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt
waren, das folgende Anschreiben:
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— 155 —
Bundschreiben des WiBBenschaftlich-humanitären
Komitees.
Charlottenburg, im Februar 1904.
Sehr geehrter Herr!
Hiermit erlaubt sich das unterzeichnete Komitee, Sie höflichst
um Ihre Mitwirkung bei der Beantwortung einer wissenschaftlichen
Frage zu bitten.
£s ist Ihnen vermutlich bereits bekannt, daß sich der Liebes-
trieb (Geschlechtstrieb) zahlreicher Männer nicht ausschließlich auf
Frauen, sondern teilweise und mitunter sogar ausschließlich auf
männliche Personen richtet. Man bezeichnet solche Männer als
teilweise oder gänzlich „homosexuell'* (gleichgeschlechtlich ver-
anlagt) und nennt die Veranlagung selbst „Homosexualität" (gleich-
geschlechtliche Veranlagung). Die entsprechende Erscheinung
kommt auch unter Frauen vor.
Während wir heute wissen, daß die Homosexualität eine an-
geborene Eigentümlichkeit darstellt, welche ebenso unverschuldet
wie im Allgemeinen auch unschädlich ist, und während im Alter-
tum diese Liebe mehr oder minder öffentlich anerkannt und bei-
spielsweise von griechischen und römischen Dichtem ebenso un-
befangen besungen wurde wie die Frauenliebe, hat sich im Mittel-
alter der Aberglaube der Sache bemächtigt und sie völlig ver-
dunkelt. Die unwissenschaftlichen Anschauungen jener Zeit bildeten
den Ausgangspunkt für eine ganz übertriebene Verpönung der
gleichgeschlechtlichen Liebe (Homosexualität), deren gröbere
Formen nach dem Aberglauben jener Jahrhunderte Erdbeben,.
Pest und andere Himmelsstrafen, wie besonders dicke, gefräßige
Feldmäuse, erzeugen sollten. Daher standen auf dem homosexuellen
Verkehr, dem sogenannteu „Verbrechen wider die Natur*', die
allerschwersten Strafen, in Frankreich der Feuertod, der sonst
nur noch wegen zweier anderer eingebildeter Verbrechen, nämlich
wegen Ketzerei und wegen Hexerei verhängt wurde. Nach dem
friesischen Bechte wurde zwischen Selbstentmannung, Lebendig-
begraben und Verbrennen die Wahl gelassen.
Die Aufklärung der französischen Revolution hat mit jenen
Paragraphen aufgeräumt. Sie fehlen bereits in den Strafgesetz-
büchern derjenigen Länder, in denen das bleibende gesetzgeberische
Ergebnis der großen Revolution, der „Code Napoleon (das Napo-
leonische Gesetzbuch), Eingang gefunden oder Einfluß ausgeübt
hat In anderen Ländern, wie auch in Deutschland, finden sich
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— 156 —
jedoch noch Überreste jener vom Aberglauben erzeugten Straf-
androhungen vor, obwohl es doch klar ist, daß durch den homo-
sexuellen Verkehr selbst in seinen gröbsten, nur selten vor-
kommenden Formen — wenn es sich um freiwillige Handlungen
erwachsener Personen handelt — Niemandes Rechte verletzt
werden und der in Wirklichkeit angerichtete Schaden sogar ge-
ringer ist, als der durch den außerehelichen Geschlechtsverkehr
mit Frauen entstehende. Denn dieser vernichtet, in Verbindung
mit unseren Sittlichkeitsanschaaungen, zahlreiche Frauenexistenzen
und ist femer die Hauptqaelle für die Verbreitung der Geschlechts-
krankheiten.
Die Strafandrohung des § 175 ') hat praktisch nur die Folge,
daß ein besonderes Erpressertum großgezüchtet worden ist und
daß jährlich zahlreiche Männer aller Bevölkerungsklassen — Männer,
die Niemandem Etwas zu Leide getan haben — durch Furcht
vor Schande und entehrender Gefängnisstrafe in Verzweiflung und
nicht selten in den Tod getrieben werden.
Mit Eecht sind daher viele Blätter, unter ihnen auch die
gesamte Arbeiterpresse, für die endliche Ausmerzung jenes mittel-
alterlichen Überbleibsels eingetreten.
Das unterzeichnete Komitee, welches sich die Aufgabe ge-
stellt hat, das Liebes- und Geschlechtsleben des Menschen, ein-
schließlich der Homosexualität, allseitig und vorurteilsfrei wissen-
schaftlich zu erforschen, wünscht nun gegenwärtig vor allem die
ungefähre Zahl der Homosexuellen in Erfahrung zu bringen. Es
ist klar, daß der Prozentsatz nur durch statistische Enqueten ge-
funden werden kann und daß diese nur durch Rundschreiben
nach Art des vorliegenden ausfuhrbar sind, da es sich ja um die
Feststellung von Zuständen des inneren Empfindungslebens handelt.
In Anbetracht der Vorurteile, welche noch vielfach auf dem Gegen-
stande lasten, muß sich die Forschung zur Erlangung brauchbaren
statistischen Materials an solche Volkskreise wenden, bei denen
die moderne Aufklärung durchschnittlich am weitesten vorge-
schritten ist.
Das unterzeichnete Komitee hat vor einigen Monaten ein
ähnliches Rundschreiben mit Antwortkarten an ungefähr 8000
^) Der § 175 des Reichsstrafgesetzbuchs lautet: „Die wider-
natürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Ge-
schlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit
Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlu<3t der bürgerlichen
Ehrenrechte erkannt werden.^' (Note des Fragebogens.)
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— 157 —
Studierende der Technischen Hochschnle zn Gharlottenburg ver-
sandt, mit dem Ergebnis, daß etwa 1700 geantwortet haben, von
denen sich nicht weniger als 25 oder l,5*^/o als rein homosexuell,
77 oder 4,5^0 ftls teilweise homosexuell, zusammen also 102 oder
6®/o als abweichend von der Regel bekannt haben. So wichtig
dieses Ei^ebnis auf alle Ffllle ist, so wird es doch ein wenig durch
den Umstand beeinträchtigt, daß immerhin mehr als ein Drittel
der Angeiragten (fast ISOO von 3000) nicht geantwortet hat und
daß man natürlich nicht mit Sicherheit wissen kann, ob das Pro-
lentverbältnis unter den Nichtbeantwortem dasselbe ist, wie unter
den Beantworten]. Man darf annehmen, daß die meisten der
Nichtbeantworter nur auf Grund gewisser prüder Vorurteile ihre
keinerlei Mühe oder Kosten verursachende Mitwirkung an einem
Unternehmen verweigert haben, welches doch offenbar nur der
Wissenschaft, der Aufklärung und der Gerechtigkeit zu Gute
kommen kann.
Das unterzeichnete Komitee hat nunmehr beschlossen, sich
an die freidenkende Arbeiterschaft Berlins zu wenden, in der Er-
wägung, daß das Vorurteil dort durchschnittlich am geringsten
und die Zahl der Nichtbeantworter demgemäß am kleinsten sein
durfte. Den Beruf der Dreher haben wir deswegen für unsere
diesmalige Enquete ausgewählt, weil die Zahl der organisierten
Dreher in Berlin — zwischen 5000 und 6000 — unseren Zwecken
am besten entspricht
Wir bitten Sie, zu bedenken, daß die Lösung dieser Aufgabe
einem wissenschaftlichen Zwecke dient und auf keinem anderen
Wege möglich ist, als auf dem hier eingeschlagenen der direkten
Befragung, daß sich Niemand zu genieren oder Bedenken zu
tragen braucht, die Antwortkarte auszufüllen, da dies nur durch
einfaches Unterstreichen des Zutreffenden erfolgt und somit die
völlige Verschwiegenheit schon durch diese äußere Ein-
richtung unserer Enquete gewährleistet ist. Die Antwortkarten
sind ein gänzlich unpersönliches statistisches Material; die von
Ihnen abzusendende ist nur eine unter tausenden, und Niemand
kann erfahren, daß diese Karte gerade von Ihnen abgesandt
worden ist.
Um völlig unbeeinflußte, ernste und streng wahrheits-
gemäße Antworten zu erzielen, bitten wir Sie, die Karte nicht
in Gegenwart anderer, sondern allein auszufüllen und abzusenden.
Die Frage, welche wir Ihnen vorlegen, ist fol-
gende: Hat sich Ihr Liebestrieb (Geschlechtstrieb)
immer nur auf weibliche (W.), immer nur auf männ-
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— 158 —
liehe (M.) oder sowohl auf weibliche wie auf männ-
liche (W. + M.) Personen gerichtet?
Wir bemerken hierbei noch ausdrücklich, daß sich unsere
Frage nur darauf bezieht, ob Sie eine wirkliche sinnliche Zu-
neigung empfunden haben, und nicht darauf, ob und in wie
weit Sie derselben nachgegeben haben.
Wir bitten Sie nun, die obige Frage auf einliegender fran-
kierter Postkarte durch bloßes Unterstreichen der vorgedruckten
Buchstaben W., M. oder W. + M. in folgender Weise zu beant-
worten :
W. M. W. + M.
bedeutet, daß sich Ihr Trieb immer auf weibliche Personen ge-
richtet hat.
W. M^ W. + M.
bedeutet, daß sich Ihr Trieb immer auf männliche Personen ge-
richtet hat.
W. M. W. 4- M.
bedeutet, daß sich Ihr Trieb sowohl auf weibliche wie auf männ-
liche Personen gerichtet hat.
Sollte das Letztere zutreffen und sollten Sie dabei die Be-
obachtung gemacht haben, daß die eine der beiden Triebrichtungen
entschieden zu überwiegen pflegt, so bitten wir folgendermaßen
anzustreichen :
W. M. W. 4-M.
bedeutet, daß sich Ihr Trieb zwar auf Personen beiderlei Ge-
schlechts richtete, der Trieb zum Weibe aber entschieden überwog;
W. M. W. + M.
hingegen bedeutet, daß sich Ihr Trieb auf Personen beiderlei
Geschlechts richtete, daß aber die Neigung zu männlichen Per-
sonen entschieden überwog.
Wir bitten Sie also, die beigefügte Postkarte möglichst bald
und vor allem streng wahrheitsgemäß in der angegebenen Weise
durch Unterstreichen des Zutrefienden zu beantworten und abzu-
senden. Namen bitten wir nicht zu nennen, dagegen Ihr
Alter durch Unterstreichen der zutreffenden Zahl zu bezeichnen.
Indem wir hoffen, daß Sie die kleine Mühe nicht scheuen
werden, zur Lösung einer wissenschaftlichen Frage und mittelbar
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— 159 —
auch isur Ausmerzang eines naturrechtswidiigen und gemein-
Bchadlichen Gesetzes beisntragen, zeichnet
Hochachtungsvoll
Die statistische Kommission
des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees.
Im Auftrage
Dr. med. Hirschfeld.
Die in keiner Weise gekennzeichnete Antwortkarte
hatte folgendes Aassehen:
w.
M.
W.
+ M.
18.
19.
20.
21. 22.
23. 24.
25. 26.
27.
28.
29.
80.
Zwischen 30 und 40.
Zwischen 40 und 50.
Zwischen |
50 und 60
. Über
60 Jahre.
Von den 5721 abgesandten Briefen kamen 1137
(503 mit dem Vermerk „unbekannt verzogen", 634 mit
„nicht ermittelt" etc.) zurück, das sind 19,87o> ^^^ zwar
rührte diese große Zahl der Retouren zumeist von jüngeren
oder älteren Arbeitern ledigen Standes her, die sich in
Schlafstellen befanden. In die Hände der Adressaten
gelangten 4594 Briefe, die Gesamtzahl der Antworten
betrug 1912 = 41,67o> i^ach den Erfahrungen, die man
mit anderen Enqueten in Arbeiterkreisen gemacht hat,
und den Voraussagen, die uns von geübten Statistikern
gegeben waren, eine verhältnismäßig hohe Zahl.
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160 —
Es erklärten sich für
W 1802 = 94,257«
M
22= 1,15,,
W + M
14 = 0,73 „
W + M
36 = 1,88 „
W + M
11 = 0,58,,
Fraglich
27 = 1,41 „
3,197o
Summa 1912 = 100,0«/^.
Es bekannten sich somit ^) als
heterosexuell 95,7^0^ gegen 94,07o bei der I. Enquete,
also 1,7^0 mehr,
homosexuell 1,1 7o» g^gen 1,5 7o bei der I. Enquete,
also 0,4% weniger,
bisexuell 3,27o> gegen 4,5 7o bei der L Enquete,
also l,37o weniger,
abweichend 4,3^0» gegen 6,0^0 bei der I. Enquete,
also 1,7^0 weniger.
Vorwiegend oder rein homosexuell sind
M = 22 = 1,15 7o
W + M = 11 = 0,58 „
im Ganzen 33 = 1,78 7o-
Für die Nichtbeantworter dieser Enquete gilt das-
selbe, was ich bei der Studentenenquete bereits aus-
einandersetzte, wobei ich besonders auf die Tabelle ver-
*) Bei dieser Berechnung sind wie bei der I. Enquete die
„fraglichen" den Heterosexuellen zugezählt, was, wie ersichtlich,
bei den Abnormen erst eine Änderung in der 2. Dezimale bewirkt.
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— 161 —
veise, welclie das Sinken und Steigen der Prozentziffern
ausdrückt. Recht bezeichnend war in dieser Hinsicht
eine Bemerkung, welche mir ein Urning überbrachte:
9,Ein ihm bekannter homosexueller Arbeiter habe ihm
gesagt, er antworte nicht, sein Geschlechtstrieb ginge
keinen etwas an/< Ich bemerke übrigens, daß sowohl
dieser Nichtbeantworter, als auch der Student^ welcher
sich später mündlich als homosexuell bekannte, bei der
Berechnung außer Acht gelassen wurden, da bei dieser
nur die ordnungsmäßig ausgefüllten Karten berücksichtigt
werden sollten.
Vergleichen wir die beiden Rundfragen, so läßt sich
das Plus von 0,4^0 <iör rein Homosexuellen und 1,3 ^/^ der
Bisexuellen, welches die Studenten gegenüber den Metall-
arbeitern aufweisen, in verschiedener Weise erklären.
Es kann davon herrühren, daß tatsächlich, wie es von
Näcke und anderen behauptet wurde, die Homosexualität
in den höheren Schichten der Bevölkerung etwas stärker
verbreitet ist, als in der unteren Volksklasse^ es kann
darauf beruhen, daß ceteris paribus der akademische
Beruf von umischen Individualitäten, meistens wohl ohne
Kenntnis ihrer eigentlichen Sexualpsyche, mehr auf-
gesucht wird, als der Schlosserberuf, es kann das Minus
bei den Metallarbeitern vielleicht aber auch nur auf die
Menge der Retouren zurückzuführen sein, in der sehr
begründeten Voraussetzung, daß unter den in Schlafstelle
betindlichen ledigen Leuten, namentlich auch den älteren,
der Prozentsatz der Abweichenden höher ist, als unter
den verheirateten Personen^ endlich aber kann auch eine
zufällige Divergenz vorliegen, da dieselbe in keinem Falle
27o^ bei den Homosexuellen sogar noch nicht Vs^/o be-
trägt, die gefundenen Zahlen also nicht nur in dieselbe
Größenordnung fallen, sondern innerhalb dieser sogar nur
in kleinen Grenzen variieren.
Auffallend ist es, daß die Anzahl der Bisexuellen
Jahrbuch VI. n
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— 162 —
bei beiden Enqueten sich fast genau dreimal so groß
erweist, als die Menge der Homosexuellen, indem sich
bei der L Enquete 1,5 7o Homo- und 4,5 ^/^ Bisexuelle,
bei der IL 1,1 ^o und 3,2 ^^ ergaben. Bei der v. Römerschen
Enquete steht das Verhältnis dagegen wie 1 : 2, nämlich
1,9^0 Homo- und 3,9^0 Bisexuelle. Die Übereinstimmung
zwischen unseren beiden Rundfragen ist um so beachtens-
werter, als die Fragestellung im Perfectum die Präsenz-
stärke nicht verändert hat, ja, trotzdem es sich durch-
schnittlich um ältere Personen handelte, nahm die Zahl
derjenigen durchaus nicht zu, welche erklärten, daß ihr
Geschlechtstrieb sich während ihres Lebens auf beide
Geschlechter erstreckt habe. Es ist das ein weiterer und
äußerst wichtiger Beweis dafür — ein Beweis übrigens,
welcher nur durch diese Änderung der Fragestellung er-
reicht werden konnte — daß auch die bisexuelle Richtung
des Geschlechtstriebes eine eingeborene, nicht durch äußere
Einflüsse bestimmbare Eigentümlichkeit darstellt, daß
auch die Bisexualität durch einen konstitutionellen Kom-
plex von Eigenschaften gebildet ist, welcher seine Er-
gänzung eben in Typen findet, die in mehr oder minder
großer Ähnlichkeit unter dem männlichen und weiblichen
Geschlecht vorkommen.
Es ist in dieser • statistischen Arbeit nicht der Platz,
in das an sich gewiß ganz außerordentlich interessante
Gebiet der Bisexualität einzutreten. Daß zwischen den
Heterosexuellen und Homosexuellen auch noch Übergänge,
nämlich Bisexuelle, vorkommen würden, war a priori zu
erwarten. Daß sie re vera existieren, haben die drei
Enqueten außer Zweifel gestellt. Ich habe in meiner
ersten Arbeit über sexuelle Zwischenstufen die Kate-
gorie der psychischen Hermaphroditen, wie man früher
die Bisexuellen zu nennen pflegte, in einem Schema zu
veranschaulichen gesucht, habe aber dann in der ersten
und noch mehr in der zweiten Auflage meines Buches:
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— 163 —
„Der urnische Mensch" ^J betont, daß die zu beiden Ge-
schlechtern neigenden Persönlichkeiten Gegenstand eines
ebenso eingehenden Spezialstudiams werden sollten, wie
die rein Homosexuellen, daß auch hier eine große Beihe
sorgfältiger Binzelbeobachtungen nicht zu entbehren ist,
um zu der richtigen Beurteilung zu gelangen. So drückte
sich ein recht femininer Student, welcher M + W unter-
strichen hatte, als er sich mir persönlich vorstellte, selbst
in der Weise aus, „er fühle zu 99 ^/^ für den Mann,
höchstens zu l^o f^r ^^^ Weib".
Praktisch sind solche Bisexuelle, die so weit nach
rechts stehen, ebenso zu bewerten, wie die Homosexuellen,
sie sind auch annähernd denselben Leiden, Kämpfen und
Konflikten ausgesetzt. Die weiter links — den Hetero-
sexuellen näher — stehenden Bisexuellen können sich
im allgemeinen leichter in das Leben der Normalsexuellen
fügen und sollten es gewiß tun, ebenso auch diejenigen,
welche in der gleichen Weise heterosexuell und homo-
sexuell fühlen und verkehren können. Man geht schwerlich
fehl, wenn man in diesen beiden letzten Gruppen der
Bisexuellen die stärksten Widersacher der Homo-
sexuellen sucht; weil sie die homosexuelle Quote
ihres Geschlechtstriebes unterdrücken können,
nehmen sie dasselbe auch von den rein und vor-
wiegend Homosexuellen an.
Die 94—96% der drei Enqueten, welche das W
unterstrichen, stellen ein imposantes Bekenntnis der
Liebe des Mannes zum Weibe dar, eine kraftvolle Kund-
gebung der Art für die Erhaltung der Art, sie zeigen,
wie unbegründet die Befürchtungen sind, daß je das
urnische Element eines Volkes Wesen und Wert der großen
Mehrheit beeinträchtigen könnte, sie machen für jeden,
der weiß, daß Instinkten Kontrainstinkte entsprechen,
*) S. 35—41.
11*
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— 164 —
das große Mißyerständnis begreiflich, welches so lange
in umischen Menschen Verbrecher sah. Diese 95^/^ be-
weisen^ daß die Theorien, ubiquitäre äußere Ursachen
könnten Homosexualität erzeugen^ Theorien, aber keine
Tatsachen sind^ ebenso wie die Behauptung, die Bi-
Sexualität sei das eigentlich Normale.
Ziehen wir nun aus unseren Stichproben, bei denen
aus naheliegenden Gründen nur die rein oder doch sehr
vorwiegend Homosexuellen berücksichtigt werden konnten,
und aus den Bundfragen den Durchschnitt, so ergeben
sich folgende Ziffern:
Ä. Zahl der Heterosexuellen:
Bei der Charlottenb. Studentenenquete 94,0 7o>
)9
Amsterdamer Enquete
Metallarbeiterenquete
94,1 „
95,7 „
283,8 =
3
94,67,,
B. Zahl der Abweichenden:
}ei
i>
der Charlottenb. Studentenenquete
„ Amsterdamer Enquete
„ Metallarbeiterenquete
6,07,,
5,8 „
4,3 „
16,1 =
3
5,47o.
C. Zahl der Homosexuellen:
Bei der Charlottenb. Studentenenquete 1j57o»
„ „ Amsterdamer Enquete 1,9 „
„ ^, Metallarbeiterenquete 1,1
4.5 =" 1,57,.
3
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— 165 —
D. Zahl der Bisexuellen:
Bei der Charlottenb. Stadentenenquete 4,5 7o»
„ „ Amsterdamer Enquete 3,9 „
,y „ Metallarbeiterenquete 3,2 ,,
TT76~^3,97,.
3
E. Zahl der vorwiegend Homosexuellen:
Bei der Metallarbeiterenquete bekannten sich Ton
3,2 7o Bisexuellen 0,58 7^ oder der 5. Teil als über-
wiegend homosexuell. Nehmen wir diesen Satz auch bei
den Studenten an, was sicher nicht zu hoch, so finden wir:
Bei der CharL Stud.-Enquete 7^ von 4,5 = 0,9 7^>,
„ „ Amsterdamer Enqu. „ „ 3,9 = 0,8 „
„ „ Metallarbeiter Enqu. „ „ 3,2 = 0,6 „
2^ = 0,87o-
3
F. Zahl der rein und vorwiegend Homosexuellen:
Wenn wir als sehr wahrscheinlich annehmen, daß
sich unter den bei den Stichproben ermittelten Homo-
sexuellen auch einige finden, die nur überwiegend homo-
sexuell sind, ergeben sich folgende Ziflfern:
Bei 30 Stichproben 132 von 6611 = 1,99 7^»
Charl. Stud.-Enqu. 1,57^^ + 0,9Tr+Jtf= 2,4 „
Amsterdam. Enqu. 1,9 „ M_ + 0,8W + 'm == 2,7 „
Metallarb. „ 1,1 „ M^+ 0,6W+M = 1,7 „
8^~= 2,27,.
4
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— 166 —
Es bleibt nun die wichtige Frage zu erörtern übrig,
ob und inwieweit die gefundenen Prozentzahlen für die
Gesamtbevölkerung Gültigkeit beanspruchen dürfen.
Daß eine Übertragung auf die verschiedenen Alters-
klassen zulässig ist, kann nach folgender Überlegung
unbedenklich bejaht werden. Wir wissen, daß die homo-
sexuelle Naturanlage ebenso wie die heterosexuelle und
bisexuelle eine dem Menschen von dem ersten bis zum
letzten Atemzuge anhaftende Grundeigenschaft ist; die
Sexualität prägt der Individualität den charakteristischen
Stempel auf, welchen weder Mediziner noch Juristen ab-
zulösen vermögen. Würden wir aus allen Personen einer
bestimmten Altersklasse die sexuell Abweichenden er-
mitteln, so würde stets der dieser Menge etwa ent-
sprechende Prozentsatz herauskommen.
Diese theoretische Erwägung findet ihre volle Be-
stätigung in folgendem praktischen Ergebnis unserer En-
queten. Das Alter der von uns befragten Studenten er-
streckte sich vom 16. bis 30. Lebensjahre, also über
15 Jahre.
Das genaue Durchschnittsalter würde nur durch eine
sehr zeitraubende Berechnung zu ermitteln sein. Es
beträgt nach einer für unsern Zweck hinreichend genauen
Schätzung etwas weniger als 23 Jahre. Nun war das
Gesamtalter der 26 homosexuellen Studenten 581, sodaß
deren Durchschnittsalter 22,3 Jahre betrug.
26 in 581 = 22,34.
Das Gesamtalter der 77 Bisexuellen betrug 1 728 Jahre,
hier kamen auf jeden 22,4 Jahre —
77 in 1728 = 22,44.
Bei den Metallarbeitern ergab eine ähnliche lang-
wierige Berechnung, daß nicht nur das Durchschnitts-
alter derjenigen, welche W, M und W-f M, sondern
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— 167 —
auch derer, die W + M, W + M und W + M unterstrichen
hatten, stets zwischen 27 und 30 fiel.
Aus allen diesen Zahlen geht mit Sicherheit hervor^
daß die Bichtung des Geschlechtstriebes — die Sexualität
— eine konstitutionelle, daher der Lebensdauer zu-
kömmliche, mithin vom Lebensalter unabhängige Er-
scheinung ist
Können wir die für das männliche Geschlecht ge-
fundenen Zahlen beiden Geschlechtern zuerkennen?
Bei der großen Gesetzmäßigkeit, die auf dem Ge-
biete der Sexualität überall da herrscht, wo das Verhältnis
bisher hat nachgewiesen werden können — eine Gesetz-
mäßigkeit, die, ursächlich so verschleiert, in ihrer Macht
und Weisheit jeden Denkenden mit höchster Bewunderung
erfüllen muß — ist es wohl anzunehmen, daß wie Männer
und Frauen überhaupt auch die für die Fortpflanzung
in Wegfall kommenden umischen Personen beiderlei Ge-
schlechts in nahezu konstanter Proportion geboren werden.
Nach Ansicht und Erfahrung vieler Experten ist die Ge-
samtmenge homosexueller Männer und Frauen kaum
Ton einander verschieden, allerdings handelt es sich hier
bisher mehr um Vermutungen und Schätzungen, als um
Bestimmungen und Berechnungen.
Inwieweit sind wir nun aber berechtigt, die ge-
fundenen Prozentsätze von der Stadt auf das Land, vom
Norden auf den Süden, von den unteren und mittleren
auf die oberen Volksschichten zu übertragen, von auf-
steigenden auf absteigende, von Kultur- auf Naturvölker,
von der germanischen auf slawische, romanische und
andere Rassen?
Hier müssen wir uns erinnern, daß viele weitgereiste
Gewährsmänner angeben, daß sie die Homosexualität
überall gleich verbreitet gefunden haben, daß Männer
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— 168 —
wie Schopenhauer und Hößli^) gerade aus der gleich-
mäßigen Verbreitung der Homosexualität zu allen Zeiten
und bei allen Völkern gefolgert haben, auch diese Liebe
sei Natur. Eeiseschriftsteller und Ethnographen haben
uns allerdings von Völkern berichtet, bei denen gleich-
geschlechtliche Handlungen besonders stark Tcrbreitet
sein sollen. Soweit ich sehe, handelt es sich aber bei
diesen Mitteilungen stets um südländische oder orien-
talische, zumeist asiatische Völker, bei denen das sexuelle
Leben überhaupt und dementsprechend auch das homo-
sexuelle viel auffälliger zu Tage tritt wie bei uns. Es
ist vorderhand noch eine oflFene Frage, ob tatsächlich
dieses stärkere Hervortreten einer stärkeren Verbreitung
der Homosexualität entspricht oder ob die homosexuellen
Globetrotter im Recht sind, welche mir mehrfach davon
sprachen, daß Berlin und London sich von Teheran und
Peking, New- York und Rio de Janeiro wohl in den Er-
scheinungsformen, aber nicht in Bezug auf die Ausdehnung
homosexuellen Lebens unterscheiden. Auffallend ist es
jedenfalls, wie sehr die Ziffern zwischen den so ver-
schiedenen Kategorien entstammenden Stichproben über-
einstimmen, wie außerordentlich sich die Frozen tverhältnissc
bei den deutschen und holländischen Studenten gleichen.
Für Italien berichten uns zwei zuverlässige Gelehrte, daß
sich nach ihrer Meinung auch dort die Zahl der Ab-
weichenden zwischen 4 und 6 7o bewege.
Um größere und kleinere unterschiede zu eruieren,
wird es gewiß noch vieler sorgfältiger Untersuchungen
bedürfen, doch ist es nach allem Bisherigen mehr
als wahrscheinlich, daß diese Unterschiede- nur von
sekundärer Bedeutung sein werden, daß es sich nur
um Nuancen handeln wird, die das Gesamtbild im
») Hößli, Eros, II, p. 237—239, 1838, wiedergegeben im
Jahrbuch V, Abteil. I. S. 532 u. 533.
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— 169 —
einzelnen ergänzen, im wesentlichen aber nicht ändern
werden.
Das gilt auch namentlich für eines der wichtigsten
Unterscheidungsmerkmale der Enqueten, das auch wir
zur Unterlage unserer Erhebungen wählten, für die ver-
schiedenen Berufszweige.
Es ist zweifellos und besonders von Dr. Georg
Merzbach im IV. Jahrbuch f. sex. Zw. (S. 185) nachge-
wiesen, daß der Urning in manchen Berufen zahlreicher
vertreten ist, als in anderen. Wir können aus diesem
öesichtspunkt die Berufe in suspekte, indifferente
und extrem männliche oder weibliche einteilen. Zu den
«uspekten, bei denen wir ein Durchschnittsplus erwarten
dürfen, wären beispielsweise die Schauspieler, Damen-
schneider, Schriftstellerinnen, Zirkusreiterinnen etc. zu
zählen, zu den extrem männlichen oder weiblichen, bei
denen ein Durchschnittsminus anzunehmen wäre, müßten
wir unter anderen die Eisenarbeiter, Pflasterer, Putz-
macherinnen, Weißnäherinnen rechnen, während die
große Mehrzahl verschiedenartigster Berufsgruppen in
die indifferente Gruppe fallen würde. Es ist eine wich-
tige Aufgabe weiterer Erhebungen, nachdem wir im In-
teresse der Objektivität zuvörderst suspekte Gruppen
ganz ausschalteten, nun auch solche zu untersuchen, um
dann aus den Besultaten das Mittel zu ziehen.
So sicher es aber nun ist, daß bei den verschiedenen
Berufskategorien nicht unerhebliche Differenzen vor-
kommen werden, ebenso sicher erscheint es mir, daß
diese aus der bisher gefundenen Größenordnung von
1 — 10^0 kaum je herausfallen und sich bei allen ins-
gesamt um einen innerhalb dieser Größenordnung
liegenden Mittelpunkt bewegen werden, welcher sich für
die Homosexuellen zwischen 1 und 27o> für die Bi-
sexuellen zwischen 3 und 5% zu befinden scheint
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— 170 —
Was aber bedeuten diese Ziffern? Sie besagen, daß
sich unter 100000 Einwohnern durchschnittlich nur
94600 Normalsexuelle befinden, dagegen 5400 abweichend
Veranlagte, daß von diesen 1500 rein homosexuell, 3900
bisexuell, von letzteren wieder 700 überwiegend homo-
sexuell sind, sodaß auf 100000 Deutsche 2200 rein und
vorwiegend homosexuell Veranlagte entfallen; diese Ziffern
besagen, daß unter uns jeder 668te rein, jeder 45ste rein
oder vorwiegend homosexuell ist, daß jeder 258te zu
beiden Geschlechtern neigt und jeder 18te von der Norm
abweichend veranlagt ist, diese Zahlen bedeuten, daß
in unserm deutschen Vaterlande 1200000 (2,2^0 ^^^
56367178 nach der letzten Volkszählung von 1900), daß
in der Stadt Berlin 66000 (2,27^ von 2584140 am
31. Dezember 1903) Personen rein oder überwiegend
homosexuell veranlagt sind.
Diese hohen Ziffern werden gewiß manchen in Er-
staunen setzen und ich gestehe, daß ich selbst, als ich
mich vor 8 Jahren, durch den Selbstmord eines Patienten
veranlaßt, dem Studium der sexuellen Zwischenstufen zu-
wandte, sehr überrascht gewesen wäre, wenn ich diese
Zahlen gehört hätte, heute, wo ich das Leben und Treiben
von so vielen hundert Homosexuellen persönlich kenne,,
befremden sie mich nicht mehr; habe ich mich doch zu
oft überzeugen können, mit welchem Geschick, Eifer und
Erfolg die Homosexuellen selbst ihrer unmittelbaren Um-
gebung, den nächsten Verwandten und Freunden gegen-
über ihre Naturanlage zu verbergen wissen.
Ein Vergleich, den der geistvolle Biologe und Sozio-
loge Dr. Benedict Friedlaender ^) in Bezug auf unsere
*) Außer Heim Dr. B. Friedlaender, welcher mich bei der
Berechnung und Bearbeitung des eingegangenen Antwortenmate-
rials wesentlich unterstützte, bin ich wegen ihrer Beihilfe beson-
ders zu Dank verpflichtet Herrn A. v. Römer, welcher mir seine
Amsterdamer Ziffern zur Verfugung stellte, den Herren Dr. Tilger
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— 171 —
Enqueten anwandte, gibt eine treflfliche Deutung der er»
mittelten Zahlen.
Bekanntlich gibt es im Naturreich Lebewesen, die
sich durch Schutztarben und Schutzformen ihrer Um-
gebung 80 anpassen, daß sie ganz außerordentlich schwer
zu finden sind („Mimikry"). Manche Falter ahmen das
gesprenkelte Aussehen der Granitblöcke, auf denen sie
ruhen, so genau nach, daß selbst das geübte Auge des
Sammlers sie nicht erkennen kann; manche Eäferarten
ziehen beim Herannahen eines Gegenstandes Fühler und
Beine an und gleichen dann vollkommen den kleinen
Erdklümpchen, zwischen welche sie sich fallen lassen:
bei vielen Heuschrecken ist die Ähnlichkeit mit Form
und Farbe der Blätter oder Zweige, zwischen denen sie
sich aufhalten, so groß, daß man tatsächlich Insekt und
Pflanze nicht von einander unterscheiden kann. Genau
so passen sich die Homosexuellen den Formen ihrer Um-
gebung derart an, daß selbst geschulte Beobachter sie
als besonders geartete Menschen sehr schwer heraus-
erkennen. Infolgedessen erscheinen sie als ebensolche
Raritäten, wie die geschilderten Insekten. Sobald aber je-
mand bei diesen Insekten auf den Gedanken kommt, sich
und Buhmann, welche mir wertvolle Hinweise gaben, den Herren
Prof. Dr. Karsch, Dr. Burchard und Schriftsteller Bertz, welche
mir literarische Angaben machten, dem leitenden Beamten eines
großen statistischen Instituts, den Herren Dr. jur. Baron Schorer
und Dr. Meienreis, welche mich ebenfalls bei den Berechnungen
unterstützten, zwei Assistenten der technischen Hochschule, welche
mir bei der Studentenenquete mit Bat und Tat zur Seite standen,
Herrn Wilhelm Miethke^ welcher mir bei der Metallarbeiter-
enquete behilflich war, sowie endlich den Gewerkschaftssekretären
des Verbandes der Metallarbeiter, den Herren Pawlowitsch,
W lesen thal, Cohen, durch deren Vermittlung mir für diese
wissenschaftliche, dem eigentlichen Zweck der Gewerkschaft fern-
liegende Arbeit die Adressen der Eisen-., Metall- und Revolver-
dreher überlassen wurden.
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— 172 —
nicht mehr auf das Auge zu verlassen, sondern gewisse
KunstgriflFe, beispielsweise Schüttelungen, zu Hilfe zu
nehmen^ stellt sich alsbald heraus, daß sie viel, viel häu-
figer sind, als man es je zuvor geglaubt hätte. Ein ähn-
licher KunstgriiF ist die von uns eingeschlagene Methode,
durch welche die vorher unsichtbaren Homosexuellen und
Bisexuellen aus der Menge herausgeschüttelt worden sind.
Bedient sich der abweichend veranlagte Mensch aus
begreiflichen Gründen schon im gewöhnlichen Leben
dieses Selbstschutzes in hohem Maße, so naturgemäß in
sehr verstärktem Grade bei Begehung einer Handlung,
deren Bekanntwerden ihn nicht njir in größte Ungelegen-
heiten bringen kann, sondern die von allen, auch den
Normalsexuellen, in größter Heimlichkeit vorgenommen
wird. Ich habe oft, wenn ich in ürningsprozessen als
Gutachter zu fungieren hatte, die Empfindung gehabt,
daß wir, die sachverständigen Richter und Ärzte, welche
herausbekommen sollten, ob der Akt in einer noch nicht
oder schon strafbaren Art geschehen sei, mehr die na-
türliche Scham und Sittlichkeit verletzten, als der un-
glückliche Mann auf der Anklagebank, dessen Vita
sexualis aus dem Dunkel der Nacht in die Helle des
Tages, aus der Stille des Schlafzimmers vor das Forum
des Gerichts gezogen wurde.
Zieht man außer dem so überaus diskreten Charakter
der Tat noch in Betracht, daß die beiden Täter nicht
die Rechte anderer Personen antasten, sondern die Tat
unter und an sich vornehmen, sodaß mit ganz ver-
schwindenden Ausnahmen die beiden Täter zugleich die
einzigen Zeugen sind und nur ganz außerordentliche
Nebenumstände das Delikt zur Kenntnis Dritter bringen
können, so wird das in seiner Art wohl einzige Miß-
verhältnis begreiflich, welches auf diesem Gebiet zwischen
„Schuldigen" und Beklagten, zwischen begangenen und
inkriminierten Handlungen besteht
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— 173 —
Ich will dieses Mißverhältnis durch einige Zahlen
.veranschaulichen, welche ich den Zusammenstellungen
des Reichsjustizamts und des kaiserlich statistischen
Amtes für das Jahr 1900 — neueres Material war mir
noch nicht zugänglich — entnehme.
Es wurden aus § 175 RStr.G.B. wegen „wider-
natürlicher Unzucht" in ganz Deutschland bestraft:
Im Jahre 1900: 535 Personen
1899: 491
1895: 484
1890: 412
1885: 391
Von den 535 Personen wurden zum
ersten Mal bestraft: 351 Personen,
vorbestraft waren 184, davon einmal
vorbestraft: 81 „
zweimal „ 35 ,,
drei- bis fünfmal „ 42 „
sechsmal und öfter „ 26 „
535 Personen.
Nach Berufen verteilt gehörten von den Ver-
urteilten an:
Der Land- und Forstwirtschaft:
Industrie, Bergbau und Bauwesen:
Handel und Verkehr:
Dem Arbeiter- und Tagelöhnerstand:
Freien Berufsarten:
Ohne Beruf waren:
203 Personen,
198
76
38
12
8
535 Personen.
Ihrer Religion nach waren:
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— 174 —
Christen 529, davon evangelisch:
301 Personen.
katholisch:
228
jüdisch:
4
unbekannter Religion:
2
535 Personen.
Nach Alter und Geschlecht waren
unter 15 Jahren: 13 1
von 15 — 18 „ 102 > sämtlich männlich und ledig
„ 18-21 „ 98]
„ 21 — 25 „ 59, davon 54 ledig, 1 weiblich,
„ 25-30 „ 63, „ 52 „ 1
vom 30. Jahre ab nur noch männliche, und zwar:
von 30—40 Jahren 91, davon 57 ledig, 3 geschieden od.
verwitwet,
„ 40-50 „ _61^ „ 27 „ 7 „
487 '
der Rest über 50 Jahren.
Im Jahre 1900 betrug nun — wie oben berechnet —
die Zahl der rein und vorwiegend Homosexuellen:
2,27o von 56367178 Einwohnern = ca. 1200000 Homo-
sexuelle.
Schalten wir davon die Hälfte als weiblich aus und
nehmen wir an, daß von den übrig bleibenden nur ^^
strafmtindig sind, so ergeben sich 248000 strafmtindige
Homosexuelle. Nehmen wir an, daß von diesen er-
wachsenen Urningen der dritte Teil, also 82666, völlig
keusch lebe und daß alle Bisexuellen, die M + W in
gleicher Weise oder W stärker als M lieben, nur mit
dem Weibe verkehren, so ergeben sich — die Zahl ist
ganz sicher nicht zu hoch berechnet — : ca. 165000
männliche Personen, welche in dem zu Grunde liegenden
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— 175 —
Jahre mit Personen desselben Geschlechts sexuellen Um-
gang gehabt haben.
Wenn wir nun noch annehmen, daß sämtliche Per-
sonen, die aus § 175 bestraft wurden^ sich wegen des
ersten Teils dieses Paragraphen zu verantworten hatten,
also mit Männern verkehrt haben (außer den beiden
Frauen, die sich offenbar mit Tieren vergingen, da ja
der homosexuelle Frauenverkehr in Deutschland straffrei
ist), so ist ersichtlich, daß von 165333 Tätern 533 oder
0,3^0 der festgesetzten Strafe verfielen. Es blieben
also von 165333 Tätern straffrei 164800.
Noch viel krasser tritt die Wirksamkeit oder besser
Unwirksamkeit dieses Gesetzes hervor, wenn wir die vor-
genommenen und geahndeten Handlungen vergleichen.
Es gelangten nach § 175 R.Str.G.B. zur Verurteilung:
1900: 666 Handlungen
1899: 637 „
1895: 647 „
1890: 611 „
1885: 817 „
Nehmen wir wieder an, daß von den 248000 straf-
mündigen Homosexuellen sich nur ^/g sexuell betätigten,
und legen wir die oben angeführte Rechnung des Ver-
fassers von „§ 143" (vgl. Seite 112) zu Grunde, was so-
wohl für die „monogam" in festen Verhältnissen lebenden,
als auch für die „polygamen** — nach meiner Erfahrung
etwas seltneren — unter den üraniern gewiß nicht zu
hoch geschätzt ist, so stellt sich heraus, daß von
52 X 165333 = 8597316 homosexuellen Akten
664 bestraft wurden, wobei wir wieder nur die 2 weib-
lichen Delikte, als mit Tieren begangen, in Abzug bringen.
Mithin gelangten zur Aburteilung:
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— 176 —
664 von 8597316 = 0,007 7^.
Es blieben also von 8597316 Handlungen un-
geahndet 8596652.
Untersuchen wir weiter, wie die Verhältnisse in den
verschiedenen Gegenden Deutschlands liegen, so finden
wir folgende Zahlen, die für sich selbst sprechen.
Strafbare Handlungen aus § 175 führten herbei:
I. Oberlandesgerichtsbezirk Augsburg:
23 Verurteilungen, 0 Preispr. bei 1012777 Einges. u. 22281 H.-S,
II. Oberlandesgerichtsbezirk Bamberg:
15 Verurteilungen, 6 Freispr. bei 1233083 Eing. u. 27128H.-S.
IIL Kgl. Preuß. Kammergericbt Berlin: ^
62 Verui-teilungen, 12 Freispr. bei 4988367 Eing. u. 109744 H.-S,
IV. Oberlandesgerichtsbezirk Braunschweig:
5 Verurteilungen, 1 Freispr. bei 464 333 Eing. u. 10215 H.-S.
V. Oberlandesgerichtsbezirk Breslau:
78 Verurteilungen, 19 Freispr. bei 4668857 Eing. u. 102715 H.-S.
VI. Oberlandesgerichtsbezkk Celle:
26 Verurteilungen, 6 Freispr. bei 2766624 Eing. u. 60865 H.-S.
VII. Oberlandesgerichtsbezirk Darmstadt:
11 Verurteilungen, 3 Freispr. bei 1119893 Eing. u. 24637 H.-S.
VIII. Oberlandesgerichtsbezirk Dresden:
35 Verurteilungen, 0 Freispr. bei 4202216 Eing. u. 92448 H.-S.
IX. Oberlandesgerichtsbezirk Frankfurta. M.:
2 Verurteilungen, 0 Freispr. bei 1267532 Eing. u. 27886 H.-S.
X. Oberlandesgerichtsbezirk Hamburg:
16 Verurteilungen, 2 Freispr. bei 1127346 Eing. u. 24802 H.-S.
XL Oberlandesgerichtsbezirk Hamm:
45 Verurteilungen, 2 Freispr. bei 4052347 Eing. u. 89152 H.-S.
Xn. Oberlandesgerichtsbezirk Jena:
16 Verurteilungen, 8 Freispr. bei 1441579 Eing. u. 31 715 H.-S.
*) Zu dem Oberlandesgerichtsbezirk Berlin, welches den
Namen Kgl. Preuß. Kammergericht führt, gehören die Land-
gerichte Berlin I und II, Cottbus, Frankfurt a. 0., Guben, Lands-
berg a. W., Neu-Ruppin, Potsdam und Prenzlau.
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— 177 —
XIII. Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe:
87 Verurteilungen, 2 Freispr. bei 1867944 £ing. u. 41095 H.-S.
Xiy. Oberlandesgerichtsbezirk Kassel:
8 Verurteilungen, 1 Freispr. bei 898148 Eing. u. 19759 H.-8.
XV. Oberlandesgerichtsbezirk Kiel:
15 Verurteilungen, 0 Freispr. bei 1387968 Eing. u. 30535 H.-S.
XVI. Oberlandesgerichtsbezirk Köln:
40 Verurteilungen, 6 Freispr. bei 4705353 Eing. u. 103517 H.-8.
XVII. Oberlandesgerichtsbezirk Königsberg:
52 Verurteilungen, 7 Freispr. bei 1996626 Eing. u. 43 925 H.-S.
XVIII. Oberlandesgerichtsbezirk Kolmar:
8 Verurteilungen, 1 Freispr. bei 1719470 Eing. u. 37828 H.-S.
XIX. Oberlandesgerichtsbezirk Marienwerder:
21 Verurteilungen, 6 Freispr. bei 1499449 Eing. u. 32988 H.S.
XX. Oberlandesgerichtsbezirk München:
27 Verurteilungen, 14 Freispr. bei 1758239 Eing. u. 38681 H.-S.
XXL Oberlandesgerichtsbezirk Naumburg:
? Verurteilungen, ? Freispr. bei 3023326 Eing. u. 66513 H.-S.
XXII. Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg:
10 Verurteilungen, 2 Freispr. bei 1338521 Eing. u. 29447 H.-S.
XXIII. Oberlandesgerichtsbezirk Oldenburg:
3 Verurteilungen, 0 Freispr. bei 361566 Eing. u. 7954 H.-S.
XXIV. Oberlandesgerichtsbezirk Posen:
29 Verurteilungen, 6 Freispr. bei 1951484 Eing. u. 42982 H.-S.
XXV. Oberlandesgerichtsbezirk Rostock:
3 Verurteilungen, 0 Freispr. bei 710372 Eing. u. 15628 H.-S.
XXVI. Oberlandesgerichtsbezirk Stettin*:
11 Verurteilungen, 4 Freispr. bei 1634832 Eing. u. 85966 H.-S.
XXVII. Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart:
44 Verurteilungen, 13 Freispr. bei 2169480 Eing. u. 47728 H.-S.
XXVni. Oberlandesgerichtsbezirk Zweibrücken:
8 Verurteilungen, 5 Freispr. bei 831 533 Eing. u. 18293 H.-S.
Einstellungen von Verfahren aus § 175 fanden in
keinem der Oberlandesgerichtsbezirke statt.
Jahrbuch VI. 12
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— 178 —
Zum Schluß noch die Zahlenverhältnisse io der
Stadt Berlin. In der Reichshauptstadt wurden 1900
18 Personen aus § 175 E.Str.G.B. rechtskräftig verurteilt
wegen 40 Handlungen von „widernatürlicher Unzucht".
Von diesen 18 waren 3 vorbestraft, 3 waren unter, 1&
über 18 Jahren, 16 waren evangelisch, 2 katholisch, keiner
jüdisch. Die Gesamtzahl der Homosexuellen betrug nach
unseren Voraussetzungen 56000, davon waren straf-
mündige männliche Uranier 11200; rechnen wir wieder,
daß nur */g oder 7466 davon sich betätigten, so ergeben
sich wieder 52 x 7466 = 388232 Fälle gleichgeschlecht-
lichen Verkehrs.
Es wurden bestraft in Berlin:
18 von 7466 Tätern oder 0,2%,
40 von 388232 Taten oder 0,OOl7o.
Es blieben also von mindestens 7466 Tätern 7448
straffrei, von mindestens 388232 Taten 388192 un-
geahndet.
So furchtbar die Ungerechtigkeit ist, die darin liegt,
einzelne wenige für eine Tat zu strafen, die viele
Tausende in gleicher Weise täglich ungestraft begehen,
so sind es doch nicht diese Fünfhundert, denen unsere
Arbeit gilt, auch nicht die Zehntausende, deren Natur-
anlage zahlreichen Erpressern ein willkommenes Aus-
beutungsobjekt bietet, sondern es sind die Hundert-
tausende, es ist die Million in unserm deutschen
Vaterlande, deren Menschenrechte, deren Lebensglück
und Lebenswahrheit durch Vorurteile, Nachurteile und
Mangel an naturrechtlichem Sinn verkürzt, verkümmert^
vernichtet werden.
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Die physiologische Freundschaft
als normaler Grundtrieb des Menschen
und als Grundlage der Sozialität.
Von
Benedict Friedlaender.
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Vorbemerkung des Herausgebers: Trotzdem der
Artikel Dr. Friedlaenders in dem Hauptpunkte von der
Anschauung abweicht, wie sie in den Jahrbüchern für
sexuelle Zwischenstufen vertreten wird, daß nämlich der
homosexuelle Geschlechtstrieb eine nur einer bestimmten
Personengruppe zukommende Eigenschaft ist, so haben
wir doch geglaubt, diese interessante Arbeit unseren
Lesern nicht vorenthalten zu sollen, einmal, weil wir
gern auch von den unsrigen abweichende Gesichtspunkte
bringen, dann aber vor allem, weil diese Erörterungen
über den Soziabilitätstrieb des Menschen auch für die
„Zwischenstufentheorie" sehr viele fruchtbare und an-
regende Gedanken enthalten.
Die folgenden Ausführungen bilden im wesentlichen
einen Teil des fünften Abschnittes eines umfassenden
Werkes, welches im Verlage Renaissance in Berlin-
Schmargendorf im Frühjahr 1904 erscheinen wird, ^)
Eine Anzahl von Einwänden und Fragen, die bei
dem Leser aufsteigen mögen, wird in dem erwähnten Buche
Beantwortung finden.
^) Der vollständige Titel laatet: Die Renaissance de»
Eros Uranios. Die Physiologische Freundschaft als^
normaler Grundtrieb des Menschen und als Frage der
rnftuulichen Gesellungsfreiheit. In naturwissenschaft-
lieber, natarrechtlicheri kulturgeschichtlicher und
sittenkritischer Beleuchtung.
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— 182 —
Die vorherrschende Theorie über Wesen und Ur-
sprung der Homosexualität lehnt sich an die Aufstel-
lungen von K. H. Ulrichs an. Die andersartigen Er-
wägungen G. Jägers haben wenig Nachfolger gefunden,
und die eifrigsten Bekämpfer der Zwischenstufentheorie,
wie besonders KupflFer, sind über das instinktive Gefühl,
daß irgendwo etwas mit der Theorie in Unordnung sein
müsse, nicht hinausgekommen. Insbesondere hat Kupifer
die medizinische Theorie auf dem historisch-philologischen
Wege als unrichtig oder mindestens als nicht in allen
Fällen zutreffend nachweisen wollen. — Vielleicht wird
gerade jene Richtung, welche in der sogenannten Homo-
sexualität — den Begriff etwas weiter als gewöhnlich
gefaßt — eine allgemein menschliche Eigenschaft ver-
mutet^ in dem folgenden die lange gesuchte, streng
wissenschaftlich-biologische Grundlage finden.^)
Man kann die Tiere ganz unabhängig von ihrer
systematischen Zusammengehörigkeit in die sozial leben-
den und die nicht sozialen einteilen. Erstere leben in
Gruppen, Kolonien, Nestern, Herden oder sogenannten
Tierstaaten, in mehr oder weniger festem Verbände und
mit einer mehr oder weniger innigen, dauernden oder
periodischen Annäherung der einzelnen Individuen. Es
gibt hier eine große Zahl von Abstufungen des Grades
und der Art der Vergesellschaftung; von der gelegent-
lichen Vereinigung zu gemeinsam jagenden Rudeln, wie
bei den hundeartigen Tieren , bis zur Bildung eines
') Um Mißverständnissen vorzabeugen, sei besonders hervor-
gehoben, daß die hier entwickelte and die Zwischenstafentheorie
einander keineswegs ausschließen, sondern einander vielmehr
ergänzen. £s ist mir sogar kürzlich gelungen, aus der Literatur
der Zoologie, welche urspriinglich mein Hauptfach war, neue und
sehr interessante Illustrationen gerade zur Zwischenstufentheorie
ausfindig zu machen. Diese werden jedoch erst in meinem ge-
nannten Werke erörtert werden können.
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— 183 —
Staates, wie bei den Bienen, oder gar bis zu dem Zu-
sammenwachsen der „Personen" zum Tierstock, wie bei
den Siphonophoren. Innerhalb einer und derselben Tier-
klasse finden wir oft soziale und nicht soziale Spezies;
und die Form der Soziabilität ist für jene Spezies typisch.
Es hätte keinen Zweck, hier einen Überblick über die
sozial lebenden Tiere der verschiedenen Gruppen zu
geben; sind doch besonders die sozial lebenden Insekten,
die Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten, all-
gemein bekannt. Zwischen den Individuen einer solchen
Tiergemeinschaft besteht ein Zusammenhalt, der sich in
der mannigfachsten Weise äußert, und zugleich sehr oft
eine Feindschaft gegen die Individuen einer anderen Art
oder sogar nur einer anderen Kolonie oder eines anderen
Staates derselben Art. Früher war man zur „Erklärung"
dieser Verhältnisse mit dem Worte „Instinkt" bei der
Hand; jedoch ist dieses Wort „Instinkt" nur ein Lücken-
büßer unserer Unwissenheit und erklärt Nichts. Der
freundschaftliche Zusammenhalt wie die Feindschaft muß
auf irgend welchen Attraktions- und Repulsivkräften
beruhen; welcher Art diese sind, wissen wir noch nicht
vollständig, jedoch ist es sicher, daß großenteils und
vielleicht sogar vorwiegend chemotaktische Erschei-
nungen, oder subjektivistisch gesprochen, Duftwahr-
nehmungen zugrunde liegen. Ich stehe nicht an, die
Überzeugung auszusprechen, daß sich Gustav Jäger hier
ein für alle Zukunft bleibendes Verdienst erworben
hat, und daß seine Entdeckung, der er durch die aller-
dings etwas sonderbare Namengebung und überdies durch
den unvermeidlichen Konflikt mit der Zimperlichkeit ge-
schadet hat, dereinst als eine der allerwichtigsten bio-
logischen Tatsachen allgemein anerkannt werden wird.
Übrigens halte ich den Ausdruck „Chemotaxis" oder
Chemotropismus für entschieden besser, als „Duftwahr-
nehmung". Denn erstens entspricht er der objektivistischen
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— 184 —
Forschungsmethode, und zweitens sind, auch nach Jäger
selbst, die fraglichen Wirkungen oft unter der Schwelle
des Bewußtseins und noch öfter unter derjenigen des
reflektierenden Bewußtseins; sodaß wir dann von un-
bewußten Wahrnehmungen zu reden hätten^ was offenbar
mißverständlich ist Jedoch sind das mehr Formalien,
und es liegt mir Nichts femer, als auf solche Äußerlich-
keiten gegenüber der originalen und genialen Entdeckung
Jägers irgendwie pochen zu wollen.
Auch unter den Säugetieren gibt es soziale und
einzeln lebende Arten; viele Pflanzenfresser gehören zu
den erster en, wohl die meisten Raubtiere zu den letz-
teren, obwohl hier die in Eudeln jagenden |Caniden eine
teilweise Ausnahme bilden. Daß die einzeln lebenden
Tiere nicht sozial leben, ließe sich einfach dadurch er-
klären, daß zwischen den Individuen keine Attraktions-
kräfte bestehen; vielleicht aber auch durch das Vorhanden-
sein positiver Repulsivkräfte, d. h. einer negativen
Chemotaxis. Die Feindschaft zwischen Individuen ver-
schiedener Ameisennester läßt sich wohl kaum anders
deuten, als durch die letztere Annahme. Alle diese An-
ziehungs- und Abstoßungskräfte, oder subjektivistisch ge-
redet, die Liebe und der Haß, das einander Suchen oder
vor einander Fliehen beruht, um es noch einmal zu
sagen, in vielen Fällen sicher auf chemotaktischen Er-
scheinungen. Aber es muß hinzugefugt werden, daß
möglicherweise noch andere Faktoren, und vielleicht so-
gar unbekannte Formen der Energie hinzukommen.
Nun ist es klar, daß zwischen den Individuen
einer jeden sozial lebenden Spezies physiolo-
gische Attraktionskräfte bestehen müssen, die
vom sexuellen Unterschiede unabhängig sind.
Auch die einzeln lebenden Tiere, soweit sie über-
haupt zweigeschlechtlich sind, bilden ja in sehr vielen
Fällen wenigstens „Familien", indem das Gattenpaar
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— 185 —
auch nach dem ZeugUDgsakte zusammen bleibt, und in-
dem eines der £ltern^ meist die Mutter^ mitunter aber
auch der Vater, die Brutpflege übernimmt Diese beiden
Arten der Liebe oder der Anziehung, die zwischen den
Geschlechtem und die zwischen Eltern und Kind, führen
noch nicht zur Sozialität: wir finden sie auch bei
den großen, einsam schweifenden Baubbestien, wie etwa
denen vom Genus Felis. Der Familiensinn ist somit
eine der allerprimitivsten Regungen, welche der Mensch
mit allerhand Getier der verschiedensten Ordnungen,
darunter mit dem höchst unsozialen Raubzeug teilt.
Zu jenen beiden Arten der Liebe kommt aber bei
den sozialen Spezies eine dritte hinzu, die sich dadurch
von den beiden anderen unterscheidet, daß sie mit der
Fortpflanzung und Brutpflege Nichts, um so mehr aber
mit der Sozialität zu tun hat, indem die letztere ganz
und gar auf ihr beruht Wenn man einen Augenblick
aus einem beliebigen Tierstaat oder einer beliebigen Tier-
herde diese dritte Art der Liebe, welche auch zwischen
erwachsenen Geschlechtsgleichen wirksam ist, entfernen
könnte, so wurde der Tierstaat in lauter Familien zer-
stieben. Ferner ist es sicher, .daß diese Liebe zwischen
Individuen desselben Geschlechts eine, wie man früher
sagte, instinktive, d. h. eine „fleischliche", „sinnliche"
oder physiologische, wenn auch deswegen nicht eben
eine sexuelle ist. Es ist möglich, aber sehr problema-
tisch, bei den höheren sozial lebenden Tieren auch so
etwas wie eine seelische Liebe oder Freundschaft voraus-
zusetzen; es ist damit aber wenig gesagt, und bei den
niederen Tieren wird schwerlich jemand, am wenigsten
ein naturwissenschaftlich Gebildeter, sich mit solchen
Vorstellungen auch nur vorübergehend abgeben.
So hoch auch der Mensch über den anderen Tieren
stehen mag, so wenig bedeutet das doch, daß ihm irgend
eine der animalen Grundlagen abgehe. Der Mensch ist
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— 186 —
vielmehr unzweifelhaft ein Tier, und zwar ein Säugetier,
sogar ganz speziellst ein Mitglied der sogenannten Pri-
matengruppe. Er ist ein Säugetier in jeder Beziehung
und ohne den geringsten Abzug; wohl aber mit Hinzu-
fügung der spezifisch-menschlichen Eigenschaften körper-
licher und insbesondere psychischer und intellektueller Art.
Nun ist eines der allerwichtigsten Merkmale des
Menschen gerade seine Sozialität; ohne diese würde es
keine Kultur geben. Denn erst durch den engen An-
schluß zahlreicher Individuen wird die höhere Produktiv-
krafb, die Beherrschung der Natur und die Steigerung
<ler geistigen Kräfte möglich. Es kann gar keinem
Zweifel unterliegen, daß die Grundlage der menschlichen
Sozialität, unbeschadet aller psychischen und intellek-
tuellen Bestandteile, wesensgleich ist mit dem „sozialen
Instinkt" der anderen sozialen Tiere, und daß sie, wie
dieser, auf einer solchen BeschaflFenheit der physiologi-
schen Reizbarkeiten beruht, daß die sympathischen An-
ziehungen mit derjenigen zwischen den beiden Geschlech-
tem und derjenigen zwischen Eltern und Kind nicht
erschöpft sind, sondern daß eben hier jene dritte, die
„instinktive^ d. h. trotz aller Verfeinerung auch in der
animalen Natur wurzelnde Liebe zwischen Individuen des
gleichen Geschlechts hinzukommt. J. J. Rousseau irrt,
wenn er im „Contrat Social" sagt, daß die Familie die
einzige „natürliche" Gesellschaft sei. Das ist für den
Menschen ebenso unrichtig, wie etwa für die Bienen. Die
Soziabilität des Menschen ist eine „natürliche" Eigen-
schaft und beruht, ebenso wie die Sozialität anderer
sozialer Lebewesen, auf einem Instinkt, oder, moderner
geredet, auf einer physiologischen Grundlage. Es hat
seine Richtigkeit mit dem ^coov noXinxov des Aristoteles.
Eine besondere, wahrscheinlich spezifisch -menschliche
Eigenart ist hier nur die besonders ausgeprägte Indi-
vidualisierung, die in ähnlicher Weise auch in der
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— 187 —
Liebe Z¥ri8chen GeschlechtsuDgleichen vorkommt und bei
den höheren Naturen die Regel ist. So gewiß nun aber
jedes noch so vergeistigte Liebesverhältnis zwischen Ge-
schlechtsungleichen, wenn anders es ein echtes Liebes-
verhältnis ist, mit seinen Wurzeln bis in die eigentliche
sexuelle Liebe hinabreicht, so sicher entspringt jede echte,
naturentsprossene Freundschaft aus den physiologischen
Tiefen eben jenes sozialen Triebes. Die gleichgeschlecht-
liche Liebe, wie wir sie verstehen, ist daher geradezu
identisch mit dem sozialen Instinkt selbst oder doch nur
eine individuelle Ausprägung derselben allgemein mensch-
lichen physiologischen Reizbarkeit, welche die Grundlage
der menschlichen Sozialität und somit der Kultur und
auch der Moral ist; denn ohne Vergesellschaftung ver-
liert die Moral Zweck und Sinn.
Die Sozialität der niederen Tiere ist überhaupt gar
nicht anders zu verstehen, und was den Menschen an-
betrifft, so gilt hier wieder der Satz, daß er in keiner
Richtung weniger, wohl aber in einigen mehr als ein
Tier ist Dieses Mehr liegt auf dem Gebiete der schärferen
Individualisierung und vor allem auf dem des Geistigen. Die
echte, warme, und nicht nur kalt^abstrakte Anteilnahme
an dem Geschick nicht nur der Gattin und der eigenen
Kinder, sondern auch an dem der Freunde, der Be-
kannten, ja beliebiger Menschen; die erhabenen Leiden-
schaften des wahren Patriotismus und der allumfassenden
Menschenliebe haben ihre natürlichen Wurzeln in dem-
selben physiologischen Untergrund, wie die „instinktive",
d. h. physiologisch begründete Liebe zu einem bestimmten
Individuum und zwar wie deren gleichgeschlechtliche
Variante; denn die andere Liebe beherrscht ja auch
die nicht sozialen Wesen.
Dieses Ergebnis vergleichend physiologischen und
vergleichend biologischen Denkens haben Manche ge-
ahnt, aber es hat es meines Wissens bisher Niemand
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— 188 —
scharf und klar ausgesprochen; wahrscheinlich des-
wegen, weil hierzu der selten verwirklichte Zufall des
Zusammentreffens einer modern biologischen Schulung
mit soziologischer Bildung und yor allem auch mit einer
unabhängigen Denkart erfüllt werden mußte.
So sagt schon Piaton: . . . „und dafür ist ein starker
Beweis", daß solche Jünglinge — (nämlich solche, die
sich gern mit Männern umschlingen) — nachdem sie
ganz ausgebildet sind, besonders „für die Angelegen-
heiten des Staates gedeihen''. — Daß die gleich-
geschlechtliche Liebe, oder wie wir lieber sagen, die
physiologische Freundschaft, ein besonderer, an-
geborener, spezifisch -menschlicher Affekt sui generis i^t,
wird auch sehr schön ausgedrückt im Gastmahl, in der
berühmten Stelle in der Rede des Pausanias: „Wie sollten
aber nicht der Göttinnen (Aphrodite) zweie sein? Die
eine ist ja die ältere, die mutterlose Tochter des üranos,
welcher wir auch den Beinamen der himmlischen geben,
und dann die jüngere, des Zeus und der Dione Tochter,
welche wir auch die gemeine nennen. Notwendig wird
also auch der eine Eros, der Gehilfe der letzteren, mit
Recht der gemeine genannt, der andere der himmlische."
Jetzt verstehen wir auch, warum gerade unter den
großen Künstlern, Dichtern und Staatsmännern,
bei denen ein großer, umfassender, menschlicher, über
die egoistischen und bloßen Familieninteressen hin aus-
reichender Affekt vorausgesetzt werden muß, der Pro-
zentsatz entschieden „Homosexueller'^ besonders groß ist.
Hierhin gehört auch Schopenhauers Ansicht, daß
amor und Caritas dieselbe Wurzel haben. Eine in-
stinktive, echte Caritas ist nämlich ohne die animale,
physiologische Grundlage nicht denkbar. Und daß in
der Gegenwart daran jemand Anstoß nehmen kann, das
liegt nur an dem unseligen historischen Umstände, daß
wir geneigt sind, alles Körperliche mit scheelen Augen
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— 189 —
aDzusehen und als etwas Unreines und Unwürdiges zu
betrachten^ was eine unmittelbare Folge des asketischen
Geistes und der zugehörigen Jenseitigkeit des Mittel-
alters ist. Dadurch, daß man die physiologische Natur
des Menschen in Acht tat, in dem Wahn, durch Preis-
gabe der Grundlage für den Oberbau des Geistigen
mehr Eaum zu gewinnen, ist man, wie die Kultur-
geschichte beweist, umgekehrt auch gerade im Geistigen
einer Barbarei verfallen, welche dem Altertum fremd ge-
wesen ist, und die erst nach Erschütterung eben jenes
unheilvollen Grundwahns, d. h. seit der Renaissance, teil-
weise rückgängig gemacht werden konnte.
Selbst Dühring, der in neuerer Zeit so blind gegen
die Venus Urania wütet, daß er sich sogar in den voll-
kommensten Widerspruch zu seiner früheren, soliden
Strafrechtstheorie gesetzt hat, ist der Wahrheit ein-
oder zweimal recht nahe gekommen. Er sagt in seinem
Kursus der Philosophie vom Jahre 1 875, auf Seite 247—248 :
„Obwohl uns die Liebe hier zunächst in ihrer Bedeutung
flir das schöpferische Ebenmaß der Erzeugungen ent-
gegengetreten ist, so hat sie doch ihren Wert in sich
selbst und ist keineswegs darauf angelegt, vorzugsweise
eine Rolle als Mittel für einen außer ihr liegenden Zweck
zu spielen. In der natürlichen Liebe ist der einzelne
Gegenstand, auf den sich diese Art der Gemütsbewegung
richtet, das Band, durch welches auch der geistige Zu-
sammenhang mit der Gattung geknüpft, und durch welches
die Vereinzelung des Wollens aufgehoben wird. Die Ge-
schlechtsliebe und die sich daran knüpfende Liebe zu
dem Erzeugnis ist der Grundtypus für alle AiFektionen
aufrichtigen und sympathischen Wohlwollens. In den
Elementen der menschlichen Natur findet sich nichts,
was eher zu einer echten Menschenliebe führen könnte,
als diejenige Gesinnungsrichtung, welche sich uQter dem
Eindruck des höheren Naturantriebs entwickelt und nicht
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— 190 —
.bloß für den Entstehungsfall, sondern auch in den all-
gemeinen Übertragungen des Wohlwollens ihre Wirkung
übt. Wenigstens läßt sich die Tatsache der enthusiastischen
Menschenliebe y die doch nie ganz weggeleugnet werden
kann, nicht anders erklären, als aus einer Gemütsrichtung,
in welcher sich das, was sonst Geschlechtsliebe sein würde,
in einer unbestimmteren Gestalt als Liebe zum Menschen-
geschlecht kundgibt Auch darf diese Annäherung von
zwei verwandten Affekten nicht überraschen, da ja in
beiden Fällen die Gattung als solche und ein geistiges
Hinausstreben über die Vereinzelung des Daseins in
Frage kommt".
Diese Erwägung ist ausgezeichnet; wenn man aber
dabei ausschließlich an die Liebe zum Weibe denkt, so
wird sie teilweise geradezu unrichtig, während sie ent-
schieden verbessert wird, wenn man sogar ausdrücklich
die Venus Urania, also die Fähigkeit zur wahren, natur-
entsprossenen, physiologischen Freundschaft auch mit
Geschlechtsgleichen als dasjenige „Element in der
menschlichen Natur^' ansieht, welches am ehesten zu
einer „echten Menschenliebe führen könnte". Denn
wenn wirklich der Trieb und die Fähigkeit zum Lieben
ganz einseitig auf die Richtung zum minderen Geschlechte
beschränkt wäre, so würde doch dabei höchstens eine
allgemeine Weib er liebe, aber nimmermehr eine echte,
allumfassende Menschenliebe herauskommen können.
Daß die GeschlechtsUebe im Dühringschen, also hetero-
sexuell beschränkten Sinne, der Grundtypus für alle
Affektionen des auftichtigen und sympathischen Wohl-
wollens sei, ist falscL Denn selbst die Vereinigung
der Geschlechtsliebe in diesem Sinn6 mit der auch
überaus starken Mutterliebe ist ja noch immer nicht
imstande, eine Spezies zu einer sozialen zu machen :
„Affektionen des aufrichtigen und sympathischen Wohl-
wollens" oder deren äußere Merkmale wird man in
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— 191 —
der ganzen Natur, trotz des Vorhandenseins von Ge-
schlechtsliebe und Mutterliebe, also z. B. bei Tigern
und bei Geiern, bei denen Gatten- und Mutterliebe sehr
stark ausgeprägt sind, vergeblich suchen. Erst die
von uns als dritte, ebenso wichtige Hauptart der physio-
logischen Liebe erkannte und aufgestellte Art der Zu*
neigung, welche in ihren individuellen Zuspitzungen erotische
Liebe genannt wird, ist wirklich der Erweiterung zu einer
Liebe zur Spezies, also zur echten Menschenliebe fähig.
— Endlich ist noch betreffs jener Stelle hervorzuheben,,
daß jeder, der wie Dühiing erkennt, daß die Liebe „ihren
Wert in sich selbst", also abgesehen von dem Zweck
oder Erfolg der Fortpflanzung hat, sich logischer Weise
den Weg zu einer grundsätzlichen Verurteilung der
gleichgeschlechtlichen Liebe eigentlich schon hierdurch
abgeschnitten hat. — ' Auch einer Stelle im „Wert des
Lebens" ist hier zu gedenken. Auf Seite 225 — 226 der
5. Auflage dieses Werkes gibt Dühring an, daß die so-
genannte hellenische Liebe keineswegs auf das Altertum
beschränkt sei, sondern auch in der Gegenwart in den
verschiedensten Formen vorkomme. Einerseits sieht
Dühring darin freilich „fehlgreifende Tendenzen der
Natur" (gehört also hier zu der großen Klasse der für-
witzigen Besserwisser), muß dann aber sogleich zugeben,
daß diese „fehlgreifenden Tendenzen" „bei einiger Alters-
verschiedenheit in der Jugend so manches Freundschafts-
band" knüpfen, „für dessen geschlechtlich sinnlichen Cha-
rakter die Beteiligten zunächst nicht einmal ein Verständnis
zu haben brauchen." Dühring fährt dann fort: „Es geht
hierbei noch unwillkürlicher zu, als in den ersten früh-
zeitigen Regungen der normalen Jugendliebe, deren Be-
deutung und weitere Entwickelung gerade bei den un-
befangensten und unschuldigsten Naturen am spätesten
begrifien wird." Hiermit gibt Dühring zu, daß diese
Regungen vollkommen unwillkürlich, demgemäß also
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— 192 —
auch im engsten und prägnantesten Sinne des Wortes
„natürlich" sind, „daß sie so manches Freundschafts-
band knüpfen" und daß sie „sinnlicher", also physio-
logischer Natur sind. Bemängeln würde ich hier nur
den Ausdruck, demzufolge diese Sinnlichkeit ohne weiteres
mit der Geschlechtlichkeit konfundiert wird, was nicht
ganz zutreflfend ist, obwohl die Grenze allerdings einiger-
maßen fließend, und eine genauere BegrifiFsbestimmung
eigentlich erst auf Grund der Jägerschen Erwägungen
und der begrifflichen und sachlichen Zerlegung der
Sexualität in Kontrektationstrieb und Detumeszenztrieb
durch Moll ermöglicht worden ist.
Dühring fährt an jener Stelle fort: „Offenbar hat
es die Natur nicht vermeiden können, die geschlechtliche
Reizbarkeit so einzurichten, daß nur ausschließlich der
Geschlechtsunterschied eine Wirkung übe. In der Kund-
gebung des sinnlich blühenden Lebens hat sie Reize ver-
körpern müssen, die auch in der falschen Richtung eine
irreführende Anziehungskraft entwickeln" usw. Hierauf
ist zu erwidern, daß die Natur, so weit wir sie kennen,
es sehr wohl hätte so einrichten können, wenn sie gewollt
hätte; sie hat es offenbar bei den meisten, wenn nicht
bei allen nichtsozialen Tieren wirklich so eingerichtet.
Ich glaube nicht, daß Löwen, Tiger oder Geier jemals an
sogenannter Ps} chopathia sexualis in dem fraglichen Sinne
leiden oder — in der Freiheit — in homosexueller
Richtung von den Bahnen strengster Askese abweichen.
Ein soziales Wesen hingegen ohne physiologische, d.h.
sinnliche Anziehungskräfte auch zwischen Geschlechts-
gleichen hat die Natur in der Tat nicht schaffen können;
die genauere Überlegung zeigt, daß ein solches soziales
Wesen sogar — nicht einmal vorstellbar ist.
Kurz, Dühring hat die notwendige, physiologische
Basis der Soziabilität nicht veranschlagt.
Auch der Schillersche Hymnus an die Freude
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— 193 —
gehört hierher und spricht sogar für das empfängliche
Gemüt eine besonders deutliche Sprache. Man bedenke,
wie von dem Dichter die Freundesliebe, also die Liebe
zwischen Geschlechts gleichen, ausdrücklich mit der
Gattenliebe auf dieselbe Stufe gestellt wird, und wie
sich dann das Gefühl der Sympathie:
,,Seid umschlungen Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!**
zur Menschenliebe erweitert. Eine solche Erweiterung
wäre offenbar unmöglich, wenn sich das natürliche, d. h.
physiologische Sympathiegefühl des Mannes wirklich aus-
schließUch auf die weibliche Hälfte der Menschheit
richtete; denn dann könnte es doch etwa nur heißen:
„Seid umschlungen, alle Frauen!
Diesen Kuß der Weiblichkeit!"
Man fühlt deutlich, wie die Venus Urania hier ge-
radezu notwendig, und wie ein Absehen von ihr zu einer
komisch und, selbst in unsern feministischen Zeiten, zugleich
auch niedrig wirkenden Verflachung führt. Die Erweite-
rung der Einzelliebe zur echten, umfassenden Menschenliebe
wäre eben bei einer wirklich ausschließlicli auf das
andere Geschlecht gerichteten Liebe so gut wie un-
möglich, uud ebenso würde natürlich die allgemeine
Menschenliebe kein wahrer und starker Affekt, sondern
eine bloße Abstraktion oder Affektation sein, wenn
dieser Liebe das physiologisch-sinnliche, das urkräftig*
natürliche Element abginge. Sehr mit Recht bringt
endlich Schiller die Liebe in ihren verschiedenen Formen
der Gatten-, Freundes- und Menschenliebe mit der Freude
zusammen; denn die Freude gebiert die Liebe, und um-
gekehrt gibt es ohne Liebe auch keine wahre Freude.
Und die Freude ist nicht nur ein Gut, sondern, durch
die Erhöhung der Schaffenskraft, so recht ein Gut, das
Jahrbuch VI. 13
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— 194 —
fortzeugend Gutes muß gebären. Der asketische Geist
ist freilich anderer Meinung und müßte, wenn er seine
wahre Physiognomie einmal ungeschminkt und unver-
schleiert zur Schau stellen wollte, den Schillerschen
Hymnus etwa also umdichten:
„Freude, arger Teufelsköder,
Tochter aus dem Höllenpfuhl** ....
Man setzt sich leicht dem Verdachte der Über-
treibung aus, weil nämlich glücklicherweise die gegen-
wärtige Gestalt des Christentums, unter dem heilsamen
Zwange der humanistischen, der philosophischen
und besonders der naturwissenschaftlichen Auf-
klärung, jene mittelalterlichen Verkehrtheiten bis auf
wenige, halbverwischte Spuren ausgemerzt hat. Wer sich
aber über die ursprüngliche und ungemilderte Anschauung
der Vertreter des Christentums im frühen Mittelalter
unterrichten will, der muß sich herbeilassen, die Kirchen-
väter zur Hand zu nehmen, oder wenigstens die ent-
sprechenden Kapitel in Gibbons Römischer Geschichte
durchzusehen, wie besonders das 37. im 7. Buche, wo
das ältere christliche Mönchswesen dargestellt wird.
„Vergnügen und Schuld waren in der Sprache
der Mönche gleichgeltende Ausdrücke",^) heißt es
da; und femer: „Selbst der Schlaf, die letzte Zuflucht
des unglücklichen, war strenge bemessen; die leeren
Stunden deä Mönches entrollten langsam ohne Be-
schäftigung wie ohne Vergnügen, und vor dem Schlüsse
jedes Tages hatte er wiederholt den trägen Lauf der
Sonne angeklagt In diesem trostlosen Zustande verfolgte
und quälte fortwährend der Aberglaube seine bedauerns-
werten Anhänger. Die Ruhe, welche sie in dem Kloster
gesucht hatten, wurde durch zu späte Reue, weltlichen
M Von mir gesperrt.
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— 195 —
Zweifel und schuldvolle Begierden gestört^ und während
sie jeden Trieb der Natur als eine unverzeihliche Sünde
betrachteten, zitterten sie beständig am Rande des boden-
losen Flammenabgrundes. Zuweilen wurden diese un-
glücklichen Opfer von den qualvollen Kämpfen der Krank-
heit und Verzweiflung durch Tod oder Wahnsinn erlöst, und
im sechsten Jahrhundert ward zu Jerusalem ein Hospital
für einen kleinen Teil jener strengen Büßer begründet,
welche ihren Verstand verloren hatten". — Wenn man
wissen will, was das Christentum in älteren Zeiten ge-
wesen, so muß man eben etwas Geschichte treiben;
und nur dann kann man ermessen, eine wie fürchter-
liche Pest der asketische Geist ist, so lange und so fern
er ganz ernst genommen wird. Zugleich wird sich dann
aber auch das Herz mit Hoffnung füllen: Ja, es ist in
der Tat sehr viel besser geworden, und auch die christ-
lichen Eorchen der Gegenwart sind doch mit jenen Aus-
geburten ganz und gar nicht mehr zu vergleichen;
man darf daher hoffen, daß, wo die Aufklärung mit
dem allergrößten Teile des asketischen Geistes fertig
geworden ist, auch die kleinen Reste ausgeschieden werden
können. —
Ich glaube es vorauszusehen, daß in Zukunft die
physiologische Liebe — und jede echte Liebe bedarf
eines physiologischen Bestandteils — geradezu in die
drei gleichwichtigen Arten der a) Gattenliebe, b) Mutter-
liebe und c) der gleichgeschlechtlichen Liebe oder physio-
logischen Freundschaft eingeteilt werden wird, mit der
Hinzufügung, daß letztere nur bei sozial lebenden Arten
vorkommt und eben die physiologische Basis der Sozia-
bilität und hierdurch die Vorbedingung der Kultur und
der Moral selbst — (natürlich der echten, natur-
rechtlichen Moral) — bildet; weswegen sie nicht tiefer,
sondern, wie das ja auch Piatons Ansicht gewesen ist,
eine Stufe höher steht, als die beiden andern Arten,
13*
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— 196 —
welche auch bei nicht sozialen Tieren vorhanden sind.
Hierzu käme als eine vierte Art noch diejenige Liebe,
auf der die sogenannte Symphilie, das Gastverhältnis
zwischen zwei verschiedenen Arten beruht, worüber das
Nähere in der zoologischen Fachliteratur nachzulesen ist
Schon seit einiger Zeit wird nun wohl bei Manchem
ein Einwand und ein Gefühl der Unbehaglichkeit auf-
gestiegen sein. Gegen die gleichgeschlechtliche Liebe in
diesem Sinne, sogar allenfalls gegen die physiologische
Freundschaft mit bewußten sinnlichen Elementen, — wie
der ästhetischen Freude an der Jugendschönheit — hat,
so wird man behaupten, ja niemand etwas einzuwenden.
Sie ist als „Freundschaft** anerkannt, wird man sagen;
etwas anderes, hiervon ganz verschiedenes, liegt aber,
so wird man entrüstet hinzufügen, in dem Augenblick vor,
wo diese Liebe — horribile dictu — einen „geschlecht-
lichen" Charakter annimmt.
Hierauf ist zunächst und beiläufig zu bemerken, daß
gegenwärtig eigentlich die Vorstellung irgend welcher
Sinnlichkeit in der Freundschaft, und nicht nur die
„Geschlechtlichkeit'* verpönt ist; sucht man ja sogar das
sinnliche Element der Freundschaft geradezu wegzu-
lügen, sodaß Dühring mit seiner Anerkennung desselben
bereits als rühmliche Ausnahme dasteht!
Auf den Einwand selbst ist aber der Hauptsache
nach Folgendes zu erwidern: 1. Nimmt die physiologische
Freundesliebe, der Eros, in der Regel eben keineswegs
einen „geschlechtlichen" Charakter an. 2. ist die Grenze
zur eigentlichen Geschlechtlichkeit allerdings von der
Natur nicht ganz so scharf gezogen worden, wie die
Prüderie wohl wünschen möchte; da eben der Natur
asketische Rücksichten gänzlich fern liegen. 3. ist eine
zweifellose Grenzüberschreitung zwar entschieden zu
mißbilligen — aus Gründen, die hier nicht ausein-
andergesetzt werden können — ; aber 4, keineswegs eine
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— 197 —
so fürchterliche Angelegenheit oder überhaupt etwas so
ganz Besonderes, wie wir infolge unserer Tradition, die
auf den asketischen Geist und den Aberglauben des
Mittelalters zurückgeht, anzunehmen pflegen. 5. endlich
gab und gibt es eine Anzahl yon Männern, bei denen
allerdings die Freundschaft sehr leicht jenen spezifisch
sexuellen Charakter im engsten Sinne des Wortes an-
nimmt: und bei einem wiederum kleinen Teile
derselben ist das in so hohem Grade der Fall,
daß dieser „konträre Geschlechtstrieb" ganz an
die Stelle desjenigen zum andern Geschlechte
tritt
Zu dem ersten Punkte ist nochmals an Jäger zu
erinnern, der auf Seite 251 des ersten Bandes seiner
,,Entdeckung der Seele'' ausführt, daß es eine auf Che-
motaxis beruhende Liebe gibt, die trotzdem eine direkte
Berührung verbietet, weil nämlich die positive Chemotaxis
bei allzu großer Nähe in negative Chemotaxis übergeht
„Ein solcher Platoniker weilt zwar gern in der Nähe
seines Freundes, aber küssen wird er ihn nicht". —
„Fleischliche Liebe dagegen'', fährt Jäger fort, ,,i8t stets
dadurch charakterisiert, daß sie möglichste Annäherung,
z. B. das Küssen, erzwingt. Die Liebe, welche Mutter
und Kind verbindet, ist fleischlich, aber keineswegs
sexuelle Liebe; denn dem Kind fehlen ja die Sexualdüfte
völlig; aber die Mutter liebt das Fleisch des Kindes,
deswegen küßt sie dasselbe oft am ganzen Leibe und
schmiegt sich innig an dasselbe und umgekehrt: das
Kind saugt am Fleisch der Mutter." —
Hiemach ist nun ohne weiteres klar, daß physio-
logisch-sinnliche Liebe durchaus nicht mit eigentlicher
Geschlechtsliebe identisch zu sein braucht, und selbst
dann nicht, wenn sie zu den intimsten körperlichen An-
näherungen führt Eine zweite Stelle aus Jäger, die
jeder aus eigener Erfahrung bestätigen wird, lautet
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— 198 —
folgeDdermaßen: ,368teht nun instinktive Fleischesliebe"
— (nach unserer Bezeichnung positive Chemotaxis) —
„zwischen GLeschlechtsreifen verschiedenen Geschlechts, so
wird sie zwar gewöhnlich zur sexuellen Liebe, d. h. man
benutzt sie zur Befriedigung des Geschlechtstriebes,
allein es ist dies, wie wir später sehen werden, durchaus
keine notwendige Konsequenz", Wenn dies, wie Jäger
sehr richtig angibt, schon zwischen Geschlechtsver-
schiedenen, deren Organe zu einander passen, keine not-
wendige Konsequenz ist, so ist es das natürlich noch
viel weniger zwischen Geschlechtsgleichen. Daher gibt
es viel öfter sogar die allerleidenschaftlichste erotische
Liebe, ohne Befriedigung des Geschlechtstriebes, als in
der heterosexuellen Liebe; die Venus Urania ist von
Natur die bei weitem keuschere von beiden, und es wird
diese Tatsache nur durch den doppelten Umstand ver-
schleiert, daß in der prüden Gegenwart die sinnlichen
Gefühle nicht eingestanden werden, weswegen sogar die
leidenschaftlichsten Liebesbündnisse, so lange sie nur
keusch bleiben, als Freundschaften figurieren; daß aber,
sobald einmal eine ünkeuschheit in dieser Richtung
vorgekommen ist, sie mit einem gewaltigen Aberglaubens-
faktor multipliziert wird und daher, nach dem irrtümlichen
Maßstabe der Menge, etwa zehntausend gynäkerastische
Exzesse an Schändlichkeit aufwiegt.
Im Übrigen gibt es innerhalb der Venus Urania alle
denkbaren Gradunterschiede und Varianten. Vom ein-
samen Monosexualen — häufig genug einem traurigen
Kunstprodukt des christlichen Askeseprinzips — der
keinen Freund braucht, der des sozialen Instinkts so gut
wie haar, überhaupt, wie Jäger angibt, eine Art Eunuch
und vor allen Dingen, da ihm eben die Liebe fehlt,
moralisch von Haus aus minderwertig ist oder dies mit
der Zeit doch wird, bis zum Platoniker, der „gern in
der Nähe des Freundes weilt", ist ein enormer Schritt;
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— 199- —
Ton da geht die Reihenfolge zu demjenigen, der seine
Freunde gern umarmt und küßt, oder dem Liebhaber,
der gern in einem dem Wortsinn entsprechenden Gym-
nasium mit ihnen ringen würde, aber dennoch sich des
eigentlich Sexuellen ohne Zwang enthält, bis zu den-
jenigen, welche auch zu dem Letzteren Neigung verspüren.
Diese kann natürlich alle erdenklichen Grade der Heftig-
keit haben, welcher dann wiederum, je nach Charakter,
Umständen und Lebensgewohnheiten, die verschiedensten
Grade des Widerstandes entgegengesetzt werden mögen.
Sehr mit Recht hat Moll den Sexualtrieb in den Kon-
trektations- und den Detumeszenztrieb zerspalten; es ist
ersterer, welcher objektiv die Annäherung bewirkt und
subjektiv als Liebe empfunden wird; es ist letzterer, der
für gewöhnlich eigentlich Geschlechtstrieb heißt. Nun
ist eine Trennung beider sehr wohl möglich und in der
Natur nicht selten. Der dauernd oder gelegentlich Mono-
sexuale befriedigt den Detumeszenztrieb ohne Rücksicht
auf den Kontrektationstrieb oder in völliger Abwesenheit
desselben; und jeder, der in seinem Leben in der einen
oder in der anderen Richtung geliebt hat, weiß, daß der
Kontrektationstrieb, also die Neigung zu körperlichen
Annäherungen, lange Zeit in erheblichem Grade bestehen
kann, ohne daß sich der Detumeszenztrieb regte oder gar
befriedigt würde.
Dem Kontrektationstrieb, welcher ja nur eine An-
näherung, und zwar eine Annäherung in verschiedenen
Graden hervorruft, ist nun bei den sozialen Arten eine
doppelte Aufgabe zugefallen: erstens nämlich die Ver-
einigung der Geschlechter einzuleiten, und zweitens einen
physiologischen Kitt auch zwischen den Geschlechts-
gleichen zu bilden. Hierbei hat es die Natur, um mit
Dühring zu reden, allerdings vielleicht nicht vermeiden
können, oder aber vielleicht auch nicht vermeiden
wollen — da der Natur jeder asketische Aberglaube
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— 200 —
und selbst unsere bemessene, aus moralpbilosophischen
Überlegungen abgeleitete Mißbilligang der Päderastie
völlig fern liegt — daß der Kontrektationstrieb in den
Fällen, in denen er sich einmal in stärkerem Orade aui
ein Individuum des gleichen Geschlechts richtet, auch
den Detumeszenztrieb wachruft. Das ist um so begreif-
licher, als in dem normalen Verlaufe der eigentlichen,
heterosexuellen Geschlechtsliebe die Glieder der Reflex-
kette eben auch in dieser Weise an einander hängen.
Deswegen ist die Grenze zwischen Liebe und Sexualität
oftmals schwankend. Eine solche GrenztLberschreituDg
von der bloßen sinnlichen Liebe zur eigentlichen Ge-
schlechtlichkeit wird von den Meisten als eine Abnormität
empfunden; sie würden selbst, sogar im Falle einer echten,
physiologischen Freundschaft und bei Abwesenheit aller
und jeder abergläubischer, ja auch bloß moralischer An-
triebe, hierzu denn doch keine Neigung verspüren und,
wenn jemals eine solche Entgleisung stattgefunden hätte,
dies nachträglich als eine solche empfinden und in Zu-
kunft eher vermeiden. Daß uns aber eine solche ge-
legentliche, gewohnheitsmäßige oder physiologisch begrün-
dete Abnormität als eine so überaus fürchterliche
Abnormität erscheint, das ist, wie sich historisch nach-
weisen läßt, nur der Nachhall des allgemeinen und
einer Anzahl von Spezialaberglauben der mittelalterlichen
Nacht.
Was ist denn schließlich der vielberufene homo-
sexuelle Verkehr in allen seinen Varianten? Zwei Men-
schen, die einander gern haben, bereiten einander eine
angenehme Empfindung! Liegt das nicht so recht von
Natur wegen ziemlich nahe, so lange die angeborenen
Instinkte und Triebe nicht entweder vom asketischen
Aberglauben angekränkelt, oder aber, nach Maßgabe
unserer Gründe für die wirkliche Mißliebigkeit des
homosexuellen Verkehrs, gezügelt und modifiziert
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— 201 —
sind? Deswegen ist es auch nichts weniger als über-
raschend, sondern vielmehr selbstverständlich^ daß gerade
bei Naturvölkern dasjenige in Blüte steht^ was die Priester
des Mittelalters^ aus Motiven raffinierter Herrschsucht, als
das Verbrechen wider die Natur gebrandmarkt haben. —
Man hat sich in neuester Zeit auch bei Tieren nach
etwas umgesehen, das der erotischen Liebe des Menschen
ähnlich sieht, worüber man in dieser Zeitschrift im
II. Bande den Aufsatz von Harsch nachlesen mag.
Meines Erachtens hat hier Earsch aber insofern einen
Fehler begangen, als er den Kreis seiner Feststellungen
zu eng gezogen und sich auf solche extreme Fälle be-
schränkt hat, bei denen es tatsächlich zu „Päderastie'^
oder zu „Tribadie", d. h. zu einer sexuellen Vereinigung
zwischen Geschlechtsgleichen gekommen ist. Freilich ist
durch den gelungenen Nachweis einer stattlichen Anzahl
solcher Fälle, a plus forte raison, anzunehmen, daß die
Venus Urania auch bei Tieren, und zumal bei mehr oder
minder sozialen Tieren, nicht die Ausnahme, sondern die
Regel ist. Denn nach unserer Definition ist das wahre
Analogen zur Venus Urania die Neigung zu innigen Be-
rührungen, ja zur Annäherung zwischen Geschlechts-
gleichen überhaupt; und die Frage, ob es hierbei zu
eigentlich sexuellen Akten kommt oder nicht, ist in der
Tat eine akzidentelle Nebensache. Wir können doch un-
möglich die Tiere mit den Augen eines Reichsgerichtsrats
unter Zugrundelegung des § 175, mit den Augen eines
mittelalterlichen Asketen oder auch nur eines Moralisten
ansefien; sobald wir das aber nicht tun, verliert auch
die Frage, ob es dabei zu eigentlich sexuellen — fast
möchte man sagen „strafbaren" — Akten gekommen,
wenn nicht alle, so doch die hauptsächlichste Bedeutung.
Nach unserer Auffassung liegt ein Analogen zur homo-
sexuellen Liebe des Menschen überall da vor, wo es zu
Anschmiegungen, zu Liebkosungen und anderen Beweisen
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— 202 —
physiologischer Liebe kommt, — ohne Rücksicht auf die
verhältoismäßig gleichgültige Frage, ob auch eine Be-
rührung und Beizung der Seioialorgane stattgefunden hat.
Eine genauere Prüfung muß sogar ergeben, daß bei jeder
sozialen Art eine der menschlichen Venus Urania ana-
loge Anziehungskraft auch zwischen Geschlechtsgleichen
besteht, und eine solche Untersuchung würde wahrschein-
lich auch zu dem weiteren Ergebnis führen, daß kein
Individuum einer sozialen Art die physiologische Ab-
lösung von seinem Artstamme, also die Einsamkeit, ohne
Schaden erträgt.
Der große Fehler, den wir bei der Beurteilung
menschlich-soziologischer Beziehungen zu begehen pflegen,
besteht darin, daß wir alles aus reingeistigen und psy-
chisch-immateriellen Ursachen zu erklären suchen. Dieser
Fehler rührt daher, daß uns die materiellen Ursachen
oftmals nicht recht zum Bewußtsein kommen, und daß
sie uns ferner, soweit dies doch der Fall ist, aus den
schon angeführten Gründen anstößig erscheinen. Am
sichersten erkennt und vermeidet man diesen Trug, wenn
man sich immer von neuem ins Gedächtnis ruft, daß der
Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen
Tieren nicht darin besteht, daß dem Menschen das Ani-
male in irgend einer Beziehung fehlt, sondern daß zu
dem Animalen noch etwas spezifisch Geistiges hinzu-
kommt, welches den Tieren entweder abgeht oder, was
wahrscheinlicher ist, bei ihnen nur weniger entwickelt ist.
Sobald man diesen wirklich wissenschaftlichen, ver-
gleichend physiologischen Standpunkt gewonnen ' hat,
wird man beispielsweise auch nicht einen Augenblick
daran zweifeln, daß die Freundschaft eine physiolo-
gische, also sinnliche Basis hat; denn etwas der Freund-
schaft vollkommen Analoges kommt bekanntlich bei vielen
Tieren vor und hat daselbst doch sicherlich einen phy-
siologischen Grund; also wird sich die Sache beim Men-
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— 203 —
sehen ebenso verhalten, nur kommt bei ihm zu dem
Physischen noch etwas Greistiges hinzu. Die allgemeine,
sehr begreifliche Tendenz geht dahin, das letztere zu
überschätzen und das erstere zu unterschätzen, wo nicht
gar zu verkennen. Damit soll übrigens nicht behauptet
sein, daß es rein oder fast rein geistige Freundschaften
nicht gebe; nur werden solche niemals wirklich intim
und herzlich geraten, sondern mehr abstrakt und kalt
bleiben.
Der Unterschied der hier vertretenen Anschauung
von der ülrichsschen, welcher die Mediziner gefolgt sind,
besteht darin, daß ich die gleichgeschlechtliche Liebe
nicht durch die Annahme einer Beimischung von Cha-
rakteren des anderen G-eschlechts erkläre und nicht mit
der zwittrigen Anlage des menschlichen Embryos, son-
dem mit der Tatsache zusammenbringe, daß der Mensch
ein soziales Lebewesen ist, und daß bei allen sozialen
Tieren eine physiologische Anziehungskraft, d. h. sub-
jektivistisch gesprochen, physiologische, also sinnliche
Liebe auch zwischen Individuen desselben Geschlechts
vorhanden sein muß. Freilich ist es nicht notwendig,
daß diese sinnliche Liebe speziell sexueller Art sei;
das ist sie in der Begel auch nicht; jedoch ist der
Übergang von der bloßen Sinnlichkeit zur Geschlecht-
lichkeit leicht vollzogen und ist auch gar kein so
wichtiger und besonderer Schritt, wie dies auf Grund
des aketischen Wahns erscheint. — Ich sollte meinen,
daß die hier entwickelte Theorie die große Wahrschein-
lichkeit auf ihrer Seite hat; denn die physiologische
Anziehung zwischen den Individuen auch desselben Ge-
schlechts ist bei allen sozial lebenden Arten eine offen-
bare Notwendigkeit, und der Übergang von der An-
ziehung zur eigentlichen Sexualität ein vielleicht von
der Natur sozusagen unbeabsichtigtes, minder wichtiges,
übrigens aber ziemlich naheliegendes, und, wenn nicht
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— 204 —
mit den Augen des Asketen betrachtet, auch ziemlich
harmloses Nebenergebnis.
Dennoch läßt sich eine Brücke von unserer Auf-
fassung zur Zwischenstufentheorie schlagen, und dies
wird durch die höchst merkwürdige Tatsache ermöglicht,
daß die Natur gerade bei einer Anzahl exquisit sozialer
Arten mitunter wirklich eine Art dritten Geschlechts ge-
schaffen hat, d. h. Individuen, welche normalerweise^)
nicht zur Fortpflanzung gelangen, sondern die vermöge
eines besonders hoch entwickelten sozialen Instinkts (d. h.
besonderer Reizbarkeiten) der Kolonie, dem Stocke oder
Staate nützen, indem sie sozusagen asexuelle, aber im
höchsten Grade soziale Organe der Kollektivität sind.
Solche Formen finden sich bei manchen Insekten, wie
den Bienen, den Ameisen und den Termiten, dann aber
auch bei den durch förmliches Zusammenwachsen zu
einer höheren, auch körperlichen Einheit verschmolzenen
Siphonophoren. Ein wirkliches „drittes Geschlecht"
finden wir sonst nirgends in der Natur und ebenso-
wenig regelmäßig, d. h. anders denn als seltene Miß-
bildungen vorkommende Zwischenstufen zwischen Männ-
chen und Weibchen. Auch die Arbeiter der Bienen
sind keine solchen Zwischenstufen zwischen den Ge-
schlechtem, sondern entschiedene, wenn auch sexuell
*) Der Vergleich des Menschen mit den Bienen und anderen
sozialen Tieren ist sehr alt; er findet sich in Aristoteles (Aristo-
telis Politicorum Libri Octo, cum vetusta Transla-
tione Guilelmi de Moerbeka rec. Fr. Susemihl, Lipsiae,
Tb. MDCCCLXXII) S. 7—8. Des großen Interesses wegen lasse
ich die Stelle aus dem I. Buche im Urtext folgen:
„Jtort ÖB TioXiTutbv ^f}ov 6 äv&Qtanog naa/jg ^ellttrjg xai nav*
Toc nyelaiov ^fJov fiaklov, d^kof." — Und vorher: „. . . xai ou 6
(xp&Qonog (pvaei nohrucbv ^(oov eVrt, . . .**
,)£8 ist klar, daß der Mensch ein in höherem Grade soziales
Tier ist, als jede Biene und jedes Herdentier." — Und vorher:
„. . . daß der Mensch ein von Natur soziales Tier ist . . .**
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— 205 —
nicht voll entwickelte Weibchen. Wenn schon die
embryonale Anlage der Eeimdriisen bei allen Säuge-
tieren, um von anderen abzusehen, allerdings zwittrig
ist^ so ist der Entwickelungsmechanismus eben in
der Art eingerichtet, daß, mit Ausnahme einer ganz
verschwindend geringen Anzahl von Fällen, die Ekit-
wickelung der einen Drüse die der anderen unterdrückt.
Im Entwickelungsverlauf gibt es demnach sozusagen
eine Weggabelung in zwei, aber nicht in drei sexuelle
Entwickelungsmöglichkeiten. Auch ist festgestellt, daß
die sekundären Sexualcharaktere demselben Gesetz ge-
horchen; die Entwickelung der primären Keimdrüse för-
dert die Ausbildung der sekundären Charaktere des ent-
sprechenden Geschlechts und unterdrückt gleichzeitig die
des anderen. Sogar nach vollzogener gänzlicher Aus-
bildang kann unter Umständen, nach Fortfall der pri-
mären Funktion, der sekundäre Sexualcharakter des andern
Geschlechts auftreten; wie, um nur ein kleines, aber
jedermann geläufiges Beispiel zu erwähnen, die Weiber
nach Erlöschen ihrer Sexaalfunktion oft einen entschie-
denen Anflug von Bart bekommen; nicht weil sie auf
dem Wege sind, Männer zu werden, sondern weil sie
aufgehört haben, Weiber im engsten physiologischen
Sinne zu sein, und vielmehr etwas sozusagen sexuell In-
differentes sind. Aus demselben Grunde bekommen alte,
nicht mehr legende Weibchen mancher Vögel gelegent-
lich ein zum Teil männliches Gefieder. Es sind das die
hahnenfedrigen Hennen.^)
Wenn eine größere Anzahl der Homosexuellen in
der Tat eine Reihe spezifisch weiblicher Merkmale
aufweist, so würde dies nicht auf einer wirklichen
*j Eine vorzügliche kritische Zusammenstellung der hierhin
gehörigen Tatsachen findet man bei Gurt Herbst, Formative
Reize in der tierischen Ontogenese, Leipzig 1901, Georgi.
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— 206 —
Beimischung positiv weiblicher Elemente zu beruhen
brauchen, sondern könnte möglicherweise nur auf eine
geringere Entwickelung der männlichen Sexualität zu-
rückzuführen sein. Hand in Hand damit würde der
Komplex der Reizbarkeiten, welcher bei der Mehrzahl so
geordnet ist, daß er zur Fortpflanzung führt, in der
Richtung abweichen, daß der soziale, d. h. gleich-
geschlechtliche Liebestrieb in verschiedenen Graden den
eigentlich geschlechtlichen überwiegt Daß hierbei den-
noch hin und wieder spezifische Sexualakte, also die
Entladung von Geschlechtsprodukten und die Befriedigung
des Detumeszenztriebes, und zwar zwischen Individuen
des gleichen Geschlechts, vorkommt, stört zwar die Ana-
logie zum dritten Geschlecht, wie wir es bei Insekten
kennen; jedoch ist bei der Mannigfaltigkeit der lebenden
Natur eine völlige Gleichmäßigkeit von vornherein nicht
zu erwarten.
Es ist jedenfalls eine sehr bemerkenswerte Tatsache,
daß eine Art wirklichen dritten Geschlechts — mitunter
sogar in noch weitergehender Dififerenzierung in mehrere
„Kasten" — gerade bei den Arten und nur bei den
Arten vorkommt, bei welchen der „soziale Instinkt"
(wie man früher sagte) besonders hoch entwickelt ist und
zur Bildung von Tierstaaten geführt hat. Es liegt
hier eine Art von Arbeitsteilung zwischen den Erforder-
nissen der Fortpflanzung und den neu hinzukommenden
Erfordernissen der Sozialität vor, deren Vereinigung in
denselben Individuen zu viel gewesen wäre. Eine physio-
logische „homosexuelle Liebe" ist, wie nachgewiesen, für
jede soziale Art notwendig; die am meisten sozialen,
wie die Termiten, die Ameisen, die Bienen und
einige Wespen, besitzen aber außerdem in der Tat ein
wirkliches „drittes Geschlecht".
Übrigens ist, wenigstens bei den Bienen, oben-
drein eine höchst entwickelte homosexuell-chemo-
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— 207 —
taktische Anziehung zwischen dem vollentwickelten,
der Fortpflanzung dienenden Weibchen, der sogenannten
„Königin'^ und den sexuell verkümmerten Weibchen,
den Arbeitern, bekannt; die letzteren folgen, zweifel-
los auf Grund chemotaktischer Reizbarkeiten, beim Aus-
ziehen eines jeden neuen Schwarms der Königin und
lassen sich dort in der bekannten Traubenform nieder,
wo sich die Königin gesetzt hat, welche fßr alle übrigen
eine Art von Attraktionsmittelpunkt abgibt; ja, wo sich
die Königin auch nur vorübergehend niedergelassen hat,
bildet sich ein kleiner Klumpen von Arbeitsbienen, die
oiFenbar durch die von der Königin zurückgelassenen
chemotaktisch wirksamen Substanzen angezogen werden.
Bei der ungeheuren systematischen Kluft zwischen In-
sekten und Säugetieren wird man natürlich eine bis ins
Einzelne gehende Analogie selbst dann nicht erwarten
dürfen, wenn auch der Vergleich im übrigen zutreffend
sein sollte, was sich beim gegenwärtigen Stande der Kennt-
nis der menschlichen Sympathieverhältnisse, besonders
auch homosexueller Art, noch nicht entscheiden läßt.
Jedenfalls aber dürfte durch diese vergleichend bio-
logischen Gesichtspunkte auf das umstrittene und von
so großen Vorurteilen umlagerte Gebiet der menschlichen
homosexuellen Liebe ein neues Licht geworfen sein.^)
^) Ahnungen dieser Wahrheit finden sich gelegentlich auch
bei den Vertretern der Zwischenstufen theorie. Ob Hößli, dem
Vorgänger des Schöpfers jener Auffassung, etwas Ähnliches vor-
schwebte, als er sein Werk dem „Schutzgeist des menschlichen
Geschlechts'* widmete, mag dahingestellt bleiben. Dagegen kommt
eine Stelle in Hirschfelds „Urnischem Menschen" der von
mir vertretenen Anschauung jedenfalls nahe, wenn auch Hirsch -
feld die entscheidenden Überlegungen noch nicht mit voller
Klarheit und Schärfe ausgesprochen hat. Auf S. 155 — 156 seiner
Schrift lesen wir:
„Von den beiden Komponenten des Geschlechtstriebes, dem
Kontrektations- und Detumeszenztriebe Molls, dem Erganzungs-
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— 208 —
Jedenfalls wird jeder Kundige, welche spezielle
Theorie er auch aufstellen mag, zugeben müssen, daß
in der gleichgeschlechtUchen Liebe oder der physio-
logischen Freundschaft des Menschen, wie wir sie ver-
stehen, ein Naturtrieb vorliegt. Es ist eine Neigung,
die wir alle, mit ganz wenigen bedauernswerten Aus-
nahmen,^) wenn auch in recht verschiedenen Nuancen
und Abstufungen von der Natur empfangen haben, und
die bei einigen geradezu an die Stelle der normalen Ge-
schlechtsliebe tritt, diese gleichsam ersetzt, und in diesem
Ausnahmsfalle jenen speziäsch-sexuellen Charakter an-
und Geschlechtsbefriedigungs triebe, hat der erstere mit der Fort-
pflanzung direkt überhaupt nichts zu tun. Dabei ist er fUr den
Charakter und die Richtung des sexuellen Triebes das wesent-
lichere. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß, wenn die Fort-
pflanzung beim Menschen, wie bei so vielen Lebewesen, unge-
schlechtlich wäre, der Gefühlskomplex, der in der geschlechtlichen
Zuneigung zum Ausdruck gelangt, nicht völl'g aus der Welt
verschwände. Das, was wir im weiteren Sinne Herdentrieb, im
engeren Sinne Ergänzungstrieb (Kontrektationstrieb) nennen, würde
sicherlich auch dann noch fortbestehen. Denken wir uns den
ErgSnzungstrieb vom Geschlechtstriebe losgelöst, so wird es uns
nicht mehr so rätselhaft erscheinen, daß das Objekt dieses Er-
gänzungstriebes, der Gegenstand der Liebe, auch eine Person sein
kann, mit der ein neues Wesen zu zeugen nicht möglich ist.
Andererseits wird es uns auch verständlicher werden, daß sich
der Geschlechtsbefriedigungstrieb (Detumeszenztrieb) demjenigen
Objekt zuwendet, auf das der Kontrektationstrieb gerichtet ist.
Der Detumeszenztrieb ist, so groß seine praktische Bedeutung sein
mag, dabei doch nur untergeordnet, sekundär, und man sollte ihm
daher bei einer objektiven Beurteilung der Homosexualität nicht
die erste Rolle zuweisen, wie es vielfach geschieht." — Wie mau
bieht, erhebt sich hier Hirsch fei d entschieden über die Zwischen-
stufentheorie und nähert sich, durch die Erwähnung des Herden-
triebes, bereits eben derjenigen Anschauung, die in diesem Ab-^
schnitt von mir ausdrücklich begründet worden ist.
*J Hiermit sind diejenigen Extreme — vorwiegend wohl
Monosexuale im Sinne Jägers — gemeint, welche nicht einmal
einer Freundschaft fähig sind.
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nimmt, der ihr für gewöhnlich abgeht, und der nur auf
Grund der asketischen Forderungen von buddhistischer
Herkunft und judäisch^unduldsamer Zustutzung ein so
furchtbarer Stein des Anstoßes geworden ist —
Diesem, wie allen elementaren Naturtrieben gegen-
über, gibt es bei reflektierenden Wesen drei Verhaltungs-
mOglichkeiten: erstens den Versuch der Unterdrückung,
zweitens die gleichsam indifferente Haltung des „laisser
faire, laisser aller", und drittens den Versuch der Ver-
feinerung oder der positiven Pflege durch Sitte oder gar
durch Gesetz. Den ersteren Standpunkt hat in einigem
Umfange, soweit wir wissen, nar diejenige Kulturge-
fitaltung eingenommen, welche durch den Import eines
ftsiatischen, vorwiegend indojudäischen Religionsgemisches
in die zersetzten Fäulniszustände des römischen Welt-
reichs zustande kam und das eigentliche Mittelalter
völlig beherrschte, aber auch jetzt, trotz Renaissance,
Revolution und moderner Wissenschaft noch nicht ganz
überwanden ist.
Der zweite Standpunkt, der der Indifferenz, scheint
der am meisten verbreitete zu sein. Das ist auch
einigermaßen begreiflich. Denn selbst im Falle einer
wirklich sexuellen Zuspitzung des physiologischen Freund-
Bchaftstriebes hat Sitte und Staat doch nicht das un-
mittelbare Interesse eines ordnenden (oder auch ver-
pfuschenden) Eingreifens, wie bei der mann weiblichen
Liebe, wegen der physischen Fruchtbarkeit der letzteren.
Überall, wo kein übermäßiger Weiber- und Priester-
einfluß besteht, wird man in der Regel diese Indifferenz
gegenüber dem Eros, und selbst gegenüber seinen tadelns-
werten, sexuellen Formen eine ziemlich milde Beurteilung
vorfinden.
Zur positiven Pflege, zur sozialen Anerkennung und
teilweise sogar zar staatlichen Ordnung ist es bekanntlich
bei den Hellenen gekommen; die griechische Liebe führt
Jahrbuch VI. 14
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— 210 —
diesen ihren Namen zu Rechte nicht etwa weil sie allein
oder auch nur vorzugsweise hei den Griechen vorhanden
gewesen wäre; sondern nur deshalb, weil die Griechen
sie positiv gepflegt, verfeinert und systematisiert haben.
Aber selbst hiermit stehen sie nicht ganz allein da,
und Ansätze zu einer solchen positiven Ordnung finden
sich auch bei andern Völkern. Einige Angaben findet
der Leser in dem Aufsatze von Karsch über die „Päde-
rastie und Tribadie bei den Naturvölkern'' im IIL Jahr-
gange des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen. Aber
auch hier hat nach unserer Auffassung Karsch das
Thema entschieden zu eng gefaßt und hat der spezifisch
sexuellen Wendung eine höhere, abgrenzende Bedeutung
beigemessen, als derjenige ihr beilegen wird, der die
Sache wirklich ganz unbefangen betrachtet und die
letzten Reste des asketischen Wahns abgestreift hat;
denn hierdurch wird die spezifisch sexuelle Wendung
der physiologischen JPreundschaft zwar nicht etwas
schlechthin Gleichgültiges, wohl aber etwas relativ
recht Nebensächliches. Es würden nach unserer Auf-
fassung alle diejenigen Sitten herbeizuziehen sein,
durch welche spezielle Freundschaftsbündnisse unter
Männern, zumal unter Männern ungleichen Alters, als
solche sanktioniert werden; alle Waffenbrüder-
schaften, Blutsbrüderschaften und ähnliches gehört
hierhin; ganz unabhängig von der sekundären Frage,
ob spezifisch sexuelle Akte hierbei verboten, still-
schweigend geduldet oder etwa gleichfalls ausdrücklich
sanktioniert waren; denn die Hauptsache ist die Liebe,
objektivistisch gesprochen, der Kontrektations- oder Er-
gänzungstrieb, und nicht der „Detumeszenztrieb", da die
Liebe etwas relativ Dauerhaftes und etwas Wichtiges, die
gröbere Sinnlichkeit hingegen eine verhältnismäßig neben-
sächliche und eine gar flüchtige Sache ist. Auch diese
gewiß schon recht subtile Überlegung finden wir in
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— 211 —
Piatons Gastmahl angestellt^ in welchem überhaupt
zehnmal mehr enthalten ist, als der durchschnittliche
moderne Leser versteht.^)
Nach dieser Betrachtungsweise einer vergleichenden
Ethnologie und kritisch -vergleichenden Sittenkunde ist
es ohne weiteres klar, daß es eine f&r die ganze Kultur
hochwichtige Frage ist, was die Menschen mit diesem
ihren Naturtriebe anfangen. Leider gilt hier gar oft
der Satz:
„Ein wenig beaser wfird' er leben,
Hftttet Du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
£r nennt'e Vernunft und braacht'B allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.'*
') So heißt es in der Rede des Aristophanes im Plato-
nischen Gastmahl im Zusammenhange mit der Allegorie der
verlorenen Hälften — des schönsten Symboles des Ergfinzungs-
triebes — : „Wenn aber einmal einer seine wahre eigene Hälfte
antrifft, ein Knabenfreund oder jeder andere, dann werden sie
wunderbar entzückt zu ^undschaftlicher Einigung und Liebe,
und wollen, sozusagen, auch nicht die kleinste Zeit von einander
lassen; und die ihr ganzes Leben lang mit einander verbunden
bleiben, diese sind es, welche auch nicht einmal zu sagen wüßten,
was sie von einander wollen. Denn dies kann doch wohl nicht die
Gemeinschaft des Liebesgenusses sein, daß um deswillen jeder mit
so großem Eifer trachtete, mit dem anderen zusammen zu sein;
sondern offenbar ist, daß die Seele beider, etwas anderes wollend,
was sie aber nicht aussprechen kann, es nur andeutet und zu
raten gibt." — Es wird dann ausgeführt, daß, wenn vor ein
solches Paar Hephaistos träte, die Liebenden darum flehen
würden, an einander geschmiedet zu werden. — Es ist dies, in
modemer Ausdrucksweise, eine allegorische Einkleidung der im
Text erläuterten Wahrheit, daß für den unbefangenen Sinn —
wie es eben derjenige der Griechen war — die Liebe die Haupt-
sache und das Bischen etwaiger Wollust eine Nebensache ist. Erst
der asketische Priestertrug des Mittelalters hat aus der allerdings
immer mehr oder minder mißliebigen Nebensache eine, ja
geradezu die Hauptsache gemacht.
14*
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— 212 —
Denn ohne Vernunft hätte der Mensch wenigstens
nicht auf die Idee eines grundsätzlichen Wütens gegen
seine physiologisch e Natur verfallen können. Die Erfahrung
hat gelehrt, und es ist außerdem auch aus deduktiven
Schlüssen klar, daß der Versuch der Unterdrückung
eines mächtigen Naturtriebes niemals gelingt, wohl
aber hinreicht, ihn partiell zu schädigen und im übrigen
zu korrumpieren. Wenn es möglich wäre, daß irgend
ein Volk nicht nur alle Formen der Ehe beseitigte,
sondern auch die echte Liebe zwischen den Geschlechtern
überhaupt in jeder Form grundsätzlich verpönte, so
würde oflfenbar die — heimliche Prostitution allein übrig
bleiben. Ganz schwache Ansätze hierzu mögen sich hier
und da finden, wo für eine bestimmte Kaste Ehelosigkeit
vorgeschrieben war; im übrigen hinkt der Vergleich aller-
dings insofern, als eine solche allgemeine Verpönung
selbst von den ausschweifendsten Formen des Aber-
glaubens nicht durchgesetzt werden konnte. In Bezug
auf die homogene Liebe hat aber das Mittelalter den
analogen Fehler wirklich gemacht; und das ist der
einzige Grund, weswegen in der gleichgeschlechtlichen
Liebe, der physiologischen Freundschaft, in der Gegen-
wart prostitutive und korrupte Beziehungen relativ so
häufig sind, während die edelsten, ganz keusch bleibenden,
unter dem lauen Namen der Freundschaft verschwinden
und lange nicht die Bedeutung haben, wie ehedem.
Es ist möglich, die physiologische Freundschaft
sozial anzuerkennen und das spezifisch Sexuelle zu miß-
billigen, oder doch höchstens in den ca. 2®/^ betragenden
Fällen einer extremen Veranlagung zu entschuldigen.
Das ist der Standpunkt, den ich in meinem Werke ver-
trete, und welcher sich ungefähr mit demjenigen des
Sokrates decken dürfte. Er ist der edelste, nützlichste
und menschenwürdigste. Unmöglich hingegen ist es, die
Liebe gut zu heißen und ihre sexuelle Entgleisungs-
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— 213 —
möglichkeit als eine Sache zu betrachten, welche den
Feuertod verdiene, Pestilenz nebst Mäusen erzeuge und
das Allerschrecklichste sei, oder doch mit Gefängnis zu
„bestrafen'' sei und die soziale Stellung mit Kecht ver-
nichte. Denn dem Rande eines so fürchterlichen Ab-
grundes wird sich Niemand auch nur auf respektvolle
Entfernung nähern mögen. Sobald also eine solche Wen-
dung eingeschlagen ward,^ wie im europäischen Mittel-
alter, so mußte mit dem Übermaße der Verpönung des
Sexaellen auch die reine, d. h. die des Sexuellen sich
enthaltende Liebe der Männer unter einander, und somit
die gesellige Koalitionsfreiheit der Männer, eine Vor-
bedingung der gesellschaftlichen und politischen Frei-
heit, unfehlbar mitbetrofifen werden.
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103 BeobachtuDgen von mehr
weniger hochgradiger Entwickelung
eines Uterus beim Manne
(PseadohermaphroditismiLs mascnlinns intemns)
nebst ZusammeDStelliing der Beobachtungen von
periodischen regelmäßigen Genitalblntnngen ,
Menstraation, vii^ariierender Menstruation,
PseadomenstraatioQ, Molimina menstraalia u. s. w.
bei Scheinzwittern.
Mitgeteilt von
Dr. Franz ron Neugebaaer,
Vorstand der gynSkologiächen Abteilung des Evangelischen Hospitals in Warschau.
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„Nulla autem est alia pro certo nos-
cendi via, nisi quam plurixnas et mor-
borum et diBsectionum historias, tum
aliorum, tum proprias, collectas habere
et inter se comparare/'
Morgagni
(Desedibusetcau8ismorborum,Lib.iy,FrooemiuDi.)
Die Frage des Zwittertumes hat in letzter Zeit eia
mehr aktuelles Interesse gewonnen, namentlich angesichts
der Tatsache, daß es Herrn v. Sal^n und Professor
Garr^ gelungen ist, den mikroskopischen Nachweis
gleichzeitiger Anwesenheit von charakteristischem Ovarial-
und charakteristischem Hodengewebe in derselben Ge-
schlechtsdrüse eines Menschen zu finden. Wie bekannt,
standen bis vor kurzem die meisten Forscher nicht an,
das Vorkommen eines echten Zwittertumes beim Menschen
absolut zu leugnen, indem die früher beschriebenen Fälle
von echtem Zwittertum einer mikroskopischen Kontroll-
forschung nicht Stand gehalten hatten. Diese frühere
apodiktische Leugnung des Vorkommens echten Zwitter-
tumes beim Menschen muß jetzt aufgegeben werden und
müssen wir die Möglichkeit gleichzeitiger Existenz von
Ovarialgewebe und Hodengewebe typischer Art bei dem-
selben Individuum jetzt zugeben. Wenn v. Sal^n und
Garr6 jeder in seinem Falle eine Zwitterdrüse — Ovo-
testis — fanden, die in einem Anteile alle Anzeichen eines
Hodens, in dem anderen alle Anzeichen eines Eierstockes
trug, so ist nicht einzusehen, warum nicht auch eine Ge-
schlechtsdrüse sich als Hoden entwickeln kann, die andere
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als Eierstock. Bestehen bleibt nur der Vorbehalt,*daß
wir bis jetzt nicht einen einzigen Fall kennen, wo beiderlei
typisches Gewebe tatsächlich auch zu einer Funktion
gelangte, also einen solchen Entwickelungsgrad erreichte,
daß es funktionsfähig war. Wer weiß, wie lange es noch
dauern wird, bis wir endlich einmal absolute Klarheit in
dieser Frage gewinnen, jedenfalls rücken wir dem Ziele
näher und päher, weil wir immer mehr zuverlässige
mikroskopische Untersuchungen erlangen und so mancher
operative Eingriff uns unverhofft Material liefert, wo es
früher meist für die Wissenschaft verloren ging, weil
weder intra vitam eine Operation noch post mortem eine
Nekropsie zur Ausführung kam.
Wenn es wahr ist, daß beim Menschen die Men-
struation von einer stattfindenden Ovulation bedingt ist,
so darf man erwarten, daß ein menstruierendes Indi-
viduum Ovarien besitzt. Katharina Hohmann hatte no-
torisch periodische, von charakteristischem Symptomen-
komplex in der Art der Molimina menstrualia begleitete
Genitalblutungen, aus dem Canalis urogenitalis sich aus-
scheidend, alle drei bis vier Wochen je zwei Tage lang,
und zwar vom 20. bis zum 30. Lebensjahre mehr weniger
regelmäßig, vom 30. bis zum 42. Jahre unregelmäßiger
und seltener. Andererseits ist es absolut sicher fest-
gestellt, daß Katharina eigenes Sperma produzierte.
Hatte Katharina die Menstruation im wahren Sinne des
es, also auch Ovulation, so muß sie, darf man folgern,
• dem tastbaren Hoden, im Sero tum fissum einer-
gelegen, mindestens auch ein Ovarium und zwar
unktionierendes gehabt haben! Bernhard Schnitze
h denn auch einen von ihm im Becken linkerseits
teten, mehrere Zentimeter großen, stark druck-
indlichen Körper als Ovarium an. Es liegt auf der
[, welch unendlichen Wert es besäße, das Ergebnis
Nekropsie in einem so wichtigen Falle zu erfahren!
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Katharina Hohmann, die nachträglich als Karl Hohmann
in New- York heiratete und sogar einen Sohn gezeugt haben
soll, starb in New -York. Ob eine Nekropsie gemacht
wurde und wie das Ergebnis war, darüber ist nichts
bekannt. Sehen wir uns nun in der Kasuistik des
Zwittertumes um nach Beobachtungen, wo ein Schein-
zwitter, sei es ein hodentragender, sei es ein Schein-
zwitter unbekannten Geschlechtes, regelmäßige periodische
Oenitalblutungen hatte, so zeigt sich, daß die Zahl der-
artiger Beobachtungen eine nicht gar so geringe ist als
gemeinhin angenommen wird.
Es erwächst aus der Betrachtung dieser Fälle eine
Reihe Yon Fragen. Sind periodische Genital-
blutungen bei hodentragenden Scheinzwittern
als menstruelle Blutungen aufzufassen? Sind
periodische Blutungen aus der Nase oder dem
Mastdarm, die sich regelmäßig wiederholen, in
der Lebensperiode zwischen dem 15. und 40. Jahre,
sagen wir, als Menstruatio vicaria anzusehen?
Weisen solche Blutungen darauf hin, daß das Individuum
mindestens ein Ovarium besitzt? Stammt das per urethram
entleerte Blut aus einem Uterus oder kann es sich um
eine vikariierende Blutung aus der Blasenschleimhaut
gehandelt haben? Wie sind endlich die regelmäßigen
allmonatlich sich zwei bis drei Tage lang wiederholenden
Beschwerden in der Art des Symptomenkomplexes der
sogenannten Molimina oder Tormina menstrualia zu er-
klären?
Persönlich bin ich weit davon entfernt, diese Fragen
beantworten zu wollen; denn wir verfügen noch lange
nicht über ein genügend zahlreiches, authentisch gesichertes
Material aus der Kasuistik,^um irgend eine Schlußfolgerung
zu machen. Diese Fragen sind heikel und vorläufig noch
nicht zu beantworten. Das will aber nicht besagen, daß
sie nicht einst ihre wissenschaftliche Erledigung finden
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werden. Es gibt Forscher, welche diesen Fragen auf
die einfachste Weise aus dem Wege gehen, indem
sie erklären: „Der als Mädchen erzogene männliche
Scheinzwitter X., der sich als Hermaphrodit für Geld
sehen lässt, gibt an, mit beiden G-eschlechtem kohabitieren
zu können, Spermaejakulation zu haben und auch regel-
mäßig die Periode. Das ist Lüge! Niemand hat diese
Periode gesehen. Das Individuum hat ein Interesse
an dieser falschen Aussage, um sich den Ärzten und Be-
suchern interessanter zu machen!" Für viele Fälle ist
dies richtig. Zephte Akaira, welche notorisch gar keinen
Uterus besitzt, gab sogar an, sie habe einmal abortiert
in ihrer Ehe, trotzdem dies Individuum ein Mann ist.
Schon Virchow schenkte der Angabe dieses Abortes
keinen Glauben- mehr. Die Hebamme Märker, ein
männlicher Hypospade, gab anfangs an, sie habe früher
regelmäßig aus der Harnröhre menstruiert, später zog sie
diese Angabe zurück und gab zu, gelogen zu haben. In
einem anderen Falle zeigte sich, daß Blutungen, welche
als Menstruation eines männlichen Scheinzwitters, eines
Mönches, gegolten hatten, einfach Blutungen aus einem
Ulcus cruris waren.
Solche Fälle sind selbstverständlich auszuschließen
aus der Kasuistik und höchstens als warnendes Beispiel
anzuführen, nicht alles kritiklos zu glauben, was die be-
treffenden Personen erzählen. Abel wittert auch bei
Katharina Hohmann Betrug: Sie soll jedesmal vor der
angeblichen Periode Nasenbluten gehabt haben und sich,
wie ein Autor schreibt, mit diesem Blute die Genitalien
beschmiert haben. Hier muß diese Skepsis fallen, indem
einzelne der Untersuch er selbst mit einem Katheter das
Blut, mit Schleim gemischt, aus dem Urogenitalkanal
entleert und mikroskopisch untersucht haben, vor allem
darauf hin, ob es überhaupt menschliches Blut sei. Abel
vermutet, daß in dem von ihm beschriebenen Falle die
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periodischen Blutungen von einem Harnröhrenpolypen
stammten, der operativ entfernt wurde. Er vermutet,
auch in dem Falle Dohrns sei ein Harnröhrenpolyp
die Ursache der periodischen Blutungen gewesen, die
Molimina menstrualia will er erklärt wissen etwa durch
Beschwerden, welche ein inkompleter Descensus testiculi
hervorrief, z.B. in dem von Potier-Duplessy beschriebe-
nen Falle, oder aber die Ursache der Schmerzen soll ein
Trauma gewesen sein. Ich gebe zu, daß Skepsis in der
Beurteilung dieser Kasuistik unbedingt nötig ist, aber
sie soll nicht blind sein, sondern kritisch.
Professor Eduard Hofmann schrieb: „Das Be-
stehen menstrualer Blutungen beweist nicht so absolut
das weibliche Geschlecht des betreffenden Individuums,
als es auf den ersten Blick scheinen dürfte. Seitdem
man weiß, daß die Menstruation nicht unbedingt an die
Gegenwart von Ovarien geknüpft ist — Fortbestehen
der Menstruation nach Kastration — ist man nicht un-
bedingt berechtigt, aus dem Vorhandensein einer solchen
Erscheinung bei einem Scheinzwitter auf die Existenz
von Ovarien, noch weniger aber, auf die Nichtexistenz
von Hoden zu schließen." Will („Ein Fall von Pseudo-
hermaphroditismus masculinus^^, In.- Diss., Greifs wald,
1896) schreibt: „Die Angaben über die Regel sind oft
falsch. Die Frauen bezeichnen jede Blutung aus den
Genitalien als Regel und wissen mit geschickter Be-
rechnung immer eine vierwöchentliche Pause herauszu-
deuten." Er schreibt aber zugleich; „Auch die Men-
struation ist nicht als sicheres Zeichen für weibliches
Geschlecht anzusehen, es sind auch bei Männern regel-
mäßige Blutungen beobachtet worden, die ihre Erklärung
nach Waldeyer darin finden sollen, daß primitive Ovula
wie im Ovarium noch in späteren Zeiten im Hoden vor-
kommen und ihren Einfluß auf den Organismus ausüben;
außerdem soll nach Friedreich bei Männern mitunter
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durch eine Summation von Reizungen nnd nervösen Er-
regungen eine reflektorische Blutanwallung und eine
Hämorrhagie bedingt werden.'' Meine Aufgabe soll es
nur sein, die in der Kasuistik der Welt zerstreuten
Einzelfälle zusammenzustellen und die Aufmerksamkeit
der Fachgenossen auf die hier angeregten Fragen zu
lenken.
Ich beginne mit einer Zusammenstellung von 108
Fällen, wo eine mehr oder weniger hochgradige Ent-
wickelung eines Uterus bei hodentragenden Individuen,
also insofern sie nicht auch Ovarien besaßen, bei männ-
lichen Scheinzwittern, beobachtet wurde. Mit Absicht
habe ich nicht gesagt, „der Müllerschen Gänge", denn
ich hätte dann auch alle die Fälle mit aufnehmen müssen,
wo eine mehr oder weniger entwickelte Vagina bei einem
männlichen Hypospaden sich fand. Solcher Fälle gibt
es jedoch so außerordentlich viele, daß sie als bekannt
vorausgesetzt werden können.
Bezüglich der älteren Literatur des sogenannten
Uterus masculinus erwähne ich die Arbeiten von
E. H. Weber („über das Rudiment eines Uterus bei
männlichen Säugetieren*', 1846), R. Leuckart („Das
Web ersehe Organ und seine Metamorphosen", Illustrierte
medizinische Zeitung, 1852), Wahlgren(„Bidrag tiUGene-
rations-Organema Anatomie och Physiologie hos Menniskan
och Dagdjuren", Lund 1894), Peters-Wahlgren („Über
den Weberschen Uterus masculinus bei dem Menschen und
den Säugetieren", Müllers Archiv, 1849, Übersetzung)
und N. Rüdinger {„7jUt Anatomie der Prostata, des
Uterus masculinus und der Ductus ejaculatorii beim
Menschen, München, 1883).
Rudolf Leuckart („Das Webersche Organ und
seine Metamorphosen", Ein Beitrag zu der Lehre von
den Zwitterbildungen, Münchner Illustrierte Medizinische
Zeitung, 1852, Bd. I, S. 69) schreibt: „C. H. Weber
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hatte als Uterus masculinus ein Gebilde bezeichnet,
welches bereits Albin und Morgagni bekannt war,
dessen bedeutende Vergrößerung schon Malacarne und
Steglehner beschrieben hatten. Nach Weber soll
dieses Organ der Vagina des Weibes entsprechen, nach
Meckel und Steglehner jedoch dem Uterus, nach
Leuckart dem Uterus und der Vagina, nach neueren
Forschungen soll dieses Gebilde der Vagina samt Uterus
und Tuben entsprechen, also dem gesamten Ausführungs-
kanale für die Produkte der Ovarien!
Bezüglich der detaillierten Beschreibung, mikro-
skopischen Untersuchung für die einzelnen Fälle und
Abbildungen verweise ich auf meine beiden Arbeiten
von 1902 und 1903 in diesem Jahrbuche sowie auf die
Originalaufsätze der genannten Autoren.
1. Ackermann („Infantis androgyni historia et
ikonographia", Jena, 1805) beschrieb einen sechswöchent-
lichen männlichen Hypospaden; zwischen den kleineu
Schamlippen lag die Mündung einer Vagina, angeblich
in fundo vaginae die Ausmündung der Urethra; offenbar
handelte es sich um Hypospadiasis peniscrotalis und einen
Ganalis urogenitalis, der sich in der Tiefe in Vagina und
Urethra teilte: ,,Ductus deferentes non ad pelvis fundum
descendentes, sed potius ad altiora ascendentes inventi
sunt; hi ductus deferentes, ubi duplicatum peritonaei
processum, qui ligamento lato uteri respondet, ingredie-
bantur, vario modo convoluti componebant glomera.
Quibus glomeribus formatis ductus deferentes in uterum
cystoidem transibant, proprium ejus textum perforantes
et versus utrumque uteri latus ad inferiora reäexi usque
ad uteri sie dicti orificium progressi ostio perexiguo ter-
minabantur. Uterus cystoides dictus situm naturalem
obtinebat, tamen neque ex tela singulari tam dense con-
flatus erat quam uterus normalis, neque compactis
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parieübus organon tarn firmum t^onstituebat, quam uterus
in statu normali offert, sed potius antram extenuatum
yesiculae simile exhibebat/' Es ist in dem mir zu Ge-
bote stehenden Referate nicht gesagt, ob hier Kryptor-
chismus vorlag,
2. Ackermann (1805). Descensus incompletus
testiculorum ; breite Vasa deferentia, nach unten sich
verengernd, liegen in der Wand des Uterus; Mündungen
der Ductus ejaculatorii normal. Der Uterus enthält eine
Höhle und besitzt ein deutliches Orificium externum.
Die oben schmale, unten breite Vagina mündet in vesti-
bulo nach außen, Penis hypospadiaeus, Labia minora vor-
handen.
3. Adams (1852). Uterus von einem Zoll Länge,
im Fundus erweitert, Prostata vorhanden, Harnröhre
männlich, Scrotum nicht gespalten.
4. Aranyi (Ungarische Zeitschrift, 1855, S. 4, 15) und
später Langer (Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der
Ärzte zu Wien, I[. Jahrgang, 1855, S. 422) beschrieben
das Leichenpräparat eines Mannes von 63 Jahren, welches
eine hochgradige Entwickeluug des Uterovaginalkanales
bei einem Manne beweist.
Langer-Aranyi (1855). Der linke Hoden in Hemia
scrotali, der rechte in der Bauchhöhle. Die Vasa de-
ferentia verlaufen konvergent zu dem Isthmus uteri und
dringen in seine vordere Wand ein. Das rechte Vas
deferens mündet in die Harnröhre, das linke in den
Uterus. Keine Samenblasen gefunden. Uterus masciilinus
bicornis, die Uterusschleimhaut gut ausgebildet, drüsen-
haltig im 'Fundus, drüsenlos im unteren Abschnitte.
Die Vagina mündet in die Harnröhre, Prostata hyper-
trophisch. Die Vagina endet in der Tiefe blind, kom-
muniziert also nicht mit der Uterinhöhle. Hypospadiasis
peniscrotalis, kleine Schamlippen nicht vorhanden. Es
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liegt ein Sinus urogenitalis vor mit den isolierten Mün-
dungen der Harnröhre und der Vagina.
5. Arnaud erwähnt (1. c.^ S. 283) die Sektion eines
Mönches im Pariser Hotel Dieu aus dem Jahre 1726
durch Boudon; Hypospadiasis peniscrotalis ohne Spur
einer Vagina. Die Vasa deferentia schwanden zwischen
Blase und Mastdarm in einem G-ebilde, das Boudon für
einen Uterus ansah. Der Mönch hatte allmonatlich Blut-
entleerungen aus varikösen Geschwüren am Unterschenkel,
die fälschlich für eine vikariierende Menstruation ange-
sehen wurden. (Dieser Fall auch von Oslander er-
wähnt.)
6. Arnold („Ein Fall von Uterus masculinus, an-
geborener Striktur der Harnröhre und Harnleiter",
Virchows Archiv, 1869, Bd. XVII, S. 38) beschrieb ein
Präparat, welches er Meier und Molitor verdankte. Hy-
pospadiasis peniscrotalis, Ejryptorchismus. Nebenhoden
und Vasa deferentia vorhanden, letztere, ohne Luinen,
verliefen sich blind endend in der Tiefe des Beckens.
Uterus vorhanden und Vagina, weder Prostata noch Samen-
blasen gefunden bei diesem siebenmonatlichen Fötus.
Arnold hatte im Ganzen 26 Fälle von Uterus mas-
culinus tabellarisch zusammengestellt und kam zum
Schluße, daß gemäß der mehr weniger hochgradigen Ent-
wickelung eines Uterus beim Manne seine äußeren Geni-
talien entsprechend in der Entwickelung zurückblieben.
7. Elebs (Handbuch der pathologischen Anatomie,
4. Lieferung, Berlin, 1873, S. 725) zitiert eine Be-
obachtung von Bannon, eine 26jährige Frau betreffend
mit männlichem Aussehen und männlichem Gebahren
seit der erreichten Geschlechtsreife. Brüste und Becken
weiblich. Penis hypospadiaeus, große und kleine Scham-
lippen und Hymen vorhanden. Der Uterus besitzt eine
rechte Tube, in ein cystisches Gebilde ausgehend, die
linke Tube hat ein offenes Abdominalende mit Fimbrien.
Jahrbuch VI. 15
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Angeblich dort ein Ovarium gefunden. Anderthalb Zoll
tiefer unterhalb des vermeintlichen Ovarium, vor der
Synchondrosis sacroiliaca, liegt linkerseits ein Hoden,
Nebenhoden und einVas deferens; letzteres anfangs nach
dem Leistenkanale hin gerichtet ändert später seine Rich-
tung und schwindet im Ijigamentum latum. In dasselbe
injiziertes Quecksilber ergießt sich in die Uterushöhle.
Linkerseits auch eine Samenblase gefunden, Prostata und
Cowpersche Drüsen fehlen. Der Hoden enthält Samen-
kanäle, aber keine Spermatozoiden. In dem vermeint-
lichen Ovarium finden sich nur Bindegewebsstroma und
Fettzellen, aber keine Spur von Follikeln. Die Deutung
als Ovarium dürfte also sicher eine ganz willkürliche
sein, wahrscheinlich hervorgerufen durch die Gegenwart
eines Uterus am Präparat.
Bannon (Dublin Medical Journal, 1852, Vol. XIV,
S. 73). Kind, Anna getauft, nach einem Jahre Andreas
genannt. Allgemeinaussehen männlich. Hypospadiasis
peniscrotalis. Prostata vorhanden, ebenso die Samen-
blasen, aber keine Glandulae Cowperi. Große und
kleine Schamlippen vorhanden. Vagina mündet unter-
halb der Urethra nach außen. Hymen vorhanden. Uterus
unicomis vorhanden mit fimbrienversehener linker Tube
und angeblich ein linkes Ovarium, das aber auf den
Durchschnitten nur Bindegewebe und nirgends Follikel
aufweist Rechterseits Hoden und Vas deferens. Hinter
dem Uterus berühren sich die linksseitigen Uterasadnexa
und der rechterseits gelegene Hoden, Kryptorchismus
bilateralis. Hoden sicher erkennbar als solcher. (Mög-
licherweise sind diese beiden Beobachtungen identisch;
Originalaufsatz Bannons mir nicht zugänglich).
8. Barkow („Über einen wahren menschlichen
Zwitter", Anatomische Abhandlungen, Breslau, 1851, S. 60).
5 4 jähriger, verheirateter Mann, dessen Frau ein Kind
geboren hatte, aber laut Ansicht von Barkow nicht von
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dem Oatten stammend^ der befruchtungsunfähig gewesen
sein soll« Hypospadiasis peniscrotalis. In der rechten
Schamlefzen-Hemie vermutete man zu Lebzeiten zwei
Hoden, bei der Sektion aber fand man in hemia den
Uterus sowie einen normal funktionierenden Hoden und
angeblich ein Ovarium, welches aber nur aus Bindege-
webe, Fettzellen und Blutgefäßen bestand, ohne Spur von
FoUikelbildung. Absoluter Mangel eines Vas deferens.
Das angebliche Ovarium war 1^4 i^oU lang und durch
zwei Furchen in drei Teile geteilt; von dem vorderen
Ende des angeblichen Ovarium zog ein strangartiges
Gebilde zur Basis der Schamlefze, resp. des gespaltenen
Scrotum, von dem zentralen Binde ging ein Strang zur
Seitenwand des Uterus. Der rechte Hoden hatte neben
dem Uterus im Scrotum gelegen, die linke Scrotalhälfte
war leer; Penis drei Zoll lang. Vagina und Uterus
normal, auch Prostata vorhanden.
9, Barth („Anomalie de d^veloppement de Futricule
prostatique'S Bulletin de la Soci6t6 Anatomique de Paris,
1878).
10. Carl Beck (Medical Record, 25. July 1896,
No. 1342, S. 185 und 694, und Medical Record, 20. Fe-
bruary 1897, S. 260) entfernte durch Bauchschnitt bei
einem 21jährigen Individuum, das bis zum 19. Jahre
als Mädchen gegolten hatte , später aber 'fils Mann ge-
kleidet ging und schon seit dem 16. Jahre als Mann
kohabitierte, sich auch syphilitisch infizierte, zwei
Tumoren, die er als Hodensarkome bei beiderseitigem
Eryptorchismus angesprochen hatte. Hypospadiasis peni-
scrotalis. Tod an Pneumonie am 18. Tage. Penis hypo-
spadiaeus, Scrotum gespalten, die 4 Zoll lange Vagina
weist Hymenaleinrisse auf, im Scheidengrunde tastet man
die Portio vaginalis uteri. Niemals Menstruation, aber
sub coitu Ejakulation einer klebrigen Flüssigkeit aus
zwei seitlich vom „Infundibulum" gelegenen Öffnungen.
15*
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Der Penis wird bei Erektion doppelt groß. Allgemein-
aussehen, Gesichtsausdruck, Stimme und Behaarung
weiblich. Bei der Nekropsie fand man einen Uterus von
2^4 Zoll Länge, dessen Höhle im oberen Teile von
Flinimerepithel, im unteren von Plattenepithel ausge-
kleidet war. Tuben ohne Lumen, aber mit Ampullae.
Brooks erklärte die Tumoren für Teratome mit Aus-
sehen eines Teiles der Tumormassen, einem Sarkom
gleichend. Becken und Schambehaarung männlich. Weder
Cowpersche noch Bartholinische Drüsen gefunden.
Mund 6 erklärte das Individuum für einen kryptor-
chistischen Hypospaden mit hochgradig entwickelten
Müllerschen Gängen.
11. Berthold („Seitliche Zwitterbildung beim Men-
schen'*, Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der
Wissenschaften zu Göttingen, 1845, Bd. II, S. 104).
Neonat, bald verstorben. Hypospadiasis peniscrotalis,
Sinus urogenitalis l^a Zoll lang. Uterus unicomis,
links Tube, Ovar und Ligamentum rotundum vorhanden.
Der Uterus, gut ausgebildet, mündet in den Sinus uro-
genitalis. In der rechten Schamlefze Hoden und Neben-
hoden, das Vas deferens zieht durch den Leistenkanal
zum Uterus hin und verläuft in dessen Wand herab bis
zum Sinus urogenitalis, wo es eine halbe Linie nach
. auswärts von der Urethralmündung sich nach außen er-
öffnet. Prostata und Samenblasen fehlen. Das Mikroskop
erwies normalen Bau des Hodens; die linksseitige Ge-
schlechtsdrüse war von Berthold als Ovarium ange-
sprochen worden. Ob mit Recht? Ich zweifle und habe
deshalb die Beobachtung hier aufgenommen.
12. Betz (Müllers Archiv, 1850, S. 65) fand einen
Uterus unicornis bei einer männlichen, in der 82. Woche
geborenen Frucht mit normal-männlichen äußeren Geni-
talien. Der Uterus mündete in dem Veru montanum.
Samenblasen fehlten. Beide Vasa deferentia traten in
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die seitlichen Uteruswände ein, aber nur das rechte war
viabel. Nur der linke Hoden lag im Scrotum, der rechte
in der Bauchhöhle unterhalb der rechten Niere. Der
Uterus unicomis besaß die zugehörige Tube.
13. Die von Klotz beschriebene interessante Be-
obachtung Billroths habe ich in meiner Arbeit: „Chi-
rurgische Überraschungen auf dem Gebiete des Schein-
zwittertumes", 1903, ausflihrlich wiedergegeben. Siehe
auch die Abbildungen dort: Herniotomie bei einem männ-
lichen Hypospaden, dessen linker Hoden in dem ge-
spaltenen Scrotum lag, während in der rechten Scrotal-
hälfte das Corpus eines ektopischen Uterus lag. Uterus
unicomis hohen Entwickelungsgrades mit Vagina und
Hymen, Mangel eines Vas deferens.
Der 24jährige Israel Jaroszewski kam wegen einer
Leistenhernie. Links in dem gespaltenen Scrotum Hoden,
Nebenhoden und Samenstraug. Der rechtsseitige Bruch
soll schon seit vielen Jahren existieren^ fing jedoch erst
im 16. Jahre an, sich zu vergrößern, und von eben
diesem 16. Jahre an bekam Israel alle vier Wochen
periodisch starke Schmerzen im Kreuz und di-
verse Molimina, welche jedesmal 3 — 4 Tage an-
hielten. Während dieserSchmerzperiode entleerte
sich stets Blut, sowohl aus der Harnröhre, als
auch aus einer Fistel im rechten Labium pu-
dendi majus. Melancholie angesichts der genitalen
Mißbildung bis zu Selbstmordgedanken. Billroth ver-
mutete ein Neoplasma des rechten Hodens und machte
die rechtsseitige Herniotomie. Im Bruchsacke ein cystisches
Gebilde, dessen Stiel in den Leistenkanal reichte. Der
Stiel wurde abgebunden unter teilweiser Eröffnung der
Bauchhöhle vom Leistenschnitte aus. Nach zwei Tagen
Collaps und Tod als Folge einer Verblutung in die Bauch-
höhle hinein, hervorgerufen durch Abgleiten einer Ligatur.
Sektion durch Professor Chi ari: Brüste groß, weiblich.
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Hernia inguinoscrotalis uteri unicornis. Der im Leisteu-
kanal eingeschnürte Uterus hatte Sanduhrform. Billroth
hatte das Corpus uteri teilweise amputiert. Die ?on
einem Hymen garnierte Vagina öffnete sich in die Urethra,
resp. der üterovaginalkanal und die Harnröhre öffiieten
sich in einen Canalis urogenitalis. Das Unke Vas de-
ferens mündete neben der vaginalen Mündung auch dort
Neben dem Uterus lag ein cystisches Gebilde, wahr-
scheinlich der entartete rechte Hoden. Hypospadiasis
peniscrotalis. Schambehaarung weiblich. Mangel des
rechten Vas deferens, der Samenblasen und der Prostata.
Geschlechtsdrang männlich, obgleich Israel auch mit
Männern zu kohabitieren versucht hatte. Eine Erklärung
der allmonatlichen Blutungen ex Urethra und der Fistel
im rechten Labium majus steht aus. Klotz vermutete,
daß jenes rechtsseitige cystische Gebilde ein entartetes
rechtes Ovarium sein könnte.
14. W. Bittner (Prager Medizinische Wochenschrift,
1895, Nr. 43, S. 491) beschrieb eine Beobachtung aus
Bayers Klinik in Prag: Man schlug das Verlangen der
Mutter ab, eine angebliche vergrößerte Klitoris der 13-
jährigen Tochter abzuschneiden, weil man in den Scham-
lefzen getastete Gebilde für Hoden ansah. In der Glans
des Geschlechtsgliedes, welches 5^2 cm lang war, mündete
ein Kanal, welcher eine Sonde 5 cm tief eindringen und
aus dem sich ein Schleim ausdrücken ließ, der dem
Prostataschleime ähnelte. Der Penis war gleichwohl an
seiner unteren Fläche gespalten, die Harnröhrenmündung
anscheinend weiblich. Unterhalb lag die • Scheiden-
mündung. Per rectum tastete man ein Gebilde, welches
für einen rudimentären Uterus angesehen wurde. Falls
es richtig ist, daß die in den Schamlefzen getasteten
Gebilde Hoden waren, so läge auch hier eventuell ein
Uterus masculinus vor, aber es handelt sich nur um Ver-
mutungen.
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— 231 —
15. Blacker und Lawrence („A case of true uni-
lateral hermaphroditism with o?otestis occurring in man^
with a summary and criticism of the recorded cases of
true hermaphroditism", Transactions öf the Obstetr. Soc.
of London, 1896, Vol. XXXIII). Totgeborene Frucht
von 87i Monaten. Penis hypospadiaeus mit langer Vor-
haut, unterhalb die ÖfiFnung des Sinus urogenitalis. Das
Scrotum sieht aus wie zwei zusammengewachsene groÜe
Schamlefzen. Keine Spur von kleinen Schamlippen ^zu
entdecken. In den Sinus urogenitalis mündet die Ure-
thra und eine Vagina von 8 mm Länge mit ausge-
sprochener Faltenbildung ihrer Schleimhaut. Uterus
11 mm lang und 67a ^^ breit Uterus unicomis: Nur
das rechte Hörn samt Tube vorhanden. Die Tube ist
12^2 ^^ ^^^S ^^^ ^^/a ^^ ^^^^' Kechterseits fand sich
eine Tube, ein Ovarium^ ein Parovarium, ein Ligamentum
latum und rotundum und infundibulopekicum. Linker-
seits fand sich nur eine rudimentäre Tube, außerdem
linkerseits ein Wolf f scher Gang, in die Vagina mündend.
Die rechtsseitige Geschlechtsdrüse soll ein normales
Ovarium gewesen sein, die linksseitige aber gemischten
Bau aufgewiesen haben, in einem Teile den Bau eines
Hodens, in dem anderen den Bau eines Ovariums: Also
eine Ovotestis. Nagel, welcher Kontrolluntersuchungen
ausführte, wies nach, daß die rechtsseitige Geschlechts-
drüse irrtümlich als ein Ovarium angesprochen worden
war. Diese Drüse soll nach Nagel ein in der Ent-
wickelung zurückgebliebener Hoden gewesen sein, die
linksseitige Geschlechtsdrüse war richtig von Blacker
und Lawrence als Hoden erkannt worden. Nach der
Auffassung Nagels handelt es sich hier also mehr
um die Gegenwart eines rudimentär ausgebildeten Uterus
bei einem hodentragenden Individuum, also um männ-
liches Scheinzvvittertum und Gegenwart einer Vagina bei
gleichzeitigem Kryptorchismus und Defekt der Prostata.
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— 232 —
16. Boeckel („Exstirpation d*un ut^rus et d'une
trompe herni^e chez un homme'S Acad^mie de M^decine
de Paris, 19. Avril 1892, Semaine m^dicale, 1892, Vol.
XII, S. 146) fand sub hemiotomia bei einem Manne in
der Hernie einen Uteras bicornis, mit Höhle versehen,
eine Tube, einen Hoden samt Nebenhoden und Vas de-
ferens, welche letzteren Gebilde im Ligamentum latum
gelagert waren.
17. Boogarde („Persistance des canaux de Müller
chez un homme adulte", Journal d' Anatomie et de la
Physiologie, 1877, S. 200) fand bei einem 66jährigen
Manne beide Müllerschen Gänge neben den Harnleitern
nach abwärts verlaufend, wo sie in utriculo masculino
mündeten.
18. Gustav Brühl („Über Hermaphroditismus im
Anschluß an einen Fall von Pseudohermaphroditismus
masculinus completus", In.-Di8s., Freiburg 1894). Pro-
fessor V. Kahlden sezierte am 24. Juli 1893 ein 2^2
Jahre alt verstorbenes Mädchen. Äußere Genitalien
normal weiblich, aber die großen Schamlippen sehr wenig
entwickelt. Blonde Härchen auf dem Mons Veneris.
Klitoris 0,4 cm lang. Kleine Schamlippen normal. Hymen
gelappt Uterus arcuatus 1,3 cm lang und 0,9 cm breit.
Tuben ohne Lumen. Kommunikation der Vagina mit
dem Uterus nicht nachweisbar. Die Hoden liegen an
Stelle der Ovarien. Uterus ohne Lumen. Zwei von
dem Uterus zu den Hoden ziehende Stränge stellen viel-
leicht rudimentäre Vasa deferentia dar, vielleicht rudi-
mentäre Tuben. Es handelt sich also um Gegenwart
eines Uterus und normaler äußerer weiblicher Genitalien
bei einem hodentragenden Individuum.
19. Carle (siehe Grüner, „Utero e trombe di
Fallopio in un uomo'', wiedergegeben in meiner vorjährigen
Arbeit: „Chirurgische Überraschungen auf dem Gebiete
des Scheinzwittertumes^^, 1903, S. 71) operierte einen 36-
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— 233 —
jährigen Telegraphisten wegen vor kurzer Zeit ent-
standenen linksseitigen Leistenbruches. Bei der Opera-
tion fand man in hernia die linke Tube, der Uterus
samt rechter Tube lag in der Bauchhöhle , der linke
Hoden, pathologisch entartet, wurde abgetragen. Neben
der linken Tube verlief das linke Vas deferens. Die
Bauchhöhle wurde bei der Operation mit eröffnet^ der
Uterus lag auf der rechten Fossa iliaca. Der Uterus
bicornis wurde mit der ganzen linken Tube und dem
zentralen Ende der rechten Tube abgetragen. Die Frau
des Mannes, der nachher infolge eines Abdominaltumors
verstarb, gab an, ihr Mann habe normalen Verstand
gehabt, sei gutmütig gewesen, habe regelmäßig kohabitiert,
aber die Ehe sei kinderlos geblieben ; genitale Blutungen
soll der Mann niemals gehabt haben. Grüner gibt an,
die entfernte linksseitige Geschlechtsdrüse sei ein Teratom
gewesen und er sei außer Stande, zu sagen, ob aus einem
Hoden oder aus einem Ovarium hervorgegangen. Der
vorher erwähnte spätere Abdominaltumor dürfte wohl
aus der anderen Geschlechtsdrüse hervorgegangen sein,
einer Kryptorchis, vermute ich. Die äußeren Geschlechts-
teile waren normal männlich gebildet bis auf beider-
seitigen Kryptorchismus.
20. Realdo Colombo („De re anatomica", Venetiis,
1559, Lib. XV, S. 268) vollzog die Nekropsie eines
Zwitters und fand Hypospadiasis peniscrotalis mit dem
Anscheine einer Vulva. In der Bauchhöhle fand man
an Stelle der Ovarien die Hoden liegend: Ad haec, uti
communis est fabrica muliebris, vasa spermatica fere-
bantur, sed, quae ex iisdem prodibant, vasa deferentia
duplicia erant, quorum unum ex utroque latere sese uteri
fomici inseruit, alterum vero ad penis radicem, qui
glandularum prostatarum expers erat, properabat in
eodemque aperiebatur. Hie ergo ex ovariis testiformibus
peculiares ductus sub tubarum specie in uterum, alii
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— 234 -
ductibus deferentibus non absimiles peculiares ductus
sub tubarum specie in arethram patuerunt." Auch hier
haben wir also einen hochgradig ausgebildeten Uterus
bei einem hodentragenden Individuum. Leider ist kein
Wort bezüglich einer Anamnese vorhanden.
21. Derveau (Cercle m6d. de Bruxelles, 5. IV. 1901,
„Utärus, trompes et testicules contenus dans une hernie
inguinale congönitale chez un homme'*) fand bei Hernio-
tomie an einem 69jährigen Manne, Vater von sechs
Kindern, im Leistenbruche Uterus und beide Tuben.
Die Vagina mündete in capite gallinaginis. Die Hoden
lagen an Stelle der Ovarien. Keine Hypospadie. D. er-
wähnt nichts von etwaiger Menstruation, syndromalen
Beschwerden dysmenorrhoischen Charakters. Uterus und
Kryptorchismus bilateralis.
22. A. Dienst (Virchows Archiv, Bd. CLIV, Heft 1)
beschrieb einen Uterus masculinus bei einem kryptor-
<5histischen Neonaten, verstorben nach einer wegen Atresia
ani vollzogenen Operation.
23. Durham (1860). Beide Hoden lagen vor den
Leistenkanalmündungen. Die Vasa deferentia hatten
normalen Verlauf, aber ihre peripheren Enden nicht
gefunden. Samenblasen klein, Uterus masculinus. Die
Scheide mündete nach außen. Hypospadiasis peniscrotalis.
24. Eppinger (Prager Vierteljahrsschrift, Bd. CXXV)
fand bei einem 52jährigen Manne einen Uterus unicornis
und eine Vagina. Penis und Scrotum normal.
25. Giuseppe Fantino, Professor in Bergamo,
vollzog am 5. III. 1902 eine Herniotomie bei einem
Manne und fand in dem Bruchsacke einen Uteras mit
beiden Tuben und beiden Hoden. Der linke Leisten-
kanal war leer. Leider ist nichts erwähnt über etwaige
genitale periodische Blutungen, Tormina etc.
26. Feiler („Über angeborene menschliche Miß-
bildungen im Allgemeinen und Hermaphroditen ins-
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— 285 —
besondere'^ Landshut, 1820, S. 104], ebenso Mayer
(Gas per 8 Wochenschrift, 18^5, Nr. 50), ebenso Heppner
(Reicherts Archiv, 1870, S. 68, S. 687) beschrieben die
bekannte Marie Dorothea, den späteren Karl Duerrge,
auch Denier genannt, 1780 in Potsdam geboren, den
Hufeland und Mursinna für ein Weib erklärt hatten,
aber Stark und Martens für einen Mann. Stark
untersuchte dieses Individuum, als es 28 Jahre zählte,
und hielt es dem allgemeinen Aussehen nach für einen
Mann. Tenörstimme, männliche allgemeine und männ-
liche Gesichtsbehaarung. Erektiler Penis von 2 — 3 Zoll
Länge. Hypospadiasis peniscrotalis, Geschlechtstrieb
rein männlich, nur einmal eine Blutung ex Urethra
nach einem Trauma. 1885 starb Duerrge in Mainz, wo
Mayer die Sektion vollzog: Canahs urogenitalis von
8 Linien Länge. Prostata vorhanden, Scheide in der Höhe
von 27a ^^^^ ^^^^ endend. Oberhalb ein Uterus, ebenso
lang wie die Vagina, aber ohne Lumen. Beide Tuben
viabel. Bechterseits liegt am peripheren Tubenende der
Hoden mit nachweisbaren Samenkanälchen, linkerseits
liegt ein Gebilde, äußerlich mehr einem Ovar ähnelnd,
aber von Peritoneum überzogen, ohne mikroskopische
Untersuchung für ein Ovarium angesehen. Es bestand
indessen nur aus Gratiulationsgewebe und Fettklümpchen.
Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß Duerrge
ein männlicher Hypospade war mit Kryptorchismus bi-
lateralis, Uterus, Vagina und rudimentärer Entwickelung
des linken Hodens, der irrtümlich für ein Ovar ange-
sehen worden war. Zum mindesten ist die ovarielle
Natur dieser Geschlechtsdrüse nicht erwiesen, über die
Vasa deferentia fand ich in den mir zugänglichen Ee-
feraten keine Angaben.
27. Feldmann („Ein Fall männlichen Schein-
zwittertumes" [Russisch: Wracz ebnaja Gazeta, 1902,
Nr. 39, Referat: Centr. f. Gyn., 1903, Nr. 47]). Ein 62-
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— 236 —
jähriger Israelit wurde von Szalita wegen Bruchein-
klemmung operiert und starb. Der Mann war von
niedrigem Wuchs und hatte eine Tenorstimme besessen»
Penis (11 cm lang) und Scrotum gespalten, spärliche
Schambehaarung. Beide Hoden lagen vor den Leisten-
kanalöfifnungen und waren taubeneigroß. Vaginalmündung
ohne Hymen. In der Umrandung der Vaginalmündung
jederseits eine Öffnung^ welche eine dünne Sonde in die
seitliche Scheidenwand einließ. In der Bauchhöhle fand
man einen Uterus, von dem besonders das linke Hörn
besser ausgebildet war, der Uterus mündete in die Vagina.
Ligg. lata schwach ausgebildet, rechterseits sieht man
ein peripheres Tubenende mit Fimbrien. Keine Ovarien.
Die Samenleiter gehen von den Leistenkanälen auf die
Ligg. lata über, treten dann in die Uteruswände ein,
verlaufen darin und in den seitlichen Scheidenwänden
abwärts und münden mit den oben genannten Öffnungen
nach außen. Vagina 6V2 cm, Uteruskörper 7 cm, linkes
Uterushom 4,2 cm, rechtes Vas deferens 27 cm, rechter
Hoden 2^/^, linker 3 cm lang. Vasa deferentia stellenweise
ohne Lumen. Eine Hufeisenniere quer *vor der Wirbel-
säule gelagert und zwei Ureteren. Das Foramen ovale
im Herzen klafit. Leider ist keine Anamnese vorhanden
bezüglich des sexuellen Empfindens.
28. Fillipini (II Morgagni, Dicembre 1900) fand
bei der Herniotomie an einem 23 jährigen Manne in
einem rechtsseitigen Leistenbruche einen Uterus, eine
Tube und ein bohnengroßes Gebilde, das er für ein Ovar
ansah, während linkerseits in scroto ein Hoden getastet
wurde. Die äußeren Genitalien normal männlich. Wahr-
scheinlich dürfte hier eine irrtümliche Beurteilung der
rechtsseitigen in hernia liegenden Geschlechtsdrüse vor-
liegen. War dieselbe ein Hoden, so handelte es sich um
hochgradige Entwicklung der Mülle rschen Fäden bei
einem Manne.
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_ 237 ~
In dem Referate: MünchDer Medizinische Wochen-
schrift, 1901, Nr. 10, S. 403, ist von einer etwaigen
mikroskopischen Untersuchung nichts erwähnt.
29. Fjodorow in Moskau (Referat: Centr. f. Gyn.,
1882, S. 20) gezierte eine 6monathche Frucht Scham
weiblich mit starker Klitorishypertrophie anscheinlich.
Penis hypospadiaeus, große und kleine Schamlippen vor-
handen, Vaginalmündung unterhalb der Urethralmündung.
Große Schamlippen leer, rechts im Leistenkanal ein
Gebilde wie ein Hoden aussehend. Normaler dreieckiger
Uterus mit abgerundeten Ecken, deinen Portio vaginalis
in die Scheide eindringt. Keine Prostata gefunden. Die
rechte Tube tritt in den Leistenkanal hinein und tritt
in Verbindung mit dem rechten Hoden. Ligamenta lata
und rotunda vorhanden. Das rechtsseitige Vas deferens
tritt aus dem im rechten Leistenkanale liegenden rechten
Nebenhoden heraus. Links Tube mit Fimbriae in dem
Ligamentum latum. Der Uterus hatte einen drüsigen
Bau ähnlich der Prostata. In den Hoden fand man
Samenkanälchen, eine scheinbare Erweiterung der linken
Tube erwies sich als Nebenhoden. Der ursprünglich als
linke Tube aufgefaßte Strang erwies sich später als das
linke Vas deferens. Die Vasa deferentia mündeten in
den Uterus.
30. Flothmann („Ein Fall von ganz rudimentären
Generationsorganen", Deutsche Medizinische Wochen-
schrift, 1889, S. 67, und: „Geburt eines Anencephalus
mit Pseudohermaphroditismus masculinus'S Archiv für
Gynäkologie, 1888, 33. Bd., S. 311). F. extrahierte mit
dem stumpfen Haken den Rumpf eineä Kindes, nachdem
der Kopf schon geboren war. Das Kind wog 4000 g.
Die Sektion, von Professor Arnold vollzogen, erwies:
Linere und äußere Geschlechtsteile männlich, aber der
rechte Hoden in der Bauchhöhle retiniert. Außerdem
aber fand sich ein ziemlich großer Uterus, hinter den
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— 238 —
Samenblasen gelegen, dessen Vagina in coUiculo seminali
der männlichen Harnröhre mündete und sondierbar war.
Keine Tuben gefunden.
31. A. Foges („Ein Fall von Hermaphroditismus
spurius masculinus internus", Beiträge zur Geburtshülfe
und Gynäkologie, Rudolf Chrobak gewidmet, I. Bd.,
Wien 1903). Gersuny machte den Leibschnitt bei einem
kinderlos verheirateten normal kohabitierenden 50jährigen
Manne M. T. Seit zwei Jahren Schmerzen im ünterleibe
linkerseits, seit 6 Monaten Tumor, kindskopfgroß, höckrig,
hart, wenig beweg}ich, nicht schmerzhaft auf Druck!
Der rechte Hoden fehlte in scroto, linkerseits ein Leisten-
bruch. Penis normal. Der linke Hoden in scroto klein.
Man diagnostizierte: Tumor testiculi sinistri bei Eryptor-
chismus. Gersuny fand beim Bauchschnitt einen oben
mit den Därmen verwachsenen Tumor, über welchem eine
Tube verlief mit freiem abdominalen Ende, mit Fimbrien
versehen. Der Tumor hatte sein Gekröse und sah ab-
solut aus wie ein vielkämmeriges Ovarialkystom. Man
fand nach Herausheben des Tumors aus der Bauchhöhle
einen Uterus bicomis und tastete auch die Vaginalportion.
Rechte Tube ebenfalls normal, der rechte Hoden lag an
der Stelle, wo das rechte Ovarium bei Weibern liegt.
Der rechte Hoden war 5 cm lang. Man fand das rechte
Vas deferens nach dem Leistenkanale zu verlaufend.
Sarcoma carcinomatodes testiculi sinistri bei beider-
seitigem Eryptorchismus; man fand auch den linken
Nebenhoden, aber keine Samenblasen. Die Natur des
in der linken Hodensackhälfte liegenden bohnengroßen
Gebildes blieb unaufgeklärt Die Vagina dürfte in capite
gallinaginis gemündet haben. Es ist in dem Aufsatze
nichts davon erwähnt, ob dieser Mann jemals periodische
genitale Blutungen hatte.
32. V. Franquö („Beschreibung eines Falles von
sehr hochgradiger Entwickelung des Weberschen Organes*/
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— 239 —
Beiträge zur Geburtshülfe und Gynäkologie^ herausgegeben
von Y. Scanzoni, 1859, IV. Bd., S. 4) beschrieb ein
lieichenpräparat eines männlichen Scheinzwitters mit
hochgradig entwickeltem Uterovaginalkanale. Kryptor-
chismus duplex, Penis und Scrotum ungespalten. Pro-
stata normal, Samenblasen normal; zwischen ihnen liegt
ein normal entwickelter Uterus; die Vagina mündet in
colliculo seminali. Vagina 8 cm lang; in ihrer hinteren
Wand liegen die blind abgeschlossenen peripheren Aus-
führungsgänge der Samenblasen und Vasa deferentia.
Uterus 2Va Zoll lang mit ausgesprochenem äußeren
Muttermund; Corpus- und Cer?ixhdhle unterscheidbar.
Tuben, über 3 Zoll lang eine jede, hier und da ohne
Lumen. Die rechte Tube fast durchwegs unwegsam, in
die linke dringt eine Sonde vom Abdominalende aus ein
Stück weit ein. Die Fimbriae sind beiderseit« verwachsen
mit dem Überzüge eines jeden Nebenhodens; Ligamenta
rotunda uteri vorhanden. Nebenhoden und Vasa de-
ferentia normal. Die Vasa deferentia unterhalb der
Tuben verlaufen zu den Uteruskanten hin, treten etwas
tiefer in die seitlichen Uteruswände ein und verlaufen
darin bis zu den Samenblasen herab. Nur das rechte
Vas deferens hat hier und da ein Lumen, das linke ist
ganz obliteriert. Ductus ejaculatorii fehlen! Es fehlen
die Ausmündungen der Vasa deferentia in capite galli-
naginis, die Hoden liegen an Stelle der Ovarien.
33. Arnold zitiert folgende Beobachtung: Giraud
fand 1796 Hoden im gespaltenen Scrotum, Samen blasen^
Vasa deferentia, in der Prostata mündend, Vagina nach
außen mündend, vom Uterus geschieden durch eine
quere Membran.
34. Godard („Recherches töratologiques sur Tap-
pareil s6minal de Thomme", Paris 1860) fand bei einem
erwachsenen männlichen Hypospaden einen Uterus von
normaler Größe und Gestalt; zwei Stränge verliefen von
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— 240 —
ihm in die Leistenkanäle. Linkerseits fand sich Hoden,
Nebenhoden und ein obliteriertes Vas deferens, rechter-
seits Hoden nicht gefunden; jene Stränge waren die
Ligamenta rotunda uteri.
35. Griffi th („Hermaphroditismus transversus virilis",
Journal of Anatom, and Phys., January 1894) entfernte
durch beiderseitige Hernie tomie bei einem 23jährigen
Individuum, das weibliche Brüste hatte, beide Hoden:
Er fand eine Vagina und in deren Grund ein Gebilde,
das er fiir einen Uterus ansprach, mit seitlichen Gebilden,
wie die Beckenaustastung bewies. Kremasterreflex vor-
handen, aber keine Samenstränge konstatiert Die Vagina
endete in der Tiefe blind.
36. Grub er (Mömoires de TAcad^mie Imperiale
des Sciences de St P^tersbourg, 1859, Tome 11, 41,
Nr. 13, siehe meine Arbeit im vorigen Jahrgange „Chirur-
gische Überraschungen auf dem Gebiete des Schein-
zwittertums", Gruppe IV, Fall 12). Kryptorchismus mit
Carcinom einer Geschlechtsdrüse. Hypospadiasis peni-
scrotalis, Uterus und Vagina von 8 cm Länge, die Va-
gina unterhalb der Urethra im Sinus urogenitalis mün-
dend: 22 jähriger Manu, infolge des Hodencarcinoms
gestorben. (Siehe die Abbildung Fig. 18.)
37. Günther („Commentatio de hermaphroditismo,
Lipsiae, 1846) beschrieb den Genitalbefund der 39jährigen
Johanne Christine Schlegel. Allgemeinaussehen männ-
lich. Hypospadiasis peniscrotalis; die Hoden im ge-
spaltenen Sero tum. Im Sinus urogenitalis mündeten Ure-
thra und Vagina. Hinter der Harnblase fand sich ein
infantiler Uterus ohne Lumen, ohne runde Bänder, aber
mit Ligamenta lata, der nach unten zu in die Vagina
überging; ein Collum uteri nicht ausgesprochen. Das
linke Vas deferens schwand im Bindegewebe unterhalb
der Harnblase. Vagina 5^2 Zoll lang mit sichtbaren
Columnae rugarum. Hymen vorhanden. Vagina von
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— 241 —
Prostata umgeben in ihrem unteren Teile. Penis ent-
hielt drei Corpora cavernosa, aber keine Harnröhre.
Samenblasen fehlten.
38. Günther (1846). Hoden und Nebenhoden in
scroto, das linke Yas deferens tritt in das linke Uterus-
hom ein^ das rechte schwindet in der Tunica subserosa
yesicae. Uterus masculinus tricomis, zwei Hörner gehen
in die Vasa deferentia über, das dritte in die Tunica
Bubserosa yesicae (?). Die Vagina mündet nach außen;
Prostata vorhanden; Hypospadiasis penis. Die Vasa
deferentia liegen den Seitenwänden der Vesicula prosta-
tica an und münden in colliculo seminali. Der Uterus,
P/a Zoll lang, mündet in vaginam. Scrotum nicht ge-
spalten.
39. Guldenarm (siehe meinen Aufsatz „Chirur-
gische Überraschungen auf dem Gebiete des Schein-
zwittertums", dieses Jahrbuch 1903, S. 73) amputierte
an einem Hanne bei einer Herniotomie einen Uterus
bicomis und entfernte dabei auch Hoden und Neben-
hoden, die in inniger Verbindung mit den peripheren
Tubenenden standen, und zwar aus der linken Leiste.
Rechterseits lag Kryptorchismus vor. Die Vagina mün-
dete in dem Corpus gallinaginis urethrae; es gelang, sub
operatione auch den rechten Hoden durch die Ope-
rationswunde aus der Bauchhöhle herauszuziehen. Die
Hernie hatte das rechte Hom eines Uterus bicomis ent-
iialten bei einem hodentrageuden Individuum. Penis
normal. Leider ist in der Beschreibung durch Siegen-
beck van Heukelom, welche nur der anatomischen
Seite dieser Beobachtung Rechnung trägt, nichts darüber
gesagt, ob irgendwelche genitale periodische Blutungen
usw. in diesem Falle vorlagen,
40. Harvey (erwähnt von Steglehner, S. 90) be-
jschrieb einen Fötus mit Uterus, Tuben und Vagina,
Jahrbuch VI. 16
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— 242 —
scheinbar weiblicher Scham infolge von Hypospadiasis
peniscrotalis und an Stelle der Ovarien liegenden Hoden,
41. Henriette (1855). Hoden in den Leistenkanälen,
Die Vasa deferentia münden in die Urethra; keine Samen-
blasen gefunden; Uterus ohne Höhle und ohne Cervix.
Vagina endet in der Tiefe blind.
42. Heppner („Über den wahren Hermaphroditismus
beim Menschen'*, Archiv für Anatomie und Physiologie,
herausgegeben von Reichert und Dubois-Reymond^
1870, S. 679, Tafel XVI) will bei der Nekropsie des
zweimonatlichen Paul Bogdanow im Petersburger Findel-
hause die gleichzeitige Anwesenheit von Ovarien und
Hoden in der Bauchhöhle konstatiert haben, die an-
geblichen Ovarien hielten aber später ausgeführten mi-
kroskopischen Kontrolluntersuchungen anderer Forscher,
namentlich Slawjanskis, nicht Stand: Es fand sich keine
Spur von Follikeln, für das Ovarium charakteristischem
Gewebe. Wenn diese Kontrolluntersucher Recht haben,
so wäre dieser Fall aufzufassen als hochgradige Ent-
Wickelung der Müll ersehen Gänge bei einem männlichen
Hypospaden, mit Kryptorchismus behaftet. Penis hypo-
spadiaeus. Scrotum, nicht gespalten, aber leer, prominiert
auffallend stark nach vom. Unterhalb des hypospadischen
Penis die Mündung des Canalis urogenitalis, der sich in
der Tiefe in Urethra und Vagina teilt. Die Prostata um-
gibt den gesamten Canalis urogenitalis. Man fand wohl
die Mündungen der Prostataausführungsgänge, aber keine
Samenblasen. Uterus mit Vaginalportion und sichtbarem
Arbor vitae vorhanden, beide Tuben viabel und normal
geformt Ligamenta lata und rotunda normal, die unter-
halb der peripheren Tubenenden liegenden Gebilde sollten
jederseits Hoden, Ovarium und Parovarium sein.
43. Hesselbach („Beiträge zur Natur- und Heil-
kunde" von Friedreich und Hesselbach, Würzburg,
1825, Bd. I, S. 154) machte die Sektion eines 26jährigen
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— 243 —
Gefangenen^ an Schwindsucht verstorben. Trotz Gegen-
wart Yon Hoden fand sich ein Uterus mit viablen Tuben^
mit einem Muttermunde versehen. Details fehlen mir
zur Zeit.
44. Hyrtl (Osterreichische Medizinische Wochen-
schrift, 1861) beschrieb einen Mann mit normalen ftuBeren
männlichen Geschlechtsteilen, keine Samenblasen, die Yasa
deferentia eröffnen sich in einen Uterus bicomis.
Hoden und Nebenhoden in scroto. Die Homer des
Uterus fließen in einen Kanal zusammen, der in capite
gallinaginis mündet. Uterusschleimhaut gefaltet. Keine
Vagina vorhanden, wohl aber eine Prostata.
• 45. Jardine (Obstetrical Society of Glasgow, 26. XI.
1902 — Referat: Centn f. Gyn., 1903, Nr. 40). Die Sek-
tion eines neugeborenen, bald nach der Geburt ver-
storbenen Mädchens erwies einen hypospadischen Penis,
ein nicht gespaltenes Scrotum, cystische Entartung beider
Nieren, Fehlen eines Ureters, Vorhandensein von Hoden
und Nebenhoden, Uterus samt E^eitem, breiten und
runden Mutterbändem, Kryptorchismus.
46. Kapsammer (Centralblatt für die Krankheiten
der Harn- und Sexualorgane, 1900, Nr. 1). Nitze ent-
fernte bei einem 30 jährigen Manne einen Phosphatham-
stein von 162 Gramm Gewicht aus einem Utriculus mas-
culinus. Der Stein hatte Gänseeigröße.
47. B. 0. Kellner (Deutsche Medizinische Wochen-
schrift, 1902, Nr. 1). Ein Fall von Hermaphroditismus
lateralis aus dem Krankenhause in Bloemfontein. Ein
etwa 22 jähriger Kaffer verstarb infolge von Typhus. Als
der Kranke in das Hospital gebracht wurde, hielt ihn
die Wärterin, welche ihn auskleidete, wegen der weiblichen
Brüste für ein Weib; der Arzt konstatierte jedoch die
Gegenwart eines Penis mit Vorhandensein des rechten
Hodens in scroto. Der rechte Hoden taubeneigroß, die
linke Hodensackhälfte leer. Hypospadiasis peniscrotalis.
16*
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— 244 —
Bei der Nekropsie fand man einen Uterus mit linker
Tube und angeblich auch linkem Ovarium. Der Mann
war als Kind der Eaffernsitte gemäß beschnitten worden.
Man hielt ihn also offenbar für männlich, als er zur
Welt gekommen war. Der Verstorbene verdiente sich den
Unterhalt als Bereiter. Körperbau grazil, Gesichtszüge
weiblich. Der rechte Hoden sehr klein, aber mit Epidi-
dymis versehen, weder Samenbläschen nochVas deferens
gefunden.
Die linke Tube war vom peripheren Ende aus nur
8 cm weit wegsam für die Sonde. Das angebliche linke
Ovarium^ das sogar Follikel aufgewiesen haben soll, soll
über der Tube gelegen haben, auf der Abbildung ist ein
Ligamentum rotundum gezeichnet, welches vom Ovarium
zum peripheren Tubenende zieht (??). Brüste gut ent^
wickelt, aber die rechte kleiner als die linke. Persönlich
möchte ich die Deutung Kellners anzweifeln, da eine
mikroskopische Untersuchung nicht gemacht wurde, ich
würde annehmen, daß es sich hier um einen 'Mann
handelte mit hochgradiger Entwickelung der Müllerschen
Fäden — ob eine Vagina existierte, ist nicht gesagt —
die Beschreibung läßt an Genauigkeit leider viel zu
wünschen übrig; eine Anamnese irgend welcher Art war
in diesem Falle nicht zu erlangen, da Patient fast schon
im Sterben begriffen in das Hospital gebracht wurde.
48. Klebs (Lehrbuch der pathologischen Anatomie,
Bd. I, S. 738, 1876) fand bei einem männlichen Neu-
geborenen ein Gebilde, welches er als rudimentären
Uterus deutete, ein Bläschen, welches mit feiner
Mündung in capite gallinaginis urethrae sich erö&ete,
in dessen engerer Partie er Plicae palmatae gesehen
haben will.
49. Klein (Münchner Med. Woch., 1898, Nr. 22)
und Zimmermann („Ein Beitrag zur Lehre vom mensch-
lichen Hermaphroditismus'', tn.-Diss., München 1901) und
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— 245 —
Hengge (Monatsschr. filr Gebartsh. und Gyn.; 1902,
S. 270) beschrieben die gleiche Beobachtung aus der
Praxis des Dr. Eatzenstein: Eine 35jährige Frau
hatte erst neun normale Kinder geboren, dann ein Eind,
dessen Geschlecht fraglich erschien, sodaß man einen
Arzt holte behufs Geschlechtsbestimmung. Letzterer
holte Dr. Klein hinzu, welcher auf männliches Geschlecht
erkannte. Das Kind starb nach 272 Jahren. Die Ne-
kropsie ergab im rechten Leistenkanale ein mikrosko-
pisch als Hoden erwiesenes Gebilde, den dazugehörigen
Samenstrang, linkerseits eine atrophische Geschlechtsdrüse,
welche weder die morphologischen Anzeichen eines Hodens,
noch eines Ovariums bot; es fand sich ein 2,5 cm langer
Uterus von Bleistiftdicke mit der linken Tube, welche
mit einem Morsus diaboU versehen war. An Stelle des
linken Eierstockes lag jene atrophische linksseitige Ge-
schlechtsdrüse, welche sowohl mit dem Uterus durch ein
Ligament verbunden war, als auch mit dem peripheren
Tubenende. Excavatio vesicouterina und rectouterina vor-
handen. Die rechte Tube verlief nach dem Leisteu-
kanale zu. Große Schamlippen vorhanden, kleine
fehlten, Penis hypospadiaeus 273 ^^ lang mit Glans,
Vorhaut usw. Unterhalb des hypospadischen Penis
lagen in der scheinbaren Schamspalte zwei Öffnungen,
eine über der anderen, die Öffnung der Harnröhre über
der Öffnung resp. Mündung der Vagina. Was aber be-
sonders interessant ist, jederseits von der Mittellinie lag
noch je eine kleine Öffnung seitlich von der Vaginal-
mündung nahe zur Urethralmündung hin; diese beiden
Öffnungen waren die Mündungen der Vasa deferentia.
Ferner fand man noch rechterseits dicht oberhalb der
Vaginalmündung die Mündung eines Kanales eines
Prost atalappens. Die Vagina war 47 mm lang.
50. Kocher („Die Krankheiten der männlichen Ge-
schlechtsorgane", Stuttgart, 1887, S. 577) erwähnt ein
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— 246 —
anatomisches Präparat aus Würzburg, Nr. 1105, X:
Bauchhoden beiderseits, wo die Ausbildung des untersten
Endes der Müllerschen Gänge zu einer Vagina mit
Uterus ein Hindernis für den Descensus abgegeben hat.
Der obere Teil des Müllerschen Ganges, welcher vom
Uterus ausgehend sich an den Kopf der Epididymis an-
legt, die Verbindung des Vas deferens mit dem ganzen
Seitenrande des Uterus, die Anheftung des den Neben-
hoden versorgenden Gefäßstranges (Arteria deferentialis)
an die obere Uterusecke, endlich die Verschmelzung des
Gubemaculum testis mit dem wohl ausgebildeten Liga-
mentum rotundum uteri bilden ebensoviele Hindernisse
für das Herabtreten der Hoden.
51. K r u 1 1 („ Pseudohermaphroditismus masculinus
internus'', Centralblatt für Gynäkologie, 1903, Nr. 18)
beschrieb ein totgeborenes, mehrfach mißgebildetes Kind:
Pes varus duplex, Hernia umbilicalis, Ascites, Hydro-
thorax, Atelektasis pulmonum, Erweiterung der Harn-
blase bis Apfelgröße, Hydronephrose und kleinfingerweite
Erweiterung der Ureteren, Duplizität des linken Ureters.
Die Harnverhaltung war durch den Uterus bedingt Ute-
rus wohl gebildet, die Vagina mündete in capite gallina-
ginis der männlichen Harnröhre. Scrotum normal und
Penis. An Stelle der Ovarien fanden sich TestikeL
Jederseits ein Nebenhoden und Vas deferens und Guber-
naculum Hunteri gefunden; man fand aber keine Ductus
ejaculatorii. Die Vasa deferentia endigten blind inner-
halb der üterinwände.
52. Langer (Archiv für Anatomie und Physiologie,
1881) beschrieb einen neuen Fall von Uterus masculinus
bei Erwachsenen. Junger Soldat mit beiderseitigem
Leistenbruch, normalem Penis und Scrotum, aber Krypt-
orchismus. Durch den Sinus pocularis gelangte eine
Sonde in einen Uterus bicomis mit teilweise viablen
Tuben und offener Ostia derselben.
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53. Leuckart („Über das Webersche Organ und
dessen Metamorphosen'^ Illustrierte Medizinische Zeitang,
herausgegeben von Rubner, 1852, Bd. I, S. 89, Fig. 18,
19] beschrieb ein Präparat aus der v. Sömmeringschen
Sammlung (Katalog derselben Nr. 49, Präparat L. N. I.
384). Hypospadiasis peniscrotalis, Vagina 6 cm lang,
blind endend; in vagina münden die beiden Vasa defe-
rentia, Samenblasen gefunden in der Nähe. Die Ductus
ejaculatorii verlaufen in Falten der Vaginalschleimhaut.
Golumna rugarum anterior ausgesprochen. Prostata fehlt.
Ein Hoden mit Nebenhoden außerhalb des Leistenkanals
in einer Hydrocele.
54. Leuckart (1852). Beide Hoden in den Leisten-
kanälen, Nebenhoden, Samenblasen und Vasa deferentia
normal. Ductus ejaculatorii auf der Vorderfläche der
Vesicula prostatica. Der Uterus eröffnet sich in capite
gallinaginis urethrae. Scrotum rudimentär, Prostata
ebenfalls, Penis sehr klein, Scrotum nicht gespalten.
55. Lukomskij (Russkaja Medicina, 1887, Nr. 43).
sojihriges Individuum, als Weib erzogen, von männ-
lichem Aussehen. Andromastie, männliche Gesichts-
behaarung. Haupthaar lang, in Zöpfe geflochteu. Ob-
wohl die Person weibliche Kleider trägt, vollzieht sie
männliche Arbeiten. Nach ihrer Verheiratung wurde sie
untersucht, weil der Mann behauptete, sie sei ganz anders
gebaut als andere Weiber. Penis hypospadiaeus ohne
Praeputium glandis, das Qlied richtet sich bei der lei-
sesten Berührung auf, das gespaltene Scrotum enthält
zwei Hoden von Taubeneigröße; große und kleine Scham-
lippen vorhanden, angeblich unterhalb der Harnröhren-
mündung das Vaginalostium ; Scheide 7 cm lang, in der
Tiefe entdeckte man die Vaginalportion des Uterus.
Hymen eingerissen. Niemals Periode, Geschlechtstrieb
sehr stark, aber rein männlich. Beim Eohabitieren mit
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Frauea fließt eine klebrige , weißliche Flüssigkeit aus.
Die Person haßt den Beischlaf mit Männern.
56. Luksch („Über einen Fall von weit entwickeltem
Hermaphroditismus spurius masculinus internus bei einem
45jährigen Individuum", Neue Zeitschrift für Heilkunde)
beschrieb das Sektionspräparat eines geisteskrank ver-
storbenen Mannes mit sehr gut entwickeltem Uterus, an
Stelle der Ovarien liegenden Hoden und einer Vagina,
welche in capite gallinaginis urethrae mündete. Tod in-
folge von Tuberkulose. Hoden rudimentär entwickelt,
Kryptorchismus. Eine Brost weiblich gebildet, eine männ-
lich, sonst alle sekundären Geschlechtscharaktere männ-
lich. Niemals Erektionen des Gliedes, keine Hypospadie.
Vasa deferentia, Samenblasen, Cowpersche Drüsen vor-
handen, aber keine Spermatozoiden gefunden (siehe die
Einzelheiten und die instruktive Abbildung in meinem
Aufsatze „Interessante Beobachtungen aus dem Gebiete
des Scheinzwittertums", dieses Jahrbuch, Jahrgang IV,
1902, S. 15—18, Fig. 3).
57. F. Luksch (Prager Medizinische Wochenschrift,
1903, Nr. 37) fand bei der Nekropsie eines Mannes
zwischen den beiden Vasa deferentia oberhalb ihrer Mün-
dungen in die Prostata ein cystisches Gebilde, welches
als Scheiden-, resp. Uterusrudiment angesehen wurde.
58. Reuter (1. c.) erwähnt eine Beobachtung von
Lilienfeld („Beitrag zur Morphologie und Entwicke-
lungsgeschichte der Geschlechtsorgane*', D. I., Marburg,
1856, S. 57), betreflfend die 22 Jahre alt im Wiener
Krankenhause am 17. IX. 1850 verstorbene Anna Petro-
vich. Linkerseits fand man vor der Mündung des Leisten-
kanals liegend Hoden, Nebenhoden und Vas deferens, in
der Beckenhöhle einen Uterus, der nur eine linke Tube
besaß, und unterhalb derselben das Parovarium, daneben
soll eine Geschlechtsdrüse gelegen haben, die keine Fol-
likel enthielt, also wohl der zweite Hoden war.
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59. Malacarne (1805). Kryptorchismus: Vasa de-
ferentia^ Vesicalae seminales gefunden. Die Ductus eja-
culatorii münden an der Stelle , wo die kleinen Scham-
lippen sich vereinigen. Die Vesicula prostatica öffnet
sich in die Harnröhre, die Vagina in vestibulum. Penis
hypospadiaeus, Labia minora vorhanden.
60. Marchand (,,Ein neuer Fall von Hermaphro-
ditismus spurius masculinus", Virchows Archiv, 1883,
Bd. XCn, S. 286—295) beschrieb die 29 7^ jährige Marie
Raab, in Hessen geboren. Schon in der Schule, beson-
ders aber vom 16. Jahre an, empfaM Marie starken
männlichen Geschlechtsdrang und kohabitierte oft mit
Frauen; sie bemerkte auch oft Ejakulation einer weiß-
lichen Flüssigkeit^ hatte aber niemals eine genitale Blu-
tung. Sie wurde angeblich wegen psychischer Anomalien
unter Kuratel gestellt, eigentlich aber mehr deshalb^ weil
die ganze Gemeinde Kenntnis hatte von der Mißgestal-
tung der Geschlechtsorgane der Marie Raab.
Infolge der Beeinträchtigung ihrer persönlichen Frei-
heit verlangte Marie Zuerkennung männlicher Rechte.
Sie reichte eine Klage wegen schlechter Behandlung
gegen ihren Bruder beim Gericht ein und es kam zu
einer gerichtlich - medizinischen Begutachtung durch
Marchand^ Ahlfeld und Brettel. Allgemeinaussehen
weiblich. Gesichtsausdruck männlich, aber keine männ-
liche Gesichtsbehaarung vorhanden. Stimme männlich
seit Stimmbruch im 17. Jahre ^ Hypospadiasis peniscro-
talis. Penis 3 cm lang und 1 Y3 cm dick. Vagina 9 cm
lang, am Ausgang verengt, oberhalb weit^ Spuren eines
Hymen vorhanden. Urethra und Vagina münden in
einem Sinus urogenitalis, Kryptorchismus beiderseits. Die
Scham sieht aus wie eine weibliche, mit Hypertrophie
der Klitoris und teilweiser Verwachsung der kleinen
Schamlippen mit einander. Raphe vorhanden, Vestibulum
und Frenulum labiorum. Man fand keine Prostata, wohl
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— 250 —
aber sub narcosi ein Gebilde^ das den Eindruck eines
Uterus machte, sowie seitlich davon rechts ein Gebilde,
das vielleicht ein Ovarium sein konnte. Marchand ver-
mutete, Marie Raab sei ein männlicher Scheinzwitter.
61. Henricus Matthes („Specimen anatomico-
pathologicum de vitiata genitalium genesi, quae herm-
aphroditica dicitur*', In.-Diss., Amstelodami, 1836) be-
schrieb eine Beobachtung Vroliks aus dem Jahre 1S35:
Eine Frau hatte nach der Reihe zwei gleich mißgestaltete
Kinder geboren. Hemia cerebri, Meningocele occipitalis,
Labium leporinum, Palatum fissum, Polydaktylie aller
vier Extremitäten, Scrotum fissüm, Hoden nach Eröffiiung
der Bauchhöhle vor den inneren Öffnungen der Leisten-
kanäle liegend« Die Vasa deferentia ziehen von hier zur
hinteren Wand der Harnblase und treten hier ein in
einen Uterus bicornis. Die Urethra hat keine äußere
Öffnung, trotzdem keine Harnstauung, weil der Urachus
offen geblieben war. Der Magen liegt vertikal, statt
transversal, der Blinddarm liegt linkei-seits in der Bauch-
höhle. Situs partim inversus viscerum. Denselben Fall
hat auch Vrolik beschrieben.
62. Mayer (1831). Linker Hoden und Nebenhoden
in der Bauchhöhle dicht an der inneren Mündung des
Leistenkanals. Die Vasa deferentia verlaufen seitlich
längs des Uterus, Samenblasen vorhanden; der linke
Ductus erjaculatorius mündet in die Urethra, rechter
nicht gefunden. Uterus besitzt ein Collum, aber keine
ausgesprochenen Muttermundslippen. Die Vagina mündet
mit der Urethra in den Canalis urogenitalis nach außen.
Prostata gut entwickelt, Hypospadiasis peniscrotalis.
63. Mayer (1831). Hoden und Nebenhoden nahe
den Nieren gelegen. Das linke Vas deferens steigt bis
zur Vagina herab, das rechte, fadenförmig, schwindet
in der Nähe des Uterushornes. Die linke Samenblase
rudimentär, die rechte fehlt ganz. Uterus masculinus
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bicornis, die Cervix uteri mündet mit einem Muttermunde
in vaginam, die Vagina mündet in die Harnblase. Die
Mündung dort von einer Art Falte umgeben. Kein Vesti-
bulum yaginae vorhanden^ die vordere Harnblasenwand
liegt in einer Omphalocele. Penis hypospadiaeus.
64. Mayer (1831). Hoden und Nebenhoden in der
Bauchhöhle, die Vasa deferentia verlaufen längs des Ute-
rus zu den Samenblasen. Uterus masculinus bicomis^
die Uterushörner ohne Lumen vereinigen sich oberhalb
der Mündung in vaginam. Die Vagina mündet in die
Harnblase, Prostata vorhanden, Penis und Scrotum nor-
mal; kein Vestibulum vaginae vorhanden.
65. Mayer (1831). Descensus incompletus testicu-
lorum; die Vasa deferentia verlaufen längs des Uterus
und geben in die Samenblasen über. Die Ductus eja-
culatorii sollen in die Vagina münden. Der Uterus be-
sitzt beide Tuben, eine Cervix und Vaginalportion mit
Muttermund; die Vagina mündet in vestibulo nach außen.
Hypospadiasis peniscrotalis.
66. Mayer (1831). Der rechte Hoden in der Nähe
des Anulus inguinalis, der linke fehlt Uterus ziemlich
groß mit gefalteter Schleimhaut der Cervicalportion. Die
weite Scheide mündet nach außen, keine Prostata, Hypo-
spadiasis peniscrotalis.
Mayer (Icones selectae, Bonn, 1831, Tafel 11,
Figur 4, und Tafel 3, Figur 2, S. 9) beschrieb drei
Fälle von Gegenwart eines Uterus bei männlichen In-
dividuen; zwei Fälle betrafen Föten von vier resp. sechs
Monaten, der dritte Fall einen jungen Mann von 26 Jahren.
Hypospadie.
67. H. Merkel (Beiträge zur pathologischen Anatomie
und allgemeinen Pathologie, XXXII, I, S. 157, 1902) fand
bei der Sektion eines 51jährigen an Mastdarmkrebs ver-
storbenen Mannes einen Leistenbruch einerseits, welcher
einen gut entwickelten Uterus neben einem Hoden ent-
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hielt Uterus und Vagina waren zusammen 20 cm
lang. Die Vagina mündete in capite gallinaginis urethrae
masculinae. Prostata normal; statt zwei fanden sich vier
Samenblasen. Das Vas deferens sinistrum war in seiner
ganzen Länge viabel, das rechtsseitige aber nur in seinem
oberen Anteile. Normales Sperma in den Samenblasen
gefunden. Der Mann, von durch und durch männlichem
Aussehen, Behaarung usw., kohabitierte normal und konnte
seine Frau schwängern; die Ehe war jedoch steril; die
Ursache der Sterilität der Ehe lag auf Seiten der Frau!
Der Uterus enthielt weder Blut noch Schleim und ging
unter stetig nach unten zunehmender Verdünnung seiner
Wände ohne eine eigentliche Portio vaginalis in die
Scheidenwände über. Das Lumen der Scheide war
bleistiftdick. Die Hoden lagen an der Hinterfläche der
Ligamenta lata, wo bei Weibern die Ovarien liegen.
Man fand auch jederseits ein dem Ligamentum ovarii
proprium entsprechendes Band.
Merkel gibt an, er habe im ganzen 16 Fälle von
hoher Entwickelung eines Uterus beim Manne in der
Literatur gefunden.
68. H. V. Meyer („Ein Fall von Hermaphroditismus
lateralis", Virchows Archiv, Bd.II, S. 420, 1857) beschrieb
ein bereits von Gramer beschriebenes Präparat, der Leiche
eines Neugeborenen entnommen. Penis hypospadiaeus^
Scrotum nur in der oberen Hälfte gespalten. Urethral-
mündung weiblich, Urethra von einer Prostata umgeben,
die Ausmündungen der Prostatagänge liegen sichtbar auf
dem CoUiculus seminalis. Man sieht auf dem Colliculus
zwei Öffnungen, den Mündungen der Ductus ejaculatorii
scheinbar entsprechend, sie entsprechen jedoch letzteren
nicht, denn durch die linksseitige, näher der Mittellinie
gelegene Ofifnung gelangt eine dünne Sonde in die Vagina.
In die rechte Ofinung dringt eine Sonde nur 2 mm
tief ein. Auf der Rückfläche der Harnblase liegen Uterus
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und Vagina. Die vaginale Mündung in capite gallina-
ginis urethrae ist 3 mm lang. Scheide und Uterus
getrennt schon für das Auge durch eine Art Falte.
Uterus mehr dickwandig, mit Palmae plicatae, Scheide
dünnwandiger mit ausgesprochenen Columnae rugarum.
Jene Querfalte stellt den äußeren Muttermund dar.
Rechte Tube 61 nmi lang^ ohne Hydatide, die linke
106 mm lang; mit einer solchen versehen. Bechterseits
hängt ein Ovarium an einem 13 mm langen Ligamentum
ovarii, zwischen Ovar und Tube das Parovarium dextrum
und eine Hydatide. Linkerseits liegt neben dem peri-
pheren Tubenende ein Hoden mit seinem Ausführungs-
gange ^ der 3 cm weit in der Richtung nach dem
Uterus zu für eine haardünne Sonde mahel ist Dieser
Strang kann verfolgt werden bis an das linke Uterus-
hom, ist aber dort ohne Lumen, v. Meyer sieht in
diesem Strang das linke Yas deferens, dessen unteres
Ende dicht oberhalb seiner Mündung in parte prostatica
urethrae obliteriert sein soll; es liegt aber die vorerwähnte
Ofihung in capite gallinaginis rechterseits von der Mittel-
linie und nicht Unkerseits, was zu Zweifel an dieser
Deutung berechtigt. Neben dem linken Hoden liegt ein
parovariumartiges Gebilde mit einer Hydatide. Der linke
Hoden liegt in einem breiten Sacke — Tunica vaginalis —
in labio pudendi majori sinistro. Daher die linke
Schamlefze größer als die rechte. In der Abbildung
ist der Hoden aus jenem Sacke herausgezogen dar-
gestellt; vom Uterus zieht zu diesem Sacke ein Liga-
mentum rotundum sinistrum; ein Gubernaculum Huu-
teri hier auch vorhanden, v. Meyer deutet die rechts-
seitige Geschlechtsdrüse als ein Ovarium, ohne jedoch
Beweise für die ovarielle Natur dieser Geschlechtsdrüse
beigebracht zu haben; es scheint vielmehr wahrscheinlich,
daß es sich hier um Eryptorchismus duplex handelt mit
Hypospadiasis des Penis und teilweiser Spaltung des
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Scrotum bei Gegenwart eines hochgradig entwickelten
Uterovaginalkanales, die Vagina in capite gallinaginia
urethrae mündend.
69. Moreau de Tours (Bulletin M^dical, 3. Avril
1887. Referat: Repertoire universel d'Obst^trique et de
6yn6cologie, 1887, S. 311) verlangte Rektifikation der
Metrik für ein Mädchen, das er für einen männlichen
Hypospaden erklärte; Erektionen konstatiert und männ-
licher Geschlechtstrieb, aber Hoden nicht getastet, Erypt-
orchismus angenommen, ein zwischen Blase und Mast«
darm getastetes Gebilde sprach er als Uteras masculinus
an (für mich zweifelhafter Fall).
70. Nuhn (1855). Die beiden Hoden, sehr klein,
liegen vor den äußeren Mündungen der Leistenkanäle.
Vesiculae seminales sehr klein, Vasa deferentia vorhanden.
Die Ductus ejaculatorii verlaufen in der vorderen Wand
der von gallertigem Schleim erfiillten Vesicula prostatica
(Uterus), der rechte Ductus besitzt kein Lumen, der
linke mündet in die Urethra. Prostata fehlt. Hypo-
spadiasis peniscrotalis. (lUustrierte Medizinische Zeitung,
Bd. III, S. 93.) LeichenpiÄparat eines blindgeborenen
Mannes von 22 Jahren.
71. Obolonsky („Beiträge zur pathologischen Ana-
tomie des Hermaphroditismus", Zeitschrift für Heilkunde,
Bd. IX, S. 211, siehe meine Arbeit: „Chirurgische Über-
raschungen auf dem Gebiete desScheinzwittertumes". Vierte
Gruppe, Nr. 30) beschrieb die Nekropsie eines 50 Jahre alten
Weibes, das vom 17. bis 49. Jahre regelmäßig menstruiert
gewesen sein soll. Gleichwohl konstatierte die Sektion
einen Hoden und männliche Hypospadiasis peniscrotalis:
Vagina unterhalb der Urethra nach außen mündend, 6 cm
lang mit Hymen; rudimentärer Uterus bicornis, linker-
seits vom Uterus Hoden und Nebenhoden und Samen-
strang; die rechte Geschlechtsdrüse wurde nicht gefunden,
statt ihrer aber ein Tumor, ein Sarkom, welches den
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Tod herbeigeführt hatte. Da man auch rechterseits ein
Vas deferens fand, so erscheint der Schluß vollkommen
berechtigt, daß dieses Sarkom ein Sarkom der rechten
Kryptorchis war. Schon Wrany hatte behauptet, die
Verstorbene sei ein Mann gewesen, und er hatte Recht
Becken und Brüste weiblich. Allgemeinaussehen und
Skelett rein weiblich. Der Uterus hatte eine Höhle.
Der Skeptiker wird hier gleich bei der Hand sein: die
regelmäßige Periode beruht auf falscher Angabe; ob aber
mit Recht?
72. Odin (Lyon M^dical, 21. Juin 1874). Im Hotel
Dien in Lyon verstarb an Apoplexie der 63 jährige Ar-
beiter Nat. Matthieu Perret: Penis hypospadiaeus von
10 cm Länge, Scrotum üssum, Raphe perinaei 7 cm
lang. Im rechten Leistenkanal ein taubeneigroßes Ge-
bilde. Andromastie, Becken männlich, mangelhafte
Schambehaarung, Urethra und Vagina münden in einem
gemeinsamen Ausgange, dem Canalis urogenitalis, zwischen
den Schamlefzen. Vagina 8 cm lang und 6 cm breit.
Die großen Schamlefzen sind hinten unten nicht durch
ein Frenulum verbunden. Ein Katheter, in die vor-
genannte Öffnung eingeführt, kann sowohl in die Blase
gelenkt werden wie in die Vagina. Hymenartige Klappe
vor der Vaginalmündung, Uterus rudimentär entwickelt,
mit 8 cm tiefer Höhle, nach links geneigt; die linke
Tube zieht gegen den Leistenkanal hin und endet blind
ohne Morsus diaboli; dort liegt der linke Hoden und
Nebenhoden. Ein daneben liegendes Gebilde mit Bläschen
könnte vielleicht ein Ovar sein, sein ovarieller Charakter
wurde aber nicht nachgewiesen. Die rechte Tube dicker
als die linke, der rechte Hoden liegt vor der äußeren
Mündung des Leistenkanales. Von den Hoden ziehen die
Vasa deferentia zu den Samenblasen herab, die rechte
Samenblase großer als die linke, die Ductus ejaculatorii
sollen vermutlich münden in den seitlichen Umrandungen
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der Harnröhrenmündung. Jegliche • anamnestische Daten
betreffs Periode, Geschlechtsdrang etc. fehlen^ nur soviel
ist bekannt, daß der Mann niemals verheiratet gewesen
war. Odin selbst spricht sich zweifelhaft über das Ge-
schlecht aus, die Hoden sollen zur 8perma,togenese fähig
gewesen sein. Es dürfte sich hier wohl um männliches
Scheinzwittertum handeln mit einseitigem Kryptorchismus
bei Hypospadiasis peniscrotalis und hochgradiger Ent-
wickelung der Müller sehen Gänge.
73. Palma („Zur pathologischen Anatomie der Bil-
dungsanomalien im uropoetischen System", Prager Medi-
zinische Wochenschrift, 1891, Nr. 32, 33, S. 367).
Professor Chiari fand bei der Sektion der Leiche eines
58 jährigen an Schvrindsucht verstorbenen Mannes die
rechte Niere normal, die linke atrophisch, den linken
Ureter im unteren Teile obliteriert. Ein Uterus unicomis
kommunizierte durch eine feine Öffnung mit dem Caput
gallinaginis partis prostaticae uretbrae. Es fand sich nur
das linksseitige Uterushorn mit einer von Schleimhaut
ausgekleideten Höhle. Uterushorn 5 cm lang und 4 mm
dick. Der linke Ureter trat mit seinem unteren obli-
terierten Teile in die Wand des Uterus ein. Klebs ver-
mutete, der Ureter sei mit dem einen Müllerschen
Faden verschmolzen, vielleicht hat sich in diesem Falle
der linke Ureter aus einem Müllerschen Faden ,ab-
gespalten, statt aus einem Wo Iff sehen Gange.
74. Percy Paton („A case of vertical or complexe
hermaphroditism with pyometra and pyosalpinx; removal
of the pyosalpinx", Lancet, 1902, Nr. 41 16, S. 148) vollzog
den Bauchschnitt bei einem Manne wegen eines ver-
muteten Blasentumors. Die Operation ergab, daß dieses
hodentragende Individuum einen Uterus besaß mit beiden
Tuben, in Pyosalpinxsäcke verwandelt, und eine Vagina,
welche in scroto fisso mündete; die männliche Urethra
mündete mit einer sehr engen Öffnung in die Vagina.
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Der vor der Operation getastete Unterleibstumor war
einfach die hamerfüllte Blase gewesen. Paton gibt
nichts darüber an, ob dieser Mann irgendwelche genitale
Blutungen periodischer Art gehabt, Tormina menstrualia,
ob Ejakulationen vorlagen und welcher Art der Ge-
schlechtstrieb war.
75. Pelvet (1865). Hoden und Nebenhoden neben
den Nieren gelegen, die Vasa deferentia kreuzen sich
mit den Harnleitern und münden in einer Bauchspalte.
Uterus masculinus bicomis von weicher Konsistenz mit
ausgesprochenem Lumen eröffnet sich gleichfalls in der
Bauchspalte. Scheide fehlt. Ektopia vesicae urinariae.
Äußere Genitalien verraten Spaltung; man sieht nur
jederseits eine Hautfalte; aus einer jeden geht ein Ge-
bilde wie ein Corpus cavernosum hervor.
76. Petit (Histoire de TAcad^mie des Sciences,
Ann^e 1780, S. 38) teilte der Akademie das Sektions-
ergebnis eines im 22. Jahre verstorbenen Soldaten mit.
Allgemeinaussehen männlich, Scrotum leer, beide Testikel
in der Bauchhöhle, Samenblasen vorhanden; die Vasa
deferentia mündeten regelrecht in parte prostatica urethrae,
außerdem fand sich aber auf dem CoUiculus seminalis
auch die Ausmündung eines Uterus, welcher beide Tuben
besaß, aber ohne Lumen mdA Morsus diaboli. Die Hoden
und Zubehör lagen an Stelle der Ovarien.
77. Pfannenstiel (siehe Emil von Swinarski,
„Beitrag zur Kenntnis der Geschwulstbildungen der Geni-
talien bei Pseudohermaphroditen", In.-Di88., Breslau, 1900).
Amputation des myomatösen Uterus bei einer 55jährigen,
unverehelichten, niemals menstruierten Person, als Weib
erzogen. Die sekundären Geschlechtscharaktere durchwegs
männlich: Knochenbau, Muskelsystem, Behaarung. Das
äußere Genitale sieht aus wie Hypospadiasis peniscrotalis
mit Kryptorchismus, das Geschlechtsglied, B cm lang,
sub erectione 5 cm, besitzt eine lange bewegliche Vor-
Jahrbuch VI. 17
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haut^ eine große Eichel. Die großen Schamlefzen sind
im unteren Teile durch eine Raphe vereint, oberhalb liegt
die Öffnung des Sinus urogenitalis, in dessen Grunde die
Urethralmündung und die von einem Hymen umsäumte
Vaginalmündung. Der Sinus urogenitalis läßt den Finger
2 cm tief ein, die Vagina läßt den kleinen Finger ein-
treten. Im Scheidengrund tastet der Finger etwas wie
eine minimale Vaginalportion eines Uterus. Absoluter
Mangel irgend eines Geschlechtsgeflihles. Pfannenstiel
sprach einen Tumor als Uterusmyom an und vollzog die
Amputation des Uterus und der Adnexa. In den als
Ovarien angesprochenen Gebilden fehlte jede Spur von
für ein Ovarium charakteristischen Gewebselementen.
Diese Gebilde, langgestreckt vergrößert, mit absolut glatter
Oberfläche, bestanden nur aus einem bindegewebigen
Stroma und einigen Blutgefäßen, ließen eine Rindenschicht
von einer inneren unterscheiden, wiesen aber keine Spur
von essentiellem Eierstocksgewebe auf. Nehmen wir an,
die Person war weiblich, so läge rudimentäre Entwickelung
der Ovarien vor bei Klitorishypertrophie, Erektilität der
Klitoris und Persistenz des Sinus urogenitalis und ab-
soluter Amenorrhoe, nehmen wir an, die Geschlechts-
drüsen waren verkümmerte Hoden, so hätten wir mit
hochgradiger Entwiokelung der Müllerschen Gänge bei
einem männlichen Hypospaden zu tun. Die Frage bleibt
unentschieden.
78. Pinel (M6moires de la Soci^t^ mödicale d'6mu-
lation, Vol. IV, Ann. VTII, S. 340) beschrieb einen
18jährigen Soldaten: Kryptorchismus, an Stelle der
Prostata soll ein Uterus vorgelegen haben „cum tubis
angustis ad corpora ambigua testiformia decurrentibus
iisque adhaerentibus , quae corpora dubia epididymide
vasculo deferente ad vesiculam seminalem magnam abeunte
instructa erant".
79. Pozzi (siehe meine Arbeit „Chirurgische Über-
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raschuDgen auf dem Gebiete des Scheinzwittertumes'',
Separat-Abdruck, S. 33) fand sub herniotomia bei einem
Mädchen in dem Bruchsacke einen Hoden und das linke
Hörn eines Uterus bicornis. Peyrot hatte früher bei
diesem 32 jährigen Dienstmädchen einen beiderseitigen
Leistenbruch konstatiert und Ektopie der beiderseitigen
üterusadnexe bei fehlendem Uterus diagnostiziert Beider-
seitige Hemiotomie, linkerseits eine Cyste, für Hydrosal-
pinx angesehen^ ein anderes Gebilde f&r ein ektopisches
Ovarium, ein drittes für einen rudimentären Uterus.
Cyste reseziert, Uterus und das vermeintliche Ovarium
in die Bauchhöhle geschoben. Rechterseits zwei nicht
reponible Gebilde abgeschnitten: eine Cyste und ein ftlr
das rechte Ovarium angesehenes Gebilde. Nach einem
Jahre Bruchrecidiy linkerseits, jetzt von Pozzi operiert:
Das Mikroskop wies nach, daß Peyrot rechterseits einen
Hoden entfernt hatte, linkerseits Pozzi einen Hoden.
Vagina und Uterus vorhanden, Scham absolut weiblich,
ohne auch nur im geringsten Grade einen Verdacht auf
«rreur de sexe zu erwecken, da die Klitoris absolut
nicht vergrößert war. Es handelt sich also um Hypo-
spadiasis peniscrotalis mit Eryptorchismus und hochgra-
diger Entwickelung der Müllerschen Gänge. Nach der
«rsten Operation erwachte weiblicher Geschlechtstrieb, bis
•dahin latent, und kam Melancholie zum Ausbruch, welche
nach der zweiten Operation noch zunahm. Hymen ein-
gerissen bei einer Stupration im 8. Lebensjahre. All-
gemeinaussehen und sekundäre Geschlechtscharaktere ab-
solut weiblich. Geschlechtstrieb weiblich. Vom 12. Lebens-
jahre an oft Nasenbluten, zuweilen mehrmals an einem
Tage, einmal sogar zwölfmalig binnen 24 Stunden. Diese
Blutungen wiederholten sich niemals länger als zwei Tage
nach der Reihe, wiederholten sich aber allmonatlich in
gewissen Zeitabständen und wurden von Schmerzen in
der Lendengegend begleitet, im Unterleibe und den
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Beinen, dem Gefühl von Hitze, Atemnot und Kopf-
schmerzen; in demselben Jahre traten die Erscheinungen
der Geschlechtsreife auf^ die Behaarung des MonsVene-
ris und Stimmbruch. Im 14. Jahre einmal nach einem
Spaziergange während jener prämenstrualen Beschwerden
ein dreimaliger Anfall von Somnambulismus mit nächt-
lichem Spazierengehen im Hause. Die Nasenblutungen
samt dem gesamten Komplex der Geleiterscheinungen
dauerten bis zum 22. Jahre. Vom Januar bis Juni des
32. Lebensjahres wiederholten sich drei- bis viermal Mast-
darmblutungen bei Verstopfung — wohl auf Hämorrhoiden
zu beziehen. Die Nasenblutungen hatten sich seit dem
22. Jahre ganz verloren. Trotzdem dauerten die all-
monatlich sich wiederholenden obengenannten Molimina
an. Amenorrhoe mit periodisch sich wiederholenden
Kongestionserscheinungen. Von Zeit zu Zeit wurden die
Brüste für 2—3 Tage schmerzhaft. Mammae groß, gut
entwickelt, mit gut entwickelter Drüsensubstanz, Becken
breit, weiblich, Atmungstypus männlich.
Scheide sehr eng und empfindlich, kein Uterus per
rectum getastet, die periodischen Nasenblutungen hatten
sich 10 Jahre lang wiederholt; Testikel atrophisch, ohne
nachweisbare Spermatogenese. Es scheint also, daß in
diesem Falle, obwohl notorisch Hoden vorlagen, gleich-
wohl eine vikariierende Menstruation vorlag, mit dem
Symptomenkomplexe, welcher als Tormina menstrualia
bezeichnet wird, dabei ist auffallend der rein weibliche
Geschlechtsdrang, die Melancholie nach ausgeführter
Kastration.
80. Primrose („A case of Uterus masculinus'V
British Medical Journal, 1897, Vol. II, S. 881). Bauch-
schnitt an einem 25jährigen Kryptorchisten bei Diagnose
eines Hoden tumors: Man fand ein Hodensarkom und kon-
statierte nach dem Tode post operationem die Gegenwart
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— 261 —
eines Uterus und einer Vagina; letztere mündete in capite
gallinaginis uretfarae.
81 . Römy beschrieb die Persistenz eines Müll ersehen
Fadens bei einem Knaben; derselbe verlief parallel dem
rechtsseitigen Harnleiter und endete oben mit einer
Gruppe Bläschen von Hirsekomgröße. R6my erblickte
in diesen kleinen Cysten ein Überbleibsel des Wolffschen
Körpers. Das untere Ende des Müll ersehen Fadens
eröffnete sich in capite gallinaginis partis prostaticae
urethrae.
82. Hubert Roberts („Pelvic viscera showing Pseudo-
hermaphroditism", Transact of the Obstetrical Society of
London for the Year 1901, Vol. XLIII, S. 928). Bei
der Sektion eines 44jährigen, im Bartolomews Hospital
infolge von Apoplexie verstorbenen Mannes, dessen se-
kundäre Geschlechtscharaktere sämtlich männliche waren,
der in seiner Ehe zwei Kinder gezeugt haben soll, fand
man zunächst Kryptorchismus bilateralis, in der Bauch-
höhle einen gut ausgebildeten Uterus mit Tuben und
Ligamenta lata; zwei an Stelle der Ovarien liegende Ge-
bilde erwiesen sich unter dem Mikroskop als Hoden.
Nebenhoden normal. Keine Samenblasen gefunden. Va-
gina rudimentär gebildet. Der linke Hoden war doppelt
so groß als der rechte, der Uterus so groß wie normal
bei einer Erwachsenen. Die Hoden sollen von dem
hinteren Blatte des Ligamentum latum bedeckt gewesen
«ein. Aus dem Körper eines jeden Hodens treten eine
Reihe Vasa deferentia heraus, um jederseits den Globus
major epididymidis zu bilden; aus jedem Globus minor,
oberhalb des Globus major gelegen, tritt stark geschlängelt
ein Vas deferens aus. Die Vasa deferentia gelangen bis
an die Seitenkanten des Uterus, mehr nach vorn zu ge-
legen, und schwinden innerhalb der Wände der Vagina.
Uterushöhle normal. Ligamenta rotunda gut ausgebildet.
Die Tuben, ohne Lumen, enden jederseits in dem Globua
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— 262 —
major des Nebenhodens, dort, wo bei dem normaleo
Manne die Hydatis Morgagni liegt, also Persistieren
des peripheren Endes eines jeden MüUerschen Fadens.
Keine Cervix uteri ausgesprochen. Die üterinhöhle ver-
engt sich nach unten zu, um dann wieder weiter zu
werden. Die Höhle 2 Zoll lang und P/a Zoll breit.
Diese Höhle scheint die Vagina zu sein: Eine von
obenher in diese Vagina eingeführte Sonde kommt
heraus in der Harnröhre in sinu poculari partis pro-
staticae. Prostata der Quere nach abgeflacht, aber sonst
normal. Penis normal, groß, Scrotum leer. Uterus-
schleimhaut ganz normal, die Membrana propria tubu-
lorum seminiferorum sehr verdickt Dasselbe Präparat
ist auch von Edgar Willett in der Pathological Society
demonstriert worden 1894. In der Arbeit ist nichts er-
wähnt von etwaigen periodischen Genitalblutungen, Men-
struatio vicaria, Torrn ina usw.
83. Ruhräh (Med. News, New-York, 1902, Vol. LXXXI,
S. 1095). Die Sektion des Leichnams eines idiotischen
Sjährigen'Enaben erwies die Existenz eines wohlgebildeten
Uterus und einer engen Scheide. Angeblich waren die
Hoden in den Leistenkanälon tastbar und auch Ovarien
vorhanden. (?)
84. Rydygier (Czasopismo lekarskie, 1903, S. 380)
vollzog bei einer 44 jährigen Frau eine Hemiotomie und
exstirpierte dabei den Bruchinhalt: Uterus, beide Eier-
leiter und ein Hoden. Hernia inguinolabialis dextra;
trotz Vorhandenseins von Uterus und Vagina absolute
Amenorrhoe. Rechts vom Uterus lag ein Hoden und
Samenstrang, linkerseits eine dickwandige Cyste.
85. Sänger (siehe meinen Aufsatz „Chirurgische
Überraschungen auf dem Gebiete des Scheinzwittertums'^
dieses Jahrbuch, Jahrgang V, 1903, S. 43) konstatierte
nach Herniotomie mit Exstirpation einer Geschlechts-
drüse männliches Geschlecht einer 32jährigen Lehrerin:
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— 263 —
Bei der Herniotomie wurde ein Uterus samt einer Tube,
einem Hoden und einer Parovarialcyste entfernt Diese
Person» als Mädchen erzogen, hatte niemals die Men-
struation, aber sie litt gleichwohl alle 3 — 4 Wochen
regelmäßig an Unterleibsschm erzen, es sind hier noto-
risch Molimina menstrnalia angegeben bei einem männ-
lichen, also hodentragenden Individuum, bei dem infolge
hochgradiger Entwickelung der Müller sehen Gänge ein
gut entwickelter Uterus vorhanden war. Die Scheide
endete in der Höhe von 7 — 8 cm blind, schien also außer
Zusammenhang mit dem in hemia inguinolabiali befind-
lichen Uterus zu stehen.
86. Schneider-Sömmering (Kopps Jahrbücher
der Staatsarzneikifnde, 1847, Bd. X, S. 134) beschrieben
einen 74jährigen männlichen Hypospaden mit Hydrocele
tunicae vaginalis communis testiculi und einem sack-
artigen Uterus.
87. Schneider-Sömmering (1817), Hoden in den
Leistenkanälen. Die Yasa deierentia lagen dem Uterus
an und mündeten im Sinus urogenitalis. Samenblasen
gefunden. Scheide oben weit, unten eng, Uterus mascu-
linus vorhanden, aber keine Prostata. Penis hypospa-
diaeus, Scrotum gespalten, Labia minora vorhanden.
88. Shattock („A male foetus showing reptilian
characters in the sexual ducts", Journal of Pathology
and Bacteriology, July 1895, 111, S. 237). Sektionsproto-
koll: Ektopia vesicae urinariae, Hernia umbilicalis, rechte
Niere verlängert, das rechte Vas deferens eröflfnet sich
in den rechten Ureter. Persistenz der Müllerschen
Gänge, welche unten nach außen sich eröffnen. Hoden
in der Bauchhöhle.
89. J. Christian Stark (Neues Archiv für Geburts-
hilfe, Jena, 1803, Bd. II, S. 544) beschrieb die Nekropsie
eines 27jährigen Mannes: Man fand neben dem Hoden,
an Stelle eines Ovarium liegend, einen wohlgebildetea
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— 264 —
Uterus, die andere Geschlechtsdrüse, von Bauchfell über-
zogen, soll vermutlich ein Ovarium gewesen sein (letztere
Vermutung dürfte wohl unbegründet sein, zum mindesten
aber willkürlich).
90. Steglehner (1807). Kryptorchismus: Neben-
hoden vorhanden, die Vasa deferentia liegen dem Uterus
an. Uterus von eiförmiger Gestalt, die Vagina mündet
in capite gallinaginis urethrae und endet oben blind.
Prostata vorhanden. Penis hypospadiaeus.
91. Stimson (siehe meine Arbeit „Chirurgische
Überraschungen auf dem Gebiete des Scheinzwitter-
tums", S. 134 des Separatabdruckes) exstirpierte bei
einem 48jährigen, zum zweiten Male verheirateten Neger,
Vater eines Sohnes, eine Kryptorchis sarcomatosa und
fand in der Bauchhöhle einen Uterus bicornis von mitt-
lerer Größe mit beiden Tuben. Das Verhältnis des
Uterus zum Beckenboden konnte sub operatione nicht
untersucht werden; nur der rechte Hoden lag in scroto,
Penis und Scrotum normal.
92. Stonham („Complex or vertical Hermaphro-
dism", Transactions of the Pathological Society of Lon-
don, British Med. Journal, 1888, I, S. 416). Tod eines
Kindes nach Hemiotomie. Äußere Geschlechtsteile männ-
lich, aber Kryptorchismus und teilweise Hypospadie, Pro-
stata vorhanden. Man fand eine Vagina, einen Uterus
bicornis mit beiden Tuben; die Hoden und Nebenhoden
lagen an Stelle der Ovarien, keine Samenbläschen ge-
funden.
93. H. Ströbe (siehe meinen Aufsatz „Chirurgische
Überraschungen auf dem Gebiete des Scheinzwitter-
tums", Gruppe IV, Fall 40, Fig. 20 u. 21) beschrieb ganz
vorzüglich eine sehr lehrreiche Nekropsie eines 63jährigen
Mannes, infolge von Carcinoma oesophagi verstorben.
Normale äußere männliche Genitalien, aber beiderseits
Kryptorchismus. In der Bauchhöhle ein gut ausgebildeter
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Uterus mit allem Zubehör ^ die Hoden an Stelle der
Oyarien liegend. (Siehe die Abbildungen.) Die Vagina
mündete in capite gallinaginis urethrae masculae. Die
Yasa deferentia, welche in den seitlichen üteruswan-
dungen nach abwärts verliefen^ mündeten an normaler
Stelle, Samenblasen Torhanden. Ströbe vermutet, die
von ihm in utero gefundene gelbe, teigige Masse könnte
von Blut abstammen, da sie von Salzsäure und Ferro-
•cjankalium blau gefärbt wurde. Der Mann war lange
kinderlos verheiratet. Leider nichts bekannt darüber,
ob Erektion, Pollutionen, Menstruation vorhanden ge-
wesen.
94. Thiersch (siehe Schmorl, „Ein Fall von Herm-
-aphroditismus", Virchows Archiv, Bd. CXI, 1888,
S. 229 — 244) versuchte an einem 22 jährigen Kunst-
schüler eine Plastik bei peniscrotaler Hypospadie, wo
rechterseits ein Leistenbruch vorlag. Unterhalb desselben
Hoden und Nebenhoden getastet, linke Hodensackhälfte
leer. Linkerseits vermutete Thiersch einen Hoden in
•einer LeistenansChwellung, machte den Bruchschnitt und
amputierte ein 5 cm langes Gebilde von 2 cm Dicke.
Tod an Peritonitis: Man fand bei der Nekropsie einen
Uterus bicomis und eine Vagina; der Utero vaginalkanal
15 cm lang. Das amputierte Stück aus der linken Weiche
war das periphere Ende der linken ektopischen Tube
mit zwei kleinen Cysten. Das abdominale Ende der
rechten Tube lag im rechten Leistenkanale, die rechts-
seitige Hernie enthielt das Netz. Bei dem rechtsseitigen
Hoden fehlten Nebenhoden und Vas deferens. Kryptor-
chismus sinister bei hochgradiger Entwickelung der
Müllerschen Gänge. Die Vagina mündete in die Harn-
röhre.
95. Vaughan (New-York Medical Journal, 1891,
VoLV, S. 125) beschrieb einen 21jährigen Neger, welcher
männlichen Geschlechtsdrang empfand. Hypospadiasis
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peniscrotalis, Stimme, Brüste, Becken weiblich, Mons-
Veneria fett, in der rechten Hälfte des gespaltenen
Sero tum zwei Körperchen über einander gelegen, deren
oberes allmonatlich anschwoll und alsdann druckempfind-
lich und schmerzhaft wurde. lüeine Schamlippen vor-
handon. Per rectum tastete man drei härtere Gebilde,
deren mittleres man für einen Uterus ansprach. In dem
gespaltenen Scrotum fand man keine Yaginalmündung.
Man beobachtete aber eine dreitägige Blutung aus der
Harnröhre und es gelang endlich, von der Harnröhren-
öfihung aus, welche also wohl die Ofinung des Sinu&
urogenitalis war, zwischen Harnblase und Mastdarm in
den Uterus einzudringen. Die Vagina war sehr eng. In
diesem Falle, wo man eine periodische HamröhrenblutuDg
bei einem Pfanne, der wirklich männlichen Geschlechts-
drang hatte, sah, dürfte man eo ipso geneigt sein, zu ver-
muten, daß diese Blutungen zufällige waren, und doch
macht der spätere Untersuchungsbefund es in hohem
Grade wahrscheinlich, daß dieser Neger einfach ein ver-
kanntes Weib war mit Atresia vulvae bis auf die Ofihung
des Canalis urogenitalis und eine Klitorishypertrophie.
Die im Becken getasteten Gebilde wurden für Uterua
und Zubehör angesprochen.
96. Virchow („Vorstellung eines Hermaphroditen*',
Berliner klinische Wochenschrift, 1872, Nr. 49, S. 585)
beschrieb hier die berühmte Katharina, den späteren
Karl Hohmann, für mich die allermerkwürdigste Be-
obachtung von Zwittertum beim Menschen. Die Hebamme
hatte gleich nach der Geburt das Kind für ein Mädchen
erklärt, obgleich das Genitale nichts Mädchenhaftes darbot,
sie schämte sich in der Folge dieser Bestimmung so,.
daß sie von Mellrichstadt fortzog. Katharina erreichte
im 15. Jahre die Eeife, es stellten sich Pollutionen ein
und sie begann alsbald mit W^eibern zu kohabitieren.
Die Immissio penis blieb aber eine unvollständige wegen
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Abwärtskrümmung des Gliedes; die Ejakulation erfolgte
stets sehr schnell. Bis zum 20. Jahre verriet sich nur
das männliche Geschlecht, später aber traten die an-
geblich menstruellen Blutungen ein und zwischen dem
20. und 30. Jahre zeigte sich Colostrum in den Brüsten.
Damals begann Katharina weiblichen Geschlechtsdrang
zu empfinden und kohabitiertejetzt mit Männern. Während
eines solchen Beischlafes hatte sie selbst keine Erektion,
auch hatte sie mehr Geschlechtsgenuß beim Coitus mit
Frauen. Der männliche Geschlechtsdrang war bei ihr
am stärksten in den ersten 2 — 3 Tagen nach der Periode.
Diese Periode, vom 20. — 30. Jahre regelmäßig, soll dann
seltener geworden sein, aber bis zum 42. Jahre gedauert
haben. Katharina ist von den hervorragendsten Spezia-
listen untersucht worden und wurde ihr Geschlecht von
dem einen als männlich, von dem andern als weiblich be-
zeichnet.
Vircho w konstatierte ganz zweifellos normales Sperma
der Katharina, welche mehr als 40 Jahre als Frau gelebt
hatte; dann heiratete sie in New-York als Mann und soll
einen Sohn gezeugt haben. Penis hypospadiaeus, rechter-
seits Hoden, Nebenhoden und Samenstrang in dem ge-
spaltenen Scrotum getastet. Das Scrotum war aber nur
in seiner oberen Hälfte gespalten; unterhalb der Harn-
röhre mündete die Vagina, durch die der untersuchende
Finger eine Portio vaginalis uteri tasten konnte, als
Katharina, zur Zeit 40 Jahre alt, untersucht wurde.
Der linke Hoden lag unterhalb der äußeren Öffnung des
Leistenkanales. Katharina starb 1881 in New-York als
Mann verheiratet.
V. Franqu6, v. Scanzoni, v. Eecklinghausen
garantierten dafür, daß die von Katharina gemachten An-
gaben von regelmäßigen periodischen Blutausscheidungen
aus dem Genitale auf strikter Wahrheit beruhten, die
Blutungen dauerten jedesmal 2 Tage und war das Blut
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mit Schleim vermischt. Alle diese Autoren behaupten,
das Blut sei aus der Harnröhre ausgeflossen. Friedreich
konstatierte mikroskopisch, daß menschliches Blut ge-
funden wurde, also kein Betrug vorlag. Virchow sagt,
die Blutungen seien nicht absolut periodische gewesen,
sollen sich aber von Zeit zu Zeit wiederholt haben.
Wenn die menstruelle Blutung einer Eireifung entspricht,
wo soll man hier den Eierstock suchen? Schnitze be-
hauptete, es sei ihm gelungen, im kleinen Becken ein
Gebilde zu tasten, das er für ein Ovarium ansprach,
welches relativ an richtiger Stelle liegen sollte. Virchow
und Friedreich konnten diesen Körper nicht tasten.
Eigentlich befand sich bei Katharina unterhalb der
Basis des hypospadischen Penis die Mündung des Canalis
urogenitalis, des gemeinsamen Ausführungsganges für
Harnröhre und Vagina. Keine Samenblasen und keine
Prostata getastet, dagegen die linke Tube angeblich.
Mammae stark entwickelt. Bezüglich aller anderen De-
tails verweise ich auf meinen Aufsatz „Chirurgische
Überraschungen auf dem Gebiete des Scheinzwittertumes^',
1832, S. 175 des Separatabdruckes.
In diesem hochwichtigen Falle ist also normales
Sperma konstatiert, was nach den heutigen Begriffen ge-
nügen sollte, um männliches Geschlecht zweifellos zu
behaupten. Wie sind nun jene sicher festgestellten
periodischen Genitalblutungen zu erklären, die sich
ziemlich regelmäßig vom 20. — 30. Jahre wiederholten,
später seltener, aber bis zum 42. Jahre? Stammte das
Blut aus dem Uterus? Besaß Katharina wirklich außer
den Hoden auch Ovarien, und obendrein funktionsfähige
Ovarien mit statthabender Ovulation?
Bezüglich Katharina Hohmann gibt Ahlfeld an, sie
habe stets 3 Tage vor Beginn der angeblichen Periode
Nasenbluten gehabt und sollte sich betrugshalber mit
diesem Blute die äußeren Genitalien beschmiert haben,
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— 269 —
dagegen sprechen sich sämtliche anderen Forscher dafür
aus^ daß Katharina nicht betrog , sondern daß sie wirk-
lich 22 Jahre lang alle 3 — 4 Wochen eine mehrtägige
Genitalblutung aus dem Canalis urogenitalis hatte. Diese
Hämaturie war von Molimina menstrualia begleitet und
erschien auch Colostrum in den Brüsten, v. Franquö
wagt es nicht, zu entscheiden, ob diese genitalen Blutungen
von einer etwaigen Ovulation abhingen ^ was also die
Gegenwart von Ovarien voraussetzen würde. Andere
Forscher geben an, das ausgeschiedene Blut hätte aus der
Blasenschleimhaut gestammt; denn einen Uterus konnte
man absolut per rectum nicht konstatieren.
In einem von Professor v. Eecklinghausen,
Professor v. Kölliker und v. Scanzoni am 3. De-
zember 1866 in Würzburg unterschriebenen ünter-
suchungsprotokoUe heißt es unter anderem: ,^ Jedenfalls
ist von größtem Interesse der Nachweis, daß in männ-
licher wie weiblicher Richtung Funktionen vorhanden
waren. Eine von ihr entnommene Flüssigkeit, welche im
Jahre 1863 Herr Gerichtsarzt Vogt untersuchte, ergab
die Anwesenheit von Spermatozoen. Wir Unterzeichnete
konnten in diesen Tagen wiederholt die Entleerung von
Blut aus der Harnröhre beobachten, welche 2 Tage an-
dauerte und auch nach der mikroskopischen Unter-
suchung durch die vollkommen frische Beschaffenheit
der Blutkörperchen und die Beimischung von Schleim
eine menstruale Natur bot." Ebenso hat später auch
Friedreich sowohl Spermatozoen im Ejakulat gefunden,
als auch die Blutungen ex Urethra bestätigt, welche sich
periodisch wiederholten. Friedreich vermutete bei
Katharina Hohmann die Gegenwart eines Uterus mascu-
linus, weil die Sonde an der unteren Harnröhren wand
entlang gleitend etwa einen Zoll zeutralwäi'ts von der Ure-
thralmündung in ein sackartiges Gebilde eintrat. Schnitze
konnte einen Uterus nicht palpieren. v. Franqu6 hielt
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— 270 —
die periodischen Blutungen bei Katharina Hohmann
positiv flir eine Art Menstruation wegen ihrer typischen
periodischen Regelmäßigkeit,22Jahre]angalle3 — 4Wochenl,
und wegen des gesamten Sjmptomenkomplexes, welcher
diese Blutungen begleitete^ Molimina menstrualia und
Colostrumausscheidung aus den BrQsten.
97. Voll („Über eine seltene Mißbildung*S Ver-
handlungen der physikalisch -medizinischen Gesellschaft
in Würzburg, N. F., Bd, XXIII). Fötus von 40 cm
Länge mit Atresia ani et urethrae^ rudimentärem Penis
und Uterus masculinus. Zwischen Mastdarm und Harn-
blase bestand eine kanalförmige Kommunikation.
98. Vrolik („Tabulae ad illustrandam embryogenesim",
Lipsiae, 1854, Tab. XCIV, S. 95) beschrieb die Nekropsie
eines Individuums, welches ^ 1788 geboren, als Mädchen
getauft worden war; später wurde die Person für einen
Mann erklärt und lebte in männlicher Stellung bis zu
dem 1846 erfolgten Tode. Männlicher Bart, Hypospa-
diasis peniscrotalis, Vagina und Urethra münden in den
Canalis urogenitalis, haben also eine gemeinsame Aus-
mündung unterhalb des hypospadischen Penis. Die
enge Vagina geht nach oben zu ohne ausgesprochene
Grenze in den Uterus über. Die Tuben haben keine
abdominalen Ausmündungen, linkerseits vrill Vrolik
unterhalb des peripheren Tubenendes sowohl einen
Hoden als ein Ovarium gefunden haben, rechterseits
lagen zwei ebensolche Gebilde in einem Scrotalbruch;
Samenblasen fehlten. Die Hoden enthielten keine Samen-
kanälchen, sondern erschienen cystisch mit einer dem
Samen ähnlichen Flüssigkeit gefüllt. Vasa deferentia
wohl gebildet; das Mikroskop konnte in den vermeint-
lichen Ovarien keine Graafschen Follikel konstatieren.
Es dürfte sich wohl um einen männlichen Hypospaden
handeln, mit einseitigem Kryptorchismus und hoch-
gradiger Entwickelung der Müll ersehen Gänge.
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— 271 —
99. Weber (J. Nep. Eusts Magazin für die ge-
samte Heilkunde, Bd. XIV, Berlin 1823, S. 535) be-
«chrieb die Sektion einer achtmonatlich geborenen Frucht:
Labium leporinum, Abdomen fissum, Kryptorchismus,
Nierenanomalie; Penis sehr groß, zwischen Blase und
Mastdarm lag ein Uterus, der in den Blasenhals mündete.
Uterus bicomis mit einer vier Linien langen und eine
Linie breiten Höhle. Ein Sonde draug von obenher in
den aufgeschnittenen Uterus eingeführt in den Blasen-
hals resp. die Pars prostatica urethrae ein. Jederseits
vom Uterus lagen Hoden und Nebenhoden; die Vasa
deferentia liefen abwärts längs der Seitenkanten des
Uterus und verloren sich in der Tiefe.
100. C. W. J. West ermann (,»0^6^ een geval van
Hermaphroditisme'S NederL Tijds. v. Geneesk., 1902,
2. Deel, Nr. 11). Die Sektion eines 30jährigen infolge
Ton Appendicitis verstorbenen Mädchens ergab männliches
Geschlecht trotz Gegenwart von Uterus und Vagina. Die
Mutter war stets über das Geschlecht dieser Tochter in
Zweifel gewesen wegen mangelnder Periode. Hypospadiasis
peniscrotalis. Mangel der Brustdrüsen, Vaginalmündung
von Hymen umrahmt. Männliche Schambehaarung,
Labia majora auch an der Innenfläche behaart, leer.
Linke Tube 7 cm lang, mit Fimbrien am freien Ende,
Ligamenta rotunda vorhanden, sowie die Ligamenta lata.
An Stelle, wo das Ovarium liegen sollte, nur ein Gebilde
aus dichtgedrängtem Bindegewebe bestehend mit einigen
Blutgefäßen und einigen blutgefüllten Hohlräume^!
Keine Spur von Follikeln oder Pflügerschen Schläuchen.
Uterus 5 cm lang, Vagina 8 cm. Der gesamte Utero-
vaginalkanal war für eine Sonde viabel. Die rechte
Tube war im Gegensatz zur linken 22 cm lang, aber
nur im peripheren Anteile f&r eine Sonde viabel. Eechter-
seits im Leistenkanale ein offener Processus vaginalis
peritonaei und darin ein bohnengroßer Hoden mit Tunica
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— 272 —
albuginea und zahlreichen Tubuli contorti. Keine Sper-
matozoiden geAinden. In mesosalpinge fand man rechter-
seits die entartete Epididymis. In der Beschreibung ist
nichts erwähnt von etwaigen periodischen Genitalblutungen^
Tormina^ Ejakulation usw.
101. Edgar Willett („Transverse hermaphrodism
in adult man", Lancet, 10. November 1894). Ein
44jähriger Mann, Vater von 2 Kindern, verstarb an
Apoplexie. Bei der Nekropsie fand man einen zwischen
2 Blättern des Bauchfells liegenden rudimentären Uterus
sowie auch unterhalb des Uterus eine Vagina, ßas
Scrotum enthielt jederseits eine Tunica vaginalis, aber
keine Hoden; letztere lagen kryptorchistisch an Stelle
der Ovarien auf der Bückseite des Ligamentum latum.
Die Vasa deferentia liefen abwärts und verloren sich in
der Tiefe seitlich von der Vagina; ihre Ausmündungen
wurden nicht gefunden. Nebenhoden vorhanden. Die
mit Hydatiden versehenen Tuben ohne Lumen verliefen
vom Uterus zu dem Lobus major eines jeden Neben-
hodens. Uterus ohne Lumen. Die nach unten zu sehr
verengte Vagina mündete mit feiner Ofl&iung in parte
prostatica urethrae. Prostata normal, aber keine Samen-
blasen gefunden. Becken« weiblich, Hoden mikroskopisch
erhärtet. Von etwaigen Molimina menstrualia anam-
nestisch nichts angegeben.
102. Winkler („Über einen Fall von Pseudoherma-
phroditismus masculinus internus'S In.-Diss., Zürich, 1898,
siehe meinen Aufsatz „Chirurgische Überraschungen auf
dem Gebiete des Scheinzwittertums'', im Jahrgang 1903
dieser Zeitschrift, Gruppe III, Fall Nr. 13). Bei der
Sektion eines 52jährigen Marines, verstorben an Perito-
nitis nach Bauchschnitt wegen Darmunwegsamkeit, kon-
statierte Ribbert die Gegenwart eines Uterovaginal-
kanals von 17 cm Länge. Uterus bicornis mit Vagina.
Das periphere Ende der linken Tube lag im linken
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— 273 —
LeistenkanaL Uterushöhle 8 cm lang^ Vagina 9. Das
linke Vas deferens mündete in die Vagina, die linke
Samenblase lag seitlich von der Vagina. Fandas uteri
2 cm breit Eryptorchismus. Die Hoden lagen an der
Stelle, wo normal die Ovarien liegen. Die Vagina mün-
dete in parte prostatica urethrae, in capite gallinaginis.
Penis klein^ aber normal gebildet. Das periphere Ende
der Tube lag der Bauchwand an, hatte kein Ostium,
keine Fimbriae, nur das linke Ligamentum rotundum
Torhanden (siehe auch die Abbildung 1. c.]. Spermato-
zoiden wurden nicht gefunden. Der Mann war kinderlos
verheiratet gewesen. Leider ist anamnestisch nichts be-
kannt, ob etwaige Molimina vorgelegen hatten.
103. Zahorski (siehe meinen Aufsatz „Chirurgische
Überraschungen auf dem Gebiete des Scheiuzwittertums^^,
dieses Jahrbuch, 1903, Bi V, S. 146). Ein 25 jähriges
Dienstmädchen erlag einem Sarkom einer Geschlechts-
drüse. Niemals Menstruation, Allgemeinaussehen, Stimme,
Brüste, Behaarung durchaus weiblich. Rudimentärer
Uterus kaum 2 cm lang. Klitoris, Sy, cm lang, sah aus
wie ein hypospadischer Penis. Vagina vorhanden; die
rechte Geschlechtsdrüse war zu einem wahrscheinlich
sarkomatösen Tumor entartet, die linke Geschlechtsdrüse^
in der Bauchhöhle liegend, wurde makroskopisch für ein
Ovarium angesehen, aber mikroskopisch nicht untersucht.
Geschlecht unentschieden. Entweder handelte es sich
um Amenorrhoe bei einem weiblichen Scheinzwitter oder
aber um einen männlichen Eryptorchisten mit hoch-
gradiger Entwicklung der Müll ersehen Gänge und
Hypospadiasis peniscrotalis. (?)
Nicht aufgenommen in diese Zusammenstellung, weil
allzu zweifelhaft in der Deutung der Geschlechtsdrüsen,
sind die Beobachtungen von Baccaloglu und Fos-
sard, Borkhausen, Chevreuil, Gast, Howitz,
Keiffer, 1 Fall von Obolonsky-Wrany, Rudolphi,
Jahrbuch VI. 18
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— 274 —
V. Säxinger, Schmidt, Schrell, Sorel und Chörot,
Towsend, Unterberger, Varole (Varoler).
In den beiden Fällen von v. SalÄn und von Qarr6
(Simon) bestand notorisch je eine Zwitterdrüse, sodaß
hier nicht von männUchem oder weiblichem Geschlecht
in sensu strictiori gesprochen werden kann.
Die, was die Deutung einer Geschlechtsdrüse an-
betrifft, fraglichen Fälle sind mit einem Fragezeichen
ausgestattet
Sehr interessant ist die Tatsache , daß verhältnis-
mäßig häufig der Uterus simplex uni- oder bicomis oder
eine Tube bei männlichen Scheinzwittern in inguinaler^
inguinoscrotaler oder inguinolabialer Ektopie sich befand,
also in einer Leistenhernie lag, so in den 14 Fällen von:
Barkow, Uterus und ein Hoden in einem Leisten-
bruche.
Billroth, Uteruskörper, eine Tube und eine cystisch
degenerierte Geschlechtsdrüse in einem rechtsseitigen
Leistenbruche.
Bö ekel, Uterus und eine Tube in einem Leisten-
bruche und Hoden.
Carle, Uterus, linke Tube und linker Hoden in
einem Leistenbruche.
Derveau, Uterus, beide Tuben und beide Hoden
in einem Leistenbruche.
Fantino, Uterus, beide Tuben und beide Hoden in
einem Leistenbruche.
Fillippini, Uterus, rechte Tube und rechte Ge-
schlechtsdrüse in einem Leistenbruche.
Garr6, rechte Tube, Ovotestis, Parovarium und
Epididymis in einem rechtsseitigen Leistenbruche.
Guldenarm, Hom eines Uterus bicomis, eine Tube
und ein Hoden in einem Leistenbruche.
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— 276 —
Merkel, Uterus und ein Hoden in einem Leisten-
bruche.
Pozzi, ein Hörn eines Uterus bicornis und Hoden
in einem Leistenbruche.
Eydygier (junior), Uterus und ein Hoden in einem
Leistenbruche«
Sänger, Uterus, eine Tube, eine Parovarialcyste
und ein Hoden in einem Leistenbruche.
Thiersch, linke Tube eines Uterus bicornis bei
linksseitigem Eryptorchismus in einem Leistenbruche.
Wie schon Kocher (1. c.) 1887 es betonte, steht die
Gegenwart eines Uterus beim Manne in kausalem Nexus
mit ein- oder beiderseitigem Eryptorchismus, indem sie
rein mechanisch einem oder beiden Hoden den Descensus
unmöglich macht, wie dies auch Siegenbeck van Hen-
kel om sehr klar erwiesen hat (siehe meine Arbeit „Chirur-
gische Überraschungen auf dem Gebiete des Scheinzwitter-
tums", 1903, G;ruppe III, Fall 8). In der Tat ist die
Koinzidenz von Pseudohermaphroditismus masculinus in-
ternus mit ein- oder beiderseitigem Krjrptorchismus ver-
hältnismäßig oft angegeben.
Uterus beim Manne
mit einseitigem Kryptorchismus resp. Descensus
incompletus.
19 Fälle von: Nr. 4. Aranyi-Langer, Nr. 8. Bar-
kow, Nr. 11. Berthold, Nr. 12. Betz, Nr. 30. Floth-
mann, Nr. 31. Foges, Nr. 34. Godard, Nr. 39. Gulden-
arm, Nr.47. Kellner, Nr.53. Leuckart, Nr.67. Merkel,
Nr. 68. H. V. Meyer, Nr. 72. Odin, Nr. 84. Rydygier,
Nr. 85. Sänger, Nr. 91. Stimson, Nr. 94. Thiersch,
Nr. 96. Virchow, Nr. 98. Vrolik.
18
*
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— 276 —
Uterus beim Manne
mit beiderseitigem Eryptorchismus resp.
Descensus incompletus.
56 Fälle von: Nr. 2. Ackermann, Nr. 6. Arnold,
Nr. 7. Bannon, Nr. 8. Barkow, Nr. 10. Beck, Nr. 18.
Brühl, Nr. 19. Carle, Nr. 20. Colombo, Nr, 21. Der-
veau, Nr. 22. Dienst, Nr. 23. Durham, Nr. 26. Feiler,
Nr. 27. Feldmann, Nr. 29. Fjodorow, Nr. 82. von
Franqu6, Nr. 86. Gruber, Nr. 40. Harvey, Nr. 41.
Henriette, Nr. 42. Heppner, Nr. 45. Jardine, Nr. 49.
Klein, Nr. 50. Kocher, Nr. 51. Krull, Nr. 52. Langer,
Nr. 54. Leuckart, Nr. 56. Luksch, Nr. 58. Lilien-
feld, Nr. 60. Marchand, Nr. 61. Vrolik, Nr. 62. Mayer,
Nr. 63. Mayer, Nr. 64. Mayer, Nr. 65. Mayer, Nr. 66.
Mayer, Nr. 69. Moreau(?), Nr. 70. Nuhn, Nr. 71. Obo-
lonsky, Nr. 74. Paton, Nr. 75. Pelvet, Nr. 76. Petit,
Nr. 77. Pfannenstiel (?), Nr. 78. Pinel, Nr. 80. Prim-
rose, Nr. 82. Roberts, Nr. 83. Ruhräh, Nr. 87. Schnei-
der-Sömmering, Nr. 88. Shattock, 'Nr. 89. Stark,
Nr. 90. Steglehner, Nr. 92. Stonham, Nr. 98. Ströbe,
Nr. 99. Weber, Nr. 100. Westermann, Nr. 101. Wil-
lett, Nr. 102. Winkler, Nr. 103. Zahorski.
Zusammen also finden sich 75 Fälle von Koinzidenz
eines Uterus beim Manne mit ein- oder beiderseitigem
Kryptorchismus resp. Descensus incompletus, es liegen
jedoch auch einige wenige Fälle vor, wo trotz Gegen-
wart eines Uterus der volle Descensus beiderseits er-
folgt war.
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58 Beobachtungen
von periodischen genitalen Blutungen
menstraellen Anscheins, psendomenstrn-
ellen Blutungen, Menstruatio vicaria,
Molimina menstrualia usw. bei Schein-
zwitt«rn.
Mitgeteilt von
Dr. Franz ron Neugebauer,
Vorstand der gynikologisehen Abteilung des ETangelischen Hospitals in Warschau.
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Es sind in dieser Zusammenstellung nicht sämtliche
Fälle berücksichtigt^ wo sogenannte Molimina menstrualia
angegeben wurden, sondern nur die hervorragendsten.
Ganz besonders sei auf die Beobachtungen von Messner
und von Yirchow aufmerksam gemacht , sowie auf die
Deutung der Molimina menstrualia durch Suggestion im
Falle Hengges.
1. Abel (y^Gin Fall von Hermaphroditismus masculinus
mit sarkomatöser Kryptorchis sinistra", Virchows Archiv,
CXXVI, Berlin, 1891, siehe meinen Aufsatz „Chirur-
gische Überraschungen auf dem Gebiete des Schein-
zwittertums*', dieses Jahrbuch, 1903, Gruppe IV, FJJl 1).
Tod der 33 jährigen Albertine R. an Peritonitis, 36 Stunden
nach vaginaler Paracentese eines Bauchhöhlentumors,
irrtümlicherweise als Haematometra angesprochen, der
sich als Sarcoma kryptorchidis sinistrae bei der Sektion
erwies. Patientin, früher stets gesund, hatte ihre Pe-
riode allmonatlich 3 Tage lang ohne Beschwerden
vom 20. Jahre an. Die letzte Regel fand statt
14 Tage vor Aufnahme in die Klinik. Patientin
verlangte Operation behufs Entfernung eines Bauchhöhlen-
tumors, weil sie, verlobt, von ihren Freundinnen ge-
hänselt wurde wegen des stetig an Größe zunehmenden
Leibes. Vagina blindsackartig in der Tiefe geschlossen,
vom unteren Rande der Urethralmündung hängt ein bohnen-
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— 280 —
großer ürethralpolyp herab. Tumor gleicht an Größe
einem 8 Monate schwangeren Uterus. Vulva sieht aus
wie bei einem 12jährigen Mädchen, ohne jede Spur von
Vergrößerung der Klitoris; große und kleine Schamlippen
normal. Hymen vorhanden. Der rechte Hoden und ein
ihm aufsitzendes Leiomyom liegen im rechten Leisten-
kanal, letzteres wohl aus dem Nebenhoden entstanden.
Abel vermutet, daß die von Patientin als Men-
struation aufgefaßten allmonatlichen dreitägigen
Blutungen durch den Harnröhrenpolypen veran-
laßt waren. Der Polyp war damals operativ entfernt
worden. Abel gibt an, man habe im Speculum eine
kleine Portio vaginalis uteri gesehen mit Muttermunds-
grübchen.
2. C. W. Allen („Report of a case of psychosexual
Hermaphrodism", Medizinische Akademie in New-York,
9. m. 1897, siehe Medical Record, 8. V. 1897, From-
meis Jahresbericht für 1897, S. 930). Viola Estella
Angell bat um Aufnahme in das Institut für moralisch
gefallene Weiber in der Florence Mission. 1874 in
Nuova Scotia geboren als das letzte von 17 Kindern
ihrer' Eltern, erzählte die Person, die Mutter sei zur
Zeit der Schwangerschaft erschrocken infolge der Ver-
folgung durch einen fremden Mann; der Vater aber habe
einen teuflischen Charakter gehabt. Bis zum 14. Jahre
wurde Viola als Mädchen erzogen, dann aber als Knabe,
angesichts verschiedener Veränderungen in ihrem Äußeren
und angesichts der Ansicht der Mutter, Viola werde
leichter als Mann ihr Fortkommen finden denn als
Mädchen. Angell wurde damals für drei Jahre in einer
männlichen Schule untergebracht in Truro, wo er eine
sehr unangenehme Situation hatte, da er wegen seines
weiblichen Aussehens von den Mitschülern ausgelacht
und verspottet wurde; man nannte ihn nicht anders als
Sissy! Sogar Passanten auf der Straße hielten den
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— 281 —
Knaben für ein verkleidetes Mädchen. Vom 14 Jahre
an hatte Angell alle vier Wochen eine drei bis vier
Tage andauernde Blutung aus dem Mastdarme;
diese periodische Mastdarmblutung wiederholt
sich auch heute noch im Alter von 23 Jahren.
Von Zeit zu Zeit fließt das Blut statt aus dem
Mastdarme aus der Harnröhre aus. Zu dieser
Zeit hat Angell besonders starke Schmerzen^
gegen welche die Ärzte verschiedene Antidys-
menorrhoica anwendeten mit gutem Erfolge. Schon
ein Jahr vor dem Auftreten dieser Blutungen litt Angell
an Bleichsucht, Kopfschmerzen und wurde öfters ohn-
mächtig und hustete stark, in den letzten drei Mo-
naten hatte er jedesmal vor Auftreten der perio-
dischen Blutungen starke Leibschmerzen. Der
Harn soll stets durch eine Hamröhrenmündung, in dem
Penis gelegen, abgegangen sein und gleichzeitig per
a.num.
Angell empfand stets nur rein weiblichen Geschlechts-
drang ohne Spur einer Erektion des Qeschlechtsgliedes
oder einer Ejakulation. Angel! hat mehrmals kohabitiert,
aber stets nur mit Männern, empfand niemals den Drang
zu einer Kohabitation mit Frauen.
Angell konnte es nicht ertragen, ständig zu Hause
in der Rolle eines Mannes zu leben, da er nur flir weib-
liche Beschäftigungen Sinn hatte; er verließ also das
Elternhaus und vermietete sich als Dienstmädchen und
bat schließlich um Aufnahme in jenes weibliche Asyl.
Oewicht 150 Pfund, Körperhöhe 5 Fuß und 10 Zoll, Ge-
sicht nach dem Typus von Goethe infolge der Frisur
des struppigen Haupthaares, Barthaare offenbar ausge-
rissen, Gesichtsausdruck weiblich, Stimme Sopran. Die
rechte Brust ist größer als die linke, Hand und Fuß
einerseits männlich gebildet, andererseits weiblicL Becken
männlich. Charakter weiblich, ebenso die Neigungen.
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— 282 —
Verstand mittelmäßig entwickelt, große Liebe zur Poesie
und Musik, Hysterie. Mangel eines Kremasterreflexes.
Sehr langer Damm. Aus der Analöffnung entleerte
sich bei der Aufnahme Blut; nach Angaben Angells
handelte es sich um die letzten Tage einer Menstrua-
tionsperiode. Der Sphincter ani internus, ver-
dickt, erinnerte an eine Portio vaginalis uteri. Es
gelang nicht, eine Kommunikation zwischen Mastdarm
und Harnblase zu konstatieren. Man tastete keine Spur
von inneren weiblichen Geschlechtsorganen. Man hatte
kaum Gelegenheit, Angell einige Tage lang zu beobachten,
da er aus Furcht, man werde ihn wieder für einen Mann
erklären und männlich .kleiden, sofort aus der Anstalt
entfloh. Er hinterließ nur einen Brief, in dem er er-
klärte, er werde gutwillig männliche Kleider anlegen
und schon irgendwie einen Modus finden, sich einzu-
richten.
3. Arnaud („Sur les Hermaphrodites", Dissertation,
Paris, 1766) zitiert S. 308 eine Beobachtung: M^moires
de TAcadömie des Sciences de Paris, ein Individuum
betreff'end mit normalem Peois und Kryptorchismus und
regelmäßiger allmonatlicher Blutentleerung aus
der Harnröhre. — Es dürfte sich wohl hier um einen
weiblichen Scheinzwitter gehandelt haben. (?)
4. Billroth (siehe Klotz, Nr. 13 in der vorstehenden
Kasuistik eines Uterus bei hodentragenden Individuen).
Vom 16. Jahre an Größenzunahme eines rechtsseitigen,
das Corpus uteri enthaltenden Leistenbruches, gleichzeitig
von dieser Zeit an alle vier Wochen periodische
Schmerzen im Kreuz und diverse Molimina von je
drei- bis viertägiger Dauer, gleichzeitig entleerte
sich jeden Monat 4Tage lang Blut aus einer Fistel
in den Hautdecken der üterushernie und durch
die Harnröhre. Seit zwei Jahren steigerten sich diese
Molimina zu einer enormen Intensität, daueiten jedesmal
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— 283 —
vier bis zehn Tage und trotzten jeder Behandlung, sodaß
deshalb J. operative Abhilfe suchte. An dem postope-
rativen Präparat zeigte sich die üterushöhle mit braun-
roter Masse (Blut und Zylinderepithel) erfüllt, die äußere
Fistel hatte in den Uterus geführt. Klotz bezeichnet
die periodischen Blutungen bestimmt als menstruelle und
vermutet, die neben dem üteruskörper in hernia liegende
cystisch entartete Geschlechtsdrüse sei eher ein Ovarium
als ein degenerierter Hoden gewesen.
5. Reuter („Ein Beitrag zur Lehre von dem Herma-
phroditismus", Würzburg, 1885) zitiert eine Beobachtung
von Blackmann aus dem Jahre 1853 (Müllers Referat
in Canstatts Jahrbuch, 1884, Bd. IV, S. 12). Ein 30-
jähriger Mann mit Kryptorchismus soll allmonatlich
aus der Harnröhre Blut entleert haben: Uterus mit
zwei viablen Tuben, angeblich zwei Hoden und zwei
Ovarien gefunden. Prostata normal.
Hoff mann behauptet, dieser Mann sei während einer
solchen Blutung gestorben und man habe die Vagina,
welche sich in urethram eröffnete, mit Blut angefüllt
gefunden.
6. Blondel (siehe meine Arbeit „Chirurgische Über-
raschungen auf dem Gebiete des Scheinzwittertums",
Gruppe V, Fall 8). 45jährige verheiratete Frau, niemals
menstruiert, hatte gleichwohl im Alter von 12 — 13 Jahren
alle Symptome an sich beobachtet, welche dem Eintritt
der Regel vorauszugehen pflegen: Schmerzen in der
Lendengegend, Schweregefühl im Unterleibe, Schwindel-
anfälle, sodaß der Hausarzt 'verschiedene Emmenagoga
anwandte: Senf, Blutegel, Apiol usw. Seit 18 Monaten
verheiratet, leidet die Frau stets sehr beim Beischlaf
wegen Dyspareunie. Hymen rigid und bis jetzt keine
Immissio membri gelungen. Nach einem Sturze aus der
Höhe von 4 m Armbruch und Descensus testiculorum in
die Schamlefzen. Hypospadiasis peniscrotalis, Erektionen
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— 284 —
und Ejakulationen. Vagii^a in der flöhe von 5 cm blind
geschlossen. Die Molimina menstrualia hörten bei
dieser Person, einem verkannten männlichen
Scheinzwitter, zwei Jahre nach ihrem Eintritt
auf, aber sie hatte mensuelle Nasenblutungen im
Alter der Menopause.
T.Bonjour („Pseudohermaphrodisme male'', Oazette
M^d. de Nantes, 1888, S. 95) beschrieb als männlichen
Scheinzwitter ein als Weib lebendes Individuum, das
regelmäßig menstruiert sein sollte nach eigener Aus-
sage und sich sogar eine Zeitlang für schwanger ge-
halten hatte, trotzdem er die Gegenwart von Hoden
nicht konstatieren konnte. Peniscrotale Hypospadie
ohne kleine Schamlippen. Vagina in der Höhe von
4 cm blind geschlossen; nichts von einem Uterus zu
tasten. Das Geschlecht muß hier zweifelhaft bleiben.
Wie aber die regelmäßigen Qenitalblutungen erklären,
wenn kein Uterus vorhanden war?
8. C. J. Borge („En misdannelse-hypospadi", Norsk
Magaz. for Laegevidenskab, 1876, Reihe in, Bd. VI,
S. 342). B. M. 0., 32jährig, irrtümlich als Mädchen er-
zogen bei peniscrotaler Hypospadie, hatte niemals die
Periode, soll aber an Tormina menstrualia ge-
litten haben. Jederseits Hoden, Nebenhoden und
Samenstrang in dem gespaltenen Scrotum tastbar, außer-
dem bestand links ein reponibler Leistenbruch. Der
hypospadische Penis war nur 4 cm lang und 15 mm
dick an der Eichel. Weder Uterus noch Ovarien per
rectum tastbar. Körperhöhe 162 cm. Langes Haupt-
haar, in zwei Zöpfe geflochten. Weibliche, hängende
Brüste, aber welk. Becken, Extremitäten und Stimme
männlich. 0. empfindet weiblichen Geschlechtsdrang und
hat den Beischlaf mit Männern versucht, um „das kennen
zu lernen". Niemals Ejakulation bemerkt, wohl aber
Erektion des Gliedes; sie fragt, ob sie einen 50jährigen
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— 285 -^
Junggesellen heiraten kann. Sie kam zum Arzte wegen
Herzklopfens.
9. Hector Cläre Cameron („Notes on a Gase of
Hermaphrodism", The British Gyn. Journal, February 1904,
S. 347) beschreibt folgende höchst merkwürdige Opera-
tion. Ein 27jähriger Ingenieur, seit drei Jahren kinder-
los verheiratet, meldete sich wegen Schmerzen, deren
Sitz genau der Gegend der Appendix vermiformis ent-
sprach. Der erste Anfall derselben hatte im 13. Lebens-
jahre stattgehabt Patient mußte eine Woche das Bett
hüten. Im 24. Jahre etwa kam ein zweiter Schmerz-
anfall: Die Schmerzen traten ohne Fieber und Schwel-
lung auf und dauerten stets zwei bis drei Tage, dann
war Patient wieder gesund. In der letzten Zeit sind die
Anfälle häufiger geworden, zusammen hatte Patient bis
jetzt etwa 13 oder 14 solcher Anfälle. Man dachte an
Appendicitis , obgleich eigentlich nichts dafür sprach,
außer der Lokalisation der Schmerzen, und fand denn
auch Gameron bei der Operation im Mai 1901 den
Wurmfortsatz ganz gesund aussehend, nur übermäßig
lang. Keine Spur von entzündlichen Erscheinungen ge-
funden. Er trug den Wurmfortsatz ab und Patient
wurde entlassen, kam aber im November wieder, da seit
der Operation sich die Schmerzanfälle regelmäßig einmal
in jedem Monat wiederholt hatten, 24 Stunden dauernd.
Im Dezember hatte Cameron Gelegenheit, Patienten
während einer solchen Krise zu beobachten: Er warf sich
von Schmerzen gequält auf dem Bette hin und her und
sagte, 80 ein Leben lohne sich gar nicht. Kein Fieber,
keine Schwellung, nur Spannung der Bauchdecken in der
rechten Unterbauchgegend. Am 16. XII. 1901 öflFnete
Cameron den Leib in einer Linie parallel dem äußeren
Rande des rechten Musculus abdominis rectus, führte die
Hand in die Bauchhöhle ein und extrahierte einen wohl-
geformten virginalen Uterus, nur etwas schmäler als
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— 286 —
sonst, samt der rechten, mit Fimbrien versehenen Tube
und dem rechten Ovarium, das an der Oberfläche hier
und da kleine Dellen trug. Er resezierte die rechts-
seitigen Adnexa und versenkte den Uterus wieder; linker-
seits konnte er keine Adnexa uteri tasten. Am nächsten
Tage nach der ersten Operation konnte der Mann nicht
harnen und der katheterisierende Arzt entdeckte, daß in
dem Hodensacke, der schlaff und welk herabhing, der
rechte Hoden fehlte. Cameron kam auf die Idee, ob
nicht der kryptorchistische rechte Hoden die Schmerz-
anfälle verursache, und machte die zweite Operation, um
diesen Hoden aufzusuchen. Penis normal gestaltet, aber
eher zu groß als zu klein, mit guten Erektionen und
Retraktion der Vorhaut. Die Brüste erwiesen sich groß,
weiblich, mit tastbarer Drüsensubstanz, erhabenen Brust-
warzen, Areola usw. Die Brüste sollten bei jedem
Schmerzanfall anschwellen und so empfindlich werden,
daß selbst der Druck der Bettdecke nicht vertragen
wurde. Die Frau sagte aus, ihre Ehe sei sehr glücklich
und ihr Mann vollziehe den Beischlaf normal; in früheren
Zeiten vor der Hochzeit wollte er manchmal im Schlafe,
aber selten nur, Pollutionen gehabt haben. Nachdem die
Operation die Existenz eines rechtsseitigen Ovarium kon-
statiert hatte, mußte man wohl annehmen, daß die Ge*
schlechtsdrüse in der linken Hodensackhälfte das ekto-
pische linke Ovarium sei; dagegen sprach jedoch, wie
Cameron schrieb, erstens der Umstand, daß diese Ge-
schlechtsdrüse während der Schmerzattacken nicht an-
schwoll, während sogar die Brüste anschwollen, sowie
daß man eine Epididymis tastete und den Samenstrang.
Per rectum tastete Cameron ein Gebilde, das er für
eine sehr tief liegende Prostata annahm. Das Mikroskop
(Professor Muir) konstatierte Graafsche Follikel in dem
bindegewebszellenreichen Stroma des Ovarium und sogar
ein sklerosiertes Corpus luteum. Muir erklärte mit aller
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— 287 —
Bestimmtheit die entfernte Geschlechtsdrüse für ein Ova^
rium; sonach waren jene monatlich auftretenden heftigen
Schmerzen nichts anderes als Molimina menstrualia,
welche nach der Operation sich nicht wieder einstellten.
Die Tuhe hatte normale Schleimhaut.
In der Beschreibung ist mit keinem Worte irgend
eine periodische Blutung nach außen erwähnt. Der
Fall bleibt rätselhaft, so lange nicht die Natur der
linksseitigen Geschlechtsdrüse festgestellt sein wird —
ob dies je geschehen wird, ist natürlich nicht zu sagen,
da der Mann, falls er sich jetzt beschwerdefrei fühlt,
sich selbstverständlich nicht wieder einer Operation unter-
ziehen wird. Auf Grund der Beobachtung dürfte man
wohl annehmen, daß der Mann kein Mann ist, sondern
ein Weib mit Ausbildung der äußeren Genitalien nach
männlichem Typus, männlicher Behaarung im Gesicht
und am ganzen Körper und labialer Ektopie des linken
Ovarium; dies vermute ich wenigstens.
10. Castellana (siehe meinen Aufsatz „Interessante
Beobachtungen aus dem Gebiete des Scheinzwittertums",
dieses Jahrbuch, 1902). Die 15jährige Carmela Capo-
netto, die sich später als männlicher Scheiuzwitter mit
Hypospadiasis peniscrotalis erwies, mit einer Vagina du-
plex, hatte niemals die Menstruation, wohl aber
jeden Monat periodische Eongestionen zu den
Genitalorganen. Kryptorchismus bilateralis.
11. Centinon (Berliner Klinische Wochenschrift,
1876, Nr. 1). Im Jahre 1875 wurde in Barzelona ein
Eekrut eingezogen, ein Bauer aus der Provinz Cuenza,
und einem Schützenbataillon eingereiht. Da der Mensch
aber für schwerere Arbeit nicht zu gebrauchen war, so
verwandte man ihn im Kasemendienst, schließlich erließ
man ihm die militärische Arbeit ganz und überwies ihm
den Hausdienst bei einem Obersten. Im 17. Jahre
waren regelmäßige allmonatliche Blutungen aus
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— 288 —
dem After eingetreten, welche sich 2 Jahre lang
wiederholten mit gleichzeitigen Leibschmerzen,
Bluterbrechen und Übelkeiten. Gegenwärtig wieder-
holen sich die Blutungen ex ano weniger regelmäßig und
bleiben manchmal selbst zwei Monate lang aus. Schon
die AUgemeinerscheinnng dieses Menschen ist so eigen-
tümUch, daß es schwer zu verstehen ist, wie er zum
Militär genommen werden konnte. Die Ektremitäten
weiblich gerundet, Brüste weiblich, aber mit männlich
flachen Warzen. Langes Haupthaar, sonst fast keine
Behaarung am Körper zu sehen. Penis nicht hjpospar
disch, nur 3 cm lang, kaum 1 cm dick, mit Glans und
Vorhaut Die Eichel kaum halbbohnengroß. Die Harn-
röhrenmündung in der Glans ist so schmal, daß man gar
nicht erst versuchte, einen dünnen Katheter einzuführen;
das Hamen dauert jedesmal sehr lange. Scrotum rudi-
mentär gebildet und leer. Der Mastdarm läßt ohne
weiteres den Finger 2 cm tief ein, weiter kann der Finger
nicht eingeführt werden wegen großer Schmerzhaftigkeit
dieser Untersuchung. Mit Hilfe eines Speculum gelang
es, im Mastdarm eine Öfifhung zu entdecken, welche
wahrscheinlich die Bektalmündung einer Vagina ist Beim
Abschiede weinte das Individuum bitterlich in seines
Nichts durchbohrendem Gefühl. Auf die Frage nach der
Ursache der Thränen antwortete der Rekrut, es wäre so
traurig, so nichts in der Welt zu sein, nicht Mann und
nicht Frau. Wahrscheinlich die sogenannte Atresia
vaginae rectalis und Ovarien vorhanden.
12—14. Chopin (New York Medical Journal, 6. IV.
1889) beschrieb ein allmonatliches periodisches
Bluten eines Mannes aus der Harnröhre. Er
kennt nur zwei analoge Beobachtungen, die von Roy er
zitiert sind; der eine Fall betrifft einen Fleischer in
Sedan, der andere einen auch von Chopart erwähnten
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— 289 —
Soldaten. (Referat durch Simon und Duplay in den
Archives gönörales de Mödecine, Oktober 1880, S. 464.)
15. Clark (siehe meinen Aufsatz „Chirurgische Über-
raschungen auf dem Gebiete des Scheinzwittertums'S dieses
Jahrbuch, 1903, Bd. V, S. 8) konstatierte durch beider-
seitige Hemiotomie mit Exstirpation der Hoden das männ-
liche Geschlecht einer Witwe. Die Frau gab vor, vom
12. Lebensjahre an anfangs unregelmäßige, später
regelmäßige Blutungen aus dem Genitale gehabt
zu haben, vom 25. — 28. Lebensjahre regelmäßig
alle vier Wochen je 24 Stunden dauernd. Die
42jährige Frau hatte vor 16 Jahren geheiratet. Ober-
halb einer jeden Schamlefze tastete man je einen Hoden;
dieselben waren erst vor wenigen Tagen nach dem Heben
einer schweren Last aus den Leistenkanälen ausgetreten.
Clark erkannte auf männliches Geschlecht, wurde aber
schwankend angesichts der Angabe bezüglich der regel-
mäßigen Genitalblutungen; er beschloß, eine solche ab-
zuwarten, sie kam jedoch nicht; es schien ihm also die
Angabe der Frau bezüglich jener Genitalblutungen auf
Unwahrheit zu beruhen, umsomehr als die Vagina blind
endete und kein Uterus abzutasten war.
16. Delageniere (Progr^s Mödical, 1899, Nr. 2) fand
bei einer 27jährigen Frau eine normale Vulva, aber die
Vagina in der Höhe von 5 cm blind geschlossen und
jederseits eine kleine inguinale Hernie; von Zeit zu
Zeit traten menstruale Phänomene auf, aber keine
Blutung. Delageniere schlug der Frau den Bauch-
schnitt vor, um den Uterus aufzusuchen und mit der
Vagina zu vernähen, aber beim Bauchschnitt fand er
keinen Uterus, sondern exstirpierte die beiden Geschlechts-
drüsen, welche sich als Hoden erwiesen. Sie lagen an
den inneren* Öffnungen der Leistenkanäle. Das Mikro-
skop erwies, daß es Hoden waren.
Jahrbuch VI. 19
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— 290 —
17. Dohrn (Archiv für Gynäkologie, 1877, Bd. XI,
S. 208) beschrieb einen verheirateten Zwitter: N. N., als
Mädchen getauft, 28 Jahre alt, bemerkte im Anfang
der zwanziger Jahre ein allmonatlich wieder-
kehrendes lästiges Druckgefühl im Leibe. Die
Mutter vermutete ein Menstruationshindernis und führte
die Tochter zum Arzt. Die Arzte vermuteten eine Ste-
nose des Hymen, sagten, ein Menstruationshindernis sei
nicht da; aber wenn das Mädchen heiraten werde, werde
ein kleiner Einschnitt notwendig sein! Die Regel kam
jedoch überhaupt nicht. Die allmonatlichen Moli-
mina hörten allmählich auf und es stellten sich Pol-
lutionen ein; Verlobung; der Bräutigam verlangte eine
neue Untersuchung. Man sagte, die Braut sei kohabi-
tationsfähig, werde aber keine Kinder haben. Heirat;
aber schon nach wenigen Tagen verlangte der Gatte eine
abermalige Untersuchung wegen Unmöglichkeit des Bei-
schlafs. Dohrn konstatierte Hypospadiasis peniscrotalis
mit rudimentärer Vagina ohne Spur von Uterus; jeder-
seits im gespaltenen Scrotum Hoden und Zubehör, also
männliches Schein zwittertum. Wie sind hier die
Molimina vom 20. Jahre an zu erklären?
18. Fournier (Dictionnaire des sciences mödicales,
Article „Gas rares", S. 165) beschrieb Marie Walkiers,
welche als Weib galt und behauptete, die Periode
regelmäßig zu haben. Fournier hielt sie für einen
männlichen Scheinzwitter und glaubte, die angebliche
Periode beruhe auf einer Lüge, von der sich die Person
momentanen Nutzen verspräche.
19. Fowler („True Hermaphroditism", American
Journal of Obstetrics, 1887, S. 423) soll einen echten
Zwitter beschrieben haben, bei dem sowohl der Harn als
die regelmäßige menstruelle Blutung per urethram
ausgeschieden wurden. Dieses Individuum soll Ovarien
und Hoden besessen haben. — Leider bin ich nicht im
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— 291 —
Besitz der Originalarbeit^ welche jedenfalls eine kritische
Sichtung verdiente.
20. Günther (I.e.) beschrieb einen männlichen Hypo-
spaden von 25 Jahren^ als Mädchen erzogen^ beobachtet
Ton Dr. Frenzel in Sachsen: Hypospadiasis peniscro-
talis; in scroto fisso die Hoden^ Nebenhoden und Samen-
stränge. Vaginalmündung unterhalb der Urethralmündung,
kleine Schamlippen vorhanden , kein Uterus gefunden.
Gleichwohl im 16. und 17. Lebensjahre starke
Molimina menstrualia, die erst in den letzten Jahren
fortgeblieben sind. Das Mädchen war verlobt^ aber bis-
her intakt.
21. Garrö {„Fall von echtem Hermaphroditismus",
Deutsche Medizinische Wochenschrift, 190a, Nr. 5, S. 77;
siehe auch Simon, „Hermaphroditismus verus",Virchows
Archiv, 1903, Bd. CLXXII, und Zander, Anatomischer
Anzeiger, 1903). Ein 20 jähriger junger Mann verlangte
eine Operation, welche seine Verunstaltung so modifiziere,
daß niemand mehr an seinem männlichen Geschlecht
zweifeln könne I Schon in frühem Alter wuchsen die
Brüste stark, weiblich, namentlich die linke Brust. Seit
drei Jahren vergrößern sich die Brüste perio-
disch, zugleich treten regelmäßig periodische
Leibschmerzen ein und eine mehrtägige Blutung
aus der Scham. Diese Erscheinungen wieder-
holen sich allmonatlich!!! Seit mehreren Jahren
schon hat X. Erektionen seines Gliedes und bei libidi-
nösen Träumen Ejakulationen einer weißlichen, klebrigen
Flüssigkeit. Der 158 cm hohe Mann ist gut genährt
Die äußeren Körperkonturen erscheinen weiblich infolge
üppigen Panniculus adiposus. Kaum eine Behaarung
der Oberlippe zu sehen; der Kehlkopf springt nicht her-
vor. Becken breiter als die Schultern. In der linken
Brust tastet man bestimmt Drüsengewebe, die Warzen
eingezogen, wenig pigmentiert Becken breit, weiblich,
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flach. Der hypospadische Penis ist 4 om lang, hat 6,5 cm
im Umfang. Große Schamlippen leer, zwischen ihnen
liegt die ürethralmünduag. Vor der äußeren Öffnung
des rechten Leistenkanals ein in den Kanal reponibles
Gebilde, welches alsbald wieder vorfällt. Per rectum
tastet man etwas wie eine membranöse quere Scheide-
wand des kleinen Beckens und linkerseits ein verschieb-
liches längliches Gebilde, von dem ein Strang ausgeht,
welcher in die Harnröhre zu münden scheint. Man
tastet diesen Strang nur, wenn man jenes Gebilde
nach oben verschiebt. Oberhalb dieses Gebildes tastet
man ein zweites, größeres mit höckeriger Oberfläche.
Beide Gebilde scheinen durch ein 2 cm langes Band
mit einander verbunden. In der Mittellinie nichts von
einem etwaigen Uterus getastet. Eechterseits tastet
man nur etwas wie ein Ligamentum latum. Der
aus der Hamöffnung entnommene Schleim erwies kein
Sperma, sondern nur flache Zellen und Detritus. Wäh-
rend des Hospitalaufenthaltes konstatierte man in der
vierten Woche eine eintägige Blutung aus der Harn-
röhre. Allgemeinaussehen weiblich, Aussehen des Geni-
tale männlich. Penis nicht nach abwärts gekrümmt, wie
gewöhnlich bei Hypospadie; es ist bereits einmal an
diesem Penis plastisch operiert worden. Da das Ge-
schlecht absolut fraglich erschien, proponierte Garr6
einen diagnostischen Einschnitt in die eine Leiste. Pa-
tient ging darauf ein, verlangte aber gleichzeitige Ampu-
tation beider Brüste, worauf er indes später verzichtete.
Rechtsseitiger Leistenschnitt: Man fand innerhalb des
dünnwandigen Bruchsackes einen Hoden, dem ein klei-
neres Gebilde aufsaß, einen Samenstrang, Vas deferens;
eine 7 cm lange Tube wurde aus dem Leistenkanale
herausgezogen, mit Fimbrien am Abdominalende ver-
sehen; man fand auch ein Parovarium und ein Liga-
mentum latum. Man amputierte die Tube, sowie das
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Parovarium und resezierte aus den übrigen Gebilden je
ein Stückchen für mikroskopische Forschung. Nach Re-
sektion des Bruchsackes Vemähung der Wunde. Ge-
nesung. Die Hernie hatte einen Hoden enthalten, der
in seinem oberen Anteile ovarielle Struktur aufwies, also
eine gemischte Geschlechtsdrüse (Ovotestis), einen Neben-
hoden samt Vas deferens, eine Tube und ein Parovarium.
Simon zieht aus der mikroskopischen Untersuchung den
bestimmten Schluß, daß hier wahres Zwittertum vorliege.
Da nun notorisch menstruelle Blutausscheidungen ex Ure-
thra bestehen, so dürfte man annehmen, daß das Ova-
rialgewebe funktionsfähig sei. Dunkel bleibt aber, wie
die andere Geschlechtsdrüse beschaffen sein mag. Zweifel-
los dürfte hier die Annahme gerechtfertigt sein, daß
nicht nur die rechte Tube vorhanden war, sondern ein
Uterus mit gesamtem Zubehör. Ausdrücklich betone ich
hier, daß Garr6 allmonatliche Molimina in der
Art der menstruellen angibt, ziehende Schmerzen
in den Lenden und dem ünterbauch, Anschwellen
der Brüste usw.
22. J. J. Riddle Goffe („A Pseudohermaphrodite
in which female Characteristics predominated; Operation
for Removal of the Penis and the Utilization of the
Skin covering it for formation of a vaginal canal", Ame-
rican Journal of Obstetrics, 1903, Vol. XLVIII, Nr. 6)
beschrieb folgende merkwürdige Beobachtung: Ein 28-
jähriges, in New -York geborenes Mädchen irländischer
Herkunft, dessen Eltern und je vier Brüder und vier
Schwestern normal gebildet sind, ist in letzter Zeit stark
abgemagert. Das Mädchen hatte eine höhere Schule be-
endet und befand sich stets lieber in Gesellschaft von
Männern als von Mädchen. Geschlechtstrieb ganz weib-
lich, niemals eine Liebschaft mit einer Freundin. Schon
im 14. Jahre bemerkte E. C. eine rasch zunehmende Be-
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haarung der Scham und gleichzeitig Erektionen ihres Ge-
schlechtsgliedes. Bei diesen Erektionen, welche sie anfangs
oft willkürlich hervorrief, empfand sie zuerst ein angeneh-
mes Gefühl, später aber wurden ihr diese Erektionen lästig
und wünschte sie dringend die operative Beseitigung des
Gliedes, weil es ihre Gestaltung derjenigen anderer Mäd-
chen unähnlich mache. Wegen ihres starken männlichen
Bartwuchses stark verschleiert, kam sie zu Goffe. Gang,
Stimme und Gesichtsausdruck weiblich, die Extremitäten
stark behaart Andromastie. Behaarung des Unterleibes
männlich, ebenso Schambehaarung sehr üppig männlich.
Klitoris, 3 Zoll lang und 3^2 Zoll im Umfang messend,
richtet sich bei der leisesten Berührung auf. Bei der
Erektion retrahiert sich das Präputium stark nach hinten.
Zwischen den Schamlefzen sieht man eine ÖflFnung —
die Mündung des Sinus urogenitalis ; eine Hamröhren-
mündung zunächst nicht sichtbar. Eine Sonde dringt
durch diese Öffnung 4^/^ Zoll tief in eine Vagina ein.
Per rectum tastete man weder einen Uterus noch Ova-
rien, dagegen oberhalb des oberen Endes der Vagina
eine Art Strang. Auf die Frage, ob E. C. ein Mann sein
wolle oder ein Weib, antwortete E, C. mit aller Be-
stimmtheit, sie wolle ein Weib sein und bat um die Ent-
fernung des ihr lästigen Wuchses. Am 11. IIL 1903
amputierte Goffe unter Athernarkose das Glied, nach-
dem er vorher mit stumpfer Gewalt sich einen Weg in
die Vagina gebohrt, mit anfangs einem, dann zwei Fin-
gern — er dilatierte stumpf den Canalis urogenitalis so
weit, daß er schließlich den Mittelfinger bis an den
Scheidengrund in vaginam einführen konnte; dabei machte
er zwei seitliche Einschnitte, welche ziemlich stark blu-
teten; es waren natürlich bei diesem Vorgehen Einrisse
in den Wänden des Canalis urogenitalis resp. der Vagina
entstanden, und diese tapezierte Goffe auf eine eigen-
tümliche Weise mit Haut. Da die inneren Flächen der
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Schamlefzeu zu stark behaart waren, um sie zur Aus-
polsterung des Kanals zu benützen, so machte er je einen
Längsschnitt an dem Dorsum der hypertrophischen Kli-
toris resp. des hypospadischen Penis, präparierte die
Hautdecken von dem Gliede bis an die Wurzel von der
Corona glandis beginnend ab und implantierte diese beiden
Hautlappen in die Wundfiächen, die bei der forcierten
Dilatation entstanden waren; es gelang später, im Grunde
der Vagina eine kleine Vaginalportion zu entdecken,
deren Muttermund eine Sonde beinahe 2 Zoll tief ein-
dringen ließ. Wegen Blutung sub operatione wurde Adre-
nalin verwandt, da man kein blutendes Gefäß direkt
fassen konnte; ein Gazetampon wurde eingeführt und der*
Verweilkatheter; es war gelungen, in dem erweiterten
Canalis urogenitalis die Hamröhrenmündung aufzufinden;
nach vier Tagen Gaze entfernt und Glasspeculum k de-
meure eingeführt, um die implantierten Hautlappen an
die Wundflächen angepreßt zu erhalten. Linkerseits
gelang es, in der Beckenhöhle ein Gebilde zu tasten, das
eher wie eine geschwollene Lymphdrüse erschien, denn
als ein Ovar. Nach einem Monat verließ das Mädchen
sehr zufrieden mit dem Erfolg der Operation die Klinik
und unterzog sich dann einer Kur, um auf elektrischem
Wege die männliche Gesichtsbehaarung vernichten zu
lassen. — Am 19. III. 1904 erhielt ich von Dr. Reich
in New- York einen Brief, in dem er mir mitteilte, daß
diese Person jetzt nach der Operation bereits
dreimal ihre Periode gehabt haben soll. Gerade
in dieser Tatsache liegt das Merkwürdige dieser Be-
obachtung. Wenn das Mädchen die Periode bekam
so muß es doch wohl funktionierende Ovarien
besitzen und einen Uterus, der nicht allzusehr
hypoplastisch sein dürfte, also nicht infantil,
geschweige denn fötal. Wie kommt es nun, daß
Goffe bei der Untersuchung per rectum einen Uterus
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nicht tastete, der funktionsfähig und später menstruierend
sich erwies?
Im Anfang seines Aufsatzes spricht Goffe den Satz
aus^ Katharina Hohmann sei aus der Liste der Herma-
phroditen zu streichen; denn ihre angebliche Periode
sei den Ärzten vorgetäuscht worden, da die Person bei
Nasenbluten entleertes Blut benutzt habe zu einer Täu-
schung, indem sie sich die Genitalien mit diesem Blute
beschmierte. Goffe beruft sich hierbei auf Pozzi und
letzterer auf Ahlfeld; es müßte sich sodann S.chultze
getäuscht haben, der die Menstruation bei Katharina
Hohmann beobachtet haben will, und Rokitansky, der
diese Angabe wiederholte.
23. Guyot und Laubie (Journal de M^decine de
Bordeaux, 1897, T. XXVII, S. 558). Ein Kind wurde
bis zum 11. Jahre als Knabe erzogen, dann aber,
als die Periode eintrat, für ein Mädchen erklärt!
Clitoris erectihs 6 cm lang, große und kleine Scham-
lippen vorhanden. Unterhalb der Urethralmündung eine
Öffnung, aus der alle zwei Wochen unter Schmerzen Blut
ausgeschieden wurde, die Menstruation. Ein per rec-
tum getastetes Gebilde wurde als Uterus angesprochen.
Nirgends Geschlechtsdrüsen getastet. Brüste groß an-
gelegt. Extremitäten von weiblichem Aussehen. Neigungen
und Beschäftigungen durchweg männlich. Das Indivi-
duum behielt nach wie vor männliche Kleidung und
arbeitete als Maurer; erst jetzt gab es seine Beschäf-
tigung auf und reist nun in der Welt umher, um sich
öffentlich als Hermaphrodit für Geld sehen zu lassen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte doch hier das Ge-
schlecht weiblich sein. (?)
24. W. Hall (siehe meine Arbeit „Chirurgische
Überraschtingen auf dem Gebiete des Scheinzwittertums",
dieses Jahrbuch, Jahrgang V, 1903, S. 102) exstirpierte
bei einem weiblichen Scheinzwitter ein carcinomatös ent-
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artetes Ovarium, der andere Eierstock erschien atrophisch.
Klitoris l^g Zoll lang, obwohl sonst die gesamte Vulva
Hypoplasie verriet. Die sekundären Geschlechtscharak-
tere waren sämtlich männlich und doch soll im H.Lebens-
jahre einmal eine Blutausscheidung aus dem Genitale
stattgehabt haben.
Von einer mikroskopischen Untersuchung ist in dem
Referate nichts gesagt, das Geschlecht muß also fraglich
bleiben.
25. Heinrichsen („Pseudohermaphroditismus mas-
culinus extemus completus", Virchows Archiv, 1883,
Bd.XCIV, S.211) beschrieb die 27jährige Elisabeth Wul-
fert aus der Umgegend von Odessa, die, als Weib erzogen,
sich mit weiblichen Arbeiten befaßte, aber durch ungemein
große Eörperkraft auszeichnete. Im 21. Lebensjahre
hatte sie eine zwei Tage andauernde Genital-
blutung, angeblich Menstruation, die jedoch in der
Folge nicht wieder erschien. Dagegen empfand
die Person vom 17. Jahre an regelmäßig allmonat-
lich zwei Tage lang starke Molimina menstrualia.
Von Zeit zu Zeit stellten sich Pollutionen ein. Elisabeth
empfand stets nur auf Männer gerichteten, also weib-
lichen Geschlechtsdrang, niemals zu den Frauen, mit
denen zusammen sie nächtigte. E. W. hält sich für ein
unglückliches Wesen, weder Mann noch Weib. Schon
vom Kindesalter an hatte sie in jeder Leiste eine Ge-
schwulst Vor einem Jahre traten nach einem Sprunge
von einem Heuschober plötzlich starke Schmerzen in der
linken Leiste auf, während die Geschwulst stark an Größe
zunahm; allmählich ließ der Schmerz nach, aber der
Tumor blieb größer als früher. Jetzt vor einer Woche
war abermals nach Aufheben einer Last starker Schmerz
links eingetreten; der Tumor war noch größer geworden
und hatte sich nach unten gesenkt; sie ist deshalb ^ in
das Hospital eingetreten wegen Fieber, Übelkeiten und
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Erbrechen. Seit sechs Tagen kein Stuhlgang; man
konstatierte zeitweilige Darmunwegsamkeit mit starker
Schwellung der linken Schamlefze und vermutete Bruch-
einklemmung. Man diagnostizierte ex consilio mit
Dr. CzaussaÄskij, Donat und Fricke eine Epididy-
mitis, Funiculitis und Vaginalitis. Unter Ruhe, Opium,
Eis und Bädern Besserung, sodaß die Kranke bereits
nach zehn Tagen darauf bestand, das Hospital zu ver*
lassen. Allgemeinaussehen , Stimme, G^sichtsausdruck,
Brüste weiblich. Im rechten Leistenkanal, der den Pinger
passieren läßt, Hoden und Samenstrang getastet, unter-
halb Ödem der Schamlefze; Penis rudimentär, niemals
eine Erektion bemerkt. Hypospadiasis peniscrotalis; Sinus
urogenitalis 1 Y, Zoll breit Der Finger dringt mit Schwie-
rigkeit 5 cm tief ein und trifft dort auf einen Wider-
stand. Der Katheter trifft in Urethra, 6 cm tief ein-
geführt, auf eine Öffnung an deren hinterer Wand und
dringt hier in eine blind geschlossene Höhle, einen Sack,
ein. Weder Uterus noch Prostata getastet Da man
zwei Hoden getastet hatte und deren Vasa deferentia,
die linke Samenblase, da femer Pollutionen konstatiert
waren, männliches Skelett, so schloß Heinrichsen, daß
dieses Mädchen ein männlicher Hypospade sei; jener
blind endende Sack, in die Urethra mündend, dürfte
doch wohl ein Uterus masculinus gewesen sein; die Er-
scheinung der genitalen zweitägigen Blutung im
21.' Jahre und die regelmäßigen Molimina men-
strualia vom 17. Jahre an bleiben ohne Deutung^
geschweige denn Erklärung.
26. A. Hengge („Pseudohermaphroditismus und se«
kundäre Geschlechtscharaktere", Monatsschrift für Ge-
burtshilfe und Gynäkologie, Januar 1903) beschreibt eine
Beobachtung aus Martins Klinik, zwei Schwestern von
32 und 19 Jahren betreffend, die als männliche Hypo-
spaden erkannt wurden. Die jüngere, 19jährige
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Schwester litt vom 14. Jahre an alle Monate einen
Tag lang an Kopfschmerz mit Wallungen und
Übelkeiten und soll dann bis 1. X. l*.»Ol stets
gleichzeitig Nasenbluten gehabt haben. Vom
1. X. 1901 bis zur Aufnahme in die Klinik am 28. I.
1902 blieb das Nasenbluten aus, aber seit vier Mo-
naten treten jene Anfälle alle acht Tage auf, so
quälend, daß die Arbeitsfähigkeit darunter leidet.
Hoher Körperwuchs, weibliche Brüste, weibliches Becken,
durchaus weibliche Scham, aber Vagina blindsackförmig
ohne Uterus. In jeder Schamlefze je ein Hoden, die
Hoden wurden wegen andauernder Allgemeinbeschwerden
und großer lokaler Schmerzempfindlichkeit entfernt. Die
ältere, kinderlos verheiratete Schwester ist ebenso be-
schaffen, aber der Descensus testiculorum weniger vor-
geschritten. Sie kohabitiert mit Wollust und ist bis auf
ganz unregelmäßig auftretende Kopfschmerzen gesund.
Bei der jüngeren Schwester schwanden nach der Kastra-
tion die Allgemeinbeschwerden, die Wallungen zum Kopfe
schwanden nicht. Die sekundären Geschlechtscharaktere
waren sämtlich weibliche. Das Merkwürdige dieser
Beobachtungen liegt weniger in der Erreur de
sexe bezüglich zweier Geschwister, als darin, daß
der jüngere der beideik verkannten Hypospaden
an dysmenorrhoischen Beschwerden litt mit pe-
riodischem Nasenbluten, also quasi vikariieren-
der Menstruation. Wie kommt dieses Hoden tra-
gende Individuum zu jenen spezifisch weiblichen
Beschwerden? Hengge erklärt die Sache durch Sug-
gestion: Die 19jährige Martha wuchs zugleich mit einer
vier Jahre älteren Schwester auf, welche allmonatlich
ihre Kegel hatte und zwar unter großen Schmerzen.
Martha hielt sich für ein Mädchen, erwartete von
Monat zu Monat vergeblich ihre Periode und
glaubte, Zeugin der Dysmenorrhoe ihrer Schwe-
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ster, schließlich selbst gleiche Beschwerden zu
empfinden. Die dysmenorrhoischen Erschei-
nungen des verkannten Hypospaden sollen also
die Folge einer Suggestion, einer psychischen
Beeinflussung der normal weiblich gebauten, an
starker Dysmenorrhoe leidenden Schwester sein.
27. J. Henrotay in Anvers („Hypospade pöniscrotal
6lev6 en femme jusqu'A, 24 ans", Extrait du Journal:
Bulletin de la Soci6t6 Beige de Gyn6cologie et d'Obstö-
trique, 1901, Nr. 4). Am 2. IX. 1901 besuchte Fräulein
Filomene X. mit ihrer verheirateten Schwester Herrn
Henrotay und bat um Aufschluß darüber, weshalb
ihre Periode noch nicht eingetreten sei, nur ein-
mal im 17. Lebensjahre soll eine genitale Blut-
ausscheidung stattgehabt haben, jedoch seien
nicht mehr als 5 — 6 Tropfen Blut ausgeschieden
worden. Sie leidet übrigens nicht unter dem Mangel
der Periode. Gegenwärtig ist das Mädchen verlobt.
Patientin klagt nur über weißen Fluß. Wegen eines
vermuteten Leistenbruches hat ihr ein Arzt das Tragen
eines Bruchbandes oder aber sich einer Herniotomie zu
unterziehen geraten. Patientin konsultierte damals den
Arzt deshalb, weil sie beabsichtigte, sich zu verheiraten.
Um sicher zu gehen, wandte sich Patientin jetzt an
Henrotay. Trotz langen weiblichen Haupthaares All-
gemeinaussehen durchaus männlich. Der Gang erschien
durchaus männlich, und wie Patientin vor Henrotay
stand, den Sonnenschirm in der Hand, machte sie auf
ihn ganz den Eindruck eines verkleideten Mannes, wie
auf einem der skandalösen Maskenbälle. Die Unter-
suchung erwies männUches Geschlecht ; Hypospadiasis
penoscrotalis mit Descensus incompletus und Retardatus
testiculorum. Unterhalb der scheinbar weiblichen Ure-
thralmündung eine Grube, welche eine Sonde nicht ganz
1 cm tief einläßt. Sämtliche sekundären Geschlechts-
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Charaktere männlich. In psychischer Beziehung fühlte
sich diese Person vollständig als Weib und gab an, den
Bräutigam zu lieben ; sie gestand auch ein, bei libidinösen
Träumen Ejakulationen zu haben. Während der Chloro-
formnarkose rief sie mehrmals den Vornamen ihres Bräuti-
gams. Henrotay ließ der Person die Wahl, ob sie als
Mann oder als Frau gelten wolle, erklärte ihr aber, sie
dürfe sich nicht als Mädchen verheiraten, da eine solche
Ehe für ungültig gelten müßte. Auf die Erörterungen
von Seiten Henrotays erwiderte die Mutter: „Mein
Gott! Gibt es denn nicht genug Frauen, die nicht ganz
so beschaffen sind, wie es sein sollte!"
28. Geoffroy Saint Hilaire („Histoire gönörale
et particuliere des anomalies de Torganisation chez
rhomme et les animaux", etc., ou „Traitö de Teratologie",
Paris, 1826, Tome II, S. 171) erwähnt die von Giraud
im Pariser Hotel Dieu vollzogene Nekropsie der aus San
Domingo stammenden, an Schwindsucht verstorbenen
Adelaide Pr6ville, eines lange Zeit als Weib verheiratet
.gewesenen männlichen Scheinzwitters mit Hoden, Neben-
hoden, Samensträngen und peniscrotaler Hypospadie
(siehe auch Osiander, „Neue Denkwürdigkeiten", Göt-
tingen, 1799, S. 245). Die Hoden lagen in dem gespal-
tenen Scrotum, eine Prostata war vorhanden und eine
unterhalb der Urethra nach außen mündende kurze, in
der Tiefe blind endende Scheide, aber kein Uterus.
Amazie. Die von Ad61aide Pröville als Menstrua-
tion gedeuteten Blutungen will Osiander als
Hämorrhoidalblutungen ansprechen.
29. Steglehner erwähnt eine Beobachtung von
Julien, Hypospadiasis penoscrotalis mit zwei Hoden in
scroto fisso; zugleich Labia minora konstatiert. Regel-
mäßige Periode; das Individuum soll mit Männern
und mit Weibern kohabitiert haben. Aller Wahrschein-
lichkeit nach waren hier ektopische Ovarien irrtümlich
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für Hoden angesehen worden und eine hypertrophische
erektile Klitoris für einen hjpospadischen Penis.
30. Kutz (Centralblatt für Gynäkologie, 1898, Nr. 15,
S. 389) beschrieb folgende hochinteressante Beobachtung
Sängers: Ein 23 jähriges Dienstmädchen meldete sich
in der Poliklinik erstens wegen bisheriger Amenorrhoe,
zweitens, weil es alle vier Wochen mehrere Tage
lang von starken Schmerzen im Unterleibe, in
den Weichen und in den Brüsten geplagt wurde
— also lagen Molimina menstrualia vor. Diese
allmonatlichen Schmerzen haben in letzter Zeit
so zugenommen, daß Patientin arbeitsunfähig
wurde. Allgemeinerscheinung weiblich, Gesichtsfarbe ge-
sund, rote Wangen, Haupthaar lang, in Zöpfe geflochten^
Brüste weiblich, aber wenig entwickelt, Achselliöhlen
reichlich rot behaart Vulva und Perinäalgegend schwach
behaart. Klitoris nicht vergrößert. Hymen intakt, die
Vagina, von normaler Länge, endet in der Tiefe blind.
Weder Uterus noch Ovarien per rectum getastet. In
der rechten Leiste ein hühnereigroßes, glattwandiges,-
druckschmerzhaftes, hartes, irreponibles Gebilde, welches
als inguinale Ektopie eines Ovariam angesprochen wurde.
In der linken Leiste eine reponible Hernie mit weichem
Inhalt, in deren Tiefe jedoch auch etwas Härteres ge-
tastet wurde. Der rechtsseitige Bruch soll schon von
Kindheit an bestehen, der linksseitige erst nach Be-
endigung der Schule aufgetreten sein. Angesichts der
Schmerzen entschloß sich Sänger zur Herniotomie, um
das ektopiäche Ovarium in die Bauchhöhle hineinzu-
schieben. Bei der Operation stellte es sich heraus, daß
eine Tunica vaginalis communis testis vorlag mit einem
Hoden, dem rechten Hoden. Der Processus vaginalis
peritonaei erwies sich oberhalb obliteriert, sodaß man in
die Bauchhöhle nicht einzudringen vermochte. Sänger
entfernte also Hoden, Nebenhoden und Samenstrang und
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vernähte die Wunde. In der linksseitigen Hernie fand
sich ein Hamblasendivertikel, Hernia extraperitonaealis
veisicae, wie der per urethram eingeführte Katheter nach-
wies. Der exstirpierte rechte Hoden enthielt in der Mitte
ein kleines Adenofibrom, der linksseitige Hoden mußte also
in der Bauchhöhle zurückgehalten sein. Es wirft sich
liier unwillkürlich die Frage auf, was haben die
allmonatlich periodisch sich wiederholenden
Schmerzen zu bedeuten, hingen sie von der Her-
nie ab, so würden sie jedenfalls konstant sein,
oder sollte der rechte Hoden allmonatlich an-
schwellen wie ein Ovarium? Da Letzteres doch nicht
wahrscheinlich ist, so muß man unwillkürlich an Moli-
mina menstrualia denken. Und das umsomehr, als ein
Mann wie Sänger hier ausdrücklich das allmonat-
lich periodische Wiederkehren der Schmerzen
betonte!
31. Leopold (Archiv für Gynäkologie, 1877, Bd. X[,
S. 357) beschrieb eine Beobachtung aus der Praxis seines
Vaters: Eine Frau von 46 7j Jahren war angeklagt, an
einem 15jährigen Mädchen unzüchtige Handlungen in der
Bolle eines Mannes vollzogen zu haben. Leopold kon-
statierte Hypospadiasis penoscrotalis mit Gegenwart eines
Hodens in scroto fisso, 5 cm langer, in der Tiefe blind
endender Scheide. Bei der Untersuchung erigierte sich
der hypospadische, 6 cm lange Penis. Die Person gab
an, sie habe vom 17. Jahre an regelmäßig, wenn
auch nicht stark, alle vier Wochen drei bis vier
Tage lang ihre Menstruation bis jetzt. Männlicher
Körperwuchs, männliche Stimme, Behaarung, Brüste usw.
Weder Uterus noch Ovarien im Becken getastet. Es
sind also in diesem Falle trotz Gegenwart eines Hodens
regelmäßige menstruelle Blutungen angegeben, obgleich
kein Uterus konstatiert wurde. Irgend ein Schluß ist
daraus nicht zu ziehen, weil kein Beweis für die Eichtig-
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keit der Angabe der Periode vorliegt, aber auch kein
Beweis dafür^ daß das in scroto fisso getastete Gebilde
wirklich ein Hoden war und kein Ovarium. Leopold
fügt seiner Beschreibung hinzu: ^^Gegen das männliche
Geschlecht spricht nicht, daß die Person, wenn die An-
gabe wahr ist, seit ihrem 17. Jahre regelmäßige Menses
gehabt hat, da, wie Elebs angibt, periodische Blu-
tungen nicht allein bei wohlgebildeten männ-
lichen Geschlechtsorganen (Bayer), sondern na-
mentlich auch bei männlichen Hypospadiaeen
(Th. Allen, Morand) und bei rudimentären Keim-
drüsen vorkommen."
Parmly zitiert eine Ehe in Nordamerika, aus der
zwei Kinder hervorgegangen waren. Der Mann, ein
männlicher Schein;switter, besaß eine Vagina und einen
Uterus und hatte eine regelmäßige Menstruation. (The
American Journal of Obstetrics, 1881, S. 931.)
32. Löffler („Zur Kasuistik der Zwitter", Berliner
klinische Wochenschrift, 1871, Nr. 26, S. 308) vertrat
einst einen Militärarzt: Bei der Bekrutenmusterung bat
ihn ein Bauer aus Regenwalde, er möge seinem Pflege-
sohn Gustav Bartelt aus dem Dorfe Kutzen erlauben, das
Hemd erst im Revisionszimmer auszuziehen, damit er
nicht von den anderen Rekruten ausgelacht werde,
Gustav fühle sich weder als Mann noch als Frau und
habe gerade in diesem Augenblick seine monatliche Blu-
tung bekommen. Individuum von mittlerer Höhe, ohne
Bartwuchs, mit kurz geschorenem Haupthaar, bietet weder
männliches, noch weibliches Allgemeinaussehen. Brüste,
ein wenig voller, als sonst bei Männern, scheinen Drüsen-
gewebe zu enthalten. Becken schmal, die Oberschenkel
voller als sonst bei Männern. Schambehaarung weiblich
üppig. Große Schamlippen halb so groß als normal,
Penis hypospadiaeus P/2 ^^ lang, kleinfingerdick, mit
gut gebildeter Glans und frei verschieblichem Praeputium.
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Unterhalb des Ansatzes des Penis eine 2 mm lange Spalte,
welche jedoch auch die dünnste Sonde nicht einläßt
Statt einer Vaginalmündung nur eine feine Öffnung,
welche aber eine Enopfsonde nicht einläßt. Die Scham
mit Blut besudelt Die Periode soll regelmäßig
alle vier Wochen auftreten schon vom 14. Jahre
an. Von Abtasten von Hoden oder Ovarien, Uterus usw.
ist in der Beschreibung nichts gesagt Der Mensch weinte
ständig bei der Untersuchung, gab an, im Felde als Mann
zu arbeiten^ aber sehr schnell zu ermüden, sobald er ein
Stück Weges gegangen sei. Es scheint doch, daß hier
weibliches Geschlecht vorlag.
33. Mabaret du Basty („Absence d'une partie des
organes gönitaux externes chez deux sceurs", Progres
M^dical, 1890—91, S. 503). Zwei Schwestern, die 42-
jährige Marie G. und die 35jährige Katharina G., kamen
zu Mabaret mit der Bitte, die jüngere Schwester zu
untersuchen und zu bestimmen, ob nicht eine Operation
nötig sein werde, um heiraten zu können, denn die Ge-
schlechtsorgane seien ungewöhnlich geformt. Katharina
G., von hohem Wuchs, männlichem Allgemeinaussehen,
männlichen Gesichtszügen, Stimme und Thorax, ist sehr
stark behaart und muß sich täglich rasieren. Andro-
mastie, weibliches Becken mit deutlichem Mons Veneris.
Klitoris 4 cm lang, erektil, mit retrahiertem Praeputium ;
unterhalb der Harnröhrenmündung liegt noch eine Öff-
nung, die in einen 5 cm tiefen Kanal führt und aus der
allmonatlich ohne Beschwerde sich etwas Blut
ausscheiden soll. Absoluter Mangel der großen und
kleinen Schamlefzen. Die ältere Schwester ist genau so
mißgestaltet, nur die Klitoris kleiner. Mabaret hielt die
beiden Personen für Mädchen. Prof. Stumpff spricht
sich in seinem Referat für männliches Geschlecht aus.
Wie dann die angeblich allmonatlich sich wieder-
Jahrbuch VI. 20
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holende periodische Blutung aus dem Genitale
erklären?
34. Magitot (Le Progres Mödical, 1881, Nr. 26)
stellte in der Pariser Anthropologischen Gesellschaft eine
Person vor, welche sehr verschiedenartige Lehensschicksale
durchgemacht hatte: Als Mädchen erzogen, hatte sie im
13. Jahre zum ersten Male ihre Periode, welche
sich aher in der Folge nur noch zweimal zeigte.
Gleichzeitig entwickelten sich die Brüste und stellte sich
rein männlicher Geschlechtstrieb ein; das Mädchen hei-
ratete und lebte lange Jahre in glücklicher Ehe mit
ihrem Manne, obgleich ein Beischlaf, rite vollzogen, nicht
möglich war. Als der Gatte starb, knüpfte die Witwe
ein Liebesverhältnis mit einem Weibe an und hatte von
jetzt an ständig Maitressen, mit denen sie als Mann den
Beischlaf vollzog. Die 174 cm hohe Person, aus dem
niederen Volke stammend, mußte sich alle zwei Tage
rasieren. Gesichtsausdruck, Becken männlich. Hypospa-
diasis peniscrotalis; Penis 5 cm lang, Hoden, Nebenhoden
und Samenstrang jederseits im gespaltenen Scrotum.
Dieser Mann war 12 Jahre lang als Weib verheiratet
Woher stammten die anfangs regelmäßigen Genital-
blutungen, handelte es sich in der Tat um solche? Falls
ja, wie sind sie zu erklären?
35. V. Mars („Ein operativ behandelter Fall von
Scheinzwittertum*', [Polnisch], Przegl^d lekarski, 1903,
Nr. 40). Eine 23jährige, seit drei Jahren verheiratete
Jüdin wandte sich an v. Mars wegen Unmöglichkeit des
Beischlafs infolge Mißgestaltung der Genitalien. Vorher
hatte ihr ein anderer Arzt erklärt, sie sei ein männ-
licher Hypospade. Als Mädchen erzogen, bemerkte sie
im 16. Jahre ihre Mißbildung, sie fürchtete, wenn sie
für einen Mann erklärt werde, so werde ihre Ehe ge-
schieden werden und sie werde dann verhungern, weil
sie alsdann keinen Lebensunterhalt besitze. Im 18. Jahre
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heiratete sie. Sie gibt an, vom 15. Jahre an men-
struiert zu sein, aber es sollen sich jedesmal
nur einige Tropfen blassen Blutes unter großen
Schmerzen entleeren. Diese Blutausscheidung
soll niemals länger als einen Tag gedauert haben.
Seit fünf Jahren männliche Gesichtsbehaarnng. Ständiges,
wöchentlich mehrmaliges Basieren. Ob Erektionen des
wie ein hypospadischer Penis aussehenden Gliedes vor-
handen sind, will die Frau nicht angeben, sie scheint zu
fürchten, man werde sie dann doch für einen Mann er-
klären. Geschlechtstrieb angeblich vorhanden und zwar
weiblicL Niedriger Körper wuchs, Aussehen männlich,
weil alle sekundären Geschlechtscharaktere männlich.
Penis 6 cm lang, mit entblößter Glans, darunter eine linsen-
große Öffnung, aus welcher der Harn fließt Starke
Schambehaarung, die großen Schamlefzen sind unten
nicht durch ein Frenulum verbunden, sondern gehen
gleichsam allmählich in den Damm über. Per rectum
tastet man ein 2 cm langes Gebilde in der Mittellinie,
von dem jederseits eine Art Strang zur lateralen Becken-
wand zieht, lateral liegt jederseits ein härtliches Gebilde.
V. Mars vermutete, es handle sich um ein Weib mit
Verwachsung der Schamlefzen unter einander und Klitoris-
hypertrophie, und suchte Beweise ; er glaubte, den Beweis
darin zu finden, daß eine Sonde, an der Vorderwand des
Harnröhrenkanals entlang geführt, in die Blase gelangte,
wenn man aber an der unteren, resp. hinteren Wand
des Harnröhrenkanals mit der Sonde entlang tastete, so
geriet dieselbe in einen anderen Kanal, die vermutete
Scheide. Daraufhin spaltete er, da die Frau durchaus
Ermöglichung des Beischlafs als Weib verlangte, die
Verwachsung der Schamlefzen und damit auch die untere
Wand des Canalis urogenitalis durch einen vertikalen
Längsschnitt; es gelang ihm auch tatsächlich, die ge-
trennten Mündungen von Urethra und Vagina bloßzu-
20*
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legen; er erweiterte nachträglich die sehr enge Vagina
mit Hegars Dilatatoren so weit, daß es ihm gelang, ein
Fergusson-Speculum in die Vagina einzuführen und
die Portio vaginalis uteri bloßzulegen. Der Schnitt war
5 cm lang. Es wurden dann zur Vereinigung der Scham-
lefzenhautdecken und der Schleimhaut des Sinus uro-
genitalis einige Enopfnähte angelegt; die Narbe des
Längsschnittes war also eine U-förmige mit Öffnung des
U nach oben zu. Nach einiger Zeit meldete sich die
Frau abermals und bat um Amputation des Gliedes;
offenbar hinderte dieses eigene Glied die Einführung des
Gliedes des Gatten. Es ist möglich, daß diese Person
wirklich Ovarien beherbergt, aber erwiesen ist es nicht
und von v. Mars nur vermutet. Meines Erachtens würde
das weibliche Geschlecht sehr wahrscheinlich, wenn es
gelänge, sich davon zu überzeugen, ob jene Angaben von
stattgehabter regelmäßiger allmonatlicher Genitalblutung
auf Wahrheit beruhen.
36. Messner G^^i^ neuer Fall von Hermaphrodi-
tismus verus unilateralis**, Virchows Archiv, Berlin 1892,
Bd. CXXIX, S. 203—213) beschrieb das gleichzeitige
Vorkommen von Menstruation resp. menstruellen
Molimina und Ejakulation von Sperma. Der 31-
jährige N. N. war schon mehrmals von Ärzten (Fried-
reich, Koch in Frankfurt und anderen) untersucht
worden und lebte seit sieben Jahren in glücklicher Ehe;
das einzige Kind starb drei Jahre alt So lange N. N.
Kind war, war den Eltern an dem Körperbau nichts
aufgefallen, erst N. N. selbst wurde aufmerksam, als er
bemerkte, daß seine Brüste so groß seien, daß die Kame-
raden ihn deshalb im Bade verlachten, er habe weibliche
Brüste. Er vermied von Stunde an das gemeinsame
Baden. Im 19. Jahre kohabitierte er zum ersten Male
mit einer Frau; zu Männern fühlte er sich nicht ge-
schlechtlich hingezogen, verweilte aber sehr gern in männ-
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lieber Gesellschaft und warde in dem Männergesang^erein
hochgeschätzt wegen seines schönen Tenors; eigentlich
besaß er jedoch keinen Tenor, sondern eine Sopran-
stimme. Als Messner ihn zum ersten Male im Neben-
zimmer sprechen hörte, war er sicher, es spreche dort
eine Frau. Vom 21. Jahre an hatte N. N. alle
Monate vier Tage lang Blutungen aus der Ure-
thra. In den ersten Jahren waren diese Blutungen
so abundant, daß er Badehosen tragen mußte^ um
seine Leibwäsche nicht zu beschmutzen, später
verringerte sich die Quantität des menstruellen
Blutes so, daß gegenwärtig nur einige Tropfen
bis zu einem Theelöffel voll entleert werden.
Messner hat diesen Mann viermal während seiner
Periode beobachtet und schreibt dar aber: „Man sieht
es dem Manne sofort an, wenn er seine Menstruation
hat, und auf der Höhe derselben macht er geradezu
den Eindruck eines Schwerkranken!!! 23 — 24 Tage im
Monat ist er vollständig gesund, und da er von leb-
haftem Temperament ist, sehr redselig und mobil, wäh-
rend vier bis fünf Tagen aber in jedem Monat ist er
deprimiert und verhält sich sehr ruhig. Seine Augen
sind matt und glanzlos, der Gesichtsausdruck schlaff und
leidend. Man sieht ihm an, daß er Schmerzen aushält.
In den ersten zwei Tagen, wenn sich die Menstruation
einstellt, klagt er über Unbehaglichkeit und ein Gefühl
von Zerren und Abwärtsdrängen im Leibe und über
leicht spannende und stechende Sensationen in den
Brüsten. Ein Anschwellen der Brüste war nicht zu kon-
statieren." — ^ Während dieser Zeit kann N. N. noch
seinen Unterhalt als Zeitungsausträger verdienen, aber
schon am dritten Tage nehmen die Schmerzen im Leibe
an Intensität zu, er beginnt zu schwitzen und verliert
jeglichen Appetit. Am vierten Tage werden die Schmerzen
so stark, daß, wie die Frau aussagt, ihr Mann mit dem
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Kopfe gegen die Wand schlägt und sich wie unzurech-
nungsfähig gebärdet. Bald legt er sich zu Bett, bald
springt er auf und rennt im Zimmer umher. Nur heiße,
feuchte Umschläge, alle zehn Minuten auf den Unterleib
appliziert, bringen ihm einige Linderung. Von Morphium-
einspritzungen will N. N. absolut nichts wissen. Die
Akme dieser Art dauert gewöhnlich sechs bis zehn Stun-
den und endigt gewöhnlich damit, daß nach Harnlassen
sich aus der Harnröhre einige Tropfen Schleim mit Blut
gemischt ausscheiden. Zugleich tritt Erbrechen ein und
von dem Moment an bessert sich der Zustand. Die
Schmerzen schwinden allmählich, aber der Kranke hat
noch immer 12 — 24 Stunden lang das G-efühl, als ob
ihm etwas im Leibe herumgehe, wie er sich ausdrückt.
Der ganze Prozeß dauert vier bis fünf Tage. Der sonst
normale Harn erscheint während der Menstruation trübe,
ist mehr braunrot und von scharfem Geruch, dem Schweiß-
geruch ähnlich. Albuminurie wurde nicht konstatiert
Während der Periode sind die Schweiße so abundant, daß
N. N. naß erscheint, als ob man ihn mit Wasser be-
gossen hätte. In dem Hamsatz findet man Schleimhaut-
fetzen mit verfetteten Platten und zylindrischen Epithel-
zellen, roten und weißen Blutkörperchen und Schleim.
Das Blut wird aus der Harnröhre ausgeschieden am
Schlüsse des Menstruationsprozesses nach der Entleerung
des Harnes. Es besteht aus roten und farblosen Blut-
körperchen und Schleim. Kopfschmerz ist konstant wäh-
rend der beiden letzten Menstruationstage. Nach der
Periode erscheint der Geschlechtstrieb stets besonders
gesteigert. Als Patient einmal zu früh diesdbi Geschlechts-
drange nach der Periode Folge gab, kam die Periode
wieder und er mußte zum zweiten Male die gleichen
Leiden durchmachen. Allgemeinaussehen weiblich, keine
Spur männlicher Gesichtsbehaarung. Brüste weiblich,
groß, hängend, ohne Colostrum. Muskelkonturen nicht
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sichtbar, Hände und Füße klein, weiblich, Mons Veneris
mit weiblicher Behaarung, Penis hypospadiaeus 6 cm lang,
sub erectione 9 — 10 cm, zwei Finger dick. Der Sinus
urogenitalis öffnet sich 3 cm nach hinten und unten von
der Stelle, wo sonst die männliche Harnröhre mündet.
Der Harn wird in starkem Strahle entleert; Corpora
cavemosa penis und das Corpus cavemosum urethrae
existieren, eine Raphe zieht von der Basis penis hypo-
spadiaei zu dem Damme hin, ein eigentliches Scrotum
wölbt sich nicht vor, weil beiderseits Descensus incom-
pletus der Hoden vorliegt; die Hoden liegen oberhalb
des Penisansatzes, der linke Hoden liegt noch im Leisten-
kanal, der rechte schon etwas tiefer. Kremasterreflex
wurde nicht beobachtet Man kann beide Hoden in die
Bauchhöhle hineinstoßen, aber sie treten sofort wieder
heraus. Der rechte Hoden erscheint von normaler Größe,
ebenso der Samenstrang und Nebenhoden ; linkerseits er-
scheint die Untersuchung erschwert durch die Lage des
Hodens im Leistenkanal. Deshalb will Messner es nicht
entscheiden, ob die linke Geschlechtsdrüse nicht doch,
wie Koch in Mainz es vermutete, ein Ovarium ist. Per
rectum tastete man eine Prostata. Messner tastete
rechterseits ein empfindliches Gebilde im Becken, welches
er nach Form, Größe und Lage für ein Ovarium an-
sprechen möchte; linkerseits tastete er ein ähnliches Ge-
bilde nicht, ebensowenig einen rudimentären Uterus.
Messner hatte Gelegenheit, den Samen dieses Mannes
zu untersuchen; er fand weder den charakteristischen
Geruch, noch Spermatozoiden, wohl aber zahlreiche Rund-
zellen, zahlreiche glänzende, freie Kerne, verfettete Epi-
thelien und große, polygonale Zellen mit zahlreichen
Kernen (Spermatoblasten). Messner vermutet, daß dieser
männliche Hypospade auch Ovarien besaß, wenigstens
ein Ovarium, und bezeichnet deshalb seine Beobachtung
als einen Fall von Hermaphroditismus verus unilateralis.
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— 812 —
Selbstverständlich bleibt hier der Diskussion ein weites
Feld offen; diese Diskussion ist aber nutzlos^ denn Be-
weise lassen sich nicht beibringen; wir können nur das
Faktum notieren und müssen uns aller Kommentare ent-
halten: Es ist ein Mann beschrieben, der sogar ein
Kind gezeugt hat trotz seiner Mißbildung^ welcher
allmonatlich ex Urethra blutete unter dem Symp-
tomenkomplex der Molimina menstrualia des
Weibes.
37. Fr. V. Neugebauer (Centralblatt für Gynäko-
logie, 1904, Nr. 2). Ein 25 jähriges Dienstmädchen mit
durchwegs männlichen sekundären Geschlechtscharakteren,
namentlich sehr starker Gesichtsbehaarung ^ verlangte
Amputation des männlichen hypospadischen Gliedes und
Schaffung einer Vagina pro coitu. Das Mädchen hielt
sich für ein Weib und gab weiblichen Geschlechtsdrang
an. Ich verlangte zunächst einen diagnostischen Bauch-
schnitt, konstatierte Anwesenheit eines normalen Uterus
samt Zubehör und normale Ovarien, ein Stückchen ward
zur mikroskopischen Diagnose exzidiert. Amenorrhoea
absoluta, trotz normal gebauter und gut entwickelter
Ovarien! Daraufhin wurde das Membrum, mittelfingerdick
und kleinfingerlang, angeblich nicht erektil, amputiert;
dann spaltete ich die untere Wand des Harnröhrenkanals
resp. Canalis urogenitalis, und gelang es mir, genau wie
V. Mars in seinem Falle, die getrennten Öffnungen von
Urethra und Vagina bloßzulegen. Die Vaginalportion
des Uterus mündete in vaginam. Von einer Erweiterung
der engen Scheide sah ich ab, da dieselbe sich von selbst
ergeben wird, wenn das Mädchen einmal heiratet, ob
aber jemals die Periode eintreten wird, wer könnte dies
bestimmen? Interessant ist die absolute Amenor-
rhoe, trotz relativ gut ausgebildeter Ovarien, Uterus
und viabler Scheide. Ohne die diagnostische Köliotomie
hätte dies Mädchen unbedingt für einen männlichen
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— 813 —
Hypospaden erklärt werden müssen, wie es z. B. in dem
Falle von Gunckel geschah; ein Mädchen wurde für
«inen Mann mit peniscrotaler Hjpospadie erklärt, und
nach vielen Jahren erwies die Nekropsie, daß der ver-
meintliche Hypospade doch ein Weib war.
38. Obolonsky (siehe im Vorhergehenden Fall 71).
Die Nekropsie eines 50jährigen Scheinzwitters, der vom
17. — 49. Jahre regelmäßig menstruiert gewesen
sein soll, ergab Hypospadiasis peniscrotalis und Gegen-
wart eines Hodens; Uterus bicomis rudimentarius, Vagina
nach außen mündend. Der linke Hoden lag nebst Zu-
behör an Stelle eines Ovarium, die rechte Geschlechts-
drüse sarkomatös entartet Da auch rechterseits Vas
deferens vorhanden, dürfte das Sarkom aus dem rechten
Hoden hervorgegangen sein.
39. Bushton Parker („A menstruating man, a
curious form of hermaphroditism'S Brit Med. Joum.,
1899, Nr. 1988, S. 272). Der 24jährige A. B. lebte
schon seit 12 Monaten im Konkubinat mit einem Mäd-
chen; in dieser ganzen Zeit hatte er sie nur ein einziges
Mal geküßt Später heiratete er dieses Mädchen und
versuchte einmal, eine Woche nach der Hochzeit, nach
zwei Monaten ein zweites Mal den Beischlaf mit seiner
Frau. Die Eohabitation gelang jedoch nicht, da A. B.
weder einen Geschlechtstrieb empfand, noch eine Erek-
tion hatte, geschweige denn eine Ejakulation. A. B. ver-
reiste jetzt für vier Monate, verweilte darauf einige Tage
zu Hause ohne Versuch des Beischlafes und verreiste
abermals für längere Zeit. In der ersten Nacht nach
seiner Heimkehr versuchte die Frau, ihn zu einem Bei-
schlaf anzureizen, jedoch vergeblich; der Mann blieb un-
empfindlich und kalt gegen alle Reizversuche. Die Frau
bemerkte in der Folge, daß ihr Mann alle vier Wochen
periodische genitale Blutungen habe, welche
jedes Mal drei Tage andauerten, und begann sich
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— 314 —
den Termin dieser Blutungen zu notieren. Ihr Mann
hatte seine Periode am 24. IV., 22. V., 19. VI., 21. VIL,
14. Vm., 10. IX., 9. X., 1. XI. Sie ging alsdann zu
einem Arzt, mit der Frage, ob ihr Gatte ein Mann sei
oder eine Frau, ob ein Hermaphrodit oder geschlechts^
los? Dr. Parker gibt an, kleine Hoden getastet zu
haben im Hodensack, Penis, Hoden und Harnröhre sollen
normal gebildet sein. Der Mann gab an, niemals einen
Geschlechtstrieb empfunden zu haben, auch von Onanie
nichts zu wissen. Da er sich zum Beischlaf ungeeignet
fühlte, so ging er gern auf die Scheidung der Ehe ein.
Parker vermutet, der GtsXte sei ein Mann, der einen
Uterus besitze. Leider ist die ganze Beschreibung so
wenig eingehend, daß der Leser sich eigentlich gar kein
Urteil bilden kann. Es ist nicht einmal gesagt, ob eine
genaue Untersuchung der Harnröhre stattgefunden hat
und ob die genitale Blutung ex Urethra ausgeschieden
wurde, ob eine Untersuchung per rectum ausgeführt
wurde usw. Persönlich würde ich hier weibliches Schein-
zwittertum für wahrscheinlich halten, mit Concretio la-
biorum majorum und penisartiger Bildung der Klitoris,
ähnlich wie in den Fällen von de Crecchio, v. Engel-
hard t, Gunckel und anderen.
40. Pech („Auswahl einiger seltener und lehrreicher
Fälle, beobachtet in der chirurgischen Klinik der medico-
chirurgischen Akademie zu Dresden", Dresden, 1858,
siehe meinen Aufsatz „Chirurgische Überraschungen auf
dem Gebiete des Scheinzwittertums", in diesem Jahrbuch,
1903, Gruppe I, Fall 21). Konstatierung männlichen
Scheinzwittertums mit Hypospadiasis peniscrotalis und
beiderseitigem Leistenbruch bei einer Prostituierten,
Maria Rosina, dem späteren Gottlieb Göttlich. Coitus
mit Frauen, aber lieber mit Männern, unter Benützung
der Urethra. Vom 16. bis zum 24. Jahre regel-
mäßig alle Monate drei Tage lang diverse Be-
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schwerden nach Art der Molimina menstrualia^
niemals Periode, aber oft Nasenbluten. Eohabi-
tation lieber mit Männern, obgleich Maria Rosina Hoden
besaß und keine Ovarien. Wie sind diese Molimina zu
erklären?
41. Petit (,,Malformation de^ organes g6nitaux^ con-
stituant peut-etre un cas d'hermaphrodisie vrai", Le Pro-
gres M^dical, 1902, S. 22). 20jähriges Individuum mit
männlicher Stimme, ohne Bartanflug, mit weiblichen
Brüsten; Penis hjpospadiaeus 4 cm lang. Scham be-
haart In jedem Leistenkanal ein eiförmiges Ge-
bilde, welches bei jeder seit dem 16. Jahre sich
wiederholenden Menstruation druckempfindlich
wurde. Ein per rectum getastetes Gebilde machte eher
den Eindruck einer Prostata, als eines Uterus. Rechter-
seits eine angeborene Leistenhernie. Petit wollte die
Hemiotomie ausführen, um das Geschlecht zu bestimmen.
In dem kurzen Bericht ist leider nichts gesagt von einem
Vaginalbefande, auch ist nichts über etwaigen Geschlechts-
drang angegeben und ob das Individuum als Mann oder
als Weib erzogen wurde.
42. Potier und Duplessy (siehe Virchow und
Hirsch, Jahresbericht für 1867, Bd. I) beschrieben einen
21jährigen Hypospaden mit regelmäßigen perio-
dischen Blutungen aus dem Genitale. (Leider konnte
ich die Originalbeschreibung nicht erhalten.)
43. Pozzi stellte 1889 in der Pariser Anthropolo-
gischen Gesellschaft ein weiblich gekleidetes Individuum
vor, das er für einen männlichen Scheinzwitter erklärte.
Im 14. Jahre Geschlechtsreife, sieben- bis achtmal
jährlich die Periode. Vom 18. — 20. Jahre männlicher
Geschlechtstrieb mit Ejakulation unterhalb des Penis
hypospadiaeus , nach dem 30. Jahre wurde das Indi-
viduum die Maitresse eines Mannes, kohabitierte aber
außerdem nach wie vor auch mit Weibern.
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— 316 —
44. V. Säxinger (siehe Levy, Hegars „Beiträge zur
Geburtshilfe und Gynäkologie", Leipzig, 1901, Bd. IV,
Heft 3, S. 347 — 360) vollzog den Bauchschnitt an einem
20jährigen, niemals menstruierten Mädchen, wel-
ches jedoch vom 19. Jahre an alle drei Wochen
vier bis fünf Tage lafig über Leibschmerzen klagte
unter gleichzeitiger Temperatursteigerung. Gleich
nach der Geburt hatte die Hebamme das Geschlecht für
weiblich erklärt, weil der Harn unterhalb des Gliedes
ausfloß. Vor drei Monaten hatte das Mädchen einen
stetig wachsenden Tumor in der rechten ünterleibshälfte
bemerkt, sie magerte dabei stark ab und wurde arbeits-
unfähig. Allgemeinaussehen echt weiblich, ohne männ-
liche Gesichtsbehaarung, aber Stimme und Kehlkopf
männlich, Andromastie. Schambehaarnng weiblich. Penis
erektil, hypospadisch, 5,7 cm lang. Die Rinne der ge-
spaltenen Penisharnröhre verbreitert sich nach unten zu
und reicht bis 2 cm vor der Analöffnung. Dort am Ende
dieser Rinne liegt die Hamröhrenmündung. Praeputium
retrahiert, läßt sich nicht soweit nach vorn ziehen, um
die Glans zu bedecken. Man sieht nirgends eine Vaginal-
mündung, wohl aber große Schamlefzen und Spuren der
kleinen seitlich von der Hamröhrenmündung. Jederseits
ein festweiches Gebilde vor dem Leistenkanal getastet,
das sich leicht in die Bauchhöhle schieben läßt^ druck-
empfindlich. Per rectum fand der Finger keinen vagina-
artigen Schlauch zwischen dem Finger in recto und dem
Katheter in Urethra. In der Bauchhöhle zwei sehr
schmerzhafte, große Tumoren, in das kleine Becken
hinabreichend. Während des Hospitalaufenthaltes
hatte das Mädchen allmonatlich die schon ge-
nannten Schmerzen und wuchsen die Tumoren. Nach
Eröffnung der Bauchhöhle zeigte sich eine Exstirpation
der Tumoren nicht ausführbar; wegen ständiger Blutung
aus einer Stelle wurde eine Druckdrainage eingeführt
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und der Leib darüber geschlossen. Tod am nächsten
Tage. Die beiden großen Tumoren erwiesen sich als
Kundzellensarkome der Geschlechtsdrüsen. Es fand sich
aber keine Spur ovariellen Gewebes vor. Es fand sich
ein Uterus mit sehr lang gedehntem Collum und eine
Vagina, welche sich, nach unten zu sehr verengert, dicht
unterhalb der Harnröhrenmündung nach außen öffnete,
18 cm lang. Außerdem fand sich zwischen Vagina und
Mastdarm auf der Höhe des äußeren Muttermundes eine
Cyste mit gespannten Wänden, mit Flimmerepithel aus-
gekleidet; ein faustgroßer Sack, von seröser Flüssigkeit
ausgefüllt Tuben vorhanden, ebenso die runden Bänder.
Die festweichen Gebilde an den äußeren Mündungen der
Leistenkanäle waren Metastasen des Sarkoms der Ge-
schlechtsdrüsen. Die Cervix uteri war ganz eingewachsen
in die malignen Tumoren. Hoden wurden nirgends ge-
funden. Döderlein vermutet, es habe hier Sarkom der
Ovarien vorgelegen. Da sich keine Spur von ovariellem
Gewebe nachweisen ließ, so darf man mit dem gleichen
Recht vermuten, daß es sich um Sarkom in der Bauch-
höhle retinierter Hoden gehandelt habe bei einem männ-
lichen Hypospaden mit hochgradiger Entwickelung der
Müllerschen Gänge. Falls letztere Vermutung die rich-
tige ist, wirft sich von selbst die Frage auf, wie soll man
die allmonatlich sich wiederholenden Unterleibsschmerzen
von je vier- bis fünftägiger Dauer deuten? Hingen
diese Schmerzen vielleicht einfach von dem Sar-
kom ab oder waren es Molimina menstrualia? Da
das Geschlecht hier ganz entschieden zweifelhaft bleiben
muß, so gibt es auch keine Antwort auf diese Frage.
45. Sänger (siehe meine Arbeit „Chirurgische Über-
raschungen auf dem Gebiete des Scheinzwittertums",
Gruppe I, Fall 26) stellte durch Herniotomie und Ex-
stirpation eines Hodens bei einem 23jährigen Mädchen
männliches Scheinzwittertum fest. Amenorrhoe, aber
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alle vier Wochen einige Tage lang andauernde
Schmerzen im ünterleibe, den Leisten und den
Brüsten. Diese Schmerzen wurden in der letzten
Zeit so starke daß das Mädchen arbeitsunfähig
wurde. Es war zunächst die irrtümliche Diagnose:
Rechtsseitige Ovarialhernie gestellt worden.
Normale Vulva, Scheide in der Tiefe blind ge-
schlossen, kein Uterus getastet Links Kryptorchismus
vermutet.
46. Sänger (siehe ibidem) entfernte bei einer 32-
jährigen Lehrerin durch linksseitige Hemiotomie aus dem
Leistenbrach Uterus, rechte Tube, Parovariumcyste und
Hoden, rechts Kryptorchismus vermutet. Die Operation
ergab Erreur de sexe. Amenorrhoe, aber alle drei
bis vier Wochen regelmäßig Unterleibsschmerzen.
Vulva normal weiblich. Vagina endete in der Tiefe von
7— 8 cm blind.
47. E. V. Sal6n („Fall von Hermaphroditismus verus
unilateralis beim Menschen", Verhandlungen der deut-
schen pathologischen Geseljschaft, Berlin, 1900) vollzog
1899 mit gutem Ausgange eine utero-ovarielle Ampu-
tation wegen eines Uterusmyoms, das cystisch degeneriert
war, bei einer 43jährigen Frau, welche vom 17. Jahre
an menstruierte und ohne Geschlechtsgenuß mit Män-
nern kohabitierte. Unverehelichte Person. Allgemein-
aussehen weiblich, Klitoris 5 cm lang, große und kleine
Schamlippen normal. Die sehr enge Scheidenöffnung
läßt eine Sonde 8 cm tief ein. Tuben und Uterusliga-
mente normal. Links fand sich ein normaler Eierstock,
die rechte Geschlechtsdrüse soll eine Zwitterdrüse ge-
wesen sein, also sowohl Graafsche Follikel, als auch
Hodengewebe enthalten haben, aber ohne daß es gelang,
Spermatogonien nachzuweisen. Der Ovarialteil der rechten
Geschlechtsdrüse ist grobhöckerig, von gelber Farbe und
derber Konsistenz, weist Graafsche Follikel auf und
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ganz typische Eizellen^ in einem spindelreichen Stroma
eingebettet; der Hodenteil ist eben, von ziemlich weicher
Konsistenz, mit weißglänzender Tnnica albuginea, Paren-
chym locker, von braungrauer Farbe und von weißen
Bindegewebssepta durchzogen, weist Tubuli seminiferi auf,
die in einem lockeren, von größeren und kleineren An-
häufungen fett- und pigmentreicher Zwischenzellen durch-
setzten Bindegewebe liegen. Struktur wie bei einem ek-
topischen Hoden nach erreichter Pubertät.
48. Sampson („ Eph^m^rides de TAcad^mie des
Curieux de la Nature", 1772, erwähnt von Arnaud,
l. c, S. 276) beschrieb die 1674 in ßingwood (Middlesex)
geborene Hanna Wilde: Im 6. Jahre plötzlich Descensus
testiculorum bei Hjpospadiasis peniscrotalis erkannt. Va-
gina mit zwei Carunculae myrtiformes. Bis zum 13. Jahre
galt Hanna als Mädchen, dazumal trat ein Penis aus
der Vulva hervor, 4 Zoll lang. Die Regel soll im
16. Jahre eingetreten sein und sich regelmäßig
alle vier Wochen wiederholt haben. Männliche
Gesichtsbehaarung und männliche Brüste. Hanna zeigte
sich für Geld in .England und Holland und gab an, mit
Männern und mit Frauen zu kohabitieren; sie kohabi-
tierte aber lieber mit Frauen, weil alsdann ihr eigenes
Glied sich erigierte, welches schlaflF blieb beim Beischlaf
mit Männern.
49. Steglehner („De hermaphroditorum natura",
Bamberg und Leipzig, 1817, S. 120). Fräulein N. v. B.,
1792 geboren, von hohem Wuchs und angenehmem
Äußeren, hatte niemals die Periode, aber ziemlich
regelmäßig Molimina menstrualia. Im 23. Jahre
Tod an Phthisis pulmonum. Die Mutter verlangte die
Sektion, um zu wissen, warum die Tochter die Regel
niemals hatte, wahrscheinlich hatte sie selbst das Ge-
schlecht der Tochter angezweifelt. Allgemeinaussehen
und Scham absolut weiblich, die Vagina endete in der
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Tiefe blind. Hymen vorhanden, weder üteras noch Ova-
rien gefanden, wohl aber fand Steglehn er za seinem
größten Erstaunen linkerseits — „mehercule sane mi-
rum et inauditum!" — in der Nähe des Leistenkanals
einen Hoden, ein Vas deferens und Nebenhoden. Der
Bau dieser Gebilde war normal.
50. Swasey und Mundo konstatierten bei einer
46jährigen Köchin Hypospadiasis peniscrotalis mit dem
Anschein einer normalen Vulva. Man tastete weder einen
Uterus, noch Ovarien. Niemals Regel, aber perio-
disch wiederholte sich eine Flüssigkeitsausschei-
dung aus einer Fistelöffnung der Hautdecken in
der Sternalregion. Zwei in den großen Schamlefzen
getastete Körper erklärte Swasey für ektopische Ovarien,
Mund^ für Hoden. Die Frau ging auf einen diagnosti-
schen Einschnitt nicht ein. Andere Autoren faßten die
Flüssigkeitsausscheidung als Seborrhoe auf.
51. Targett („Two cases of spurious hermaphro-
ditism", Obstetrical Society 6f London, Transactions
3. X. 1894, Vol. XXXVI, S. 272). Individuum von weib-
lichem Aussehen, aber kleinen Brüsten und männlicher
Stimme; Membrum virile 3 Zoll lang. Das Scrotum fis*
sum enthält in jeder Hälfte eine Geschlechtsdrüse. Penia
hypospadiaeus, Hamröhrenöffnung weiblich, regelmäßige
Menstruation aus der Vagina. Q-eschlechtstrieb rein
männlich. Das Individuum lebt in wilder Ehe mit einem
Frauenzimmer und kohabitiert als Mann. Während des
Orgasmus ergießt sich ex vulva eine Flüssigkeit, welche
aber keine Spermatozoiden enthält. Targett hält dieses
Individuum für ein Weib mit beiderseitiger Ovarial-
ektopie.
52. Tortual („Ein als Weib verheirateter Zwitter
vor dem kirchlichen Forum*^, Vierteljahrsschrift für ge-
richtliche Medizin, Bd, X, 18). F. heiratete ein 37 jäh-
riges Dienstmädchen, überzeugte sich aber gleich in der
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— 321 —
Hochzeitsnacht davon, daß ein Beischlaf mit seiner Frau
unmöglich sei wegen Enge der Scham, sofortigen Aus-
fließens des Samens, endlich, weil seine Frau auch ein
männliches Organ besaß. Er entschädigte sich also an
anderen Frauen. Seine Frau, darüber erbittert, machte
ihm Szenen. Seit zwei Jahren hatte er seine Frau da-
her verlassen. Das bischöfliche Ordinariat veranlaßte
eine Untersuchung der Frau: Sie hat sich stets für ein
Weib gehalten und behauptete, vom 19. Jahre an
alle fünf bis sechs Wochen die Periode zuhaben.
Allgemeinaussehen eher männlich. Der Physikus erklärte
sie f&r dauernd untauglich zum Beischlaf. Jederseits in
der Schamlefze Hoden und Samenstrang getastet Kleine
und große Schamlefzen vorhanden. Penis hypospadiaeus
erektil, '/s Zoll lang. Unterhalb der Hamröhrenmündung
die enge Mündung einer in der Tiefe von l^/g Zoll blind
endenden Scheide. Es scheint mir die Angabe der regel-
mäßigen Periode unwahrscheinlich angesichts der blind
endenden Scheide und des Umstandes, daß nichts er-
wähnt wird von einer Abtastung eines Uterus.
53. Unterberger („Ein Fall von Pseudohermaphro-
ditismus femininus extemus mit Koinzidenz eines Ovarial-
sarkoms, Laparotomie '^ Monatsschrift für Geburtshilfe
und Gynäkologie, April 1901, S. 436). Ein 14jähriges
Mädchen wurde in die Klinik gebracht behufs Exstir-
pation eines Tumors aus der Bauchhöhle. Das Aussehen
der äußeren Genitalien sprach für männliche Hypospadie.
Da die Hebamme das Kind für ein Mädchen erklärt
hatte, wurde es als solches erzogen. Das Kind spielte
wohl mit anderen Mädchen, half aber am liebsten dem
Vater bei dessen Arbeit und zeichnete sich durch un-
gemein kräftigen Körperbau aus. Vor acht Monaten
hatte einmal eine achttägige Blutung aus dem
Genitale stattgehabt, welche sich aber später
nicht mehr wiederholte. Seit jener Zeit klagte das
Jahrbueh VI 21
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— 322 —
Mädchen über Leibschmerzen und der Tumor im Bauche
wuchs und wurde sehr schmerzhaft auf Berührung. Sämt-
liche sekundären Geschlechtscharaktere männlich, bis auf
Mangel männlicher Gesichtsbehaarung — das Mädchen
war ja erst 14 Jahre alt — Schambehaarung aber weiblich
und sehr spärlich. Der Tumor überragte den Nabel.
Das Geschlechtsglied, wie ein hypospadischer Penis aus-
sehend, so lang und dick wie der Mittelfinger. Zwischen
den Schamlefzen eine Spalte, in deren Grunde die Ham-
röhrenö&ung lag; nichts von einer Yaginalmündung zu
sehen. Eechterseits Leistenhernie mit Darminhalt, linker-
seits in der Leistenhernie außer Darm noch ein Gebilde
tastbar, welches weder ein Hoden, noch ein Ovarium zu
sein schien. Per rectum tastete man ein Gebilde, welches
mit dem Tumor in Verbindung stand. Unterb erger
sah es für einen Uterus an, den Tumor für einen Ovarial-
tumor, und machte den Bauchschnitt Den entfernten
linksseitigen mannskopfgroßen Tumor sah er für ein
Ovarialsarkom an, obgleich keine Spur von ovariellem
Gewebe mikroskopisch nachweisbar. Die Blutung vor
acht Monaten sah er für eine menstruelle an mit
Ausscheidung des Blutes aus der Harnröhre, in
welche vermutlich die Vagina münde. Es fand
sich ein kleiner Uterus mit beiden Tuben, rechterseits
fand sich an der Hinterfläche des Ligamentum latum ein
Gebilde, welches Unterberger makroskopisch für einen
rudimentären Eierstock ansah. Man fand beide runden
Bänder und glaubte Unterberger unterhalb der Cervix
uteri gleichsam eine Gewebsduplikatur zu tasten, in der
er eine Vagina vermutete, welche entweder in urethram
münden sollte oder mit der Urethra zugleich in den
Sinus urogenitalis. Meines Erachtens beruht die Ge-
schlechtsdiagnose hier nur auf Vermutungen, ebensowohl
kann man den Tumor für eine Kryptorchis sarcomatosa
ansehen. Unterberger hätte angesichts der bösartigen
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— 323 —
Degeneration der einen Geschlechtsdrüse unbedingt auch
die andere entfernen sollen. Das Mikroskop hätte dann
vielleicht Anfechluß über das Geschlecht gegeben. Ich
erwähne diesen Fall hauptsächlich wegen jener Blutung
ans dem Genitale, deren Bedeutung absolut unklar bleibt.
54. Vaughan (siehe im Vorhergehenden Fall 45).
Ein hypospadischer Neger mit nur teilweise gespaltenem
Scrotum, 21 Jahre alt, hatte alle Monate eine drei-
tägige Blutung aus der Harnröhrenmündung. Bei
genauerer Untersuchung ergab sich, daß die vermeint-
liche HarnröhrenmünduDg die Mündung des Oanalis uro-
genitalis war; es gelang nämlich, mit einer Sonde von
diesem Kanäle aus in einen zwischen Mastdarm und
Blase gelegenen Sack zu dringen, in einen Uterus. In
der rechten Hälfte des nur oben gespaltenen Scrotum
zwei Gebilde tastbar, deren oberes allmonatlich an-
schwoll und druckempfindlich wurde. Kleine Scham-
lippen vorhanden. Geschlechtsdrang männlich. Dürfte
dieser angebliche Hypospade nicht eher ein Weib sein
mit inguinolabialer Ektopie eines Ovarium? Dies er-
scheint am wahrscheinlichsten.
55. Virchow (siehe im Vorhergehenden Fall 96).
Die berühmt gewordene Katharina, der spätere Karl
Hohmann besaß, wie zweifellos festgestellt ist, eigenes
Sperma, trotzdem fand bei ihr periodisch alle drei bis
vier Wochen unter charakteristischen Beschwer-
den und mit Colostrumgegenwart in den Brüsten
vom 20. bis zum 80. Jahre regelmäßig, dann bis zum
42. J^hre unregelmäßig eine zweitägige Blutausscheidung
aus den Genitalien statt. Ahlfeld vermutete, es handle
sich um Betrug, sie habe stets einige Tage vor der an-
geblichen Genitalblutung Nasenbluten gehabt und sich
mit diesem Blute die Genitalien beschmiert Diese Skep-
sis scheint etwas zu weit zu gehen, denn unter den vielen
Forschem, welche Katharina untersucht haben, sind auch
21»
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— 324 —
solche, welche mit dem Katheter das Blut ans der schein-
baren Hamröhrenmündung entleert haben, welche die
Ausmündang des Canalis nrogenitalis war. Ich sehe
keinen Grund, die Behauptung der diesbezüglichen
Forscher, die Angabe der periodischen Genitalblutungen
Hohmanns beruhe auf strikter Wahrheit, anzuzweifeln.
66. Walker („A case of Pseudohermaphroditism",
New York Med, Journal, Vol. LX, S. 434; siehe auch
Denver Med. Times, 1894, Vol. XIV, S. 139; desgleichen
Denver Colorado Med. Soc, 1894, S. 362, und Referat:
Frommeis Jahresbericht für 1894, 8. 878). Wahrschein-
lich männlicher Hypospade, jederseits in dem gespaltenen
Scrotum Gebilde getastet, die für Hoden und Nebenhoden
angesprochen werden. Rudimentäre Vulva mit kleinen
Schamlippen. Brüste weiblich, außerdem besteht eine
genau vierwöchentlich auftretende Epistaxis,
auch soll früher zeitweilig der Harn blutig ge-
wesen sein. Im ganzen hat der Körper mehr männ-
liche Form und das Individuum männlichen Geschlechts-
drang.
57. Walther (Bulletins et M^moires de la Soci6t4
de Chirurgie de Paris, 14. X. 1902, Tome XXVDI,
Nr. 31, S. 938, u. Nr. 32, S. 972). Der 24jährige Sattler
X. X. trat am 3. IX. 1902 in das Hospital de la Pitiö
ein, mit dem Verlangen einer plastischen Operation be-
hufs Behebung der Verunstaltung seiner Genitalien. Nach
der Geburt war sein Geschlecht als weiblich bestimmt
worden, später jedoch wurde auf das Verlangen eines
Arztes hin das Geschlecht für männlich erklärt. Die
Scham sah aus wie bei peniscrotaler Hypospadie oder
aber wie eine weibliche Scham bei Klitorishypertrophie.
Das scheinbar gespaltene Scrotum erwies sich leer, aber
in der Mündung des rechten Leistenkanals tastete man
ein Gebilde von der Größe eines kleinen Eies, druck-
empfindlich, an eine Geschlechtsdrüse erinnernd. Eine
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— 325 —
ähnliche Hernie mit ähnlichem Inhalt fand sich auch
linkerseits. Per rectum tastete man keinerlei charakte-
ristische Gebilde. Das allgemeine Aussehen war ein
zwischen männlichem und weiblichem in der Mitte
stehendes, also weder ausgesprochen männlich, noch aus-
gesprochen weiblich. Der Mensch verriet aber einen ge-
wissen Grad von Infantilismus in seiner Entwickelung;
trotz seiner 24 Jahre besaß er keine Spur eines Bart-
anäuges. Becken, und Brüste weiblich. Stimme indiffe-
rent. Harnröhrenöfihung anscheinend weiblich. Seit
dem 16. Jahre entleeren sich allmonatlich un-
gefähr 150 ccm Blut aus der anscheinenden Harn-
röhrenöffnung. Diese allmonatliche Blutung
dauert stets zwei bis drei Tage. Gleichzeitig
schwellen die Leistengegenden an, die in Leisten-
hernien angeblich vorhandenen Ovarien. Trotz
dieser anscheinenden menstruellen Blutungen
fühlt sich das Individuum als Mann und verrät
absolut männlichen Geschlechtstrieb. EiS treten
jedesmal, wenn sich dieses Individuum in weiblicher Ge-
sellschaft befindet, sehr energische Erektionen dee Penis
ein. Penis hypospadiaeus. Angeblich soll nur die Ab-
wärtskrümmung des erigierten Gliedes die Ursache sein,
weshalb ein Coitus mit einer Frau bisher nicht versucht
wurde. Während der Erektionen erfolgte eine Ejaku-
lation, in dem Ejakulat konnte jedoch Legnail Lava-
stine keine Spermatozoen nachweisen. Einige Tage nach
der Vorstellung dieses Individuums in der Pariser Ärzt-
lichen Gesellschaft vollzog Walther die beiderseitige
Hemiotomie: Er fand in der rechtsseitigen Hernie einen
atrophischen Eierstock und eine Tube, welche er in die
Bauchhöhle hineinschob; linkerseits jedoch trug er den
Bruchinhalt ab: der linksseitige Bruch enthielt den mitt-
leren Anteil der linken Tube, deren uteriner und peri-
pherer Teil in der Bauchhöhle lagen. Sactosalpinx mit
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— 826 —
dem sklerotischen Ovarium verbacken^ das cystisch ent-
artet und mit dem Netz verbacken war. Die Entfernung
der degenerierten linksseitigen Adnexa samt Netz darch
die Wunde des Leistenschnittes war schwer. Walther
fügte den Bauchschnitt hinzu, um sich zu überzeugen^
daß bei der Operation nichts versäumt war behufe Blut-
stillung an den vier Amputationsstümpfen des Omentum
und den zwei Amputationsstümpfen der Tube und des
linksseitigen Ovarium. Er fand bei dieser Gelegenheit
in cavo abdominis einen Uterus, welcher klein erschien.
Dieses Individuum war also, trotzdem aller Anschein für
männliches Geschlecht sprach, ein Weib. Vor Ausfüh-
rung dieser Operation hatten sowohl Lucas-Ghampion-
niöre als auch F61izet in der Diskussion ihre Ansicht
dahin geäußert, daß es ein Mann seL
58. B. Will („Ein Fall von Hermaphroditismus
masculinus'S In.-Diss., Greifswald, 1896) beschrieb eine
beiderseitige Hemiotomie bei der unverehelichten 54-
jährigen Kristine W., einem männlichen Hypospaden.
Bei der Operation wurden beide Hoden entfernt Nie-
mals Periode und doch gleichwohl vom 17. bis
zum 40. Jahre allmonatlich periodische Schmerzen
ziehenden Charakters im Unterleibe. Kristine be-
saß eine schon in der Höhe von 1 ^2 Zoll blind endende
Scheide, kohabitierte nur mit Männern, und zwar benutzte
sie hierfür die Urethra, welche jetzt für den zweiten
Finger eingängig war. Den Beischlaf mit Männern voll-
zog sie ohne jegliche Libido, empfand selbst männlichen
Geschlechtsdrang, hat aber niemals einen Beischlaf mit
einem Weibe versucht.
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Vorläufige Mitteilungen
über
die Darstellung eines Schemas
der
Geschlechtsdifferenzierungen.
Von
L. S. A. M. T. BOmer,
med. doctB. Arzt, Amsterdam.
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ISs ist zweifellos von Bedeutung für wissenschaft-
liche Forschungen, die möglichen und existierenden Diffe-
renzierungen zwischen Vollmann und Vollweib, d. h. die
sexuellen Zwischenstufen, übersichtlich anzuordnen.
Wir haben versucht, in folgenden Tabellen ein
Schema zu entwerfen, das vielleicht wissenschaftlich ver-
wendbar ist.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, haben wir völlig
neu gebildete Wörter gebraucht, welche, wie wir glauben,
die Begriffe genau bezeichnen«
Nach unserer Ansicht kann man die Geschlechter
nur genau bestinunen, wenn man bei jedem Individuum
betrachtet:
I. Geschlechtsdrüse,
n. Körperbau,
m. Psychische Eigenschaften,
IV. Sichtung des Geschlechtstriebes.
Um bei der absoluten Geschlechtsbestimmung mög-
lichst wenig Fehler zu machen, wird man mit derselben
bis nach der Pubertät zu warten haben.
Wir haben das Leben in drei Perioden geteilt:
L Prohebetisch (abgeleitet von nQÖ = vor und ^ßt]
= Reife), bis zu 15 Jahren,
II. hebetisch (abgeleitet von ^ßTJ), von 15 bis
20 Jahren,
ni. methebetisch (abgeleitet von fjLira = nach und
fißf]), nach 20 Jahren i)
^) Diese Alterszahlen gelten als Durchschnittszahlen nnd
sind natürlich cum grano salis zu verstehen.
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— 330 —
Wenn die Art der Geschlechtsdrüse genau schon in
der prohebetischen Periode zu bestimmen ist, so beginnt
der Körper doch erst in der hebetischen sich zu diffe-
renzieren, und die Richtung des sogenannten Geschlechts-
triebes ist erst in der methebetischen Periode, wenn wir
so sagen dürfen, konsolidiert.
Nach der Beschaffenheit der Geschlechtsdrüsen
können wir die Menschen in zwei große Gruppen ein-
teilen. (Die eigentlichen Hermaphroditen beachten wir
hier nicht)
I. Orchiphore (abgeleitet von ö^/ig = Hoden und
(pigo) = ich trage),
II. Metraphore (abgeleitet von fAi^rga = Gebärmutter,
und (piQooy
Der Körper kann bei einem vollkommen geschlechts-
reifen Menschen sich zeigen als:
A. Arrenop (abgeleitet von äggevconög = mit
männlichem Äußeren),
B. Diphyetisch (abgeleitet von Si^w^g = von dop-
pelter Natur),
C. Thelyphan (abgeleitet von O-TjXvcpavi^g = mit
weiblichem Äußeren).
Die ausgesprochene Form des thelyphanen Orchi-
phoren ist der männliche Scheinzwitter, des arrenopen
Metraphoren aber der weibliche Scheinzwitter. Der
absolute Vollmann ist also der arrenope Orchiphor
xa&* ^oxvvj das absolute Vollweib der thelyphane Metra-
phor.
Die Mehrzahl der Menschen wird aber zu den
Diphyetischen gerechnet werden müssen.
Diese Diphyetischen lassen sich nun wieder in fol-
gende Typen teilen:
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— 331 —
AA. Protomorph (abgeleitet von 7tQ(QTog ^ erster
und fJLOQff^ = Gestalt), d. h. ein
Körper, der in der äußeren Form
im großen und ganzen überein-
stimmt mit dem Typus der Ge-
schlechtsdrüse, obwohl die Mino-
rität der Körperteile dem Typus
der anderen Geschlechtsdrüse
zukommen würde.
BB. Isomorph (abgeleitet von laog = gleich und
lioQ(f'fi)i d. h. ein Körper, den
man mit Außerachtlassung der
Geschlechtsteile zum einen wie
zum anderen Typus rechnen
könnte.
CG. Deuteromorph (abgeleitet von SevrtQog = der
zweite und fAOQqjtj), d. L ein
Körper, dessen Geschlechtsdrüsen
den einen Typus, dessen übrige
Körperteile aber in Maj orität oder
ganz den anderen Typus haben.
Das schönste Beispiel der Isomorphie bietet jeder
menschliche Körper in der prohebetischen Periode. Die
meisten Dionysos- und Apollostatuen verkörpern die Iso-
morphie der hebetischen Periode.
Von Protomorphie in der prohebetischen Periode
könnte man vielleicht sprechen, wenn z. B. ein „Knabe"
(also ein prohebetischer Orchiphor) durch angestrengte
Gymnastikübung eine für sein Alter zu stark ausge-
sprochene Muskulatur besäße; doch wird man ernstlich
diesen Fall kaum erwähnen müssen.
Protomorph in der hebetischen und methebetischen
Periode sind die meisten griechischen Jünglingsstatuen.
— Protomorph sind femer alle Gynäkomasten, welche,
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— 332 —
mit Ausnahme der Brastdrüse, einen vollständig gut ge-
bildeten „männlichen" Körper haben.
Deuteromorph, d. h. fast vollständig weiblich, ist der
junge Mann auf Figur 11 und III zu nennen^ der an
Becken, Brust und Kehlkopf weibliches Gepräge, auch
vöUige Bartlosigkeit aufweist.^)
Noch stärker tritt die Deuteromorphie in Figur I
hervor; hier ist der Penis das einzige Zeichen der Männ-
lichkeit Wir würden den Abgebildeten als thelyphanen
Orchiphoren bezeichnen, wenn das Glied weniger deut-
lich und weniger normal reproduziert wäre.
In ausgesprochenem Maße protomorph ist der Typus,
dessen Schulter- und Beckengürtel Dr. Hirschfeld in seinem
„ümischen Menschen'^ (Bd. V dieses Jahrbuchs) beschreibt
Arrenop ist er noch nicht da seine Schambehaarung
nicht männlich zu nennen ist. — Ich hoffe dieses Jahr
noch eine sozusagen vollständige Skala dieser Nuancen
der Körperform zusammenstellen zu können. Vorläufig
mögen die eben genannten Bilder meine Auffassung ver-
ständlicher machen.
In Tabelle II haben wir die Variationen zusammen-
gestellt, die uns bei der Untersuchung der Körperformen
in den verschiedenen Lebensperioden entgegentreten.
Die Zusammenstellung wird wohl für sich selber
sprechen. Die dreizehn vorkommenden Typen haben wir
wieder in zwei Gruppen geteilt, deren Grundtypus proto-
morph oder deuteromorph ist, wenn wir die vollkommen
entwickelte Form als Kriterium nehmen. Selbstredend
^) Der Herausgeber hat gemeint, aus RückBlcht anf die allem
Anschein nach schou auf die äußerste Spitze getriebene Prüderie
der Deutschen, die Figuren II und lU nicht veröffentlichen zu dürfen.
Es ist ein charakteristisches Zeichen, daß ernste wissenschaftliche
Forschung bereits darauf verzichten muß, die unverhüllten Formen
des Menschenleibes zum Zweck der Aufklärung und Belehrung
im Bilde vorzuführen. (L. S. A. M. von Bömer.)
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— 338 —
wird dann beim Orchiphor wie beim Metraphor der proto-
morphe Typus mehr getroffen, als der deuteromorphe.
Der wirklich normale Mann wird also dargestellt
durch Gruppe I — III.
Der vollständige männliche Scheinzwitter (ein Indi-
viduum, dessen Körper mit Ausnahme der Gteschlechts-
drilse weiblich gebildet ist) fällt unter Gruppe XI — XTTL
Gruppe IV hat zwar als Endform einen Arrenopen,
aber da in der hebetischen Periode ein deuteromorphisches
Stadium durchgemacht wurde, kann man die Repräsen-
tanten dieser Gruppe nicht mehr „normale Männer** nennen.
Grupe IV — X bilden die körperlich-sexuellen Zwi-
schenstufen mit einer ungemein fein nuancierten Auf-
einanderfolge.
Bei den Protomorphen wie bei den Deuteromorphen
ist speziell die Bildung der äußeren Geschlechtsteile zu
beachten.
Es gibt doch Scheinzwitter, die mit Ausnahme der
äußeren Geschlechtsteile völlig arrenop sind; diese können
also nicht zu den Thelyphanen gerechnet werden; wir
müssen sie unter die Protomorphen reihen. Sie stehen
also auf der gleichen Linie wie der Orchiphor, der nur
einen thelyphanen Kehlkopf hat.
Wenn wir nun die psychischen Eigenschaften der
Individuen näher betrachten, erhalten wir eine sehr be-
trächtliche Anzahl von Variationen, die man (sit venia
verbo!) geistig-sexuelle Zwischenstufen nennen könnte.
Die absolut „männliche" Psyche (Psyche im wei-
testen Sinne: alle nicht direkt körperlichen Eigenschaften)
nennen wir:
1. Epandrisch (abgeleitet von ÜnavSoog = mannhaft).
Die absolut „weibUche" Psyche aber:
8. Gynäkophron (abgeleitet von yvvaixötpQwv = mit
weiblichem Gemüt).
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— 834 —
Dazwischen befindet sich wieder:
2. Der Diphron (abgeleitet von Si = zwei und (pQoov).
Beim Diphron unterscheiden wir aber wieder;
AA. Gynandrophron (abgeleitet von yvvavSgog =
Weibmann und (pQ(Dv).
BB. Isophron (abgeleitet von Yaoq = gleich
und (pQ(Dv),
CG. Androgynäkophron (abgeleitet von e^i/^^^ö'y wog ==
Mannweib und (pQcov).
Auch hier werden wir die meisten Menschen zum
diphronen Typus rechnen.
Der von Geburt an körperlich „absolut männlich"
geartete Meusch ist ja wie der geistig ^^absolut männ-
liche", wenn nicht einfach eine Abstraktion, so doch ein
Unikum.
In Tabelle III ersehen wir die verschiedenen Kom-
binationen, welche möglich sind, wenn man die Psyche
in den verschiedenen Lebensaltern untersucht — Wir
finden aber fünf Gruppen, von denen jede wieder in fünf-
undzwanzig Untergruppen zerfällt. Höchst unwahrschein-
lich sind, wie sofort einleuchtet, in I die Untergruppen
21 — 25; in V die Gruppe 1 — 5. Diese psychische Ta-
belle ist so aufzufassen, daß jeder der dreizehn körper-
lichen Typen von Tabelle II psychisch zu einer dieser
Untergruppen gehören kann, sodaß im ganzen beim Orchi-
phor 13 X 125 = 1625 Nuancen vorkommen können, und
zwar in allgemeinen Typen.
Wir werden nun nach dem Vorhergehenden den
„normalen Mann" klassifizieren zu: körperlich I, 11 oder
III; psychisch aber zu: I, 1, 2, 3, 6, 7, 8, 11, 12, 13.
Der absolut „Eflfeminierte" gehört unter: körper-
lich X; psychisch V, 23, 24, 25, 18, 19, 20, 14, 15, 16.
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— 836 —
Zwischen diesen beiden „Endpunkten** der Orchi-
phoren finden sich die übrigen Zwisdienstufen.
Tabelle IV zeigt uns die Kombinationen, welche im
Eonjunktionstrieb auftreten. — Eonjunktionstrieb nennen
wir den jedem Menschen eingeborenen Trieb, sich mit
dem Objekte^ welches in ihm eine Lustempfindung aus-
löst, zu vereinigen. Dieser Trieb liegt den sozialen, wie
auch den sogenannten sexuellen Vereinigungen der Men-
schen zu Grunde.
Der Konjunktionstrieb kann nun gerichtet sein auf
einen der beiden Grundtypen der Menschen oder auf
beide.
Die Ausdrücke, welche wir zur Bezeichnung dieser
Triebrichtungen gewählt haben, lauten:
1. Heterophil (abgeleitet von Hbqo^ = der andere
und (piX§iv = lieben).
2. Amphiphil (abgeleitet von äpitfi = nach beiden
Seiten und (pileiv),
welche Art wieder zerfällt in:
a) Deuterophil (abgeleitet von SevTB^og == der an-
dere von zweien und tpikBiv).
b) Hekaterophil (abgeleitet von hearsgog = jeder von
zweien).
c) Protophil (abgeleitet von ngcöroq = der erste).
3. Homoiophil (abgeleitet von Öfioiog = der gleiche
und (fiXetv).
Wir haben diese Ausdrücke von (piXetv abgeleitet,
nicht von koäv, da in diesem allgemeinen Begriffe von
Leidenschaft oder Sexualität nicht die Rede ist.
Dem Konjunktionstrieb (abgeleitet von Conjunctio,
Vereinigung in jeder Beziehung) können wir nun folgende
Qualitäten zuschreiben:
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— 386 —
1. somatisch^
2. psychisch,
3. pterophyetisch,
4. apterotisch.
Um die beiden letzten Ausdrücke zu verstehen, lese
man folgende Stellen ans Piatons Phädrus nach, E^p. 84
bis 87. Ich gebe die deutsche Übersetzung von Prantl
(Langenscheidtsche Bibliothek).
„84. Sowie wir im Anfange dieser von uns erzählten
Kunde dreifach eine jede Seele teilten, nämlich in irgend
zwei Gestalten in der Form von Eossen und in die des
Wagenlenkers als dritte Gestalt^ so möge auch jetzt uns
all dieses bestehen bleiben. Von den Rossen aber nun
ist das eine, sagten wir, gut, das andere nicht; worin
aber die Vortrefflichkeit des guten oder die Schlechtig-
keit des schlechten bestehe, haben wir nicht auseinander-
gesetzt, sondern müssen dies jetzt erst angeben. Das
eine der beiden demnach, welches an der schöneren Seite
sich befindet, ist von Gestalt gerade und wohlgegliedert,
hochnackig, von gebogener Nase, weiß von Farbe, schwarz-
äugig, ehrliebend mit Besonnenheit und Scham, ein Ge-
fährte der wahren Meinung, ohne von einem Stachel ge-
trieben zu sein, wird es bloß durch Zuruf und Vernunft
gelenkt; das andere aber hinwiederum ist krumm, plump,
unordentlich zusammengestellt, starknackig, kurzhalsig,
stumpfnasig, schwarz von Farbe, katzenäugig, blutunter-
laufen, ein Gefährte des Frevels und Übermutes, an den
Ohren zottig, taub, der Peitsche samt dem Stachel mit
Mühe gehorchend. 85. Wenn aber also der Wagenlenker
beim Anblick der zur Liebe reizenden Erscheinung in
seiner ganzen Seele vermittelst der sinnlichen Wahrneh-
mung durchwärmt von den Stacheln des Kitzels und der
Sehnsucht erfüllt ist, so hält jenes der zwei Bosse,
welches im Gehorsam gegen den Wagenlenker stets und
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— 387 —
auch jetzt von Scham beherrscht wird, sich selbst zu-
rück, daß es nicht auf den Geliebten springe; das an-
dere aber kehrt sich weder an den Stachel des Wagen-
lenkers mehr, noch an die Peitsche, sondern in einem
Satze stürmt es mit Gewalt fort, und indem es sowohl
seinem Gespanngenossen als auch dem Wagenlenker alles
Mögliche zu schaffen macht, nötigt es sie, zu dem Lieb-
lingsknaben hinzugehen und eine Erwähnung zu machen
von der Gunst des Lieblingsgenossen. Jene beiden aber
streben anfangs entrüstet entgegen, da sie zu Argem und
Gesetzwidrigem gezwungen werden, zuletzt aber, wenn kein
Ende des Unheils ist, lassen sie sich leiten und gehen
mit, indem sie nachgeben und es zugestehen, das Ver-
langte zu tun. Und ihm nun nähern sie sich und sehen
das blitzende Antlitz des Lieblingsknaben, und sowie der
Wagenlenker es gesehen, so wird seine Erinnerung zur
Natur des Schönen geführt, und er erblickt dieselbe
wieder, wie sie zusammen mit der Besonnenheit auf einer
heiligen Schwelle ruhig steht; sowie er sie aber erblickt
hat, schrickt er zusammen und von heiliger Scheu er-
griffen sinkt er rückwärts nieder und wird dabei zugleich
genötigt, die Zügel so heftig zurückzuziehen, daS beide
Eosse sich auf die Hüften setzen, das eine freiwillig, weil
es nicht widerstrebt hatte, das frevelhafte aber sehr un-
freiwillig; nachdem aber hierdurch die beiden weiter hin-
weggekommen waren, benetzt das eine vor Scham und
Entsetzen die ganze Seele mit Schweiß, das andere aber,
nachdem der Schmerz nachgelassen, welchen es durch
den Zügel und den F'all gehabt hatte, atmet kaum wieder
auf, als es sogleich im Zorn zu schmähen beginnt, den
Wagenlenker und den Gespanngeuossen arg scheltend,
daß sie aus Feigheit und Unmännlichkeit ihrem Platze
und ihrem Versprechen ungetreu geworden, und indem
es sie noch einmal zu zwingen versucht, wider ihren
Willen hinzugehen, gibt es mit Mühe ihren Bitten nach,
Jahrbuch VI. 22
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— 338 —
dies auf ein anderes Mal zu verschieben. Wenn aber
der so übereingekommene Zeitpunkt eingetreten ist, so
erinnert es jene, da dieselben sich stellen, als hätten sie
es vergessen, daran, und indem es gewaltig sich geberdet,
wiehert und sie mit sich fortzieht, zwingt es sie, dem
Lieblingsknaben sich vrieder zu nähern zum Behufe der
nämlichen Reden; und sobald sie in der Nähe sind^
nimmt es den Kopf zwischen die Beine, streckt den
Schweif aus, beißt in den Zügel und zieht sie schamlos
mit sich fort; der Wagenlenker aber, welchem noch in
höherem Grade das Vorige widerfährt, stürzt gleichsam
wie von einer Schranke rücklings, und indem er in noch
höherem Grade den Zügel des frevelhaften Rosses mit
Gewalt aus den Zähnen desselben nach rückwärts reißt,
macht er die schmähsüchtige Zunge und die Backen des-
selben blutig und, die Schenkel und Hüften zur Erde
niederstoßend, bereitet er ihm Schmerzen. Wenn aber
dem bösen Rosse dies Nämliche oft widerfahren ist und
hierdurch seine Frechheit nachgelassen hat, so folgt es
jetzt bereits gedemütigt dem vorsichtigen Denken des
Wagenlenkers und vergeht vor Furcht, wenn es den
schönen Knaben sieht. Demnach ergibt sich erst jetzt,
daß die Seele des Liebhabers dem Lieblingsknaben in
Scham und Furcht folge. 36. Insofern also dieser nun
in jeder Weise wie in einem Gotte Gleicher gepflegt wird
von einem, welcher die Liebe nicht etwa bloß heuchelt,
sondern in Wahrheit in diesem Zustande sich befindet,
und insofern er selbst von Natur aus ein Freund seines
Liebhabers ist, so vereinigt er seine Freundschaft mit
jenem, welcher ihn pflegt, selbst wenn er auch in der
filiheren Zeit durch Altersgenossen oder irgend andere,
welche sagten, es sei schändlich, einem Liebhaber sich
zu nähern, hiergegen aufgebracht worden war und
daher den Liebhaber von sich gestoßen hatte; im Ver-
laufe der Zeit hat ihn jetzt sowohl das Jugendalter als
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— 839 —
auch das Bedürfnis dabin geführt, daß er jenen zum
Umgange zulasse; denn es ist ja vom Schicksal bestimmt,
daß niemals ein Schlechter einem Schlechten feind und
niemals ein Guter einem Quten nicht freund sei. Nach-
dem er ihn aber zugelassen und Rede und Umgang von
ihm auf sich wirken ließ, durchzuckt das nun aus der
Nähe kommende Wohlwollen des Liebhabers den Ge-
liebten, indem dieser inne wird, daß alle übrigen Freunde
und Verwandten zusammen gar nichts an Freundschaft
ihm bieten im Vergleiche mit diesem gottbegeisterten
Freunde. Wenn er aber in solcher Weise längere Zeit
verfährt und er sich ihm zugleich in körperlicher Be-
ziehung sowohl in den Gymnasien als auch bei dem
übrigen Umgange nähert/) dann erst fließt die Quelle
jener Ausströmung, welche Zeus, als er den Ganymedes*)
liebte y Liebesreiz nannte^ reichlich auf den Liebhaber
über, und der eine Teil derselben dringt in ihn ein, der
andere aber fließt, wenn jener schon voll ist> wieder ab;
und sowie ein Windhauch oder ein Schall von glatten
und festen Körpern abprallend wieder dahin zurück sich
bewegt, von wo er ausgegangen war, ebenso geht die
Ausströmung der Schönheit wieder in den Schönen ver-
mittelst der Augen zurück, durch welche in die Seele zu
kommen sie von Natur aus bestimmt ist, und indem sie
dort zu neuem Fluge antreibt, benetzt sie die Öfi'nungen
des Gefieders und veranlaßt das Hervorwachsen des-
selben und erf&Ut jetzt hinwiederum die Seele des Ge-
^) Also das sinnliche Betasten und Betatschen, wie es auch
heutzutage gewisse wohlbekannte „Freunde der Jugend*' sehr
fleißig üben, war doch auch bei der platonischen Rnabenliebe
ein wesentliches Erfordernis. (Anmerkung von Prantl.)
') Dies ist ein deutliches Bekenntnis dafür, daß die griechische
Päderastie ihren symbolischen Ausdruck auch in der Götter-
geschichte an dem Verhältnis zwischen Zeus und Ganymedes fand.
{Anmerkung von Prantl.)
22*
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— 340 —
liebten mit Liebe. Dieser liebt also nun^ ist aber ratlos
darüber, wen er liebe, und er weiß weder, was ihm wider-
fahren ist, noch kann er es aussprechen, sondern wie
jemand, welcher von einem anderen eine Augenkrankheit
geerbt hat, kann er die Veranlassung nicht sagen, sieht
aber, ohne es selbst zu merken, in dem Liebhaber sich
selbst wie in einem Spiegel; und wenn jener anwesend
ist, läßt in gleicher Waise wie bei jenem der Schmerz
nach, ist aber jener abwesend, so ist dieser hinwiederum
in gleicher Weise sehnsüchtig und Gegenstand der Sehn-
sucht, weil er eben als Abbild der Liebe die Gegenliebe
in sich hat; er nimmt imd bezeichnet aber diese nicht
als Liebe, sondern als Freundschaft Aber in ähnlicher
Weise wie jener, nur schwächer, verlangt er darnach, ihn
zu sehen, zu berühren, zu liebkosen, an seiner Seite zu
liegen, und hernach nun, wie erklärlich, tut er dies letz-
tere denn auch wirklich. Bei diesem Zusammenliegen
nun kann das zügellose Boß des Liebhabers wohl manches
zum Wagenlenker sprechen und es verlangt für viele
Mühsale einen kleinen Genuß; das des LiebUngsknaben
hingegen kann allerdings nichts sagen, aber in Wollust
und Ratlosigkeit umarmt und liebkost es den Liebhaber,
indem es ihn als einen so gar wohlwollenden herzt, und
wenn sie nun wirklich beisammen liegen, ist es im stände,
sich gar nicht dagegen zu weigern, daß es nicht seiner-
seits dem Liebhaber zu Gefallen wäre, falls jener um
diese Gunst bäte. Aber der Gespanngenosse hinwiederum
zugleich mit dem Wagenlenker widerstrebt diesem mit
Scham und Vernunft. 37. Und wenn also nun das
Bessere des Denkens siegt, indem es zu einer geordneten
Lebensweise und zur Philosophie hingeleitet hat, so
führen sie auf Erden ein seliges und einträchtiges Leben,
sich selbst beherrschend und sittsam, indem sie jenes
unterjochen, wodurch Schlechtigkeit der Seele, jenes aber
befreien, wodurch Vortrefflichkeit erwuchs; nach ihrem
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— 341 —
Tode aber sind sie befiedert^) und leicht geworden und
haben in einem der drei wahrhaften olympischen Kämpfe
gesiegt, und es kann weder Besonnenheit noch göttlicher
Wahnsinn irgend ein größeres Gut als dieses dem Men-
schen verschaiFen. Wenn sie aber ja eine niedrigere und
unphilosopbische, dabei aber ehrgeizige Lebensweise üben,
so möchten bald wohl bei Trinkgelagen oder in irgend
einem anderen Zustande der Sorglosigkeit ihre beiden
zügellosen Rosse die Seelen unbewacht treffen und auf
einen Punkt zusammenführen und hierdurch die von
der Menge seliggepriesene Sichtung wählen und ihren
Zweck erreichen; und haben sie diesen erreicht, so üben
sie von nun an auch fürder diese Richtung, jedoch nur
selten, insofern sie Dinge tun, welche nicht von der ge-
samten Seele beschlossen waren. Freunde nun sind auch
diese beiden, weniger aber als jene anderen beiden führen
diese wechselseitig sowohl in als außerhalb der Liebe
das Leben, indem sie der Ansicht sind, daß sie die
größten Versicherungen wechselseitig gegeben und em-
pfangen haben, welche zu lösen und hiermit jemals in
Feindschaft zu kommen verpönt sei. Bei ihrem Tode
aber treten sie zwar unbefiedert,*) jedoch mit dem Triebe
nach Befiederung aus dem Körper, so daß sie keinen
geringen Kampfpreis des Liebeswahnsinns davontragen;
denn in Finsternis und zur Wanderung unter der Erde
kommen nach dem Gesetz diejenigen nicht mehr, welche
bereits die himmlische Wanderung begonnen haben, son-
dern ein hellglänzendes Leben führend sind sie beglückt,
indem sie mit einander wandern, und zugleich befiedert
werden sie, wenn sie es werden, um det Liebe willen."
Wir ließen diese Stellen vollständig abdrucken, da
es zweifellos für die Leser des Jahrbuches von Interesse
*) Pterophyetisch, abgeleitet von nisQoqwrjg = befiedert
') Apterotisch, abgeleitet von anieqog «= anbefiedert.
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— 842 —
ist, die griechische, d. h. Piatons Auffassung der Homo-
sexualität zu kennen.
unter somatischem Konjunktionstrieb verstehe ich
den Trieb des Menschen, sich körperlich einem Lust er-
weckenden Objekt zu nähern, ohne irgend welche sexuelle
Beimischung, d. h. ohne den bewußten oder unbewußten
Wunsch, sich körperlich zu vereinen
Psychisch nenne ich den Konjunktionstrieb, welcher
vom Körperlichen absolut abstrahiert; man nennt ihn
Freundschaft, wenn er sehr ausgesprochen ist; im all-
gemeinen Sinne heißt er Geselligkeitstrieb.
Pterophyetisch heißt nach Piatons Zitat der Trieb,
der wohl eine sexuelle Beimischung enthält, die dann
jene eigentümliche Wärme erzeugt, welche das Geflihl
der Freundschaft in Liebe verwandelt; die Psyche hemmt
aber eine sexuelle Betätigung bezw. körperliches Eins-
werden. — Wir möchten den Ausdruck „pterophyetisch"
da anwenden, wo die erwähnte sexuelle Beimischung als
solche unbewußt bleibt, sich aber doch in ihren Äuße-
rungen zeigt. Diese schreite :i nie bis zum körperlichen
Einswerden fort, es sei denn, daß verschiedene andere
Gründe zu einer Auslösung des Detumeszenztriebes
führen.
Apterotisch endlich nenne ich den Trieb, der be-
wußt oder unbewußt zum körperlichen Einswerden treibt;
es wird dann der Konjunktionstrieb zum Geschlechts-
trieb.
Von dem Standpunkte aus, von dem ich den Ge-
schlechtstrieb betrachte, hat dieser mit einem Triebe, in
dem das Verlangen nach Detumeszenz (nach MoU)^) das
Primäi-e ist, nichts gemein.
Ist der Detumeszenztrieb das Primäre, so kommt
^) „Detumeszenztrieb", vide Moll, Libido sexualis.
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— 843 —
nicht eine Äußerung des Konjanktionstriebes in Betracht^
sondern nur ein Drang nach Despermation, ganz analog
dem Drange nach Defäkation.
Beim apterotischen Konjunktionstriebe steht die Äuße-
rung des Detumeszenztriebes auf derselben Stufe wie der
Kuß oder die Umarmung. — So lange die anderen
Qualitäten rein bleiben, kommt der Detumeszenztrieb
nicht in Betracht. Wenn er sich aber in Gestalt des
körperlichen „Einswerdentriebes'' diesen Qualitäten bei-
fügt, werden dieselben apterotisch.
Tritt aber der Detumeszenztrieb in Form eines
bloßen Genußtriebes hinzu, so hat dieser Komplex der
Erscheinungen mit dem Konjunktionstriebe apterotischer
Qualität nichts gemein. Der hinzugetretene Trieb ist
dann einem kulinarischen Genußtriebe analog , der in
Gesellschaft Anderer befriedigt werden will.
Tritt die Äußerung des Detumeszenztriebes unter
der bewußten Motivierung hinzu, ein Kind zu bekommen,
so können wir diesen Komplex auch nicht als eine
Äußerung des Konjunktionstriebes betrachten; sie ist
vielmehr eine solche des Disjunktionstriebes. In diesem
Falle strebt ja das Individuum danach, einen lebenden
Teil seines Selbst abzulösen, der fähig sein wird, selb-
ständig weiter zu leben. Diesen Disjunktionstrieb lassen
wir hier außer Acht.
Wir glauben nun den Konjunktionstrieb hinreichend
genau umschrieben zu haben, um eventuellen Irrtümern
in dieser Arbeit vorzubeugen.
Tabelle IV wird fast ohne weiteres zu verstehen sein.
Wir haben darin die verschiedenen Triebrichtungen
in ihrer Qualität zusammengestellt, analysiert und in
den verschiedenen Lebensperioden untersucht
In der prohebetischen Periode ist eine Beimischung
der 8. und 4. Qualität unmöglich, da dieselben erst ent-
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— 844 —
stehen können, wenn die Funktion der Geschlechtsdrüsen
beginnt. Es bestehen jedoch auch in der prohebetischen
Periode somatische und psychische Qualitäten, wie ja
schon das kleinste Kind Körper und Seele hat.
In der hebetischen Periode treten die pterophye-
tischen und apterotischen Qualitäten hinzu.
Wenn in der hebetischen Periode 3 und 4 nur in
heterophiler Richtung entstehen, so ist der betreflFende
Orchiphor in dieser Periode: heterosexuell; wenn in
beiden Richtungen: bisexuell; wenn in der homoiophilen:
homosexuell.
Im ersten Falle sind dies also /9 1, 2, 3, 4.
Im zweiten F'alle ß b, 6, 7.
Im dritten Falle /9 8, 9, 10, 11.
Die Variationen ß 1 und ß \\ sind natürlich sehr
selten, da in denselben selbst die psychischen Qualitäten
in homoio- resp. heterophiler Richtung fehlen.
Am meisten kommen die Variationen in heterophiler
Richtung /S 3, 4 und in homoiophiler ß S, 9 vor; doch
werden gerade ß 5 und ß 7 noch häufiger gefunden.
Hierher gehören doch z. B. alle die schwärmerischen
Jugendfreundschaften der späteren Heterosexuellen und
die Schwärmerei ohne sexuelle Beimischung für Mädchen,
welche sich oft bei späteren Homo^sexuellen findet. —
Nicht selten wird auch ß 6 sein; so gehört u. a. das
Beispiel hierher oder zu /S 7, das Dr. Hirschfeld im
Jahrbuch V, Bd. I, S. 28—30 gegeben hat.
Wovon diese Variationen der hebetischen Periode
abhängen, wollen wir vorläufig nur in allgemeinen Zügen
skizzieren.
Zuerst bringt oflFenbar dies nun eintretende Funk-
tionieren der Geschlechtsdrüsen einen stärker ausge-
sprochenen Konjunktionstrieb hervor.
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- 845 —
Es werden nun äußere Umstände, sozialer oder
speziell gesellschaftlicher Natur, die Äußerung des yer*
stärkten Konjuuktionstriebes bestimmen. Diese Äuße-
rungen können denen der prohebetischen Periode völlig
entgegengesetzt sein. So kann bei früher und auch später
(in der methebetischen Periode) völlig normal „Hetero-
sexuellen*^ durch das Verweilen in Knabeninstituten usw.
in dieser Periode eine fast ausschließlich „homosexuelle*'
Äußerung auftreten, da der Eonjunktionstrieb in seiner,
jedem jungen Menschen bewußten, größeren Intensität
zur kräftigen Äußerung treibt und andere Objekte
nicht vorhanden sind. Die unter diesen umständen am
häufigsten vorkommenden Variationen sind ß 5, 6, 7, wie
jedem einleuchten wird.
Abgesehen aber von diesen eigentlich als Zwangs-
zustände aufzufassenden Umständen haben die reifenden
Geschlechtsdrüsen zweifellos die Fähigkeit, früher in so-
matischer und psychischer Beziehung Heterophile in
normal Bisexuelle {y 7) und selbst in eine Spezies der
normal Homosexuellen {y 8) zu verwandeln, d. h. in einen
Homoiophilen, der in homoiophiler Richtung die vier
Qualitäten des Konjunktionstriebes besitzt, in heterophiler
Richtung aber immer noch die ursprünglich bestehenden
Qualitäten 1 und 2 hat — Daß die sonst völlig normal
entwickelten Geschlechtsdrüsen in einem bestimmten Falle
diesen Einfluß haben können, ist eine Folge des Ent-
wickelungsganges des Körpers und der Seele. Wie alle
oder nur einzelne sekundäre Geschlechtscharaktere sehr
oft (z. B. in den drei gegebenen Abbildungen) den Typus
der Metraphorie haben, obwohl die Geschlechtsteile voll-
ständig zum Typus der Orchiphorie gehören, so tritt
auch dieser sekundäre Geschlechtscharakter bezüglich des
sexuellen Teiles des Konjunktionstriebes vereinzelt oder
mit anderen gemischt in einer dem Typus der Genitalien
nicht entsprechenden Richtung auf.
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— 346 —
In der methebetischen Periode nun sind die Varia-
tionen 1 — 4 die eigentlich Heterosexuellen; hier ist das-
selbe zu bemerken^ wie in der hebetischen Periode. Die
Variationen y 5, y 6, y 7 sind die Bisexuellen (die aus-
gesprochen Bisexuellen werden durch / 6 dargestellt)
und die Variationen / 8 — 11 die Homosexuellen. Das
oben angeführte Beispiel von Hirschfeld läßt sich für die
hebetische und methebetische Periode als ß 1, y 1 — 5
oder vielleicht ß 6, y 1 — 5 darstellen. Jede Variation
der prohebetischen Periode läßt sich mit jeder der hebe-
tischen und jede der hebetischen wieder mit allen met-
hebetischen kombinieren.
Dabei werden natürlich einige höchst unwahrschein-
liche Kombinationen zu Tage treten. So kann z. B.
jede Kombination als unwahrscheinlich erklärt werden,
in der Qualitäten der prohebetischen Periode in der met-
hebetischen Periode verschwunden sind, z. B. a 1, /9 1,
y 11; aber auch cc 1, ß 11, y 1.
In Tabelle V haben wir die normaliter möglichen
Kombinationen eingetragen.
Die unwahrscheinlichen oder unmöglichen Kombi-
nationen haben wir durch Flächenfiillung der Unterpartien
in der prohebetischen Periode bezeichnet.
Die Zahlen stimmen mit denjenigen auf Tabelle IV
überein, die Buchstaben cc, ß, y geben wie auf den an-
deren Tabellen die Perioden an. — In der letzten Kolonne
führen wir die gebräuchliche Nomenklatur auf. Die Wich-
tigkeit dieser neuen Einteilung für genau wissenschaft-
liche Forschung ist einleuchtend. Wir sehen zuerst, daß
beim normal Heterosexuellen und beim normal Homo-
sexuellen drei gut differenzierte Variationen existieren,
wenn man nur das methebetische Individuum in Betracht
zieht. Berücksichtigt man auch das Vorleben, so erhält
man 109 sehr gut differenzierte Varietäten.
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— 847 —
Die hebetische Periode ^ welche nur ziemlich kurze
Zeit dauert, ist wohl imstande, die prohebetischen
Qualitäten, welche man doch als eingeboren betrachtet,
zeitweise zu modifizieren, ja selbst umzuwandeln. Das
letztere ist auf die Dauer unmöglich und vielleicht beruht
hierin der bleibende Wert unserer Tabelle, daß dies ad
oculos demonstriert wird. — Im ganzen können wir filr
den Eonjunktionstrieb 423 Variationen aufstellen, sofern
wir nämlich als Objekt des Triebes nur die zwei Grund-
typen des Menschen nehmen: den orchiphoren und den
metraphoren Typus. Mit diesen Variationen können nun
wieder die Verschiedenheiten der körperlich -psychischen
Variationen kombiniert werden, und so finden wir als
mögliche Variationen, d. h. als sexuelle Zwischenstufen,
die ungeheuere Anzahl von
1625 X 428 = 687375 Variationen.
Natürlich werden darunter auch absolut undenkbare
Kombinationen zu finden sein, aber wenn auch nur Yiooo
davon wirklich besteht, so wären das doch schon 687
Zwischenstufenformen.
Wie es uns möglich war, in jedem Individuum neben
dem Grundkriterium die körperlichen und psychischen
Eigenschaften zu rubrizieren, um damit die Nuance der
Geschlechtscharaktere zu eruieren, so können und müssen
wir auch im Konjunktionstrieb verschiedene Variationen
annehmen bezüglich der Eigenschaften des Objekts. Den
eigentlichen Fetischismus, d. h. die Bevorzugung ge-
wisser Haarfarben usw., lassen wir außer Acht. Wir
wollen nur die allgemeinen Variationen aufstellen,
welche auf die Geschlechtsbestimmung des Objekts Be-
zug haben.
Zuerst das Alter. — Normal ist doch, daß der
heterosexuelle Mann ein Weib liebt, das jünger ist als
er; nur ausnahmsweise liebt er ein älteres Individuum,
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— 348 —
was dann beim Weibe das Normale ist — mutatis
matandis.
Die Ausdrücke, welche wir dafür gebrauchen mochten,
sind:
1. Neoterophil (abgeleitet von vecArsQog = jünger
und (fikeiv),
3. Presbyterophil (abgeleitet von noeaßvre^og = älter
und (ptXaTv);
dazwischen steht dann:
2. Helikophil (abgeleitet von rjki^ = gleichalt und
(ptXsTv);
dann noch:
4. ßrotophil (abgeleitet von ß()OTÖg = sterblich
und (piXetv), für die Individuen,
welche kein bevorzugtes Alter
kennen.
Ferner: Es ist normal, daß der Mann ein zartes,
weiches Weib liebt, es kommt aber ausnahmsweise vor,
daß er eine kräftige, muskulöse Frau vorzieht; gerade so,
mutatis mutandis, beim Weibe.
Die bezüglichen Ausdrücke sind:
1. Habrophil (abgeleitet von äßpog = weiblich, zart),
.3. Karterophil (abgeleitet von xccqtbooq = kräftig),
und dazwischen:
2. Mesophil (abgeleitet von fieaog « mittel).
Diejenigen, welche keine besondere Körperform be-
vorzugen, nennen wir:
4. Meropophil (abgeleitet von fiigoyj = Mensch).
Die Tragweite dieser Unterscheidung fällt sofort auf,
wenn man bedenkt, daß der heterophile Orchiphor, der
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— 349 —
karterophil und presbyterophil ist^ in der methebetischen
Periode doch eigentlich näher heim homoiophilen Orchi-
phoren, der presbyterophil und karterophil ist, oder beim
normalen heterophilen Metraphoren steht als beim aus-
gesprochen normalen heterophilen Orchiphoren, usw.
Was nun die psychischen und intellektuellen Eigen-
schaften des Objekts betrifft, so können wir unterscheiden:
1. Manthanophil (abgeleitet Ton fAav&ävovreg =
Schüler), d. h. derjenige, dßr Indi-
viduen liebt, welche geistig weniger
hoch stehen als er und die gern
von ihm lernen möchten.
Diese wichtige Richtungsqualität kommt allen Men-
schen zu, welche pädagogisches Talent haben. Das Wort
„lernen*' wird hier natürlich im weitesten Sinne ver-
standen, und so auch im Folgenden:
3. Didaskalophil (abgeleitet von SiSaaxüloq = Leh-
rer), der Entgegengesetzte von 1.,
also derjenige, der den Weisern
liebt und von ihm lernen möchte.
Dazwischen steht dann der:
2. Homotropophile (abgeleitet von öfiörgonog = von
gleichem Charakter).
Nun können bei allen diesen Richtungsqualitäten
des Konjunktionstriebes die verschiedenen Lebensperioden
berücksichtigt werden, so daß auch hier eine große An-
zahl von Kombinationen entsteht.
Unsere Meinung geht dahin, daß im vorgelegten
Schema wirklich aUe möglichen sexuellen Zwischenstufen
unterzubringen sind, sofern diese nämlich normal sind.
Abnorm alitäten sind eigentlich nur dann angeführt, wenn
sie für den Abschluß der verschiedenen Serien nötig
waren.
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— 350 —
Als abnormal betrachten wir sadistische, masochisti-
«che und fetischistische Formen des Konjunktionstriebes;
KÜeselben sind völlig außer Acht gelassen.
Wie ich hoflfe, wird diese vorläufige Mitteilung einen
deutlichen Einblick in meine Auffassung ermöglichen und
zu besserem Verständnis und feinerer Analyse der so
komplizierten Verhältnisse der sexuellen Zwischenstufen
beitragen.
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— 351 —
Tabelle I.
Allgemeiner Überblick.
Ge-
schlechts- ! Körper
drüse
Orchiphor
Psyche
Koiganktioiis-
trieb
A. Arrenop a) Epandrisch
b) Diphron
c) Gjnftkophron
B. Diphyetisch a) Epandrisch
b) Diphron
c) Gynäkophron
C. Thelyphan a) Epandrisch
b) Diphron
c) Gynäkophron
1. Heterophil
2. Amphiphil
3. Homoiophil
1. Heterophil
2. Amphiphil
3. Homoiophil
1. Heterophil
2. Amphiphil
3. Homoiophil
1. Heterophil
2. Amphiphil
3. Homoiophil
1. Heterophil
2. Amphiphil
3. Homoiophil
1. Heterophil
2. Amphiphil
3. Homoiophil
1. Heterophil
2. Amphiphil
3. Homoiophil
1. Heterophil
2. Amphiphil
3. Homoiophil
1. Heterophil
2. Amphiphil
3. Homoiophil
der ab-
solute
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— 352 —
(Tabelle I.)
Ge-
schlecht s-
drüse
Körper
Psyche
c) Epandrisch
} b) Diphron
C. Arrenop a) Gynäkophron
c) Epandrisch
Metraphor A. Telyphan
3. Homoiophil
2. Amphiphil
1. Ueterophil
3. Homoiophil
2. Amphiphil
1. Heterophil
8. Homoiophil
2. Amphiphil
1. Heterophil
3. Homoiophil
2. Amphiphil
1. Heterophil
8. Homoiophil
2. Amphiphil
1. Heterophil
3. Homoiophil
2. Amphiphil
1. Heterophil
3. Homoiophil
2. Amphiphil
c) Epandrisch 1 1. Heterophil
I 3. Homoiophil
2. Amphiphil
1. Heterophil
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2. Amphiphil
a) Gynäkophron 1. Heterophil
b) Diphron
B.Diphyetisch a) Gyn&kophron
Eonjunktions-
trieb
I b) Diphron
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Arrenop
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Isomorph
Arrenop
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Isomorph
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Arrenop
Arrenop
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Prohebetisch
Hebetisch
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Jahrbuch VI.
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— 356 —
Tabelle IV. Konjunktionstrieb.
Qualitäten: U Somatisch. 2. Psychisch. 3. Pterophyetisch. 4. Apterotisch.
1
1
A. He-
tero-
phil
i
Amphiphile
S
J
E. Ho-
B.Deuterophil
s
G.Hekaterophil
a
D. Protophil
1
1
4
1
He-
tero-
Ho-
moio-
1
He-
tero-
Ho-
moio-
1
He-
tero-
Ho
moio-
moio-
phil
phUB'
phUB"
es
phüC
philC"
phil D'
philD"
ja
1
I
(1)
1
2
1
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1
2
1
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1
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1
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2
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2
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2
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Gew. Nomen-
klat d. metheb.
Persönlichkeit
Absoluter
Hetero-
sexueller
Normale
Hetero-
sexuelle
Normaler
Bisexueller
Absoluter
Bisexueller
Normaler
Bisexueller
Normale
Homo-
sexuelle
Absoluter
Homosexueller
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Aus dem
Seelenleben des Grafen Platen.
Fortsetzung zu dem gleichnamigen Artikel im
ersten Jahrgang des „Jahrbuchs f&r sexuelle Zwischenstufen''.
Von
Professor Ludwig Frey.
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Vorwort.
Motto: „Da aber siehst mich in
yertraaterm Lichte.''
Platen an Q. J. (QqbUy Jaeobi.)
Im Jahre 1896 erschien der erste Band ,,Tage-
bücher des Grafen Platen"^) im Drucke und durch
diese Tagebücher ist ein unbehinderter Einblick in die
Geschlechtspsyche des homosexuellen Menschen er-
schlossen. Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit, man darf
sagen, mit selbstquälerischer Strenge hat Platen darin
die geheimsten Regungen seines Herzens verzeichnet und
die tiefsten Falten desselben aufgedeckt. In seinen
Memorabilien, wie er sie nennt, ist nicht nur der
Schlüssel zum Verständnis seiner Dichtungen, sondern
auch zur Erkenntnis seiner psychischen Sonderveran-
lagung gegeben. Sie verraten , wie wir bereits in einem
vorausgehenden Aufsatz (siehe Ersten Jahrgang des Jahr-
buchs für sexuelle Zwischenstufen, S. 159 ff.) bemerkt
haben, schon äußerlich die Spuren eines schmerzlich
bewegten, unglückseligen Menschendaseins, indem die
Blätter des Originals häufig Flecken zeigen, die durch
reichliche, auf das Buch hinabrollende Tränen ent-
standen sind.
^) Vergl. Die Tagebücher des Grafen August von
Platen. Aus der Handschrift des Dichters herausgegeben
von G. von Laubmann und L. von Scheffler, Bd. II, Stutt-
gart 1900, bei Cotta.
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— 360 —
Obwohl nun bereits der erste Band des herausge-
gebenen Memoirenwerkes den Beweis erbrachte, daß ein
Mensch homosexuell empfinden und dennoch den Ruf
eines ehrenhaften Mannes beanspruchen könne , so hat
dieser Beweis in der Oflfentlichkeit noch nicht den Erfolg
gehabt; der aufs dringendste zu wünschen ist. Und man
darf leider nicht erwarten, daß dieser Erfolg in nächster
Zukunft eintreten werde. Man kann deshalb nicht oft
genug betonen, was in den Tagebüchern zum Ausdruck
gekommen ist^ und der im Jahre 1900 erschienene
zweite Band des Memoirenwerkes bietet hiezu einen
dankenswerten Anlaß. Freilich muß auch dieser Band
in Hinsicht auf jenes Ziel auszugsweise behandelt werden»
schon wegen des außerordentlich großen Umfanges, der
das Buch nicht jedem zugänglich macht» mehr noch des-
halb, weil dasselbe viele anderweitige, auf den äußeren
Lebensgang des Dichters ^ sowie auf die Literatur-
geschichte bezügliche Partien enthält, wobei das homo-
sexuelle Moment nicht im Zusammenhang hervortreten
kann. Deshalb haben wir nach diesem Gesichtspunkt
auch den zweiten Band bearbeitet, und indem wir das
Ergebnis im heurigen Jahrbuch für sexuelle Zwischen-
stufen veröffentlichen, glauben wir jenes Moment ^ in
welchem wir eine wichtige, für das ganze soziale Leben
bedeutsame Tatsache erbhcken, einem größeren Leser-
kreise nahe gerückt zu haben.
Die Periode in Platens Seelenleben, welche hier in
Betracht kommt, ist geeignet^ ein noch höheres Literesse
als die frühere zu erwecken. Wir nehmen in ihr eine
Steigerung des sinnlichen Bedürfnisses, eine vertiefte
Kenntuis der Herzensrechte, insbesondere ein Heraus-
treten aus der persönlichen Passivität wahr. Dies gilt ins-
besondere von jener Epoche, die uns nach Italien führt,
auf einen Schauplatz aJso, wo über die Geschlechtsnatur
des Homosexualen andere Anschauungen herrschen und
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— 361 —
wo der Entfaltung homosexueller Eigenart ein freierer
Spielraum gestattet ist als im ntichtern nordischen Deutsch-
land. Jedenfalls erscheint der Einblick in Platens Seelen-
leben als ein ganz unschätzbares Material für die Beant-
wortung der Frage nach der Sittlichkeit eines homo-
sexuellen Menschen und nach der Natürlichkeit seines
geschlechtlichen Empfindens.
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Als Platen im April des Jahres 1818 die Uniform
des Offiziers ablegte und von München wegging, um als
Student an der Universität Würzburg sich den Wissen-
schaften zu widmen, da hatte er den Ausspruch getan:
„Ich zweifle, ob Federigo" — der von ihm angebetete, aber
erfolglos geliebte Eittmeister Friedrich von Brandenstein
— „der Letzte sein wird, in dem ich das Ideal eines
Freundes suche.** Platen hatte diesen Zweifel nicht
grundlos ausgesprochen. Allerdings in der ersten Zeit
des Würzburger Aufenthaltes ergriff ihn keine ähnliche
Leidenschaft wie die zu Federigo. Der fremde Ort, die
neue Umgebung, die Kollegien an der Universität be-
schäftigten ihn, dem der Fleiß ein Lebenselement war,
vollauf. Am 9. Juni des gleichen Jahres noch glaubte
er, über sich und seine Natur Herr zu sein. Er schreibt
in das Tagebuch: „Nach und nach hoffe ich von dieser alten
Chimäre geheilt x^$ werden. Hier ließ ich mich noch nicht
durch eine einladende Physiognomie so sehr hinreißen, um
daraus auf eine schöne Seele xm schließen,^'
Allein schon am 14. Juni meldet das gleiche Tage-
buch: „Unter allen diesen ifotwcÄe» (Universitätsstudenten)
zieht mich eine Physiognomie mehr als aüe andern an. Dies
umrde nur wenig zu dem stimmen, was ich am Neunten
niederschrieb; allein diese Neigung ist nur ein Werk der
Phantasie, Mein AÜer, mein ganzes Wesen bedarf der Liebe,
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— 363 —
Da ich sie in der Wirklichkeit nicht finden kann noch mag,
so such' ich sie im Ideale. Ich glaube nicht, daß jener Jüng-
ling, den ich (weil er den NameD nicht kannte) einstweilen
Adrast nennen wUl, mir etwas sein könne. Ich vermeide
sogar seine Bekanntschaft, um mir die schöne Täuschung
nicht XU rauben. loh uard schon vor mehreren Tagen auf
ihn aufmerksam und hätte gestern sowie heute Gelegenheit
finden können, mit ihm xu sprechen. Ich tat aber hier nicht,
was ich bei Federigo mit Hast unirde ergiffen haben. Viel-
leicht aber wird Adrast selbst mir zuvorkommen und mich
anreden, da dies bei den ungezuritngenen Verhältnissen des
akademischen Lebens leicht ist. Dann freilich möchte die
Illusion bald xu Grabe gehen. Vor ein paar Tagen richtete
ich sogar spanische Verse, und xwar Redondilien, an Adrast.
Sie beginnen: Vuestra fiente es radiante u. s. w., und atmen
Leidenschaft, aber mehr für einen Gegenstand, der nicht ist,
als für jemand, der darin geschildert unrd.*'
Wir werden sehen, wie stark der gute Wille war,
mit dem Platen widerstehen wollte. Vor allem trat nicht
ein, was er im stillen hoffte. Adrast redete ihn nicht
an; die guten Vorsätze Platens gerieten ins Wanken.
Er machte sich nun mit dem Gedanken vertraut, selbst in
persönlichen Verkehr mit dem jungen Manne zu treten.
Gelegen kam ihm die Nachricht, daß sein Freund
Massenbach, welcher ebenfalls zu wissenschaftlicher Aus-
bildung sich in Würzburg aufhielt, zu den Bekannten
Adrasts zählte. Massenbach, schon früher in München
mit einer ähnlichen Mission betraut, wurde nun beauf-
tragt, die Vermittlung der Bekanntschaft zu übernehmen.
Platen hatte unterdessen den Namen des jungen Mannes
erfahren; derselbe hieß Eduard Schmidtlein, war der
Sohn eines höhern Beamten in München und studierte
zu jener Zeit in Würzburg die Eechte. Geboren 1798,
war er damals 21 Jahre alt, groß und kräftig gebaut,
gleich allen von dem kleinen, schmächtigen Grafen ge-
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— 364 -
liebten Männern, „ein schöner, großer Kerl**, wie ihn der
naturwüchsige Massenbach nannte.
Der von Platen erhofften Gefühle sollte indes
Schmidtlein nicht fähig sein, ein so guter Kamerad und
Freund er den üniversitätsstudenten war, mit denen er
zwanglos und lebensfroh verkehrte. Sentimentalität war
seine Sache überhaupt nicht. Als ihm Massenbach
Platens Wunsch, mit ihm bekannt zu werden, eröffnete,
hatte er zur Antwort nur die konventionelle Redensart:
„Es wird mir viel Vergnügen sein.^' Bald vergaß er da-
rauf, dieses ^, Vergnügen'' kennen zu lernen, und kümmerte
sich nicht weiter um den sich anfreundenden Herrn, und
auch Massenbach verlor die Angelegenheit aus dem Auge.
Mittlerweile verzehrte sich Platen, der für weitere Schritte
zu schüchtern war, vor Sehnsucht, schrieb an Adrast
überschwengliche Gedichte, die nicht abgeschickt wurden,
und schmückte im Geiste den flotten Burschen mit all den
Eigenschaften aus, die er an ihm wünschte. Er besuchte,
in der Hoffnung und — in der Furcht, ihn zu sehen,
die Promenaden. Wenn er ihn nicht sah, wurde er be-
trübt; wenn er ihn erblickte, glaubte er auf den Mienen
desselben ein satirisches, oft sogar verächtliches Lächeln
zu entdecken. Diese Wahrnehmung beruhte sicher bloß
auf Einbildung und war nichts anders als der Reflex
eines durch leidenschaftliche Gemütsbewegung beeinflußten
Blickes. Kurz, Platen, wie er einmal war, fühlte sich
tief verletzt und suchte wieder die Waffen seiner Hart-
näckigkeit hervor. Am 12. August, ähnlich wie bei seiner
Ankunft in Würzburg, schreibt er: „Von heiOe sage ich
mich feierlichst los von meinen neu erwachten Thorkeiten.
Ich erwähne Ädrctst nicht mshr; es sei mein fester Vorsatz/*
Alles war jedoch eitel Selbstbetrug und Selbst-
peinigung. Schon am 23. Oktober heißt es im Tage-
buch: „Was aber soll ich von Adrast sagen? Nachdem ich
80 lange frei von leidensthafUichen Anwandlungen geblieben
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— 365 —
vxxr^ une konnte ick mich tvieder so ganz allen Regungen der
Phantasie (sie!) hingeben? Die schöne Täuschung ist vorüber/*
Und in unsicherem Tasten nach Wahrheit fligt er den
gegen sich ungerechten Vorwurf bei: „Wartmi rufst Du
die Liebe zurück? Und warum nicht eher für ein
sanftes, edles Mädchen?*' Eoc bereut, jenen Schritt
durch Massenbach getan zu haben, und überschüttet sich
mit den heftigsten Anklagen. „Bei Oott, ich bin frech ge-
worden mit der Zeit/ Einem Menschen msine Bekanntschafl
anzubieten, den ich gar nicht kenne, der mir wahrscheinUch
so unähnlich ist une möglich!" — Die Sehnsucht, den
jungen Mann kennen zu lernen, war jedoch viel mächtiger
als die Furcht, sich eine Blöße zu geben. Platen sollte
bitter erfahren, daß es kein Spiel der „Phantasie** war,
was in ihm vorging. Er konnte es kaum erwarten, bis
sich eine Gelegenheit zur Annäherung bot. ,,Er weicht
mir aus*', heißt es am 4. Januar 1819, „ich muß es end-
lich glauben, daß er mir ausweicht. Womit fiab' ich das ver-
dient? Daß ich zerfließen könnte in ein ewiges Weinen! O,
daß er mich haßte, aber mich tötete! Zum erstenmal fühle
ich, daß es eine Seligkeit sein müßte, von einer thetiren Hafid
zu sterben. O hohe Vorsicht, regiere Du mich, regiere sein
stolzes Herz! Wenn ich ausrufen darf mit jener I^ophetin
(Eassandra):
„Und auch ich hob ihn gesehen.
Den das Herz verlangend wäMV^ — ,
waru/m kann ich sie nicht hinzusetzen, die reimvollendenden
Wotie:
„Seine schönen Blicke flehen.
Von der Liebe Glut beseeW?
Vielmehr die meinigen wären's, wenn sie schön umren. Aber
was sind Blicke des thränenschweren blauen Auges gegen die
Augen une Fetter?" Seine Ungeduld wuchs. Am S.Januar
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— 366 —
schreibt er ins Tagebuch: ^^Hai es Massenbach vergessen?
Hast Du es abgeschlagen, Ädrast? Bist Du ferne von hier?
Bist Du krank? — Orausame Alternative/ Wie wenig ist
Dir an mir gelegen; ich sehe Dich nirgends. Welche Unruhe
treibt mich auf und nieder! Ich kenne mich selbst nicht
mehr. Mein Herx pocht beständig. Nein — nein — der
Meine wirst Du nie u?erden. Mein — Endymion? Nimmer-
mehr/ Ich war nie glücklich und werde es nie sein.''
— Dann folgen Verse, in denen er sein Leid ausgießt
und in denen er klagt, daB er Alles getan habe, um ein
Bekanntwerden mit Adrast herbeizuführen, ohne daß die
leiseste Gegenwirkung eingetreten sei.
y,H(xt auch nicht mit leisem Triebe
Das Verlangen Dich verführt^
Mich zu suchen^ sanft gerührt^
Und zu tuuschen Lieh* um Liebe?
Meiner häuslichen Penaten
Gottheit tüird Dich nicht umringen,
Fremd der Name , Freund* Dir klingen j
Ewig fremd der Name Platcn.**
Kurze Zeit nach dem Eintrag dieser Verse bot sich
Gelegenheit, daß sich der Eine dem Anderen näherte.
Sie ging wieder nutzlos vorüber. ^.Gestern (13, Januar)
begegnete ich Adrast allein auf der Straße beim Kollegien-
wechsel. Er sah mich sehr ernst an. Doch grüßte er nicht
einmal y was er getan (hätte), wenn ihm an mir nur im
geringsten gelegen wäre. Ich selbst ließ diese Oelegenheit vor-
übergehen, unewohl icli fühlte, daß Jahre verstreichen können,
ehe ich ihm wieder und auf diese Art allein begegne. Ich
konnte aber nicht mehr thun, als was ich gethan hatte, ihm
meine Bekanntschaft anbieten. Da er mir nicht entgegen-
kommt, 80 weiß ich wohl, une ich dies auslegen muß. Wenn
er auch nur das Haupt zum Gi-uße bewegt hätte, so wären
unr vereinigt gewesen. Nicht einmal Das! Und doch sah
er mich so wundersam an. 0, er ist mir ein Eätself Ja
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— 367 -^
ick hoffle sogar noch etwas Besonderes vom heutigen Tag —
aus Aberglauben Wir haben den Vierzehnten. Heule vor
sieben Monaten war*s, als ich seiner zum erstenmal im Tage-
buch erwähnte. Sieben ist aber die Hälfte von Vierzehn, das
Produkt also zwei, und zwei sind wir beide. Dieser Zahlen^
aberglaube ist vielleicht thöriehter als ein anderer. Es hat
nun einmal Jeder den seinigen. — Aües ist n/wn geendeter
als jemals. ^^
Eine völlige Mutlosigkeit griff in ihm Platz und es
war Gefahr vorhanden, daß der unglücklich
Liebende geradezu den Verstand verliere. Er
machte einsame Spaziergänge und klagte seinen Schmerz
dem Winde. Am 30. Januar befand er sich an einem
Orte in der Umgebung Würzburgs, wo Buschwerk von
Epheu wächst. Platen pflückte von letzterem und flocht
sich daraus eine Guirlande, die er um seinen Hut legte.
„^s sahen mir freilich alle Leute auf der Straße nach^*, be-
kannte er; ,,»ie werden sich aber daran gewöhnen; denn
diesen Epheu will ich nicht ablegen. Ich trag* ihn nicht
etwa als Vorbild poetischen Ruhm^, sondern als einen Talis-
mann, mich zu stärken, sobald mir das Selbstvertratien fehlt
und ich ganz an mir verzweifle. Zugleich soll er aber auch
ein Talismann sein gegen die Schüchternheit, wenn ich Adrast
sehe; eine Schüchternheit, die ich oft auch auf andere aus-
dehne, weil ich schlecht in die Ferne sehe und oft manche
Gestalt von ähnlicher Weise, die auf mich zukornrnt, für
Adrast halte. — Wie wird mir fast angst und bange mit
meinem Epheu! Wie mich heute die Leute anstaunten und
auslachten, als ich mit Döllinger über das Olacis ging! Und
was ist am Ende der kalte ^ kalte Ruhm gegen die warme
Liebe, die ich verlor^ ohne sie besessen zu haben? Denn ich
habe es nun klar erkannt, daß ich Adrast nicht zuvorkommend
anreden darf. Ich weiß gewiß, daß er längst meine Zuneigung
bemerkte; er könnte sich also, wenn er gewollt hätte, ohne Scheu
mir nähern, selbst eh* ich meinen Wunsch ihm äußerte.**
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— 368 —
Platen schwankt nun wieder zwischen Mutlosigkeit
und Hoffnung; er faßt Entschlüsse, nur um sie wieder
zu verwerfen. Schließlich, am 5. Februar, nimmt er sich
fest vor, Eduard anzureden. „Mag es mm führen, iootm
es unU; ich muß mich beruhigen. Meinen Stolz hob* ich
ohnedem schon mit Büßen getreten; xmn Oerede habe ich
mich ohnedem, schon durch meinen Kranz gemacht. Ich fühle
meine Absichten rein und edel; ich legte sie immer in den
Schoß Oottes,^^ Platen malt es sich (Eintrag vom 9. Februar)
im Schmerze der Entsagung aus^ welch' heilsamen E2in-
fluß der Umgang mit einem solchen Freunde auf sein
ganzes schüchternes, menschenfeindliches Wesen ausüben
könnte. „Er loürde mich toieder ins Leben führen. Es ist
so notwendig. Sein Umgang tvürde mir die Studien leicht
machen. Ohne mich zu rühmen, tvürde ich viel zu seiner
geistigen Ausbildung tun können. Er würde mir einen Teil
seiner litterarischen und ästhetischen Kenntnisse danken. Er
würde an Humanität und an Ideen gewinnen." Tags darauf:
„Was ich darum gegeben hätte, wenn ich ihn heute kennen
gelernt hätte, kann ich nicht aussprechen. Heute atn 10. Febrttar,
ein Tag, der mir immer der merkwürdigste im Jahre schien,
der Tag meiner ersten , wahren , reinsten , unvergeßlichen
Liebe, wo ich zwm erstenmale den Grafen von if(ercy) sah,
den ich nicht, wie später, liebte a/us Nachahmung^ au^s Ben
dürfnis des Herzens und im Laufe der Zeit und Oewohnr
heii, sondern plötzlich, auf den ersten Blick, im ersten Moment
so warm une im letzten. Denkmale dieser Neigung bewahrt
noch das zweite Buch. Nicht bei ihm, wohl aber bei späteren
Gegenständen meiner Neigung konnte ich sagen:
De Vamour seulement noics sommes amoureux.
(Piron, La Müromanie, Act II, sc. 8.)
Ihn liebte ich aber und nicht die Liebe. Welch ein
Zufall nun, wenn ich nach einem Verlaufe von sechs Jahren
mannigfaltiger Thorheit, gerade als jener verhängnisvolle Tag
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— 369 —
ivieder auf einen MiUtvook zurückfiel, in den Hafen meiner
80 oft getäuschten Wünsche gekommen wäre! Mass&nbach
war damals und ist nun nach sechs Jahren abermals mein
einziger Vertrauter, Merkwürdig ist noch, une in diesem
Zeiträume meine Liebe eine Stufenfolge durchlief von der
höchsten ünwahrscheinlichkeit bei Oraf M., der nicht einmal
meine Sprache verstand (und ich damals nicht die seinige) j
bis zur höchsten Wahrscheinlichkeit bei Adrast, einem Jüng-
ling, der mir an Alter, Wohnort, Lebensumständen und gleichen
gemeinschaftlichen Bekannten so nahe steht. Der Prinz
W. (Wallerstein), Federigo und Wilhelm, vielleicht auch D, (De
Alma), waren die graduellen Glieder dieser Kette,"
Endlich, am 4. März, genau vier Monate, nachdem
er mit Massenbach gesprochen, faßte Platen sich ein
Herz und wagte den angebeteten Fremden, als er ihm
auf der Straße begegnete, wenigstens zu grüßen. Dieser
erwiderte höflich; zu einem Gespräch kam es indessen
noch nicht Aber schon hierüber war die Freude des
Liebenden eine unbegrenzte, wie es vordem sein Schmerz
gewesen, und auch sein Gottvertrauen kehrte zurück.
„O meu humor melancolico'* — das Tagebuch wurde um
jene Zeit in portugiesischer Sprache geführt — „estä
todo muiado, Estoy jovial e dlegre, mais quejamais, tomada
a esperanQao. A minha cabbala de calendario näo era in-
teiramente sem significaxäo. Logo amsmos, o minha alma,
e esperemos, e mais que isto agrade(;amos ao Deus omnipo-
tente, a Providentia benigna!^^ (O, meine düstere Stimmung
hat sich ganz geändert! Sie ist fröhlich und heiter, une nie-
mals, geworden und ist zur Hoffnung zurückgekehrt. Die
Zahlenmystik in meinem Kalender hat sich vollständig als
richtig Brunesen, Also lieben urir, o meine Seele, und hoffen
wir; sagen wir Dank dem aUmächtigen öotte und der gütigen
Vorsehung!) Vier Tage darauf heißt es (in Übersetzung):
„Was soll ich sagen! O Himmel, was soll ich sagen? Ich
habe mit Adrast gesprochen! Also hat mich die Zahl
Jahrbuch VI. 24
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— 370 —
j'&ier' nicht getäuscht! Am 4, haben tair tms x/um erstenmal
gegrüßt, vier Tage darauf habe ich zum erstenmal mit ihm
gesprochen. Die Zeichen waren uns günstig. Es war heute
der schönste Tag von der Welt, ein wahrer FriMingstag.
Aber was war es, das wir gesprochen! Er kam von der
Theaterstraße um 5 Uhr, als ich in die ,Harm>onie^ (Klub)
ging. Er fragte, ob ich aus dem Kolleg komme; wir sprachen
vom Wetter, vom Theater u. s. w." — Schmidtlein war von
der Ansprache ziemlich überrascht gewesen; er hatte den
ihn Anredenden gefragt, wie er heiße, und dieser fand es
höchst verwunderlich, daß jener „tat", als ob er ihn
heute zum ersten Male sehe. Platen war nämlich jetzt
wieder der naiven Meinung, daß sich der Fremde genau
so für ihn interessiert haben müsse, wie er für den
Fremden, und glaubte an Verstellung! Die ersten Ent-
täuschungen' traten also gleichzeitig mit dem ersten Ent-
zücken ein. — Die tragischen Momente der perversen
Geschlechtsrichtung, die bei einer so sensiblen Natur,
wie bei der Platens, doppelt schmerzlich sind, machten
sich geltend: Der Geliebte fühlte normal und hatte keine
Ahnung von Dem, was der Liebende erwartete. Zwar
trat nun ein persönlicher Verkehr ein, Platen überbot
sich an Artigkeiten, aber Schmidtlein wußte nicht, was
er daraus machen sollte. Bald scheinen ihm die Beweise
von Anhänglichkeit und Vertrauen — das Wort Liebe
blieb noch unausgesprochen — lästig geworden zu sein.
Oft vergaß er unabsichtlich, oft „gerne", was er dem sich
Anfreundenden in seiner Güte zugesagt hatte; oft fand
er sich nicht bei den kleinen Spaziergängen, die unter-
nommen werden sollten, oder bei dem Thee ein, zu
welchem ihn Platen auf seine Stube geladen hatte, und
trieb sich unterdessen mit seinen Kommilitonen herum.
Die Stimmung Platens wurde düsterer denn je. Noch
im gleichen Monat, am 25. März, heißt es, nachdem der
stolze Graf wieder einmal vergeblich auf den ihm ver-
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— 371 —
sprochenen Besuch SchmidÜeins gewartet hatte: „Meine
Lage ist fürchterlich. Ich vergieße die bittersten Tränen, Haß
und Liebe, in meiner Brust vereinigt, zerreißen mein ganzes
Herz, Diese schneidende Kränkung, diese unverdiente Oering-
Schätzung von einem Menschen, dem ich mein Wohlwollen so
sehr zu erkennen gab und der mich hintansetzt, während er
mit einer Menge junger Leute umgeht, die, ich darf es sagen^
unier mir stehen — diese Kränkung nagt tvie ein körperlicher
Schmerz an meinem Wesen. Ich fühle mich unfähig zu
AUem. Während meine äußern Umstände so glücklich sind,
gibt mir diese unselige Liebe Leiden zu tragen, die mein
besseres Seihst aufzehren. Mich von ihm zu trennen, dünkt
mich schrecklicher als Alles und — doch wieder einzig als
umnschenstoert,^^
Dann heißt es weiter: „Er wollte um vier Uhr kommen.
Es ist fünf Uhr/'
Später (am gleichen Tage): „Er kommt also wieder
nicht. Wer ist jemals so beleidigt worden une ich, so tief
gekränkt worden? Warum geschieht nie, wa^ man erwartet?
Welche Sehnsucht und welch vergebliches Harren/ Welche
Abreise/ (Platen beabsichtigte für den andern Tag wegen
des Semesterschlusses von Würzburg wegzugehen.) Wie
froh selbst würde ich Würzburg verlassen haben, hätte ich die
Qevnßheit mit mir genommen, daß er mir wohl will. Und
nun spottet er meiner augenscheinlich. Ich sah ihn diesen
Morgen zum letztenmal. Diese Täurschung ist fürchterlich. Nur
die Religion, nur der Qedanke an Gott und seine Vorsicht kann
mich aufrecht erhalten. Die Welt ist leer ohne ihn. — —
Es ist sechs Uhr. Was ich empfinde, ist unaussprechlich.^^
Adrast kam nicht; Platen reiste anderen Tages ab.
In Ansbach bei den Eltern angekommen, war das
Erste, was er unternahm, daß er seinem Herzen durch
einen wohlgesetzten Brief Luft machte. „Ich schrieb ihm,
une ich glaube, weder zu viel noch zu wenig, weder zu
herablassend noch zu stolz." Der Brief lautete:
24*
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— 372 —
,fWenn unter Ihren Bekannten derjenige, den Sie van
Allen am wenigsten schätzen, wenn er Sie gebeten hätte, den
Tag vor seiner Abreise ihn noch zu besuchen, und Sie es gu-
gesagt t so tcürden Sie ihm das Wort gehalten haben. Mir
haben Sie's nicht gehalten. Womit verdiente ich um Sie diese
Unaufmerksamkeit, diese offetibare Geringschätzung'^ Wenn
ich ein solches Benehmen gewohnt wäre, so würde micKs nicht
geschmerzt, ich würde es vielleicht gar nicht gemerkt haben.
Aber alle Menschen, mit denen ich bis diesen Tag zu tun
hatte, haben mich mit Achtung und Liebe behandelt. Im
Falle ich Ihnen mißfiel, wie ich schon früher zu bemerken
glaubte, warum haben Sie mir's nicht gesagt? Warum geben
Sie mir^s zu verstehen auf eine kränkende Weise? Kränkend
gewiß für Jeden, der sein Zartgefühl nicht verloren hat.
Ohne Scheu und ohne Eitelkeit darf ich's vor Ihnen aus-
sprechen, daß Sie leichtsinnig den Umgang eines Menschen von
sich stießen, dessen Geist nicht ganz ohne fVirkung auf den
Ihrigen möchte geblieben sein, dessen argloses und wohl-
wollendes Herz vielleicht nicht unwürdig war, gekannt zu
werden. Leben Sie wohl! Ich habe ein Recht, Sie zu bitten,
daß Sie diesen Brief, den Sie nicht eintnal beantworten werden,
verbrennen, sobald Sie ihn lasen. Er kann Ihnen wenigstens
zum Beweise dienen, daß ich gerne freimütig über jedes Ver-
hältnis in klaren Worten mich ausspreche, um es auf einen
festen Standpunkt zurückzuführen. Im schlichten Bewußtsein,
daß ich mir keinen Vorwurf in Hinsicht meines Betragens
gegen Sie machen darf und daß ich es immer herzlich gut mit
Ihnen gemeint habe, schließe ich.^^
Dieser Brief — mit seiner halb enthüllten, halb ver-
deckten Liebe — wurde von Schmidtlein beantwortet
Aber welche Antwort! Härte und Kälte und ?iicht ein
Funken Neigung!'^ Eduard Schmidtlein antwortete, wie
er eben konnte und muBte:
„ W€7m Sie geglaubt haben, ich würde Ihren von Empfind-
lichkeiten strotzenden Brief unbeantwortet lassen, so haben
Sie sich sehr geirrt; warum ich denselben vernichtefi soll, sehe
ich gar nicht ein. Aber so viel ist mir aus demselben Mar
geworden, daß Sie es fühlen, ohne sich dieses Gefühls deutlich
bewußt zu sein, wie vorschnell und übereilt Sie gehandelt haben.
Wenn Sie ferner glauben, ich hätte Sie aus Unaufmerksamkeit
9)
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und Geringschätzung nicht besucht j so haben Sie sich ebenso
sehr betrogen. Gründe^ Sie davon zu überzeugen, habe ich
genug, aber diese einem Menschen vorzulegen, der schon urteilt,
ehe er noch einen Grund für sein Urteil hat, scheint mir über-
flüssig. Was Sie übrigens berechtigt, zu sagen, Sie glaubten
schon früher bemerkt zu haben, daß Sie mir mißfielen, weiß
ich nicht. Wenn Sie in mir einen komplimentösen Menschen
suchten, so tut es mir leid, daß Sie sich an einen Unrechten
gewendet haben. Sie sind Graf — das weiß ich; aber Sie
sind Mensch, das bin ich auch. Sie sind Student, das bin ich
auch, und hier fallen alle bürgerlichen Verhältnisse und Zere-
monien. Dies zur Nachricht auf Ihre, wie Sie sagen, frei-
mütigen, im Grunde aber sehr empfindlichen und voreiligen
Äußerungen. Was wäre wohl natürlicher gewesen, als zuerst
zu fragen: „Warum hast Du mich nicht besucht?*^ und sich
erst dann, wenn ich es aus Nachlässigkeit getan hätte, über
Geringschätzimg zu beklagen? Dies haben Sie aber nicht für
gut befunden und auf diese Weise fällt der Vcyrwurf, den Sie
mir machen, daß ich leichtsinnig einen Freund von mir ge-
stoßen hätte, ganz auf Sie selbst zurück. Diesen großen Grad
von Empfindlichkeit und dabei noch so vorschtieller Empfind-
lichkeit hätte ich von Ihnen nicht erwartet. — Leben Sie wohl
tmd bringen Sie Ihre Ferien recht vergnügt zu.
S."
Dieser Brief ist deshalb merkwürdig, weil er zeigt,
daß auch Schmidtlein nicht prüfend vorging und die
Schuld auf einen umstand bezog, der gar nicht vorlag,
ein Mißverständnis, das für alle derartigen „Verhältnisse**
symptomatisch ist. Die Empfindsamkeit Platens beruhte
nicht auf seinem Standesbewußtsein. Dem Grafen war
seine soziale Stellung gewiß nicht gleichgültig; aber höher
als vornehme Geburt ging ihm stets der Adel des Geistes
und, in bezug auf sich, sein Wert als Dichter. Er war, wie
wir schon aus seinem früheren Leben wissen, in Sachen
der Etikette völlig vorurteilsfrei; er hatte Sinn und Ver-
ständnis wie für die Reize der Natur, so fllr die des
Volkslebens, und gegenüber allen Menschen — wenn sie
nur schöne „Bildung" des Körpers besaßen und dem
männlichen Geschlecht angehörten — vergaß er ganz,
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daß er Graf war. Von seinem Verhältnis zu Adrast gilt
dies natürlich in erhöhtem Grade. Platens Empfindsam*
keit beruhte eben deshalb auf dem schmerzlichen Gefühle,
seine Liebe, die er für Freundschaft ausgab, unerwidert
und abgelehnt zu sehen. Das ahnte der Angefreundete
ebenso wenig, wie Platen sich bewußt wurde, daß ein
Mann nach der Art Schmidtleins seine Gefühle aus Grün-
den der Naturnotwendigkeit gar nicht teilen konnte.
Aber der leidenschaftlich Verblendete zagte nicht; er
hofiPte, das Mißverständnis beseitigen zu können. Der
„steinerne Brief" kränkte ihn, aber es freute den Lieben-
den, daß er von dem Angebeteten nun wenigstens ein
Schreiben besaß, das er beantworten konnte. Er benutzte
sogar den Anlaß, mit seinen Absichten auf Eduards Herz
noch mehr herauszurücken.
Wir können es unterlassen, den Brief, in welchem
dies geschah, mitzuteilen; es genüge die Andeutung, daß
derselbe das Mißverständnis nur vergrößerte und daß er
wieder nichts weiter als ein Versteckspiel war, indem er
die vorhandenen Tatsachen unterdrückte und einen nicht
zutreffenden Umstand vorschob, d. h. daß er auf der
einen Seite die gebieterische Stimme des Herzens über-
täubte und andererseits den konventionellen Gesetzen der
Gesellschaft, mit denen er sich im Widerspruche fühlte,
Rechnung trug. „Wie sehr habe ich ihm mein Herz ge-
öffnet'', heißt es nach Absendung des Briefes im Tage-
buch, y^msine Freimdschafl ihm angeboten, ihm gesagt, welchen
vorteilhaften Eindruck er auf mich gemacht, us'w» Wenn sich
nach diesem Briefe abermals keine Sympathie in seiner Brust
regtj wenn er höchstens die polemischen Stellen in meinem Briefe
auffaßt, um mich wieder barsch zu hofmeistem, dann vrird
doch endlich msine Eitelkeit z/wr eungen Ruhe kommen, dann
werde ich doch nicht mehr auf sein Mitgefühl hoffen. Er hat
keine Ursache, zu heucMn^', — setzt er mit gutmütiger
Verblendung bei, — „und wenn er auch woUte, ude leicht
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läßt sich die wahre Herxliehkeit erkennen/ Daß es ein mir
uneriüortetesj fast aUxu großes öliick wäre, wenn er mir mit
Sympathie entgegenkäme^ ist wahr. Unmöglich ist es aber
doch nicht, Ich darf mich damit trösten, daß icÄ
alles getan habe, was in meiner Macht stand. Wenn ich aber
seinen Brief erhalte, woher soll ich den Mut nehmen, ihn xu
öffnen^ ihn, von dem Alles abhängt, loorin ich seit zehn
Monaten aU mein Qlück setze?
Ach, ich fordre keines Bimdes,
Keiner Frettndechaft dattemd Band;
Ach; nur einen Druck der Hand,
Eine Sübe nur des Mundes,
So viel hätte ich nun freilich erreicht; denn er hat mir
mehr als ein/mal die Hand gedrückt u/nd m>ehr als eine Silbe
mit mir gesprochen'^, heißt es am 7, April. — Genügsamer
kann die Liebe nicht sein. Aber die Genügsamkeit ver-
ließ den Sehnsuchtsvollen, als eben jener Brief, auf den
alle HoflFnung gesetzt war, unbeantwortet blieb. Platen
möchte wieder, möchte alle Tage schreiben. Aber so
weit, daß er diesen Wunsch ausführte, vergißt sich sein
Stolz doch nicht und der Unglückliche wendet sich nun
einzig an das Tagebuch, seinen stummen Vertrauten, in
welchem er sich seinen Eduard persönlich vorstellt „Ich
weiß nicht, woher es kommt, mein liehenswvrdiger Freund,
und welche Magie Du über mich ausübst, aber ich bin immj&r
in Gedanken hei Dir und fühle mich ohne Dich ganz und
gar verlassen, Ich hohe geliebt vor Dir, aber ich hohe
niemanden so sehr gelieht. Ist m^in Brief keiner Antwort
wert? Ich habe nie einen so ivarmen, versöhnenden Brief
geschrieben urie diesen.^*
Seine Gesundheit fing zu leiden an. Wenn
Nervosität schon Normale nicht verschont, denen zur Be-
friedigung oft launenhafter Wünsche alle Wege geebnet
werden, wie soll der Homosexuale, dessen vitale Triebe
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nicht weniger mächtig sind als die eines anderen Men-
schen, die aber nicht befriedigt werden, wie soll der
Homosexuale seine Gesundheit bewahren? „Mangel an
Oesundheit und unerwiderte Preumdsohaft (d. i. hier un-
gestillter Liebestrieb)", schrieb der einsam Leidende,
y^nd zwei Dinge, wovon schon eines im stände wäre, schwer-
mütig bis xmn Lebensüberdruß xu machen. Wie sehr unrd
jedes geistige Leiden durch physisches Wohlbefinden und jede
Krankheit durch gerettete Geistesfreiheit erleichtert/ Guter,
freundlicher Ädrast, warum bist Du gegen mich so unfreund-
lich? Wie gerne umrde ich Dir schreiben^ tvenn ich könnte!
Dies wäre noch das einzige Geschäft, welches ich ertragen
möchte, ja — ich umrde mit welcher Liebe daran gehen! Ist
denn Alles umsonst gewesen? — —
Durch des Leibs Organe wühlen^
Durch die Nerven zucken Schmerzen,
Doch die Kraft in meinem Herzen
Wird nicht müde, Dich zu fühlen.
Schwermut überläuft die Seele,
Schauer überläuft die Glieder,
Aber Töne find* ich wieder,
Daß ich Dir m£in Leid erzähle.
Ach, umsonst in jenem Briefe
Strebf ich, daß mein Herz versteckt',
Was Dein Anblick in ihm weckt,
Was es fühlt in tiefster Tiefe.
Ach, in jenem Brief Du findest
In ihm, wenn er Dich erreichte,
Teurer, meine ganze Beichte,
Wenn Du willst und mitempfindest.
Schmilzt es Dich zur Sympathie,
Welch' ein grenzenlos Entzücken.'
Aber kehrst Du mir den Rücken,
Wie ertrag' ich's, ivie, ach ivief"
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— 377 —
Am 22. April reiste Platen vom elterlichen Hause
in die Universitätsstadt zurück. Dort erfuhr er, daß
Schmidtlein den Brief empfangen; er sah aber den
Empfanger erst am vierten Tage. Es war im Lese-
zimmer der „Harmonie^^ Platen näherte sich dem An-
wesenden von rückwärts und klopfte ihm mit der Hand
auf den Rücken. SchmidÜein wandte sich um, reichte
die Hand, fragte, wann er angekommen und wann man
ihn zu Hause treffen könne. „Als ioh ihm Vorwürfe
machie, daß er mir nicht mehr geantwortet^ sagte er, er hätte
mich selbst abtvarten wollen. Also scheute er sich im besten
Falle doch immer, es schriftlich in meiner Hand xu wissen^
daß er mir gtU sei? Aber so ist es einmal. Ich fühle seine
Lage tm mir. Sympathie fühlt er nicht für mich; er hätte
es sonst nicht über sich gebracht, mich ohne Antwort %u
lassen," — Man sieht, vriie oft die Tiefen seines Wahnes,
seiner „Torheit*' wie durch einen Blitzstrahl erhellt werden,
wie aber gleich darauf wieder die gewaltsame Bosch wicli-
tigung der Vernunft imd die naivste Selbsttäuschung ein-
tritt. Es ist der Kampf der Vernunft mit der Natur,
die immer wiederkehrende Tragik der Homosexualität,
ein Kampf, der immer zum Nachteil des liebenden Herzens
ausfällt Je mehr Platen in sich hineingrübelt, desto
gleichgültiger wird Schmidtlein. Nicht einmal der jetzt
versprochene Besuch kommt zur Ausführung, eine Nach-
lässigkeit, die übrigens in keinem Falle entschuldigt
werden kann. „jE7s ist heute taieder nichts", ruft der Lie-
bende am 28. April aus. „Ich sage nichts mehr, ich weine,
O öott, gib mir Kraft und Resignation! Ich hohe nie so
sehr geliebt vne in diesem Augenblicke. Wenn alle Schätze
der Erde mein wären, ich urürde sie willig hingeben, wenn
ich seine Gestalt nie gesehen hätte, O welche Fbigen von
einer einzigen unbewachten Stunde! O Oott, ein feierliches
Gelübde schwör^ ich, nie mehr xu lieben. Es hat mich in
msiner Blüte zerstört. Es hat meinen Geist entnervt." —
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— 378 —
Der Arme unterlag dem Wahne^ daß die Ge-
schlechtsliebe eine Sache des freien Willens sei
und daß man sich ihr nach Belieben widmen oder
entziehen könne. Aber die Natur ist stärker als der
Wahn und Wille. Am 1. Mai trieb es Platen in die Woh-
nung Eduards, wo er denselben lesend fand. Er erfuhr
über den Eindruck, den der (Liebes-) Brief gemacht, nichts
weiter, als daß es weder Unaufmerksamkeit noch Ver-
achtung gewesen sei, was die Nichtbeantwortung des
Briefes verursachte; über alles andere ging Eduard mit
Stillschweigen hinweg und auch Platen schwieg sich in
seinem Grame vorläufig aus. Bald aber traf ihn wieder ein
Hoffnungsstrahl, der ihn beseligte. Am 4. Mai wurde ein
gemeinsamer Spaziergang unternommen, und es war das
erste Mal, daß Platen ein lebhaftes Gefühl der Zufrieden-
heit empfand; der Genügsame freute sich schon deshalb,
weil er sich an der Seite des Geliebten sah nach so
langer Zeit der Qual, weil er dessen Stimme hören, in
seine vor Heiterkeit glänzenden Augen schauen konnte.
Eduard Schmidtlein empfand nichts von Liebe für Platen;
aber es ist ein Zeugnis seines guten Herzens, daß er
nun suchte, ihm wenigstens ein Freund in seinem Sinne
zu werden. Gegen Abend desselben Tages, wo der
Spaziergang unternommen wurde, schlug Platen vor,
noch Thee bei ihm zu trinken, und der Begleiter nahm
die Einladung an. Der Abend verlief ohne Ereignis.
Beim Weggehen versicherte Eduard den Liebenden seiner
„Achtung^^ und sprach die Erwartung aus, daß er ihn
eines Tages davon überzeugen könne. Der Liebende war
schon hierüber glücklich. y^Ainai le repos*^ — das Tage-
buch wurde jetzt französisch geführt — y^Vesperance ei
VamüU s'emparhrent de mon äme," Die Theeabende wieder-
holten sich in der Folge und wurden in der Regel mit
der Lektüre einer Dichtung ausgefüllt Platen wählte
übrigens meist solche Stücke, in welchen die Freund-
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— 379 —
Schaft eine Rolle spielt^ z. B. ^^Konradin'S Trauerspiel
von Friedrich von Heyden. (Dieser obskure Dichter
wurde, vermutlich wegen solcher Stoffwahl, ganz besonders
von Platen ausgezeichnet.) Gegenstand des sich an die
Lektüre anschließenden Gespräches waren Pläne eines
gemeinsamen Ausfluges ins bayrische Gebirge, für welches
Platen noch immer eine starke Vorliebe hatte. Hierauf
bezieht sich das uns aus den „Gesammelten Werken''
bekannte Gedicht, welches beginnt:
„Lockt es nicht auch Dich ins Weite,
Wo kein Zwang das Herz entstellt?
Wandern möchte ich Dir zw Seite,
Dir zur Seite durch die TTett."
Der Liebende schrieb das Gedicht f&r Eduard ab
und überreichte es mit einer Widmung (ebenfalls in die
^.Gesammelten Werke" aufgenommen). Die wenigen, in
echt Platenschem Wohllaut hinfließenden Verse dürfen
hier nicht fehlen:
,,Lorheei' war dem höchsten Ruhme
Heilig einst auf Hellas' Flur;
Eine künstlich goldene Blume
Überkam der l^rubadour.
Mich belohne
Weder Krone,
Noch metalVne Hyazinthe^
Mich der Freund, der treugesinnte,
Mich Vertrauen und Liebe nur.**
Auch während der Spaziergänge wurde gelesen, nach-
dem man sich auf einer Bank niedergelassen. Für Eduard
müssen solche Situationen etwas Peinliches gehabt haben,
weil Platen sie für die angemessenste Gelegenheit hielt,
den Gefühlen seines Herzens Luft zu machen. Freilich
kleidete er die Begriffe immer in einen jfremden Aus-
druck, sprach von „Wertschätzung", wo er die Freund-
schaft, von „Freundschaft", wo er die Liebe meinte und
wo ihn die glühendste Leidenschaft verzehren wollte.
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— 380 —
Eduard selbst legte sich immer eine Beserve auf, gab
unbestimmte Antworten und wollte die Freundschafts-
bezeugungen entweder nur in anderem, im gewöhnlichen
Sinne, oder gar nicht verstehen. Meist gab er eine aus-
weichende Antwort. Auf die Frage z. B., ob er sich zu
einem dauernden BYeundschaftsbunde entschließen könnte,
antwortete er nur: „Wie können Sie daran zweifeln?" —
Platen aber deutete^ wenn er nur irgendwie konnte,
Alles zum Guten und war auch mit einer solch'
nichtssagenden Antwort zufrieden; ja er fand sich
durch sie sogar beglückt, er betrachtete sie geradezu
als eine „Erklärung". Das Gespräch, in welchem ihm
diese Antwort zu teil wurde, fand am 7. Juni (1819) auf
einer Bank am Würzburger Glacis statt. „Ge jour c'est
eher ä notre amitiSI" heißt es im Tagebuch vom 8. Juni
— — f^Enfin je lui parU de mon journcU, et qu^ü y 6taü
nommS souverU/^ „Das freut mich sehr*% erwiderte Eduard,
„daß Sie mir einen Platz in Ihren Memoiren gewähren.*'
„Helas! il ne sait pas quslle place ü y occupe, quel röle il y
joue depuis hien de joura, II ne sait pas quHl me coüte.
Hier pour la premiere fois nous allämes notts promener les
bras croisSs: il avait mis le sien autour de mon cou, et moi
je tenais embrassi le milieu de son corps, dont le poids
cheris pesait en m^ms temps sur mes epaiUes/' Dann fügt
er entschuldigend bei: „On pourrait observer que cela est
pens4 sensuellemsnt, Mais pourqvm ne devrai^-je jouir de
l'aspect bienfaiSant de sa beaiUi pourvu que mon dme soit
pure,** Platen verschwieg sich, daß zwischen dem Anblick
der Schönheit und einer Umarmung des Körpers doch
ein Unterschied sei. . — Für sein körperliches Befinden
waren diese Tage glücklichen Empfindens von heilsamstem
Einfluß. ,fMeine Oesundheit^^, sagt er, „fühlt sich wieder
hergestellt, seitdem ich mich glücklich fühlen seitdem meine
Seufzer mich nicht mehr verzehren. Ich nehms an Körper-
gewicht ZAi und guter Gesichtsfarbe,''
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— 881 —
Schmidtlein, der Platens geistige Vorzüge bewunderte
und Achtung vor dessen Charakter hegte, scheute sich, dem-
selben wehe zu tun, zumal er seine Empfindlichkeit völlig
kannte. Vielleicht auch glaubte er, daß es Platen wirklich
bloß um sein (Eduards) geistiges Wohl, um die Vermehrung
seiner Kenntnisse und die Ausbildung seines Geschmackes
zu tun sei; jedenfalls hatte er, wie gesagt, ein gutes Herz,
und ließ sich die Freundschaftsbeweise des Grafen mehr
und mehr gefallen. So wurde am Morgen des 9. Juni
wieder ein Spaziergang mit Lektüre des „Konradin" unter-
nommen. „ Wir saßm'^, schreibt Platen voll sanguinischen
Hoffens und zugleich selbstquälerischer Furcht, „auf einer
einsamen Bank, eine lieblioke Gegend im Angesicht Wir
hielten uns wm-sckkmgen. Sein Haupt ruhte an meinem
Busen, und unsere Wangen berührten sich häufig. Um dieses
Olück vollständig zu machen, bot uns das Trauerspiel, welches
von Freundschaft und Liebe handelt, so schöne, wahre u/nd
bezeichnende Verse, welche auf alle Seiten unseres Verhält-
nisses Beziehungen hatten. So unrd das Andenken an diesen
Morgen uns (sie!) unauslöschlich sein. Wir begaben uns an
die Stelle (am Glacis], wo unsere Erklärung stattgefimden
hatte. Ich machte Eduard darauf aufmerksam und Eduard
sagte, ,daß ihm diese Unterhaltung stets teuer sein werde'.
Diese Aufsichten sind ohne Zweifel günstig^ aber sie entbehren
von Einer Seile nicht der Gefahr, Das ist die Leidenschaft,
Wir beide sind jung und lieben uns glühend. Aber ich hoffe,
Gott unrd uns beschützen und vor dem Abgrund bewahren,^'
Diese Furcht vor den Gefahren der Sinnlichkeit hat
etwas Rührendes; aber wenn man erwägt, daß sie zu
einem Kampfe wurde, der aus einem ebenso hartnäckig
festgehaltenen wie schlecht verstandenen Ehr- und Sitt-
licbkeitsbegriff entsprang, so kann man sich eines ge-
linden Unwillens nicBt erwehren. Es wirkt auch beinahe
komisch, wenn man sieht, wie Platen, einem wohlerzogenen
Mädchen gleich, auf seine Tugend hält und doch im
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nämlichen Augenblicke kein anderes Sinnen und Trachten
kennt als mit dem Geliebten körperlich „vereint" zu sein.
Das Menschliche im Menschen erhielt indessen jetzt die
Oberhand. Obwohl Eduard jede Gelegenheit, sich Platens
Anfreundungen zu entziehen, benutzte, so ergriff dieser
doch den unbedeutendsten Anhaltspunkt, um sich ihm
noch mehr zu nähern. Am 30. Juni wurde das trauliche
„Du" eingeführt und bei dieser Gelegenheit war es, daß
y^nous nous embrassions pour la premiere fois". Aus der
Umarmung wurde ein Kuß, aus dem Kusse wurden un-
gezählte Küsse. Für Platen stand es nun fest, eine
Freundschaft in seinem Sinne genießen zu können. Er
ging in seiner optimistischen Selbsttäuschung so weit, daß
er an homosexuelle Neigung selbst bei Schmidtlein dachte !
Dieser hatte nämlich, wohl nur, um auch seinerseits
irgend einen Vertrauensbeweis zu geben, einmal von einem
„Geheimnis" gesprochen, das ihn drücke, das er aber nicht
mitteilen könne. In der Tat hatte dasselbe, wie sich
später herausstellte, in ganz gewöhnlichen Familienver-
hältnissen seinen Grund; Platen aber, in seiner Hoff-
nungsseligkeit, war gleich der Meinung, das Geheimnis
sei nichts anderes, als „die Unmöglichkeit, ein Weib zu
lieben^ und die unbezwingbare Neigung zum männlichen Oe-
achlechi^^, wie das bei ihm selbst der Fall war! Diese
Meinung wurde zwar dem Freunde gegenüber vorläufig
nicht ausgesprochen, aber im vertrauten Tagebuch nieder-
gelegt. jyEdu^ard ist der erste Mann, der mir so sehr gleicht,
daß es nichts mehr gibt, was ich ihm noch verbergen könnte"
Sehr bald trat die Enttäuschung ein, welche die
Hoffnung Platens zerstörte. Am anderen Tage morgens
— ,Jour funeste" — besuchte er Eduard, welcher noch
im Bette lag, in seiner Wohnung. „Ich zeigte ihm aU meine
Liebe, aber er war kälter als je" Platen sprach diesmal
unumwunden von seiner Überzeugung, daß Eduard keine
Weiber liebe. Eduard konnte dies zwar nicht leugnen;
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— 383 —
aber ^y&r versicherte mich, daß er noch niemals eine Neigung
XU einem Manne empftmden habe. Er anhoortete kawn mehr
auf meine Fragen und hai, daß ich mich entferne. Aber ehe
wir uns trennten, wmarmten unr uns noehmai mit unserer(\)
ganzen früheren Zärtlichkeit:
Je sentais m'entourant des plus aimables noeuds,
S'etendre et 8*arrondir ses bras voluptueux.^'
„Dennoch wage ich es, zu behaupten^^, fährt er nun
aufrichtig weiter, ,yvm mich %u rechtfertigen oder vielmehr
mich darüber %u entschuldigen, daß ich (also nicht Eduard]
so leidenschafllich war: Daß, wenn Eduard so zärtlich wärre,
wie ich es bin, ich an meiner Stelle ebenso zurückhaltend
wäre vine er. Ich wünsche nicht das Laster, aber Eduards
Kälte, (welche nicht imm^ die gleiche war), feuert mich an,
während sie mich entmutigt Ich habe diese Tage traurig ver-
lebt und viel geweint." — Welche Verwirrung von Gefühlen
und Begriffen! Schon früher hatte es Szenen gegeben,
welche ein Fingerzeig hätten werden können für die Aus-
sichtslosigkeit der von Platen gehegten Wünsche und
Hoffnungen. Wie er von jeder vermeintlichen Unauf-
merksamkeit Anlaß nahm^ sich schwer gekränkt zu fühlen^
so benutzte Schmidtlein jede Empfindlichkeit, um sich
von Platen zurückziehen zu können. Freilich kam es
immer wieder, nachdem die gegenseitigen Vorwürfe ge-
fallen, zu einer Art Verständigung; Platen konnte dann
von dem „Vertrauen" und dem „Interesse" sprechen,
welche ihm die „Physiognomie" des anderen einflößte,
und schließlich gab es dann stets ein willkommenes Fest
der Versöhnung mit Umarmung und Kuß. So am 21. Juni,
von welchem das Tagebuch meldet: „Wir gingen im Hof-
garten spazieren und hatten ein languneriges Gespräch, un-
glückseligerweise wieder am selben Orte, wo *wir uns er-
klärt hatten. Ich sprach, indem ich das freundschaftliche
,Du' umging, zum ersten Mal in einem gereizten und herben
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Tone mit ihm, tmd er machte es nicht besser. Wir tauschten
gegenseitig Vorwürfe aus. Ich sagte u. a., daß er sich des
Mittels eines Menschen, der sich gebrannt hai, bediene, und
welcher sich noch einmal brennt, um den Schmerz xu ver-
treiben. So hat er mich einmal gekränkt und jetzt, um die
Beleidigung gut xu machen^ kränkt er mich noch einmal. —
Indessen sagte mir Eduard heute das erste Mal offen, daß er
mich liebe und daß er wohl wisse y une er meinem Herzen,
welches dies durch seine Empfindsamkeit bewies, durchaus
nicht gleichgültig sei. Er fragte: ,QUmben Sie nicht, daß
Sie mir wert sind?*, wozu er gleich beifügte: , Antworten Sie
nicht darauf! Ich hoffe, daß ich Ihnen eines Tages durch
meine Handlungen betveisen werde und dann werde ich Sie
uneder fragen,'^''
Dieser Tag kam freilich nicht; dafilr trat anfangs
Juli eine neue Spannung ein. Die Eifersucht, mit welcher
Platen den Umgang Eduards, der noch immer seine
Kommilitonen vorzog, betrachtete, riß ihn zu der un-
gerechten Behauptung hin, daß der Geliebte ein frivoler
und zur Libertinage geneigter Mensch sei. Es kam zu
heftigen Auseinandersetzungen, in welchen Eduard mit
Erfolg das Gegenteil bewies. „Jcä konrM^ sagt Platen,
„nicht anders als ihm glauben, ihn zärtlich umarmen und
um Verzeihung bitten, indem ich ihn meiner ganzen Liebe
versicherte, — Nous Stions dejd preis de rums recondlier, de
nous tuioyer (de nouveau), nous nous tenions embrassis, rrutis
un tour malheureux que prenait notre conversaHon aüait nous
perdre. Edouard fixait Videe que nos charaderes fussent trop
dissemblables , que je vecusse dans un autre sphere que lui
meme, qus notre amitie ne pourrait subsister," Das war
deutlich genug gesprochen; aber der Liebende konnte
und wollte daran nicht glauben. „Je we lui cächait point
ce qus je souffrirai de notre Separation,^* EndUch nach
einer fünfstündigen Unterredung trennte er sich, Eduard
nochmal die Hand reichend. Er sagte, daß er bloß Das
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— 385 —
getan habe, was er habe tun müssen. y,Äk''^ erwiderte
Platen^ ,,wenn Sie einen Menschen mißhandeln, der Sie liebtj
wenn Sie ihn aufs tiefste verletzen, so kommt dies Ihnen
nicht schwer an; oh nein, oh n&in/^^ — Er begab sich
darauf an eine einsame Stelle und yergoß einen Strom
von Tränen. „Ich bin tot für die Welt; denn ich bin es
für ihn^^, so verzeichnet das Tagebuch die Stimmung vom
3. Juli. Der Schmerz ließ ihn nicht ruhen. Anderen
Morgens begab er sich in Eduards Wohnung. Wieder
eine Flut von Vorwürfen; Eduard sei ein Mensch ohne
Herz, ohne Gefühl; er solle die Briefe, die er erhalten,
herausgeben. Aber die Neigung trug den Sieg über den
Stolz davon. „Je me mis sur ses genoux en le conjwrant
avec mille mots Umohanis et miUe baisers de ne separer pas
ce-qtie le sort mems avait liS" (!). Eduard versicherte wieder,
daß Platen ihn nicht genugsam kenne und daß zwischen
den beiden Charakteren ein allzu großer Unterschied be-
stehe. „Eben deshalb", sagte dieser, instinktiv das Richtige
treffend, „sind unr für einander gemacht, bestimmt, diMroh
umsere Ähnlichheit xu sympathisieren, dwrch v/nsere Unähn-
lichkeiten einander zu ergänzen/^ Hätte Platen diesen
Standpunkt immer eingehalten und demselben auch offen
Ausdruck verliehen, so würde ihm manche Enttäuschung
erspart geblieben sein, und Eduard andererseits hätte in
seiner Herzensgüte manche Schroffheit vermieden. Dies-
mal aber zeigte sich letzterer entgegenkommend. „// m'em-
brassa avec ard&ur, le ,tu^ revint se jouer sur ses Uwes et
il me jura de redevenir mxm ami, comme ü le füt auparor
vant et de Vetre pour toujours,^^ Platen wollte einmal nicht
als bloßer Gegensatz gelten, sondern sich für gleich-
wertig gehalten wissen. Daher seine Vertauschung der
Begriffe, seine Verheimlichung der wahren Gefühle und
sein stets beleidigter Stolz.
Am 11. Juli glaubte er sich wieder einmal kalt be-
handelt und „noch mehr als das*^. Er sagte dem Freunde,
Jahrbuch VI. 25
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daß er Alles, was er besitze, geben würde, wenn er ihn
nie kennen gelernt hätte. ,,M erblicke keinen anderen Alis-
weg, als uns für immer zu trennen/' Diesmal war es
Eduard, der sich Dicht entfernen wollte. Die Unterredung
fand auf Platens Zimmer statt Hundertmal gab sich der
Freund den Anschein, wegzugehen, hundertmal blieb er
zurück, jfSei es, daß ich ihn zuriickhieU^ sei es, daß er selbst
zögerte*'. Als es nochmal zu einer heftigen Erklärung
kam und Eduard Miene machte, sich wirklich zu ent-
fernen, wurde Platen von einem solchen Zorne erfaßt,
daß er ihm zurief: „So geh' in Teufels Namen/'^ Eduard
schwor, nie mehr das Zimmer zu betreten, und ging da^
von. Platen suchte ihn natürlich des anderen Tages früh
wieder auf, traf ihn aber nicht an und spielte nun selbst
den Beleidigten, indem er auf einem Blatt Papier die
Worte hinterließ: „P. pour la demiere fois^^. Die Wirkung
' war ein Brief, der bereits nachmittags bei Platen eintraf
und in welchem es hieß, es sei auch auf Seite Eduards
„la demiöre fois" gewesen, daß er bei ihm war. „Es
ist das Beste für uns; unsere Herzen werden sich nie ganz
verstefienj und ich bedaure es mrklichj in Ihnen einen Men-
schen gefunden zu hahen^ mit dem ich niciU freundschaftlich
harmonieren kann, obschon ich Ihnen meine Achtung und Ver-
ehrung in hohem Grade zolle. Hassen Sie mich deswegen
nicht, ich kann . wahrhaftig nicfds dafür, daß mich die Natur
nicht so fühlend geschaffen wie Sie/^ — Das war auch
jetzt wieder der Kampf zwischen Vernunft und Natur,
der immer zugunsten Eduards ausschlug, während
Platen in keinem Falle die Oberhand behielt. Der
Kampf war ein ungleicher, da bei Schmidtlein die Ver-
nunft der bereitwillige Bundesgenosse war und die Natur
kein Wort mitzureden brauchte, während Platen gleich-
zeitig mit beiden kämpfen mußte. Er erbleichte, als er
das Schreiben bekam. Er wußte aber nicht, daß er erst
noch den Gipfel des Elends zu ersteigen hatte. Sofort
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begab er sich wieder in die Wohnung des Briefschreibers,
fand ihn aber auch diesmal nicht vor. Dort richtete er
folgenden Brief an Eduard:
,^Auf demselben Tische, an dem Du mich das letzte Mal
beleidigtest, empfange nun das letzte Andenken eines vorsätz-
lich verkannten Freundes, Weit über jede Affektion erhaben,
nenne ich Dich Du, wie ich Dich immer nannte^ und wenn
Du es heute nicht tatest, so konnte es mich nur ivenig berühren,
da das Maß Deiner Kränkungen bereits üherfiäU war,
Ich übergehe einige Unzartheiten Deines Briefes und ergreife
nur den Hauptpunkt, um Dir ein Geheimnis ins Ohr zu sagen,
das Du zu ignorieren scheinst. Du achtest, sagst Du, Du ver-
ehrest mich, wohl; aber ein Drittes hast Du vergessen, Du
liebtest mich. Du liebtest mich, oder Du wärest einer Ver-
stellung fähig, die ich kaum dem schwärzesten aüer Dämonen
zutraute. Noch gestern spiegelte Deine Liebe in jedem Blicke,
in jeder Silbe sich, mit jedem Kuß berührte sie meine Lippen.^*
(Letzteren Satz hielt Platen wohlweisUch zurück, da er offen-
bar einsah, daß er nicht das Becht hatte, aus einer not-
gedrungenen Vergünstigung, die ihm ward, einen aus freiem
Entschlüsse hervorgegangenen Beweis der Liebe zu kon-
struieren.) Dann aber heißt es: „Je lui dis que je n'avais
jamais cache mon amour et qu^ü etait le seul Jwmme du monde
qui connüt tout ma faiblesse (sie!). Je nepouvais la defendre ni
Vexcuser, il avait fallu suivre les sentiments de mon coeur.
Je lui dis que dans ce moment j'etais tout-ä-fait incapahle de
me separer de lui.'^
Kaum war der Brief beendet, so trat Eduard ins
Zimmer. Platen entfernte sich auf der Stelle und wies
bloß auf das Geschriebene hin, das auf dem Tische lag.
Vierundzwanzig Stunden darauf folgte die Antwort,
aUzusehr das Spiegelbild der unseligen Wirkungen, welche
die Liebe eines edlen Homosexualen in der Seele eines
ehrenhaften Normalmannes hervorruft, als daß sie hier
nicht vollständig wiedergegeben zu werden verdiente:
„Deinen Brief habe ich gelesen und es hat mich sehr ge-
schmerzt, darin wieder Voncürfe zu finden, die ich, bei Gott,
nicht verdiene. Daß ich Dich Sie nannte, geschah weit mehr
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rücksicktlich Deiner, als aus der Stimmung meines Herzens;
daß Du mir aber vortvirfsty ich habe Dich noch zum letzten
Male gekränktf darin tust Du mir sehr Unrecht, und dies ver-
doppelt sich noch, wenn, wie es allerdings aus Deinem Briefe
scheint^ Du glaubst, ich habe es absichtlich getan. Nimm von
mir hier das feierliche Versprechen, daß dieses nie in Absicht
geschah, am allerwenigsten in einer Stunde, in welcher ich
wahrscheinlich mit Dir zum letzten Male sprach und in der
ich selbst mit mir genug zu tun hatte, da ich fand, daß ich
Dich achtete und ehrte und — wenn Du es im rechten Sin^ie
nimmst — aiich liebte und doch nicht Dein Freund werden
konnte. (Der Briefschreiber gebraucht das Wort im Sinne
Platens.) Wegen Dir je zugefügter vermeintlicJier oder uHrk-
licher Beleidigungen bitte ich Dich hiemit um Vergebung und
setze die Versicherung hinzu, die Du mir nie geglaubt hast,
vielleicht auch jetzt wieder nicht glaubst: daß es nie meine
Absicht war. Dich zu kränken, und daß ich mich immer nur
so zeigte, wie ich war, und nur so handelte, toie ich mußte.
(Der Verstand sagte freilich auch Platen, daß keine Kränkung
vorlag; aber die Liebe, welche Gegenliebe verlangte, war da-
mit nicht zufrieden und erblickte schon in dem Mangel der-
selben eine schwere Kränkung.) Daraus ist mir leicht, meine
ganze Handlungsweise zu rechtfertigen, da ich nie etwas
Anderes geschienen habe, als ich bin, und noch leichter wird
mir diese Bechtfertigung , da ich mit innigster Überzeugung
aussprechen kann, daß icir anfangs auf verschiedenen Wegen
ein Gleiches — die Freundschaft nämlich (im allgemeinen
Sinne) — erstreben wollten und daß wir nie zum Ziele kom-
men, weil wir einander, wa^ mir in der letzten Zeit erst recht
klar geworden, nie verstanden. (Der Irrtum beruhte auf dem
Mißverständnis, dem Pla|;en damals selbst unterlag: Daß man
von Freundschaft sprechen könne, wo die Liebe wirkt, und
daß es eine rein platonische Neigung gebe, wo die sinnliche
Liebe Platz gegriffen.) In Deinem (Lebens-) Laufe stieß ich
Dir auf und Du fühltest Dich, wie Du sagst, gleich im ersten
Augenblick zu mir hingezogen; Du suchtest mich kennen zu
lernen und, schon vom Schicksal hierzu bestimmt, mir FVeund
zu werden, kamst Du in meinen Arm. Nicht also ich.
Gewöhnt, jeden Menschen zu achten, zu ehren, gut und
freundlich gegen Jedermann, ging ich Deinem freundschaft-
lichen Anerbieten freundschaftlich mtgcgen; ich habe es gleich
im Anfang gewiß gut mit Dir gemeint. Du wardst mir zart-
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lieh, Freund, und ich habe Dir Deine Zärtlichkeit erwidert,
ich gestehe es, weniger aus innerem Antriebe, cUs in der
Hoffnung, daß ich gewiß gegen Dich, den ich als einen edlen,
wackeren Menschen erkannt habe, auch in kürzester Zeit Das
fühlen werde, was Du gegen mich fühltest. Ach, leider hat
es der Erfolg anders gezeigt und mich über mich seihst viel-
fältig nachdenken gemacht. Du umrdest immer zärtlicher gegen
mich, und ich fühlte mit jedem Tage mehr, daß ich Dich zwar
sehr achtete und liebte, aber nie , Freund* werden könnte. Da
hielt ich mich verpflichtet, mich Dir zu entdecken, und ich tat
es jenes Mal im Hof garten (am 21. Juni); ich habe mich dort
ganz aufgeschlossen. Du fandest die Verschiedenheit unseres
inneren Lebens nicht so groß; Du glaubtest, es sei noch mög-
lich, daß tvir Freunde würden, und abermals gab ich Dir
nach, wiewohl mit einem Gefühl der Unmöglichkeit, woraus
Dir mein Sträuben, in das alte Verhältnis zurückzukehren^
jetzt erklärlich wird.
Viel hat es mich seitdem geängstigt, sowohl Deinetwegen
als meinetwegen, daß ich immer nicht das heilige Feuer der
Freundschaft (sie!) in meinem Busen fühlte. Gott, sagte ich
oft zu mir, was bist Du für ein Mensch, daß Du einen edlen,
aufrichtigen Menschen, der noch vom Schicksale gezu^ngen ist,
Dir Freund zu sein, diese Freundschaft nicht erwidern kannst!
Alles umsonst! Ich konnte nichts über mich gewinnen. Ich
konnte mich nicht anders machen, als mich die Natur er-
schuf. — Hier habe ich mich Dir ganz aufgeschlossen. Wenn
Du mich nur verstehst! Und wenn Du mich verstehest, ver-
damme mich, wenn Du kannst! Du weißt nun Alles, und
nun entscheide Du, ob wir zusammenkommen wollen oder
nicht. Leb* wohl!''
Wie viele Worte um einer einfachen Wahrheit
willen! Hätte nur einer von beiden das Wesen der
Homosexuaütät gekannt, so würde das ganze große Miß-
verständnis nicht eingetreten sein. Aber nicht Platen
einmal, der homosexuelle Teil, war mit dem Wesen der
perversen Geschlechtsnatur vertraut. Wir werden mit
schrecklicher Erkenntnis an die Worte Zschokkes er-
innert: ,,So sehr ist seine (des Homosexualen) Gedanken-
welt durch den Wahn der Welt verschroben, daß er sich
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selbst fbr wahnsinnig und unnatürlich halten muß und
wirklich dafür hält. Er erkennt weder Ursprung noch
Zweck seiner heiligen Neigung. Ohne sie verbrecherisch zu
finden, nimmt er sie auf Treu und Glauben der Welt für
verbrecherisch/^ Wir erleben hier aber noch das Selt-
same, daß nicht nur der Homosexuale, sondern auch der
normale Teil an sich selbst irre wird und sich für un-
natürlich hält, weil er „das heilige Feuer der Freund-
schaft, nicht in seinem Busen fühlt^i. Was bedarf es
noch mehr, um das ganze Seelenelend zu schildern, das
durch die ungerechte Beurteilung der perversen Ge-
schlechtsnatur in der Welt hervorgerufen wird!
Der Brief Eduards hatte auf Platen ganz vernichtend
gewirkt und Verzweiflung bemächtigte sich wieder seiner
Seele. „Es blieb mir nichts übrig als der Instinkt, der mich
trieb, zu Edtmrd zu eilen — und ich eüte xu ihm. Ich zer-
floß in Tränen vor ihm und überließ mich meiner grenzen-
losen Verzweiflung. Anfangs behandelte er mich mit Härte.
Er sagte, daß er diese Tränen nicht ertragen könne^ er sagte
noch andere* Dinge, welche mein Inneres zerrissen. Später
erschien er ein wenig gerührt. Ich erklärte ihm, daß ich
mich nicht plötzlich von ihm entwöhnen könne und daß er
mich aus Mitleid und Menschlichkeit nicht verlassen möge.
Endlich ging er weg und ich begleitete ihn, gestürzt aus
meinem Paradies, verumndet bis in die Tiefen meines Herzens,
in Liebe entbrannt mehr denn je, durchdrungen von einem
Gefühl, welches keine Sprache auszudrücken vermag.^' Noch
war der Bruch kein vollständiger, kein dauernder. Noch
einmal belog sich Platen, daß seine Liebe über die Natur
des anderen siegen könne; noch einmal gab der Edelmut
des Angebeteten nach und ertrug aus Mitleid Alles, wo-
gegen alle Sinne sich in ihm zur Wehr setzten. Platen
sah dies Letztere in lichten Augenblicken selbst ein.
Keine Täuschung, keine Lüge hielt denn mehr vor und
die ganze Wahrheit seines unverschuldeten Unglücks
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wurde ihm klar. „Ich leide schrecklich'', schreibt er am
26. Juli, „und mehr als ich verdiene, O warum, warwm
hat mich die Vorsehung so gebildet! Warum ist es mir
unmöglich, Frauen zu liehen^ warum muß ich diese
unglückselige Neigung nähren, welche nie erlaubt
sein und nie erwidert werden kann? Qiht es Men-
schen, deren Lehen nichts anderes sein muß als eine
Schule der Tränen?^'
Platen mußte diese letzte Frage immer wieder durch
seine eigene Erfahrung bejahen. Oft hat er in der
Sprache der Dichtung, meist in Anklängen an Worte
Schillerscher Frauen, seinem Schmerz Ausdruck ver-
liehen, und es könnte zuweilen scheinen, als ob er sich
darin gefiele, eine tragische Rolle zu spielen, und als ob
der Inhalt seiner Herzensergüsse bloß anempfunden sei.
Allein bei seinem gründlichen Studium der Dichter
war es naheliegend, daß er deren Worte, welche ihm
stets zu Gebote standen, für die Äußerung seiner so oft
ihnen entsprechenden Gefühle verwendete. Wenn übrigens
die Leidenschaft den höchsten Grad erreichte und das
Unglück in seiner ganzen Übermacht über ihn herein-
brach, dann spricht er nicht mehr in den Formen fremder
Dichtung und der Schmerz äußert sich mit der Unmittel-
barkeit eigener Empfindung. Das ist nun auch der Fall
in den letztangeführten Worten, die mit der Elementar-
kraft der Wahrheit Wiederhall finden müssen. Eine
feierlichere Manifestation der Menschennatur, die sich
gegen ein unverschuldetes Unglück und eine ungerechte
Verfolgung aufbäumt, kann die menschliche Sprache nicht
mehr hervorbringen.
Im Bewußtsein des Rechtes, das in seiner innersten
Seele nicht erschüttert wurde, gab Platen seine Hoffnung
nicht auf, und wieseine Liebe im Geliebten nur Kälte
erzeugte, so rief in ihm selbst die Kälte nur eine noch
heftigere Leidenschaft hervor. Diese erreichte eine solche
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Glut, daß sie jede y erschämte Rücksicht abwarf und end-
lich in ihrer nackten Wahrheit dastand. Der alte Wahn,
der jetzt mit Recht als Torheit erschien, kehrte zurück.
Trotz jener unzweideutigen Erklärung Eduards hoflfte
Platen noch einmal auf Gregenliebe und seine Hoffnung
steigerte sich bis zur Verblendung. Natumotwendig
führte dies zur Katastrophe.
Die Herbstferien waren eingetreten; Eduard ging
zu seinen Eltern nach München. Platen mochte sich
nicht von Würzburg, wo er glückliche Frühlingstage ge-
nossen zu haben vermeinte, vollständig losmachen, son-
dern bezog eine Sommerwohnung im nahen Dorfe Ip-
hofen. Die Trennung, welche sonst die Leidenschaft
lindert, versagte hier ihre wohltätige Wirkung. Der
Dichter schrieb an den Freund einen liebeatmenden
Brief, auf welchen eine kurze, nichtssagende Antwort er-
folgte. Er ergoß nun seine Gefühle, für welche er kein
teilnehmendes Ohr fand, in Verse, die er in seinem Pult
vergrub und welche lauteten:
jy Selbst in der Einsamkeit Asyl verfolgt
Mich unversöhnt der scharfe j böse Pfeil!
Beglückt, beruhigt saß ich, wandelf ichy
Den Griffel und die Bücher in der Hand;
Da kam Dein Brief — ein harter^ kurzer Briefe
Doch rief er mir Dein Bild zurücky ich sprach:
Das sind die Züge Deiner schönen Hand,
Der Handy die liebevoll ich oft gedrückt.
Ich sah Dein Aug* im Geist, weh mir, Dein Aug' — *'
(Drei Blätter mit Versen sind an der betreffenden
Stelle des Tagebuchs herausgeschnitten. Sie enthielten
wohl Gefühlsergüsse, die für keinen unberufenen Leser
bestimmt waren.) Nicht mehr die beleidigte Vernunft,
die lange unterdrückte, elementare Sinnlichkeit war
es, die jetzt mit steigender Heftigkeit emporschlug und
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sich in dem 23jälirigen jungen Manne nun einmal nicht
mehr mit Grundsätzen und Vemunftschlüssen niederhalten
ließ. Platen selbst sagt — mit einigen Widersprächen —
im Anschluß an die ausgeschiedenen Verse: ,,Da8 sind
meine OefühlCy und wohin sind sie gekommen? Aber es ist
nicht die WoÜttst, welche die Verse ?iervorgebraeht, sondern
die Liebe. Es ist nicht allein die Seele, welche lieben kann;
es ist unser ganzes Wesen, zusammengesetzt atis Seele und
Leib, und diese kann man nicht trennen. Hat der Leib nicht
auch seine Bechte une die Seele? Ich kann diese Verse nicht
verdammen; sie scheinen mir so schön und wollüstig}*^ Er
las jetzt mit besonderer Vorliebe die römischen Elegiker,
welche die Freundesliebe besangen^ und manches aus
deren nicht gerade platonischer Anschauung ging in
seine eigenen Poesien über. Und wie seine Poesie ero-
tisch, so wurde seine Liebe poetisch in diesen Tagen.
yyMon amour, n'est-ü devenu phis poetiqus depuis qu'il est si
ardeni?^^ Eine Probe solcher elegischen Episteln, die
zugleich ein Zeugnis seines glänzenden Talentes sind,
darf auch hier nicht fehlen:*
j.Gesellig wandern werd' ich nickt mit Dir
Durch Feld und Äu'n und ländlich Buschrevier,
Das seine letzten Schatten, halb entlaubt.
Uns schenkf und Blätter schüttelt auf Dein Haupt:
Dir, dem der Frühling seine Blüte gab.
Tritt auch der Herbst den letzten Schmuck noch ab.
Doch keine Blume werd* ich mehr gewahr,
Den Kranz zu drücken in Dein dunkles Haar;
Wie müßten lieblich Basen und Jasmin,
Sich schlingen, Freund, U7n Deine Schläfe hin!
Doch blühen Kamillen nur noch um und um,
Karthäusernelken, blasses Colchicum;
Die kleine Bellis birgt sich sittsam hier,
Sie ist des Lenzes tote des Herbstes Zier,
Die Achillea steht noch weißlich grau.
Und neben ihr der Skabiose Blau.
Kaum tvürzt noch Münz' und Thymian die Luft,
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Die andern edle spenden keinen Duft.
Sie welken tingepfiikkt und unbegehrt,
Doch scheint mir keine. Dich zu kränzen, wert.
Komm, laß uns ruhen im Maßholderstrauch;
Hier quiUt ein Bach, hier schwillt der Basen au^h
Und breitet seidenweich sein grünes Vließ,
Hier schmücken Küsse noch einmal so süß.
Und wir bedürfen ja nur u>ns allein,
Um ganz vergnügt, ja — ganz beglückt zu sein.^^
Und diese Epistel sandte der Dichter nnn wirklich
an den Freund; er sandte sie nicht ohne Besorgnis, daß
demselben der Ton des Schlusses mißfallen könnte; 'des-
halb fügte er im Tagebuch bei: „Si las irois lignes der-
nieres ne Im plaisaieni pas, ü pourrait les effacer.*^ Besser
würde es freilich gewesen sein, Platen hätte sie selbst
weggelassen; aber die Leidenschaft war übermächtig ge-
worden und schlug in hellen Flammen auf. „Ich habe
nie etwas ihm (EMuard) Ähnliches gesehen. Solche Äugen
trifft man nur ein einziges Mal. Er ist der erste Mensch^
den ich wahrhaft geliebt habe; denn man liebt nur halb,
wenn nicht auch die Sinne entflammt sind.'' Die
negative Wirkung, die Wirkung auf Seite Ekluards, trat
mit der Kraft eines Naturgesetzes ein. Die Worte
glühender Sehnsucht fanden keinen Widerhall mehr, und
Platen, statt sich nun zu mäßigen, geriet auf den un-
seligen Einfall, seine erotischen Geschosse zu verschärfen.
Was er in einem Briefe vom Anfang Oktober an Eduard
schrieb, ist nicht bekannt; die einschlägigen Blätter im
Tagebuch sind ebenfalls entfernt; es ist aber anzunehmen,
daß die Worte ganz im Geiste eines Tibull und KatuU
gehalten waren und daß sie nicht — wie die Heraus-
geber des Tagebuchs anzunehmen geneigt sind — als
bloß poetische Vorstellungen betrachtet werden dürfen.
Eduard sah nun vollständig ein, daß es sich nicht ma
Freundschaft, sondern um Liebe, um sinnliche Liebe
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handle, und die zarte fiücksiclit^ mit der er sich sonst oft
den Anschein gab, er glaube an Freundschaft in des
Wortes allgemeinem Begriff, fand bei ihm keine Anwen-
dung mehr. Im Gegenteil, mit schroffer Elntrüstung und
im rückhaltlosen Tone der Verachtung schrieb er folgen-
den Brief von München nach Iphofen:
11. Oktober.
Herr Graf!
Heute habe ich Ihr schimpfliches Schreiben erhalten u/nd
heute schicke ich es Ihnen samt Allem , was ich hier (in
München) noch von Urnen habe, zurück. Was ich noch von
dergleichen in Wurzhur g habe, erhalten Sie in den ersten
Stunden nach meiner Anktmft daselbst; ebenso bitte ich mir
all das Meinige zurück; denn weder will ich etwas von einem
Menschen besitzen, den ich wegen seiner abschetUichen Gdüste
verachten muß, noch soll er etwas von mir haben. Niemand
hat Ihren schändlichen Brief gelesen; aber es sei Ihnen genug,
zu wissen, daß ich Sie vollko^nmen verabscheue, wie es Jeder
tun müßte, der diesen Ausfluß gräßlicher Verdorbenheit (!)
lesen würde. Erkennen Sie, Herr Graf, an diesen Zeilen die
Spuren meines höchsten Untcillens und meiner tiefsten Ver-
achtung. Ich tüill absehen von der gräßlichen Beleidigung,
die Sie mir durch jenen Brief angetan haben. Aber Das sage
ich Ihnen, ich werde es mir zur Ehre schätzen, wenn Sie mich
ganz vergessen und keinem Anderen sagen, daß Sie mich je
gekannt haben; und das sage ich Ihnen auch noch: Wagen
Sie es nie mehr, mir auch nur eine Zeile zu schreiben, oder,
wenn ich wieder in Ihre Nähe komme, nur ein Wort mit mir
zu sprechen; was mich angeht, so werde ich Sie von nun an
als ein pestartiges Übel meiden, und Sie könnten sich sonst
wirklich der Gefahr aussetzen, behandelt zu werden, wie es
derjenige verdient, welcher der menschlichen Würde ganz ent-
sagt hat.^^
Das Maß war voll Nie ist ein Leidenskelch
mit größeren Bitternissen gefüllt gewesen als
jener, den Platen auszukosten hatte. Keine Dichtung,
weder ein Roman noch eine Tragödie, hat je einen ähn-
lichen Konflikt geschildert, und auch aus der Wirklich-
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keit ist keine ähnliche durch Liebe verursachte Seelen-
pein bekannt geworden. Hier, in der Wirklichkeit, wird,
wie in der Dichtung, der Liebende oft auch seinem
Schicksal überlassen, er wird auch zurückgestoßen; aber
wenn er den Namen eines Unglücklichen verdient, dann
ist die Schuld in der Regel auf anderer Seite, und wenn
ihm Verachtung wird, hat er sie sich stets durch eigene
Schuld zugezogen. Dagegen dort, bei Platen und seinem
Freunde, sind beide Teile, der Verstoßende wie der Ver-
stoßene, höchst achtenswerte Personen; der Verstoßende
handelt in einem Wahne, den er mit fast allen Menschen
teilt, und der Verstoßene, selbst im Sturze noch ein
Held, unterliegt in einem Kampfe, der übermenschlich ist.
Die Reinheit im Umgänge ist bei Platens Liebe
über allen Zweifel erhaben. Gerade das Tagebuch, in
welchem er seine Erlebnisse rückhaltlos verzeichnete, ist
hiefür ein Beweis, gegen den es keinen Einwand gibt.
Und welche Vorwürfe mußte der Arme gleichwohl hören!
„Abscheuliche Gelüste", „gräßliche Verdorbenheit", „Ent-
sagung aller menschlichen Würde". Und was hat Platen
denn getan? Worin liegt seine Schuld? Er hat sich
in Sehnsucht verzehrt, hat es kaum gewagt, sich dem
Gegenstande der Sehnsucht zu nähern, hat, nachdem ihm
dies durch Hilfe eines Dritten gelang, seine Gefühle in
geschriebenen Versen gestanden, die mehr verhüllten als
aufdeckten, und endlich, indem er den stürmischen For-
derungen des Herzens nachgab — nichts erreicht, als
eine kühle Umarmung und einen noch kühleren Kuß!
Über eine Sinnlichkeit, zu welcher er sich vielleicht ge-
trieben fühlte und gegen welche jene Vorwürfe gerichtet
sein könnten, war er vollständig Herr geblieben.
Übertrage man das ganze Verhältnis einmal auf das
Gebiet der normalen Liebe und nehme man an, der ge-
liebte Teil sei ein Mädchen gewesen. — Wenn Alles,
was geschehen, seine Geltung für ein solches hätte, so
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würde damit eine recht harmlose Liebesaffaire gezeichnet
sein, mit der kein Romandichter etwas anzufangen wüßte
und die im wirklichen Leben höchstens ein mitleidig
spöttisches Lächeln hervorrufen könnte. Platen hätte
sich gegen ein Mädchen aller Raffinements eines Lieb-
habers bedienen dürfen, er würde kaum einen leisen
Vorwurf erfahren haben. So aber handelte es sich um
einen jungen Mann, und deshalb war der Liebende der
tiefsten Verachtung verfallen und mußte es auch noch
erleben, diese in einer maßlos derben Form ausgedrückt
zu sehen.
Jener Briefschreiber glaubte wohl, er allein wisse
so zu fühlen, wie die Natur es ihm gegeben, und ein
Anderer, den sie anders schuf, verkehre, aus bloßer Hart-
näckigkeit und Lust an Verhöhnung der Natur, seine
Gefühle in das Gegenteil. — Eduard Schmidtlein, der
zu Würzburg in der Liebe Platens nie eine ,,gräßliche"
Beleidigung erblickt hatte, der sogar von einem „heiligen
Feuer der EVeundschaft" sprechen und bedauern konnte,
dasselbe nicht auch in seinem Busen zu fühlen, war in
einer gewissen Hinsicht sehr vergeßlich; es scheint übri-
gens, daß er während seines vorübergehenden Aufent-
haltes in München einer Einflüsterung, die das Organ
des landläufigen Wahnes und Hasses war. Gehör ge-
geben hatte.
„Und dieser Brief hat mich nicht getötet?'^ ruft
der Empfänger aus, nachdem er ihn selbst noch ab-
geschrieben und seinem Tagebuch einverleibt hat! Die
Herausgeber desselben bemerken in einer Fußnote: „Wir
haben nicht Anstand genommen, den Wortlaut auch
dieses Briefes abzudrucken, da die Schwere der darin
erhobenen Anklage durch das Folgende aufgehoben wird.
Nur wer sich frei von der hier zum Vorwurf gemachten
inneren , Verdorbenheit' fühlte, vermochte diese Zeilen
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seinem Tagebuch einzurücken. Ein wirklich schuldiges
Gemüt hätte sie ängstlich yemichtet. Aber nicht nur
die Selbstquälerei Platens kostet hiebei mit einer Art
Wonne die von geliebter Hand erteilten ungerechten
Schläge; auch das bei ihm überall hervortretende ethische
Feingefühl bereitet sich damit seine Sühne."
Von einem weiteren Aufenthalt in Würzburg konnte
nicht mehr die Rede sein; Platen siedelte, nachdem er
die. Briefe Schmidtleins ^ auch das Original des letzten,
demselben zurückgeschickt und ihnen eine Rechtfertigung
seiner Person beigegeben hatte, Ende Oktober nach der
Universität Erlangen über. Dort warf er sich mit neuem
Eifer auf die Studien, nahm sich fest vor, sein Auge vor
einer neuen Schönheit zu hüten^ und suchte sich mit
seinem Schmerz über den Verlust der letzten — und den
seiner Ehre — abzufinden. Platen hatte es aus Scham
nicht mehr gewagt, einem seiner früheren Kameraden
vor das Gesicht zu treten; aber jetzt drängte es ihn, die
„Katastrophe dieser unglückseligen Geschichte" und sein
„Verbrechen" (sie!) einen der Vertrautesten vrissen
zu lassen. Er wandte sich brieflich an Max von Gruber
in Würzburg, den alten, bewährten Freund aus der
Münchener Zeit, und teilte ihm alles mit, was vorgefallen,
indem er ihm kurzerhand sein Tagebuch zu lesen gab.
Es wurde hiermit mehr als der beabsichtigte Zweck er-
reicht.^) Max von Gruber antwortete wie ein Mann und
Freund:
^) Im Vorstehenden wird ein Passus des ersten Aufsatzes
Aus Platens Seelenleben im Jahrbuch 1899, S. 174, richtig
gestellt. Infolge der knappen Darstellung, welche in der Vorrede
zum I. Bande von Platens Tagebuch dem Gegenstande gegeben
war, bildete sich nämlich im Verfasser des Aufsatzes der Irrtum,
als ob Gruber mit dem Inhalt des anvertrauten Tagebuchs einen
Mißbrauch getrieben hätte; das Gegenteil ist richtig, wie hier gern
und mit Genugtuung konstatiert werden soll.
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„Die Leidenschaft hat Dich verführt, Preise und segne
Dein beschick, wenn S, {Schmidtleins) Worte Dich so schauder-
haft aufgeweckt haben. Sei ruhig! Auch S, — es ist nicht
unmöglich — kann Dich noch achten und Alles vergeben,
wenn auch vielleicht nicht mehr lieben. Auf mich hat Deine
Leidenschaft (auch Graber, war, wie ja Platen selbst, von
dem Wahn der Welt suggeriert) nicht wie auf S. leidenschaft-
lich eingetoirkt. Ich kenne Dich nun so ziemlich und — bei
Gott, so sehr ich das Laster verachte und verabscheue, ich ver-
achte Dich im geringsten nicht. Es ist eine Verirrung, an der
ich innige Teilnahme mitfühle. Wenn Dich S. so aus dem
rechten Standpunkte sehen könnte wie ich, er würde nie und
nimmer so von Dir füMen^ wie er geschrieben; denn Du bist
bloß noch versucht van diesen unnatürlichen Gefühlen, aber
noch kannst Du mit einem Male die Kette reißen, die Dich
daran fesselt.
Dies von ganzem Herzen, und ich mißbrauche nie Dein
Vertrauen, denke im Ganzen von Deinem inneren Sein nicht
schlechter und danke für Dein Vertrauen — ".
Wollte Gott^ der Brave hätte recht gehabt und man
könnte sich vom perversen Geschlechtsgefühl losreißen
wie von einer Kette, auch wenn sie noch so stark ist!
Aber nicht genug anzuerkennen ist dessen Wahrnehmung,
daß ein Mensch mit diesen „unnatürlichen" Gefühlen,
d. h. jenen, welche die Natur ihren Gesetzen und Regeln
zuwider einem Menschenkinde eingepflanzt, im „inneren"
Sein, d. h. im wahren Grunde, auf volle Achtung An-
spruch erheben kann. — Gruber begnügte sich übrigens
nicht damit, den Freund zu trösten, sondern suchte ihm
auch durch die Tat zu helfen. Am 18. November fügt
er einem Briefe die verheißungsvollen, wenn auch noch
etwas dunkeln Worte bei:
„Mit dem nächsten Brief hoff' ich Dir auch Neuigkeiten
schreiben zu können, Sachen, die jetzt noch im Werden, aber
noch nicht ganz klar und geiciß sind!^^
„Hiynmd^^, ruft der von einer schweren Angst Auf-
atmende aus, „sollen diese Sachen im Zusammenhang mit
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— 400 —
Eduard stehen? Oott woüe es/ Die Verzeihung Eduards
dllein könnte mir urieder die Büke meines Herzens zurück-
geben!'' — Und so geschah es. Bereits am 26. November
traf von Eduard ein Brief ein, den Platen zitternd öff-
nete und der die Worte enthielt: „Ich vergesse und
verzeihe Alles j (ich) behalte die Bücher als ein Zeichen
der früheren reinen Liehe und nicht der späteren
Unlauterkeit und trage Leid wegen der Verirrung
eines sonst guten Menschen.
E. J, Schmidtlein/'
„Das ist mehr^ als ich verdient habe**, ruft Platen in
charakteristischer Unterschätzung seines Wertes aus. Aber
gleichzeitig fühlt er, daß er sich damit Unrecht tat. yylch
habe darüber viel geweint. Mußte Edvard die Worte, und nicht
der späteren Unlauterkeit' hinzufügen? Ich habe mich mit
der tiefsten Zerknirschung vor ihm gedemütigt, aber habe mich
auchy so gut ich konnte, von drnn Vorunirfe einer gräßlichen
Verdorbenheit gereinigt. Was er von den Büchern sagt, be-
zieht sich auf das, was ich ihm in Würzburg auf die Bück-
seite und den Band seines schrecklichen Briefes geschrieben
hatte. Ich habe ihm kein Wort über seine eigene Schuld
gesagt und wie er meine Sinnlichkeit aufregte. Ich habe ihn
beschworen, Mitleid zu haben mit meiner Verzweiflung und
mir XU verzeihen, zu verzeihen meiner Jugend, meiner Leiden-
schaft, dem Übermaß meiner Liebe und dem meiner leicht
beweglichen Bhantasie, — . — O, ich wünschte nichts so sehr,
als daß ich ohne BückJialt sein Vorgehen verteidigen könnte/
Aber mein Herz sagt mir, daß ein Mensch von wahrem
Seelenadel einen verirrten Freund in sanfterer Weise auf den
rechten Weg zurückführen könnte und nicht unter einer u/iv-
menschlich tugendJiaften Deklamation die Vorwürfe verbergen
würde, die er seinem eigenen Herzen oder vielmehr Vorgehen
zu machen hätte, Eduard will sich den Anschein geben, als
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— 401 —
ob er mich niemals liebte, und das ist nicht edeL loh darf
aits dem Gründe meines Herzens versichern, daß nie ver-
botene Wünsche mich eingenommen haben tviirden, wenn er
nicht meine Sinne durch allzu wirksame Mittel aufgestachelt
hätteJ^ — Es kann nicht mehr festgestellt werden, ob
diese Anschauung Platens objektiv richtig oder nicht viel-
mehr auf einen frommen Wunsch, es möchte so sein,
zurückzuführen ist. Für den letzteren Umstand spricht
die Stelle eines späteren Briefes von Max von Gruber:
„Ich kenne SchmiäUein nicht näher persönlich, doch habe
ich mich aus Deinem Tagebuch zur Genüge überzeugt^ daß
Du unendlich viel und das Meiste in ihn hineingelegt
hast, wie ein Mann^ der die hohen Ideen, von denen er voü
ist, dem Liebchen mitzuteilen freudig bemüht ist und dann,
wenn auch das Liebchen teils nur halb, teils auch gar nicht
dafür Sinn hat, doppelt vom Liebehen entzückt ist. S. hat
manche Vorzüge an Gemüt und Geist, aber Ihr paßt nicht
zitsammen." — So viel scheint indessen doch richtig zu
sein^ daß Schmidtlein dem Liebenden weiter entgegen-
gekommen ist; als es mit seinen in jenem Briefe aus-
gesprochenen Grundsätzen vereinbar war. Dies mag auch
ein Grund sein, daß Platen den Verlust lange nicht ver-
winden konnte. Noch am letzten Tage des Jahres 1819
vertraut er, der den Sylvesterabend einsam auf seiner
Stube verlebt, seinem stummen Freunde, dem Tagebuch,
an: „0, welch ein Jahr von Schmerzen ist vorüber! 0 mein
Eduard, wenn Du jetzt im Kreis Deiner Kameraden beim
Punschglas diesen Abend verbringst. Du ahnst nicht, une zer-
rissen der Busen Deines Freundes ist und une er seine Net4r
Jahrsstunde feiert! Morgen sind es vier Monate , seit ich so
zärtlich (bei seinem Weggang nach Iphofen) von ihm Ab-
schied nahm, seit er so zärtlich von mir Abschied nahm.
Wir sollten uns niemals unedersehen, unr haben es nicht
vermutet. Ich habe noch zwei Bösen von ihm, die ich
heute fand, eine rote und eine umße, Sie sind vertrocknet,
Jahrbuch VI. 26
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— 402 —
aber sie duften noch, und meine Tränen fließen
noch/'^)
So endete diese Episode im Liebesleben des Dichters.
Wir haben uns bei derselben etwas lange aufgehalten,
weil sie ganz besondere Proben enthält von dem Kampfe,
der zwischen dem angeborenen natürlichen Empfinden
und der künstlich erworbenen Anschauung von Sittlich-
keit entsteht, so oft; sich ein feinsinniger Homosexualer
zu einem normalen jungen Manne hingezogen fühlt.
0 Die beiden jungen Männer haben sich übrigens, und zwar
nicht spät darauf, wieder gesehen. Schmidtlein, der bei ruhigerer
Betrachtung (vielleicht auch nicht mehr beeinflußt von gehässigen
Einflüsterungen) es einsah, daß seine Abwehr doch etwas zu scharf
ausgefallen, ist sogar zu einer Versöhnung bereit, als Platen im
Mai des Jahres 1820 auf kurze Zeit nach Würzburg herüberkommt
und mit ihm zusammentrifit. „Unmittelbar darauf erwidert er (S.)
den Besuch Platens in Erlangen. Ja, er ist der Entgegen-
kommende, der im September 1821 den vorübergehend in Got-
tingen sich aufhaltenden Platen aufsucht und ihn eine Strecke
Wegs geleitet Und noch im August 1824, als Schmidtlein be-
reits Professor in Landshut geworden und den durchreisenden
Platen dort trifit, drückt er dem alten Freunde mit ungeminderter
Herzlichkeit die Hand." (Worte der Herausgeber.) Schmidtleiu
kam mit der Universität 1828 als Professor der Jurisprudenz nach
München, wurde 1828 nach Erlangen berufen und starb erst 1872
in München, wohin er sich zur Ruhe gesetzt hatte.
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IL
Die Friedensbotschaft Schmidtleins war noch nicht
eingelaufen, in Platens Gemüt tobten die Stürme der
Scham, Reue und Sorge noch fort, als er sich schon
neuerdings von den Pfeilen des grausamen Gottes ge-
troffen fühlte! Freilich hatte er sich vorgenommen, sein
Auge strengstens zu bewachen und in seinem Herzen
jeden Keim von Liebe zu ersticken. „M muß mich auf
das strengste hüten vor jedem Äugenblick von Selbstvergessen-
heif', verzeichnet er in das Tagebuch; „dmn ein einziger
solcher unirde Alles zu nichie machen, weil ich dadurch
meinen Entschluß bloß als eine inkonsequente Laune charak-
terisieren umrde,'^ — „Und dies ist unser (d. i. im Grunde
nur der Homosexualen] trübseliges Menschenschicksal , daß
wir uns freiwillig von Menschen losreißen müssen^ deren Vor-
trefflichkeit wir erkarmt haben, und daß mr ein Olück, nach
dem unr uns so lange sehnten, zurückstoßen müssen, sobald
es uns wirklich entgegenkommt,'^ Platen konnte diesem
Schicksal nicht entgehen.
Schon am 2. November 1819, in Erlangen kaum an-
gekommen, verzeichnet er Folgendes: „Einer der Studenten,
die in rtieinem Hause wohnen, ist eingetroffen. Er hat mich
gestern besuchi. Es ist ein schöner junger Mann," — Es
war dies Hermann von Rotenhan, der Sohn eines
fränkischen Gutsbesitzers, als Student der Burschenschaft
angehörend. Die Wirkung, die er auf Platen ausübte,
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war schon beim ersten Zusammentreffen eine tiefe: y^Er
ist jetzt 19 Jahre alt; aber sein Körper und seine Physio-
gnomie sind so gestaltet und so mänrUich, daß man ihn für
älter halten könntey obwohl er ein sehr junges und frisches
Aussehen hat. Seine Züge sind edel, seine Figur ist noch größer
und kräftiger als selbst die von Eduard. Aber Eduard hatte
doch eine, ich weiß nicht, welche Anmut und eine Zartheit
des Oeisfes, welche zu dem meinigen stimmte , sich in den
Zügen seines Gesichts ausdrückte und ihm einen unbestimm-
baren Beiz verlieh, Hermanns Physiognomie hat etwas
Düsteres und Ernstes. Ich glaube, daß er hart sein kann
und noch unverstellbarer ist als Eduard. Er hat mehr Ur-
teil als dieser und besitzt, wie ich glaube, mehr uArkliche
Kenntnisse. Er ist besonnener und weiß stets, was er tvill.^*
Dies Letztere konnte Platen freilich nie von sich selbst
sagen. „M weiß nicht*', bemerkt er gleichzeitig, „ob ich
ihn fliehen oder suchen soll. Ich fürchte nicht, bei ihm in
dieselbe Schlinge zu geraten une bei Eduard. Ich könnte ihn
nicht liehen wie ich Eduard geliebt habe, den ich nie ver-
gessen werde, nachdem die wenigen Tage, die ich mit diesem
ohne Tränen und Kummer verlebt habe, die schönsten meiner
Jugend und, ich weiß es, meines Lebens waren''
Dennoch blieb der Eindruck^ den Rotenhan machte,
unverwischbar. Platens Schönheitssinn , sein Liebes-
bedürfnis ließen ihn nicht ruhen. Zwar fand er es für
gefährlich^ sich in Rotenhans unmittelbarer Nähe zu
wissen^ da ihn damals alles erschreckte, was mit seinen
Grefühlen zusammenhing. Aber er konnte den schönen
jungen Mann schon deshalb nicht meiden, weil dessen
Zimmer bloß durch eine Tür von dem seinigen getrennt
lag, und sein Herz war schon gefangen, als er sich vor-
redete, daß er „nicht den mindesten Wunsch habe, dem
Nachbar die Hand zu drücken oder ihn zu umarmen^^. —
„Gleichwohl'^, fügt er bei, ,jmuß ich auf meiner Hut sein.
ScJion die Freundschaft macht mich zittern.^'' — Platen
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kannte sich besser, als er es wünschte. Das gehetzte
Wild mußte doch leben, und ein Leben ohne Liebe war
ihm unmöglich, ßotenhan erschwerte ihm, allerdings ab-
sichtslos, den Kampf gegen die Vernunft, indem er ihm
den Weg zu seinem Herzen erleichterte. Er kam häufig
abends auf Platens Stube und blieb stundenlang bei ihm.
Platen versicherte ihm (und sich selbst), daß zwischen ihnen
kein Freundschaftsverhältnis aufkommen könne, da sie
beide für einander nicht taugten. Rotenhan „suchte mich
XU widerlegen. Er gestand xwa/r, daß wir nicht in derselben
Sphäre lebten, daß ich mehr iniellektueü mich ausbildete und
er sich zum praktiscken Oeschäftsm>ann oder überhaupt für
das öffentliche Leben geboren fühle. Dies aber, weit entfernt,
eine Trennung herbeizuführen, würde nur bezwecken, uns zu
einer Wechsehoirkimg geschickt zu machen." Dies Argument
war allerdings nicht das, welches Platen gern gehört
hätte, aber er, der über sein eigenes Wesen im unklaren
war, der sich damals sogar für einen Sünder gegen die
Natur hielt, war schon hiemit zufrieden und lenkte das
Gespräch auf ein ihm willkommeneres Gebiet, indem er
von Sympathie und Physiognomik plauderte.
und so finden wir ihn denn am Abend des 9. Januar
1820 bis spät in die Nacht auf der Stube bei dem Nach-
bar, y,ihm gerne zuhörend und auf seinen Knien süzend'\
Beim betreffenden Tagebucheintrag heißt es: „Ich habe
einen Sdirüt getan, der mich vielleicht noch sehr gereuen unrd
und der m^ine bisherigen Vorsätze über den Haufen warf"
Vierzehn Tage darauf spricht er schon von einem „Ver-
hältnis'S <^s ^^^^ innige Wendung genommen. Am
30. Januar: „Ich gewinne ihn täglich lieber. Ich möchte in
sein tiefstes Herz hineinsehen^^ Am 5. Februar: „Mein
Verhältnis zu Rotenhan ward um vieles inniger und fester.
Keinen einzigen jener qualvollen üm^tände^ die mir Eduard
zu fühlen gab, habe ich bei ihm empfunden. Ich habe nie
etwas verschuldet gegen ihn; ich unll nichts Böses; ich darf
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auch nicht Jdagen, daß unsere Verbindung einseitig sei, daß
uns nicht wahre Sympathie vereine. Liebe bedarf mein
Busen. Ich kann nicht ohne sie sein und Hermann gibt sie
mir. Besonders schön loar was der gestrige Abend. Ich war
noch spät bei ihm. Wir saßen oder lagen vielmehr
Arm in Arm auf dem Sofa und ich verhehlte ihm nicht,
une sehr er mir teuer sei, une schwer es mir werden wird,
mich von ihm xu trennen/' Der 13. Februar ward f&r
Platen ein glücklicher Tag, weil an diesem ihn Rotenhan
bat, „mit ihm Brüderschaft xu machen und sieh mit ihm
XU duzen". Bald loderte nun, wie in früheren Tagen^ die
Liebe in hellen Flammen auf. „Mr haßten, vnr um-
armten uns ofV\ heißt es von dieser Zeit. Freilich^ zu
einer offenen Liebeserklärung kam es auch dieses Mal
nicht und durfte es nicht kommen ; das alte Versteckens-
spiel wurde wieder getrieben. Der Liebende sprach von
dem Schmerz der Trennung, wo er die Pein der Gegen-
wart meinte, von der Sympathie der Gemüter, wo rasende
Liebe in seinem Herzen tobte, von Schönheit der Seele
und Bildung des Geistes, wo ihn das erhitzte Blut nach
einer körperlichen Umarmung trieb.
Platen hatte wieder allen Grund, für sich selbst zu
fürchten und seiner moralischen Stärke zu mißtrauen.
Eine Abweisung, wie die in Würzburg, wollte er nicht
mehr erleben, „/cä bin aUxusehr gewarnt." Er beschloß
daher, dem Fortgang seiner Leidenschaft gewaltsam Ein-
halt zu tun und einen Bruch mit dem Freunde herbei-
zuführen. Merkwürdig ist das Motiv, mit dem er u. a.
diesen Schritt rechtfertigte, „Ich verdiene Botenhan nicht."
— Ist es schon furchtbar, sehen zu müssen, daß eine
Liebe ohne Aussicht bleibt, ja daß sie sogar das höchste
Gut eines Mannes, seine Ehre, gefährdet, so ist es noch
viel tragischer, wenn ein edler, von den besten Absichten
beseelter Mensch an sich selbst irre wird und eine
Neigung für schlecht hält, die ihm so natürlich ist,
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wie die Liebe überhaupt. — Platen mied nun den
Nachbar, affektierte, wenn er ihn gleichwohl traf. Kälte
der Gesinnung und sprach von Lösung der Freundschaft
Aber auf einen dauernden Zustand der Trennung mochte
er es doch nicht ankommen lassen^ so oft er dazu einen
Versuch machte oder sich Gelegenheit bot Die Liebe,
das Lebenselement auch beim Homosexualen, behielt stets
die Oberhand im Kampfe mit dem Willen. Rotenhan
hielt indessen das „Verhältnis'^ für wirklich gelöst.
Es war spät am Abend des 29. Februar 1820^ als
der mit sich selbst kämpfende Graf zu Hause saß und
plötzlich von einer unbesiegbaren Sehnsucht nach dem
Geliebten übermannt wurde. „M nahm mir vor, wenn
. er nach Hause kommSy jm ihm xu gehen, wollte aber erat das
Schicksal wm Bai fragen. Ich setzte also die elfte Stunde
fest, weil er äußerst selten später nach Eaitse kommt. Wäre
er bis dahin nicht zu Hause, so hätte das Schicksal offenbar
entschieden, und ich wollte nie an eine Versöhnung denken.
Es waren nur noch drei Minuten auf elf Uhr. Ich hielt
Aües für geendet, ich war sehr bewegt und kniete nieder^
um mich in Gottes Willen zu ergeben. Und eben auf
den Schlag elf Uhr, als ich tvieder aufspringen wollte, hörte
ich ihn kommen. Ich sprang auf und zu ihm. Er freute
sich sehr, mich zu sehen, und sagte mir, wie leid ihm mein
abstoßendes Betragen getan hätte. Er wollte durchaus die
Ursache davon wissen. Ich versprach Besserung und daß ich
ihm künftig blindlings folgen wolle (!), weil — er besser als
ich. Wir blieben noch lange beisammen.*^
Aber noch in der gleichen Nacht beschloß Platen
abermals eine dauernde Trennung. „O Oott'% sagte er,
„ich fühle, daß ich icieder schlecht u^erde!^' Am anderen
Tage vormittags, gerade als es wieder elf ühr war, ging
er zu Rotenhan hinüber und erklärte, daß er mit ihm
dauernd brechen wolle. „Ich bebte, aber ich tat's. Ich
trat hinein zu ihm. Er kami mir freundlich entgegen und
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bot mir die Hand. Ich zog meine xurüok. , Willst Du mir
niehi die Hand reichen?' sagte er. ,Nein'y gab ich xur^Äni-
loortf .mein gestriger Schritt reut mich zu sehr und ich muß
ihn uneder xurücktun.^ — , Warum?* — Hierauf sagte ich
nichts als: ylch will nicht mehr mit Ihnen umgehen.' (!!) Er
wandte sich von mir, sem Auge war naß, ich verließ ihn."
Das war nicht mehr Heroismus, womit der Arme
kämpfte, das war Grausamkeit gegen sich selbst. Platen
setzt der Geschichte seines Elends mit eiserner Härte
hinzu: „Nun sind die Verse gedeutet, die ich einmal schrieb:
Doch manchem erst entwölkt der Schmerz
Den sanften Strom der DemtU,
Drum hlute das betörte Herz
Und schlage bang vor Wehmut^'
Doch bald und trotz allem reute ihn sein ganzes
Vorgehen und er schrieb mit seinem Herzblut die Verse:
y. Welch ein böser Trieb, o Seele, stachelt Dich ohn' Unterlaß?
Kennst Du das Gesetz der Liebe? Zahme Deitien wilden Haßt
War er Dir nicht einst so teuer? Denke jener Zeit im Geist,
Daß sie nun den Groll ersticke, der Dich ihn vernichten heißt.
0 Geduld! Nur wenige Tage und Du wirst ihn nicht mehr seh'n,
Wie im Herz&n so im Baume wird sein Bild Dir untergehen.
Wann, o Tod, uHrst Du verwandeln diesen schwachen Körper, sprich!
Hermanns Haß und Eduards Liebe rüttelten ihn fürchterlich.
Welch ein Wahnsinn faßt mich, Himmel! 0 vergib die wilde Glut,
Warst Du nicht mir gut, o Hermann, war ich, Hermann, Dir
nicht gut?
Zwar vergessen will ich, muß ich; denn ich schwur's und half es
treu —
Doch zum Abscheu soll nicht werden, was da ward gerechte Scheu.**
Der unbeugsame Starrsinn ward gebeugt. Nach zwei
Wochen, am 15. März, schon war Platen wieder mit dem
unwiderstehlich Geliebten versöhnt „Wie hätte es auch
anders kommen können zwischen zwei Menschen, die sieh so
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sfivr achten und lieben. (Achten und lieben/) Ich ging hin-
über gegen zwei Uhr; er war sehr freundlich und Hebens-
Vor einem weiteren Umschwung der Gesinnung und
einem Bruche seines „Schwurs" wurde Platen durch die
räumliche Trennung bewahrt, die sich nicht lange darauf
vollzog. Die ganze Episode war von kurzer Dauer und
Rotenhan verließ die Universität Erlangen, am 19. März,
an seinem 20. Geburtstage. Der Abschied war zärtlich.
Hermann kam eine halbe Stunde vor Mittemacht heim
und zu Platen aufs Zimmer. „Die letzte Nacht trennten
wir uns nicht mehr, tvir schliefen zusammen in Einem Bett
und ich wünschte ihm in der Nacht noch Glück xu seinem
Oeburts feste. Aber der Morgen kam, der traurig bittere
Morgen, Wir standen um fünf Uhr auf." Es erschienen
noch sechs andere Freunde Hermanns, die ihm nach da-
maliger Studentensitte das Geleite in die Feme gaben.
Einer derselben lenkte das Gespräch auf einen Umstand,
der für Platens augenblickliche Lage nicht nur bedeut-
sam, sondem geradezu erwünscht war. Er erzählte von
der Sitte der Morlaken (eines serbo -kroatischen Volks-
stammes in Dalmatien), daß sie die Freundschaft mit
religiöser Innigkeit betrachten und daß dieselbe bei ihnen
vom größten Einfluß auch auf das öffentliche Leben sei.
Wenn dort zwei Freunde sich gewählt und gefunden
haben, so weichen sie das ganze Leben nicht mehr von
einander und jede Trennung in diesem Falle würde ihnen
unnatürlich (!) erscheinen. „Ich weiß nicht", fügt Plateu
dem Berichte bei, „ob ich auch Rotenhan in diesem Äugen-
blicke wünschte, ein Morlake zu sein." — Nachdem die
übrigen Kameraden eine Strecke Wegs mitgegangen und
sich dann getrennt hatten, begleitete Platen den Freund
noch sechs Stunden weiter bis Bamberg. ,,Die Zeit ver-
floß eilig. Meine Beklemmung wuchs von Stunde zu Stunde.
Er tröstete mich, er bat mich, dem bloßen Gefühl nicht zu
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viel Baum zu geben und es mehr der Herrschaft des Geistes
XU unterwerfen, — — Äher kaum bezwang ich meinen
Schmerz, Ich weinte. Wir tauschten unsere Stöcke; er
schnitt em H (Hermann) in den seinigen, ich in den meinigen
ein A (August). Wir umarmten uns noch eirwnaly dann
stieg er in den ihm vom Vater entgegengeschickten Wagen und
warf noch einen voüen, innigen Blick der Ldebe und Wehmut
auf mich,^'
So klingt diese zweite Liebesepisode mit einem har-
monischen Akkorde aus. Wie immer, so wuchs aber
auch diesmal die Sehnsucht erst durch die Entfernung.
Der Vorfirtihling, den Platen auf dem Lande, im Wiesent-
tale, zubrachte, trug mit seiner melancholischen Natur-
stimmung dazu noch das Seinige bei. „Den letzten Abend
spät erging ich mich noch einmal, besonders unten auf der
Wiesenibrücke, und hier tourde Botenhans Andenken wieder
lebhafter als je in mir rege; ich brach in Ströme von Tränen
aus und rief seinen Namen den Wolken des Abends zu," In
fast jedem schönen Jünglingsantlitz, dem er in der Folge
begegnete, suchte Platen eine Ähnlichkeit mit Rotenhan
zu finden. Ein Bild Van der Werfts z. B., das er in
der Gemäldegallerie auf Schloß Pommersfelden sah und
das eine spröde Nymphe mit einem Hirten darstellte,
zog ihn deshalb an, weil „in den Zügen dieses schönen
sterblichen Jünglings" eine Ähnlichkeit mit Rotenhan lag.
Freilich fiel auch auf das Erinnerungsbild in Platens
Herzen noch ein trüber Schatten. Am 19. März, „des
lieben Eotenhan einundzwanzigstem Geburtstag", hatte er
an diesen einen (vermutlich mehr als sehnsuchtsvollen)
Brief gerichtet, auf welchen eine „seltsame und fatale"
Antwort erfolgte. Den Inhalt der letzteren legte er nicht
im Tagebuche nieder, weil er die hierzu erforderliche
Stimmung nicht fand. — Zu einer Feindschaft kam es
übrigens, wie bei Schmidtlein, auch hier nicht; auch hier
fand nochmal eine, allerdings zufällige, Begegnung statt,
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— 411 —
als Hermann von ßotenhan anfangs Dezember 1823 seine
Reise nach München machte, um dort in die Gerichts-
praxis einzutreten: Platen schenkte ihm damals zum An-
denken ein Exemplar seiner eben im Druck erschienenen
Ghaselen. ^)
So überströmend die Liebe war, welche den Grafen
für Freunde wie Hermann von Rotenhan und Eduard
Schmidtlein beseelte, so fanden doch noch Gefühle für
andere schöne Jünglinge in seinem Herzen Raum. Denr
Menschenkenner wird es nicht auffallen und nicht tadelns-
wert erscheinen, daß neben den größeren Herzens-
geschichten kleinere Liebesepisoden einhergingen.
Wäre das Ergänzungsbedürfnis in Platen gestillt worden,
gewiß würde er die ganze Macht seiner Empfindungen
auf Einen Punkt konzentriert haben. So aber, wo sein
mächtigstes Bedürfnis unbefriedigt blieb, sein bestes
Empfinden mißverstanden, seine glühendste Liebe ab-
gelehnt und sein schönstes Vertrauen zurückgestoßen
^) Die Herausgeber der Tagebücher machen za der Person
Rotenhans und seinem späteren Lebenslauf folgende Bemerkung:
Hermann von Rotenhan spielte in der Folgezeit, als er
das vom Vater ererbte Gut übernommen, in der Politik des engeren
wie weiteren Vaterlandes eine Rolle, wie er einst in der Burschen-
schaft eines der geachtetsten und gefeiertsten Mitglieder gewesen
war. Die Schönheit seiner äußeren Erscheinung hatte ihn im
Verein mit seinem selten tüchtigen, selbstlosen Charakter einst
als „das Ideal deutscher Ritterlichkeit" preisen lassen. Er blieb
es in anderem Sinne, indem er als Standesherr gegen alle Über-
griffe von sozialer oder staatlicher Seite her energisch Front machte
(1831 gegen die Demagogie, 1837 gegen die Regierung zugunsten
der gefährdeten protestantischen Kirche). Seine patriotische Be-
geisterung führte ihn 1848 in das Frankfurter Parlament; er gehörte
zu den erwählten Sieben, die dem Erzherzog Johann die Reichs-
verweserwürde antrugen, und gab später seine Stimme für ein
preußisches Kaisertum. Rotenhan starb hochgeachtet auf seinem
Gute Rentweinsdorf im Jahre 1858, nachdem er lange Jahre Präsi-
dent der zweiten bayerischen Kammer gewesen.
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— 412 —
wurde, darf man es dem Suchenden nicht veriibebif
wenn er jeden Lichtstrahl, der in die Nacht seines Da-
seins fiel, hoffend begrüßte. Bei jedem Anblick einer
schlanken Jünglingsgestalt, eines männlich schönen An-
gesichts geriet Platen in Entzücken. Einen jungen Dänen
z. B., der in Erlangen studierte, schildert er also: ,^Hiort8
Äußeres ist das eines starken, jungen Mannes mit dunkel--
blonden Haaren, einer sehr edlen Stirn, hohen Augenbrauen,
mit regelmäßigen, großen Zügen, das Gesicht mehr rund als
oval.*' Von einem Studenten namens Erüger heißt es:
,yEr ist ein schöner, frischer, junger Mann,** Bald darauf:
„Der Student Benner, ein Theologe, ist ein sehr hubscher
KerU^ Persönlich näher tritt er einem Freiherm August
von Egloffstein, von dem er sagt: „Seine Schönheit
fiel mir auf; . , . es konnte nickt fehlen, daß seine Gestalt
meine Aufmerksamkeit vor allen Anderen auf sich zog:* Am
29. Februar 1824 heißt es: „Ich fand einen Freund, den
ich schon früher günstig bemerkt und oberflächlich gesprochen
hatte, es ist ein Herr von Stachelhausen, Er hat eine
entschiedene Gesichtsbildung und die schönsten schwarzen
Augen von der Welt,*' Später, auf seiner Schweizerreise
vom Jahre 1825, bemerkt Platen von einem Sohne seines
Gastfreundes, des Batsherm Stürler von Müllimat bei
Thun: „Weit mehr zog mich Moritz an, der mehr die
Wissenschaften liebt, wiewohl er das Jagdvergnür/en nicht ver-
schmäht. Wenig Menschen haben mir eine so leise und doch
so entschieden wirkende Neigung eingeflößt. Sein Äußeres ist
kräftig und angenehm, ohne schön zu sein, das Auge nicht
groß, aber ungemein geistreich. Wir haben uns nie ein
schmeichelhaftes Wort gesagt, auch in dieser so kurzen Zeit
nur wenig konversiert; aber es war eine unzerstörbare Sym-
pathie zivisehen uns, die fortwirken tvird, ohne daß wir uns
unedersehen,**
In der Tat konnte es nicht ausbleiben, daß Platen,
wie er selbst sich nach einem ihn ergänzenden BVeunde
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umsah, so zuweilen auch von anderen mit dieser
Absicht aufgesucht wurde. Durch die bloße Ver-
öffentlichung der Ohaselen erregte er in einem Studenten
namens Friedrich Andrea den Wunsch, seine Bekannt-
schaft zu machen, ähnlich, wie später der junge Ruhl in
Kassel bloß durch die Kenntnis der Lyrischen Blätter
„ehvas für ihn empfunden, was nur wenige für wenige
fühlten^'. Solche Erfolge, die sich mehrfach wiederholten,
konnten freilich dem Homosexualen nur wenig nützen,
da sich nur die Gegensätze anziehen und Platen, wie
aus seinen Einträgen im Tagebuch klarstens hervorgeht»
bei seinem muliebren, weichen Wesen sich zu entschie-
denen Mannesnaturen mit energischem Gesichts-
ausdruck und kräftigem Körperbau hingezogen
fühlte. Aber gerade bei diesen letzteren Naturen hatte
seine eigene Tendenz immer ihr Ziel verfehlt und die
Wirkung war keine andere, als die eines unbefriedigten
Triebes und eines zerrissenen Herzens, wie sich dies bei
dem Verlust Botenhans besonders deutlich kundgibt.
Die Klage um den Verlust dieses Freundes, den er
so kurze Zeit kannte, währte länger als die um Schmidt-
lein. Sie minderte sich erst, als ein Bild vor Platens
Augen trat, das einen noch stärkeren Eindruck als das
des zuletzt Verlorenen auf ihn machte. Im Juli des
gleichen Jahres (1821) erfüllte das Herz des Liebes-
bedürftigen jener schmucke Dragoneroftizier aus Han-
nover, von dem bereits im I. Teile unseres Aufsatzes
(siehe Jahrbuch 1899; S. 207 ff.) die Rede war. Aber
auch nachdem dieses Freundschaftsband, das ihn mit
Otto von Bülow zwei kurze Mooate verknüpfte, zer-
rissen war, fand das arme Herz keine Ruhe und bereits
im Februar des folgenden Jahres, also fünf Monate
darauf, schmachtet Platen in neuen Banden. Während
er nämlich bei einem Professor in Erlangen einen Be-
such zum Zweck seiner Studien macht, trifft ihn ein
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Blick, der ihn für lange Zeit in leidenschaftlichen An-
spruch nimmt. Am 5. Februar heißt es im Tagebuch:
yjch fand (bei Professor EAstner) einen Studenten, auf den
dieser wegen seines Eifers für Naturstudien viel halt und der
ein sehr schöner Junge ist,^' — Dieser Junge war kein
anderer als der später so berühmt gewordene Forscher
Justus Ton Liebig. Damals erschien er dem für
männliche Schönheit leicht Empfänglichen als eine
„schlanke QestaU; ein freundlicher Ernst in feinen, regel-
mäßigen Oesichtszügen, große braune Augen mit dunkeln,
schaitigen Brauen nehmen auf den ersten Blick für ihn ein,
— — Er zeigte sieh sehr offenherzig, vertraute mir mmiche
Lebensverhältnisse und gab mir — nach wenigen Tagen —
Beweise einer so plötzlichen und entschiedenen Neigung, daß
ich unrklich darüber in eine Art von Erstaunen geriet. So
viel Liebe hatte mir noch' niemand, am u/enigsten nach einer
so kurzen Bekanntschaft, entgegengebracht,*' — Freilich ist
auch hierbei zu beachten, daß Platen mehr in seine
Freunde hineinlegte und wieder herauslas, als diese
selbst fühlten. Dazu kam andererseits für Liebig die
Wahrnehmung ernsten Strebens nach wissenschaftlicher
Bildung und vielleicht auch der Hinblick auf die soziale
Stellung des Grafen. Jedenfalls aber wurde dem letz-
teren, der das Herz Liebigs zu gewinnen wußte, von
diesem ein hoher Grad aufrichtiger Neigung entgegen-
gebracht. Dafür spricht folgender Vorfall. Zwischen
den beiden war eine Reise an den Rhein vereinbart
worden für die Zeit, als Liebig — im Juni 1821 — von
Erlangen abwesend war und im elterlichen Hause zu
Darmstadt weilte. Platen besuchte ihn daselbst; die
Reise konnte Liebig nicht antreten. Platens bekannte
Empfindsamkeit regte sich wieder und zwar so, daß es
zwischen Beiden zu heftigen Auseinandersetzungen kam.
Da war es Liebig, der nachgab und gestand, er „ver-
diene die Liebe Platens gar nicht; er habe ihn unendlich
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verkannt und bitte, wenn möglich, ihm zu verzeihen," Daß
Platen verzieh, ist selbstyerständlich, auch wenn die im
Jahrbuch I, S. 206 erwähnte Episode nicht stattgefunden
haben sollte, durch welche Platen zu Darmstadt in den Buf
eines verkleideten ^^Mädchens^' kam. Übrigens hatte auch
dieser Liebesfrtihling ein rasches Ende, da Liebig seine
Studien nicht mehr in Erlangen fortsetzte*
Länger währte eine Episode des nächsten Sommers,
die aber Platens Herz auch tiefer verwunden sollte. Als
er am 11. Juli 1822 nachts von einem Belustigungsort
in der Nähe Erlangens allein nach Hause ging und die
ambrosische Nacht ihn noch zu einem Umwege einlud,
erblickte er vor sich eine jugendliche, männliche Gestalt,
die durch die Schönheit ihres Ganges ihn bezauberte.
Platen schrieb in der Sprache des Hafis ins Tagebuch:
,y Schön bewegst Du Dich, mein holder TiMce,
Sterben toill vor Deinem Wuchs ich hier."
Er begnügte sich übrigens im Tagebuch hinsichtlich
dieser Begegnung mit einer Andeutung der Person, aber
es ist mehr als wahrscheinlich, daß aus diesem Zu-
sammentreffen die Bekanntschaft, Freundschaft und
Leidenschaft erwuchs, die ihn mit „Gardenie'^ (einem
nicht näher bezeichneten Studenten namens Ho ff mann)
verband, über dessen Äußeres berichtet Platen im Ein-
klang mit obigen Versen: „Es scheintf als ob das orienta-
lische Bild der wandelnden Zypresse ganz eigens auf seinen
WucJis erfunden sei. Er ist sehr groß, ohne im mindesten
plump oder allzu schlank zu sein." — Darauf führt er den
Spruch des Haus I, 14 an : „Möge jede der Zypressen, die
ivir auf der Wiese seh'n, Dem Elifa Deines Wuchses als ein
Nun zwr Seite steh'n." — „Die Stirne ist sehr edel und
in der Mitte gegen die Nase zu sanft gespalten; die Äugen
mild und dunkelblau, die Nase groß und scJion, der Mund
üppig j ohne sinnlich xu sein. Seine Gesichtsfarbe ist bräun-
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lieh, seine Stimme sehr sanft und angenehm,^' Dann fährt
Platen weiter: „Nach diesem Steckbrief von Lieblichkeiten ist
es nicht zu vertvundem^ toenn es ein großer O&nuß genannt
wird, so schöne Formen beständig vor sich zu sehen und das
Auge, das so käufig verletzt unrd, an das Edelste zu ge-
wöhnen." In der Tat, kein Mann hatte bisher durch
seine Schönheit einen solchen Zauber auf Platen aus-
geübt. Bald war, bei den zahlreich sich bietenden Ge-
legenheiten, die Bekanntschaft gemacht Sanguinisch,
wie Platen immer war, hoffte er das Beste von dieser
Freundschaft. Die kleinste Achtungsbezeugung wurde
gleich der größte Freundschaftsbeweis. Als beide einmal
nachts nach einem Ausfluge auf dem Markte in Erlangen
sich gute Nacht sagten und Platen die Hand des Freundes
ergriff, ohne daß sie ihm dieser entzog, da „fühlte er zum
ersten Male, daß er ihm wert geworden", Cardenio freilich
ließ kein Mißverständnis entstehen, das dem Liebenden
angenehm geblieben wäre. Sieben Tage lang nach jener
Verabschiedung sollte dieser ihn nicht mehr sehen. Car-
denio wich ihm aus. Schon am 7. August heißt es im
Tagebuch: „Ä> wird mir seit Jahren das Schöne entrissen,
kaum daß ich es erblickt, nun das AllersMmste am aUer-
schnellsten. Mit Bülow konnte ich kaum ein paar Monate
leben, mit lAebig tvenige Tage und Cardenio darf ich noch
nicht einmal meinen Freund nennen,*' — Wenn, was un-
ausbleiblich war, Cardenio ihm dennoch einmal begegnete,
so blieb er kühl und wechselte höchstens ein paar artige
Worte. Der Liebende war aber nicht so leichten Kaufes
loszubekommen; er machte immer neue Versuche, lud
den jungen Mann zu Spaziergängen ein und besuchte ihn
auf seinem Zimmer. Freilich alles vergebens; auf ein-
mal war Hoffmann abgereist, ohne Lebewohl gesagt zu
haben. „Was bleibt mir nun anders'-, schrieb der oft Ge-
prüfte, „als ein unsäglicher Schmerz und die ganze Uner"
träglichkeü der Existenz? Ich umrde beruhigter sein, wenn
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— 417 —
er mir ein einziges Lebewohl gesagt Mite. Schtüerlioh iverden
ivir uns je wieder sehen. Und wenn auch ja, er liebt mich nicht.
Die höchste Schönheit^ die höchste Milde, die mir je begegnete,
begegnete mir so unfreundlich. Wie soll mir etwas Anderes ge-
nügen? Muß ich mich wieder hinschleppen wnd lächeln mit zer-
rissener Seele? O Gott! Nimm ein Leben von mir, das du
mir unier fürchterlichen Bedingungen gegeben hast!'*
So verblendet Platen in Beurteilung seiner Lieb-
linge war, so richtig wurden diese von Anderen ein-
geschätzt, denen die Leidenschaft für einen Mann den
Blick nicht trübte. Hoffmann, den Liebig von seinem
Erlanger Aufenthalt her kannte, wird von diesem in einem
späteren Briefe geschildert ^ydls die trockenste Natur, die
ihm je vor Äugen, gekommen^*. Cardenio war also nicht
der Mann, mit dem Flaten zum Ziele gelangen konnte,
und ein Unglück war es für letzteren, daß jener wieder-
holt in seinen Gesichtskreis trat. Im nächsten Semester
tauchte Hoffmann nämlich wieder in Erlangen auf und
das Schicksal f>e es, daß er sogar, wie einst Botenhan,
der Zimmernachbar Platens wurde. Es entstand wieder
ein Verkehr, zu welchem gemeinsame Lektüre vom Lie-
benden als Gelegenheit oder vielmehr als Vorwand be-
nutzt wurde. Auch bei Spaziergängen mit Bekannten
konnte Platen in Hoffmanns Nähe weilen; auf einem
Winterausiiug gelang es ihm einmal, mit Cardenio allein
den nächtlichen Heimweg zurückzulegen. Sie zündeten eine
Holzfackel an, die Cardenio trug. Einzelne Sterne blinkten
am dunkeln Himmel und die Deichsel des ,Wagens' neigte
dort dem Horizonte zu. Hierauf bezieht sich das tief-
empfundene, formvollendete Sonett, welches, in die „Ge-
sammelten Werke'' nicht aufgenommen, hier am Platze ist:
„Mehr als des Lenzes voU von HiHd tmd Gnade,
Gedenkt ich jener Wintemacht, der kalten,
Als ich gesehen Dich eine Fackel halten,
Mir vorzuleuchten auf dem öden Pfade.
Jahrbuch VI. 27
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— 418 —
Und folgend immer Deinem Tritt gerade^
Sah ich unzähVge Funken sich entfalten,
Umsprühende die schönste der Gestalten,
Sobald Du^ Freund, die Fackel schivangst im Bade.
Gestirne umrden neidisch aus der Fei'ne
Dein Licht gewahr U7id liebend schien der Wagen
Auf Dich zu senken seine sieben Steige.
Still warst Du selbst, ich wagte nichts zu fragen:
In solchen Stunden schweigt man allzugerne;
Doch was Du dachtest, wer vermag's zu sagen?**"
Mochte Platen sich im stillen allen Täuschungen
hingeben, alle Versuche, einen intimeren Verkehr herbei-
zuführen, schlugen fehl. Es stand fest, je un verhüllter
seine Liebe zutage trat, desto zurückhaltender wurde das
Benehmen des anderen, der ihn zuletzt auf der Straße
gar nicht mehr grüßte.
Platen mußte bei solchen Wahrnehmungen nach-
denklich werden. Er fürchtete, daß sich das Gerücht
von seiner Neigung wieder herumsprach und daß seine
soziale Stellung erschüttert sei. ,Jch Jmbe'', schreibt er
am 21. Oktober 1822, nachdem er sich auf einige Zeit
nach Altdorf zurückgezogen hatte, „seitdem ich in Et--
langen hin, so viele dumme StreicJie gemuckt, midi in so
Manches vei-wickelt, daß ich micfi scheue j wieder dahin zu
gehen. AiLch hat man meiner Neigung xu Rotenhan, zu
Bühw, zu Liebig, zu Cardenio selbst, gemiß eine Deutung
gegeben, die, so ungerecM sie ist, mich doch in die größte
Bedrängnis versetzen muß. Wenn nun vollends jener Brief
von Iphofen jemals bekannt werden sollte, die größte Schmach
und die größte Sünde (sie!) meines Lebens, so ist mein Ruf
auf emg verloren. Alles kann idi nicht vor der Vorsehung
ausfechten, die mir diese Neigung eingepflanzt hat seit
meiner frühesten Jugend, von den Anderen verdiente
ich statt der Scheltworte eher Mitleid. Ich verlange
nichts Unrechtes, nichts, was die Natur und das Gesetz ver-
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— 41& —
(lammt, aber daß ich da nicht sollte lieben dürfen, wo micJi
Schönheit j Vorzüge, Gewohnheit fesseln, daß ich überhaupt
gar nicht liehen sollte^ dies ist eine härtere Forde-
derung, als daß sie ein Mensch dem Menschen machen
soll. Durch diese Neigung selbst bin ich schon unergiiind-
lieh unglücklich, nie Erwiderung, noch weniger Befriedigung (!)
hoffend, wird mein Zustand immer drückende. Hier (in
Altdorf) kann icJi mich zwar vor den Metischen verbergen,
alter endlich muß ich doch wieder in die Welt hinaus, wui
wer sorgt für meine Zukunft^ wenn ich mich nicht dafür an-
strenge, 0 Gott, gib mir keine Zukunft!**
Diese mit der elementaren Kraft der Wahrheit ge-
sprochenen Worte sind wieder eine Kundgebung, wie sie
wohl selten aus dem Herzen eines Homosexualen kam. Der
Welt war diese entsetzliche Manifestation nicht bekannt, so
lange sie im Tagebuch vergraben lag. Ob sie jetzt, nach-
dem das Tagebuch veröflFentlicht ist, den notwendigen
Widerhall erfahren wird, ist eine Frage; gewiß aber ist,
daß eine Zeit kommen wird, welche von ihr Kenntnis
nimmt und sie als einen unwiderleglichen Bew^eis für die
Natürlichkeit und ünverantwortlichkeit der Empfindung
zum „eigenen" Geschlecht gelten läßt. Platen würde sich
gewiß nicht in all die Bitterkeiten und Gefahren, die ihn
mit Angst erfüllten, gestürzt haben, wenn es menschen-
möglich gewesen wäre, sie zu vermeiden. Er wurde trotz
seines Widerstandes in sie hineingedrängt. Schon am
31. März 1823, nachdem sich die Aussichtslosigkeit aller
Hoffnungen auf Cardenio herausgestellt hatte, finden wir
Platen nämlich abermals in unentrinnbaren Fesseln. Auf
einem Ausflüge von Studenten, an dem er sich von Er-
langen aus beteiligte, fiel ihm ein hübscher junger Jurist
auf, an den er schon in Heidelberg von Liebig gewiesen
war, der sich aber von ihm nicht antreffen ließ. Wie dort,
so beobachtete der junge Mann — Knöbel war der be-
zeichnende Name des rüden Menschen — auch in Er-
27*
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— 420 —
langen ein zurückhaltendes, f&st ungefälliges Benehmen.
Gleichwohl konnte es Platen, hingerissen von der kräftig
schönen Männlichkeit» nicht unterlassen, sich auch ihm an-
zufreunden. Elr erreichte ein kurzes Wechselgespräch; als
er aber anderen Tages den jungen Mann einlud, auf sein
Zimmer zu kommen, wurde ihm dies unter einer firostigen
Ausrede abgeschlagen. Jetzt wäre es für Platen an der
Zeit gewesen, sich zurückzuziehen; statt dessen loderte
die Neigung nur um so mächtiger wieder zur Leiden-
schaft empor und dies blieb von Enöbel nicht unbemerkt.
Rasch trat die Wirkung ein. Am 5. April schon meldet
Platen im Tagebuch mit der offensten Gewissenhaftigkeit
von der Welt: „Heute habe ich das Fürchterlichste
meines Lebens erfahren. Der Abgrund, an dem icJi seit
Jahren sehimndle, hat sieh noch einmal mit gräßlicher Tiefe
vor mir aufgetan, Knöbel, gegen den ich, ich darf wohl sagen,
die reinste, innigste Liebe empfand, sagte mir heute mit
dürren Worten, daß ich ihm lästig sei, daß ich ihm meine
Freundschaft habe aufdrängen wollen, daß ich jedoch meine
Rechnung ohne den Wirt gemacht habe, daß er nicht die min-
deste Neigung für mich empfinde und daß ich ihn sobald wie
möglich verlassen solle. Ja, dies waren vielleicht nocfi die
mildesten Ausdrücke (!). Ich sage nichts . über das Nähere;
denn was wäre hier noch zu sagen, nachdem dies gesagt ist ?
Genug, daß ich den Tod in der Seele trage, — Ich werde
einige Tage auf dem Lande zubringen; aber in welcher Stim-
mung gehe ich dahin? Es ist nicht Knöbels Verlust allein^
es ist die ungeheure Gewißheit, daß mich die Natur
bestimmt hat, ewig unglücklich zu sein,''
Solche und ähnliche Erfahrungen legten sich schwer
auf das Gemüt des feinfühligen Mannes. Dazu kam, daß
die Erfolge seines dichterischen Schaffens hinter den Er-
wartungen zurückblieben, die er und andere damals von
ihm hegten. Zwar wurde sein Schauspiel „Treue um
Treue" (am 18. Juni 1825) in Erlangen aufgeführt; zwar
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— 421 —
fanden seine Gedichte ; die Ghaselen und später die
Sonette, den Weg in die Öffentlichkeit und wurden zum
Teil auch im Auslande gelesen; allein jener dramatische
Erfolg galt mehr dem einheimischen akademischen Bürger
als der Bühnenfähigkeit des Stückes und die Gedichte
waren höchstens eine Kost für literarische Feinschmecker.
Außerdem näherte sich der Urlaub, welcher dem Offizier
bewilligt war, seinem Ende, und es erfüllte Platen mit
Schrecken, als wirklich die Einberufung zu seinem Regi-
ment nach München erfolgte. Allerdings wurde der
Urlaub, auf Vorstellung einflußreicher Personen hin, ver-
längert; aber es knüpfte sich an diese Vergünstigung die
selbstverständliche Pflicht, auf dem Felde der Kunst nun
einmal etwas Bedeutendes zu leisten. Der Philosoph
Schelling, welcher damals an der Universität Erlangen
wirkte und dem Dichter ein aufrichtiges Interesse zu-
gewandt hatte, machte denselben darauf aufmerksam,
daß ein Künstler bloß inmitten des großen Lebens etwas
Großes zu schaffen vermöge, und so sah Platen ein, daß
er in Erlangen, und überhaupt in Deutschland, nicht
mehr an seinem Platze war.
Die Wahl des Landes, in dem er sich niederlassen
wollte, fiel auf Italien. Für dieses Land hatte er schon
seit früher Jugend eine Vorliebe — nicht bloß wegen
der reichen Literatur und der Pracht seiner Landschaften,
sondern vielmehr — wegen der Menschen, von deren
Schönheit er schon so manches Beispiel gesehen hatte.
Insbesondere war es ein vorübergehender Aufenthalt in
Venedig (vom Anfang September bis Anfang November
des Jahres 1824), der ihm in dieser Richtung die Augen
öffnete. „Feme von allem Staub der Schule, unier einem
Volke, das voll Unbefangenheit dem Augenblick zu leben weiß,
fange ich selbst erst an, das Leben zu erkennen und zu ge-
nießen'', meldet vom 13. Oktober jenes Jahres das Tage-
buch aus Venedig.
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— 422 —
Von seiner LeklensehaÄ-för deutsche Jünglinge hatte
ihn dieJBeiee nach Venedig übrigens vorerst ebensowenig
befreit, wie die Menge unliebsamer Erfahrungen, die er
mit jenen gemacht Im Gegenteil, ein neuer Liebes-
frühling schien erwachen zu wollen, ehe er die Heimat
dauernd yerließ. Am 9. März 1826 heißt es, abermals in
Erlangen : „Jeizi rufen mich Frühling und Liebe wieder ins
Leben. Die Tage sind unbeschreiblich 9chön, der Himmel
blaUf die Knospen brechen hervor. Ich habe in dieser schönen
Zeit einen Freund gefunden. So oft ich mich in diesem
Funkte getäuscht habcj so hoffe ich diesmal mich flicht zu
täuschen. Und wie könnte icJi die Ideale (sie!) aufgeben, die
mich seit meiner Kindheit begleiten ? — Gesehen habe ich Ihn
sclion im November vorigen Jahres, auf einem Balle im
Januar zum ersten Mal mit ihm gesprochen; aber die Um-
stände verhinderten uns, einander näJier zu kommen, und
näher kennen gelernt habe ich ihn erst gestern abend, wo ich
ein paar Stunden bei ihm zubrachte. Da dieser Besuch zu-
fällig war, so hat es mich hinterher gefreut, daß es am ,Jona'
tfianstag* geschehen ist.^' — (Wir sehen, der einst so üppig
wuchernde, dann mit der Zeit sichtlich abnehmende Aber-
glaube trieb immer noch einzelne Schößlinge auf dem
Boden der unbefriedigten Sehnsucht.) — „Heute morgen
schickte ich ihm mehrei'e meiner gedruckten Sachen und legte
ein gestern entstandenes Sonett über den ,Tod Pindars^ bei, das
an ihn selbst gerichtet ist, unewohl ich ihn dies nicht erraten
ließ. Es ist das zwanzigste Sonett, das ich an ihn gescfirieben,
und so habe ich ihn mehr als irgend einen früheren Freund
gefeiert, und zwar durch Gedichte, die meine frülieren hinter
sich lassen. Gott mag wissen, warum dieser Mensch mich so
begeistert; aber aus den Sonetten (in Redlichs Ausgabe 171
bis 181 und 653 — 654) geht hervor, daß ich nie so ganz,
nie so edel, so uneigennützig geliebt habe. Er heifit Karl
Theodor German^' — Platen selbst nannte ihn Jona-
than — „und ist in Rheinbayern zu Hause. Er studiert
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— 423 —
Theologie, Unglücklicherweise (!) hat er sich einer Lands-
mannschaft angeschlossen, was unseren Umgang außerordent-
lich erschwertJ^ (Bei den Landsmannschaften befanden
sich eben jene Charaktere, die am wenigsten Sinn ftir
Platens Neigungen hatten^ dafür aber als kräftige^ lebens-
frohe junge Männer diesem um so mehr gefielen; darin
war das „Unglück" zu erblicken.)
Es kam, wie zu erwarten stand. So lange Gennan
der Meinung lebte, daß es sich um eine Kameradschaft
handle, wie sie unter Studenten gang und gäbe ist, ver-
kehrte er freundlich mit dem Grafen, welcher sofort die
Freundlichkeit in jene „Freundschaft" übertrug, wie er
sie selbst empfand. Kaum aber hatte Gennan bemerkt,
daß ihm glühende Neigung entgegengebracht werde, so
wurde er kühl bis ins Herz hinein und zog sich scheu
zurück. Aber die Liebe ist nicht nur blind, sondern auch
taub. Platen verfolgte den jungen Mann weiter mit
Freundschaftsbeweisen, ohne daß er etwas anderes er-
reichte als einen Brief, in dem er härter und liebloser
behandelt wurde denn je. „Jonathan" erklärte kurz und
bündig, daß er nicht Platens Freund sein wolle, keine
Neigung für ihn verspüre und sich überhaupt um ihn
nicht kümmere. Deutlicher konnte nicht gesprochen werden.
yylch habe die Nacht*', heißt es mit einigem Widerspruch
nach Empfang des Briefes, „in einem fürchterlichen Zustande
zugebracht Endlich glaubte ich jenes von frühester Kind-
heit ersehnte Ideal eines Freundes gefunden zu haben; nie hat
mir ein Mensch besser gefallen als German. Nur M—y
(Mercy) und B—n (Branden stein) aus früherer Zeit kann
ich mit ihm in eine Linie stellen. Auch diese liebte ich über
Alles, und es ist merkwürdig, daß sie alle drei blond waren
und eine entfernte Ähnlichkeit der Gesichtszüge unter ihnen
obwaltet. Selbst Liebig kann ich nicht mit ihnen vergleichen,
wiewohl (vielmehr weil) er der einzige Mensch in der Welt
ist, der mich wahrhaft geliebt hat, — Mne so traurige Früh-
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— 424 —
lings- und Rosenzeit wie dieses Jahr habe ich noch niemals
zugebracht — Nun ist alle Hoffnung auf Italien geriMet"
Am 22. August machte übrigens German noch eine
Anstandsvisite, um sich für ein mittlerweile zum Geschenk
erhaltenes Buch zu bedanken, wenigstens ein Beweis, daß
Platen noch immer einen gewissen Grad von Achtung
bei ihm genoß. Ein Gegenbesuch Platens aber wurde
nicht angenommen, wenigstens fand der letztere seinen
Nachbar bei wiederholten Besuchen „nicht zu Hause".
Diese neue Kränkung kam nicht unerwartet; aber
sie verschlimmerte Platens Gemütszustand aufs äußerste;
eine solche Zerrissenheit, wie er sie in diesen Augen-
blicken empfand, war selbst für ihn noch neu. „JEJs ist
die höchste Zeit'^j schrieb er, ^^daß ich Deutschland verlasse;
aUe Bande sind gelöst; alle Liebe hat sich ins Innerste meiner
Brust geflüchtet, um nie mehr hervorzutreten/^ In dieser
Zeit entstand das bekannte ergreifende Sonett, welches
mit den Worten bitterer Resignation schließt:
„Wo mir zerrissen sind die zarten Bandcy
Wo Haß und Undank edle Liebe lohnen^
Wie bin ich satt von meinem Vaterlande!"
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m.
Am 13. Oktober 1825 starb König Maximilian I. yon
Bayern und sein kunstsinniger, begeisterungsfähiger Sohn
folgte ihm in der Regierung des Landes. Von all den
poetischen Huldigungen, die ihm anläßlich seiner Thron-
besteigung wurden, fand Ludwig L die (durch die „Ge-
sammelten Werke**) bekannte Ode des Grafen Platen
nicht allein fär das beste Gedicht, sondern auch für das
einzige, das ihm gefiel. Die Beurlaubung Platens ward
nun auf die Dauer gewährt und ihm überdies der Fort-
bezug der Offiziersgage bewilligt. Freiherr von Cotta in
Stuttgart, der Verleger der Platenschen Werke, bot jeden
beliebigen Wechsel auf ein Bankhaus in Rom an, wofern
der Dichter nur von Zeit zu Zeit Korrespondenzhach-
richten für dessen „Morgenblatt*' von dort aus einsendete.
Für finanzielle Mittel war also hinreichend gesorgt und
am 3. September 1826 bestieg der Vaterlandsmüde in
Erlangen den Eilwagen, um über München und das ihm
teure Innsbruck — wohin er schon einmal als einähriger
Knabe gekommen — nach Italien zu reisen. Über die
Anziehungskraft dieses Landes gibt er sich während der
Reise im Tagebuche Rechenschaft. Es ist jedoch von
dem betreffenden Eintrag nur ein Bruchstück vorhanden,
da ein Blatt mit dem größten Teil der Stelle aus dem
Buche herausgerissen ist. Das Bruchstück (Parma, den
20. September) lautet: „Es wäre schwer xu sagen, worin
eigentlich die mächtigen Beize bestehen, mit denen Italien die
Gemüter anlockt. Es ist nicht die reiche Natur allein, noch
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Goc^gle
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die reichere Kunst, es sind nicht bloß die herrlichen Kirchen.,
die gescJimachvollen Schauspielhäuser, in denen man umher-
wandelt, die prächt — — ". Hier bricht der Eintrag ab.
Wir glauben nicht fehlzugehen, wenn wir denselben
dahin ergänzen, daß auch von den Menschen die Rede
war und daß die Hoffnung ausgesprochen wurde, es möge
ihm in der Fremde von diesen zuteil werden, was die
Menschen in der Heimat ihm versagten. Jedenfalls war
— wie immer da, wo eine Elimination im Tagebuch
stattfand — von intimeren Geständnissen die Rede.
Freilich auch das ist gewiß und geht mit Zweifellosig-
keit aus dem ungeschmälerten Wortlaut der nachfolgenden
Einträge hervor, daß Platen nun mit der ängsthchsteu
Sorgfalt sein Auge behütete und sein Herz gegen den
Zauber männlicher Schönheit zu panzern suchte. Aber
bald ward ihm wiederum das Vergebliche all seiner Vor-
sätze klar und er sah sich mit Bestürzung aufs neue in
jenen Zustand versetzt, in den er nach den Erlebnissen
mit German „nie mehr zu geraten hoffte". In Rom,
dem Ziele seiner Sehnsucht, traf er am 24. Oktober,
gerade an seinem 30. Geburtstage, ein. Schon am
14. Januar 1827 lernte er daselbst y^einen schönen, jungen
Römer kennen, der ein Maler ist und den er schon öfters mit
einem griechischen Maler, den er zuweilen sprach, gesehen
hatte," Gleichzeitig reizte ihn ein schönes männliches
Modell, das er in einem Künstlerkreise erblickte, zu der
bekannten halb sinnlichen, halb elegischen Ode:
„TFewn Du, Natur, eine Gestalt bilden tcillst,
Vor den Äugen der Welt, wie viel Du vermagst, darzutu/n.
Ja, dann trage der Liebling
Deiner unendlichen Milde Spur,
Alles an ihm werde sofort Ebenmaß,
Wie ein prangender Lenz, von Blüten geschwellt, jedes Glied;
Huldreich alle Geberden,
Alle Bewegungen sanft und leicht.
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— 427 —
Aber in sein Schwärmergesicht prägst Du
Den lebendigen Geist, und jene, tneucohl fröhlichey
Doch kaltblütige Gleichmut,
Wiegend in Buhe Begier und Kraft ^*'
Unterm 22. Februar heißt es: „Ich habe mich an den
Torheiten und Maskeraden (des Eameyals) ergötzt; weit meJir
aber freute mich's, eine Bekanntschaft gemacht xu haben, die
ich immer ivünschte, aber als eine schöne Unmöglichkeit an-
sah. Es ist ein junger Maler aus Cremona, dessen
Namen ich nicht weiß. Ich habe ihn schon einmal (im
November des vorigen Jahres) in einer Traitoria gesehen, und
seit jenem Augenblick schien er mir immer der schönste
Mann und das nalionalsle Gesicht, das mir jemals in Italien,
wo die Schönheit alltäglich ist, vorgekommen .... Ich lernte
in diesem Freunde (!) einen Mann kennen, der, was Gelehr-
samkeit anlangt, so wenig über seine Sphäre hinausgeht, wie
es die Italiener überhaupt tun, aber nichtsdestoweniger ebenso
geistreich und edel ist und, wie viele seiner Landshute, eine
große Beredsamkeit hat. Diese Gaben, (selbstverständlich) vei--
eint mit einer unbeschreiblichen Wohlgestalt und jenen tiefen,
schwärmerischen Feueraugen, die ich nie in solcher Voll-
kommenheit gesehen habe, würden mir nichts xu umnschen
übrig lassen, wenn ich hoffen dürfte, die Freundschaft eines
solchen Jünglings zu erwerben. Überhaupt bewundere ich die
Italiener, je mehr ich sie kennen lerne. Ich habe in diesen
letzten Tagen unter den Künstlern und anderen (ebenfalls
selbstverständlich) yun^/ew Leuten sehr interessante Bekannt-
schaften gemacht,'^
Noch weniger als in Rom gelang es dem Schön-
heitsdürstenden in Neapel, wohin er am 26. April 1827
weitergereist war, seinen Vorsätzen treu zu bleiben. Schon
die Stadt als solche erregte sofort sein Wohlgefallen.
„Alles ist Heiterkeit und Bewegung, und die Stadt ist wie das
Meer offen und frei und geräuschvoll; die Bauart im all-
gemeinen solid und edel, die Straßen breit und hell,^^ Dazu die
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— 428 —
Umgebung mit ihren Gärten und Terrassen, ihrer reichen
Vegetation, ihren Pinien und Palmen! Und erst die
Menschen! Das Verwunderliche bleibt nur, daß es dies-
mal kein Italiener war, der das Interesse des Liebe-
beflürftigen auf sich zog, ,,ioi6wohl die Italiener so viel
schöner sind als die Deutsofien'^ sondern eben ein Deutscher.
Platen weigerte sich, im Hinblick auf seinen Vorsatz,
anfangs allerdings, auch mit diesem in Verkehr zu treten.
Ein gemeinsamer Bekannter, der Philologe Gündel aus
Sachsen, aber ruhte nicht, bis er ihn bei einer Mittags-
tafel dem Schlesier August Kopisch, dem bekannten
Maler und Dichter, entgegenführen konnte. „2c^ erwartete
wenigstens**, schreibt Platen am 11. Juli, „ein« trockene, ge-
wöhnliche Bekanntschaft %u machen; aber es kam noch viel schlim-
mer, da der schöne, heitere und liebenswürdige junge Mann
einen nur zu tiefen Eindruck auf mich machte, einen Ein-
drtcck, den ich eigerUlich nie in Italien erfuhr . . . Kopi^ch
las (bei der erwähnten Gelegenheit) einige scherzhafte Oe-
dichte vor und nach Tische wurde eine Spazierfahrt am Meer
hin gemacht, bis wo man die Insel Nisida im Oesicht hat.
Diese zauberischen Gesichtspunkte , ihm gegenüber genossen,
waren verführerisch; er selbst artig und zuvorkommend gegen
mich (eine Wohltat, die Platen sonst selten erfuhr); ich
aber hütete mich aufs äußerste, mich ihm bloß zu geben.
Gestern aber ward mir ganz deutlich, daß ich ihn fliehen
muß, da es noch Zeit ist.^' —
Und vierzehn Tage später schon wird berichtet:
„Mein Verhältnis zu Kopisch hat sich auf das schönste und
freundlichste entwickelt. Er ist einer der edelsten und liebens-
würdigsten Charaktere y die mir jemals vorgekommen, voll
mannigfaltiger Talente, äußerst unterhaltend im Gespräch und
immer heiter scheinend, tviewohl er noch aus Deutschland,
wohin er nach dreien Jahren Abwesenheit zurückzukeJiren
denkt, einen stillen Kummer mit sich brachte, dessen Geschichte
er mir vertraute und der in dem unglücklich verwickelten
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Verhältnis zu einem Mädchen seinen O^imd hat. Wenn er
darauf zu reden kommt, so laufen diesem Menschen, der sonst
die iMsiigkeü selbst sclieint^ die Tränen über die Wangen. Da
er bei allen seinen Vorzügen auch DicMer ist und zwar einer ^
der es ernsthaft mit sich selbst meint j so läßt sich leicht
denken, daß dadurch tausendfache Berührungspunkte zwischen
uns entstehen. Eine ähnliche Freundschaft kann im
Leben kaum zweimal vorkommen/^ Platen hatte
hier insofern richtig gesehen, als Kopisch, freilich
ohne im Punkte der „Freundschaft" mit ihm Eines
Sinnes zu sein, die zu ihm einen Gegensatz bildende
Oeschlechtspsyche Platens gleichsam divinatorisch oder
instinktiv erkannte und sich gewissermaßen durch die-
selbe angezogen fühlte. Weit entfernt, den sich immer
mehr Nähernden sobald wie möglich abzustoßen, kam
Kopisch, ungleich einem German oder Enöbel, ihm
mit der Liebe des Vertrauens entgegen und fiel ihm bei
einem Besuche, den Platen machte, mit Tränen im Auge
um den Hals. Platen war davon überglücklich und dichtete
jene Ode „An August Kopisch" (siehe „Gesammelte
Werke", S. 246, Cotta, 1870), in welcher es u. a. heißt:
„Mehr als Jedem, o Freund, kamst Du ein Trost mir selbst:
Langher war so verwandt meinem Gefühle kein
Augapfel und keine Stimme mir
So erfreulich und süß dem Ohr.^^
Von dieser Ode sagte Kopisch selbst in seiner Ant-
wort, daß sie „dem Leib Ruhe nahm uud Entzückung
der Seele gab". Anderen Tages, als Beide wieder
zusammenkamen, fingen sie ohne weiteres an, von
dem freundschaftlichen „Du" Gebrauch zu machen. Die
Zeit, da Platen mit Kopisch in Neapel zusammenlebte,
bildete den Höhepunkt seines ganzen Aufenthalts in
Italien, vielleicht seines ganzen Lebens. Die Beiden
machten gemeinschaftliche Ausflüge zu Wasser und zu
Lande, badeten mitsammen im Meere, speisten mit ein-
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ander zu Mittag und verbrachten desgleichen die Abende
bis spät in die Nacht.
Freilich kam eine Eigenart Platens, der sich darin
gefiel, mitten im friedlichen Verkehr durch Launen-
haftigkeit zu kränken, auch hier in der Folge zum
Durchbruch. Wie er selbst sonst von den Geliebten ab-
gestoßen wurde, so stieß er jetzt den Freund ab. Kopisch
nahm sich die Sache so zu Herzen, daß er in heftige
Tränen ausbrach, worüber Platen indes nicht wenig be-
stürzt wurde, „^r (Kopisch) lebt noch xu sehr in jener
friiiieren unglücklidten Liehe und das Gedächtnis daran mischt
sich in Alles, Er glaubte in meiner FreundscJiaft eine Art
von Ersatz xu finden; daher verletxi ihn der geringste Zweifel
in die seinige.*' Aber der Stachel des AngriflFs kehrte
sich auch gegen Platen selbst. Dieser geriet, wie er im
Tagebuch sagt, damals in einen Zustand von Leerheit
und Langweile. Er suchte Ruhe in — der örtlichen
Trennung von dem Freunde und ging auf einige Zeit
nach Sorrent (20. August). Hier erhielt er von dem ver-
söhnlich Gesinnten einen sehr freundschaftlichen Brief,
„der die Mißverständnisse ziemlich beseitigt hat-'. Bei seiner
Rückkehr nach Neapel empfing er noch einen weiteren
Freundschaftsbeweis: Kopisch brachte ihm (nebst schönen
Orangen) ein Gedicht, worin er „über des Freundes Kälte
in der letzten Zeit klagt und die Zeit herheiumnscfd, die sie
beide einmal unrklich vereinigen soll**. 22. November. (Vergl.
„Gesapimelte Werke«, Ode, S. 246, Cotta, 1870.) ,Jn der
Tat hohe ich mir viel gegen ihn vorzuwerfen'* , fügt der Tage-
buchschreiber ofi'enherzig bei, „und ich fühle in diesem
Augenblick t was ein so treu^er und xärtlicfier Freund wert
ist." — Man darf übrigens nicht annehmen, daß Platen
hier lediglich den Eingebungen seiner Launen folgte;
wäre Kopisch nicht von weicher Gemütsart, sondern von
jener herben Männlichkeit gewesen, wie sie der Homo-
sexuelle sucht und braucht, so würde Platen sich vor
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- 431 —
jeder Laune des anderen gebeugt haben. So aber be-
harrte seine Neigung auf jenem Punkte, wo sie vor Leiden-
schaft bewahrt und zugleich verhindert wurde, daß sie
zur gewöhnlichen Freundschaft herabsank.
Es waren nicht immer Dichter, Künstler, Offiziere
und dergl., welche in Italien des Grafen Auge fesselten
und ihm die Seele verwundeten. Sein Sinn für das
Natürliche und Schlichte im Volksleben hatte sich bereits
in Deutschland gezeigt; aber erst im Süden, und zwar
schon in Rom, vermochten einfache Leute aus dem
Volke in ihm einen tiefen Eindruck hervorzurufen und
die Glut der Liebe anzufachen. Bekannt ist die römische
Ode, welche beginnt:
^jWarm und hell dämmert in JRom die Winteniacht;
Knabe, komm! Wandle mit mir und Arm in Arm
Schmiege die bräunliche Wang' an Deines
Busenfreundes blondes Haupt!''
Solcher Motive fand der Dichter viele. Er selbst
sagt z. B. mit Bezug auf dieses Gedicht: „Etwas Eigenes
ist mir gestern passiert. Es war gerade ein Jahr^ seit ich
auf San Pielro in Montoj-io jenen Knaben gesehen Iiatie, der
Veranlassung zu der Ode ,Wann und hell dämmert in Rom
die Winiemacht* gab. Ich mußte den Klosterplatz auf dem
Janiculu^ passieren, und ohne an etwas zu denken, ging ich
in die Kirche hinein, um etwas von Michelangelo aufzusuchen.
Da sah ich vor. dem Altar einen umnderhübschen jungen
Menschen knien, der meine ganze Aufmerksamkeit fesselte.
Als wir (sie !) später die Kirche verließen, unterhielt ich mich
mit ihm, und er begleitete mich eine weite Strecke über den
Ponte S, Bartolomeo, über das Forum gegen den Lateran zu
und über den Monte Celio zurück. So ist mir an demselben
Tag und Ort, ja zur selben Stunde ganz dasselbe widerfahren,
nur so, daß das Abenteuer des vorigen Wiiiters eine bloße
Vorbedeutung des gestrigen schien; denn Innocenz — so heißt
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der junge Mensch — isi weit hübscher, lieblicher, unschul-
diger, als jener andere war, und ich habe auch Hoffnung, ihn
öfters wiederzusehen. Er ist aits Sinigaglia und kam nach
Rom, um hier Arbeit zu finden, hat auch in der Villa Cor-
sini und anderwärts als Oärtnerjunge gearbeitet. Er ist
fünfundzwanzig Jahre alt, sieht aber weit jünger aus." —
Der Graf und der Gärtnerbursche! Der Erstere wirbt
um den Letzteren, durchquert mit ihm halb Rom, freut
sich auf einen zukünftigen Verkehr mit ihm und ver-
zeichnet die Begegnung als ein Abenteuer, ja sogar als
ein Ereignis.
Ähnliche Ereignisse wiederholten sich noch oft. In-
dem wir ihre Reihe berühren, heben wir von den ge-
liebten Personen nur diejenigen hervor, die er auf einer
Rückreise nach Deutschland kennen lernte. Bei seinem
letzten Aufenthalt in Venedig (im Jahre 1833) attachierte
sich der Graf an einen jungen Flötenspieler, den er
im Theater sah und dessen hübsche Gesichtszüge ihm
auffielen. Auch er ist 25 Jahre alt, ein weiterer Beleg
dafür, was es mit dem von Heine (und Anderen) erhobenen
Vorwurf der „Knabenliebe" für eine Bewandtnis hatte. —
Schon zwei Tage, nachdem der Jüngling erblickt wurde,
ist er ein guter Kamerad des Grafen. „Seitdem", heißt
es im Tagebuch, „sehen wir uns fast alle Tage, und ich
habe sogar angefangen, Flötenstunden bei ihm zu nehmen.
Zweimal^ lud ich ihn ein, mit mir zu Mittag zu essen, und
wir haben einmal eine Spazierfahrt im großen Kanal u/nd
einmal nach Murano gemacW Als Platen die Inselstadt
am 11. November verließ, um seine Reise nach Deutsch-
land fortzusetzen, begleitete ihn Angelo — so hieß der
geliebte Flötenspieler — bis Bassano im offenen Wagen
und trennte sich dort „mit Tränen und mit allen Aus-
drücken der Liebe und Dankbarkeit^^. — Gleich am nächsten
Tage, im Eilwagen nach Innsbruck, war es wieder ein
Mann aus dem Volke, ein bäuerlicher italienischer
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Tiroler, der Platens Zuneigung gewann. Er war früher
Soldat gewesen und wußte mit viel Herzlichkeit zu er-
zählen. „Hiezu kam noch ein günstiges Äußeres, huschige
Haare und eine ungemein schöne Stimme." Im übrigen muß
er eine recht derbe Erscheinung gewesen sein; ein in
seiner Begleitung befindlicher Soldat nannte ihn einen
crudo vülano (groben Bauern). Von Innsbruck bis
München löste ihn ein Handwerker, Bildhauer aus
Cremona, ab, der dem Grafen noch in München Ge-
sellschaft leisten mußte. — Wer wird hier nicht an
J. J. Winckelmann erinnert, dessen vertrauensselige Art,
sich an ungebildete Welsche anzuschUeßen, ihm auf der
letzten Reise ein so tragisches Ende bereitet hat? Platen
allerdings war etwas vorsichtiger als Winckelmann; aber
auch ihm hätte ein ähnliches Schicksal werden können.
Denn entgegengesetzte Naturen ziehen sich gerade am
meisten an und im gegebenen Falle wurden eben rauhe,
oft rohe Mannesnaturen bevorzugt.
So sind es nun zahlreiche, den verschiedensten Ge-
sellschaftsschichten angehörige Männer, denen Platen auf
seinem späteren Lebenswege eine tiefe Neigung entgegen-
brachte. Berechtigt daher ist die Frage^ ob denn das
Frauengeschlecht, welches ihn in Deutschland so kalt
gelassen, nicht wenigstens in Italien, wo es reizender als
in Deutschland erscheint, einen Eindruck auf ihn gemacht
habe. — Frauen vermochten, wie wir auf grund der
Tagebücher antworten, auch in Italien keine Anziehung
auf ihn auszuüben. Zwar machte er, nach Art Anderer,
die daselbst reisten, den Versuch, die Frauen schön zu
finden, und verzeichnete zuweilen Wahrnehmungen, die
er hierin gesammelt „Bas schöne Geblüt der Vero-
neserinnen'% heißt es einmal, „ist berühmt; doch glaube ich,
dürfen die Mantuanerinnen ihnen an die Seite gesetzt werden.
Was eigentlich Schönheit und zumal was Anstand und An-
mut vermögen, lernt man erst in Italien kennen. Wie höhere
Jahrbuch VI. 28
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— 434 —
Wesen erscheinen diese Gestalten, und ein unsichihares Etwas
umschwebt sie, das man fühlt, ohne es beschreiben xu können."
(Mantua, 18. September 1826.) Aber diese BemerkuDg
im Tagebuch, welche das physische Empfinden ganz
außer Acht läßt, sollte nicht den Sinn behalten, als ob
sich Platen für das Frauengeschlecht interessiert hätte.
y,Auch unter den Männern*^, heißt es gleich darauf, „siehi
mmi die schönsten Profile und Gesichtszüge bis zu den ge-
meinsten Ständen herab, unter denen ich mich nichi entsinne
schöne Frauen gesehen zu hahenJ' — Wer Platens Be-
ziehungen zu der Gräfin Pieri bloß aus der bekannten
Ode ansieht, möchte glauben, daß dieselben intimer Natur
gewesen seien, ähnlich wie die Lord Byrons zur Gräfin
Guiccioli; das Tagebuch aber orientiert uns dahin, daß
der Verkehr mit der Gräfin Pieri über die Linie des
rein gesellschaftlichen Lebens nicht hinausging. „Zur
Gräfin Pieri^^, schreibt Platen am 1. April 1829, „komme
ich täglich, wo unr mMstens Deutsch lesen. . . . Nach Tische
und abends bin ich dann v/m so einsamer. Ich esse allein,
gehe allein spazieren und tue überhaupt Alles dllein." Zum
Überfluß fügt er hinzu: „Ganz ohne eigentliche Freunde zu
sein, ist eine hatte Aufgabe," — Man sieht, in dem inneren
Leben, in der abnormen Veranlagung der Geschlechts-
psyche, änderte Platens italienischer Aufenthalt nichts.
Angesichts einer stattlichen Reihe von Liebesepisoden,
in welchen die Neigung für Mannesschönheit die fahrende
Rolle spielte und Platens Leidenschaft zur höchsten Glut
entflammt wurde, drängt sich die weitere Frage auf, wie
es sich denn mit jener „platonischen^' Liebe verhält, auf
die der Dichter immer so großes Gewicht legt, oder die
Frage, wie weit sich denn die Regungen der Sinnlich-
keit in seiner Liebe geltend machten.
Schon in der Einleitung zu vorliegender Studie ist
gesagt worden, daß Platen bei aller Ofi'enherzigkeit, die
seine Geständnisse auszeichnet, einen sinnlichen Zug in
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sich nicht zugeben wollte. Dank seinem unbändigen
Starrsinn gelang es ihm denn auch in der Tat, wenigstens
so lange er in Deutschland lebte, der Begierde nach
physischem Genuß Herr zu werden. Nichtsdestoweniger
strebte — und zwar noch in Deutschland — seine Natur
der Sinnlichkeit zu. Es gibt, wenn man yon der ganz
anders gearteten Liebe zu den Eltern, Geschwistern usw.,
der sogenannten pietas, absieht, überhaupt keine Liebe
ohne Sinnlichkeit Wie die Liebe aus der Wahrnehmung
eines Physischen, d. i. der körperlichen Schönheit am
Objekt, entsteht, so wurzelt sie beim Subjekt un-
bewußt und ungewollt im Physischen, nimmt aus dem
Physischen ihre Nährkraft und erstarkt zur Sehnsucht
nach sinnlichem Ausgleich, mit Einem W^ort, nach körper-
licher Annäherung. Das hat auch Platen erfahren müssen,
sobald er seine eigensinnige Logik, seinen übertriebenen
Begriff von Ehre und seinen unmotivierten Stolz aus dem
Spiele ließ. Bei allen seinen Liebesaffären ist es im
Objekt ein recht deutlich wahrnehmbares physisches
Moment, was als Reiz auf sein Sensorium wirkte: Es ist
dies immer und immer „die schlanke, kräftige Gestalt,
das wohlgebildete Gesicht, das tiefe Auge, das üppige
Haar". Nicht selten überrascht sich der die Sinnlichkeit
sonst Bekämpfende auf dem Wunsche, die „duftenden
Locken*' des Freundes zu berühren, „dessen Knie zu
umflechten", und als letztes Ziel seiner — nach Kräften
gezügelten — Hoffnungen schwebt ihm stets der recht
körperliche „Kuß" vor Augen. Wie es also sinnliche Ele-
mente waren, die im Objekt als Erreger wirkten, so war
es natumotwendig subjektiv das Sinnliche, was in ihm
erregt wurde. Platen mochte sich, wie er wollte, über-
reden, daß es in den geliebten Personen nur seelische
Vorzüge seien, die ihn fesselten: er mußte dies selbst
bezweifeln, wenn er sah, daß ihm diese Vorzüge stets
nur an Männern und nicht auch an den — doch gleich-
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— 436 —
falls mit einer schönen Seele ausgestatteten — Frauen,
stets nur an jungen Leuten, die oft nur über ein recht
mäßiges Wissen verfügten, und nicht an gereiften Män-
nern, wie Professoren und Gelehrten, gefielen, denen es
an einer schönen Seele gewiß nicht gebrach. Diesen
NisiM formosus hätte Platen besonders einmal in Er-
langen verspüren können, als dort ein reisender Pariser
Athlet plastische Vorstellungen gab. Dieselben bestanden
in Nachahmung nackter Figuren aus dem klassischen
Altertum, und Platen nennt den Darsteller j,einen Mann
von der höchsten Schönheit in seiner Art und das wirkliche
Ideal einer Ajax- und OladiaiorengestaU/^ Für einen Hermes
oder Antinous wären ihm gewiß Hymnen noch höheren
Schwunges zur Verfügung gestanden.
Platen hatte in der Tat Stunden, in denen die
Natürlichkeit seines Empfindens in ihr ungeschmälertes
Recht trat. Es entstand dann in ihm das bestimmte
Gefühl, daß seine Liebe gleichwertig mit jener der Nor-
malen sei, und er ahnte dann gar nicht, daß in ihr etwas
Abnormes vorliege. Deshalb eben hielt er es für selbst-
verständlich, daß er gerade so geliebt werden solle, wie
er selbst liebte, und verfiel zuweilen andererseits, in
bezug auf Frauenliebe, in den Lrtum, daß er bloß zu
wollen brauche, um ein Mädchen auch lieben zu können.
Über die physiologische Ursache 'seiner abnormen Seelen-
verfassung hat er wohl nie nachgedacht und von der da-
maligen Wissenschaft wurde er hiezu auch nicht an-
geregt. Ln allgemeinen aber stand es für ihn fest, daß
seine Neigung zu jungen Männern eine ungewollte und
von der Natur ihm auferlegte war. Allmählich wurde
ihm das Wesen seiner Neigung klar und er schiebt die
Verantwortung für dieselbe der schaffenden Natur zu:
„O, wie ist dieser Widerspruch in mich gekommen?^'
ruft er einmal aus; „wenn die Natur diese Liebe ver-
beut, warum hat sie mich also gebildet?"
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Mit der Zeit setzte sich in ihm die Überzeugung
fest, daß nicht die Natur^ sondern die Torheit der Men-
schen diese Neigung verbiete^ daß er selbst von Natur aus
ein Recht auf sie habe und daß eine rein platonische
Liebe bloß ein moralisches Eunstgebilde sei. Seine Selbst-
kritik war eine nur allzu scharfe, als daß er sich in
diesen Punkten auf die Dauer hätte täuschen können.
Schon während seines prüfungsreichen Iphofener Aufent-
haltes (siehe S. 395) kam es ihm deutlich zum Bewußt-
sein, daß seiner Neigung zu den Freunden ein physisches
Bedürfnis zu gründe liege. Damals gestand er sich,
„daß es nicht die Seele allein ist, welche lieben kann, sondern
daß dies das ganze Wesen ist, xvsammengesetxt aus Seele
und Le^'\ und „djaß man bloß halb liebt, wenn nicht auch
die Sinne entflammt sind." Dies hätte er sich auch
schon in München bekennen dürfen; allein damals war
er noch vollständig von dem landläufigen Vorurteil be-
herrscht, daß die Liebe zum Manne unsittlich und deren
Betätigung ein Laster sei. Er hätte sich jenes Geständ-
nis machen dürfen ganz besonders damals, als er im
Drange nach Stillung seines Naturtriebes in eine Art
Käserei verfiel und bald ein Bündel Kleider, bald ein
Kopfkissen umarmte! Später, in Würzburg und Erlangen,
wie er sich erinnerte, genügten ihm solche Mittel nicht
mehr; er setzte sich ja dem Freunde auf den Schoß,
hielt ihn mit den Armen umfangen und berührte dessen
Mund mit den Lippen. Als er einmal mit Bülow badete,
war er froh, daß, „obwohl er dessen Schönheit auch nackt
bewundem mußte, doch nicht das geringste Verlangen
in ihm aufstieg" Ein jeder Andere, nicht sinnlich
Fühlende, würde an eine solche Gefahr gar nicht ge-
dacht haben.
Trotz Allem blieb es in Deutschland bei bloßer Be-
wunderung, und die Sinnlichkeit wurde schon durch die
dort herrschende Sitte möglichst im Zaume gehalten. Li
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— 438 —
Italien aber, wo Platens Neigung nicht jene gehässige
Beurteilung erfuhr, die sie in Deutschland zu gewärtigen
hatte, und wo auch ihrer Betätigung keine hohen Schranken
gesetzt waren^ muß seine heroische Enthaltsamkeit jeden-
falls auf eine ganz besonders schwere Probe gestellt
worden sein. Dafür spricht selbst manches seiner ver-
öffentlichten Gedichte. In der Ode „Morgenklage" z. B.
ruft er zu Gott:
„Dt* aber, ein einzigmal vom Geist nimm die Last!
Von Liebe wie außer mir, an gleichioarmer Brust
Laß fröhlich und selbstvergessen
Mich fühlen, Mensch zu sein!^^
Zuweilen scheint er solchem Ziele ziemlich stark
sich genähert zu haben. Die Ode „In Genua" enthält
hierauf einen deutlichen Hinweis. Platen wendet sich in
apostrophierender Weise an die Stadt und klagt, daß er
verlassen muß
„Dichy Dein rauschendes Meer und den schönen Strandweg ^
Jüj was reizender ist! Ich erblickte kaum noch
Je mich selbst in geliebteren
Äugen und in lieben deren,'*
In Italien fand er demnach Gegenliebe. Andere
Menschen als in Deutschland, seiner „Freundschaft*'
iTähige Freunde, fiihrte ihm hier das Schicksal in den
Weg. Über die Qualität der jungen Männer, die er in
der Heimat angebetet hatte, war er sich noch während
seines Aufenthaltes dortselbst klar geworden. Schpn
unterm 6. August 1824 hatte er geschrieben: „Einen
Freund zu finden war immer der ideale Wunsch seit meiner
Jugend in mir; welche Klötze ich jedoch dafür ge-
halten habe, weiß der Himmel/' — Wie freimütig
man nicht nur in Genua, sondern in ganz Italien, be-
sonders in Neapel, über seine Neigung dachte, erfuhr
Platen gar wohl. Er berichtet einmal (11. Juli 1827) im
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Tagebuch, „in Neapel sei die Liebe zwischen Männern
so käufig, daß man selbst bei den kühnsten Forde-
rungen keinen Korb zu gewärtigen habe/' — Ob der
liebebedürftige Graf unter solchen Verhältnissen allen
Versuchungen widerstanden hat, muß also mindestens
fraglich bleiben. Allerdings geben die Tagebücher hier-
über keinen direkten Aufschluß; allein dieselben wurden
in Italien nicht mehr mit jenem Fleiß und jener Ge-
wissenhaftigkeit geführt wie früher in Deutschland. Oft
fehlen Wochen, ja Monate hindurch die Einträge, wäh-
rend in Deutschland kaum einmal ein Tag in dieser
Hinsicht eine Lücke zeigt. Auch dieser umstand spricht
nicht fär absolute Enthaltsamkeit Denn das Bedürfnis,
sich dem Tagebuche mitzuteilen, wuchs bei Platen stets
mit dem Mangel eines geliebten Objektes und minderte
sich in dem Grade, als er sich in seinen Liebesangelegen-
heiten versorgt sah.
Wenn daher ein Schluß erlaubt ist, so darf man
behaupten, daß in gedachter Zeit Platens Ergänzungs-
bedürfhis befriedigt war. Unterstützt wird diese An-
nahme durch die Tatsache, daß viele beschriebene Blätter
aus dem Tagebuch von der Hand des Verfassers entfernt
wurden, ehe er dasselbe seinem Vertrauten (in München)
übergab, und zwar gerade solche Blätter, welche, wie
durch das Vorausgehende und Nachfolgende des Textes
wahrscheinlich wird, von intimeren Erlebnissen gemeldet
haben müssen. Jedenfalls ist so viel richtig, daß die
Sinnlichkeit zuletzt den Sieg behauptete, auch wenn dieser
in nichts anderem erblickt werden soll, als daß Platen
das Übergewicht der Sinnlichkeit anerkannte und daß
er den prinzipiellen Widerstand gegen dieselbe aufgab.
Aber richtig ist leider auch die Tatsache, daß sich
in Italien des Dichters Gesundheit, welche ohnehin
keine kräftige war, keineswegs gebessert hat, und mit
dieser Fedtstellung nähern wir uns der Betrachtung seines
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— 440 —
letzten Lebensstadiums, sowie einem Überblick über die
Eigenart seiner ganzen Erscheinung.
Schon in Erlangen hatte er an Eongestionen in der
Brosts an Magerkeit und besonders an Blutandrang nach
dem Kopfe gelitten; in Italien stellten sich nun auch die
Hämorrhoiden ein. Daß diese Übel in ursächlichem
Zusammenhang mit seinem abnormen Geschlechtsgefiihl
standen^ dürfte deshalb zweifellos sein, weil Platen sich
gesundheitlich stets gehoben fohlte, sobald er die Dinge
seines Herzens in Ordnung fand^ daß sich dagegen augen-
blicklich ein physisches Unbehagen seiner bemächtigte^
wenn, wie es so oft der Fall war, das Gegenteil eintrat.
Jedenfalls war in Deutschland sein Nervensystem
gewaltsam erschüttert worden, und die Folgen
machten sich gleich im Anfang des italienischen Aufent-
haltes bemerkbar. Bald nach der Ankunft in Rom
erlitt er, am 3. März 1827, auf der Straße einen kon-
vulsivischen Anfall, so daß er zu Boden stürzte. Damals,
wie auch später, wurde er längere Zeit aufs Kranken-
lager geworfen. Während seiner letzteren Bjrankheit
hatte man ihm wegen der Hämorrhoiden eine große An-
zahl Blutegel gesetzt, wodurch ein bedenklicher Schwäche-
zustand herbeigeführt wurde. Gleichzeitig entwickelte
sich eine Drüsengeschwulst in den Weichen, ^jdie bedeu-
tend XU werden drohte. Die OeschwtUst mußte aufgeschnitten
werden und die Wunde heilte wochenlang nicht"
Kein Wunder, daß der ohnehin zur Schwermut Ge-
neigte auch in Italien einer grenzenlosen Melancholie
verfiel. Von ernster Beschäftigung mit der Poesie konnte
fürderhin nicht mehr die Rede sein, obschon von Deutsch-
land her ehrende Aufforderungen erschollen. ,yDer' Un-
bekannte im MorgenblaU^^ — es war der Philosoph Feuer-
bach — „?iatte in dithyrambischen Versen die Erwartung
ausgesprochen, daß der xu Großem berufene Dichter nun
na(^ dem Vaterlande kommen ufid dort Großes leisten werdet
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Platen antwortete hierauf in liberschäumend pathetischen
Trochäen :
„Rufe nichty da mich das deutsche Chaos würde blo/S ermüden,
Rufe nicht zurück den Dichter aus dem vidgeliehten Süden,
Welcher^ bis mich Frost und Alter lü^em macht nach eurem Vließe^
über jedes meiner Worte Ströme von Musik ergieße!
Immer mehr nach Süden laß mich meines Auges Wünsche richten^
Und, genährt von Hybldhonig^ auf des Ätna Cripfel dichten!
Laß mich Odysseen erfinden, schweifend an Homers Gestaden!
BcUd, in voller Waffenrüstung , folgen ihnen Biaden/^ U. b. f.
Die Odysseen und Qiaden blieben aus. Nicht ein-
mal ein größeres Drama, mit dem er besser als mit
seinem ^^Gläsemen Pantoffel'^ den Beruf zum drama-
tischen Dichter bekundet hätte, brachte seine Feder mehr
hervor. „Die Liga von Cambrai^' kann hiefClr nicht in
Betracht kommen; außer einigen Festgesängen, Oden und
Gelegenheitsgedichten entstanden nur noch nüchterne
historische Abhandlungen, wie „Geschichten des König-
reichs Neapel" (1881) sowie „Ursprung der Carraresen
und ihrer Herrschaft in Parma. Historisches Fragment"
(1833).
Nach solchen Anfängen ein solches Ende! Was
würde aus Platen geworden sein, wenn ihn nicht sein
herzloses Vaterland verstoßen, wenn nicht die leiden-
schaftliche und törichte Gehässigkeit den Homosexualen
in die Fremde getrieben hätte! Nicht seine homosexuelle
Veranlagung war Schuld, daß dem Dichter die höchsten
Höhen des Parnaß versagt blieben, im Gegenteil, diese
wirkte, wie sein ganzer Werdegang dartut, gerade als
der mächtigste Hebel zum dichterischen Schaffen, und
seine höchste Kunstvollendung manifestiert sich dort, wo
seine Liebe zu den Freunden spricht
Nun in Italien, auf der Höhe des Lebens, da er den
Flug zu den Sternen unternehmen sollte, war seine
geistige wie körperliche Spannkraft gelähmt. Todes-
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— 442 —
ahnungen beschlicheh ihn , so in Neapel , als er im
Jahre 1831 seinen 35. Geburtstag beging. Eine Ruhe-
losigkeit, die ihn von einem Orte zum anderen trieb,
bemächtigte sich des Geängstigten. Nachdem er am
1. Juli des gleichen Jahres das schöne Neapel verlassen,
zog er beständig zwischen dem mittelländischen und
adriatischen Meere umher, bald in Sorrent, bald in Siena,
bald auf der Insel Pahnaria, bald in Genua und Venedig
sich aufhaltend. Kaum war er an einem ersehnten
Punkte angelangt, so sehnte er sich nach einem anderen.
Endlich auf dem Eiland Sizilien, wo er am 28. April des
Jahres 1835 landete, hofFte er dauernde Buhe zu ge-
winnen. Und so geschah es. Schon im Dezember darauf
fand er in Syrakus jenen Schlaf, von dem es kein Er-
wachen gibt
Und welches sind die Gefühle, die sich uns am
Grabe Platens, die sich uns am Schluß unserer Betrach-
tung aufdrängen?
Für uns handelt es sich nicht um den Verlust, den
durch die Verbannung des Dichters und durch^ dessen
frühzeitigen Tod die deutsche Literatur erlitten. Was
hier in Betracht kommt, das ist von höherer Bedeutung,
von Bedeutung für alle Zweige der Wissenschaft, für die
ganze bürgerliche Gesellschaft.
Man wird aus unserer Darstellung ein ganz eigen-
artiges Seelenleben, eine in ihren Äußerungen durchaus
abnorme Geschlechtspsyche kennen gelernt haben.
Der Zustand dieser Geschlechtspsyche war ein habitueller.
Abnorm war in Platen das Kind, der Knabe, der Jüngling
und der Mann, der ganze Mensch bis ans Ende. Kein
Zwang und keine Gewöhnung vermochte hierin Wandel
zu schaffen. Mit aller Macht des Willens suchte Platen,
wie wir gesehen haben, es den Anderen gleichzutun und
insbesondere die Liebe zum Weibe in sich zu wecken;
mit übermenschlicher Anstrengung, ja mit Grausamkeit,
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— 443 —
bekämpfte er seine von der Gesellschaft verpönte, von der
Religion und dem weltlichen Gesetz verurteilte Neigung,
ohne etwas anderes zu erreichen als eine Schädigung
seiner vitalsten Interessen. Immer wieder tritt die ur-
eigene Natur hervor, die einen durchaus muliebren Cha-
rakter trägt. Es muß auffallen, daß Platen bei seiner
sonst so scharfen Selbstkritik diesen Umstand so lange
nicht erkannte. Freilich unbewußt verzeichnet er aus
allen Perioden seines Lebens solche Züge, welche auf
weiblichem Empfinden beruhen und in Widerspruch mit
seinem sonst so männlich ernsten Gebaren stehen. Er
ahnte nicht, daß das letztere bloß anempfunden war;
in der Tat fiel er »so oft aus der Bolle, als er sich im
sicheren Besitz eines Geliebten wähnte. Abgesehen von
jenem Epheukranz, den er in Würzburg eine Zeitlang
öffentlich auf seinem Hute trug, hätte es ihm doch eigen-
tümlich vorkommen müssen^ wenn er Blumen, die mit
irgend einem Freundschaftsbunde zusammenhingen, noch
jahrelang aufbewahrte, auch wenn sie schon verwelkt
waren, oder wenn er gar einem jungen Manne, einem
burschikosen Studenten, wie Eduard Schmidtlein, ein
Blumenbukett überreichte! Platen liebte wie ein
Weib. Es zeigten sich hiebei genau jene Erschei-
nungen, welche die verschiedenen Arten des Begehrens
im weiblichen Geschlecht kennzeichnen. Wie sanfte
Frauen sich zu besonders kraftvollen Männern hin-
gezogen fühlen, so machten auf Platen Männer mit kräf-
tigem Körperbau und energischem Gesichtsausdruck den
mächtigsten Eindruck. Es entspricht dieser Umstand
dem allgemeinen Naturgesetz der antipolaren Anziehung.
Hiezu stimmt bei Platen auch ein Wunsch, der sich
durch all seine Herzenssachen hindurchzieht: Er mochte
nicht der handelnde, der die Initiative ergreifende Teil sein ;
er hoffte und wünschte^ daß man ihm zuvorkomme, daß
er es sei, der gesucht werde. Er sieht zwar ein, daß
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dieses Hoffen und Wünschen vergeblich sei, und „Tor-
heit" nennt er seine Liebe, nicht bloß deshalb, weil sie
mit Bezug auf den Geliebten an unerfüllbare Bedingungen
geknüpft war, sondern weil er in sich selbst den Mut
nicht fand, rechtzeitig den nötigen Schritt zu einer
Annäherung zu tun. Diese Schüchternheit suchte er in
Gleichgültigkeit umzudeuten und er trug eine solche
auch tatsächlich zur Schau, selbst in Stunden, wo er um
ein freundliches Wort auf die Knie gefallen wäre.
In dieser angenommenen Gleichgültigkeit liegt ein
für das Gesamtbild Platens wichtiges Moment Sie hängt
mit seinem unbeugsamen Stolz zusammen, der zum Teil
ein Erbstück der Familie gewesen sqin mag und jeden-
falls durch Wort und Beispiel anerzogen war. In der
normalen Liebe bildet der Stolz kein Hindernis, da er
beim Manne zur Ritterlichkeit, beim Weibe zur be-
strickenden Koketterie werden kann. In der homo-
sexuellen Liebe aber, wo die Rollen verwechselt sind,
erschwert der Stolz das Liebeswerben und hangt sich
wie ein Bleigewicht an die Bemühungen, mit welchen
der Liebende in den Besitz des Geliebten gelangen will.
Dies hat sich bei Platen in der fühlbarsten Weise ge-
zeigt. Allerdings war es durchaus nicht Adelsstolz, was
ihn beherrschte; er ließ sich bekanntlich in der Wahl der
Freunde nie von Standesrücksichten leiten und nahm sich
überhaupt das Recht heraus, stets und in allen Dingen
seine eigenen Wege zu gehen. Im Punkte der Ehre
aber, und diese war sein Stolz, wollte er sich vor nie-
mand, auch vor dem Geliebten nicht, bloßstellen, und
was gab es der Ehre mehr Widersprechendes als sich
einem unbekannten Manne zu nähern, ihm Liebe anzu-
bieten und dabei eine Ablehnung zu gewärtigen?
Aus Platens verfeinertem Ehrbegriff erklärt es sich
auch, daß er das sinnliche Element in seiner leidenschaft-
lichen Liebe niederhielt und sich zur Motivierung dessen
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das schemenhafte Ideal erfand, das in allen, namentlich
seinen firüheren Herzensgeschichten eine so störende
Rolle spielt. Er nmgab das Wesen seiner angebeteten
Freunde mit einer Gloriole, die ihnen gar nicht zu Ge-
sicht stand, und glaubte damit seiner Ehre Genüge ge-
tan zu haben. Freilich wurde er nach solchen Versuchen
stets bitter enttäuscht. Es stellten sich in den Freunden
regelmäßig recht menschliche Charaktere heraus, wäh-
rend seine Sittlichkeit, die er auf eine höhere Stufe ge-
hoben wissen wollte, immer mehr auf ein rein mensch-
liches und natürliches Empfinden zurücksank. Und weit
entfernt, daß es ihm gelungen wäre, seine Neigung vor
der ihn umgebenden Gesellschaft zu verbergen, mußte er
es erleben, daß ihm um ihretwegen die schimpflichsten
Unbilden angetan wurden.
Ein noch größeres Unrecht aber tat sich P^aten
selbst an.
Es ist das Tragische im Leben eines jeden Homo-
sexualen, daß er, überzeugt, einem unwiderstehlichen
Triebe zu folgen, von der Welt diesen Trieb als un-
natürlich gebrandmarkt sieht und sich zuletzt. Einer
gegen AUe, von dieser Ansicht selbst gefangen nehmen
läßt. „Er erkennt weder Ursprung noch Zweck seiner
keiligen Neigung. Ohne sie verbrecherisch zu finden, nimmt
er sie auf Treu und Glauben der Welt für verbreche-
risch. Was Gebot der seelischen Natur ist, erfüllt ihn mit
abergläubischem Entsetzen als Erscheinung einer ungeheuren,
verruchten Unnatürlichkeit, Er bekämpft den Trieb und er-
höht eben durch den Kampf die erste, ruhige Neigung zur
— aüzerbrechenden Leidenschaft Der wilde Widerspruch
seines inneren Wesens zerstört sein Inneres, Er verabscheut
sieh und die Natur und verabscheut darum die Welt, mit
deren Leben er in unaussöhnbarem Widerspruch lebt.^'
Diese Sätze Zschokkes treffen mit der wunderbaren
Harmonie der Wahrheit in jedem ihrer Worte auf Platen
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zu. Wenn Zschokke Platens Tagebach gekannt hätte,
würden sie gewiß nicht anders gelautet haben. Platen
wußte wohl, wie die „Gesellschaft" von der Männerliebe
dachte. Schon in seiner Garnison München, als er selbst
über sittenloses Leben der damaligen Offiziere, ihren
Besuch von Bordellen usw. zu klagen hatte, hörte er,
daß es für einen Mann nichts Schimpflicheres geben
könne, als der Liebe zu Männern zu „huldigen". Kein
Wunder, daß er sich bei seinem subtilen Ehrgefühl
diesem Urteil auf Kosten der Wahrheit unterwarf und
es sich mehr zu Herzen nahm, als mit seiner seelischen
und körperlichen Gesundheit vereinbar war. Ja, während
er auf alle übrigen Urteile seiner Kameraden so viel wie
nichts gab, legte er auf dieses allein noch Gewicht So
wurde er, der immer auf die Reinheit seiner Absichten
bedacht war, an sich selbst irre. Er vernachlässigte
allen geselligen Umgang und verfiel in eine tiefe Schwer-
mut, die allmählich in einen Zustand der Verzweiflung
überging. So ruft er aus: „Zerschmettere mich denn,
Gott, oder wie Du Dich nennen magst, wo oder wenn
Du bist, nachdem Du mich schimpflich um mein
ganzes Dasein betrogen/" Den Glauben an Gott, an
dem er in früher Jugend einen Halt gefunden, hatte er
verloren. Dafür verfiel er, der sonst mit so herrlichen
Gaben des Verstandes Begabte, auf den Glauben an die
Kabbala und trieb Zahlenmjstik. Es war der Strohhalm
des Ertrinkenden! —
Wir begreifen, daß der normale Mann, der von
Homosexualität nichts weiß, sich mit Widerwillen von
einem solchen Elend abwendet Aber Keiner, der nun-
mehr den wahren Tatbestand kennen gelernt^ wird gegen-
über dem Lebensbild des Grafen Platen eine andere
Empfindung als die des tiefsten Mitleids haben können,
und jeder Kundige muß gegenüber der öffentlichen Mei-
nung von höchster Entrüstung ergriffen werden. Sie, die
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öffentliche Meinung, und nicht der Homosexuale,
ist an jenem entsetzlichen Geschlechtselend
schuld. Ließe man den Homosexualen leben und
leiden, wie einen anderen Menschen, so würde er sich
in seiner Art entwickeln und — vielleicht andere, gewiß
aber — nicht schlechtere Früchte hervorbringen als der
mit normaler Geschlechtsnatur Begnadete. Ehre ist das
Lebenselement des Menschen, ist die Luft^ die er atmet, ist
der Boden, auf dem er steht, und diese notwendigen Vor-
aussetzungen werden von dem normalen GesellschaftÄkörper
dem Homosexualen beharrlich versagt. Kein Wunder,
wenn ein mit noch so herrlichen Gaben ausgestatteter
Mensch unter diesen umständen verkümmert und schließ-
lich der Verzweiflung in die Hände fallt. Möge eine
bessere Zeit es sich zur Pflicht machen, daß ein auf Un-
verstand beruhendes Vorurteil falle und die Wahrheit
auch in einer von der Natur weniger begünstigten
Menschenklasse zu ihrem Recht gelange.
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Zwei Frauen
aus der persönlichen Bekanntschaft
des Herausgebers.
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Die
Bibliographie der Homosexualität
für das Jahr 1903.
Von
Dr. Jur. Nnma Praetorius.
Jahrbuch VI. 29
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Inhaltsangabe.
Teil I.
Homosexuelle Schriften mit Ausnahme der Belletristik.
Kapitel I.
Homosexualität und AngeborenBein.
Anonym^ Der Fall Krupp. (München, Birk & Co.)
Anonym, Die wichtigste Strafrechtsreform. (Im Alb-Boten vom
21. November.)
Anonym, Der Chevalier d'£on. (In der Leipziger Volkszeitung
vom 21. November.)
Auer, Soziales Strafrecht (München, Beck.)
Bolgar, Zur homosexuellen Frage in Deutschland. (In der Ärzt-
lichen Zentralzeitung, Nr. 35, 36.)
Carpenter, Wenn die Menschen reif zur Liebe werden. (Deutsch,
Leipzig, Seemanns Nachf.)
Duvtquet, H^liogabale. (Paris, Soci6t6 du Mercure de France.)
Fischer, Hans, Homosexualität eine physiologische Erscheinung?
(Berlin, Gnadenfeld & Co.)
Schneickert, Besprechung der Schrift von Fischer. (In Groß'
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, Bd XHI,
Heft 1 und 2.)
Fleischmann, Ungeahnte Verbrechen. (München, Fleischmann.)
Fleischmann^ Der Fall Krupp und der Caprese. (München,
Fleischmann.)
Fleischmann, Der Seelenforscher. (Psychologisch-erosophische
Zeitschrift.)
Friedlaender, Der Untergang des Eros im Mittelalter und seine
Ursachen. (In der Juli- Nummer von Brands „Eigenem".)
29*
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— 452 —
Fuchs, Hanns, Richard Wagner und die Homosexualität (Berlin,
Barsdorf.)
Gaulke, Das mann weibliche Moment in der Kunst in religiöser
Beleuchtung. (In der „Gegenwart" vom 13. Februar.)
Gerling, Das Geschlecht. (Beilage zur Zeitschrift „Neue Heil-
kunst".)
Gley, Les aberrations de Tinstinct sezuel. (In £tudes de Psycho-
logie physiologique et pathologique, Paris, Alcan.)
Groß, Besprechung der Jahrbücher Bd. IV und V. (Im Archiv
für Kriminal -Anthropologie und Kriminalistik, Bd. XIV,
Nr. 3, 4.)
Grundmann, Wer ist der Mörder? Das Verbrechen des Sadisten
Dippold. (Pöseneck, Schneiders Nachfolger.)
Hafner, Unzucht. (Wien, Verlag des Don Quixote.)
Hermann, Libido und Mania (Leipzig, Strauch.)
Hirschfeld, Das urnische Kind. (In der Wiener Med. Presse,
Nr. 89 und 40, und der Zeitschrift für Kindererforschung:
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Die neueste Richtimg.
Bab, Die gleichgeschlechtliche Liebe (Lieblingminne). (Berlin,
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Brand, Juli-Nummer.)
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Jollj) Perverser Sexualtrieb und Stttlichkeitsverbrechen. (Vor-
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Krticzka, Ein an Sadismus grenzender Fall. (In Groß* Archiv
für Kriminal -Anthropologie und Kriminalistik, Bd. XFV,
Nr. 1 und 2.)
Melchers, Was soll das Volk vom dritten Geschlecht wissen?
Auch eine Aufklärungsschrift, herausgegeben gegen das
Wissenschaftlich' Humanitäre Komit^. (Flugblatt 8 des Or-
dens für Regeneration.)
Pelman, Strafrecht und verminderte Zurechnungsffthigkeit (In
der Politisch-Anthropologischen Revue, April-Nummer.)
Puppe, Über larvierte sexuelle Pei'versität. (In der Ärztlichen
Sachverständigen-Zeitung, Nr. 24, 1902.)
Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei.
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Salgo, Die sexuellen Perversitäten vom psychiatrischen und
forensischen Gesichtspunkt (Vortrag, abgedruckt in der
Pester Medizinisch- Chirurgischen Presse, Nr. 1, Januar 1903.)
Schrenck-Notzing, Beiträge zur forensischen Beurteilung von
Sittlichkeitsvergehen mit besonderer Berücksichtigung der
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psychologische und psychopathologische Studien. Leipzig,
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Spassoff, Contribution k T^tude de Tinstinct sexuel et de ses
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Die Anhänger der Strafe.
Anderson, Wider das dritte Geschlecht. (Berlin, 1903, Ber-
mühler.)
Quant er, Wider das dritte Geschlecht. (Berlin, 1904, Berm übler.)
Fischer, Wilhelm, Die Prostitution, ihre Geschichte und ihre
Beziehungen zum Verbrechen und die kriminellen Aus-
artungen des modernen Geschlechtslebens. (Stuttgart, Leipzig,
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Gerland, Besprechung des Buches von Köhler, „Reformfragen des
Strafrechts". (Im „Gerichtssaal**, Bd. LXIII, Heft 1.)
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— 455 —
Köhler, Reformfragen des Strafrechts. (München, Becksche Ver-
lagshachhandlung.)
Kuhlenbeck, Das Strafrecht als soziales Organ der natür-
lichen Auslese. (In der Politisch-Anthropologischen Revue,
Januar 1908.)
Wfist, 1. Das dritte Geschlecht
2. Die. Rede von Wüst über die Homosexualität, gehalten
in der Halbjahresversammlung des Wissenschaftlich-
Humanitären Komit^s.
3. Die sexuellen Perversitäten in Deutschland.
4. Herren und Ludewigs, Damen und Dirnen.
(In den Nummern 10, 14, 17 und 28 der Zeitschrift
Aristokratissimus.)
Anhang z« Kapitel IV.
Brunn er, Abgrenzung der Übertretung gegen die öffentliche
Sicherheit von dem Verbrechen der Unzucht wider die Natur
zwischen Personen des gleichen Geschlechts. Entscheidung
des Kassationshofs in Wien. (Im „Gerichtssaal", Bd. XLIII.)
Reichsgerichtsentscheidung, Bd. XXXVI, Nr. 18, Was ist
unter heisch lafUhnlichem Akt zu verstehen?
Kapitel V.
Der Oeschleohtstrieb an und für sich. (Ohne Berück-
sichtigung der Homosexualität)
Elberskirchen, Die Sexualempfindung bei Weib und Mann.
(Leipzig, Magazin- Verlag.)
Ellis, Das Geschlechtsgefühl. (Deutsche Übersetzung. Würz-
burg, Stüber.)
Jastrowitz, Einiges über das Physiologische und über die außer-
gewöhnlichen Handlungen im Liebesleben der Menschen.
(Leipzig, Thieme.)
Teil IL
Belletristik.
Der Eigene, Ein Blatt für männliche Kultur, Kunst und Lite-
ratur. Herausgeber Adolf Braad. (Januar — Juli 1903.)
Demolder, Le jardinier de la Pompadour. (Soci^t^ du Mercure
de France.)
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Fazy, La nouvelle Sodome. (Paris, Edition moderne.)
Fuchs, Hanns, Ciaire. (Berlin, Barsdorf.)
Grün-Leschkirch, Lieder eines Einsamen. (Leipzig, Spohr.)
Heller, Die Spiegel. (In der Freistatt, Nr. 44, 1902.)
La llire, UEnfer da soldat. (Paris, 1902, Offenstadt.)
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Morel, Sappho de Lesbos. (Paris, Perrin & Co.)
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Siegfried, Freundesminnc. (Druck Reichardt, Groitzsch.)
Stadler, Die Freundinnen. (Im Magazin für Literatur, 2. Februar-
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Stangen, Antinouslieder; mit Anhang: Die Insel der Seligen.
(Zürich, Cäsar Schmidt.)
Vivien, Sappho. | (Beide Lemerre, Parte.)
Vivien, Evocations. J
Wedekind, Mine-Saha oder über die körperliche Erziehung der
jungen Mädchen. (München, Langen.)
Willy, Claudine s'en va. (Paris, Ollendorf.)
Beyerlein, Jena oder Sedan? (Berlin, Vita.)
Teil III.
Besprechungen. 1. Des Jahrbuchs.
2. Des „Umischen Menschen" von Dr. Hirsch-
feld.
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Teil 1.^)
Homosexuelle Schriften mit Ausnahme
der Belletristik.
Kapitel I.
Homosexualität und Angeborensein. ^
Anonym, Der Fall Krapp. Sein Verlauf und seine
Folgen. Eine Tatsacbensammlung. München, Druck
und Verlag von G. Birk & Co., 50 Pf.
Der erste Teil der Schrift: „Die Homosexualität und der
§ J175" gibt zunächst eine Erläuterung von dem Wesen der Homo-
Sexualität. Erörterung der Begriffe „natürlich*^ und ,,widernatür-
*) In dem L Teil sind drei in den früheren Bibliographien
fehlende Schriften aus dem Jahre 1902, zwei aus dem Jahre 1901^
in dem IL vier aus dem Jahre 1902 aufgenommen. Die Jahres-
zahl ist jedesmal beigefügt. Die übrigen Schriften sind im Jahre
1903 veröffentlicht
*) Die Titel von Kapitel I und II passen nicht genau für
alle in den beiden Kapiteln besprochenen Schriften. Sie wurden
gewählty da eine bessere Kollektivcharakterisierung nicht möglich er-
schien. Von den Schriften, welche ein Angeboren- und Erworben-
sein der Homosexualität annehmen, wwrden unter Kapitell diejenigen
rubriziert, welche wenigstens häufiges oder oftmaliges Angeboren-
sein anerkennen. Diejenigen Schriften, welche überhaupt die Frage
der Enistehungsart der Homosexualität nicht berühren, wurden, je
nachdem sie mehr zu den neueren oder mehr zu den älteren An-
schauungen über Homosexualität neigen, unter Kapitel I oder
Kapitel II klassifiziert.
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— 458 — .
lich^^ in ihrer Anwendung auf den Geschlechtsverkehr. Trotzdem
auch im Verkehr zwischen Mann und Frau viele Handlungen
nicht der Fortpflanzung dienten, hahe man die Begriffe „wider-
natürlich" und „pervers" nur für den homosexuellen Verkehr auf-
gespart. Aus dieser Anschauung heraus sei der § 175 entstanden.
Widerlegung einer Anzahl früherer Irrtümer über die Homo-
sexualität und die angeblichen ELrankheiten als Folgen des gleich-
geschlechtlichen Verkehrs.
Erwähnung der von der Polizei der Großstädte geführten
Listen über die bekannten Homosexuellen, um sie vor der Ver-
folgung durch Erpresser zu schützen, sowie über die männlichen
Prostituierten zwecks ihrer Überwachung. Die Homosexualität
sei eine namentlich in den vornehmen Schichten der Bevölkerung
verbreitete Krankheit; Verwandtenehe, geschlechtlicfae Erkran-
kungen, Alkoholismus, nervöse Überreizung seien der beste Nähr-
boden. Eine überlebte Gesellschaft erzeuge Krankheiten aus sich
heraus.
In dieser Erklärung zeigt sich das Bestreben, auch
die Erscheinung der Homosexualität von den sozia-
listischen Theorien aus zu deuten. Es wird jedoch
übersehen, daß die Homosexualität im Volke ebenso ver-
breitet ist, wie in vornehmen Kreisen.
Verfasser führt des weiteren aus: Auch die Militärbehörde
könnte überraschende Enthüllungen machen. In vielen Fällen habe
man homosexuelle Offiziere aus der Armee entfernt, in durchaus
schonender Weise, ohne jeden Eklat, ohne Erhebung einer Anklage.
Es läge hier wieder einer jener merkwürdigen Fälle vor, in denen
sich die Militärbehörden aufgeklärter als die Zivilbehörden er-
wiesen. Die Unhaltbarkeit des § 175 wird scharf hervorgehoben.
Es wird hingewiesen auf die korrumpierenden Denunziationen, die
er veranlasse, auf die widerspruchsvolle und spitzfindige Aus-
legung, auf die Tatsache, daß Pädikation zwischen Mann und
Frau straflos sei. Von einem Schutz der allgemeinen Moral und
Sittlichkeit durch den § 175 könne keine Rede sein.
Die Abschafi^ng des § 175 müsse gefordert werden, weil
dies Gesetz ein schweres Unrecht gegen eine große Anzahl ehr-
barer Menschen bedeute. Er sei mit den Anschauungen der
Wissenschaft nicht mehr in Einklang zu bringen.
Infolge der allgemein herrschenden geschlechtlichen Heuchelei
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— 459 —
habe sich bis heute die bürgerliche Presse wenig oder gar nicht
an der Agitation für die Abschaffung des § 175 beteiligt, obgleich
gerade der Adelsstand und die Bourgeoisie allen Grund hätten,
sich von einem Gesetz zu befreien, das vor allem Angehörige
ihres Standes träfe. Die Sozialisten hätten fast nur ein recht-
liches Interesse an diesen „pikanten^ ^ Geschichten, nämlich, daß
Kranke nicht als Verbrecher verfolgt würden und daß ein be-
stehendes Gesetz entweder gegen alle gleichmäßig angewandt oder
aber aufgehoben werde. Diese Motive hätten den „Vorwärts" ver-
anlaßt, den Fall Krupp zur Sprache zu bringen. Die bürgerliche
Presse hätte die Verpflichtung gehabt, selbst objektiv an die
Prüfung des Falles heranzutreten, anstatt ein Kesseltreiben gegen
den „Vorwärts" zu inszenieren. Kein bürgerliches Blatt habe
sich getraut, auszusprechen, daß die Homosexualität kein Ver-
brechen, daß der Vorwurf anormalen Geschlechtsempfindens keine
Schande sei.
Auf den theoretischen Teil über die Homosexualität folgt
eine Darstellung des Falles Krupp. Neues über die behauptete
Homosexualität Krupps findet sich in diesem Teile nicht. An-
gesichts der Besprechung des Falles Krupp im vorjährigen Jahres-
bericht durch Dr. Hirschfeld erübrigt sich daher eine Inhalts-
angabe. Die Schrift bemüht sich, nachzuweisen, daß der Vor-
wärtsartikel lediglich ans lauteren Motiven, nämlich um die
Ungerechtigkeit des § 175 zu geißeln, erschienen und daß der
„Vorwärts** zu seiner Veröffentlichung geradezu gezwungen ge-
wesen sei. Gewöhnlich mache die sozialdemokratische Partei von
dem ihr in Fülle zugehenden Anklagematerial Über Privatpersonen
nur einen sehr bescheidenen Gebrauch. Gerade in Bezug auf
Verstöße gegen § 175 aber liefen bei den sozialdemokratischen
Abgeordneten wie bei der sozialdemokratischen Presse fast täg-
lich Mitteilungen über Männer in Amt und Würden ein, ohne
daß bisher auch nur eine einzige Indiskretion darüber bekannt
geworden wäre. So sei auch der „Vorwärts" erst an den Fall
Krupp herangetreten, als es nichts mehr zu verschweigen gegeben,
als von den verschiedensten Seiten auf eine Behandlung der An-
gelegenheit gedrungen worden sei und dieses Drängen sich schon
in dem Vorwurf geäußert habe, man wolle allem Anschein nach
den ganzen Fall vertuschen.
Es ist anzuerkennen, daß die sozialdemokratische
Partei bisher überhaupt die einzige politische Partei
ist, welche als solche sich vorurteilsfrei mit der homo-
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— 460 —
sexuellen Frage beschäftigt and eine Reform des § 175
gefordert hat.
Den Kruppartikel jedoch halte ich, vom unparteiischen
Standpunkt aus betrachtet^ nicht für ein wandsfrei, da
Handlungen Krupps aus seinem Privatleben, welche die
Allgemeinheit nicht schädigten, an die breite Öffentlich-
keit gezogen und Krupp durch die Veröffentlichung in
Deutschland unnötigerweise gebrandmarkt wurde. Auch
bin ich der Ansicht, daß es sich dem „Vorwärts" nicht
allein um den Nachweis der Notwendigkeit, den § 175 auf-
zuheben, handelte, sondern daß auch ein parteipolitischer
Zweck — Bloßstellung eines Hauptvertreters des Kapi-
talismus — mitspielte, worauf Form und Inhalt des
Artikels deuteten. Allerdings will ich gern anerkennen,
daß die Versuchung, die Gerüchte der italienischen
Zeitungen zu veröffentlichen, eine sehr starke war und
daß der „Vorwärts" jedenfalls den Sturm der Entrüstung
nicht verdiente, mit dem die Zeitungen der anderen
Parteien das sozialdemokratische Organ überschüttet
haben.
Das, was der „Vorwärts" gegenüber Krupp gefehlt,
hätten sicherlich Zeitungen anderer Richtungen, nament-
lich der konservativen und klerikalen, sozialdemokra-
tischen Führern gegenüber ebenfalls getan, nur mit dem
unterschiede, daß ^ie kaum so lange gewartet hätten
wie der „Vorwärts", um mit offenen Anschuldigungen,
die in auswärtigen Blättern zu lesen gewesen wären,
hervorzutreten. Man setze nur den Fall, Bebel oder
Singer hätten mit jungen Leuten in einer den Verdacht
der Homosexualität erregenden Weise verkehrt und würden
im Auslande allgemein als Homosexuelle gelten. Würden
nicht die Zentrumsblätter und die feudalen Zeitungen
die sozialdemokratischen Führer an den Pranger stellen
und als die lebendigen Beispiele für die Wirkungen ihrer
Lehren geißeln?
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— 461 —
Anonym, Die wichtigste Strafreelitsreform, im Alb-
Boten, Münsingen, vom 21. November 1903.
Wanne Befürwortung der Beseitigung des § 175, die aus
juristischen, wissenschaftlichen und menschlichen Gründen geboten
sei. Der § 175 sei ein ungerechtes Ausnahmegesetz. Diejenigen,
welche für die Aufhebung arbeiteten, kämpften für und nicht
gegen die Sittlichkeit. Die Homosexuellen seien den Normalen
gleichzuwerten. Die Homosexualität sei eine notwendige Über-
gaiigsbtufe zwischen den Geschlechtem. Das Recht der freien
Selbstbestimmung, das man gewöhnlich für jedermann verlange,
müsse auch den Homosexuellen für ihre in gegenseitiger Ein-
willigung vorgenommenen geschlechtlichen Handlungen zuerkannt
werden.
Anonym, Der Chevalier d'Eon, in der Leipziger Volks-
zeitung vom 21. November 1903.
Die Petition wird als vollauf begründet anerkannt; bei § 175
müsse allerdings der hartnäckige Widerstand der Geistlichkeit und
der zünftigen Juristen überwunden werden. — Hierauf Besprechung
des bekannten Chevalier d^Eon und seines Lebens nach dem
Jahrbuch.
Auer, Fritz, Soziales Strafreeht. Ein Prolog zur Straf-
rechtsreform. München, 1903, Becksche Verlags-
buchhandlung.
In diesem ) von warmem sozialen Geist und modernen An-
schauungen erfüllten Schriftchen wird auch die Abschaffung des
§ 175 empfohlen, der die schwärzeste Ecke des Strafgesetzes bilde.
Aus blindem Fanatismus und Unverständnis für die traurigen, in
den allermeisten Fällen krankhaften Verirrungen des sexuellen
Lebens heraus geboren, richte der § 175 infolge des unfehlbar
mit ihm verbundenen Erpressertums namenloses wirtschaftliches
und gesellschaftliches Unheil an, ohne zum Schutz eines Rechtes
notwendig zu sein. Gegen gewerbsmäßige männliche Unzucht
könne, wenn dies Gewerbe zur öffentlichen Gefahr werde, die
Strafvorschrift gegen die weibliche Prostitution (§ 866 *) angewendet
werden.
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— 462 —
Bolgar, Dr. C^eorg, Zar homosexnellen Frage in
Dentschland, in der Ärztlichen Zentralzeitung, Nr. 35
und 36.
BemerkungeD über das besondere Hervortreten der Homo-
sexualität in Berlin (homosexuelle Restaurants, Bäder, Prostitution).
— Bericht über eine der Halbjahresversammlungen des Komit^s.
In der Diskussion habe es ein Gegner der Anschauungen Hirsch-
felds durch seine gehässige Aggressivität bei absoluter Iguoranz
des Themas in der sonst wohlgeschulten, gut disziplinierten Ver-
sammlung so weit getrieben, daß ihm schließlich das Wort habe
entzogen werden müssen.
Sowohl auf Seiten der Homosexuellen als der Heterosexuellen,
meint Bolgar, müsse aufgeklärt werden. Die Homosexuellen
müßten zur Ansicht gelangen, daß ihr Zustand eine Abnormität,
in vielen Fällen eine Krankheit des Geschlechtszentrums, darstelle.
Freilich, noch mehr müsse der Allgemeinheit, die durch ihre An-
schauungen und die dadurch hervorgerufenen Gesetze hunderte
und tausende von Homosexuellen gesellschaftlich, körperlich und
geistig ruiniert habe, begreiflich gemacht werden, daß es sich hier
zumeist um Unglückliche, nicht aber um Wüstlinge oder Ver-
brecher handle. Jedenfalls sei es eine Ungerechtigkeit, die Homo-
sexuellen einzusperren, während man zahllose Lumpen von ge-
wissenlosen , aber sexuell normalen Lebemännern ruhig und
straflos ihre Syphilis, ihre Ulcera, ihre Gonorrhoe auf dem
vaginalen Wege weiter verbreiten und unberechenbares Unglück
anrichten lasse. Auch sei es gewiß grundfalsch, Homosexuellen
Perversitäten besonders vorzuwerfen, wo doch in der normalen
Liebe Perversitäten in Hülle und Fülle vorkämen und als
„Geschmacksdifferenzen'' nicht nur stillschweigend geduldet und
straflos gelassen, sondern womöglich noch als „hohe Schule
der Liebe" proklamiert würden. Hier sei es Pflicht der popu-
lären medizinischen Wissenschaft, aufzuklären, denn daß bei
der großen Verbreitung der Homosexualität unter der germa-
nischen , sowie der jüdischen Rasse , weniger unter Slaven
und Romanen, eine homosexuelle Frage wirklich und nicht nur
in den Köpfen einiger Psychiater existiere und daß die jetzige
G^etzgebung nach dieser Seite hin veraltete, im Widerspruch
zum heutigen Stande der Wissenschaft stehende Härten auf-
weise, könne nur jemand leugnen, der nichts sehe oder nichts
sehen wolle.
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— 463 —
Carpenter, Edward, Wenn die Mensehen reif znr
Liebe werden. Eine Reihe von Aufsätzen über das
Verhältnis der beiden Geschlechter? Übersetzt Ton Carl
Federn. Leipzig, Hermann Seemanns Nachfg.
Carpenter deckt die vielen Unklarheiten und die große
Heuchelei in den Beziehungen der beiden Geschlechter auf und
erörtert die Möglichkeit einer gesunderen und besseren Entwicke-
lung der Geschlechtsverhältnisse. Das homosexuelle Problem ist
in diesen von idealem Ernst erfüllten Aufsätzen nicht berührt,
Carpenter hat es an anderer Stelle ausführlich und sehr schön
behandelt (in der Broschüre „Die homogene Liebe und ihre Be-
deutung in der freien Gesellschaft", deutsch in Leipzig bei Spohr).
Nur einmal (S. 234) erwähnt er die Homosexualität:
Als eine der großen Schwierigkeiten, die einer allgemeinen
Verständigung über sexuelle Fragen im Wege ständen, bezeichnet
Carpenter die außerordentliche Verschiedenheit der Empfiudungs-
weise und des Temperaments. So z. B. vermöge ein Manu von
Welt einen Asketen kaum zu verstehen und jedenfalls nicht mit
ihm zu sympathisieren. Der Durchschnittsmann und das Durch-
schnittsweib träten an die große Leidenschaft von ganz versclye-
denen Seiten heran und mißverständen einander infolgedessen
unaufhörlich. Und diese beiden großen Klassen des Menschen-
geschlechts wären wieder außer Stande, jene andere scharf um-
rissene Klasse von Menschen zu verstehen, deren Liebesneigungen
von Geburt an nur dem eigenen Geschlecht gälten, ja sie wollten
die Existenz einer solchen Gattung von Menschen kaum an-
erkennen, obgleich sie tatsächlich eine große und wichtige Gruppe
in allen Schichten der Gesellschaft darstelle. Alle diese Ver-
schiedenheiten seien bisher so wenig der Gegenstand unvorein-
genommener Forschung gewesen, daß wir uns in einem ganz
erstaunlichen Grad darüber im Dunkel befönden.
Sariquet, Georges, H^^liogabale. Racont^ par les histo-
riens grecs et latins. Pröface de Remy de Gour-
mont, Paris, 1903, Sociöt^ du Mercure de France.
Dix-huit gravures d'apres les monuments originaux.
Sämtliche über Heliogabal vorhandenen Quellen in französi-
scher Übersetzung, nebst Besprechung der Gold- und Denkmünzen,
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— 464 —
sowie der Inschriften und Bilderbeschreibungen; die auf Helio-
gabal Bezug haben. Am Schluß eine Bibliographie von Werken
über Heliogabal. In dieser fehlt auffalligerweise der schöne Auf-
satz von Scheffler aus dem Jahrbuch III.
Aus dem Buche von Duviquet lernt man absolut
nichts Neues über Heliogabal ^ dagegen wird man beim
Durchlesen der gesamten Quellen gewahr, wie meister-
haft SchefTler in seinem relativ kurzen Aufsatze alles
Charakteristische und Wichtige zusammen zu fassen
wußte. Und dies obendrein in einem glänzenden künst-
lerischen Gemälde.
Eigene Bemerkungen von Duviquet über Heliogabals Natur
finden sich nur an zwei Stellen: S. 143 betont er die ganz weibische
Anlage des Kaisers, die ihn dazu gefuhrt habe, im Verkehr mit
Männern stets die weibliche Rolle zu übernehmen. Ferner S. 147,
wo Duviquet Heliogabal, der an seinem „Manne" Hierokles trotz
seiner Schläge und Beschimpfungen mit heftigster Leidenschaft
gehangen, mit der Dirne vergleicht, welche nur ihren Zuhälter
liebt, den sie unterhält und der sie schlägt.
Fischer, Dr. Hans, Homosexaalitftt eine physio-
logische Erscheinung? Berlin, Verlag Gnaden-
feld & Co.
Bekämpfung des § 175. Man hätte ebensogut den körper-
lichen Hermaphroditismus oder den Situs inversus, d. h. die um-
gekehrte Lage der Eingeweide im Körper, mit Gefängnis bestrafen
können; sei doch der homosexuelle Trieb eine Art von psychi-
schem Situs inversus. Hinweis auf den gleichgeschlechtlichen
Verkehr in Griechenland. Hätte in Athen ein § 175 bestanden,
so wären die obersten Leiter der Geschichte Athens wohl selten
aus den Gefangnissen herausgekommen. Die vielen Unter-
abteilungen zwischen Hetero- und Homosexualität erklärten un-
gezwungen das häufige Vorkommen von Homosexualität im klassi-
schen Altertum bei Männern, welche die Weiberliebe keineswegs
verschmähten. Der Normale tue die ganze Erscheinung einfach
mit dem Worte „Schweinerei" ab, ohne zu erwägen, ob es denn
vom sittlichen Standpunkt aus weniger Schweinerei sei, eine Dirne
gegen klingendes Entgelt zu beschlafen. Und doch sei die Prosti-
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— 465 —
tution in allen Ländern geduldet Prostitation, AlkoholismuB und
Morphinismus usw. seien widernatürlich und könnten unter anderen
VerhSltnissen bei echter und wahrhaft fortschreitender Kultur all-
mählich bis auf kleine Reste verschwinden. Der gleichgeschlecht-
liche Verkehr dagegen sei tief in der Natur begründet und habe
seit den ältesten Zeiten bei allen Völkern bestanden; auch bei den
Tieren begegne man ihm oft. — Man könnte unsere hygienischen
und ethischen Verhältnisse ganz erträglich finden, wenn an den-
selben nichts weiter auszusetzen wäre, als das Vorhandensein eines
größeren oder kleineren Prozentsatzes von Homosexuellen, die in
sozialer Hinsicht nicht im entferntesten den gleichen Schaden an-
richteten wie die Prostitution.
Fischer verwahrt sich dagegen, daß er „pro domo" spräche.
Seine frühere Verachtung der Homosexuellen habe bei Vertiefung
in die Psychiatrie einer gerechteren Beurteilung Platz gemacht
Der Homosexuelle stehe in sittlicher Hinsicht hoch über den ver-
derbten heterosexuellen Lüstlingen, die im Verkehr mit dem Weibe
sich alles Mögliche erlaubten. Die Homosexualität sei eine an-
geborene abnorme Erscheinung, aber nicht widernatürlich; sie sei
wohl als eine Selbsthilfe der Natur anzufassen gegen die Über-
völkerung in denjenigen Gegenden, in denen die Dichtigkeit der
Menschen eine solche befürchten lasse. In Deutschland sei bei
dem fortschreitenden Bevölkerungszuwachs bald Übervölkerung zu
befurchten. Ein gewisser Prozentsatz von Homosexuellen werde,
weit entfernt, den Staat zu schädigen oder die Anzahl der Rekruten
unter den Bedarf herabzudrücken, im Gegenteil ein gesunder
Hemmschuh gegen Übervölkerung sein. Eine Beschränkung der
Übervölkerung dadurch, daß die Natur Urninge in größerer An-
zahl hervorbringe, sei jedenfalls erwünschter, als wenn Krieg,
Seuchen oder Hungersnot die Menschheit dezimierten. Die Gesetz-
gebung solle endlich die vielleicht geradezu nützlichen Homo-
sexuellen unbehelligt lassen. Die Härte des unsinnigen Ketzer-
paragraphen habe einst Spanien seiner besten Bürger beraubt und
seinen Wohlstand untergraben; möge Deutschland dafür sorgen,
daß nicht der § 175 eine ähnliche Wirkung erziele.
Das Schriftchen hebt nicht nur einige Gründe für
die Aufhebung der Straf bestinunung hervor, sondern —
und das erscheint besonders bemerkenswert — der hetero-
sexuelle Verfasser erkennt auch die Berechtigung der
Homosexualität an.
Jahrbuch VI. 30
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— 466 —
In einer Bespreehnnir der Brosehttre von
Sehneiekert^ Hans, Bechtspraktikant, im Archiv für
Kriminal -Anthropologie und Kriminalistik^ Bd. XIII,
Heft 1, 2, S. 186—187,
wird als das Neue der Schrift der Versuch bezeichnet, die Homo-
sexualität als Rorrektionsmittel der Natur gegen die Übervölke-
rung hinzustellen.
Daß dieser Gedanke neu wäre, ist nicht zutreffend.
Wenn auch Fischer ihn etwas eingehender entwickelt
und an der Hand einer ziemlich anschaulichen Schilde-
rung der in Deutschland drohenden Übervölkerung seine
Richtigkeit plausibel gemacht hat, so finden sich doch
ähnliche Anschauungen in verschiedenen früheren Schriften.
Recht hat dagegen Schneickert, der übrigens auch mit
der Aufhebung des § 175, welcher zum Schutz und zur
Fördenmg der Sittlichkeit nichts tauge, einverstanden ist,
wenn er die Behauptung Fischers, die Homosexualität
sei eine Selbsthilfe gegen Ühervölkerung in Gegenden,
in denen die Dichtigkeit der Menschen eine solche
befürchten lasse, als eine unerwiesene, nicht wahrschein-
liche Hypothese bezeichnet. In der Tat spricht dagegen
die Ubiquität des Homosexualismus, der ebenso an spär-
lich, wie an dicht bevölkerten Orten vorkommt.
Ich stimme Schneickert durchaus bei, daß Fischer
richtiger gesagt hätte: „Der Homosexualismus ist geeignet,
eine schädlich wirkende Übervölkerung zu verhindern,
auch darum sollte er nicht mit Strafe bedroht werden."
Fleischmann, Angnst, Ungeahnte Verbrechen. Ent-
hüllte Geheimnisse der Erpresserwelt Beiträge zur
Naturgeschichte der gleichgeschlechtlichen Liebe. Druck .
und Verlag von Fleischmann, München, 1903.
Schilderung von einigen Erpressungsfällen. Ein verheirateter
Major wird von einem jungen Burschen, mit dem er sexuell ver-
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— 467 —
kehrt hat, in den Tod getrieben. Ein homofeezueller Künstler
wird von einem gewissenlosen Menschen, der ihm Modell gestanden
und des Künstlers Natur erraten hat, ausgeplündert unter Drohung
mit Anzeige, obgleich der Künstler nicht die geringste homo-
sexuelle Handlang versuchte. — Einige weitere Fftlle raffinierter
Erpressung. — Verfasser sagt zum Schluß, daß es zur Zeit der
Münchener Polizei gelungen sei, das Überhandnehmen des Er-
presserwesens einzudämmen.
Flelsehmann, August, Der Fall Krupp und der
Caprese. Eine zeitgemäße Betrachtung. Druck und
Verlag von Fleischmann, München, 1903.
Es wird das törichte Vorurteil gegeißelt, dem Krupp zum
Opfer gefallen. Ohne diese veralteten Anschauungen hätte er. sich
seiner Liebe nicht zu schämen brauchen. Kein Fall habe so über-
zeugend gewirkt für die Haltlosigkeit und Ungerechtigkeit des
§ 175.
Meine Beurteilung der früheren Schriften von Fleisch-
mann (vgl. Jahrbuch V) gilt auch für diese beiden Bro-
schüren.
Flelsehmann, August, Der Seelenforscher. Psycho-
logisch-erosophische Zeitschrift, Nr. 10, 11, München.
Nur zwei Nummern dieser homosexuellen Zeitschrift sind mir
zu Gesicht gekommen. Die vierte Seite jeder Nummer enthält
zahlreiche homosexuelle Angebote und Nachfragen. Im übrigen
füllen das Blatt Gedichte, sowie verschiedene, im Geiste Fleisch-
manns gehaltene Prosastücke aus, darunter ein Aufsatz von Georg
Hofmann, „Von der vollkommensten Welt", welcher die umische
Liebe, weil sie Selbstzweck sei^ als die eigentliche, wahre Liebe
und das dritte Greschlecht als das „durch die Wand der
Tiergeschlechtlichkeit hindurchgedrungene einzige Weltseelen-
geschlecht" (! ?) darstellen will.
Frledlaender, Benedikt, Der Untergang des Eros
im Mittelalter und seine ürsaehen. Aus dem
angekündigten Buch „Die Renaissance des Eros üra-
nios". In der Juli-Nummer des „Eigenen** von Brand-
30*
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Die Ursachen der mit der Verbreitung des Christentums auf-
gekommenen Unterdrückung der gleichgeschlechtlichen Liebe seien
in dem asketischen Geiste des Christentums zu suchen. Die Askese
habe die Sündhaftigkeit der natürlichen Lüste und Triebe ver-
kündet, besonders die Geschlechtslust verpönt. Der mannweib-
liche Verkehr sei der Fortpflanzung des Menschengeschlechts wegen
nicht unter allen Umständen als etwas völlig Verwerfliches hin-
gestellt und seine Zulfissigkeit von der Genehmigung der Priester
abhängig gemacht, der mannmännliche Verkehr dagegen als bloße
Sinnenlust und deshalb nach der asketischen Schrulle als arge,
durch den Zweck der Arterhaltung nicht entschuldigte Sünde ganz
verurteilt worden. Aber nicht nur in dem Geist der Askese sei die
Ursache der Verfolgung homosexueller Liebe zu erblicken, sondern
auch in der Monopolisierung der Liebe durch die Weiber und die
Priester. Die Weiber hätten das ausdrückliche Monopol der Liebe
erhalten und die Priester das ihrer Einsegnung. Daher die Macht
beider und daher die homosexuelle Liebe als Verletzung dieser
Monopole aufgefaßt Da man andererseits eingesehen habe, daß
es sich um die Unterdrückung eines Grundtriebes des Menschen
handle, habe man die Monopolverletzung so außerordentlich grau-
sam bestraft.
Auch heute noch seien Frauen und Priester die ärgsten
Gegner einer Benaissance des Eros, da sie von ihr eine Gefähr-
dung ihrer Macht und ihrer Interessen fürchteten. Die Grund-
anschauung der Priester von der Sündhaftigkeit der sinnlichen
Liebe — eine wahre Wahnidee, eine geistige Seuche — habe das
ärgste Unheil in der Ent Wickelung der Menschheit angerichtet;
sie habe an Stelle der Wahrhaftigkeit des erotisch Gedachten und
Gefühlten Konvention und größt« Heuchelei in allen Gestalten
erzeugt. An Stelle des maßvollen Genießens sei heimliche Lüstern-
heit und Versteckspielen mit dem Geschlechtlichen getreten.
Das Übel sei an der Wurzel zu bekämpfen. Es müsse der
Grundsatz, verfochten werden, daß die natürlichen Triebe nicht
sündhaft seien, daß insbesondere der Liebestrieb und seine Be-
^edigung kein Verbrechen darstelle, wenn niemand dabei un-
gerecht verletzt werde.
Der Aufsatz, welcher in besonders geistreicher und
interessanter Weise die kulturell -psychologischen Ge-
sichtspunkte untersucht, läßt uns Gutes von dem an-
gekündigten Buche erwarten.
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— 469 —
Fachs, Hanns, mchard Wagner und die Homo«
sexnalltftt. Mit besonderer Berücksichtigung der
sexuellen Anomalien seiner Gestalten. Berlin» 1903,
Verlag von H. Barsdorf, 278 S.
Erstes Kapitel. ,yDas häufige Vorkommen der Homosexualität
bei bedeutenden Männern und die geistige Homosexualität/^ Die
völlige Kenntnis eines Menschen setze die Kenntnis seiner Sexualität
Toraus, daher sei die Erforschung der Geschlechtlichkeit der Geistes-
beroen von besonderer Wichtigkeit Dabei werde man finden,
daß bei vielen bedeutenden Männern neben den sogenannten nor-
ipalen Liebesempfindungen sogenannte perverse einhergingen oder
auch ausschlieBlich vorhanden seien.
Fuchs bespricht dann die Homosexualität einiger großen
Geister und teilt des weiteren die homosexuellen Stellen mit, die
sich in Goethes Werken finden. (Sie sind auch sämtlich in dem
Jahrbuch HI, S. 511 und 512 angeführt) Goethe sei in den Kern
des homosexuellen Problems absolut nicht eingedrungen und habe
in dem gleichgeschlechtlichen Verkehr stets nur eine Spielart des
sexuellen Genusses gesehen.* Trotzdem habe er die sittliche Kraft
der Homosexualität erkannt, wie einige Stellen aus dem Buche
„Winckelmann und sein Jahrhundert'' bewiesen.
Fuchs will außer der eigentlichen Homosexualität eine
sogenannte geistige Homosexualität unterscheiden.
Die geistige Seite der Homosexualität setze sich zusammen
aus den folgenden Eigenschaften: Aufmerksamkeit, Gefälligkeit,
Dienstbeflissenheit, Interesse für die Kunst, Interesse für Putz und
Ausstattung, Vorliebe für Blumen, Hang zur sogenannten natur-
gemäßen Lebensweise, Eigenschaften, die an Schwächen des Weibes
erinnerten, Freude am Klatsch, Kleinlichkeit usw. Fuchs teilt die
geistig Homosexuellen in drei Arten:
1. Diejenigen, die ihr Leben hindurch geistig homosexuell
blieben,
2. diejenigen, die ein Bedürfnis nach schwärmerischer Freund-
schaft hätten,
3. diejenigen, bei denen einmal der Trieb durchbräche, mit
Personen des eigenen Geschlechts zu verkehren, um bald wieder
— vielleicht auf Nimmerwiederkehr — zu verschwinden.
Ein Beispiel für den geistig Homosexuellen sei Brackenburg
in Goethes „Egmont''. Ein geistig Homosexueller der dritten
Gruppe sei Wagner.
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— 470 —
Zweites Kapitel. „Richard Wagners Leben bis zu seiner
Berufung nach München durch König Ludwig II. von Bayern."
Schon in dem jungen Wagner will Fuchs eine Anzahl weiblicher
Züge entdecken. Auch in den Gestalten der Wagnerschen Werke,
die Fuchs eingehend und meist eigenartig analysiert, findet er
geistig Homosexuelle. Der energielose Erik im „Fliegenden Hol-
länder** sei Zwischenstufe, Tannhäuser kein echter Mann, kein
Held und zu schwach, das Leben zu ertragen. Lohengrin gehöre
zu den weichen Männern Wagners, die unfähig seien, Kinder zu
erzeugen.
Die Männerliebe erwähne Wagner zuerst in seiner Schrift
„Die Kunst und die Revolution**, dann im „Kunstwerk der Zu-
kunft**. Wagner sei danach nicht nur von der Natürlichkeit,
sondern von der großen ethischen Bedeutung der griechischen
Liebe überzeugt gewesen. Aufopfernder Freundschaft begegne
man in seinem „Tristan** (Isolde und Brangäne; Tristan, Kur-
wenal). In Marke sieht Fuchs einen Homosexuellen ; nur dadurch
sei sein Verhalten begreiflich.
Drittes Kapitel. „Richard Wagner und König Ludwig II.
von Bayern.** Den eigentlichen Gnind der Berufung Wagners
nach München zum König erblickt Fuchs in Ludwigs Homo-
sexualität Ludwig habe in Wagners Schriften wohl zum ersten
Male in verständnisvoller Weise von der ihn beherrschenden
Männerliebe gelesen. Ohne Welt- und Menschenkenntnis habe er
nicht wissen können, daß zahllose Menschen seine Veranlagung
mit ihm teilten. Er sei nun bei Wagner Empfindungen begegnet,
wie sie ihn selbst bewegten, und habe nun mit doppelter Leb-
haftigkeit einen gleichgearteten Freund ersehnt. Auch lange nach
seinem Zusammenleben mit Wagner sei Ludwig noch nicht völlig
über seine Natur aufgeklärt gewesen; dies beweise seine Ver-
lobung. Die Ursache der Auflösung seines Verlöbnisses sei sicher
in der endlichen Erkenntnis Ludwigs von seiner wahren Natur-
anlage zu suchen.
Wagner selbst habe in Ludwig seine höchste, tiefersehnte
Ergänzung gefunden; König Ludwig sei ihm der Freund, nicht
ein Freund unter Freunden, gewesen, dem er das erste, höchste
Glück im Leben verdankt habe.
Das Verhältnis Wagners zu Nietzsche berührend, hält Fuchs
die Ansicht, Nietzsche sei homosexuell gewesen, für unrichtig.
Nietzsche sei überhaupt aller Erotik fern geblieben und auch
seine Verhältnisse zu Freunden hätten des eigentlich erotischen
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Elementes entbehrt. Dagegen könne man wohl Nietzsche an-
gesichts der Weichheit seiner Seele, der Tiefe und Zartheit seiner
Empfindungen, wie sie uns seine Biographie von Frau Nietzsche-
Förster und seine Briefe oflfenbarten, zu den geistig Homosexuellen
rechnen.
Viertes Kapitel. „Der Parsifal und die Erotik in Wagners
Musik." Fuchs gibt eine Erläuterung und Deutung des tieferen
Sinnes des letzten Werkes Wagners.
Bei Grurnemanz hebt Fuchs dessen tiefes Gefühl für jugend-
frische Männlichkeit hervor, das sich in seinem Verhalten gegen-
über den Knappen, mit denen er im Tone väterlicher Freund-
schaft verkehre, und gegenüber Parsifal, an dessen Seite er, seinen
Leib mit einem Arme umschlungen haltend, zur Gralsburg empor-
steige, offenbare.
Parsifal sei nicht eigentlich homosexuell. Er verschmähe
das Weib nicht, weil er es nicht lieben könne, sondern weil er
die Liebe zum Weibe als unedel erkannt. Hoch über der Liebe
zum Weibe sehe er die rein geistige Gemeinschaft der Gralsritter,
der Männer, und er zwinge sich, ihnen gleich zu werden, um in
ihre Mitte aufgenommen werden zu können.
Diesen Gedanken von dem Edeltum der idealen Männer-
gemeinschaft habe nur ein Mensch denken können, der zum min-
desten geistig homosexuell gewesen.
Die geistige Homosexualität des alten Wagner beweise der
Parsifal unzweifelhaft, aber aus dieser geistigen Homosexualität
sei der Schluß zu ziehen, daß Wagner in seinen jüngeren Jahren
sinnlich - geistige homosexuelle Empfindungen gekannt haben
Der Grundgedanke einer ,, geistigen Homosexualität'*
enthält einen richtigen Kern, wenn auch die Umgrenzung
und Definition des Wesens dieser psychischen Kategorie
nicht befriedigt Schon Westphal hat von der „wirk-
lichen" Homosexualität eine „unvollkommene" unter-
schieden, wo der Geschlechtstrieb zwar auf das ent-
gegengesetzte Geschlecht gerichtet ist, aber in Neigungen
und Gebaren weibliche Art (z. B. namentlich Sucht,
Weiberkleider - anzulegen , und überhaupt mehr oder
minder stark entwickelte Effemination) hervortritt
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— 472 —
Die geistige Homosexualität im Sinne Fuchs' ist nun
etwas Anderes, als die unvollkommene konträre Sexual-
empfindung Westphals. Fuchs geht weiter als Westphal
und zählt eine Anzahl von Eigenschaften als angeblich
typisch flir eine besondere Klasse von Menschen auf,
die jedoch viel zu wenig charakteristisch und allzu will-
kürlich gewählt erscheinen, als daß ihr Vorhandensein
zur Annahme einer sexuellen Zwischenstufe berechtigen
könnte.
Einen Hauptfehler begeht Fuchs, indem er schon
aus einer einzelnen Eigenschaft auf weibliche Art, auf
sexuelle Zwischenstufe schließt.
Weil Wagner gegen die Jagd eine Antipathie ge-
zeigt und insofern Weichheit an den Tag gelegt, will ihn
Fuchs Zwischenstufe nennen! Würde man diesen oder
jenen gefühlvollen, weichen Zug am Mann, diese oder
jene entgegengesetzte Eigenschaft am Weibe für ge-
nügend erachten, um eine Zwischenstufe anzunehmen, so
würde man überhaupt von Mann und Weib nicht mehr
sprechen können. Viel eher ließe sich als ein Zeichen
weibischer Artung die Vorliebe Wagners für seidene,
farbige Schlafröcke, überhaupt sein großes Interesse für
äußeren Prunk und Toilettesachen anführen, Einzel-
heiten, die Fuchs gar nicht berührt.
Dagegen ist es nicht statthaft, mit Fuchs die Sehn-
sucht des jungen Wagner nach Freundschaft an und für
sich als Merkmal einer sexuellen Zwischenstufe anzu-
sehen. Sehr richtig sagt Fuchs: ,,Der Eünstlermensch,
der Mensch mit einer verfeinerten Kultur gibt sich dem
Zauber der schönen Natur in der Gemeinschaft mit
einem Freunde hin. Der Durchschnittsmensch, der Nor-
malmensch, schwelgt in materiellen Grenüssen.^^ Sehr un-
richtig folgert aber Fuchs, daß eine solche Sehnsucht
nach geistigem Austausch mit einem Freunde das Merk-
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— 473 —
mal einer sexuellen Zwischenstofe darstelle, insbesondere
berechtigt nicht zu dieser Auffassung die von Fuchs an-
geführte, nicht einmal überschwengliche oder auffällig
sentimentale Stelle aus Wagners Jugendnovelle ,>Ein
glücklicher Abend'^ Ebenso könnte man Homosexuelle,
die z. B. gern mit Damen verkehren und die Gesellschaft
geistreicher Frauen lieben, geistig Heterosexuelle nennen.
Nur einmal findet man in Wagners Leben die Grenzen
des Freundschaftsgefühls deutlich überschritten, nämlich
in seinem Verhältnis zu König Ludwig. Hier möchte
ich von einem ZwischengefÜhl reden, das sich auf der
Grenze von Liebe und Freundschaft bewegte; auch
zwischen diesen Gefühlen kommen Übergänge vor, wie
in allen Erscheinungen in der Welt. Derartige schwär-
merische, aber nicht direkt homosexuelle Gefllhle mag
man geistig homosexuelle nennen und insofern kann die
Bezeichnung Wagners als eines geistig Homosexuellen
berechtigt sein.
An der Überspannung des Begriffes „Geistige Homo-
sexualität" leidet auch die Erklärung einiger Wagner-
schen Gestalten. Am meisten für sich hat die Deutung,
Marke sei homosexuell, obgleich ich kaum glaube, daß
Wagner ihn als solchen gedacht.
Trotzdem manche Übertreibungen und zu gewagte
Verallgemeinerungen in dem Buche von Fuchs störend
wirken, finden sich doch bemerkenswerte Gesichtspunkte
darin entwickelt; besonders verdienstlich und geistreich
ist die Analyse einzelner Wagnerschen Gestalten. Das
Ganze hätte durch große Kürzungen, namentlich auch
durch Vermeidung langer Auszüge aus fremden Werken
gewonnen.
Gaulke, Johannes, Das mannweibliehe Moment In
der Kunst In religiöser Beleuchtung, in der
„Gegenwart" vom 13. Februar 1904.
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— 474 —
Gaulke weist auf die Verbindung männlicher und weiblicher
Formen in den antiken Statuen hin. Die Geschlechtsgrenzen er-
schienen bei den G<)tter8tatuen fast verwischt. Der antiken Kunst
fehlten die Typen VoUmann und VoUweib. Ähnliches begebe
uns in der Mythe, die den Göttern ohne Unterschied des eigent-
lichen Geschlechts bald mfinnliche, bald weibliche Eigenschaften
andichte. Von diesem Gesichtspunkte aus bespricht Gaulke eiz|-
gehend den Aufsatz von Römer: „Über die androgynische Idee
des Lebens".
Gerllng, Kelnhold, Das Geschlecht. AufUäruDg über
alle Fragen des Geschlechtslebens, 1903. Verlag von
Möller & Borel, G. m. b. H., Berlin, Prinzenstraße 95,
Gratisbeilage der Zeitschrift „Vene Heilknnst^^
Das Blatt „Das Geschlecht" will, wie es im Vorwort der
ersten Nummer heißt, namentlich der Homosexualität besondere
Aufmerksamkeit widmen und als populäres Organ über den Stand
der Frage Aufklärung geben. Es beabsichtige keineswegs, das
gleichgeschlechtliche Empfinden zu verherrlichen, sondern wolle
nur um Duldung der homosexuellen Liebe werben. — Die homo-
sexuelle Frage behandeln:
Nr. 1. Bau, Hans, Die geistige Homosexualität. Ein
günstiger Bericht über das Buch von Hanns Fuchs: „Richard
Wagner und die Homosexualität".
Rau, Hans, Sittlichkeitsverbrechen? Besprechung des
Falles eines wegen Sittlichkeits vergebens mit einem Schüler ver-
urteilten Oberlehrers. Der Oberlehrer hätte als Kranker dem
Psychiater und nicht dem Richter überantwortet werden sollen.
Rau bekämpft die Anschauung, daß man Handlungen gegen die
Sittlichkeit als Bosheit und Schlechtigkeit auffasse. Er führt den
Fall des bekannten Sozialisten Dr. Schweitzer aus dem Anfang
der sechziger Jahre an und zitiert zwei interessante Briefe von
Lasalle, der trotzdem Schweitzer nicht habe fallen lassen und ihm
auch nachher seine Hochachtung gezollt.
In dem einen Briefe an den Frankfurter Bevollmächtigten
des Arbeitervereins heißt es:
„Auf einer wie unnatürlichen Verirrung auch das Dr. von
Schweitzer imputierte Vergehen beruht, so gehört es doch offenbar
zu jenen, die mit dem Charakter, worunter ich aber die sittliche
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— 475 —
Überzeugungstreue und Redlichkeit eines Menschen verstehe, die
noch dazu — worauf es hier allein ankommt — mit seinem poli-
tischen Charakter nicht das Geringste zu tun haben.^'
Und in einem Schreiben an Dr. Schweitzer sagt Lasalle:
,, Angenommen, daß das wahr gewesen sei, was damals die
Zeitungen über den Grund Ihrer Verurteilung brachten, so weiß
icli das Eine, daß jene bedauerliche und meinem Geschmack nicht
begreifliche Liebhaberei, die man Ihnen imputiert, zu jenen Ver-
gehen gehört, die nicht im geringsten mit dem politischen Cha-
rakter eines Mannes etwas zu tun haben.
Ein solches Auftreten (nämlich die infolge der Verurteilung
eingetretene allgemeine Ächtung Schweitzers, namentlich auch
seitens der Parteigenossen, Anm. d. Ref.) einem Manne von Ihrem
Charakter und Ihrer Intelligenz gegenüber beweist nur, wie ver-
wirrt und philiströs die politischen Begriffe unseres Volkes noch
sind.*'
Anonym, Homosexuelle in der Ehe. Ein an Gerling
gerichteter Brief einer an einen homosexuellen Mann verheirateten
Ehefrau, die über die eigentliche Natur und die Ursache der
zwischen ihr und ihrem Manne bestehenden geistigen Disharmonie
durch einen öffentlichen Vortrag Gerlings aufgeklärt worden. Seit-
dem sie wisse, daß die Eigentümlichkeiten ihres Mannes Äuße-
rungen einer natürlichen Anlage seien, sei ihr das Zusammenleben
mit ihm leichter. Sie suche auch nicht mehr die Natur ihres
Mannes zu bekämpfen oder sie ihm abzugewöhnen, da sie die
Macht der Psyche anerkenne.
Nr. 2. Müller, Dr. August, Homosexualität. Erklärung
der Homosexualität vom Standpunkt der bekannten Geruchstheorie
von Dr. Jäger.
Die Disharmonie gegen weibliche Duftstoffe bringe bei den
Homosexuellen einen Abscheu vor dem Weibe hervor und mache
sie impotent.
Nr. 3 u. 4. Schmidt, Dr. Alexander, Monosexualität.
Über die Schädlichkeiten des gleichgeschlechtlichen Verkehrs für
den Körper existierten noch die unsinnigsten Anschauungen. Des-
halb hauptsächlich wären auch die schweren Strafen gegen homo-
sexuelle Betätigung bisher bestehen geblieben.
(Dieser Grund spielt allerdings heute kaum mehr
eine Rolle in der Frage des § 175. N. P.)
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_ 476 —
Es sei ein verhängnisvoller Irrtnm, den Homosexualismus als
Laster, anstatt als Yerkehrang eines der mächtigsten Triebe zu
behandeln.
Die gewöhnliche Betätigungsform der Homosexuellen, die
mutuelle Onanie, sei weniger schädlich, als die einsame Onanie.
Aber sogar die Pygisten — so ekelhaft ihre Art auch dem Nor-
malen erscheine — täten der Gesellschaft nichts Übles.
Jedenfalls hätten die Mono- und Homosexuellen einen Vor-
zug. Sie seien keine Weiterverbreiter der Syphilis.
(Dieser letztere Satz ist nur bedingt richtig. N. P.)
Nr. 4 u. 5. Fleischmann, Unterm § 175 des Beichs-
Strafgesetzbuchs. Abdruck aus dem Schriftchen von Fleisch-
mann: „Ungeahnte Verbrechen".
Nr. 5. Eingesandt. Beherzigenswerte Ratschläge eines
Zuhörers hinsichtlich der bei der öffentlichen Aufklärung über
Homosexualität zu befolgenden Taktik.
Nr. 6 ist mir, weil angeblich vergriflFen, nicht bekannt
geworden.
Nr. 7. Eau, Hans, Homosexualität und Darwinismus.
Der Darwinismus beweise, daß die Homosexualität keine Ent-
artungstsrsch einung, keine naturwidrige, den Zwecken der Natur
entgegengesetzte Erscheinung sei, sonst wäre sie im Kampf ums
Dasein wie hundert andere Schädlichkeiten schon längst ver-
schwunden.
Diese Rechtfertigung der Homosexualität steht wohl
auf sehr schwachen Füßen. Denn sonst ließen sich ja
auch alle wirklichen von jeher existierenden Schädlich-
keiten und Entartungen gutheißen.
Adolph, Dr., Der Geschlechtstrieb. Die geschlecht-
liche Anziehung wird nach der Jägerschen Theorie aus der Aas-
dünstung erklärt. Der Geschlechtstrieb sei Geruchssache.
&ley, E., Les ab6rration8 de rinstinct sexuel, in
Etudes de psychologie physiologique et pathologique.
Paris, 1903, Alcan.
Diesen Aufsatz hat Gley schon im Januar 1884 in der
„Revue philosophique" veröflfentlicht.
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— 477 —
Er nahm an, daß die Homosexualität infolge Grewöhnung
und Degeneration erworben werden könne, hat aber schon damals
hervorgehoben, daß es Fälle gebe, wo ohne vorangehende homo'
sexuelle Gewohnheiten der homosexuelle Trieb sich gleichsam
natürlich und notwendig entwickele, wo es sich um Naturspiele
handle. Das Bemerkenswerte an diesem Aufsatz ist besonders der
Umstand, daß Gley zur Erklärung dieser Fälle bereits auf die
doppelte Geschlechtlichkeit des Embryo hingewiesen und die Ano-
malie auf eine Störung in den der anatomischen geschlechtlichen
Konstitution entsprechenden nervösen Eigenschaften zurückgeführt,
daß er schon damals von einem psychischen Herrn aphrodismus,
von einer weiblichen Seele in einem männlichen Körper ge-
sprochen hat.
Da der Aufsatz im Januar 1884 veröflFentlicht
worden ist, gebührt Gley wohl das Verdienst, als Erster
diese Theorie über die Entstehung der Homosexualität
aufgestellt zu haben. Kieman und Lydston haben später,
Krafft-Ebing, Hirschfeld und EUis erst in den Jahren
1894 — 1896 ähnliche Gedanken ausgesprochen.^)
In einem neu hinzugefügten Kapitel, in dem er verschiedene
seitherige Arbeiten bespricht, bemerkt Gley, daß das Problem der
Entstehung der Perversion immer noch nicht gelöst sei, daß man
immer noch nicht wisse, wie die Umkehrung der mit der Ge-
schlechtsfunktion korrespondierenden geistigen Eigenschaften mög-
lich werde.
Er verwahrt sich endlich dagegen, daß man, wie dies ge-
schehen sei, seine Angabe vom „weiblichen Gehirn im männlichen
Körper" buchstäblich auffasse. Er habe damit nur zum Ausdruck
*) Kieman, in American Lancet, 1884, und in Medi-
cal Standard, November — Dezember 1888, — Frank Lyd-
ston, in Philadelphia Medical and Surgical Recorder,
September 1888, soioie in Addresses and Essays, 1892, S, 46
und 246. — Krafft-Ebing, Zur Erklärung der konträren
Sexualempfindung, in Jahrbücher für Psychiatrie und
Nervenheilkunde, Bd. XIII, Heft 1, 1895, — Hirschfeld,
Sappho und Sokrates, 1896. — EUis, Die Theorie der
konträren Sexualempfindung, im Centralblatt für Nerven-
heilkunde und Psychiatrie, Februar 1896.
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— 478 —
bringen wollen , daß die Geschlechtlichkeit nicht nur durch den
Bau der Geschlechtsorgane, sondern auch durch eine Gesamtheit
von psychischen und nervösen Eigenschaften bedingt werde.
Oroß, Hans, Bespreehang der Jahrbtteher lY nnd Y,
im Archiv für Kriminal -Anthropologie und Krimi-
nalistik, Bd. XIV, Nr. 3 und 4.
Groß erkennt nunmehr direkt an, daß die Homosexuellen
Übergänge vom Weib zum Mann darstellen, die je nach ihrer
somatischen Entwickelung auf einer der unzähligen Stufen ständen,
die zwischen den beiden Geschlechtern von einer, man möchte fast
sagen, irrenden Natur aufgebaut worden seien.
Man müsse eigentlich sagen, jedes Individuum habe die
sexuelle Tendenz, zu welcher es durch seine Konstruktion getrieben
werde; sei diese vorwiegend männlich, so werde das Individuum
vom Weibe angezogen, und umgekehrt, und da diese Konstruktion
nicht bloß vom Bau der Geschlechtsteile abhänge, so könne ein
Individuum zwar nach diesem Bau dem einen Geschlecht, nach
seiner sonstigen Konstruktion jedoch dem anderen angehöreu.
Homosexualität sei also Konstruktionsergebnis; für seine
von der Natur erhaltene Konstruktion könne der Einzelne aber
nicht verantwortlich gemacht werden und so sei Homosexualität
nicht strafbar, so lange sie nicht öffentliches Ärgernis errege oder
Jugendliche verführe. Das sei die Konzession, die man den
Homosexuellen sinngemäß machen müsse und die man ihnen auch
machen wolle. Sie müßten aber den Normalen gestatten, ihr
Wesen unnatürlich und abstoßend zu finden. Sie sollten auch die
fortwährenden Beweisversuche unterlassen, daß sie besonders her-
vorragende nnd liebenswürdige Menschen unter den Ihrigen be-
säßen.
0
Von diesem Gesichtspunkte aus die Jahrbücher beurteilend,
stimmt Groß der Forderung auf Beseitigung des § 175 bei, da-
gegen widerspricht er dem Verlangen nach Gleichstellung mit den
Normalen. Letzteres würden die Homosexuellen nie erreichen:
Das Unnormale stoße ab; wolle man dies ändern, so müsse mau
die Naturgesetze ändern; damit hätten sich die Homosexuellen
abzufinden.
Das Ziel der Homosexuellen und des Komit^s ist
allerdings noch ein weiteres als dasjenige der Aufhebung
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— 479 —
des § 175. Trotz der dieses weitere Ziel ablehnenden
Haltung von Groß wird aber vielleicht doch eine Ver-
ständigung möglich sein^ wenn festgestellt wird^ was mit
dieser Gleichwertung gemeint sein soll.
Auch ich verstehe darunter nicht übertriebene For-
derungen exaltierter Homosexueller oder auch nur solche,
wie sie die ,^neueste Bichtung^' auf ihre Fahne schreibt
und wie ich sie weiter unten entschieden und in aus-
führlicher Begründung zurückweise. Demnach bin auch
ich der Meinung, daß Gedanken an Ehen zwischen Homo-*
sexuellen oder überhaupt an öffentlich anerkannte Liebes-
verhältnisse, an offene Werbung Homosexueller um er-
korene Lieblinge, an Umwälzung der Kultur auf Grund
einer Anerkennung der homosexuellen Liebe Utopien sind
und bleiben werden. Dagegen ist eine Gleichwertung
der Homosexualität mit der Heterosexualität möglich
und wünschenswert in dem Sinne, in dem sie schon jetzt
Groß selber anerkennt, d. h. es gilt, die Auffassung zu
verbreiten, daß die Homosexualität aus der angeborenen
Natur des Homosexuellen resultiert, daß sie, wie Groß
sich treffend ausdrückt, Eonstruktionsergebnis ist und
daß daher keinem Homosexuellen aus dieser seiner Natur
und aus der innerhalb der auch dem Normalen gesetzten
Grenzen erfolgenden sexuellen Befriedigung ein Vorwurf
des Lasters und der Unsittlichkeit gemacht werden darf.
Es gilt weiter dafür zu sorgen, daß auch im praktischen
Leben aus dieser Anschauung die Eonsequenzen gezogen
werden, daß der Homosexuelle auch wirtschaftlich nicht
wegen seiner homosexuellen Natur geschädigt und sozial
geächtet wird, daß also der Homosexuelle, dessen anor-
males Liebesleben ruchbar geworden, deswegen nicht
aus der Gesellschaft ausgeschlossen, der homosexuelle
Offizier nicht entlassen, der urnische Beamte nicht dis-
zipliniert wird usw.
Wird das wahre Wesen der Homosexualität all-
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— 480 —
gemein anerkannt und in dem obigen Sinne die Grleich-
Wertung der Homosexualität mit der Heterosexualität
erreicht, dann wird auch der bisherige Ekel der Nor-
malen gegenüber den Homosexuellen beseitigt oder
wenigstens stark vermindert Denn dieser Ekel beruht
zum großen Teil auf der irrigen Voraussetzung, der
Homosexuelle sei ein durch Ausschweifungen herab-
gekommener Heterosexueller. Die instinktive, aus der
anders gearteten Natur fließende Abneigung des Nor-
malen gegen die Homosexualität an und für sich wird
bleiben, aber deswegen braucht der Ekel der Normalen
gegen den gleichgeschlechtlichen Verkehr als solchen sich
nicht auf den homosexuellen Menschen zu erstrecken.
Dieser Ekel vor dem homosexuellen. Menschen wird mit
der richtigen Erkenntnis des Wesens der Homosexualität
bei den meisten Heterosexuellen schwinden. Mir ist
schon jetzt eine Anzahl von Fällen bekannt, in denen
Homosexuelle ihre Natur gewissen Heterosexuellen, zu
denen sie volles Vertrauen haben konnten, geoffenbart
haben. So weit ich Einblick in diese Fälle bekommen
habe, steht für mich fest, daß der über das Wesen der
Homosexualität aufgeklärte Heterosexuelle nicht das min-
deste Gef&hl des Abscheues oder Ekels gegenüber dem
sich ihm anvertrauenden Homosexuellen empfindet.
Auch die Behandlung historischer homosexueller Persönlich-
keiten hfilt Groß nicht für angebracht. Diese Aufsätze könnten
höchstens dem Zweck der Unterhaltung von Homosexuellen dienen,
ob ein Hößli, eine Maupin usw. homosexuell gewesen, sei gleich-
gültig.
Hierin kann ich Groß nicht beistimmen. Zur rich-
tigen Beurteilung historischer Persönlichkeiten und ihrer
Psyche ist die Kenntnis ihrer sexuellen Natur von größter
Bedeutung. Das Studium auch weniger berühmter Uranier
ist von hohem psychologischen Interesse und kann die
Wichtigkeit der Homosexualität auf den verschiedenen
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— 481 —
Gebieten des Lebens zeigen. Die Berechtigung der £r«
forschung merkwürdiger geschichtlicher Persönlichkeiten
an. und fllr sich — mögen sie nun mehr oder weniger
berühmt sein — hat bisher wohl niemand geleugnet
Warum diese Berechtigung dem Studium über homo-
sexuelle Persönlichkeiten aberkennen?
Endlich wendet sich Groß gegen das Oberhandnehmen der
homosexuellen Literatur nnd wiederholt seine schon im vorigen
Jahre ausgesprochene Befürchtung, Unentschiedene könnten durch
den Einfluß dieser Literatur homosexuell werden. Er meint, auch
bisherige Gegner des § 175 könnten bedenklich werden, wenn
diese Produktion und deren literarische Unterstützung sich steigere.
Ich kann in diesem Punkte nur auf meine Torj ährige
Erwiderung verweisen und gleichzeitig auf Näckes An-
sicht, daß gegen eine anständige homosexuelle Literatur
— und zwar auch belletristische, der gerade zahlreiche
interessante und psychologisch bedeutsame Probleme ge-
boten würden — nichts einzuwenden sei.
O^randmaim, Wer ist der MSrder? Das Verbrechen des
Sadisten Dippold. Aufklärungen über Sadismus,
Masochismus ^ Fetischismus und sonstige konträre
Sexualempfindungen. Pößneck in Thüringen, Schnei-
ders Nachf.
Das Schriftchen gibt einen Bericht über die Verhandlung
des Prozesses Dippold, dem einige kurze Bemerkungen über die
geschlechtlichen Anomalien vorangehen , wobei Verfeisser . den
Fehler begeht, die verschiedensten Anomalien, wie das schon im
Untertitel geschehen, unter dem Begriff der '„konträren Sexual-
empfindung^' zusammenzufassen.
Konträre Sexualempfindung bedeutet lediglich gleich-
geschlechtliche Liebe und hat an und für sich mit Sadis-
mus, Masochismus usw. nichts zu tun.
Das Schriftchen hebt hervor, daß die Kenntnis über die Ver-
breitung der sexuellen Anomalien mehr verallgemeinert werden
Jahrbuch VI. 31
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müsse» damit jedermann vor gemeingefährlichen Individuen, wie
Dippold, auf der Hut sein könne. Der Prozeß Dippold habe ge-
zeigt, daß sogar wissenschaftlich gebildete Leute eine grobe Un-
kenntnis der einschlägigen Fragen und eine Unsicherheit des
Urteils verrieten, die Staunen errege.
Hafteer, Hermann, ünzaeht. Separatabdruck aus dem
Don Quixote, Nr. 3. Verlag des Don Quixote,
Wien I, Bauernmarkt. 60 Pfg.
Das Schriftchen geißelt in beredten, oft etwas populär derben
Worten die Verfolgung der homosexuellen Liebe und wendet sich
besonders gegen die Anschauungen Wachenfelds, wie er sie in
seinem Buche „Homosexualität und Strafgesetz^' ausgesprochen.
Wachenfeld sei dem Zuchtbullen zu vergleichen, der in blinder
Wut sich auf die wehrlosen angeschirrten Zugochsen stürze, da
ihm der Konträrsexuelle dasselbe Ärgernis gebe, wie der Ochse
dem Bullen. Jurist und Bulle fänden sich auch in der prin-
zipiellen Ignorierung des Nutzwertes solcher Mittelstufen von
Mann und Weib zusammen.
Die falsche Anschauung Wachenfelds von dem angeblichen
Untergang der Völker infolge der Homosexualität sowie seine
sonstigen unhaltbaren Theorien werden bekämpft.
Die konträre Sexualempfindung entstehe ganz spontan als
naturliches Mittel- und Übergangsglied von einem Greschlecht
zum anderen. Es gebe aber auch eine durch elterliche Schuld
angezeugte Homosexualität. Wenn nämlich zwei Eltern sich
haßten, übertrage sich dieser Haß oft auf das Kind in Grestalt
der konträren Neigung. Ähnlich könne Homosexualität ent-
stehen, wenn z. B. eine bigotte Ehefrau selbst den ehelichen
Geschlechtsverkehr als Sünde betrachte, endlich auch aus Ehen
Konträrer. Die angezeugte und die hereditäre Form der kon-
trären Sexualempfindung seien nichts anderes als Heilungs versuche
der gütigen Natur, um durch schmerzloses Aussterbenlassen die
schlimmen Folgen menschlicher Habgier und widernatürlichen
Hasses zu beseitigen. Jurist und Theologe störten in ihrer Blind-
heit, die den heilsamen Willen der Natur nicht zu erkennen ver-
möge, diesen raschen, in einer Generation schon zu Ende
gehenden Heilungsprozeß und züchteten durch ihren Eingriff das
Unheil weiter.
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— 483 —
Herman, 0^., Oenesis. Bas Gesetz der Zengung.
5. Bd. Libido und Manla. Untersuchungen über
Sexualprobleme. Leipzig, 1903, Verlag von Arwed
Strauch.
Von der Behauptung ausgehend, daß die materiaüstische
Naturforschung überwunden und nicht f&hig sei, die Fragen des
Sexualtriebes befriedigend zu lösen, will Herman zu ihrer Er-
forschung nicht bloß den Intellekt, sondern besonders die Intui-
tion zu Hilfe nehmen. Die sexuellen Anomalien, die er unter
dem Begriff „Mania** — nach dem Verfasser ein ungesundes, un-
heimliches Wesen — zusammenfaßt, hätten ihre Ursachen in dem
Vorkommen aller möglichen Übergänge zwischen dem typischen
Weibe und dem typischen Manne.
In jedem Weibe seien männliche, in jedem Manne weibliche
Keime und Eigenschaften enthalten. Jeder Mensch sei ein ver-
steckter Zwitter und diese latente Androgynie aller mikrokosmi-
schen Kreaturen sei wesenseins mit der Bipolarität des makro-
kosmischen Universums. Diese Androgynie, die Herman wenig
geschmackvoll „Beideinigkeit" nennt, sucht Verfasser schon in der
Entstehung der Geschlechtsorgane nachzuweisen.
Wo die sexuelle Differenzierung aus dem ursprünglich neu-
tralen Embryo nicht genau sich vollzöge, entständen bisexuelle
Mißbildungen.
Die Libido sexualis erklärt Herman aus dem Gesetz der
Polarität, der Anziehung. Alle Menschen könne man einteilen in
Asexnelle, bei denen die geschlechtliche Polaritätsspannung noch
derart neutralisiert sei, daß ein sexuelles Gleichgewicht bestände
und sie keiner zweiten Person zur Befriedigung bedürften. In
Bisexuelle, welche den embryonalen Zwitterzustand in irgend einer
^sycho-physischen Form schwankender Beidgeschlechtlichkeit ^ent-
wickelt hätten, normal und anormal. In Suprasexuelle, die die
Vita sexualis überwunden hätten.
Zu dem Bisexualismus rechnet Herman einmal den Herm-
aphroditismus verus und den Pseudohermaphroditismus. Zu letz-
terem zählt er — hierbei völlig vom üblichen wissenschaftlichen
Sprachgebrauch abweichend, welcher unter Pseudohermaphroditis-
mus nur die Mißbildungen an den Geschlechtsteilen versteht —
auch alle die Fälle, wo überhaupt, auch ohne solche Mißbildungen,
sekundäre Geschlechtscharaktere des anderen Geschlechts oder
konträrer Trieb auftreten.
31*
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— 484 —
Herman wirft die Frage aaf, ob es überhaupt rein hetero-
sexaelle Normalmenschen gebe, ob nicht etwa die Normalität
lediglich darin bestehe, daß die latenten androgynen Spannungen
nicht den geeigneten, die Reaktion auslösenden Reizen begegneten.
Unter dem Asexualismus erörtert Herman die Infantilen und
Wolfskinder, die Kastration, den Autoerotismns und die Masturbation.
Unter dem Bisezualismus bespricht der Verfasser zunächst
die normale Bisexualität. Schon beim normalen Menschen begegne
man oft einer bisexuellen Geistesanlage. Beispiele: Das oft weib-
lieh zart anmutende Seelenleben großer Männer, der Emanzipations-
kampf der modernen Frau. Die Bücher der Männer verrieten
heutzutage immer mehr weibliches, ja weibisches Empfinden, die
der Frauen immer mehr männliche Denkweise. Ein weiterer Be-
weis für die normale Bisexualität sei beim Manne die Andeutung
eines monatlichen Rhythmus des Pulses analog der monatlichen
Funktion beim Weibe. Auch periodische Sexualblutungen seien
beim Manne schon festgestellt worden.
Im Gegensatz zur normalen Bisexualität unterscheidet Her-
man die anormale, die aus einer gestörten Harmonie der normalen
entstehe. Er zählt dazu nicht nur das physische Zwittertum,
sondern beinahe alle sexuellen Anomalien, denen er spezielle Ab-
schnitte widmet.
Ein großes Kapitel behandelt den Uranismus und die Les-
bomanie. Die Bestrebungen des Komitees billigt er und verlangt
die Aufhebung des § 175. Auch bei männlichen äußeren Ge-
schlechtsteilen handle es sich beim Homosexuellen um ein ver-
stecktes Weib. Bei der Existenz der zahlreichen Zwischenstufen
zwischen den sexuellen Polen könne man niemals mit Sicherheit
behaupten^ man habe es mit Liebe zwischen Personen gleichen
Geschlechts zu tun.
Die Entstehung des homosexuellen Triebes durch Vererbung
wird verfochten auf Grund der Theorie Ki-aflPt-Ebings von der
auch im cerebralen Zentrum vorhandenen Doppelgeschlechtlich-
keit. Jedenfalls finde sich unter den Vererbungstendenzen sowohl
die Neigung zum männlichen als zum weiblichen Geschlecht, so
daß für eine Grundlage dieser beiden Richtungen des Geschlechts-
triebes von vornherein alles gegeben zu sein scheine. Ja, man
könne noch weiter gehen. Da von der Mutter auch die Ver-
erbungstendenzen von deren Vater stammten und vom Vater die
von dessen Mutter, so würde selbst ein Individuum genügen, um
HeteroSexualität und Homosexualität auf die Nachkommen zu
vererben.
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— 485 —
Unter Benutzung der Theorie von Moll und derjenigen von
Dessoir über das Stadium des undifferenzierten Greschlechtstriebes
zur Zeit der Pubertät betont Herman, daß man psychische und
somatische (d. h. Vorhandensein der körperlichen Zeichen dafür)
Pubertftt unterscheiden müsse und daß die Stadien des differen-
zierten und undifferenzierten Geschlechtstriebes nur an die psychi-
sche Pubertftt anknüpfen könnten. Vor der somatischen Pubertät
beständen mitunter schon Neigungen sexuellen Charakters; mit
dem weiteren Fortschreiten der psychischen Pubertät erfolge oft
eine Umwandlung der undifferenzierten sexuellen Neigungen,
und zwar so, daß die bisherigen homosexuellen Triebe den
heterosexuellen wichen. Dies geschähe zweifellos nicht infolge
äußerer Einflüsse, sondern auf Grund ererbter Grundlage ointer
der Wirkung der Pubertät Jedenfalls sei nicht in dem Um-
stände, daß die Homosexualität sich vor der Pubertät zeige, der
Hauptgrund dafür zu erblicken, daß sie ererbt sei, sondern mehr
darin, daß zur Zeit der Pubertät die Homosexualität sich (nicht
in die Heterosexualität umwandle.
Sämtliche Anomalien will Herman aus seinem Polaritäts-
gesetz erklären, wonach der lebende Körper in allen Dingen ein
elektro- chemisches polargespanntes System sei und bei manchen
Individuen psychophysische Hemmungen und Isolationen weg-
fielen. In dem gleichen Gesetz der polaren Wesensart des Ge-
schlechtslebens, wie sie sich in der meistens latenten, oft aber
phänomenalen Hermaphrodisie des Menschen kundgebe, sucht er
auch den Schlüssel zur Deutung der Erscheinungen des Sexual -
Okkultismus (Incubi, Succubi, Vampyrismus, Satanismus), über die
er sich des näheren verbreitet.
Die Ausführungen Hermans über das Angeborensein
der Homosexualität und ihre Entstehung auf Grund der
bisexuellen Anlage des Menschen sind das Beste an dem
Buche. Auch die besondere Behandlung der — bisher
gewöhnlich vernachlässigten — normalen Bisexualität und
der EUnweis auf ihre Bedeutung für das Verständnis der
Vita sexualis verdient Beachtung.
Der Versuch Hermans, für die sexuellen Probleme
eine neue Lösung zu finden, ist anerkennenswert und
sein „Polaritätsgesetz^^ bietet ein nicht unbedeutendes
Interesse, doch wäre eine tiefere wissenschaftliche Ejr-
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— 486 —
gründung und Klarlegang des Gesetzes am Platze ge-
wesen.
Das Buch enthält manchen anregenden Gedanken,
aber die folgerichtige, systematische Durcharbeitung läßt
zu wünschen übrig. Herman hat sehr viel von den ver-
schiedensten Forschem zusammengetragenes Material be-
nutzt, besonders in hohem Maße die Arbeiten Molls.
Dies hat aber Herman nicht gehindert, im Vorwort zu
behaupten, Moll entwickele in seiner ,,Libido sexualis'^
über Angeborensein und Erworbensein „derart verworrene
philosophelnde Gedankenblüten, daß man erschaudern
müsse über die Zerrüttung aller vernünftigen Reflexion,
welche ein unverständiger und unverstandener Darwinis-
mus in den Gehirnwänden unserer empirischen Natur-
forscher angerichtet habe".
In einem Buche, das kein Sachverständiger auch
nur in den entferntesten Vergleich stellen wird mit Molls
bedeutsamen, in bewundernswürdiger Klarheit, Logik und
Schärfe gehaltenen Untersuchungen über die Libido sexua-
lis, erscheint der Ausspruch Hermans als eine arge Über-
hebung und eine völlig falsche Beurteilung.
Hirsi^hfeld, Dr. Magnus, Das umisehe Kind, in der
Wiener medizinischen Presse, 1903, Nr. 39 und 40,
sowie in der Zeitschrift für Kindererforschung, Die
Kinderfehler, Nr. 2. Vortrag, gehalten auf der 75. Ver-
sammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu
Kassel.
Der Vortrag ist fast ganz die Wiedergabe des gleichlautenden
Kapitels aus „Der umisehe Mensch^^
Eine erfreuliche Tatsache, daß auf der Versamm-
lung der Naturforscher ein wirklicher Sachverständiger
über Homosexualität gesprochen hat.
In der dem Abdruck des Aufsatzes in der Zeitschrift „^ie
ELinderfehler'^ beigegebenen Nachschrift bezeichnet die Schrift-
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leitung die Anjsfuhrangen Hirschfelds als intereseaut und beachtens-
werty fügt aber etwas skeptisch hiuza, es frage sich, ob alle die
ErscheinuBgen unbedingt homosexuell zu deuten seien, und be-
merkt in einem durch die anscheinende Unkenntnis der Materie
entschuldbaren, etwas gehflssigen Tone, es frage sich auch, ob
mancher haltlose Urning seine unverständigen widernatürlichen
Handlungen nicht durch solche Ausdeutungen zu beschönigen
trachte.
Hoy, Senna, Bas dritte Oesehlecbt. Ein Beitrag zur
Volksaufkläning. Unter Mitarbeit von Aug. Behnsen,
Caesareon, Adolf Brand, Panl Enderling und mit
Benutzung zweier im ^^ Kampf ^^ erschienenen Artikel
herausgegeben von Senna Hoy. Selbstverlag des
Herausgebers, Februar 1903. 10 Pf.
Das Schriftchen will über das Wesen der Homosexualität
aufklären und die Ungerechtigkeit des § 175 nachweisen.
Senna Hoy, „Das dritte Geschlecht'', hebt unter anderem
hervor, daß das Gef&hl des „Außer -dem- Gesetz- Lebens '^ das
sexuelle Moment bei den Homosexuellen zu fast ausschließlicher
Herrschaft gelangen lasse. Er bemerkt jedoch, daß er unter den
Homosexuellen die begabtesten, edelsten Menschen gefunden habe.
Bei den meisten sei das gesamte Wesen vom Gewohnten ab-
weichend, nicht bloß die sexuelle Seite. Hoy betont, daß er nicht
in eigener Sache spreche, aber nach reiflichster Überlegung sich
entschlossen habe, für unschuldig Verfolgte einzutreten.
B e h n s e n, „Homosexualität und Entwickelungslehre^', zeigt die
Homosexualität als natürliche Erscheinung, die auf Grund der in
jedem Menschen vorhandenen Doppelnatur sich entwickle. Durch
den § 175 würden viele nützliche Mitmenschen in die Finsternis
einer geheimen Lebensführung gestoßen, der Lebensfreude beraubt
und in ihrer Tatkraft gelähmt Dadurch würden dem Staate zu
seinem Nachteil wertvolle Kräfte auf allen Geoieten entzogen.
Die Aufhebung des § 175 werde offenbar zur Reinigung sittlicher
und zur Hebung wirtschaftlicher Verhältnisse beitragen.
Paul Enderling wendet sich in dem Abschnitt „Die Homo-
sexualität — eine Krankheit?^' gegen die Auffassung, als sei die
Homosexualität eine Ejrankheit, und beruft sich zum Beweis des
Gegenteils auf die alten Griechen. Caesareon gibt einen Brief
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wieder, den er an die „Laterne'' gesandt als Erwiderung auf den
gehässigen Artikel von Alexis Schleimer, ,,Das perverse Problem^'.
In diesem Schreiben bekennt sich Oaesareon selbst als Homo-
sexuellen und schildert seine eigenen Liebesgef&hle.
Diese Broschüre ist nicht eine der schlechtesten von
den in den letzten Jahren zahlreich erschienenen Volks-
und Aufklärungsschriftchen. An die beste dieser Schriften,
Hirschfelds „Was soll das Volk vom dritten Geschlecht
wissen?", reicht sie aber nicht heran, es fehlt ihr die
wissenschaftliche Gediegenheit und der ruhige, von un-
nützer Überschwenglichkeit freie Ton. An manchen
Stellen finden sich Übertreibungen, z. B. in der Schil-
derung der Homosexuellen als fiast stets außergewöhn-
lich begabter, mit besonders schönen Charaktereigen-
schaften ausgestatteter Menschen.
Eumlg, Der Neo -Nihilismus, Antl- Militarismus,
Sexualleben. (Ende der Menschheit) Leipzig, 1901,
Spohr.
Die Philosophie Kuruigs gipfelt in dem Satze, daß das Leben,
der Wille, das Dasein selbst stets ein Leiden sei, daß Erzeugung
von Nachkommen bedeate, Leben und Leiden anderen Wesen
aufbürden, neue Menschen unglücklich machen, daß daher die
Erzeugung zu verwerfen sei und der, welcher keine neuen Menschen
zeugen wolle, moralischer handle als der, welcher Nachkommen
in die Welt setze. Von dieser philosophischen Anschauung aus
bewertet Kumig das gesamte Geschlechtsleben und insbesondere
die Homosexuiüität anders, als es gewöhnlich geschieht. Die
Homosexualität wird berührt S. 61, 76—80, 187—140, 159. Viele
Erscheinungen auf sexuellem Gebiete, insbesondere die Homo-
sexualität, die iieute als krankhaft, als anormal angeschrieben
ständen, es aber durchaus nicht immer seien, verdienten keines-
wegs Bekämpfung mit Grundsätzen und Hilfsmitteln, welche die
Prokreation für das Höhere erklärten. • Wenn sich die Ärzte ein-
mal auf . den hochmoralischen Standpunkt der Verneinung des
WiUens zum Leben aufschwingen würden, so würden sie die
Homosexuellen nicht mehr „heilen" wollen, um aus ihnen Familien-
väter zu machen. Auch die Selbstmorde, die Homosexuelle wegen
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ihres Trieblebens begingen, seien kein Grand zu Heilnngsver-
snchen. Die Ärzte s&hen nicht, Haß die eigentliche Triebfeder
zum Selbstmord in diesen Fällen der Pessimismus des betreffenden
Individuums und sein hochherziges Verschmähen der* Prokreation
gewesen sei.
Kumig verlangt gleichfalls Beseitigung des § 175 und be-
gehrt in allen Fällen sexueller Delikte vollkommene Öffentlichkeit
der Gerichtsverhandlungen, namentlich um das Publikum über die
Erpresserschliche au&i^ären und die Erpresser besser zu ent-
larven. Er will, daß bei Beurteilung von Sexualdelikten kein
Unterschied gemacht werde, ob Homosexuelle oder Heterosexuelle
daran beteiligt seien.
In unserer optimistischen judäisierten „Kultur"-Umgebung
stehe die Homosexualität in Mißkredit Vielleicht weniger wegen
des Charakters dieser oäer jener sexuellen Handlimg, als deshalb,
weil ein „überzeugter** Homosexueller grundsätzlich nicht prokreiere,
dies Nichtprokreieren ein Symptom von Pessimismus und der
Pessimismus in unserer „Kultur**-Umgebung ganz verrufen sei.
Einen kleinen, sehr kleinen Schopenbaner, einen
winzigen Hartmann, eine blasse Abart der gewaltigen
philosophischen Systeme dieser großen. G-eister wird man
in Kumigs Broschüre finden. Kumig bietet nicht viel
mehr als philosophische Variationen im Geiste eines
ernsten Tagesjournalisten. Er sieht alles Heil für die
Erlösung vom unseligen Willen zum Leben mehr in der
Vermeidung seiner äußeren Wirkungen, als in der Ver-
neinung dieses Willens selber. Daher seine höhere Be-
wertung der die Eindererzeugung verhindernden Homo-
sexualität. Aber gerade bei den meisten Homosexuellen
tritt der Wille zum Leben an und für sich in der
sexuellen Begehrlichkeit lebhaft zutage und der Selbst-
mord der Homosexuellen ist nicht auf die Verneinung
des Willens zum Leben, sondern auf eine Überschätzung
des Willens zum Leben, auf die Verzweiflung wegen der
Schwierigkeiten und Hindemisse in der Bejahung des
Willens zum Leben zurückzuführen.
Allerdings leidet dieser Wille zum Leben beim Homo-
sexuellen Schiffbruch, indem er nicht sein höchstes Ziel,
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die Erzeugung tod Nachkommen, erreichen kann. Dieser
Schiffbruch, diese Unmöglichkeit, den Zweck des Willens
zum Leben zu erfüllen, ist nun, wie Kumig mit Recht
ausführt, eine Hauptursache der Verachtung, welche die
diesen Zweck als das Höchste bewertenden Hetero-
sexuellen den Schiffbrüchigen in der Erfüllung des Wil-
lens zum Leben, den Homosexuellen, entgegenbringen.
Philosophische Systeme werden den in der All-
gemeinheit regen Willen zum Leben und die Hoch-*
Schätzung seiner Wirkungen nicht beseitigen können,
trotz aller Schilderungen von dem Unglück und Elend,
die das Leben und der Wille zum Leben zur Folge
haben. Aber sie werden immerhin dazu beitragen, durch
Veranschaulichung dieses Elends den Wert des auf Er-
zeugung von Nachkommen und Vermehrung des Elends
hinzielenden Lebenstriebes herabzusetzen, sie werden mit-
helfen, eine weniger verächtliche Anschauung über die
zwar vom Willen zum Leben beseelten, aber zur Er-
reichung seiner Wirkungen unfähigen Homosexuellen her-
beizuführen.
La Cara, La base organica dei perrertimenti ses-
suaii e la loro Profllassl sociale. Torino, 1902,
114 S., L. 2.0
Diese geistreiche Schrift mit vielen ausgezeichneten Be-
merkungen, besonders bez. der Familien- und Schulerziehung, geht
weniger auf die klinische Darstellung der sexuellen Perversionen
(Masochismus, Sadismus, Fetischismus, Inversion) ein, als vielmehr
auf ihre ätiologische , indem zuerst die Meinungen der verschie-
denen Hauptautoren erwähnt und kritisiert werden, dann die
eigenen, sachlich meist sehr fragwürdigen, des Verfassers folgen.
Da das Thema eigentlich ein rein ärztliches ist, hätte er des
Juristen Niceforo nicht zu erwähnen brauchen. Ziemlich über-
flüssig ist, die Auffassungen Lombrosos anzuführen, der in sexuellen
*) Die Besprechung rührt von Med.- Bat Dr. P. Näcke in
Hubertusburg her.
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— 491 ~
Dingen, bei tins wenigstens, absolut nicht als Autorität gilt. Ver-
fasser kennt keine scharfe Grenze zwischen Perversion und Laster,
da beide für ihn angeboren sind (? Ref.). Die ersteren sind
Geisteskrankheiten (immer? Ref.); heilbar sind alle, die daran
leiden, wenn sie zum Arzt gehen und noch nicht „tief degeneriert^*
sind(?). — Die bleibende Onanie wird bewirkt durch die taktile
und psychische Unempfindlichkeit des Penis (? Ref.), was fast
nur bei großem Gliede eintritt (? Ref.). Eins der Anzeichen ist
auch das Nägelkauen (immer? Ref.). Auch der Masochist hat
einen relativ wenig empfindlichen Penis (Beweis? Ref.) und viel-
leicht gibt der Nervus pudendus Reize an die nates ab (! Ref.).
Der Sadismus ist eine Form der Epilepsie oder Hysteroepilepaie
oder folgt ihr nach (? Ref.). Der Cunnilingns ist manchmal eine
Art Fetischismus oder „Mixoskopie" oder des „erotischen Altruis-
mus^' usw. (? Ref.). Alle Homosexuellen lügen (?); es gibt nicht
nur aktive Päderasten; die Päderastie kann man gut mit der
Theorie von Mantegazza erklären (?).
Verfasser hat von Homosexualität also recht selt-
same Begriffe und auch sonst bietet das interessante
Buch der Kritik viele Angriffspunkte dar.
Leuß, Hans, Aus dem Zuchthause. Verbrecher und
Strafrechtspflege. Berlin, Verlag von Johannes Rade.
In dem bekannten beherzigenswerten Buche von LeuB, das
— wenn auch etwas einseitig geschrieben — doch von jedem
Strafrechtler gelesen werden sollte, findet sich eine homosexuelle
Stelle. S. 104 erzählt Leuß von einem Mitgefangenen:
„Ich sah mit Ekel, daß ihn der Geschlechtstrieb zu perversen
Annäherungen an Mitgefangene reizte und in solchen Augenblicken
sein Gesichtsausdruck vollkommen tierisch wurde.
Ich kenne die Anstrengungen der Homosexuellen, sich Straf-
losigkeit zu erkämpfen, und gönne ihnen diese; ich kenne Platens
eigene Tragödie, die nur ein Unmensch ohne Erschütterung kennen
lernen kann; aber ich bin so vollkommen anders organisiert, daß
ich den Ekel gegen alles Homosexuelle und gegen die Unglück-
lichen, die damit belastet sind, nicht überwinden kann; vielleicht
würde ich anders urteilen, wenn persönliche Bekanntschaft mit
Leuten von Platens Natur mich ebenso von dem Widerwillen
gegen die Menschen solcher Neigungen heilte, wie mich die Be-
kanntschaft mit den Verbrechern von den tief ins Gefühl ein-
gebetteten Anmaßungen gegen diese geheilt hat'*
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— 492 —
Für eines der besten Mittel, HeteroseraeUe von ihrem
Ekel Tor den Homosexuellen zu heilen, halte auch ich
in der Tat die persönliche Bekanntschaft mit den besseren
Elementen unter den Homosexuellen.
Lombroso, La psichologia dl una uxorieida tribade.
Archivio di psichiatria etc., 1903, fasc. I — 11.^)
Eine 30 jährige, an einen ungeliebten jungen Mann Ver-
heiratete verkehrte geschlechtlich mit Männern und Frauen. Mit
Hilfe eines jungen Menschen ward der Ehemann erst durch ein
Narkoticum bewußtlos gemacht, dann versuchte sie ihn zu erwürgen,
der Jüngling erstach ihn und beide zerstückelten den Toten usw.
Das Motiv war gleichgeschlechtliche Liebe. Schon w^rend ihrer
Ehe hatte sie ihre Geliebte in der Kirche ehelichen wollen. Sie
schliefen oft zusammen, nachdem sie den Mann aus dem Bette
gejagt hatten. Die Madame hatte verschiedene männliche Gesichts-
züge und dies neben einem mongoloiden Gesicht zeigte, daß sie
eine „geborene Verbrecherin" war (? Ref.). Außerdem war sie
hysterisch. Darin (trotzdem im Bericht Hysterie absolut nicht be-
wiesen ist! Näcke) sucht Verf. die Ursache der Tribadie (hört!
Ref.) und außerdem der klösterlicher Erziehung mit ihrem Mysti-
zismus anhaftenden Gewohnheiten. Die Hysterie mit der Tri-
badie erklärt den großen Haß gegen den Ehemann. So weit der
Verfasser.
Man sieht, daß von einer Psychologie der Tribadie
hier so gut wie nichts gegeben ist, daß alle Bemerkungen
des Verfassers vielmehr den üblichen Stempel des Ober-
flächlichen und Unbeweisbaren an sich tragen.
Löwenfeld, JDr. L., Sexualleben und Nervenleiden.
Die nervösen Störungen sexuellen Ursprungs nebst
einem Anhang über Prophylaxe und Behandlung der
sexuellen Neurasthenie. Dritte, bedeutend vermehrte
Auflage. Wiesbaden, 1903, Verlag von I. F. Berg-
mann.
^) Auch diese Besprechung hat in dankenswerter Weise Med,-
Bat Dr. P. Näcke in Hubertusburg geliefert.
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— 493 -
Diese dritte Auflage des im Jahre 1891 zum ersten Mal er-
schienenen Werkes ist unter anderen auch durch ein Kapitel über
„Die Anomalien des Sexualtriebes^^ vermehrt worden, in welchem
auch die Homosexualitfit behandelt wird (S. 227—245).
Löwenfeld unterscheidet drei Stufen:
1. Psychosexuales Zwittertum,
2. Zustand exklusiver Homosexualität,
3. Effemination, wo die ganze Richtung des Denkens, Fühlens
und Wollens den weiblichen Typus annimmt.
Löwenfeld hebt dabei hervor, daß bei Gruppe 2 und 8 eine
Annäherung der Körperform an den weiblichen Typus vorkommen
könne. Er halte es für ausgeschlossen, daß es sich um eine An-
passung des Körpers an den psychischen Habitus handle, da die
Annäherung an den weiblichen Tj^us sich auch auf die Skelett-
teile erstrecken könne. Die Abweichung der Körperformen vom
männlichen Typus sei wohl ebenso wie die psychische Anomalie
durch erbliche Veranlagung bedingt und beide seien koordinierte
Erscheinungen.
Entgegen Krafft-Ebings Anschauung, der die Androgynie als
eine besonders hohe Stufe der Entartung betrachtet, glaubt Löwen-
feld, daß sie sich nicht an die fortgeschritteneren Grade der Homo-
sexualität zu knüpfen brauche. Auch Löwenfeld lehrt, daß die
Päderastie bei Homosexuellen selten sei. Er glaubt dann aller-
dings (was freilich irrig ist), daß bei der aktiven und passiven
Päderastie meist das Umingtum keine Rolle spiele und lediglich
Abstumpfung durch sexuelle Ausschweifung vorliege.
Diese schon so oft bestrittene Behauptung, die Päde-
rastie sei ein letztes Reizmittel für abgestumpfte hetero-
sexuelle Lüstlinge, steht völlig beweislos da. Ich kenne
keine derartigen heterosexuellen Lüstlinge.
Löwenfeld bezweifelt des weiteren die beiden Theorien
des Angeborenseins (Krafit-Ebing) und des Erwerbs (Schrenk-
Notzing).
Die Theorie Schrenk-Notzings hält er noch nicht für erwiesen,
da er wiederholt Nervenleidende behandelt habe, bei welchen trotz
hereditärer neuropsychopathischer Konstitution in der Jugend ge-
übte sexuelle Onanie keine Spur von homosexueller Perversion zur
Folge gehabt habe. Man müsse daher annehmen, daß die Wir-
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— 494 —
kling der okkasionellen Momente durch eine eigenartige heredi-
täre Veranlagung gefordert werden müsse.
Die von Rrafft-Ebing verwertete anatomische Gnindlage des
homosexuellen Triebes l&ßt Löwenfeld nicht gelten, dagegen scheint
ihm die Auffassung von Chevalier berechtigter, wonach der Homo-
sexuelle wahrscheinlich in seiner cerebralen Veranlagung den weib-
lichen Typus aufweise. Diese weiblich -psychische Veranlagung
führe aber allein nicht zur Homosexualität, da auch normal-
sexuelle Männer weibische Eigenschaften haben könnten.
Die Ansicht von Bloch, daß die Behauptung einer anima
muUeris virili corpore inclusa unwissenschaftlich sei, müsse er als
ganz und gar unbegründet bezeichnen
Zu der psychischen Veranlagung müßten noch besondere
determinierende Momente hinzukommen, z. B. fehlerhafte Er-
ziehung, Mangel an Gelegenheit zu natürlichem Geschlechtsverkehr
bei früh auftretender Libido, Verführung zur Onanie u. dgl.
Die vermittelnde Ansicht von Löwenfeld, kein Er-
werb ohne Anlage, keine Entwickelung des Triebes aus
der Anlage ohne determinierende Momente^ wird man
nur in gewissen Fällen als richtig anerkennen dürfen.
In vielen Fällen dagegen wird der homosexuelle Trieb
lediglich infolge der Anlage trotz bester Erziehung und
Fernhaltens aller Schädlichkeiten durchbrechen ohne be-
sondere determinierende Momente.
Übrigens stimmt es mit Löwenfelds eigener An-
nahme von der weiblichen cerebralen Veranlagung, die
sich im äußeren Körperbau oft schon ausdrücke, überein,
wenn man das Haupt- oder ausschließliche Gewicht auf
diese anima mulieris legt.
Wenn Löwenfeld gegen die Annahme, daß die Ano-
malie ausschließlich durch eine angeborene Veranlagung
bedingt sein könne, das Argument ins Feld führt: „Heil-
erfolge durch hypnotische Suggestionstherapie", so läßt
sich mit dem auch von Möbius angewandten Gegen-
argument antworten, daß durch Hypnose auch ein an-
geborener Trieb künstlich mehr oder weniger lang ab-
geändert werden kann.
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- 495 —
Sehr richtig heht Löwenfeld in Ühereinstimmung mit Eulen-
borg hervor, daß die Homosezualität keineswegs unbedingt
Neurasthenie zur Voraussetzung und ebensowenig zur notwendigen
Folge zu haben brauche.
Aus dem kurzen Abschnitt über die weibliche Homosezualitftt,
der im allgemeinen nur Bekanntes enthält, verdient Folgendes Er-
wähnung:
Die rudimentären und wahrscheinlich auch die Zwitterformen
der Homosexualität beim weiblichen Geschlecht seien sehr viel
häufiger, die ausgebildeten Formen der konträren Sezualempfin-
düng dagegen seltener zu finden als beim männlichen Geschlecht.
Als rudimentäre Formen der Homosexualität ließen sich die so
häufigen schwärmerischen Freundschaften unter Mädchen, welche
selten bis ins reifere Alter sich erhielten, und die schwärmerische
Verehrung von Lehrerinnen, Sängerinnen u. dgl. seitens junger
Mädchen deuten. Diesen rudimentären, d. h. des sinnlichen Ele-
mentes noch entbehrenden homosexuellen Neigungen bei Mädchen
stehe auf der männlichen Seite fast nichts gegentlber.
Dieser letzteren Behauptung kann ich nicht bei-
stimmen. Auch bei Knaben und Jünglingen begegnet
man ähnlichen schwärmerischen „Liebschaften'^ mit Kame-
raden. Femer empfinden viele Homosexuelle, bevor sie
sich der eigentlichen Natur ihres Gefühls bewußt geworden
sind, schwärmerische Zuneigung zu gewissen Männern,
bei der ein Gedanke an geschlechtliche Akte nicht auf-
kommt. Ähnliches findet sich übrigens auch bei Hetero-
sexuellen in den ersten Jahren vor oder nach der Pubertät
gegenüber Mädchen („Primanerliebe'*). Endlich lassen sich
bei erwachsenen heterosexuellen Männern, bei gewissen
enthusiastischen Künstlernaturen Analogien, schwärme-
rische, die Grenzen gewöhnlicher Freundschaft über-
schreitende Gefühle anführen (z. B. Richard Wagners
Verhältnis zu König Ludwig).
Bei Erwähnung der Gynanürie betont Löwenfeld, daß äußere
und psychische Gjnandrie nicht notwendig mit konträrer Sexual-
empfindung einhergehe. Ein großer Teil der typischen Mann-
weiber zeitce ganz normale sexuelle Neigungen und ein weiterer Teil
gehöre zur Kategorie der Frigiden ohne homosexuelle Perversion.
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— 496 —
MSblns, Dr. F., Greschleclit und .Entartung. Halle
a. d. Säle, 1903, Verlag von Carl Marhold.
Kapitel I. ,,Charakteri8tik des gesunden Mannes und der
gesunden Frau."
Kapitel 11. „Die abnormen Bildungen des Geschlechtswesens
unter dem Einfluß der Entartung/^
1. „Der Hermaphroditismus" (teilweise unter Benutzung von
Neugebauers Aufsätzen).
2. „Hypospadie, Kryptorebismus, Gjn&komastie, Effemination,
Infantilismus." Diese Abweichungen seien milde Formen des
Zwittertums.
Als Feminismus seien die Fälle zu bezeichnen, wo ein
Mann durch den Körperbau im ganzen, Fettreichtum, Behaarung,
Stimme usw. als weibähnlich erscheine. Meist seien dann auch
die psychischen Neigungen und Fähigkeiten weibliche, trotzdem
brauche keine sexuelle Perversion vorzuliegen.
Manche solcher Feministen seien allerdings Urninge und
gerade bei ausgeprägtem Feminismus sei die geschlechtliche Ver-
kehrung häufig.
Die Unordnung des Geschlechtswesens sei beim Weibe sel-
tener und verborgener als beim Manne. Mannweiber nicht selten,
die in Form, Haltung und Sinnesart etwas Männliches hätten, An-
deutung von Bart, tiefe Stimme, hohen, knochigen Wuchs, Neigung,
zu befehlen, zu männlichen Belustigungen. Es sei zu vermuten,
daß bei ihnen die Beschaffenheit der Eierstocke irgendwo von der
Natur abweiche, Näheres sei jedoch nicht bekannt. Manche Yira-
gines hätten verkehrte geschlechtliche Neigungen, aber nicht alle.
8. „Vorwiegend geistige Abweichungen." Ziemlich eingehende
Besprechung der Homosexualität
Viele Homosexuelle wiesen auch im Körperlichen die ge-
schlechtliche Mangelhaftigkeit auf, derart, daß ein Teil der sekun-
dären Geschlechtsmerkmale dem anderen Geschlecht angehöre, daß
neben dem seelischen Feminismus noch ein äußerer, neben dem
Manngefühl des Weibes körperliche Viraginität gefunden werde.
Diese Tatsache sei ungemein wichtig, weil sie den natür-
lichen Zusammenhang aller Abweichungen von der ausgeprägten
Zwitterbildung bis zu den rein geistigen Störungen des Geschlechts-
wesens dartue.
Von den Abweicliungen des Triebes die abnormen geschlecht-
lichen Handlungen zu unterscheiden. Die häufigste Form der
letzteren die Onanie.
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— 497 —
Zwischen Onanie und Verkehrong bestünden Beziehungen.
Die Onanie oft der einzige Ausweg zur Befriedigung des Triebes
beim Homosexuellen. Andererseits entfremde die Onanie der natür-
lichen Liebe; daher fördere sie Anlage zur Verkehrung.
Mit dem Mißbrauch von Eondem habe die Verkehrung nichts
zu schaffen, auch zur eigentlichen Päderastie habe sie keine
direkten Beziehungen.
Alle Abweichungen des Geschlechtstriebes seien Formen der
Entartung und zwar angeborener Entartung. Eine Erwerbung
gäbe es nicht; die Gründe, die man für die Möglichkeit einer Er-
werbung anführe, nicht stichhaltig. Früh erworbene Assoziationen,
denen man die Hauptrolle zuschreiben wolle, könnten nur Macht
gewinnen bei Menschen mit bestimmter Anlage.
Der Umstand, daß abnormer Geschlechtsyerkehr schon in
alten Zeiten und bei Naturvölkern vorkomme, spräche nicht gegen
das Angeborensein auf Grund der Entartung. Auch Naturvölker
seien nicht frei von Entartung und ein Kulturvolk wie die Griechen
müsse gerade reich an Entartung gewesen sein.
Die Fälle, in denen der abnorme Trieb sich erst in der Zeit
der Reife kund gäbe, seien nicht seltener als die, in denen er von
Anfang an, gewöhnlich schon vor der Pubertät, vorhanden ge-
wesen. Die Behauptung, diese Leute lögen oder machten sich
selbst etwas weiß, sei nicht haltbar, denn auch dann, wenn sie
hier und da zuträfe, blieben so viele unantastbare Biographien
übrig, daß an der Ursprünglichkeit, der Macht und der Dauer der
abnormen Gefühle nicht zu zweifeln sei. Der wichtigste Grund
aber sei der, daß die scheinbar rein geistigen Störungen durch
lückenlose Obergänge mit den körperlichen Mißbildungen ver-
bunden seien und daß in einem sehr großen Teil der Fälle eine
wirklich genaue Untersuchung auch leichte Abweichungen vom
körperlichen Geschlechtscharakter nachweisen könne.
Die Behauptung der geschlechtlich Abnormen, sie fühlten
sich gesund, bedeute nicht viel, sie seien trotzdem' Entartete.
Sie wehrten sich deshalb so sehr gegen den Begriff der Ent-
artung, weil sie sich etwas ganz Schauderhaftes darunter vor-
stellten. Wenn sie bedenken wollten, daß auch außerordentliche
Vorzüge nicht ohne Entartung möglich seien, könnten sie sich doch
zufrieden geben.
Stets seien erbliche Belastung, sowie auch außerhalb des Ge-
bietes der Geschlechtlichkeit körperliche oder geistige Zeichen der
Entartung nachzuweisen.
Jahrbuch VI. 32
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— 498 —
Gewisse Einflüsse des „Milieus 'S gewisse BedingoDgen der
Zivilisation trügen wohl zur Abstampfiing des Geschlechtscharak-
ters hei, aher in der Hauptsache sei die Entartung auf organische
Verkümmerung zurückzuführen.
Die Abstumpfung des Geschlechtscharakters gäbe sich viel-
fach in kleinen Zügen kund. Viele Mfinner nähmen weibische
Gewohnheiten und Neigungen an, viele Weiber suchten umgekehrt
männliche Gebräuche nachzuahmen. Alle diese Zustände seien
nicht immer mit abnormen Richtungen des Geschlechtstriebes ver-
bunden. Bei dem innigen Zusammenhang der Teile sei zu er-
warten, daß auch den geringen Abweichungen im Seelischen ge-
wisse Abweichungen nicht nur im Gehirn , sondern auch im
übrigen Körper, besonders in den Geschlechtsteilen, entsprechen
werden.
m. Selten seien alle groben Mißbildungen, wie Rrypt-
orchismus, Hermaphroditismus usw., um so häufiger kleinere Ab-
weichungen. Über die Häufigkeit der Verkehrung des Geschlechts-
gefühls seien zuverlässige Angaben schwer zu erlangen. Nähme
man nur 1 Verkehrten auf 1000 Seelen an, so gäbe es auf
50 Millionen 50000 Männer, die für die Zeugung verloren gingen.
Dem Übel der Entartung sei entgegen zu arbeiten. Der
gegenwärtige gesetzliche Zustand sei jedoch unhaltbar, § 175 auf-
zuheben. Mit der Behauptung, man müsse dem Rechtsbewußtsein
des Volkes Rechnung tragen, lasse sich auch Hexen verbrennuog
und ähnliches rechtfertigen.
Bedenke man noch, daß die größten Niederträchtigkeiten im
Geschlechtsverkehr, wie z. B. die Übertragung venerischer Krank-
heiten, straf&ei sei, so schüttele man den Kopf.
Der § 175 sei ein Quell von Erpressungen und Selbstmorden.
Es gäbe ja noch sonst viele Handlungen, die nicht zu billigen
seien, um die sich aber das Gesetz nicht kümmere.
Die Päderastie werde mit Recht verachtet, sie sei eine
schimpfliche Handlung, beinahe so schimpflich wie die Ver-
führung eines Mädchens. Man müsse aber unterscheiden lernen
zwischen abnorm geschlechtlichen Neigungen, die Ausdruck der
Entartung seien, und zwischen abnorm geschlechtlichen Hand-
lungen.
Sache des Arztes sei es, die Abweichungen des Geschlechts-
triebes zu behandeln, wenn eine Behandlung möglich sei. Ver-
ehelichung der Konträren sei das denkbar schlechteste „Heilmittel".
Die Hauptsache aber sei die Bekämpfung der Entartung als
solche. Vernünftige Ehegesetze seien nötig, damit der Erzeugung
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— 499 —
lyphilitiflcher, taberkalÖBer, blödsinniger Kinder vorgebeugt ^ürde.
Das hauptsächlichste Mittel, die fortschreitende Entartung zu hem-
men, sei Zerstörung der Trinksitten, Kampf gegen den Alkoho-
lismus.
Die interessante Zasammenstellung und Hervor-
holung der psychischen und der psychisch- geschlecht-
lichen Anomalien seitens des bekannten geistvollen Ver-
fassers ist sehr richtig, da auf diese Weise der enge
Zusammenhang beider und das Angeborensein der Homo-
sexualität, sowie ihre in der Konstitution wurzelnde
Grundlage nahe gelegt wird.
Mit Secht sieht daher Möbius in der Homosexuahtat
stets eine angeborene Anomalie.
Was den von Möbius, dem Spezialforscher der Ent-
artung, so beliebten Begriff der Entartung anbelangt, so
kann man vielleicht finden, daß er diesen Begriff allzu-
weit ausdehnt und allzuenge Voraussetzungen für die
Annahme eines Normalmenschen aufstellt.
Nur die allerwenigsten Menschen werden die sämt-
lichen Merkmale, die er für den Normalmenschen ver-
langt, aufweisen und in manchem Punkte seiner Charak-
teristik des gesunden Menschen wird man ihm nicht
beistimmen können, z. B. wenn er sagt: „Der gesunde
Mensch ist ziemhch schlank und hoch gewachsen, ....
das Gesicht ist niemals häßlich , . . ,"
Ebenso wird es als zweifellos zu weitgehend zu er-
achten sein, daß er z. B. das Rauchen der Zigaretten
schon als Zeichen der Entartung auffaßt („denn die
Zigarette lieben die weibischen Männer und die männi-
schen Weiber").
Gerade weil nun aber Möbius den Begriff der
Entartung sehr weit ausdehnt, werden sich auch
die Homosexuellen nicht besonders zu beklagen
brauchen, von Möbius zu den Entarteten gezählt
zu werden, denn tausende und abertausende Hetero-
32*
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— 500 —
sexuelle werden nach Äer Definition des Normalmannes,
wie sie Möbius gibt, zu den Entarteten zu rechnen sein.
Sodann hebt ja Möbius selbst hervor, daß außerordent-
liche Vorzüge Entartung voraussetzen, und tatsächlich
werden die Vorzüge, die viele Entartete aufweisen, nach
einer oder der anderen Richtung durch ihre Entartung
nicht zu schwer erkauft
Wenn man gar die Ausführungen von Möbius über
den Begriff der Entartung in seiner Besprechung des
„ürnischen Menschen" von Hirschfeld betrachtet, dann
werden sich die Homosexuellen fast mit Genugtuung zu
den Entarteten rechnen können.
In dieser Besprechung (in Schmidts Jahrbücher) sagt Möbius,
man müsse doch „entartet** und ,,minderwertig** nicht auf die
gleiche Stufe stellen. Alle Abweichungen von der Norm seien
insofern minderwertig, als durch sie die normale Entwickelung
gestört werde.
Deshalb sei nicht gesagt, daß sie wertlos seien. Freue man
sich denn nicht an gefüllten Blumen , obwohl sie entartet seien.
Gewisse Vorzüge seien nur möglich, wenn zugleich Defekte da
seien. Die Genialen seien geradeso gut Entartete, wie die Geistes*
schwachen, und alle die gelehrten Herren, die heute über Ent-
artung schrieben, seien selbst entartet, der Referent (Möbius)
auch, also gebe man sich zufrieden, trage sein Schildchen „ent-
artet" mit Geduld und stoße sich nicht an populäre Vorurteile.
Mühsam, Ericli, Die Homosexualität. Ein Beitrag
zur Sittengeschichte unserer Zeit. Verlag von Lilien-
thal, Berlin.
Die Theorie des Angeborenseins wird verteidigt
Dagegen spräche auch nicht der Umstand, daß die homo-
sexuelle Liebe die Fortpflanzung unmöglich mache. Die Liebe
habe nicht notwendigerweise Fortpflanzung zum Zweck. Auch im
normalen Verkehr sei dieser Zweck nur selten vorhanden. Viel-
leicht weise die Natur aber gerade die zur Fortpflanzung un-
geeigneten Menschen auf das eigene Geschlecht. Die Homo-
sexualität könne man nur als biologische Dekadenzerscheinung
auffassen.
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— 501 —
Damit sei lediglich eine Minderwertigkeit des Homosexuellen
als Geschlechtswesen ausgedrückt, keinesfalls aber als Geschlechts-
mensch. Im Gegenteil: im dekadenten Menschen komme die
höchste Kultur eines Stammes zum Austrag. Tatsächlich habe
Verfiasser auch in den Homosexuellen, die er kennen gelernt,
durchweg fein entwickelte und ästhetisch hochkultivierte Menschen
gefunden.
Die Homosexualität sei nicht als krankhaft zu betrachten
und nicht mit sonstigen Perversitäten, wie Sadismus, Masochis-
mus usw., auf eine Stufe zu stellen. Der grundsätzliche Wesens-
unterschied zwischen der Homosexualität und den Perversitäten
liege darin, daß die Homosexualität der Ausdruck eines Liebes-
gefühls sei, das sich gegen eine bestimmte Gattung Menschen
richte, während die Perversitäten Triebe seien, die auf eine be-
stimmte Art der Betätigung hindrängten. Dort sei es also die
Stimmung der Persönlichkeit, hier der rein männliche Betätigungs-
drang, der aus dem Rahmen des gewöhnlichen herausträte.
Von der homosexuellen Liebe behauptet Mühsam, sie sei viel
häufiger rein idealer Natur als die Liebe zwischen Mann und
Weib.
(Worin ich ihm allerdings nach meiner Erfahrung
nicht beistimmen kann.)
Dagegen weist Mühsam mit Recht auf die vielfach noch
herrschenden abergläubischen Vorstellungen über die Homo-
sexualität in der Art ihrer Befriedigung hin.
Unwissende Familienväter stellten sich wohl einen Päde-
rasten als einen schrecklich blickenden Lüstling vor, der jederzeit
sprungbereit mit geilem Drang jedes männliche Wesen mustere,
nur auf den gelegenen Moment erpicht, ihn von hinterwärts zu
notzüchtigen, sie seien dann wohl auch erstaunt bei wirklicher
Bekanntschaft mit einem Homosexuellen einen häufig etwas scheuen,*
schüchternen, außerordentlich ungefährlichen Menschen kennen zu
lernen, der sich bei näherem Hinsehen meist als geistig feiner und
kluger Kopf erweise.
Bei der großen Anzahl der Homosexuellen — etwa 2 ^/^ aller
Menschen — sei die Ausbildung einer männlichen Protistution
nicht zu verwundem. Zu der üblichen übertriebenen sittlichen
Entrüstung über die Prostitution sei kein Grund vorhanden. Die
Prostituierten beiderlei Geschlechts seien meist Opfer entsetzlicher
sozialer Zustände. Das Stra%esetz selber habe ein Gewerbe ge-
züchtet, daqenige der Erpresser der Homosexuellen.
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— 502 —
Neben der Homosexualität nimmt Mühsam ein häufiges Vor-
kommen wirklicher Bisexualität an. Eine Klärung des bisexuellen
Problems sei geeignet, gewisse anscheinend unüberbrückbare Wider-
sprüche in der Theorie der wissenschaftlichen Antipoden aus der
Welt zu schaffen. Die Art der Bisexualität schwanke in zahllosen
Variationen.
Für yiele Bisexuelle sei wahrscheinlich die Neigung zu eineni
bestimmten Typus maßgebend, bei der das Geschlechtsorgan keixie
oder nur eine nebensächliche B^lle spiele. Dies dürfe man aber
nicht verallgemeinern. Namentlich gäbe es unter den Bisexuellen
Individuen, die bei einem Geschlecht nur auf einen bestimmten
Typus, bei dem anderen dagegen fast nur auf jeden leidlich
hübschen Vertreter des Geschlechts reagierten.
Babs Theorie von der Bisexualität aller Menschen verwirft
Mühsam ganz entschieden. Auch Babs Forderung, „jeder Jüng-
ling solle sich liebend einem ihm passenden Manne anschließen'^
geißelt Mühsam sehr scharf.
Als unschätzbaren Vorzug der Homosexuellen hebt Mühsam
ihr feines ästhetisches Empfinden hervor, ihren ausgeprägten Sinn
für Formenschönheit und Naturgenuß.
Für sehr zweifelhaft halte ich die weitere Behaup-
tung von Mühsam, wonach auch die homosexuelle Ver-
anlagung selbst mit dem ästhetischen Empfinden der
Urninge zusammenhänge, da ästhetisch der Körper des
jungen Mannes demjenigen der Frau überlegen sei.
Das ästhetische Empfinden ist allerdings eine Eigen-
schaft des sensitiven, feinfühligen , mit einem Oemisch
femininer und viriler Eigenschaften ausgestatteten Kon-
trären, aber die Triebrichtung wird durch dies ästhe-
tische Empfinden nicht bestimmt^ sie ist das Primäre
neben den sonstigen Merkmalen der Homosexuellen
parallel herlaufend, nicht aber Produkt des einen oder
anderen Merkmals.
Die Schrift von Mühsam ist eine sehr ansprechende,
objektiv und verständig geschriebene, voll guter Gedanken.
Am bemerkenswertesten sind die Ausfuhrungen über die
Bisexualität, denen ich voll und ganz beistimme. Be-
herzigung verdient auch der sehr zu billigende Versuch,
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— 503 —
einen Wesensunterschied zwischen Homosexualität und
den eigentlichen Perversitäten festzustellen.
Näcke, Dr., Forensicli-psychlatrlscli-psycliologische
Bandglossen zum Prozeß Dlppold, insbesondere
ttber Sadismus, im Archiv tlir Kriminal- Anthro-
pologie und Kriminalistik von Groß, Bd. XIII, Heft 4.
Nflcke wirft anter anderem auch die FfiEige auf, ob bei Dip-
pold Homosexualität oder homosexueller Sadismus vorgelegen habe.
Sein Benehmen gegenüber den beiden Knaben (er habe sie
geherzt, gekfißt und unzüchtig berührt) spräche für Homosexualität,
obgleich echte Homosexuelle gerade mit Knaben sich gewohnlich
nicht vergingen. Das Mißhandeln wegen geheimer Onanie und
gleichzeitig die öftere Masturbation der Knaben lege den Gedanken
sadistischer Onanie nahe. Näcke rügt es, daß man unterlassen
habe, einen Spezialarzt auf dem Gebiet der sexuellen Anomalien
zuzuziehen.
Der homosexuelle Sadismus — anscheinend viel seltener als
der heterosexuelle und viel häufiger bei Männern — könne mehrere
Unterarten darbieten. Der häufigste Fall dürfte der sein, daß die
geschlechtliche Erregung mit nachfolgender Befriedigung erst auf
sadistische Reize hin erfolge. Oder es bestehe daneben eine Homo-
sexualität, d. h. es finde der Reiz schon im Anblick oder Umgang
mit gleichgeschlechtlichen Individuen statt, daneben aber zugleich
die vorige Form.
Dieser Fall scheine bei Dippold vorzuliegen. Oder es be-
stehe Homosexualität neben heterosexuellem Sadismus (auch faute
de mieux an Knaben), dies wäre nur bei psychischer Hermaphro-
disie denkbar. Es könne sich schließlich auch um Pseudohomo-
sexualität handeln; d. h. um heterosexuellen Sadismus in pseudo-
homosexueller Handlung. Endlich wäre auch idealer Sadismus
möglich (der nur in Gedanken und Träumen aufträte).
Die verschiedenen Möglichkeiten in der Erklärung
der psychischen Seite des äußerlich klaren Vorganges
und die Schwierigkeiten ihrer Beurteilung, welche Näcke
so scharf und klar auseinander setzt, zeigen deutlich,
wie nötig die Beleuchtung seitens eines auf dem Ge-
biete der sexuellen Anomalien Spezialsachverständigen
gewesen wäre und wie unverzeihlich es war, daß dies
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— 504 —
unterlassen wurde, obgleich Sachverständige, wie Moll,
Schrenck-Notzing oder Hirschfeld, zu Gebote gestanden
hätten.
Nftcke, Dr., Das dritte Geschlecht, in der Politisch-
Anthropologischen Sevue, Jahrgang II, Heft 4.
Die hauptsftchlißhsteu Gedanken, die Nficke in dem im vor-
jährigen Jahrbuch S. 1002 ff. von mir eingehend wiedergegebenen
Aufsatz aus der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und
psychiatrisch -gerichtlichen Medizin", Bd. LIX, Heft 6 ausgefiElhrt
hatte, sind hier in Kürze klar und trefflich zusammengedrängt.
Notwendigkeit der naturwissenschaftlichen Beobachtungsweise der
Homosexualität, Anerkennung der Homosexualität als normale,
wenn auch immerhin seltene Varietät des Geschlechtstriebes. Ihre
Berechtigung auch ohne Fortpflanzungszweck.
Die konträre Sexual empflndung fast stets angeboren, die so-
genannten erworbenen Fälle wohl meist bloß sogenannte tardive.
Die Berechtigung auch der homosexuellen Lyrik, soweit sie decent
bleibe, genau so beurteilt zu werden wie die heterosexuelle Liebe;
bei der größeren Zahl der Konflikte, die sie biete, gäbe es genug
der spannenden Motive.
Die auf alle Fälle vorhandene Notwendigkeit, den § 175
aufzuheben.
Pitres, A., et Regis, E., Les obsesslons et les im-
pulslons. Biblioth^que internationale de psychologie
experimentale normale et pathologique. Paris, 1902,
Dorin.
Verfasser verstehen imter „impulsions" nicht nur die in der
neueren deutschen Wissenschaft von den Zwangshandlungen ab-
gesonderten, keinerlei vorangehenden Kampf voraussetzenden im-
pulsiven Handlungen, sondern auch Zwangshandlungen, während
sie unter „obsessions^* die nicht in Handlungen ausgelösten Zwangs-
vorstellungen begreifen.
Zu den „impulsions*^ rechnen sie die sexuellen Anomalien,
und zwar auch den Uranismus, obgleich sie bemerken, daß er
weniger als die übrigen sexuellen Anomalien einen impulsiven
Charakter aufweise.
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— 505 —
Die Ursache der Anomalie sei in einer ab origine krank-
haften, auf degeneratiyer Grundlage vorhandenen Anlage za er*
blicken. Ein zufälliges Ereignis könne die Perversion zur Ent-
wickelang bringen, aber dieses zuföllige Ereignis spiele nor eine
untergeordnete Rolle; der unbedingt entscheidende Faktor sei die
kongenitale Anlage für eine bestimmte Anomalie. Das okkas-
sionelle Moment habe nur solche Wirkungen zur Folge, die zu
dem Temperament der Idiosynkrasie des Individuums paßten.
Ran, Hans, Liebesfreihelt. Orania- Verlag, Oranien-
burg, 50 Pf.
Die Liebe zum gleichen Geschlecht sei gleichberechtigt mit
derjenigen zum anderen. Die höchste Entwickelung des mensch-
lichen Geistes fönde sich bei gewissen Homosexuellen der Kiiltur-
geschichte.
Die Homosexualität keine atavistische Erscheinung, ebenso-
wenig Endpunkt der Entwickelung im Sinne einer höheren
Menschenklasse. Sie sei nichts als eine natürliche von dem
schaffenden Weltgeist hervorgebrachte Variation.
Die Homosexualität dürfe nicht höher gewertet werden als
die normale Liebe, wenn auch nicht zu leugnen sei, daß eine
geniale Geistesbeschaffenheit auf umischem Boden tatsächlich
reichere Früchte trage als auf normalem.
Weil die umischen Empfindungen als etwas durchaus natür-
liches und gesundes aufzufassen seien, sei es unzulässig, sie in
ihr Gegenteil zu verkehren, sie zu „heilen", wie die Arzte wollten.
Der Homosexuelle könne nicht geheilt werden, er wolle es
auch nicht, er sei stolz auf seine liebe, die sich viel reiner und
keuscher als die normale zu betätigen pflege. Der Uranier fühle
sich sittlich auf einer viel höheren Stufe stehend als die meisten
Normalen. Der Homosexuelle sei nicht zu bedauern, erst die
menschlichen Gesetze und die allgemeine Ächtung hätten ihn zu
einem Bedauernswerten gemacht.
Im zweiten Kapitel weist Rau auf die berühmten Uranier
hin und bespricht dann Byrons Leben vom Gesichtspunkt der
Homosexualität aus betrachtet, indem er bei ihm konträre Sexual-
empfindung nachzuweisen sucht.
Dieser letztere Teil ist der Abdruck eines früher
schon veröffentlichten, im Jahrbuch IV ausführlich im
Auszug wiedergegebenen Aufsatzes von Rau.
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— 506 —
Das Schriftchen schließt mit einem Aufruf „An alle Freunde
echter Menschlichkeit", unterzeichnet von Bau und Gerling, in
welchem zur Bekämpfung der gegen die Homosexuellen noch be-
stehenden Vorurteile aufgefordert wird.
Bau wendet sich zwar an einigen Stellen gegen die
Anmaßungen mancher Homosexuellen, die als edlere
Menschen gelten und ihre Liebe als höhere bezeichnen
wollen. Er fällt aber selbst an einigen Stellen in diesen
Fehler und stimmt einmal sogar einen übertriebenen
Lobgesang auf die Homosexuellen an, indem er sagt:
„Der Urning vergeudet seine* besten Kräfte nicht im Lust-
bett -der Prostitution; erkaufte Liebe ist ihm ein Greuel usw.
Keine Arbeit ist ihm zu schwer, das Wohlbefinden des Freundes
zu schützen. Buhe und Schlaf, ja das Leben wird dem Freunde
zum Opfer gebracht.^'
Abneigung des Homosexuellen vor der Prostitution
und besonders schöne und edle Ausgestaltung des Liebes-
gefühls begegnet man bei Homosexuellen nicht weniger
und nicht mehr als beim Heterosexuellen. Auch in
dieser Beziehung hat er nichts vor dem Heterosexuellen
voraus.
Bau, Hans, Der Geschlechtstrieb und seine Yer-
irrongen. Ein Beitrag zur Seelenkunde. Berlin SW.,
1903, Hugo Steinitz.
Kapitel V. „Homosexualität und Päderastie/'
Dieselben Anschauungen wie in der vorher besprochenen
Schrift. Die Ansicht von der Erwerbung der Homosexualität durch
zufällige Ereignisse, etwa durch gleichgeschlechtlichen Verkehr in-
folge Weibermangels, wird zurückgewiesen mit dem Hinweis, daß
sonst auch der normale Verkehr nur durch Gewöhnung zustande
kommen müsse, femer müßten die vielen Zöglinge von Alumnaten
und Pensionaten, die in der Pubertät gleichgeschlechtlich ver^
kehren, homosexuell werden, was nur bei wenigen, den geborenen
Homosexuellen zuträfe.
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— 507 —
Erfreulicherweise hat sich Sau in seinem fiir weitere
Kreise berechneten Schriftchen auf den Standpunkt der
neueren Forschung über Hoxnosexualität gestellt
Die Tendenz, die ich im vorher besprochenen Auf-
satz von Rau rügte, nämlich die einer unnötigen, weil
unzutreffenden Beschönigung des Charakters und des
Gefühlslebens des Homosexuellen, hat Sau auch hier
nicht völlig vermieden.
San, Hans, Franz Grrillparzer und sein Liebesleben.
Berlin, Verlag von Barsdorf.
Den Schlüseel für das psychologische R&tsel, das Grillparzen
Wesen biete, sieht Rau in der ausgesprochen weiblichen Natur des
Dichters.
In Grillparzer hätten weibliche und männliche Elemente im
Streite miteinander gelegen. Meist habe das Weibliche die Ober-
hand gewonnen und auch auf sein Liebesleben Einfluß gehabt.
Er habe nie das wahre Glück der Liebe kennen gelernt, nie die
Leidenschaft in ihrer aufwühlenden Stärke empfunden. Infolge
seiner weiblichen Denk- und Empfindungsweise habe er sich weit
mehr zum männlichen als zum weiblichen Geschlecht hingezogen
gefühlt Dort wo er eine Frau zu lieben geglaubt, sei bald die
Freundschaft an Stelle der Liebe getreten. Diese Erklärungen
sucht Rau an der Hand der uns bekannten Beziehungen des
Dichters zu Frauen und Freunden zu beweisen. Er behauptet,
Grillparzer habe im Weibe die spezifisch weiblichen Eigenschaften
nur wenig geliebt und mehr männliche Entschlossenheit und
Energie geschätzt
Die erste Leidenschaft zur 17 jährigen Antonie sei bei näherer
Bekanntschaft der' Geliebten bald verschwunden; dieses Ver-
schwinden der Leidenschaft bei näherem Bekanntwerden mit der
Geliebten sei typisch im Liebensieben Grillparzers. Die zweite
Leidenschaft für eine Sängerin, die als Cherubin in Figaros Hoch-
zeit seine Liebesglut entflammt, sei wohl auf den Umstand des
Auftretens der Sängerin in Knabenkleidem, auf die Doppel-
geschlechtlichkeit in der Erscheinung der Sängerin zurückzuführen.
Ihr habe auch Grillparzer das zierlichste Gedicht seiner Muse
„Cherubin" gewidmet
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— 508 —
Für Baus Behauptungen von der geschlechtlichen Kälte
G-rillpaneers gegenüber den Frauen scheinen einige vom Dichter
ohne sein Zutun ent&chte, aber Ton ihm unerwiderte Leiden-
schaften einiger Frauen, so z. B. der früh verstorbenen Marie von
Piquet, zu sprechen.
Auch das jahrelang dauernde Verhältnis Grillparzers zu
Katharina Fröhlich, das Bau eingehend erörtert, bietet manche
Eigentümlichkeit. Aber immerhin war es doch eine tiefgehende
Leidenschaft, die größte seines Lebens, die Grillparzer zu Katha-
rina hinzog.
Sie gab ihm, wie Bau auch hervorhebt, Lebenswert und
Lebensfreude, Schaffenslust und Schaffensfreude. Das Verhältnis
blieb allerdings ein ideal platonisches. Zur Ehe konnte sich Grill-
parzer nicht entschließen. Allmählich erkaltete Grillparzers Leiden-
schaft; in seinem Tagebuch vermerkt Grillparzer, daß kein eigent-
lich tugendhafter Vorsatz, vielmehr ein ästhetisches, künstlerisches
Wohlgefallen an Katharinas Beinheit ihn vom sinnlichen Besitz
zurückgehalten habe, wozu alle Gefühle und Gedanken ihn hin-
trieben. Er habe sich abgekämpft gegen die fast immerwährende
Aufregung.
Bau hält diese Gründe für undenkbar, Grillparzer habe sich
in dem Motiv seiner Enthaltsamkeit selbst getäuscht Der an-
gebliche Entschluß, aus Wohlgefallen an der keuschen Jungfräu-
lichkeit seiner Verlobten sie niemals zu berühren, sei vernunft-
widrig und wäre auch bei Grillparzers Schwäche undurchführbar
gewesen, wäre wirklich bei ihm ein ernster Konflikt vorhanden
gewesen. Diese Enthaltsamkeit sei aber Grillparzer leicht ge-
worden, weil er dieser, in seiner innersten, ihm selber verborgenen
Natur wurzelnden Abneigung gegen den geschlechtlichen Verkehr
entsprungen sei.
Diese Auslegung hat manches für sich, ist aber
durchaus nicht zwingend. Das Verhalten örillparzers
scheint mir sehr wohl mit heftigem sinnlichen Begehren
seiner Geliebten vereinbar. Dem ehrlichen, ideal an-
gelegten Charakter, der Grillparzer war, entsprach es,
der Geliebten Jungfräulichkeit nicht zu zerstören und
seine Triebe niederzukämpfen, da er zur Heirat sich
nicht entschließen konnte und einen vorübergehenden
Besitz ohne nachfolgende Ehe, der nur Entweihung der
Jungfräulichkeit sein konnte, verschmähte. Grillparzer
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— 509 -^
direkte Abneigung gegen den Geschlechtsverkehr mit dem
Weibe unterzuschieben, scheint mir besonders deshalb
gewagt, weil er selbst seine heftige sinnliche Leiden-
schaft betont und man bei dem scharfen, psychologisch
geschulten Geist eines Grillparzer die von Bau behaup-
teten Täuschungen des Dichters über derartige elemen-
tare Gefühle, wie die geschlechtlichen, nicht annehmen
kann.
Ob indessen Grillparzers Empfindungsweise sich völlig in den
Bahnen der Norinalitflt bewegt habe, wird namentlich dann frag-
lich, wenn man berücksichtigt, daß er während seiner Studienzeit
eine leidenschaftliche Neigung für einen jungen Mann, für den
Altersgenossen Altmüller empfunden hat, die man mit Rau ge-
radezu als heiße verzehrende Liebe bezeichnen kann. Alle Er-
scheinungen der Liebe zeigt diese Freundschaft. Als er sich ein-
mal von Altmüller betrogen glaubt, führt er, wie Rau richtig
hervorhebt, in seinem Tagebuch die Sprache eines verlassenen
Liebenden. Seine Verzweiflung ist grenzenlos. Er glaubt mit
dem Leben abgeschlossen zu haben, sogar der Gedanke an Selbst-
mord taucht auf. Es sind Gefühlsergüsse, wie gewöhnlich nur
das Weib einem jungen Manne sie einflößt. Kein weibliches
Wesen, sagt Rau, habe auch nur entfernt den gleichen Sturm der
Gefühle in ihm erweckt.
Das Verhältnis zu Altmüller ist das einzige, in dem
ich ein homosexuelles Gefühl erblicken kann.
Bedenkt man nun, daß damals Grillparzer noch
sehr jung, noch Student war, und später eine derartige
Neigung zu einem Manne nicht mehr festzustellen ist,
daß damals die Frau noch nicht, wie später, in seinen
Gesichtskreis getreten war, so fragt es sich, ob es sich
nicht um eine vorübergehende homosexuelle Episode ge-
handelt hat
Noch eine große Anzahl von Freundschaften finden sich vor,
die Rau auch bespricht, so die mit Bauemfeld, Prechtler, Holtei,
Beethoven. Reine gestattet aber die Deutung eines homosexuellen
Empfindens Grillparzers. Bei der Freundschaft mit Prechtler zeigte
letzterer, wie seine Briefe lehren, eine geradezu überschwengliche
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— 310 —
Neigung und enthusiastische Bewunderung für Grillparzer, indem
er sein Gefühl für ihn mit demjenigen für die Geliebte in eine
Reihe stellt. Femer gesteht Holtei zu, daß er in seinem 15. Lebens-
alter für einen 17jährigen Freund von einem nicht mehr Freund-
schaft zu nennenden Gefühl ergriffen worden sei.
Aber bei Prechtler und Holtei steht nicht fest, daß Grill-
parzer für sie mehr als Freundschaft empfunden habe.
Bestimmte Äußerungen Grillparzers über gleich-
geschlechtliche Liebe fehlen völlig. Deshalb halte ich
die Behauptung von Eau, Grillparzer habe die gleich-
geschlechtliche Liebe als eine in der Natur begründete,
der normalen Liebe gleichberechtigte Erscheinung be-
trachtet, für unbewiesen.
Im Schlußkapitel erörtert Rau die Charaktere in Grillparzers
Dramen und sucht die Doppelnatur in seinen Gestalten aufzu-
decken. Ebenso wie sich in Grillparzer selber männliche und
weibliche Eigenschaften vereinigt hfttten, ebenso seien seine Helden
haltlose, vom Schicksal hin- und hergeworfene Menschen.
Da ihm das feminine Empfinden stets näher als das männ-
liche gestanden, sei er auch in der Schilderung der Frauen ein
Meister ersten Ranges.
In Grillparzers Dramen findet sich meiner Ansicht
nach nur ein einziges deutlich homosexuelles Verhältnis,
das zwischen Leander und Naukleros in „Des Meeres und
der Liebe Wellen". Mit Recht sagt Rau, daß dieses
Drama nicht nur das herrlichste Liebesdrama ist, sondern
auch ein Freundschaftsdrama erhabenster Art.
Das Bach von Rau ist ein, wenn auch nicht immer
tiefgehender, so doch sehr anerkennenswerter Versuch,
das Liebesleben des großen Dramatikers an der Hand
unserer modernen Kenntnisse über sexuelle Zwischen^
stufen zu ergründen, nur dürfte es auch Rau nicht ge-
lungen sein, das Dunkel des Liebeslebens Grillparzers völlig
zu klären. Namentlich erscheint seine Behauptung, Grill-
parzer habe mehr zum Manne als zum Weibe hingeneigt,
allzu kategorisch und nicht genügend begründet
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— 511 —
Ich möchte annehmen: Dafi
1. Grillparzer sinnliche Liehe zur Frau empfand^
2. daß er jedenfalls kein echter Homosexueller war,
S. daß er in seiner Jugend, wenigstens seinem
Freunde Altmüller gegenüber, homosexuell empfand,
4. daß es aber zweifelhaft ist, ob später noch homo-
sexuelle Gefühle bei Grillparzer auftraten und in welcher
Stärke.
Raus Buch hat eine scharfe und im allgemeinen durchaus
unberechtigte Kritik seitens Anton Bettelheim (Wien) im „Lite-
rarischen Echo", 2. Novemberheft, erfahren. Nachdem dem
Verfasser in völlig ungerechter Weise Motive erotischer Speku-
lation untergeschoben werden, wird Raus Behauptung von der an-
geblichen Kälte und Enthaltsamkeit Grillparzers gegenüber dem
weiblichen Gkschlecht und dann namentlich die Annahme homo-
sexueller Gefühle entrüstet zurückgewiesen, ohne daß der Kritiker
sich die Mühe genommen hätte, auf Raus Gründe und auf einige
Verdachtsmomente, wie das der Liebe zu Altmüller, einzugehen.
Dag. gen ist ein anderer Schriftsteller, Felix Poppenberg,
bei Bespiechung des Tagebuchs Grillparzers in der „Neuen
Deutschen Rundschau*^ Oktoberheft 1903: „Grillparzers
Inferno'^ zum Teil zu ähnlichen Schlüssen wie Rau gelangt.
Er hebt die phantasievolle Glut des Dichters bei der bloßen
Vorstellung der Frau und seiner Gleichgültigkeit und Kälte der
wirklichen Frau gegenüber hervor, sowie einen femininen Zug,
der dem homosexuellen Fühlen nahekomme und seine sexuelle
Disposition kompliziere.
Leidenschaftliche Freundschaftsergüsse stünden in den Tage-
büchern, bei denen man an Platen und Liebig denke. Schwär-
merische Jünglingsfreundschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts
seien durchaus nichts außergewöhnliches und nichts sei verkehrter,
als überall Pathologisches zu wittern, aber es bliebe doch auf-
fallend, daß auf allen Seiten, die so viel von Frauen handelten,
nicht einmal ähnlich überströmend, ähnlich gefühlslodemd von
einer Frau gesprochen werde, als von dem Jugendfreund.
Nachdem Poppenberg die leidenschaftliche Liebe Grillparzers
zu Altmüller geschildert, fährt er fort:
„Die gemischtgeschlechtlichen Gefühle können Grillparzer
übrigens nicht fremd gewesen sein, er hatte ein ausgesprochenes
Interesse für hermaphroditische Motive. Ihn fesselte der Stoff
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,.Die Familie Moscoso von- Altariva", weil hier ein Mädchen als
Knabe aufgezogen wird und in dem Ghenibingedicht verdich-
tete er die durch die Geschlechtsmaskerade erregte Grefühlsver-
wirrung** ....
Sherard, Robert Harborough, Oskar Wilde. Die
Geschichte einer unglücklichen Freundschaft. Deutsch
von Freiherr von Teschenberg. Minden in Westf.,
Bruns Verlag.
Das homosexuelle Moment im Leben Oskar Wilde's wird in
Sberard's Buch absichtlich nicht erörtert.
Sherard entwirft von Wilde das Bild eines genialen Mannes
von seltenen Charakterzügen und schönster Herzensgüte, in stellen-
weiser etwas naiver Bewunderung preist er die Vorzüge und
Eigenschaften des Geistes und der Seele des unvergeßlichen
Freundes. Besondere Hervorhebung verdienen folgende Sätze,
die so recht beweisen, daß zweifellos die gleichgeschlechtlichen
Gefühle, die Wilde vor den Richter führten, Ausfluß einer an-
geborenen Natur waren und daß Wilde nicht der lasterhafte, ge-
sunkene Wüstling war, zu dem ihn so viele Feinde stempeln wollten»
Seite 3 sagt Sherard: „Er habe niemals einem Manne be-
gegnet, der in seinen Gesprächen reiner und für das Laster in
seiner Gemeinheit und Häßlichkeit verachtungsvoller gewesen wäre
wie Wilde."
Und S. 26: „Das Beispiel seines vollendeten Anstandes in
seiner Redeweise, in die niemals eine unlautere Idee eindrang,
die höheren Ideale, welche er verfolgte, die Eleganz und Vor-
nehmheit, welche ihn auszeichneten, würden selbst den Perver-
sesten und Ausschweifendsten einigen Rückhalt auferlegt haben. '^
Schneidt, Karl, Die Hundertfünfundsiebziger, in der
„Welt am Montag" vom 4. Januar 1904.
Schneidt erkennt an, daß die Homosexuellen weder die Ver-
achtung ihrer Mitmenschen noch die Härte des Gesetzes verdienten,
er will sie aber lediglich als bemitleidenswerte Kranke betrachtet
wissen und wendet sich gegen die Forderimg der Homosexuellen
nach Gleichstellung der homosexuellen Liebe mit der normalen.
Besonders aber tadelt er die „Exaltados" der Homosexualität,
die die gleichgeschlechtliche Liebe einseitig verherrlichen und
glauben machen wollten, als sei ihre Veranlagung die edlere und
höhere.
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— 513 —
In diesem Tadel bin ich mit Schneidt einige auch
ich weise jede höhere Wertung der homosexuellen Liebe
zurück. Desgleichen stimme ich mit Schneidt darin
überein y daß manche Homosexuelle allzu leichtfertig
gewisse Geisteshelden zu den Homosexuellen rechnen.
Des weiteren kann man Schneidt auch darin nicht
Unrecht geben, daß er es — wenn auch allzu schwarz-
seherisch und schrofif — rügt, daß Hitzköpfe und un-
reife Jünglinge aus Eitelkeit die schwierigen Fragen der
Homosexualität in Aufsätzen, die oft schon im Stil ihre
Unbildung und Unreife verrieten, behandelten. Hierbei
darf man aber nicht vergessen, daß ebenso viele unreife
und in der homosexuellen Frage unwissende Hetero-
sexuelle sich anmaßen, in dieser Frage schriftstellerisch
aufzutreten und durch ihre lächerlichen Produkte die
Homosexuellen zur Bekämpfung der herrschenden Vor-
urteile reizen.
Sittlichen Ernst und wissenschaftliche Befähigung erkennt
Schneidt auf Seite des Komitees an, aber er behauptet, es
hätte sich — wenn auch aus dem idealen Drang den in ihrer
innersten Natur verkannten Homosexuellen zu helfen — die Bun-
desgenossenschafc einer namenlosen Winkelpresse gefallen lassen
und sei Arm in Arm mit lärmvollen und unreifen Elementen vor
die Öffentlichkeit in Versammlungen getreten, bevor es überhaupt
über einwandsfreie Forschungsergebnisse verfugte.
In der „Zeit am Montag^^ vom 11. Januar hat
Dr. Hirscnfeld auf diesen Vorwurf erwidert^
,,daß sehr ernste wissenschaftliche Arbeiten, die sich Über
einen Zeitraum von über 80 Jahren erstreckten, es über jeden
Zweifel sicher gestellt hätten, daß das gleichgeschlechtliche
Empfinden eine vielen Personen angeborene, untrennbar mit ihrer
Konstitution verknüpfte Eigenschaft sei, femer daß in öffentlichen
Versammlungen jeder sprechen könne und eine Verbindung des
Komitees mit irgend welchen Elementen nicht vorhanden sei."
Schließlich meint Schneidt, zahlreiche und human empfindende
Leute hegten schwere Bedenken, sich der auf Beseitigung des
^175 abzielenden Bewegung anzuschließen, weil ihre Hauptforderer
Jahrbuch VI. 33
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— 514 —
keine Mittel anzugeben wüßten, wie der homosexuellen Prostitution
und der Verführung nicht homosexuell veranlagter Personen, so-
wie der Vergewaltigung von Knaben und Jünglingen durch Vor-
gesetzte, Arbeitgeber usw. beizukommen sei.
Schneidt ist im Irrtum. Derartige Mittel kann ich
ihm leicht angeben. Man mag den die weibliche Prosti-
tation bestrafenden § 361^ auf die männliche ausdehnen,
wenn man sie fürchtet, femer kann man einen Para-
graphen zum Schutz der Jünglinge bis zu 16 (oder
auch 18) Jahren aufnehmen (auch die Petition sieht ja
einen derartigen Paragraphen vor).
Über dieses Alter hinaus (16 oder 18 Jahre) er-
scheint aber die Bestrafung einer Verführung unzulässig,
da man doch auch nicht daran denkt, die Verführung
eines Mädchens zu bestrafen, die ganz anders in deren
Lebensschicksal eingreift, wie homosexuelle Akte mit fast
großjährigen jungen Männern. Vergewaltigung, d. h. mit
Gewalt ausgeführte homosexuelle Handlungen oder solche
mit Unzurechnungsfähigen ausgeführte, verdienen aller-
dings Bestrafung, daher ist Ausdehnung des § 176 Nr. 1
und 2 auf derartige Handlungen am Platze und zwar
einerlei, ob der Vergewaltigende Vorgesetzter oder Arbeit-
geber ist. Endlich sind homosexuelle Handlungen, die
unter Mißbrauch eines gewissen Autoritätsverhältnisses
begangen werden, schon nach § 174 strafbar. Den Miß-
brauch anderer Autoritätsverhältnisse als der in § 174
genannten, speziell hinsichtlich der homosexuellen Hand-
lungen strafbar zu erklären, dazu liegt nicht der min-
deste Grund vor; ein weit größeres, mindestens gleiches
Interesse bestände zum Schutze der schwächeren Mädchen.
In dem Artikel von Schneidt: „Ragout fln^< in
einer weiteren Januamummer der „Zeit am Montag"
berichtet Schneidt über die Menge von Schreiben, die er
aaf seinen ersten Artikel hin von Seiten Homosexueller empfangen
habe. In ironischer, geistreicher Weise spottet er über das pöbel-
hafte Benehmen dieser Homosexuellen und ihre rohen und ordi-
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— 515 —
nären, dazu anonymen Beschimpfungen. Nur zwei Briefe seien
unterzeichnet gewesen, der eine von Brand, der andere von Bab.
Beide Schriftsteller nimmt Schneidt von den Elementen aus, die
er in seinem ersten Artikel angegriffen, jedoch bekämpft er die
Anschauungen beider, namentlich hält er die künstlerische Behand-
lung imd Verherrlichung der Homosexualität für um so gefähr-
licher, je größer der ästhetische Gehalt des Kunstwerkes sei.
Die Homosexuellen^ welche auf die scharfen, aber
teilweise berechtigten^ jedenfalls durchaus in anständigem,
ernstem Tone gehaltenen Angriffe für gut befunden haben,
mit Schimpfworten zu antworten, haben die treffliche
Abführung seitens Schneidt verdient.
Es ist eifreulich, daß Schneidt jedoch gerecht genug war,
anzuerkennen, daß es unstreitig auch eine ganze Menge höchst
achtbarer Personen unter den Homosexuellen gäbe, denen man
schweres Unrecht zufügen würde, wollte man ihr Bildungsniveau
und ihre Ethik nach derjenigen dieser Briefschreiber beurteilen.
Sper, Br. A», Capri und die Homosexuellen. Eine
psychologische Studie. Orania-Verlag, Oranienburg-
Berlin.
Davon ausgehend, daß das Klima auf Ausbildung und
Bichtung des Geschlechtstriebes einen gewissen Einfluß ausübe,
stellt Verfasser die nicht unanfechtbare Behauptung auf, daß die
Homosexualität im Süden und namentlich in Italien weit ver-
breiteter als im Norden sei. In der sog. „arkadischen Zone" sei
die eigentlich nicht als Laster, vielmehr nur als eigenartig antro-
pologische Erscheinung zu betrachtende Homosexualität populär
und epidemisch. Besonders in Capri habe sie von jeher geblüht,
woran abgesehen vom Klima die paradiesische Schönheit der
dortigen männlichen Jugend hauptsächlich Schuld sei.
In Italien, wo Päpste und überhaupt die edelsten Vertreter
der Nation der Männerliebe gehuldigt, bedeuteten die gegen Krupp
erhobenen Anschuldigungen nicht vieL
Dem gegenüber ist zu berücksichtigen, dafi bei den
noch herrschenden Vorurteilen auch für einen Krupp die
öflFentliche Enthüllung seines Naturtriebes eine Brand-
markung bedeutete, die ihn in den Tod jagen konnte.
38*
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— 516 —
Die Verteidigung Krupps fuhrt Sper überhaupt zu einer
schiefen Beurteilung der Homosexualität. Er geißelt zwar die
Ungerechtigkeit des § 175 und fordert seine Aufhebung, aber er
stellt eine falsche Unterscheidung zwischen edler und sinnlicher
Homesexualität auf und bringt sie in einen unrichtigen Gegensatz
zueinander.
Nach Sper sollte man meinen, es gäbe eine große
charakteristische Klasse von Homosexuellen, die an TöUig
keuscher, schwärmerischer Liebe und idealem Schönheits-
kult sich begnügten, und dann im Gegensatz zu dieser
Kategorie eine Klasse sinnlicher Gesellen. Keusche Homo-
sexuelle kommen nun gewiß vor, ebenso wie keusche
Heterosexuelle, sie sind aber selten. Meist hat der
Homosexuelle Bedürfnis nach sinnlichem Verkehr und
huldigt ihm auch. Deshalb braucht er aber kein sinn-
licher Geselle, kein Wüstling zu sein und kann trotzdem
edlere Liebe empfinden. Man braucht die Homosexuellen,
wenn man sie verteidigen will, nicht als Engel zu malen,
sie verlieren nichts an Achtung, sie werden nicht zu
Lüstlingen gestempelt, wenn man der Wirklichkeit ent-
sprechend zugesteht, daß die meisten — ebenso wie die
Heterosexuellen — des sinnlichen Verkehrs bedürfen und
ihn ausüben.
Endlich muß entschieden der Auffassung wider-
sprochen werden, als habe der Kaiser in seiner berühmten
Essener Bede sich auf den Standpunkt der neueren
Forschungen über Homosexualität gestellt, die die Be-
seitigung des § 175 verlange. Davon ist nichts, aber
auch gar nichts aus der Rede herauszulesen.
Was schließlich die Frage betrifft, ob tatsächlich
Krupp homosexuell gewesen ist oder nicht, so will ich
nur bemerken, daß mir schon drei Jahre vor Krupps Tod
in Rom von Deutschen mitgeteilt wurde, Krupp sei homo-
sexuell.
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— 517 —
Einige Monate später wurde mir dasselbe in Baden-
Baden^ wo Krupp eine Villa besitzt, erzähljb. Endlich
äufierte sich mir gegenüber ein heterosexueller adliger
Herr bald nach Krupps Tode, daß in seinen Kreisen es
schon vor etwa zehn Jahren allgemein gesagt wurde, es
schicke sich nicht flir einen Krupp, der griechischen
Liebe zu huldigen.
Sper verfolgt dann den Zweck, Krupp von dem Verdacht
der Homosexualität und mindestens von demjenigen eines ge-
schlechtlichen Verkehrs mit Männern zu reinigen, wobei er sich
jedoch in Widersprüche verwickelt und sich zahlreicher — viel-
leicht absichtlicher — Unklarheiten schuldig macht.
Er meint, Krupp sei ein Opfer des italienischen Milieu ge-
worden. Der Italiener aus dem Volk habe den Verkehr des
Millionärs Krupp mit armen Landleuten nur homosexuell deuten
können. Krupp sei aber nicht homosexuell, vielmehr Mann in
der. Wortes tiefster Bedeutung gewesen.
Diese Behauptung von Sper paßt jedoch schlecht zu
der fast im gleichen Satze von Kjupp gegebenen Cha^
rakteristik als einer „hypersensitiven Künstlernatur", als
ein Mann, über dessen Wesen ein fast femininer Hauch
ausgebreitet gewesen sei, eine Charakteristik, die eher
auf einen Homosexuellen, als auf einen Vollmann hin-
weist
Des weiteren heifit es doch sicherlich die ganze
Sache auf den Kopf stellen, das tragische Ende Krupps
als Beweis von der Unwahrheit des über ihn verbreiteten
Gerüchts aufzufassen, weil kein Homosexueller in ver-
hängnisvolle Erregung gerate, keiner in der Beschul-
digung der Homosexualität eine Beleidigung erblicke (!).
Alles, was Sper in dieser Beziehung sagt, läßt sich
nicht halten: Gesellschaftlich ist ja der Homosexuelle
nicht anerkannt; noch in den weitesten Kreisen — und
gerade in den hochkonservativen, orthodoxen Kreisen
Krupps — gilt der Homosexuelle als lasterhafter Mensch,
als Verbrecher, jedenfalls dann, wenn seine Homosexualität
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— 518 —
öflFentlich bekannt wird. Den besten Beweis, wie wenig die
Homosexualität den neuen wissenschaftlichen Forschungen
entsprechend beurteilt wird, lieferte das Gtebahren der
meisten Zeitungen im Falle Krupp; keine wagte zu ver-
künden, daß die Homosexualität kein Laster sei und
ihre Betätigung keine ehrenrührige Handlung bedeutet
Das Komitee allein hat öffentlich Protest gegen diese
Auffassung erhoben.
Tamowsky, Llnstinet sexuel et ses manifestations
morbides au double point de Tue de la Juris-
prudenee et de la Psychiatric. Paris, 1904, Car-
rington.
Das Buch ist die franzöBiscbe Übersetzung des schon vor
Jahren erschienenen verdienstvollen, aber zur Zeit in vielen
Punkten überholten Originalwerkes, in welchem Tarnowsky als
einer der Ersten die angeborene Perversion eingehend besprochen
hat, wenn er auch in vielen Fällen eine Erwerbung annimmt.
Besonders bemerkenswert ist auch der Abschnitt über die psychische
Hermaphrodisie, der noch heute Beachtung beanspruchen kann.
Der Übersetzung hat der bekannte französische Professor
Laccasagne eine Bibliographie der Homosexualität beigefugt, die,
wie er bemerkt, entnommen sei teils persönlichen Notizen, teils
dem „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen/' Die Bibliographie,
die mit Ausnahme von drei oder vier Büchern, bei denen kurze
Notizen angegeben sind, nur die Titel anfuhrt, ist ziemlich un-
vollständig.
Anscheinend ist nur die Bibliographie des Jahrbuches I
benutzt, und auch aus dieser sind gerade hochwichtige homo-
sexuelle Sachen (z. B. Eckhouds Werke) bei Seite gelassen, wäh-
rend manche Schrift, deren homosexueller Charakter überhaupt
fraglich ist, Aufnahme gefunden hat. Die neueste Literatur seit
dem ersten Jahrbuch fehlt völlig. *
Taruffl, Caesare, Hermaphrodlsmus und Zengungs-
Unfähigkeit. Eine systematische Darstellung der
Mißbildungen der menschlichen Geschlechtsorgane.
Übersetzt von Dr. med. Teuscher. Berlin, 1903, Ver-
lag von Barsdorf.
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— 519 —
Nach einem historischen Überhlick über die den Herma-
phrodismus berührenden Forschungen wird in Teil I der ana-
tomische Hermaphrodismas behandelt in folgenden Artikeln:
1. Hermaphrodismus der spezifischen Geschlechtsdrüsen.
2. Hermaphrodismus der aplasischen Geschlechtsdrüsen.
3. Pseudo- Hermaphrodismus; A. Männlicher. B. Weiblicher.
Teil n enthält: Feminismus (der feminierte Mann) d. h.
FäUe, wo im Äußern, im Körperbau usw. beim Manne sich Cha-
raktere des Weibes finden, besonders wu*d Kleinheit der Gestalt
hervorgehoben, Mikrosomie, die bis zum Nanismus (Zwerg-
haftigkeit) geben könne.
Infantilismus: Fortdauer vom Habitus und Äußerem des
Kindes.
Gynäkomastie: Weibliche Brüste bei Männern.
Zweiter Abschnitt: Invirilismus (Virago, Kap. I), d. h. an-
geborene Entwicklung eines oder mehrerer Teile eines Weibes mit
psychischen und funktionellen Eigenschaften, die denen des Mannes
ähnlich. Dazu gehören besonders:
Weibliche Makrosomie (Kap. II), also hohe Statur, Hyper-
trichosis (Kap. III), Bartwuchs bei dem Weibe.
Makrosomie und Hypertrichosis könnten für sich allein ge-
nommen, nicht als wesentlich und ausschließlich für den Inviri-
lismus betrachtet werden, denn der eine oder andere oder beide
könnten fehlen, und dennoch könnten Frauen aus andern Gründen
als Viragines zu betrachten sein.
Auch die Elephantiasis (Kap. lY) (d. h. außergewöhnliche
Größe) und Hypertrophie der Clitoris, die nicht die anatomischen
Eigenschaften des Penis, sondern nur eine grobe Ähnlichkeit zeige,
sei nur als Pseudo-Invirilismus zu bezeichnen und mache nicht
den Typus der Virago aus, könne aber bewirken, daß die Frau
zur Tribade werde.
Unter dem „Psychologischen Invirilismus'* (Kap. V)
erwähnt Verfasser in § 1, betitelt: „Psychopathie", durch männ-
liche psychologische Eigenschaften ausgezeichnete Frauen (Jeanne
d'Arc usw.) (in Kunst und Wissenschaft hervorragende Frauen usw.),
und in § 2 „Der psychisch-sexuelle Invirilismus" die Fälle
von Satyriasis, während er in § 3 „Sexuelle Perversion", die
konträre Sexualempfindung im allgemeinen bespricht. Dabei
bringt er kaum mehr, als die Einteilungen und Eesultate aus
Eürafft-Ebing, dagegen enthält Kapitel VI., das speziell dem „Tri-
badismus" gewidmet ist, einige weniger bekannte historische und
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— 520 —
literarische Notizen, so von Marokkanischen Wahrsagerinnen, Sa-
hacat genannt (d. h. Fricatrices), die als Bezahlung fär ihre Weis-
sagungen von den sie konsultierenden Frauen, die ihnen gefielen,
geschlechtlichen Verkehr verlangten, femer z. B. zwei Stellen aus
der Schrift des berühmten italienischen Arztes Girolamo Merenziale
aus dem 17. Jahrhundert „Variorum lectionum in medicinae scrip-
toribus", von denen eine unter Anführung von Ci taten in griechischer
Sprache den Gebrauch der Cunilingui Weiber im Altertum be-
spreche. (Nach Haller 13. Kap. des 2. Buches: Miscellanea in
antiquitate sumpta loci veterum emendati, ezplicati, pleraque
practica, conciliata in poetarum italorum veterum locis.)
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich wieder mit den urethro-
sezualen Neubildungen und das zweite Kapitel dieses Abschnitts
„Psycho-sezuelle Pathologie", behandelt die psychischen
Alterationen und Einflüsse, die die Mißbildungen der Geschlechts-
organe zur Folge hätten, insbesondere wird auch Ehescheidung
und Ungültigkeit der Ehe als Folge der Mißbildung besprochen.
Sämmtlichen Abschnitten sind umfangreiche Belege, Darstel-
lungen und Berichte über die einzelnen Fragen beigegeben.
Das Buch enthält eine große und zum Teil wert-
volle Fülle des Materials, die ganze Disposition scheint
mir aber unklar und unübersichtlich, überhaupt macht
das ganze Werk den Eindruck des wissenschaftlich un-
genügend Vorbereiteten, der vorwiegenden Mosaikarbeit,
der mangelhaften Synthese.
Weininger, Br. Otto, Geschlecht und Charakter.
Eine prinzipielle Untersuchung. Wien und Leipzig,
1903, Wilhelm Braumüller.
Das Buch beabsichtigt, die geistigen Differenzen der Ge-
schlechter in ein System zn bringen. Das Einzelproblem des
Geschlechtsgegensatzes bilde den Ausgangspunkt für die höchsten
und allgemeinsten Menschheitsprobleme.
Die bisherige scharfe Unterscheidung zwischen Mann und
Weib sei unrichtig. Die geschlechtliche Differenzierung sei nie
eine vollständige. Alle Eigentümlichkeiten des männlichen Ge-
schlechts seien irgendwie, wenn auch noch so schwach entwickelt,
beim weiblichen Geschlecht nachzuweisen und umgekehrt.
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— 521 —
£b gäbe unzählige Abstufungen zwischen Mann und Weib,
sexuelle Zwischenformen. Man könne einen idealen Mann und
ein ideales Weib, die in der Wirklichkeit nicht existierten, nur
als sexuelle Typen aufstellen. Jeder Mensch bewege sich in der
Wirklichkeit zwischen diesen zwei idealen £xtremen. Es gebe in
der Erfahrung nicht Mann und Weib, könne man sagen, sondern
nur Männliches und Weibliches.
Das Geschlecht sei nicht auf gewisse Organe oder Stellen
beschränkt, jede Zelle des Organismus sei geschlechtlich charak-
terisiert, habe eine bestimmte sexuelle Betonung, diese sexuelle
Charakteristik der Zelle könne einen verschieden hohen Grad
haben. Die Geschlechtlichkeit des Individuums werde durch die
innere Sekretion der Keimdrüse beeinflußt, diese Sekretion müsse
in gewissem Maße als ergänzende Komplementärbedingung hinzu-
kommen, um ein bestimmt qualifiziertes Masculinum oder Femi-
ninum hervorzubringen. Die verschiedenen Zellen eines und des-
selben Organismus würden nicht immer die gleiche und sehr oft
nicht eine gleich starke Charakteristik besitzen.
Es läge durchaus nicht in allen ZeUen eines Körpers der
gleiche Gehalt an Männlichem und Weiblichem. Daher z. B.
Männer mit sehr schwachem Bart, Menschen mit rechter weiblicher
und linker männlicher Hüfte und dergl.
Wenn auch weite AbstILnde in der sexuellen Charakteristik
zwischen den verschiedenen Zellen oder Organen desselben Lebe-
wesens eine Seltenheit bildeten, so müsse man doch die Spezi-
fizität derselben für jede einzelne Zelle als allgemeinen Fall an-
sehen.
Die verschiedenen Grade der ursprünglichen sexuellen Cha-
rakteristik zusammen mit der (bei den einzelnen Individuen
wahrscheinlich qualitiv und quantitiv) variierenden inneren Sekretion
bedingten das Auftreten der sexuellen Zwischenformen.
Weiningers Annahme, daß das Männliche und Weibliche in
verschiedenen Verhältnissen sich auf die Lebewesen verteile, führt
ihn zu einer Erklärung der sexuellen Anziehung, zu einem Natur-
gesetz, daß darin bestünde, daß immer ein ganzer Mann und
ein ganzes Weib danach trachteten, zu sexueller Vereinigung
zusammen zu kommen, wenn auch das Männliche und Weibliche
in jedem einzelnen Fall auf die zwei verschiedenen Individuen in
verschiedenen Verhältnissen verteilt sei. Die sexuelle Anziehung
sei zwischen denjenigen Individuen am größten, von denen das
eine ebensoviel Männliches wie das andere Weibliches besitze.
Dieses Gesetz der sexuellen Anziehung sei nicht das einzige, es
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— 522 —
kfimen noch sehr viele andere, noch nicht genügende bekannte
Faktoren hinzu.
In dem Gesetz der sexuellen Anziehung sei zugleich die Er-
klärung der konträren Sexualempfindung zu suchen. Jeder Kon-
träre weise auch anatomisch gewisse Charaktere des andern Ge-
schlechts auf. Schon das zeige die Unrichtigkeit der Anschauung,
wonach der konträre Sexualtrieb im Laufe des Lebens erworben
sei und das normale Geschlechtsgefühl überdecke. Ebensowenig
sei die konträre Sexualempfindung ein auf Grund heriditärer Be-
lastung ererbtes krankhaftes Symptom.
Die Homosexualität sei kein Bückschlag oder unvollendete
Entwicklung oder mangelhafte Differenzierung der Geschlechter,
überhaupt keine Anomalie, die nur vereinzelt dastünde und als
Rest einer früheren Undifferenziertheit in die sonst völlig voll-
zogene Sonderung der Geschlechter hineinrage. Die Homosexu-
alität sei vielmehr als die Geschlechtlichkeit der sexuellen Mittel-
stufen in den kontinuierlichen Zusammenhang der sexuellen
Zwischenformen einzureiben.
In jedem menschlichen Wesen sei entsprechend dem mehr
oder minder rudimentär gewordenen Charakter des andern Gre-
schlechts auch die Anlage zur Homosexualität, wenn auch noch
schwach, vorbanden. Es gäbe eigentlich keine völlig Invertierte,
sondern nur Bisexuelle, bei denen entweder die Homo- oder
Heterosexualität schließlich die Oberhand gewonnen.
Das konträre Geschlcchtsgefühl sei keine Ausnahme vom
Naturgesetz, sondern nur ein Spezialfall desselben. Ein Indivi-
duum, das ungefähr zur Hälfte Mann, zur Hälfte Weib sei, ver-
lange eben nach dem Gesetz der sexuellen Anziehung zu seiner
Ergänzung ein anderes, das ebenfalls von beiden Geschlechtem
etwa gleiche Anteile habe.
Dies sei auch der Grund, daß die Konträren fast immer nur
untereinander ihre Art von Sexualität ausübten.
Das therapeutische Verfahren der Suggestion, mit dem man
die sexuelle Perversion heute bekämpfe und das nur minimale
Erfolge aufweise, zeige die Unzulänglichkeit der bisherigen Er-
klärungstheorien der konträren Sexual empfindung. Halte man eine
Therapie der konträren Sexualempfindung unbedingt für wünschens-
wert, so könne die Suggestionskur nur da Erfolg haben, wo man
den Konträren Neigung für das seiner Natur entsprechende Kom-
plement einzuflößen suche, d. h. Neigung für das möglichst männ-
liche Weib; man müsse den Homosexuellen an die Tribade weisen»
Der Sinn dieser Empfehlung könne aber nur der sein, dem Kon-
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— 523 -
trären die BefolguDg der noch in Kraft stehenden Gesetze gegen
homosexuelle Akte, die eine Lächerlichkeit seien, möglichst leicht
zu machen.
Es sei ganz verwerflich und auch mit den Prinzipien des
Strafrechts, das nur das Verbrechen, nicht die Sünde ahnde, völlig
unvereinbar, dem Homosexuellen seine Art des Geschlechtsverkehrs
zu verbieten und dem Heterosexuellen die seine zu gestatten.
Die Subsnmption der Konträren unter die sexuellen Zwischen*
stufen und das entwickelte Gresetz ihres Geschlechtsverkehrs
scheine allerdings für eine Klasse von Fällen nicht zu passen.
Es gäbe nämlich Männer, die sehr wenig weiblich seien und trotz*
dem sich von Personen des eigenen Geschlechts mehr angezogen
fühlten als von Frauen, durchaus männliche Männer, auf die das
eigene Geschlecht eine stärkere Wirkung ausübe als auf Männer,
die weiblicher seien als sie.
Diese Männer könne man im Gegensatz zum Homosexuellen
als Päderasten bezeichnen. Während der Homosexuelle derjenige
sei, der weibliche Männer und männliche Weiber bevorzuge, könne
der Päderast sehr männliche Männer, aber ebensowohl sehr weib-
liche Frauen lieben, das letztere, soweit er nicht Päderast seL
Dennoch werde die Neigung zum männlichen Geschlecht bei ihm
stärker sein und tiefer gehen als die zum weiblichen. Die Frage
nach dem Grund der Päderastie bilde ein Problem ftir sich, das
er, Weininger, bei seiner Untersuchung unerledigt lassen wolle.
Sein Prinzip der sexuellen Zwischenstufen wendet Weininger
auch auf die Charakterologie an. Auch von dem Charakter könne
man wissenschaftlich nicht mehr wie bisher sagen, er sei männlich
oder weiblich schlechthin, sondern man müsse fragen, wie viel
Mann, wie viel Weib in einem Menschen sei. Das verschieden
abgestufte Beisammensein vom Männlichen und Weiblichen sei
Hauptprinzip aller wissenschaftlichen Charakterologie, diese Tat-
sache sei besonders von der speziellen Pädagogik zu berücksichtigen,
die sie bisher außer acht gelassen.
Auch für die Frauen frage sei das Prinzip der Zwischen-
formen von Bedeutung. Das Emanzipationsbedüriiiis und die
Emanzipationsfahigkeit einer Frau läge nur in dem Anteil an
Männlichem begründet, den sie besitze. Unter Emanzipation sei
zu verstehen der Wille des Weibes, dem Mann innerlich gleich
zu werden, zu seiner geistigen und moralischen Freiheit, zu seinen
Interessen und seiner Schaffenskraft zu gelangen. Das wirkliche
Weib habe gar kein Bedürfnis und keine Fähigkeit zu dieser
Emanzipation. Alle wirklich nach Emanzipation strebenden, alle
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— 524 —
mit einem gewissen Recht berühmten und geistig irgendwie her-
vorragenden Frauen wiesen stets zahhreiche männliche Züge auf
und es seien dem schärferen Blick auch immer anatomisch-männ-
liche Charaktere, ein körperlich dem Manne angenähertes Aus-
sehen an ihnen erkennbar. Nur den vorgerückteren sexuellen
Zwischenformen, man könne beinahe schon sagen jener sexuellen
Mittelstufen, ,die gerade noch den Weibern beigezählt werden
könnten, entstammten jene Frauen der Gegenwart wie der Ver-
g^genheit, die von Vorkämpfern von Emanzipationsbestrebungen
zum Beweise für gewisse Leistungen von Frauen angeführt würden.
Gleich die erste geschichtliche Frau dieser Art, Sappho, sei kon-
trärsexuell. Man habe Sappho von philologischer Seite sehr eifrig
von dem Verdacht wirklicher Liebesverhältnisse mit Frauen zu
reinigen gesucht, als ob der Vorwurf gleichgeschlechtlicher Liebe
eine Frau sittlich sehr stark herabwürdigen würde. Dies sei
keineswegs gerechtfertigt.
Die Neigung zu lesbischer Liebe einer Frau sei Ausfluß
ihrer Männlichkeit, sei aber geradezu Bedingung ihres Höher-
stehens. Katharina II. von Rußland, Christine von Schweden,
Georges Sand seien bisexuell oder ausschließlich homosexuell,
ebenso wie alle Frauen und Mädchen von auch nur einigermaßen
in Betracht kommender Bedeutung, die der Verfasser kennen ge-
lernt habe.
Auch diejenigen bedeutenden Frauen, über die keine Zeug-
nisse lesbischen Empfindens vorlägen, würden ihren Gehalt an
Männlichkeit dadurch offenbaren, daß ihr sexuelles Komplement
auf Seite der Männer nie ein echter Mann sein werde. Zum Bei-
spiel das Verhältnis von Georges Sand zu Musset und zu dem
weiblichsten der Musiker, Chopin, dasjenige von Daniel Stern
zu dem weiblichen Liszt, von Mme. Stael zu dem homosexuellen
Hauslehrer ihrer Kinder, August Schlegel usw.
Der Unsinn der Emanzipationsbestrebungen läge in der Be-
wegung, in der Agitation, durch welche verleitet auch die Weiber
daran teilnehmen wollten, die gar kein Bedürfnis und keine Fähig-
keiten dazu besäßen. Freier Zulaß zu allem sei nur für diejenigen
zu verlangen, deren wahre psychische Bedürfnisse sie stets in
Gemäßheit ihrer körperlichen Beschaffenheit zu männlicher Be-
schäftigung triebe, für die Frauen mit männlichen Zügen.
Trotz seiner Auffassung von Mann und Frau als bloße Typen,
ideale Gebilde, während in der Wirklichkeit lediglich Mischungen
aus diesen zwei Typen vorkämen, betont Weininger im ersten
Kapitel: „Die sexuellen Typen" des zweiten Teiles, daß „Mensch*'
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— 525 —
zunächst wenigstens in ein und derselben Zeit entweder Mann
oder Weib sein müsse. Damit stehe im Einklang, daß fast alles,
was sich für ein Masculinum oder Femininum schlechtweg halte,
auch sein Komplement für das „Weib" oder den „Mann*' schlecht-
weg ansähe. Daher fülle auch in den Beziehungen zweier Kon-
trärer das eine Individuum die männliche, das andere die weib.*
liehe Funktion aus. Das Verhältnis Mann- Weib erweise sich hier
als fundamental an der entscheidenden Stelle, als etwas, worüber
nicht hinauszukommen sei.
In den folgenden Kapiteln des zweiten Teils wird die Frage
der Zwischenstufen und der Homosexualität kaum noch berührt,
nur im Kapitel „Mutterschaft und Prostitution*' wird die mann*
liehe Prostitution gestreift Die Prostitution sei in der Natur der
Frau begi*ündet Dem echten Manne, den materiell noch öfter
ein widriges Schicksal treffe und welcher Armut intensiyer
empfinde als das Weib, sei gleichwohl die Prostitution fremd
und männliche Prostituierte (unter Kellnern, Friseurgehilfen usw.)
seien immer vorgerückte sexuelle Zwischenformen.
In seinem zweiten Teile will Weininger die Inferiorität des
Weibes gegenüber dem Manne nachweisen.
Wirkliches Bewußtsein habe nur der Mann, die Frau lebe
unbewußt. Genialität, d. h. Leben in bewußtem Zusammenhang
mit dem Weltganzen, sei nur an die Männlichkeit geknüpft, sie
stelle ideal potenzierte Männlichkeit dar. Logik und £thik seien
nur beim Manne zu finden, nur der Mann habe eine Seele, die
Frau habe keinen Willen, keinen Eigenwert der menschlichen
Persönlichkeit. Die Frau sei ganz Sexualität. Alle Weiblichkeit
sei Unsittlichkeit und müsse überwunden werden. Der Mann
müsse sich von der Geschlechtlichkeit erlösen, nur so erlöse er
auch die Frau. Lediglich das wäre Frauenemanzipation, daß sich
die Frau unter die sittliche Idee, unter die Idee der Menschheit
stelle. Es komme lediglich darauf an, ob der kategorische Impe-
rativ in der Frau lebendig werden könne.
Vieles in dem Buche von Weininger, namentlich in
dem zweiten, gegen die Eigenart der Frau gerichteten
Teil, muß ich als übertrieben, tiberspannt, falsch, vieles
geradezu als Beispiel abgeschmackten Philosophierens
bezeichnen. Trotzdem wird man doch dem großzügig
gedachten Werk nicht die Bedeutung absprechen und
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— 526 —
die hohe Begabung des leider (im Jahre 1903) durch
Selbstmord dahingeschiedenen Verfassers bewundern.
Seit Schopenhauer ist es wohl das erste Mal, daß
in einem ernsteren philosophischen Werk auch die Lösung
des homosexuellen Problems versucht worden ist
In allem was Weininger über die geschlechtlichen
Zwischenstufen sagt, ist ja wenig neues zu finden, nament-
lich haben Hirschfeld und Möbius ähnliches vor ihm auf-
gestellt. Hoch erfreulich bleibt es jedoch, daß Weininger
sich in den Bahnen der neuesten Spezialwissenschaft
über Homosexualität bewegt und insbesondere die An-
schauungen dieses Jahrbuchs verwertet hat.
Den meisten Ausflihrungen Weiningers über sexuelle
Zwischenstufen und sexuelle Anziehung möchte ich bei-
stimmen, unrichtig ist jedoch die Behauptung, die Kon-
trären fühlten sich meist zu Konträren geschlechtlich
hingezogen. Viele Konträre haben so viel Weibliches an
sich, daß ihr sexuelles Komplement nur der Normalmann
sein kann. Mit Unrecht macht sodann Weininger eine
scharfe Trennung zwischen dem weiblich und dem männ-
lich gearteten Homosexuellen, den er Päderast nennt.
Dieser sogenannte Päderast fällt nicht aus der Reihe der
Zwischenstufen heraus. Auch er hat zweifellos trotz
seiner oft hervorragenden männlichen Eigenschaften des
Geistes und des Charakters eine Mischung weiblicher
Gefühlselemente, die ihn sexuell auf den Mann hin-
weisen. Da aber das Männliche andererseits stark in
ihm vertreten ist, so kann es nicht ver wundem, wenn
er z. B. Jünglinge mit weiblichem Typus bevorzugt.
Die Mischung des Männlichen und Weiblichen in
einem Menschen kann ebenso verschieden, so eigenartig
gestaltet sein, daß auch die verschiedenste sexuelle An-
ziehung, der verschiedenartigste sexuelle Geschmack ent-
steht, ganz abgesehen, daß Weininger selbst zugibt, daß
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— 527 —
auch andere, bisher nicht ergründete Elemjsnte bei der
sexuellen Beziehung mitspielen. Deshalb kommen auch
bei der Liebe der Konträren alle möglichen nur er-
denklichen Variationen vor.
MSbius hat in einer eigenen Broschüre Gesehleclit
und ünbeselieidenheit (Halle, 1904, Marhold)
gegen Weiningers Buch eine sehr scharfe und namentlich hin-
sichtlich des zweiten Teiles des Werkes berechtigte Kritik ver-
öffentlicht.
Unter anderem wendet sich Möbius gegen die Anmaßung
Weiningers ; neue Gesichtspunkte auf dem Gebiet der Sexualität
und der Differenzierung der Geschlechter entdeckt zu haben.
Besonders aber interessiert hier ein Punkt, über welchen
zwischen Möbius und Weininger Meinungsunterschiede bestehen.
Möbius bekämpft lebhaft die Ansicht Weiningers, die ge-
schlechtlichen Zwischenstufen seien eine normale Erscheinung.
Das Zwischenreich zwischen Mann und Weib gehöre der
Pathologie an. Auch wenn man die Grenzen der Zwischenstufen
weit stecke, blieben sie immer Ausnahmen.
Sehe man von den Zwischenformen ab, so zahlreich sie auch
sein mögen, so zerfalle doch die Menschheit in richtige Männer
und richtige Weiber. Weil die Zwischenformen krankhaft seien,
so gelte der Satz: Je gesunder ein Mensch sei, um so entschie-
dener sei er Mann oder Frau. Wären, wie Weininger glaubt, die
Zwischenformen die Wirklichkeit und die Typen nur die ge-
dachten Enden der Reihe, so wäre der Hermaphrodit das realste
Geschöpf. Er sei es aber nicht, sondern er sei nur das Extrem
einer krankhaften Abweichung.
Bedauerlich sei , daß durch das Bestreben mancher der
Homosexuellen, sich für normal zu halten, immer neue Wirrungen
entstünden. Sie hielten etwas unrichtiges für wahr, weil sie es
aus ihrem bedrängten Zustande heraus wünschten.
Möbius und Weininger stimmen darin überein, daß
zwischen dem Vollmann und dem Vollweib sich zahl-
lose Zwischenstufen, darunter auch die Homosexualität,
einreihen.
Ist man hierüber einig und zieht man die Grenzen
dieser Zwischenstufen so außerordentlich weit, wie Möbius
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es tut, dani\ wird man auch kaum einen Vollmann und
ein Vollweib in der Wirklichkeit finden, weshalb auch
gerade aus den eigenen Anschauungen von Mobius her-
aus die Ansicht Weiningers von der einzigen Realität
der Zwischenformen sich deduzieren läßt und ihre Be-
rechtigung herleitet. Bei der Streitfrage, ob die Zwischen-
stufen als krankhaft oder natürlich zu betrachten seien,
handelt es sich im Grunde nur um einen Wertstreit^
denn einmal kann und soll ja auch gar nicht eigentliche
Krankheit, sondern nur Anomalie , Abnormität gemeint
sein, zweitens aber wird von Möbius selbst hervorgehoben
(vgl. oben die Besprechung von „Geschlecht und Entartung**)»
daß die Entartung, welche die Homosexualität darstelle,
keineswegs notwendigerweise Minderwertigkeit, oft sogar
das Gegenteil bedeute.
West, Dr. Ludwig, Homosexuelle Probleme. Im
Lichte der neuesten Forschung allgemeinverständlich
dargestellt Berlin, 1903, Carl Messer & Co.
Der Verfasser hat aus den wichtigsten wissenschaftlichen
Arbeiten über Homosexualität, insbesondere aus den Werken von
Krafft-Ebing und Moll, sowie ans den Jahrbüchern die haupt-
sächlichsten Fragen über Homosexualität zusammenzustellen ver-
sucht, wobei er oft ganze Abschnitte — allerdings meist mit aus-
drücklicher Quellenangabe — fast wörtlich wiedergibt. Nament-
lich die Jahrbücher sind reichlich benutzt. Eigene Gedanken
bringt Verfasser nicht. In seiner Einleitung macht er auch aus-
drücklich darauf aufmerksam, daß er nur bezweckt habe, in einem
verhältnismäßig kurzen, allgemeinverständlichen Buch dem Nicht-
gelehrten auf Grund der von der Wissenschaft als richtig aner-
kannten Tatsachen Aufklärung zu verschaffen.
Einige Irrtümer sind zu berichtigen.
1. Seite 29 heißt es: Konträre, Konträrsexuelle sind neuere
Bezeichnungen, die noch umfassender sind als homosexuell, inso-
fern sie nicht nur auf die gleichgeschlechtliche Liebe, als auf alle
Anomalien des Geschlechtstriebes, sowie auf Fetischismus, Sadismus,
Masochismus, Flagellantismus, Koprolagismus , Nekromanie usw.
anwendbar seien.
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— 529 —
Dieselbe Bedeutung haben die Ausdrücke „Sexuelle Inversion"
„Perversion" usw.
Diese Auslegung der Begriflfe „sexuelle Inversion"
und „konträr-sexuell" ist durchaus unrichtig.
Kein einziger wissenschaftlicher Autor hat jemals
die Worte „konträr", ,,konträr- sexuell" und „sexuelle
Inversion" in diesem Sinne gebraucht. Diese Worte
lassen sich auch nur auf gleichgeschlechtliches Gefühl
ihrem Sinne nach anwenden.
Nur das Wort „Perversion" hat umfassendere Be-
deutung und bezeichnet nicht bloß die Homosexualität,
sondern auch alle sonstigen se:i^uellen Anomalien.
2. In Kapitel IV meint Verfasser: „Zweifellos gibt es gerade
unter den Homosexuellen einen außerordentlich großen Prozent-
satz, der dem fleischlichen Genuß überhaupt abhold und nur far
die sog. „platonische Liebe" empfanglich ist."
Der Homosexuelle, der der sinnlichen Befriedigung
— womit natürlich nicht immissio penis in anum ge-
meint sein soll — abhold ist, bildet eine ebenso große
Seltenheit wie der Heterosexuelle, der dem Geschlechts-
verkehr mit dem Weibe abgeneigt ist
3. Kapitel VIII warnt Verfasser davor: Dichterische oder
wissenschaftliche Stümper wegen ihrer Homosexualität zu bedeu-
tenden Männern zu stempeln.
Hierin gebe ich ihm Eecht, dagegen geht er viel zu
weit, wenn er Platen geradezu als einen Stümper be-
zeichnet War auch Platen kein Dichter ersten Ranges, so ist
es eine arge Übertreibung, ihn aus der Reihe der Künstler
streichen zu wollen. Ein feinfühliger Mensch und ein
Talent, das in der deutschen Literatur eine geachtete
Stellung einnimmt, bleibt er deshalb doch und die Homo*
sexuellen dürfen ihn mit Stolz zu den ihrigen rechnen;
möchten sie nur viele Individualitäten, als Menschen und
Künstler gleich ausgezeichnet wie Platen, aufweisen!
Jahrbuch VI. 34
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— 530 —
IVlllielm, Amtsrieliter Dr. £ugen, Ein Fall ron
Homosexualität (Androgynle), im Archiv für Kri-
minal-Anthropologie und Kriminalistik von Groß,
Bd. XIV, Nr. 1, 2.
Die Prozeßgeschichte des wegen Vergehens gegen § 175
durch das Landgericht Straßburg zu zwei Jahren Geföngnis
unter Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf 5 Jahre
verurteilten K. wird mitgeteilt.
K. hatte abends in Frauenkleidern mit falschen Brüsten und
Perrücke versehen, Männer, die er über sein Greschlecht täuschte,
an sich gelockt und sich von ihnen gegen Bezahlung a posteriori
gebrauchen lassen oder Onanie per os mit ihnen ausgeübt
K. hatte erst wenige Monate vor seiner Verhaftung eine im
Jahre 1898 durch das Landgericht Mülhausen wegen w. ü. und
Diebstahls gegen ihn ausgesprochene Gefängnisstrafe von sy^ Jahren
verbüßt.
Auch in Mülhausen hatte er in Frauenkleidung Männer an
sich gelockt. Früher soll K. jahrelang in der Schweiz als Frau
gelebt haben und als Kellerin gedient haben.
Das Gutachten des Gerichtsarztes in Mülhausen über den
körperlichen Zustand, dem sich dasjenige des Straßburger Ge-
fängnisarztes anschloß, konstatierte einen völlig weiblichen Habi-
tus. Es besagt:
„K.'s Gesicht ist jenes eines Weibes. Wenn dasselbe
rasiert ist , so muß man es von nahe betrachten , um darin
einen Bart zu vermuten. Sein Auftreten, sein ganzes Wesen, die
Stimme, seine Manieren, sein tänzelndes Gehen und Stehen sind
dasjenige einer Frauensperson. Wenn man ihn in entblößtem,
nackten Zustand mit bedeckter Geschlechtsgegend betrachtet und
seine rund geformten Glieder und seinen runden fetten Rumpf vor
sich hat, so ist man ganz erstaunt,' bei diesem Menschen männ-
liche Geschlechtsteile zu finden. Diese Geschlechtsteile sind vor-
handen, befinden sich aber in verkümmertem Zustande. Sie sind
nicht größer als jene eines in die Pubertät eintretenden Knaben.
Auf Befragen gibt K. auch zu, noch niemals mit einem Mädchen
geschlechtlichen Umgang gehabt zu haben. Er habe überhaupt
keine Neigung zum weiblichen Geschlecht."
Nachdem das Gutachten den Zustand des After beschrieben,
sagt es als Endergebnis: „Hiernach bestehen bei K. die gewöhn-
lichen sämtlichen Merkmale, welche man in der Regel bei den
passiven Gewohnheitspäderasten vorfindet."
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— 531 —
In der an die „Prozeßgeschichte" sich anschließenden „Be-
urteilung" des Falles bezeichnet der Verfasser K. als deutlichen
und typischen Homosexuellen.
1. Verfasser betont, daß die Richter bei Beurteilung gleich-
geschlechtlicher Handlungen umgekehrt wie bisher, davon aus-
gehen müßten, daß sie in der Regel als Ausfluß konträrer Sexual-
empfindung zu betrachten seien, da nach den maßgebenden Sach-
verstandigen KrafiFt-Ebing, Moll, Hirschfeld usw. die konträre
Sexualempfindung eine weitverbreitete Erscheinung und nach
den Ärzten, welche die meisten Konträren untersucht (Moll und
Hirschfeld) die frühere Ansicht, daß Homosexualität als Resultat
eines Lüstlingslebens vorkomme, falsch sei.
Gestützt auf die Beschreibung , die Krafi^-Ebiog und Fuchs
von der Klasse der Homosexuellen geben, deren homosexuelles
Wesen sogar im Körperbau zum Ausdruck komme, macht Verfasser
aufmerksam, daß das Gutachten des Mülhauser Gerichtsarztes
über den Habitus des K. beweise, daß eine besonders typische
Androgynie vorliege. Obgleich das Gutachten des Gerichtsarztes
die Homosexualität mit keiner Silbe erwähne, so wirke es doch
durch die bloße Feststellung der körperlichen Beschaffenheit des
K. überzeugend, und demonstriere quasi ad oculos auch den den
Forschungen über Homosexualität skeptisch Gegenüberstehenden,
daß es sich bei diesem Weib-Mann nicht um einen Heterosexu-
ellen, der aus Überdruß am Weib zu gleichgeschlechtlichen Hand-
lungen gelangt sei, sondern um einen geborenen Homosexuellen,
um ein Naturspiel, um eine Zwischenstufe zwischen Mann und
Weib handle.
Als besonders typisch für die angeborene Homosexualität
des K. bezeichnet dann Wilhelm die Neigung des K. zum Tragen
von Frauenkleidem. Das Anlegen der Frauenkleider sei offenbar
nicht bloß erfolgt, um besser normale Männer des Geldes wegen
an sich zu locken, sondern die Verkleidung habe K.'s innerstem
weibischen Wesen entsprochen, da die Neigung zum Anlegen von
Frauenkleidem gerade effeminierten Urningen eigen sei.
2. Die Frage nach der Zurechnungsfiähigkeit des K. benützt
der Verfasser, um sich im allgemeinen über die hinsichtlich der
strafrechtlichen Verantwortung der Homosexuellen bestehenden
Ansichten zu verbreiten.
Nach den meisten Ärzten gälte die konträre Sexualempfin-
dung als krankhafte Erscheinung, jedoch nur in den seltensten
Fällen derart krankhaft, daß sie die Anwendung des § 51 bedinge.
34*
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— 532 —
Ob und wie weit K. zurechnungsfähig gewesen sei, könne nicht
gesagt werden, da eine psychische Untersuchung nicht stattge-
funden habe.
Nur einzelne wenige Autoren würden die Homosexualität an
und fiir sich als Strafausschließungsgrund anerkennen, so s. B.
Wachenfeld.
Würde man Wachenfeld beistimmen, so w&re K. zweifellos
wegen Unzurechnungsfähigkeit freizusprechen gewesen.
3. Erörtert Wilhelm die Frage, ob nicht im Falle der Ab-
änderung des § 175, den er in seiner jetzigen Gestalt für durchaus
unhaltbar erachtet, die männliche Prostitution zu bestrafen oder
wenigstens wie die weibliche unter Kontrolle zu stellen sei.
Dem Aufsatz sind einige Bemerkungen von Näcke
beigefügt Auch er hält es für nahezu sicher, daß R. ein Homo-
sexueller und zwar der effiminierten Art sei. Gegen die Ansicht
des ärztlichen Gutachtens, insoweit es aus dem Analbefunde sicher
auf passive Päderastie schließen wolle, müsse Protest eingelegt
werden, da ein absolut sicheres Zeichen hierfür nicht existiere.
Soweit das Leben des K. bekannt sei, weise nichts auf
eigentliche psychiatrische Symptome. Mangels solcher würde er
K. für zurechnungsfähig gehalten haben. K. sei aber zu hart be-
straft worden. Homo- und Heterosexualität seien gleichzustellen.
Vom Homosexuellen sei nicht mehr sexuelle Abstinenz zu ver-
langen, als vom Heterosexuellen. Lasse man die Prostitution für
die Heterosexuellen bestehen, so sei es nur logisch, die gleichen
Grundsätze auch auf die männliche Prostitution anzuwenden. Wie
sollten gewisse Homosexuelle sonst ihren Geschlechtstrieb be-
friedigen. Sicher wirke die männliche Prostitution nicht demo-
ralisierender als die weibliche und nur das damit so häufig ver-
bundene Erpresserunwesen sei zu fürchten, viel weniger dagegen
die Gefahr der syphilitischen Ansteckung. Es sei endlich auch
nicht einzusehen, warum es an und für sich einem Manne oder
einem Weibe verwehrt sein solle, sich andersgeschlechtlich zu
kleiden. Das ethische Gefühl werde dabei doch nicht verletzt,
höchstens nur die Sitte.
Das Interessanteste und Betrübendste an dem Fall
des K. ist die Tatsache^ daß trotz der unzähligen Schriften
und Erörterungen über die homosexuelle Frage in den
letzten Jahren zwei deutsche Gerichtsärzte es fertig
brachten, bei der Untersuchung eines wegen Vergehens
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— 633 —
gegen § 175 Angeklagten die wie selten sonnenklar schon
im Körperbau zutage tretende homosexuelle Natur des
Angeklagten auch nicht mit einer Silbe zu erwähnen
und daß von dem Staatsanwalt, dem Untersuchungsrichter
und den aburteilenden Eichtern, wie dies aus dem Urteil
der mitgeteilten Prozeßgeschichte und dem Urteil hervor-
geht, auch nicht einer daran dachte, die Frage der Homo-
sexualität zu berühren. Man mag die Verurteilung des
K. angesichts der erschwerenden Umstände bei der Be-
gehung der homosexuellen Handlungen nicht zu hart
finden, man kann es auch begreifen, daß Kichter die aus
konträrer Sexualempfindung fließende gleichgeschlecht-
liche Handlung aus diesem oder jenem Grunde nicht
nur für strafbar, sondern auch für strafwürdig halten,
aber eines muß man verlangen, daß der Eichter die
konträre Sexualempfindung kennt und bei einem aus
§ 175 Angeklagten die Grundfrage entscheidet, ob die
Tat eines Homo- oder Heterosexuellen vorliegt, denn
erst nach Beantwortung dieser Frage ist es für ihn mög-
lich, zur Frage des Strafmaßes Stellung zu nehmen.
Leider — dies beweist der Prozeß des K — haben
die meisten Eichter für die homosexuelle Frage nicht
das leiseste Verständnis und urteilen, ohne auch nur sich
Eechenschaft darüber zu geben, ob sie einen Hetero-
oder Homosexuellen vor sich haben.
Kapitel 11.
Die neueste Richtung.
Bab, £dwln, eand. med., Die glelchgescUeehtliehe
Liebe (Lleblingminne). Ein Wort über ihr Wesen
und ihre Bedeutung. Berlin, Verlag von Hugo Schild-
berger.
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— 534 —
Bab bekämpft die Unterscheidung Krafft-Ebings von „Per-
version** und „Perversität**. Auch die Perversität sei eigentlich
nichts widernatürliches. Denn alle Dinge, die tatsächlich seien,
seien natürlich.
Oleich dieser Ausgangspunkt ist nichts als trüge-
rischer Sophismus. Zwar liegt jede Handlang innerhalb
der Natur; aber insofern eine Handlung der Natur des
Handelnden widerspricht, kann man sie als unnatürlich
bezeichnen; deshalb lassen sich auch die sogenannten
sexuellen Surrogathandlungen Heterosexueller, weil der
Natur des Heterosexuellen inadäquat, als widernatürlich
qualifizieren.
Mit Recht betrachtet ßab das homosexuelle Empfinden weder
als Laster noch als Krankheit. Beweis dafür seien die homosexuellen
Größen der Weltgeschichte. Wenn Männer wie Michelangelo,
Winckelmann, Friedrich der Große, weil homosexuell, Verbrecher
seien, so sei es geradezu eine Ehre Verbrecher zu sein. Dagegen
leugnet Bab, daß der Urning als Angehöriger eines sogenannten
„dritten Geschlechts" aufzufassen sei.
Denn einmal würden gar nicht alle diejenigen Personen,
welche in körperlicher Hinsicht an das andere Geschlecht er-
innerten, umisch empfinden, und zweitens fände sich das urnische
Empfinden auch bei Personen, die nur unwesentliche Abweichungen
vom Grundtypus ihres Geschlechts aufwiesen.
Dem ist entgegenzuhalten, daß man schon wegen
des auffallenden charakteristischen Greschlechtsmerkmals
der konträren Sexualempfindung ihre Träger als An-
gehörige einer besonders gearteten Menschenklasse be-
zeichnen kann, abgesehen davon, daß so gut wie stets
beim Urning noch mehr oder weniger zahlreiche, dem
entgegengesetzten Geschlecht zukommende körperliche
oder geistige Merkmale vorhanden sein werden.
Ferner ist zu erwägen, daß diejenigen Personen,
welche in körperlicher Hinsicht an das andere Geschlecht
erinnern, ohne zugleich homosexuell zu empfinden, tat-
sächlich auch Zwischenstufen darstellen, die man jedoch,
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— 535 —
um eine Verwechselung dieser Kategorie mit den eigent-
lichen sexuellen Zwischenstufen, den Homosexuellen, zu
vermeiden, nicht als drittes Geschlecht wird hezeichnen
dürfen.
In der Streitfrage: Angeborensein oder Erwerb der Homo-
sexualität stimmt Bab keinem der bisherigen Forscher bei.
Er verwirft nicht nur die Theorie von der auf die Embryo-
nalanlage zurückzuführenden Entstehung der Homosexualit&t, er
leugnet nicht nur jedes Angeborensein der Homosexualität , son-
dern überhaupt auch der Heterosexualität.
Um diese Ansicht auf einen Grund zu stützen , greift Bab
zu der kühnen Behauptung, es gäbe überhaupt nur primäre
körperliche Geschlechtscharaktere, die Mann und Frau unter-
schieden; dagegen existierten keinerlei psychische sekundäre cha-
rakteristische Unterschiede in den seelischen und geistigen Eigen-
schaften zwischen Mann und Weib, und daher sei es auch unrichtig,
daB der Mann nur für das Weib, das Weib nur für den Mann
geschlechtlich empfinde.
Bab ist es vorbehalten geblieben, diese offensichtlich
falsche Behauptung, die jeder taglichen Erfahrung und
nicht minder den wissenschaftlichen Untersuchungen aus
den letzten Jahren (eines Ellis und Möbius) widerspricht,
als erster und einziger aufzustellen.
„Daß es permanente, komplementäre Unterschiede zwischen
Mann und Weib gibt, Unterschiede, die ursprünglich wohl auf
das Geschlecht zurückzuführen sind und von da ausgehend sich
über das ganze physische, geistige und sittliche Wesen beider er-
streckt haben, daran kann kein vernünftiger Mann zweifeln'*,
sagt mit Eecht Edward Carpenter („Wenn die
Menschen reif zur Liebe werden'*, S. 124).
Konsequent seiner Ansicht meint Bab : Der einzelne Mensch
empfinde von Anfang an bis zu einem gewissen Grade für Per-
sonen beiderlei Geschlechts.
Die Menschen würden nicht geboren als Männer, Weiber
oder Homosexuelle. Niemand liebe die „Männer** oder die „Weiber**,
sondern nur bestimmte Typen von Männern oder Weibern.
Dabei reagiere man auf diesen Typus ursprünglich ziemlich
unbekümmert darum, welchem Geschlecht er angehöre.
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— 536 —
Erst Einflüsse während des Lebens bewirkten suggestiv, daß
später die meisten Menschen nur für die Reize des einen Gre-
schlechts empfanglich zu sein glaubten.
Diese Typentheorie, sowie die Theorie des auf beide
Geschlechter gerichteten Triebes kann auf manche psychi-
sche Hermaphroditen zutreffen, keinesfalls aber auf die
große Menge der ausgesprochenen Homo- und Hetero-
sexuellen. Den Grundgedanken dieser Theorien hat Bab
anscheinend von Weininger (s. oben) entlehnt, ihn jedoch
in mißverständlicher. Weise ins Extreme verzerrt
Der Gedanke an Erwerbung der Hetero- und Homo-
sexualität intra vitam und an Massensuggestion als Ur-
sache der allgemeinen Verbreitung der Heterosexualitat
ist nicht zuerst von Bab ausgesprochen; ich selbst habe ihn
im Jahrbuch III als logische Schlußfolgerung bezeichnet,
für den Fall, daß man das Angeborensein der Homo-
sexualität leugnet Was ich aber als nicht annehmbare
Hypothese zum Beweis für das Angeborensein der Homo-
sexualität vorgebracht habe, stellt Bab als sichere Tat-
sache auf, obgleich gerade die bisher gründlichsten Unter-
suchungen über die Entstehung des Geschlechtstriebes
(MoUs Libido sexualis] das Eingeborensein der Eeaktions-
fähigkeit auf bestimmte Beize erwiesen haben.
Wäre die Theorie der Massensuggestion für die Be-
stimmung der Sichtung des Geschlechtstriebes zutreffend,
so wäre ganz unerklärlich, warum gewisse, denselben Ein-
flüssen wie die übrigen ausgesetzten Menschen entgegen
der allgemeinen Suggestion zur Liebe zum gleichen Ge-
schlecht verleitet werden ; femer, warum von zahlreichen
Knaben, die gegenseitig masturbierten, nur eine ver-
schwindend kleine Zahl später den gleichgeschlechtlichen
Trieb aufweist, und warum die in der Jugend empfangene
„homosexuelle Suggestion" nicht alle beeinflußt hat.
Daß diese Erklärung durch Massensuggestion nicht
richtig sein kann, fühlt wohl Bab selber, da er — im
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— 537 —
Widerspruch mit seiner Theorie — selbst zugibt, daß
eine Anlage, also ein angeborener Faktor, vorhanden sein
muß, damit ausgesprochene homosexuelle Liebe entstehe.
Im zweiten Teil bespricht Bab den § 175, seine willkürliche
Auslegung , seine Ungerechtigkeit und Zwecklosigkeit. Gleich-
berechtigung für die Homosexuellen und ihre Liebe, nicht bloß
Mitleid sei zu verlangen.
In einem Anhang versucht Bab eine Widerlegung des
„Umischen Menschen'^ von Hirschfeld, die mit den unrichtigen
Anschauungen Babs steht und föllt Er bemängelt Hirschfelds
Untersuchungen der Homosexuellen. Die Übereinstimmung in
den Autobiographien will er auf suggestiven Einfluß von Lek-
türe usw. (!) zurückführen. Die femininen Eigenschaften der Homo-
sexuellen auf Erziehung, Gewohnheit usw. Die bei Weibermangel
begangenen Surrogathandlungen gewisser Heterosexueller auf den
Durchbruch des gewöhnlich durch Suggestion unterdrückten gleich-
geschlechtlichen Triebes.
Zum Schluß verwahrt sich Bab dagegen, als habe er den
Wert des für die Bekämpfung der bisherigen Ansicht von der
Homosexualität als eines Lasters höchst verdienstvollen Hirsch-
feldschen Buches unterschätzen wollen. Er habe aber einen
Schritt weiter als Hirsch feld gewagt und die Homosexualität nicht
wie Hirschfeld als Mißgestaltung, sondern als Ausfluß eines selbst-
verständlichen, natürlichen, allen Menschen innewohnenden,
aber meist unterdrückten Triebes dargestellt.
Bab, Edwin, eand. med., Frauenbewegang und
männliche Kultur, im ;,Eigenen'' von Brandy Juni-
nummer.
Die Stellung der Frau sei heute widerspruchsvoll: Einmal
erscheine die Frau als Beherrscherin des Mannes, während sie
andererseits wieder vom Manne als seine Sklavin, als seine ent-
rechtete Dienerin behandelt werde. Hiermit im Zusammenhang
stehe das geschlechtliche Problem.
Dem jungen Manne ständen von der Zeit der Pubertät bis
zum heutigen heiratsfähigen Alter, d. h. ungefähr bis zum 30. Jahre
nur drei Auswege offen, um seineu Geschlechtstrieb zu befriedigen:
Der gefährliche Verkehr mit der Prostitution, durch den er selbst
zu einer Giftquelle für seine ganze Umgebung werden könne, oder die
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— 538 —
Jagd auf ehrbare Mädchen , wodurch namenloses Unglück ent-
stünde, oder endlich die Masturbation, die gewöhnlich im Über-
maß getrieben werde und so zu den schwersten Schädigungen
führe.
Aus diesem Zustande sei die Frauenbewegung und besonders
die abolitionistische Bewegung entstanden.
Im alten Griechenland habe es eine Frauenbewegung nicht
gegeben. Die Frau habe eine untergeordnete Stellung einge-
nommen. Eine Gkschlechtsfrage habe damals nicht existiert, sie
sei einfach durch die gleichgeschlechtliche Liebe der Männer gelöst
worden. Die Verachtung des Weibes habe in Griechenland die
Lieblingminne zu der heute den meisten Forschem unverständ-
lichen Blüte gebracht. Die damaligen Männerliebhaber seien nicht
die Halbweiber, die Urninge im Sinne der heutigen wissenschaft-
lichen Autoritäten gewesen.
Im Gegensatz zu Griechenland zeige das alte Judentum das
Ideal des Familienlebens; die gleichgeschlechtliche Liebe sei bei
den Juden so gut wie unbekannt gewesen.
Heute könnten die altjüdischen Zustände für uns ebenso-
wenig maßgebend sein, als die Wiedereinführung griechischen Ge-
schlechtsleben mit seiner Sklavenstellung der ehrbaren Frau und
seinem Hetärentum wünschenswert wäre.
Von jedem sei das Beste zu nehmen und die sexuelle Frage
zugleich mit der Frauenfrage zu lösen.
Die eine Bewegung, die dem Ziele näher führe, sei die
Frauenbewegung. Sie bedürfe aber zur Ermöglichung einer voll-
kommenen Lösung der sexuellen Frage einer Ergänzung. Diese
sei die noch ganz junge Bewegung für männliche Kultur, deren
Organ der „Eigene" sei. Diese Bewegung sei nicht mit der Be-
wegung zu Gunsten der Homosexuellen und der Abschafiung des
§ 175 zu verwechseln. Letztere ' gehe von der Ansicht aus, es
gäbe eine Anzahl von Personen, die sich nur zu Angehörigen des
eigenen Geschlechts hingezogen fühlten, und fordere für diese die
Beseitigung der den gleichgeschlechtlichen Verkehr bestrafenden
Bestimmung.
Die Bewegung für männliche Kultur verlange von dem Jüng-
ling, daß er sich in engster Freundschaft einem zu ihm passenden
Manne anschließe, daß er nicht der allgemein gestellten Forderung,
er dürfe nur das Weib lieben, Folge leiste und seinen gleich-
geschlechtlichen Liebestrieb unterdrücke, daß er nicht in den
Armen einer feilen Dirne sich, seine Familie und den Staat ge-
fährde, daß er nicht Jagd auf ehrbare Weiber mache, daß er
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— 539 —
auch nicht durch maßlose Masturbation sich in früher Jugend
seiner wertvollsten Kräfte beraube und an der Degeneration des
Volkes arbeite.
Durch Verbreitung dieser I^ieblingminne würde die gerade
durch die heutigen Zustände gezüchtete männliche Prostitution
verschwinden. Auch die Bewegung für männliche Kultur erhebe
entschiedenen Einspruch gegen das Fortbestehen des § 175, aber
sie lege keinen Hauptwert auf diese Forderung. So lange die
Strafbestimmung bestehe, werde sie von den Anhängern männ-
licher Kultur noch berücksichtigt werden müssen, die Liebling-
minne brauche aber nicht zu Handlungen zu führen, die unter
§ 175 fielen.
Wenn die Wiedereinsetzung der Lieblingminue in ihre alt-
griechischen Kechte auch ein Aufblühen der Liebe des Weibes
zum Weibe zur Folge habe, so sei dies kein Schade. Vermieden
müsse nur werden, daß die Lieblingminne Verachtung des Weibes
nach sich zöge. Dafür zu sorgen, sei die Frauenbewegung da.
Beide Kulturen, die Frauenbewegung, welche zu altjüdischen,
die Bewegung für männliche Kultur, welche zu altgriechischen
Idealen zurückführten, würden miteinander verschmolzen, eine
höhere, vollkommenere, wirklich menschliche Kultur hervorbringen.
Gotamo, In die Zukunft, im ^.Eigenen'' von Brand,
Jannamuminer.
Die Homosexuellen litten am meisten von allen Menschen
unter der die heutigen Zustände beherrschenden konventionellen
Lüge. Durch die Vorurteile der Menge in eine jammervolle Lage
versetzt, suchten viele Homosexuelle in rasendem Sinnentaumel
Vergessen und würden allmählich unfähig zu großer, schöner
Liebe.
Der erste Schritt zur Besserung der Lage der Homosexu-
ellen sei die Aufhebung des Strafparagraphen. Dies sei ' aber
nicht das letzte Ziel: Nicht Duldung, sondern Gleichberechtigung
der homosexuellen Liebe sei zu erstreben. Die ganze griechische
Kulturgeschichte sei der sprechendste Beweis, zu welch herrlicher
sittlicher Hohe der gleichgeschlechtliche Trieb gefördert werden
könne. Wenn auch mit der Aufhebung des § 175 die Zahl der-
jenigen, die ihren schlummernden homosexuellen Trieb ziir
Entfaltung brächten , zunehmen wünle , so wäre dies kein
Unglück.
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— 540 —
Würde die Möglichkeit des Auslebens aller unserer Anlagen
geboten, so müsse sich die Kulturstufe erhöhen und dann werde
sich auch eine edle Form fdr alles finden.
Unsere Sportplätze würden eine ähnliche Rolle spielen wie
die Gymnasien zu Athen.
Die Befürchtung, ein eventueller „geschlechtlicher Verkehr"
könne den Jünglingen an Leib und Seele schaden, sei unbegründet
Einmal sei dieser Verkehr doch nicht die Hauptsache und viele
würden auch in Zukunft ganz gut das Leben ohne ihn aushalten.
Sodann aber sei die von vier Fünftel der Jugend geübte Onanie
und der Verkehr mit Dirnen weit schädlicher für Tugend und
Gesundheit.
Auch eine erniedrigende Stellung der Frau sei nicht zu be-
fürchten. Die Frauen könnten nur gewinnen, wenn der Mann
aufhöre, sie als ausschließliches Objekt der Kurmacherei zu be-
trachten. Die Beziehungen der beiden Geschlechter würden freier
sein auf beiden Seiten, dafür vornehmer und glücklicher.
Mayer, Dr. Eduard von, Männliche Enltar. Ein
Stück Zukunftsmusik, im „Eigenen" von Brand,
Januarnummer. Erörterungen über den Unterschied
zwischen Mann und Weib.
Der Mann bedeute die rastlose Tätigkeit, das fortschrittliche
Prinzip, die Frau das stoffliche, konservative. Die Frau sei das
filtere, der Mann das jüngere Ergebnis der lebendigen'^Entwickelung.
Das weibliche Prinzip der leiblichen Behai*rlichkeit müsse
sich beugen unter die Notwendigkeit der richtunggebenden Männ-
lichkeit Die wahre Kultur bedeute die Vollentfaltung der männ-
lichen Persönlichkeit. Heute wirke das Gemeinleben nicht zuletzt
unter dem grundsätzlich und instinktiv sozialisierenden imd gleich-
macherischen Einflüsse der Frau notwendig ertötend auf das
Persönlichkeitsgefdhl. Um der Frauen willen habe eine prüde
Heuchelei um sich gegriffen, durch die alle natürlichen Dinge
künstlich entwertet und entheiligt worden seien. Die Vorherrschaft
der Frau habe das Liebesleben des Mannes dermaßen mit Be-
schlag belegt, daß sie ihn lieber in den Armen der gemeinen
weiblichen Käuflichkeit sähe, als daß sie ihm einen veredelnden
Liebesverkehr mit seinen Geschlechtsgenossen gestattete, mögen
auch die glänzendsten Zeugen der Vergangenheit und die ganze
Natur mit feurigen Zungen zu Gunsten der gleichgeschlechtlichen
Lieblingminne reden. Sie witterten nur zu gut, daß der Manu
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— 541 —
am Manne wieder männlich werden würde, daß das Echo in
gleichgestimmter Mannesseele mit ganz anderem Mut den Kampf-
ruf des Mannes erfüllen würde, als die laue allzu persönliche Zn-
Stimmung des Weibes. Nur dann würde eine männliche und
daher wirkliche menschliche Kultur entstehen, wenn der Mann
wieder Mann würde und die männliche Selbstherrlichkeit wieder
gewänne.
Die drei Aufsätze von Bab, Gotamo und Mayer
bringen die Theorie einer als „neueste" zu bezeichnenden
Eichtung zum Ausdruck. In allen bedeutenden Be^
wegungen bilden sich, sobald sie einen gewissen um-
fang erreicht haben, extreme Richtungen, und dies
um so leichter, je größer der Widerstand gegen die
Bewegung ist; denn Reaktion ruft notwendigerweise
Gegenreaktion hervor. So kann man mit Bestimmt-
heit behaupten, daß die Beibehaltung des § 175 trotz
Petitionen und wissenschaftlicher, seine Unhaltbarkeit
feststellender Forschung, auch übertriebene Forderungen
gewisser Homosexueller und ihrer Verteidiger gefördert
und geradezu erzeugt hat Je länger der § 175 fort-
besteht, je mehr die Verfechter veralteter Vorurteile
gegen die Beseitigung der Strafandrohung sich stemmen,
um so intensiver wird auch der Kampf gegen die ihr zu-
grunde liegenden Anschauungen toben. Ich sehe den
Augenblick kommen, wo die Gegner der Homosexualität
selbst die Aufhebung des § 175 wünschen werden, nur
damit die immer mehr in den Vordergrund der öffent-
lichen Diskussion tretende homosexuelle Frage wieder
mehr zurückgedrängt wird, damit nicht die Bewegung
einen Umfang und eine Bedeutung gewinne, die die
Gegner mehr befürchten werden, als die Beseitigung der
Strafe selber. Vielleicht bedauern die Herren dann, daß
sie so lange gezögert haben, das beste Agitationsmittel
— den § 175 — den Homosexuellen zu entziehen. Nur
wenn der § 175 aufgehoben ist, werden maßlose Forde-
rungen von Seiten der Homosexuellen verschwinden, erst
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— 642 —
dann wird eine ruhige, objektive Beurteilung der homo-
sexuellen Liebe möglich sein.
Der „ neuesten '' Richtung Grundprinzip und Ziel
enthalten manches Anerkennenswerte und Richtige, weisen
jedoch teilweise auch überspannte und maßlose Forde-
rungen auf.
Das Ziel soll sein: Ausbildung einer männlichen
Kultur, die allein eine wirklich menschliche bedeute.
Als eiae Hebung, Besserung der Kultur muß man aller-
dings die Befreiung der homosexuellen Menschenklasse
von Strafe und sozialer Ächtung betrachten. Die Frei-
gabe und Anerkennung der homosexuellen Liebe mag
auch dazu beitragen, daß die oft übertriebene, demüti-
gende Vergötterung des Weibes, und die den Mann herab-
würdigende Herrschaft der Frau vermindert werde. An
der gesamten heutigen Kultur wird aber wenig geändert
werden. Nur wer hypnotisiert durch die gleichgeschlecht-
liche Frage einseitig auf das homosexuelle Problem hin-
starrt, kann die Bedeutung des Problems dermaßen über-
schätzen, daß er von seiner Lösung eine Umwälzung in
den Grundlagen der heutigen Kultur erwartet Wer auf
eine solche Umwälzung zählt, vergißt den Hauptgrund,
warum seine Hoffnungen doch nur utopistische sein
können, nämlich die geringe Anzahl der Homosexuellen.
Wenn auch die Zahl der Homosexuellen bedeutender ist,
als man früher glaubte, so bleibt sie doch immer im
Vergleich zu der großen Masse der Heterosexuellen eine
sehr kleine. Der Einfluß der Homosexuellen wird daher
stets nur ein minimaler bleiben. In diesem Punkte setzt
nun allerdings das Grundprinzip der neuesten Richtung
ein, das Bab dahin ausgesprochen hat, daß jeder Mensch
bisexuell und daher auch homosexuell veranlagt sei.
Diese Ansicht habe ich schon oben bei der Kritik
des Buches von Bab widerlegt Sie widerspricht so sehr
jeder Erfahrung und jeder Wirklichkeit, daß weitere
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— 543 —
Worte zu ihrer Widerlegung unnötig sind. Da nun tat-
sächlich die Mehrzahl der Menschen das entgegengesetzte
Geschlecht liebt, wird die Freigabe der homosexuellen
Liebe nicht die von Bab erhoffte Bedeutung haben.
Namentlich aber wird sie zur Lösung der Geschlechts-
frage zwischen Mann und Frau, zur Lösung des Prosti-
tutionsproblems usw. so gut wie gamicht beitragen.
Eine unbegreifliche Verblendung bedeutet es, wenn
Bab dem normalen Jüngling für die Zeit bis zu seiner
Heirat die gleichgeschlechtliche Liebe empfehlen will,
eine Liebe, die heutzutage von der Mehrzahl seines Ge-
schlechts als widernatürlich empfunden wird und seinem
legitimen sinnlichen und sentimentalen Liebesbedürfnis
keinen Ersatz bietet Dieses Verlangen stellt das Gegen-
stück dar zu der Forderung der Heterosexuellen, der
Homosexuelle dürfe nur mit dem Weibe verkehren.
Mit der Anerkennung der homosexuellen Liebe
werden wohl innige, edle und schöne Verhältnisse
zwischen Männern möglich werden und auch wohl zahl-
reicher als heute in die Öffentlichkeit treten, einen be-
sonders großen Umfang oder eine hervorragende Wichtig-
keit wird jedoch die gleichgeschlechtliche Liebe nicht
erlangen. Denn die in dem heterosexuellen Triebe der
Mehrzahl der Männer begründete Liebe zum entgegen-
gesetzten Geschlecht hat eine derartige Entwickelung,
Verfeinerung und Bedeutung erlangt, daß die homo-
sexuelle Liebe ihr gegenüber nur eine untergeordnete
ßoUe spielen wird.
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— 544 —
Kapitel III.
Homosexualität und Erwerbung.
Canfeynon, Dr., La PM^rastle. Bibliotheque popa-
laire des connaissances mödicales, Paris, Nouvelle
librairie mödicale.
An der Hand der verschiedensten wissenschaftlichen Werke
über Homosexualität, aus denen eine Anzahl von Stellen aus dem
Zusammenhang gerissen, wiedergegeben wird, hebt das Büchlein
hauptsächlich die grobsinnlichen Seiten und die nach außen hin
am meisten in die Augen fallenden Erscheinungen der Homo-
sexualität hervor.
Man vermißt nicht nur den von den neuesten
Forschungen über die Frage durchdrungenen Geist, son-
dern es fehlt jeder Versuch einer Erörterung des Wesens
der Homosexualität und jede systematische Darstellung.
Statt dessen wird ein oberflächliches Gemengsei verschie-
dener Angaben von Autoren zusammengetragen, mit der
Tendenz, die Homosexualität als Laster zu brandmarken.
Obgleich anerkannt wird, daß die Homosexuahtät oft
einen angeborenen Trieb bildet, wird das populär ge-
schriebene Werkchen doch nur dazu beitragen, in Frank-
reich die bisherigen Vorurteile und gehässigen Anschau-
ungen über die Homosexuellen unter der großen Menge
zu bekräftigen.
DUhren, Dr. Engen, Das Oeschlechtsleben in Eng-
land. Bd. ni. Der Einfluß äußerer Faktoren auf
das Geschlechtsleben in England. Fortsetzung und
Schluß. Berlin, 1903, M. Lilienthal.
Die Homosexualität wird besprochen S. 3 — 64. Dühren
glaubt, daß die Zahl der Homosexuellen in England keine große
sei, und meint, daß überhaupt unter den germanischen Völkern
die Homosexualität weniger verbreitet sei als unter den südeuro-
päischen Nationen. Auch in England lasse sich, wie in andern
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— 645 —
gennanischen Ländern, eine gelegentliche, lediglich auf Erworben-
Bein zurückzufahrende Zunahme der HomOBezualität in bestimmten
Kreisen beobachten, unter dem Einfluß äußerer Faktoren, sei es
höfischer Korruption oder effeminierter Kunst- und Moderichtungen.
Förderlich für die Entstehung der Homosexualität in England sei
außerdem noch die Einrichtung der nur von Männern frequentir-
ten Klubs und der beliebte gymnastische Sport, hinderlich dagegen
der wie nirgends sonst in gleichem Maße bestehende Abscheu
vor gleichgeschlechtlichen Handlangen. Daher aach die überaus
strengen Strafvorschriften, die auch Dühren als barbarisch und
einer zivilisierten Nation unwürdig bezeichnet, ebenso wie er
den § 175 abgeschafft sehen möchte, obgleich der Staat auf
andere Weise Vorkehrungen treffen müsse, um einer Ausbreitung
des homosexuellen Verkehrs Schranken zu setzen.
Dühren gibt dann einen geschichtlichen Überblick über das
Vorkommen der Homosexualität in England. Die ersten ge«
schichtlichen Spuren der Homosexualität in England gingen bis
auf die Zeit der Normannen zurück. Die größere Verbreitung
der Perversität sei anscheinend diesen Trägem französischen
Geistes und französischer Sitte zu verdanken. (?)
Anführung homosexuell verdächtiger Persönlichkeiten:
William Rufus, der zweite normannische König (11. Jahr-
hundert), Eduard II. (14. Jahrhundert) und sein (von Marlowe dra-
matisiertes) Verhältnis zu Gaveston, Nikolaus Udall (16. Jahr-
hundert), Verfasser der ersten englischen Komödie (wegen w. ü.
verurteilt, trotzdem später bei Eduard VI in hoher Gunst), Jakob I
(„Bex fuit Elisabeth, nunc est regina Jacobus^O*
Die Ausschweifungen der Restaurationszeit auf sexuellem
Gebiet seien auch der Ausbreitung der Päderastie sehr günstig
gewesen. Unter Karl IL seien die päderastischen Verhältnisse
zahlreich gewesen. Beweis auch das Päderastendrama „Sodom^*
von Rochester, in welchem bezeichnender Weise der homosexuelle
Geschlechtsakt als ein neues Raffinement gegenüber den bis zum
Überdruß genossenen heterosexuellen Liebesfreuden aufgefaßt
werde. Im 17. Jahrhundert hätten sich eigene päderastische Klubs
gebildet. Bericht über den Klub „The Mollies Club'* nach Edward
Ward (Zusammenkunft weibischer Homosexueller, Nachäffung
weibischer Gewohnheiten, Verkleidungen, simulierte Zeremonien:
Kindstaufe usw.). Im 18. Jahrhundert sei die Päderastie besonders
durch einige Ausartungen der Mode begünstigt worden. Auch
der damals sehr verbreiteteten Unsitte der Männer, sich unter-
einander zu küssen, sei eine ursächliche Bedeutung für die Ent-
Jahrbuch VI. 35
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— 646 —
Btehung homosexueller Neigungen beizumessen. Im 18. Jahrhundert
Vorhandensein von Knabenbordellen und mehrerer geheimer pft-
derastischer Klubs. Im Jahre 1798 Aufhebung eines päderastischen
Klubs durch die Polizei und die Verhaftung von 18 als Weiber
verkleideten, geschminkten Päderasten im Klublokal. Überhaupt
zahlreiche Prozesse gegen Päderastie im 18. Jahrhundert Zu
Beginn des 19. Jahrhunderts Entdeckung eines berüchtigten Klubs
der sog. „Vere Street Coterie". Genaue Beschreibung des für die
Zwecke der Homosexualität eingerichteten Klubhauses (Zimmer
mit Bett, Damenkleiderzimmer, eine Kapelle für simulierte Trau-
ungen zwischen Männern usw., Soldaten, Bediente, Kellner stets
zur Verfügung der Homosexuellen im Klub vorhanden). Ver-
haftung von 23 Homosexuellen im Klub. Sieben von ihnen zu
längeren Gefängnisstrafen und zur Schaustellung am Pranger ver-
urteilt. Schilderung der Prangerszene und des von den Verurteilten
ausgestandenen fürchterlichen Martyriums nach damaligen Zeitungen.
Die Verurteilten von der wütenden Menge und besonders von
Weibern fast zu Tode geworfen, durch Steine, stinkende Fische,
in Fäulnis übergegangene Tierleichen usw.
Erwähnung weiterer Skandale aus dem 19. Jahrhundert: Ge-
schlechtsverkehr eines der angesehensten Prediger in Edinburg,
Mr. Greenfield, mit Pensionären. Wegen des Ansehens der Be-
teiligten sei die Sache niedergeschlagen und die Tat auf Geistes-
krankheit zurückgeführt worden. Der letzte Eiarl von Findlater
lind Seafield, schon zu Lebzeiten wegen seiner homosexuellen
Neigungen bekannt, habe sein ganzes Vermögen einem Sachsen,
Namens Fischer, seinem früheren Pagen und dann Privatsekretär
vermacht Flucht eines Großgrundbesitzers aus der Nähe von
Glasgow. Flucht eines Edinburgher Advokaten, Mr. John Wood,
eines in großem Ansehen stehenden Philantropen , nach Amerika
nach Entdeckung homosexueller Akte mit Schülern der von ihm
gegründeten Anstalt. Bericht über das Treiben der Londoner
Päderasten, besonders der prostituierten, zu Beginn der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts nach einer Schrift „Vokels Preceptor",
ferner eine Schilderung der Päderastie in London vor etwa 20
Jahren aus einer 1881 erschienenen Schrift. Die Convicte, Colleges
und Alumnate in England erklärt Dühren für Brutstätten homo-
sexueller Praktiken und meint, die dort empfangenen Eindrücke
drängten viele für ihr ganzes Leben in perverse Bahnen. Er-
wähnung des Falles Wilde. Auch Dühren ist der Ansicht, daß
Wilde's Strafe überaus hart gewesen und keineswegs seinem Ver-
gehen entsprochen habe. Von Männern, die homosexuell gewesen
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— 547 —
sein sollen, nennt Dahren noch Symonds, den Maxquis von Anglesey
(Bericht aus dem Jahrbuch 3, S. 543—544) und den unter der
Königin Anna lebenden englischen Gouverneur von New- York,
Lord Combury, der trotz seiner hohen Stellung in Weiberkleidem
kokettierend und mit allen Allüren der Courtisane in den Straßen
herumgegangen sei.
Über weibliche Homosexualität verbreitet sich Dühren S. 51
bis 64 unter Anführung einer Anzahl von Zitaten aus verschie-
denen Werken. (Aus dem Schäfer-Roman „Arkadia^^ von Sir
Philipp Sidney, aus den Memoiren des Grafen Grammont — Ver-
hältnis der Miß Hobart, einer Hofdame am Hofe Carls H. mit
einem Kammerfräulein, Miß Temple — femer aus Mitteilungen
von Archenholtz über geheime tribadische Klubs.) Auch in diesem
Abschnitt sucht Dübren die Entstehung der Homosexualität auf
Gelegenheitsursachen zurückzuführen. Einen Beweis hierfür will
er u. a. sehen in den häufigen leidenschaftlichen Verhältnissen
zwischen Schauspielerinnen, Choristinnen, Balleteusen oder in dem
gleichgeschlechtlichen Verkehr Prostituierter. Erwähnung ver-
schiedener Weibmänner, z. B. der unter Carl I. lebenden Bäuberin
MoUy Cutpurse, die als Mann gekleidet Diebstähle und Baub-
anfölle in der Nähe von London ausgeführt, femer der Seeräuberin
Maria Read (Anfang des 18. Jahrhunderts). Ausführungen über
den bekannten Chevalier d'Eon, der als Weib gelebt
An einigen anderen Stellen des Buches wird gelegentlich
noch . Homosexuelles kurz berührt, so z. B. bei Erwähnung der
obszönsten aller englischen erotischen Zeitschriften „The PearP^
die Erzählung „Lady Pockingham'^ Sodann gibt Dühren eine
genaue Inhaltsangabe des berüchtigten obszönen Päderasten-
dramas von Rochester aus dem 17. Jahrhundert (S. 342 — 364 über
Rochester überhaupt). Hieraus sei erwähnt, daß im ersten Akte
der auftretende König eine Proklamation erläßt, die allen Homo-
sexuellen und Päderast£n völlige Freiheit in der Betätigung ihrer
Neigungen zusichert, und sich zwei Höflinge als Geliebte aus-
wählt.
Auch in diesem Buche des Pseudonymen Verfassers
finden sich die gleichen Gedankengänge, wie in seinen
übrigen Werken, insbesondere in seinen unter seinem
wahren Namen veröffentlichten Beiträgen zur Psycho-
pathia sexualis. Auch jetzt wieder macht sich Dühren-
Bloch der fortgesetzten Verwechslung von Ursache und
35*
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— 548 —
Wirku&g schuldig. £me Widerlegung der Ansichten von
Dübren erübrigt sich angesichts meiner £rüheren Aus-
führungen bei Besprechungen des Marquis de Sade (vgl
Jahrbuch 111, S. 339), sowie der Bekämpfung der gleichen
Anschauung durch Hirschfeld in seinem ,,ümischen
Menschen^' (Jahrbuch V, S. 1 f Igd.). Dühren hat in seinem
jetzigen Werk noch yiel mehr Material als im Marquis
de Sade benutzt und zusammengetragen. Das Buch
verrät den ernsten Gelehrten und ungemein fleißigen
Forscher und ist von bleibendem Wert für die Kenntnis
der Kultur und der sexuellen Zustände in England« Es
verdient das höchste Lob für seine Gründlichkeit und Ge-
lehrsamkeit. Soweit allerdings die selbständigen Schlüsse,
die Dühren aus dem bearbeiteten Quellenmaterial zieht, in
Betracht kommen, erhält man den Eindruck der lediglich
aus Büchern geschöpften Weisheit, während man den
lebendigen Quell persönlicher Erfahrung^ direkten Stu-
diums des Homosexuellen, wie er in der Wirklichkeit
leibt und lebt, vermißt. Dieser Mangel genügender
Kenntnis mit den Homosexuellen selbst verschuldet es
wohl, daß gleich bei Beginn des Buches Dühren recht
anfechtbare Behauptungen über die Anzahl der Kon-
trären aufstellt Hätte er mit einer Anzahl vielgereister
Homosexuellen über die Verhältnisse in England ge-
sprochen, so würde er erfahren haben, daß die Homo-
sexualität nach der Sachkunde und Erfahrung von Homo-
sexuellen, die England kennen, dort sehr verbreitet ist
Ganz positiv unrichtig ist sodann Dührens Ansicht, die
Dr. Hirschfeld bekannten 1500 Homosexuellen stellten
den größten Teil der in Deutschland lebenden Homo-
sexuellen dar, weil sicherlich fast alle Homosexuelle an
das Komitee sich wendeten. Demgegenüber ist zu er-
widern, daß fast nur Gebildete sich an das Komiti
wenden und nur wenige Homosexuelle aus dem Volke^
femer, daß unter den Gebildeten wieder eine sehr große
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— 549 —
Anzahl aus den verschiedensten Gründen niclit mit dem
Komitee in Verbindung tritt. Mir persönlich sind viele
Homosexuelle bekannt, die sich nicht dem Komitee an-
vertrauen. Wenn ich von den mir genau bekannten Ver-
hältnissen der von mir bewohnten deutschen Mittelstadt
ausgehe, so finde ich, daß in derselben unter den etwas
über 100000 zählenden Einwohnern und der nidht ge-
ringen Anzahl der vorhandenen Homosexuellen nur höch-
stens vier dem Komitee bekannt sind. Ahnliches trifft in
anderen Städten zu.
In manchen Städten haben sich überhaupt keine
Homosexuelle dem Komitee entdeckt Danach kann man
ruhig behaupten, daB die 1500 im Jahre 1902 dem
Komitee bekannten Homosexuellen nur eine verschwin-
dend kleine Anzahl aller deutschen Homosexuellen
bilden.
Fuchs, Dr. Alfred^ Zwei Fälle von sexueller Para-
doxle, in Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie,
Bd. XXni, Heft 1 und 2, S. 207—213.
Der eine Fall bezieht sich auf ein 5V4 Jahre altes Mädchen,
das im vierten Jahre beim Masturbieren betroffen worden war.
Es wurde festgestellt, daß zwischen dem zweiten und vierten
Jahre ein 19 jähriges Kindermädchen fast zwei Jahre lang gegen-
seitige Manustapration mit dem Kinde getrieben. Das Kinder-
mädchen führte dem Kinde sogar Spielkameraden und erwachsene
Personen weiblichen Geschlechts zwecks gegenseitiger Onanie zu.
Sie versuchte es auch mit einem vierjährigen Knaben^ den sie in
Gegenwart der Kleinen manustuprierte. So gern aber die Kleine
mit weiblichen Personen zu allem zu haben war, erklärte sie, da
nicht mit zu tun. Entlassung des Dienstmädchens seitens der
Eltern und Bestrafung des Kindes, Alles aber unnütz. Das Kind
zu Verwandten nach dem Orient geschickt Dort fand das Kind
aber reichlich türkische Dienerinnen, die sich von ihm manustu-
prieren ließen und ihm ein gleiches erwiesen. Cynisches offenes
Erzählen des Kindes über seine „Verhältnisse". Sehnsucht nach
dem Dienstmädchen. , Als das Kind vom Orient zurückgekehrt,
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— 550 —
war es durch keine Strafe oder Drohung abzuhalten , offen yor
den Eltern und vor Fremden, sowie auch insgeheim zu onanieren.
Oft wahre Paroxysmen von Wut und Verzweiflung infolge der
Sehnsucht nach dem Dienstmädchen. Unterbringung des Kindes
in eine Anstalt und wöchentliche Hypnotisierung. Nach einiger
Zeit Besserung des Aussehens des Kindes; öftere Ausübung
der Onanie infolge der Einrichtung der Anstalt sicherlich un-
möglich.
Fuchs hofft, daß bei längerem Verweilen in der Anstalt das
Kind seine Vergangenheit vergessen werde. Er bemerkt: Aus der
Anamnese des Kindes ersähe man so recht die Bedeutung der
Verfuhrung im Kindesaller für die Determinierung des Sexual-
triebes. Das Kind könne möglicherweise durch Einfluß der Ver-
führerin für immer in die konträre Richtung geleitet worden sein.
Wenn es auch jetzt gelingen werde, den vorzeitig geweckten
Trieb zu redressieren, so könnten doch im Pubertätsalter Bruch-
stücke der Erinnerung lebendig werden, und es könnte das Kind,
welches sich voraussichtlich normal zum Weibe entwickeln werde,
wieder dort anknüpfen, wo es heute aufgehört habe. Dann könne
man vor dem Rätsel konträrer Sexualempfindung ohne sekundäre
somatische Begleiterscheinungen stehen.
Aus dem Falle des znr homosexuellen Geschlechts-
austibung verführten Kindes lassen sich keine Schlüsse
über die Entstehung der Homosexualität ziehen, da ab-
gewartet werden muß, wie das großjährige Mädchen später
fühlen wird. Auffällig ist die Tatsache, daß das Kind
vor der Onanie mit dem Knaben Widerwillen hatte, also
ganz entschieden zum weiblichen Geschlecht sich hinge-
zogen fühlte. Ob da nicht die Vermutung einer zwar früh-
zeitig geweckten, aber nichts destoweniger ab origine
vorhandenen starken homosexuellen Veranlagung nahe
liegt?
Gonrmont, Remy de, Physlqne de Tainour. Essai
sur rinstinct sexuel. Paris, Soci6t6 du Mercure de
France.
„Das Liebesleben in der Natur** könnte man als Untertitel
dem Buche beifügen. Gourmont beschreibt die Äußerungen dea
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Geschlechtstriebes in dem Tierreich, bei Insekten, Fischen, Vögebi,
Vierfüßlern usw. Er will zeigen, wie das Sexualleben des Men-
schen nur ein winziges Teilchen der universellen Sexualität bildet.
U. a. werden beschrieben: Ungeschlechtliche Fortpflanzung, Par-
thenogenesis (Zeugung ohne Hilfe des Männchens), Unterschiede
in den Charakteren der Männchen und Weibchen (dimorphisme
sexuel), Art und Weise der Kopulation, Arten der Geschlechts-
organe, Polyandrie, Polygamie usw.
Die Frage der gleichgeschlechtlichen Handlungen wird nur
ganz kurz gestreift: Gourmont unterscheidet zwei Arten von Ur-
sachen, äußere und innere. Die „Verirrung" aus innerer Ursache
finde manchmal ihre Erklärung darin, daß die gleichen Arterien
die Geschlechtsgegend sowohl vorn wie hinten durchzögen, die
gleichen Nerven sie belebten.
Ob nicht Gourmont hiermit die allgemein verworfene
Ansicht von Mantegazza über die Nervi erigentes auf-
tischt? Wie aus den Angaben der benutzten Biblio-
graphie am Ende des Buches hervorgeht, hat Gourmont
zwei Blicher von Mantegazza, dagegen leider kein einziges
wissenschaftliches Buch über geschlechtliche Anomalien
befragt Besonders zu bedauern ist auch die Tatsache^
daß der Aufsatz von Karsch über die Päderastie bei
Tieren ihm unbekannt geblieben ist.
Die Verirrungen der Tiere seien in der Regel ganz einfach
zu erklären aus einem blinden heftigen Drang, der in Ermange-
lung des normalen Geschlechtsaktes zur ersten besten Surrogat-
handlung führe, aus einem Bedürfnis des Männchens, den erregten
Geschlechtsteil durch Entleerung des Samens auf irgend eine
Weise zur Ruhe zu bringen. Die bei Tieren anwendbaren all-
gemeinen Erklärungsversuche könne man auch auf die Menschen
anwenden, doch dürfe man nicht vergessen, daß für ihn, da seine
geschlechtliche Empfindsamkeit geeignet sei, jeden Augenblick
geweckt zu werden, die UrBachen der Verirrungen sich ins Uu-
eudliche vermehrten. Es würde sehr wenig „Verirrte" geben,
wenn die Sitten und Gewohnheiten die Vereinigung der beiden
Geschlechter im gewünschten Augenblick stets möglich machten.
Es würden nur die Verirrungen infolge anatomischer Grundlage
bleiben; sie wären weniger häufig und weniger gebieterisch, wenn
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— 552 —
die geschlechtlichen Beziehiuigen durch die Sitten erleichtert
w&ren, anstatt daß man danach strebe, sie zu erschweren.
„Es ist schwer, besonders wenn es sich um den Menschen
handelt, zwischen normal und anormal zu unterscheiden. Was ist
normal, was anormal? Die Natur kennt dieses Adjectivum nicht/'
(S. 98.)
Bedeutsam für die Stelle, welche die Hermaphrodisie in der
Natur spielt, sind die Ausfcihrungen Gourmonts über gewisse
Molluskenarten, speziell über die Gasteropoden , welche die Ge-
schlechtsteile beider Geschlechter aufweisen, zu gleicher Zeit als
Männchen den Geschlechtsakt ausüben und als Weibchen begattet
werden (S. 141). Ebenso sind beweiskräftig für das Vorkommen
von Zwischenstufen aus dem Tierreich die Bemerkungen über die
Hermaphroditen bei Ameisen und Schmetterlingen, bei denen
„ganz wunderliche Wesen entstehen, halb das Eine, halb das
Andere." (S. 223.)
Man siebt, von der Homosexualität scheint Gonr-
mont keine Ahnang zu haben oder wenigstens sich von
ihr eine total unrichtige Vorstellung zu machen. Was
er unter „Verirrungen auf anatomischer Grundlage'*
versteht, bleibt unklar; geschlechtliche psychische Ano-
malie als Folge von Mißbildungen der Geschlechtsorgane
sind sehr selten im Vergleich zu den landläufigen Fällen
von Homosexualität. Vielleicht meint er cerebrale Grund-
lagen. Ebenso werden auch in der Regel homosexuelle
Handlungen unter den gewöhnlichen Eulturverhältnissen
nicht infolge Erschwerung in den Beziehungen der beiden
Geschlechter vorgenommen. Solche Schwierigkeiten be-
stehen doch in den Großstädten — und auch auf dem
Lande — nur als Ausnahmen, während umgekehrt bei
den herrschenden Anschauungen größere Schwierigkeiten
für den homosexuellen Verkehr vorhanden sind. Ich
wandere mich, daß ein so eigenartiger, kühner, vor-
urteilsfreier Geist, wie Gourmont, der auf den verschie-
densten Gebieten, in der Belletristik, Philologie, Philo-
sophie usw. eine ganz hervorragende Schärfe und Weite
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— 55S —
dee Blickes bekundet hat^ doch so wenig der Homo-
sexualität gerecht wird.
Allerdings, die Begriffe Ton ;,widematürlich'^ auf
gleichgeschlechtliche Handlung angewendet, verwirft er.
Jolly, Dr., Perrerser Sexnaltrieb nnd Sittlichkeits-
Terbrechen. 11. Vortrag des Zyklus „Gerichtliche
Medizin'S gehalten am 18. März 1U02, abgedruckt in
„Klinisches Jahrbuch". Bd. XI, Heft 1, Jena, 1903,
Gustav Fischer.
Die Homosexualitflt will J0II7 ganz ebenso wie die übrigen
sexuellen Anomalien beurteilt wissen. Er meint, nur in einer
ganz kleinen Anzahl von Fftlien sei die Homosexualität als an-
geborene Erscheinung zu betrachten, dagegen sei sie ganz sicher
in den weitaus meisten Fftlien erworben, zum Teil in früher
Kindheit (infolge von Onanie — dauernder associativer Ver-
knüpfung von gewissen Einwirkungen mit den sexuellen Regungen
usw.), zum Teil im späteren Leben (z. B. infolge Weibermangels
usw. Beispiele: die Verbreitung im Altertum, Zustände in Ge-
fängnissen us^.). Unter den gewordenen Homosexuellen befänden
sich zweifellos eine nicht geringe Anzahl von ps^chopathischen
Naturen mit verminderter Widerstandsfähigkeit gegen patho-
logische Verknüpfungen.' Ebenso sicher sei es aber, daß doch
eine ganze Menge von gesunden Individuen diese Neigung bei-
behielten. Als angeblichen Beweis fdr die häufige Erwerbung
einer homosexuellen Perversität beruft sich Jolly darauf, daß in
der Irrenanstalt Stephansfeld bei Straßburg unter den ehemaligen
Fremdenlegionären eine große Anzahl mit perversen Neigungen
gefunden worden seien.
Dieser Beweis scheint mir recht schwach. E^inmal
kann ja gar nicht entschieden werden, ob nicht diese
Neigungen in Verbindung und infolge der Geisteskrank*
heit auftraten, da es sich um Geisteskranke handelt.
Zweitens aber können diese Handlungen „faute de mieux'S
in Ermangelung von weiblichem Verkehr vorgenommen
worden sein, ohne daß wirkliche homosexuelle Neigung
vorgelegen hat. Von homosexuellem Triebe wäre nur zu
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— 554 —
sprechen, wenn diese Kranken^ obgleich ihnen Gelegen-
heit zu weiblichem Verkehr geboten, diesen verschmäht
und den männlichen vorgezogen hätten. Trotz des
Ansehens, das der 1903 leider verstorbene JoUy als
Psychiater genießt, dürfte er der homosexuellen Frage
nicht gerecht geworden sein. Zur Kenntnis der Homo-
sexualität gehört persönliche Untersuchung der Homo-
sexuellen, und zwar vieler Homosexueller; ob und
wie viele Homosexuelle Jolly untersucht hat, darüber
schweigt er.
Jolly und die Psychiater seiner Denkungsart sind
allerdings durch gewisse allgemeine Anschauungen und
Grundsätze ihrer Spezialwissenschaft gleichsam zu ihren
Schlußfolgerungen in der Frage der Homosexualität ge-
zwungen. Ihr Gedankengang ist dabei wohl etwa fol-
gender: „Ein angeborener homosexueller Geschlechtstrieb
kann nur etwas krankhaftes sein. Solch ein krankhafter
Trieb darf aber nicht allein als einziges krankhaftes
Symptom betrachtet werden, sonst würde man ja —
glauben diese Psychiater, obgleich Moll diese Befürch-
tung als unbegründet nachgewiesen hat — in die heute
nicht mehr anerkannte Monomanielehre zurückfallen.
Wenn daher ein homosexueller Trieb festgestellt wird,
so müssen, soll er als angeboren gelten dürfen, noch
andere krankhafte Erscheinungen vorhanden sein. Fehlt
es aber an solchen, wie dies bei manchen Homosexuellen
eben der Fall ist, dann kann nach obigen Grundsätzen
auch der homosexuelle Trieb nicht angeboren sein, weil
ja sonst — da angeborener und krankhafter Trieb diesen
Psychiatern identisch ist — ein als einziges krankhaftes
Symptom sich darstellender Trieb bestehen würde, was
ja nicht sein darf." Der Grundirrtum der Deduktionen
dieser Psychiater besteht darin, daß sie nicht einsehen,
daß ein angeborener homosexueller Trieb nicht notwen-
digerweise als etwas Krankhaftes zu betrachten ist, oder
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— 555 —
wenn man ihn für krankhaft erklären will, er auch bei
sonst normalen und gesunden Menschen als einziges
nachweisbares anormales Symptom vorkommen kann, wie
Moll dies nachgewiesen hat. Allerdings ist nicht zu ver-
kennen, daß es in der Wissenschaft, wie auf allen Ge-
bieten^ den meisten Menschen schwer fällt, Anschauungen,
die gewissen für bindend erklärten Regeln zuwiderlaufen,
für berechtigt zu halten und das bequeme Ruhekissen
einmal liebgewonnener und als richtig angenommener
Meinungen zu verlassen, um ohne jede Voreingenommen-
heit die neuen Anschauungen zu prüfen und, wenn er-
forderlich, an Stelle der alten zu setzen. Dies macht
das Verhalten so mancher Arzte begreiflich, die, bevor
sie auch nur 100 Homosexuelle genau untersucht haben,
ein definitives Urteil abgeben zu dürfen glauben. Ein
weiterer Grund, warum viele Psychiater einfnch die
meisten Homosexuellen für lasterhafte Menschen er-
klären, liegt darin, daß diese Psychiater, sobald sie fest-
stellen, daß die Homosexuellen nicht zu den Kranken
zu zählen sind, glauben — und zwar mit Recht — daß
diese Leute sie überhaupt nichts angehen. Da die Be-
urteilung dieser Homosexuellen nicht mehr in das Gebiet
der Wissenschaft der Geisteskrankheiten fällt, so geben
sich diese Psychiater auch nicht weiter die Mühe, eine
andere Beurteilung der Homosexuellen zu suchen, als die
landläufige.
Sie schließen sich dann eben der hergebrachten
Meinung an. Nur der Psychiater, der echter Psychologe
ist und das Gebiet seiner Wissenschaft nicht allzu eng
umgrenzt, nur der Arzt oder Gelehrte, welcher alle Arten
des Geschlechtstriebes, mögen sie nun krankhaft sein
oder bloß angeborene physiologische Varietäten dar-
stellen, studiert, kann auch den Homosexuellen gerecht
werden.
Angesichts des Standpunktes, den JoUy einnimmt,
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— 556 —
ist nicht zu Terwunddriiy daß er alle auf die ADnahme
eines körperlichen Substrats der Homosexualität ab-
zielenden Theorien verwirft, wenn auch die kategorische
Form, in der diese Ansicht ausgesprochen ist, verblüfft
und die eiQfache Behauptung, diese Theorien seien
„positiv falsch'^ zu bezeichnen, den Mangel jeglichen
Gegenbeweises gegen die festgefügten wissenschaitlichen
Argumentationen eines Krafft-Ebing und gegen die Tat-
sachen der Gynandrie und Androgynie, bei welchen schon
im äußeren Körperbau die Homosexualität zum Ausdruck
kommt, nicht zu ersetzen vermag. Letztere Tatsache
wurde von JoUy überhaupt nicht erwähnt Natürlich;
denn sonst hätte der apodiktisch klingende Satz „positiv
falsch'^ nicht zur Anwendung kommen können. Wie
andere Nervenärzte über die Frage denken, kann man
pben bei Möbius und Löwenfelds Werken nachlesen.
Obgleich Jolly die Petition nicht untei-schrieben hat, so be-
fürwortet er doch die Aufhebung des § 175, weil, wenn
die Polizei überall einmal kräftig zugreifen würde, eine außer-
ordentliche Menge von Skandalprozessen in den verschiedensten
Kreisen zum Schaden der öfiPentlichen Moral entstünde und tat-
sfichlich jetzt schon weitgehende Duldung geübt werde, femer,
weil die Unterscheidung zwischen strafbarem und straffreiem
gleichgeschlechtlichen Verkehr doch nur eine höchst spitz-
findige seL Solange der Paragraph bestehe, müsse er aber auf
die Homosexuellen Anwendung finden, da sie nur in den
seltensten Fällen als geisteskrank und unzurechnungsfähig zu be-
trachten seien.
Keller^ Alexandre, La Grhee antiqne amonreuse.
Paris, 1902, Librairie L. Borel.
Das Buch enthält Übersetzungen aus Longus, Plato, Theokrit^
Bion, Moschus, Sappho und Anacreon, mit lüsternen Abbildungen
ausgestattet. Es sind nur Bruchstücke ausgewählt, die die hete-
rosexuelle Liebe besingen, auch der Auszug aus Plato behan-
delt nur die Liebe an und für sich. Wie Verfasser im Vorwort
zum Bruchstück aus Plato ausdrücklich hervorhebt, hat er
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— 557 —
„absichtlich alle Anspielaogen auf ein LaBter ausgeschieden,
an dem das ganze griechisch-römische Altertum gelitten zu haben
scheint und dem die Besten sich nicht immer haben entziehen
wollen."
Es wäxe besser gewesen, Keller hätte literarische
Zeugnisse über die ideale Ausgestaltung dieses mit Tiefe
der Empfindung und Erhabenheit des Geistes gepaarten
,,La8ters" wiedergegeben^ anstatt den Exzerpten Über die
„nicht lasterhafte" heterosexuelle Liebe durch die ero-
tischen Bilder den Stempel des Lasterhaften und somit
seiner Ausgabe überhaupt diesen Charakter aufzudrücken.
Erticzka, Freiherr Dr. Hans, £ln an Sadismus
grenzender Fall, in Groß' Archiv für Kriminal-
Statistik und Kriminalistik, Bd. XIV, Nr. 1 und 2.
£iu ISjähriger bisher anbescholtener Barsche hatte einen
13jährigen Knaben mit sich ins Feld genommen und durch Würgen
und Schlagen mit Holzpflöcken getötet, nachdem oder während
er das Rind — wie die Verletzungen des Leichnams am After
und Mastdarm aufv^eisen — gewaltsam per anum gebraucht hat.
Das Gutachten besagt, daß weder ein auf sadistische Befriedigung
abzielender Lustmord noch Homosexualitfit vorliege. Vielmehr
handele es sich nur um eine Surrogathandlung, die der Erregung
infolge Alkoholgenusses und dem durch den Mangel normaler
sexueller Befriedigung gesteigerten Geschlechtstriebe zuzuschrei-
ben sei.
Verurteilung des Täters zu langjährigem schwerem Kerker.
Mayer, Oberarzt Dr., Müncbener medizinische Wochen-
schrift, Nr. 12:
Päderastie sei in China allgemein verbreitet und gelte nicht
als schändlich und widemattirlich ; bei dem niedrigen intellek-
tuellen Standpunkt der Frau erhalte sie unter Freunden, wie bei
den Griechen, eine ideale Seite. Bei den Kulis in Niederländisch-
indien, bei den Auswanderern nach der Mongolei werde sie durch
den Frauenmangel bedingt Versuche zur Unterdrückung hätten
in Hollands Kolonien zu blutigem Aufruhr geführt Sie werde
zuerst erwähnt unter den Han zwischen einem Kaiser und seinem
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— 558 —
Diener. Der Dichter Li-ta6-pu habe sie besangen, ebenso die
Bücher Tsin-pi-me'i und Ping-hua-pan-tiSn (herrlicher Spiegel
gleichartiger Blumen). Diese Bücher mit ihren obscönen Ab-
bildungen in chinesischer Sprache zu besitzen, sei verboten, man
habe sie aber in mandschurischer! Eine riesige Schundliteratur
existiere darüber. Sie heiße Lu-tse (Ofen), der Vorgang t'sang-
hou-tse (ein Eisen in den Ofen schieben). Sie werde als teurer
Luxus betrachtet. Ihre Angehörigen zerfielen in zwei Kategorien
Eine niedere: Schauspieler^ früher Vergewaltigte, die durch Alter
oder Krankheit Herabgekommenen der höheren Klassen; sie trieben
sich in Theatern und Gasthäusern herum. Die höhere Klasse be-
stehe aus jungen Menschen, die mit 4— 5 Jahren gekauft oder
gestohlen und körperlich und geistig für ihr Geschäft erzogen
würden. Die Kinder würden massiert, die Analöfinung durch
Zinnstü«ke ausgedehnt, diese schmerzliche Prozedur durch schmerz-
lindernde Mittel angeblich gemildert; sie würden in Gesang und
Musik, namentlich klassischen Gesängen unterrichtet und mit
13 — 14 Jahren in ihr Geschäft eingeführt. Bei besonderen Gast-
mählern, sowie im Theater lasse man die , Jungen Knaben"
kommen, die Hsiau-Kou hätten äußerst gewählten Anzug; Ge-
schlechtskrankheiten seien ebenfalls verbreitet. Die Hsiau-Kou
wohnten in öffentlichen Häusern (tang-ming-öl) und gingen ge-
wöhnlich nicht auf die Straße. Ihre Häuser unterschieden sich
von denen der weiblichen Prostitution durch rote Glaslaterncn
und die Aufschrift Sie zahlten keine Abgaben. In vielen Häusern
finde man Prostituierte beiderlei Geschlechts. Der Preis eines
Hsiau-Kou sei der doppelte und mehr eines Mädchens. Für den
Kaiserlichen Hof existierten, wie man behaupte, spezielle männ-
liche Prostituierte, größtenteils Eunuchen. Sie wohnten im Nan-
fa, der verbotenen Stadt (Haus des Südens), der Minister der
Hofangelegenheiten habe sie zu besorgen.
Mclclicrs, Otto, Was soll das Volk Tom dritten
Geschlecht wissen? Auch eine Aufklämngsscbrift,
herausgegeben gegen das „Wissenschaftlich-Humani-
täre Komitö". Flugblatt Nr. 3, herausgegeben von
der Geschäftsstelle des Ordens für Regeneration, Otto
Melchers, Bremen, Hamburgerstraße 29 h.
Als Ziel der Bestrebungen des Komites wird die Freigabe
geschlechtlicher Mißbräuche der ärgsten Art, die Erleichterung der
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— 559 —
VerfQhrang UDBchuldiger Knaben nnd Jünglinge bezeichnet Zum
Bew^se dieser Behauptung wird auf den Aufsatz in der Januar-
nummer des ,yEigenen": „In die Zukunft^^ hingewiesen.
Insofern in diesen^ Au&atz übertriebene Wünsche
und Forderungen zum Ausdruck kommen^ werden sie
auch vom Komit^ mißbilligt Ich beziehe mich auf
meine scharfe Entgegnung zu diesem und ähnlichen Ar-
tikeln des „Eigenen^^ und meine auch von Dr. Hirschfeld
gutgeheißene Beurteilung. Wenn dann als weiterer Grund
angegeben wird^ daß nach Aufhebung des § 175 Knaben
über 14 Jahren den Päderasten freigegeben seien, so
scheint Melchers die Petition nur flüchtig gelesen und
übersehen zu haben, daß Schutz der Jünglinge bis
16 Jahre verlangt wird. Über das Schutzalter an und
für sich kann man überdies verschiedener Meinung sein.
Mag die Grenze von 16 Jahren zu niedrig dünken , so
erhöhe man sie auf 18 Jahre. In der Grundfrage, ob
die Konträren gegen Handlungen mit Erwachsenen zu
bestrafen seien, ist aber schließlich Melchers trotz seines
feindseligen Pathos mit dem Eomitö einig. Denn er muß
zugeben, daß es eine ungerechte Härte sei, Personen, die
von Geburt an schwer unter einer perversen Veranlagung
litten, mit Gefängnis zu bestrafen. Warum dann der
ganze Entrüstungsapparat und das Verdammungsurteil
gegen das Komitö? Allerdings in einem Hauptpunkte
entfernt er sich von dem Komit^.
Er befindet sich nämlich in dem irrigen Glauben,
daß die meisten gleichgeschlechtlichen Handlungen von
verdorbenen Wüstlingen ausgingen und bezeichnet über-
haupt die gleichgeschlechtliche Neigung als eine schwere,
durch Generationen ausgebildete Entartung, die den ge-
sund gebliebenen Teil des Volkes zu vergiften drohe.
Deshalb nennt er es eine Schmach, für diese „Verirrung"
einzutreten und ermahnt „die Gesamtheit dazwischen zu
fahren und den Sumpf der Entartung zu säubern«. Das
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— 660 —
Heilmittel mit dem klangvollen Namen, welches „dsLB
Volk auf eine gesunde Grundlage" wieder stellen könne,
hat denn auch Melchers gleich zur Hand, nämlich in
dem „Orden für Regeneration"^ zu dessen Beitritt er
das Volk auffordert.
Pelman, Carl, Strafreelit und yermluderte Zurecli-
nnngsfäliigkelt, in der Politisch-Anthropologischen
Revue, Jahrg. 2, Nr. 1, Aprilnummer.
Zu den Entarteten , die eine Gruppe der vermindert Zu-
rechnungsfähigen bildeten, zählt Pelman auch geschlechtlich
Perverse y fügt aber hinzu , „falls man eine angeborene sexuelle
Perversität überhaupt noch gelten lassen wolle". Pelman glaubt
letzteres ßei nicht erwiesen. Dem Bestreben der Urninge, die
sexuell Perversen zu einer großen sozialen Bedeutung aufzubau-
schen, lägen keine entsprechenden Tatsachen zu Grunde und ihre
Zahl schrumpfe unter der Lupe der Kritik sehr .erheblich zu-
sammen. Das erworbene Laster überwiege, Mitleid sei nicht am
Platze. Der sexuell Perverse könne geisteskrank sein, sei es aber
nicht an und für sich; die Geisteskrankheit müsse durch Symptome
auf einem anderen Gebiet nachgewiesen sein. Solange der § 175
bestehe, müsse der nicht geisteskranke Perverse die Folgen des
Paragraphen tragen.
Auch für Pelman gilt das oben bei [Besprechung
von JoUys Vortrag Gesagte.
Puppe, G., Über larylerte sexuelle Perversität, in
der Ärztlichen Sachverständigen-Zeitung, 1902, Nr. 24.
Aus dem Referat von Ernst Schnitze im Centralblatt
für Nervenheilkunde u. Psychiatrie, 15. Oktober 1908,
S. 661.
Zwei mitgeteilte Gutachten betreffend sexuell perverse In-
dividuen, deren Straftaten an sich keineswegs einen perversen
Charakter hatten, nichtsdestoweniger aber zur Befriedigung des
Geschlechtstriebes dienten. Der Eine, homosexuell und Sadist,
war wegen Betruges angeklagt. Er hatte Schwindeleien verübt,
uuj eine von ihm gegründete Jugendwehr unter allen Umständen
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— 561 —
aufrecht erhalten zu können. Er hatte sich dann einen roman-
tischen Namen zugelegt und unter fälschlicher Nennung von Auf-
sichtsratsmitgiiedem ein Armee- und Marine vorbereitungs-Institut
für junge Männer von 14 — 18 Jahren gegründet Züchtigung von
Knaben, sowie Lektüre solcher Ereignisse wirkten sexuell erregend.
Der andere Fall betrifft einen heterosexuellen Fetischisten.
Stern, Bernhard, Medizin, Aberglaube und Ge-
schlechtsleben In der Türkei. Mit Berücksich-
tigung der moslemischen Nachbarländer und der ehe-
maligen Vasallenstaaten. Berlin, 1903, Verlag von
H. Barsdorf, 2 Bde.
Kapitel 42, Bd. XLII, S. 210—221 handelt von
der „Päderastie und Sodomie".
Auch der Koran bestrafe den gleichgeschlechtlichen Verkehr,
nenne aber nicht die Höhe der Strafe. Dagegen werde leicht
Straflosigkeit zugesichert^ so schon im Falle der bloßen Rene.
Das moslemische Gesetz gestatte auch der Frau die Ehescheidung,
wenn der Mann Päderastie treibe. Es gäbe jedoch kein Beispiel
solcher Scheidung. Seit den Zeiten Bajesids sei der gleichge-
schlechtliche Verkehr sehr verbreitet in der Türkei. Sultan Mo-
hamed, der Eroberer von Konstantinopel, sei ein berüchtigter
Knabenliebhaber gewesen. Die Osmanen hätten nach der Er-
oberung Konstantinopels eine Menge christlicher Knaben, die sich
durch schöne Gestalt und Geist am meisten ausgezeichnet, als
Pagen, als Itschoghlan zum innersten Dienst des Hofes berufen
und geschlechtlich gebraucht Die Knabenliebe habe nicht selten
den triftigen Grund eines Christenkrieges abgegeben, dessen Beute
die gelichteten Reihen der Rekruten und Pagen mit neuem An-
wuchs zu füllen verheißen habe. Während bei Medem und Per-
sem die Knabenliebe mit dem Eunuchentum verbunden gewesen
sei, während dort die schönsten Knaben verschnitten worden seien,
um nicht nur als widernatürliche Wächter des Harems, sondern
als Buhlknaben zu dienen, hätten die Türken einen anderen, männ-
licheren, staatsnützlicheren Weg eingeschlagen. Die Janitscharen-
knaben und Pagen seien mit wenigen Ausnahmen unentmannt
geblieben. Griechische, serbische, bulgarische, ungarische Knaben
seien nicht als Eunuchen verschnitten, sondern nur als Moslems
beschnitten, in den Übungen der Waffen unterrichtet worden; nach-
dem sie der Lust ihres Herrn und Meisters gefröhnt,sei ihnen der Weg
Jahrbuch VI. 36
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— 562 —
EU den ersten Stellen des Staates und des Heeres durch Gunst
und Greschicklichkeit offen gestanden. Aus diesen Pflanzschulen
seien die größten Mffnner des osmanischen Reiches hervorgegangen.
Der zum Großvezier und Schwiegersohn des Sultans Suleiman
aufgestiegene Rustan — ein geborener fiLroate — sei ein ehe-
maliger Zögling der Pagenkammer des Serail gewesen. Die Sitten-
verderbnis der Ulema und Richter sei allezeit noch Srger als
die der Sultane, Paschas nnd Veziere gewesen. Als das „größte
Ärgernis des Gesetzes** gelte in der osmanischen Geschichte der
Oberstlandrichter Tschiwisade, „vielberüchtigt darch seine Un-
wissenheit und Knabenschfinderei/*
Fast im ganzen Orient seien die Masseure in den Bädern
Jünglinge, die sich selbst zur Päderastie anböten. Bosnische
Lieder besängen die Päderastie mit Männern und Frauen. Ein
Sarajevoer Lied schildere den Schmerz eines von einem Päde-
rasten geplagten Burschen.
In allen Städten des Orients bevölkerten Knaben verschie-
dener Nationen die öffentlichen Häuser in nicht viel geringerer
Zahl als Mädchen. An Feiertagen sähe man solche Knaben in
ihrer auffallend reichen weibischen Tracht, mit falschen Haaren,
singend und tanzend, selbst in den Straßen umherziehen und
Lüstlinge locken. In Konstantinopel träfe man sie mit bleichen
hageren Gesichtern, in weiten goldgestickten Hosen, namentlich
in den Kaffeeschenken von Galata. In Stambul existierten be-
sondere Freudenhäuser Imam-Eweler, Häuser des Imams genannt,
in denen nur Knaben die Funktionen der Freudonmädchen aus-
übten. Ein russischer Arzt habe schon im Jahre 1846 zehn solcher
Häuser erwähnt Seither habe sich die Zahl nach einer dem Ver-
fasser von einem türkischen Polizeibeamten gemachten Mitteilung
verdreifacht. Schließlich berichtet Verfasser noch kurz über die
von Hahn in den bekannten „albanesischen Studien" gemachten
Angaben über die Knabenliebe bei den Gegen Albaniens, wo die
Knabenliebhaberei unter den unverheirateten Männern eine natio-
nale Leidenschaft darstelle.
Gelegentliche Bemerkungen über den gleichgeschlechtlichen
Verkehr befinden sich noch in diesem II. Band Kap. 26: „Die
Ehe im Islam" S. 20. Der türkische Liebesschriftsteller Omer
Haleby führt in seiner Verteidigung der Polygamie als eine Ur-
sache der Päderastie die Monogamie an.
„Die Monogamie kann aber leicht zum Ehebruch, zur Onanie,
zur Päderastie verführen; denn die Laster kommen wie Unglücks-
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— 563 —
fUle, immer in Gruppen und Ketten, eines hängt dich an das
andere an. 0 Ihr Gläubigen , folget nicht den Prinzipien und
Batschlfigen jener Götzendiener , welche sich fälschlich Diener
Jesu nennen; denn sie geben vor, ihn als Muster anzuerkennen,
und machen aus seiner Lehre den Tempel Satans und der
Vielgötterei."
Es ist ergötzlich, zu sehen, wie hier ein Osmane die
gleichen Vorwürfe gegen die Monogamie erhebt, welche
meist der Christ gegen die Polygamie schleudert und
jeder in den Eheeinrichtungen des Volkes des anderen
eine Ursache der Päderastie erblickt. Sollte da nicht
die Überzeugung sich aufdrängen, daß der gleichge-
schlechtliche Verkehr von Monogamie und Polygamie
unbeeinflußt ist!
Kapitel 43: Eunuchen und Perversitäten, Seite 230,
berichtet Stern über die Eunuchen, die Männern als Weiber
dienen. Er zitiert Omer Haleby:
,,Wenn sich diese Eunuchen a retro gebrauchen lassen, so
sind sie die schlimmsten Feinde der Frauen, deren peinlichste,
wildeste und eifersüchtigste Wächter; und sie sind nicht bloß
eifersüchtig auf die Frauen, sondern auch auf einander.^^
Im gleichen Kapitel S. 233 erwähnt Stern den weih weib-
lichen Verkehr: „Die indischen Frauen in den Harems üben mit-
einander das Auparischtaka oder „die Krähe^' d. h. den cunilingus.
Er zitiert femer einen Abschnitt aus Hammer: „Geschichte des
Osmanischen Reiches*' über eine türkische Sappho, die Dichterin
Mihiri aus Amasia, die ihr
„lediges, aber nicht jungfräuliches Leben der Liebe ge-
weiht".
Wie dies gewöhnlich in Büchern über türkische Zu-
stände geschieht, stellt auch Stern die Sache so dar, als
ob der gleichgeschlechtliche Verkehr in der Türkei weit
hänfiger ausgeübt werde ^ als im übrigen Europa. Es
mag nun auch sein, daß er besonders häufig in der Tür«
kei vorkommt^ aber ich glaube nicht, daß das Verhältnis
der Häufigkeit des gleichgeschlechtlichen Verkehrs zur
Häufigkeit des normalen Verkehrs, sowie das Verhältnis
der Anzahl Homosexueller, die gleichgeschlechtlich yer-
36»
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— 664 —
kehren, zu der Anzahl Heterosexueller, die gleich-
geschlechtlichen Verkehr ausüben, in der Türkei wesent-
lich anders sei, als im übrigen Europa. Wenn der
gleichgeschlechtliche Verkehr öfter als in Europa gepflegt
wird, so scheint aber überhaupt auch der Koitus zwischen
Mann und Weib oft in übermäßiger Weise ausgeübt zu
werden. So berichtet Stern von dem Sultan Ibrahim, der
einmal in 24 Stunden 24 mal koitiert habe.. Sodann ist
zu beachten, daß die Homosexuellen in der Türkei un-
gehemmt und ohne sozialer Ächtung zu verfallen, ihren
Trieb befriedigen können. Die Homosexualität wird daher
offener hervortreten, ihre Äußerungen werden öfters nach
außen hin sich bemerkbar machen, während im übrigen
Europa die Homosexuellen ihr Geschlechtsleben auf das
Sorgfältigste in Dunkel hüllen, und das große Publikum
nur infolge von Skandalgeschichten und Prozessen von dem
homosexuellen Leben und Treiben etwas erfährt. So
kommt der Heterosexuelle leicht zu dem Glauben, die
' in Europa ihm verborgen bleibenden Homosexuellen seien
weniger zahlreich als in der Türkei: Für das häufigere
Vorkommen des gleichgeschlechtlichen Verkehrs in der
Türkei braucht man daher nicht, wie das so oft geschieht,
als Grund die infolge der polygamen Sitten angeblich
entstandene Übersättignug am Weibe und die Sucht nach
neuen Genüssen zu sehen. Auch Stern weiß von keinem
einzigen Männerliebhaber zu berichten, der infolge voran*
gegangener Exzesse beim Weibe, später eine Begierde
für Jünglinge erworben hätte. Wenn die maßlose Weiber-
liebe derartige Wirkungen öfter zeitigen würde, so wären
sie doch z. B. bei dem oben erwähnten Ibrahim zu er-
warten gewesen, der aber trot? seiner Unzahl von Sul-
taninnen, Sklavinnen und Günstlinginnen bis zu seinem
Lebensende anscheinend keinen Überdruß am Weibe be-
kam und keine Lust zeigte, die Liebe zum Weib mit
der Begierde zum Mann zu vertauschen.
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— 565 —
Ebenso blieb der Prophet Mohammed trotz seiner
elf Frauen (die letzte heiratete er noch kurz vor seinem
Tode) Weiberfreund, auch ihn verleitete nicht der häutige
Besitz des Weibes zum Wechseln seiner Natur. Was
die gesetzliche Verpönung des gleichgeschleohthchen Ver-
kehrs anbelangt, so scheint die Strafe nur auf dem Papier
zu stehen. Die Bedeutung — oder viehnehr Bedeutungs-
losigkeit — des Verbots wird sofort klar, wenn man be-
rücksichtigt, was alles ebenso wie die Päderastie mit
korrektionellen Strafen bedroht ist. So z. B. f&hrt Stern
in einer Linie mit der Strafe der Päderastie an (S. 53):
„Die Strafe der Witwe für die Verheiratung während der
gesetzlichen Wartezeit, oder die Strafe für den freien
Verkehr der beiden Geschlechter, wenn ein Mann und
eine fVau, die nach dem Gesetz sich nicht sehen dürfen,
sich in familiärer Weise treffen, miteinander plaudern,
schäkern und gemeinsam ein Mahl nehmen! Oder die
Strafe für den Ungehorsam der Frau gegen den Willen
des Mannes."
Die Schilderung, die Stern über die heutige Knaben-
prostitution in Konstantinopel gibt, ist nach Erkundigungen,
die ich von Homosexuellen eingezogen habe, die mit den
türkischen Verhältnissen bekannt sind, unrichtig.
Dereine sehr zuverlässige Gewährsmann schreibt mir:
,ySicher ist, daß fiLuabenbordelle, wie sie noeh vor 10 Jahren
bestanden haben sollen, nicht mehr existieren, sondern von der
Polizei aufgehoben worden sind. Auch die „poetische" Beschrei-
bung der auf den Straßen herumsiehenden oder in Kneipen
sitzenden Knaben, besonders in Galata, also in dem Fremden-
viertel, ist absolut unzutreffend. Dagegen sind einige Bäder be-
kannt, in denen die Diener die Funktionen der Freudenmädchen
verrichten, immer aber unter dem Mäntelchen der „Badebedienung^^
Für den Fremden bietet Konstantinopel weniger Gelegenheit zum
homoseznellen Verkehr, als irgend eine andere europäische Groß-
stadt. Kuppler und schmutzige Hotelchen, in denen man über-
dies geprellt wird, existieren zwar, aber ganz ebenso im geheimen,
wie in anderen Großstädten.^^
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— 566 —
Salgo, Dr., Die sexuellen Perrersitäten Tom psychi-
atrischen und forensischen Gesichtspunkte. Vor-
trag, gehalten auf dem 2.LaDdeskongreß der uDgariBchen
Irrenfirzte; in der „Pester medizinisch- chirurgischen
Presse'^ No. 1 vom 4. Januar 1903.
Aas der zeitlichen und örtlichen Ubiquitfit der Homoseza-
alität und weil, wie er glaubt, die Möglichkeit des normalen Ver-
kehrs neben dem homosexuellen in den meisten Fällen bestehe,
schließt Salgo, daß die angeborene Inversion eine seltene Er-
scheinung sei. Die Behauptung des Angeborenseins, meint Salgo
weiter, stamme aus sehr wenig zuverlässigen Informationen, aus
den oft lügenhaften, an der Verschleierung des wahren Ursprungs
ihres Lasters interessierten Homosexuellen. Die Homosexualität
sei meist auf äußere Ursachen zurückzufahren: Auf Abstumpfung
der Libido infolge von Exzessen, Notstand regulären Geschlechts-
verkehrs, z. B. infolge Krankheit der Frau (!) usw. Die bei sexuell
Perversen angeblich oft vorhandene sogenannte psychische Dege-
neration sei kaum mehr als ein Schlagwort und kein Beweis der
Krankhaftigkeit, ebenso die sog. somatischen Stigmata, deren Ab-
hängigkeit von Störungen des Zentralnervensystems unerwiesen
sei. Sexuelle Perversität könne allerdings als Ausfluß einer Greistes-
störung vorkommen!, z. B. im Verlaufe maniakaliscber Erregungs-
zustände, beigewissen Formen seniler psychischer Involution, bei den
von Magnan beschriebenen Fällen anfallsweise auftretender Zu-
stände mit den Begleiterscheinungen der Anxietät, Palpitation,
Trübung des Bewußtseins, großer Unruhe, die in sexuell perversen
Handlungen zur Entladung kämen. Die sexuelle Perversität sei
nur dann als krankhaft zu betrachten, wenn sie mit vielen an-
deren und charakteristischeren Rrankheitssymptomen ein Krank-
heitsbild ausmache. Anlangend die forensische Seite der homo-
sexuellen Frage befürwortet Salgo die Straflosigkeit des homo-
sexuellen Verkehrs. Wolle man ihn wegen der Vereitelung der
Fortpflanzung bestrafen, so müsse man auch unzählige Akte im
heterosexuellen Geschlechtsverkehr mit Strafe bedrohen, die aber
so verbreitet und so intimer Natur seien , daß eine strafende Kon-
trolle undenkbar sei. Die strafrechtliche Verfolgung der Perver*
sitäten richte sich daher gamicht gegen ihre gesellschaftsfeindliche
Seite, sondern scheine eher einer ästhetischen Empörung gegen
Geschmacksverirrungen zu entspringen. Ein gesetzgeberisches
Einschreiten gegen individuelle Geschmacklosigkeiten sei jedoch
kaum denkbar, und zwar auch dann nicht, wenn man die Q-e-
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— 567 —
flchmacksverirmoffen moraliBche Yerimuigen nennen wolle. Eine
Handlung sei erst dann unmoralisch , wenn auch Dritte dadurch
berührt würden; solange die zwischen zwei Personen verübte per-
verse Handlung geheim bleibe, sei sie weder moralisch noch un-
moralisch zu nennen. Sie werde es erst, wenn sie zur Kenntnis
Dritter gelange und deren berechtigtes Empfinden verletze. Daß
sie aber zur Kenntnis gelange, sei in vielen Fällen gerade ein
Umstand, der gegen ihre Verfolgung spräche, da die Anzeige
meistens durch einen Erpresser erfolge. Die „Chantage*^ blühe
auch gerade da am meisten, wo die homosexuelle Handlung straf-
bar sei.
Salgo macht über Wesen und Entstehung der Homo-
sexualität Ausführungen, die im allgemeinen denjenigen
von Jolly (siehe oben) ziemlich ähnlich sind. Ich ver-
weise daher auf meine Erwiderung gegen Jolly. Das
dort Gesagte gilt auch gegenüber den Auslassungen
von Salgo.
Allerdings ist die Auffassung von Salgo eine weniger
wissenschaftliche, noch mehr auf veraltetem Standpunkt
fußende, als diejenige von Jolly. Man darf wohl seiner
Verwunderung darüber Ausdruck verleihen, daß auf einem
Ärztekongreß ein Mann über Homosexualität Vortrag
gehalten hat, der, wie seine Auslassungen beweisen, von
dem Wesen der Homosexualität keine Ahnung und
sicherlich niemals noch. Homosexuelle untersucht hat.
Eine bemerkenswerte Tatsache bedeutet es übrigens, daß
Männer wie Jolly und Salgo, die einen den Forschem
über Homosexualität entgegengesetzten Standpunkt ein-
nehmen, trotzdem die Beseitigung der Bestrafung des
homosexuellen Verkehrs verlangen.
Schrcnck-Notzing, Freiherr Ton, Beiträge znr
forensischen Beurteilung Ton SittUchkcltsyer-
gchen mit besonderer Berücksichtigang der
Pathogenese psychosexueller Anomalien, in
„Kriminal - psychologische und psycho - pathologische
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— 568 —
Studien". Leipzig, 1902, Verlag Ton Johann Am-
brosius Barth.
Kapitel 2, 3 und 4 der Abhandlung hat Verfasser
schon früher im Archiv fUr ,, Kriminal- Anthropologie und
Kriminalistik" von Groß veröflFentlicht Sie sind auch
schon von mir im Jahrbuch II, S. 361 besprochen worden.
Neu ist nur Kapitel I: „Einleitende Bemerkungen über
Homosexualität^^
Verfasser hebt den gewaltigen Einfluß der geschlechtlichen
Faktoren für das Seelenleben und ihre große Bedeutung in medi-
zinischer, strafrechtlicher und sozialer Hinsicht hervor. Er gibt
eine kurze Beschreibung der Äußerungen und Wirkungen des
homosexuellen Gefühles, wobei er erwähnt, daß ihm eine Anzahl
von Ehen bekannt sei, in denen infolge der auf Homosexualität
zurückzuführenden Unfähigkeit des Ehemannes zur Ausübung des
normalen Verkehrs die Frau virgo intacta sei. Verfasser skizziert
dann seine bekannte Assoziationstheorie, die er dahin zusammen-
faßt, daß die meisten geschlechtlichen Verirrungen sich als Pro-
dukt ungünstiger äußerer Anlässe bei vorhandener erheblicher
neuropathischer Konstitution und Labilität des Trieblebens dar-
stellten. Gegen die jüdisch-christliche Anschauung in geschlecht-
lichen Dingen sich wendend, spricht er von der Einseitigkeit und
Härte dieses ursprünglich gegen ganz bestimmte heidnische Un-
sitten gerichtete und mit den Bedürfhissen der heutigen Kultur
nicht mehr übereinstimmenden Ideals, das beigetragen habe zur
Förderung der Prostitution, sowie der zahlreichen Verirrungen
und Erkrankungen des Sexualtriebes, und zur Ausbreitung der
Heuchelei und Lüge im geschlechtlichen Leben. Dieser Auf-
fassung stellt Verfasser das griechische Ideal gegenüber; die Ge-
schichte der Geschlechtsverhältnisse im alten Griechenland lehre,
daß hohe Kultur und Sittlichkeit sehr wohl vereinbar Sei mit
einer natürlichen, freieren, mehr den Bedürfnissen des mensch-
lichen Wesens entsprechenden Auffassung des sexuellen Lebens.
Der Staat solle eher die kommende Generation ins Auge fassen
und sich mehr um die Verhütung der Fortpflanzung von Trunken-
bolden, Syphilitischen, Verbrechern usw. kümmern, anstatt mit
der Bevormundung der Einzelindividuen in sexueller Beziehung
auch da, wo kein Schaden für einen Dritten oder das Allgemein-
wohl daraus erwachse, so weit zu gehen, wie er dies mit § 175
tue. Durch innere Reformen (Aufgabe der Heuchelei in sexuellen
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— 569 —
DiDgen, Erleichterung der Eheschliefiong für normale Indi-
viduen, Gewährung vernünftiger sexueller Befriedigung usw.X
würde perversen Richtungen des Geschlechtstriebes der Boden
entzogen.
Meine von Schrenck-Notzing abweichende Auffassung
über Entstehung und Beurteilung der Homosexualität
und die Einwände gegen des Verfassers Theorie habe
ich schon im Jahrbuch 11^ S. 363^ und an anderen
Stellen niedergelegt. Obgleich Schrenck-Notzing die in
den Jahrbüchern hauptsächlich vertretene Anschauung über
das Angeborensein der Homosexualität bekämpft, erkennt
er doch in einer Anmerkung (Anm. 2 zu Kapitel 11),
welche Hirschfeld im vorigen Jahresbericht ganz ab-
gedruckt hat, in unparteiischer Weise ,,die riesige,
unermüdliche Arbeitskraft, die zähe Ausdauer und die
geschickte Organisation^^ an, wie sie in dem unternehmen
zutage trete. Eines gevdssen Widerspruches macht sich
Schrenck-Notzing schuldig, indem er dem griechischen
Ideal in gleichgeschlechtlichen Dingen Lob spendet und
trotzdem die gerade in Griechenland zu gesunder Blüte
entwickelte Jünglingsliebe als krankhaft bezeichnet Der
Forderung des Verfassers nach sozialen Reformen auf
geschlechtlichem Gebiet wird man voll und ganz zu-
stimmen müssen; deshalb braucht man aber nicht seine
Folgerung für richtig zu halten, daß dann die Homo-
sexualität auf ein Minimum zusammenschrumpfen werde.
Denn ist die Homosexualität^ ' wie ich glaube, eine an-
geborene, zu allen Zeiten und an allen Orten verbreitete,
dem normalen Trieb parallele Leidenschaft, so werden
soziale Verbesserungen nur wenig die Zahl der Homo-
sexuellen beeinflussen.
Spassoff, Contribution ä l'^tude de riustinct sexuel
et de ses transformatlons dans les maladies
mentales. These pour le doctorat en m^decine.
Toulouse, 1901, Imprimerie Saint Cyprien.
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— 570 —
Eine für die Frage der Entstehang des G-eschlechts-
triebes und seiner Anomalien unbedeutende Dissertation«
Das wichtigste Werk über den Geschlechtstrieb, Molls
Untersuchungen über die Libido sexuaiis, ist nicht ein-
mal genannt
Der Geschlechtstrieb ist fttr den Verfasser, wie jeder Trieb,
eine etwas komplizierte Beflexbewegnng mit einer gewissen Bewiißt-
seinsbeteiligung; in dem Trieb sei wahischeinlich eine psychomcH
torische Bewegung: Begierde, Erregung nsw. mit mehr oder we-
niger Beteiligung des Willens enthalten. £r fQhrt den Greschlechts-
trieb auf zwei Ursachen zurück: Die Notwendigkeit und Begierde
der Entleerung der durch die Geschlechtsdrüsen hervorgebrachten,
durch Sekretion entstandenen Produkte, durch welche auch die
etwaigen sexuellen Centren erregt würden. Die zweite Ursache
sei der Gedanke der Fortpflanzung. In den Geschlechtsanomalien
sei entweder ein übertriebenes Beharren des lediglich organischen
Reflexes ohne Beteiligung des Bewußtseins, ohne getroffene Wahl
usw. vorhanden, oder aber lediglich die Äußerung des psychischen
Teiles des Aktes infolge Vergessens des organischen Ursprungs,
daher die rein ideale Liebe ohne physischen Zweck.
Wie unrichtig die Auffassung ist, als ob das
psychische Komponent der Geschlechtsliebe der Gedanke
an Fortpflanzung sei, geht daraus hervor, daß auch der
Koitus zwischen Personen verschiedenen Geschlechts fast
niemals zu diesem Zweck stattfindet Man kann daher
auch nicht bei den Anomalien das Fehlen dieses Zweckes
als Charakteristikum betrachten. Übrigens zeigt sich
auch bei den Erörterungen der sexuellen Anomalien seitens
Spassoff seine Theorie völlig unzulänglich. So operiert
er bei der Erklärung der Paresthesie, insbesondere der
Inversion, fast nur mit der Störung der Geschlechts-
zentren, obgleich er das Vorhandensein der letzteren kurz
vorher bei der Erörterung des Geschlechtstriebes zu leugnen
geneigt war, jedenfalls ihnen keine entscheidende Be-
deutung beimaß.
Nach Spassoff entsteht die Inversion infolge der in der
Jagend aus Nachahmung, Furcht vor Geschlechtskrankheiten oder
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— 671 —
Weibermangel betriebenen' Onanie, welche Neurasthenie verar-
Sache und das normale Geschlechtszentrum ins Wanken bringe.
Auch auf Grund angeborener Schwäche des Gkhims könnten falsche
Ideenassoziationen und eine Ablenkung in perverse Bahnen statt-
finden.
Der zweite Teil der Schrift hat ein gewisses Interesse. Ver-
fasser hat versucht, in den Irrenanstalten Salnt-Lisier und Mont-
auban (Südfrankreich) die Art des Geschlechtstriebes der Irren
festzustellen. Von 169, bei denen Feststellungen möglich gewesen
seien, hätte er nur 19 g^efiinden, bei denen der Geschlechtstrieb
nicht eine Anomalie, Hyperästhesie, Anästhesie oder Paresthesie
aufgewiesen hätte.
Da Verfasser zu den Paresthesien alle Formen ge-
schlechtlichen Verkehrs außerhalb des normalen Koitus
rechnet^ z. B. auch Onanie, so weiß man nicht, wieviel
Fälle gleichgeschlechtlicher Akte in den aufgestellten
Tabellen sich befinden^ und wüßte man es auch^ so
würde dies angesichts der Verhältnisse, unter denen diese
Akte beobachtet wurden, noch nicht entscheiden, um wie-
viel Fälle von Inversion es sich handelte. Irgend welche
Schlüsse für die Entstehung oder Verbreitung der Homo-
sexualität lassen sich daher aus der Statistik nicht ziehen.
Verfasser betont übrigens zum Schluß selbst^ daß seine
Untersuchungen ihm keine bestimmten Schlußfolgerungen
gestatteten.
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— 572 —
Kapitel IV.
Die Anhänger der Strafe.
Anderson, Marie (Frau), Wider das dritte Ge-
schlecht. Ein Wort zur Aufklärung über die kon-
träre Sexualempfindung und die Abschaffung des
§ 175 StG.B. BerUn, 1903, Verlag von Hugo Ber-
müUer.
Mit heiligem, feurigem Entrüstungseifer hat Ver-
fasserin alle vor den wissenschaftlichen Forschungen über
Homosexualität herrschenden Vorurteile wieder aufgetischt
Das Märchen vom Wtistlingsleben, die Fabel von der
bei den Passiven am anus bestehenden, besonders
erregbaren Nerven, die Mythe von der Sucht der Aktiven
nach größerer Enge bei Ausübung des Beischlafes als
Ursachen der Homosexualität, diesen gesamten veralteten
Hokuspokus hat die gute Dame neu aufgewärmt. Auf
eine Widerlegung werde ich mich selbstverständlich nicht
einlassen, es würde den Elukubrationen der streitbaren
Amazone allzu große Ehre angetan. Nur eine Frage:
Wenn die Homosexuellen aus Sucht nach dem Engeren
den gleichgeschlechtlichen Verkehr wählen, warum suchen
sie beim Manne, was sie bei der Frau auch finden
könnten?'
Trotz der anscheinend unheilbaren Verblendung der
Frau Anderson war sie doch gütig genug, einen Licht-
strahl der neueren Forschungen in ihre dunklen Vor-
stellungen eindringen zu lassen, insofern sie wenigstens
das Vorkommen angeborener Konträrsexualempfindung
nicht leugnet; allerdings hat dieser Lichtstrahl nicht
vermocht, ihr Verständnis genügend zu erhellen; denn in
einem Atem bezeichnet sie die angeborene ümingsliebe
als Kranldieit und als schändliches Laster und will diese
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— 573 -
„kranken Lasterhaften^' wie Aussätzige aus der Gesell-
schaft ausgeschlossen wissen, damit sie nicht Normale in
das Lager ihrer ekelhaften Leidenschaft zögen; gleich-
zeitig bringt sie es dann wieder fertig, diese geborenen
Uranier mit dem körperlichen Zwitter zusammenzuwerfen.
Die Beleidigungen und Beschimpfungen, mit denen
die anmutige Verfasserin die Bestrebungen des Komitees,
die sie als Skandal bezeichnet, gegen den die Behörden
einschreiten sollten, überschüttet, ihre Entstellungen der
Volksschrift, die sie eine Empfehlung des Lasters und
gröbsten Unfugs nennt, ihre Verleumdungen gegen das
Komitee, welches sie als Beschützer überspannter, raffi-
nierter Wollüstlinge und Volksvergifter darstellt, wird
man nicht so sehr auf weibliche Perfidie, als vielmehr
auf weibliche Subjektivität zurückführen, auf unüberlegte,
aus blindem Haß und instinktivem Abscheu entspringende
Gefühlsreaktion, auf Unkenntnis, auf mangelnde Fähig-
keit, dem eigenen Wesen Fremdartiges und dem eigenen
Temperament Femliegendes objektiv zu beurteilen, auf
die Unmöglichkeit, den Bann eingewurzelter Vorurteile
zu brechen.
Man wird der Verfasserin nicht einmal wegen ihrer
geistigen Ergüsse zürnen, viel eher möchte man sie be-
mitleiden, daß sie die ernste wissenschaftliche Frage der
Homosexualität in einem Unrat des Monströsen, Törichten,
Falschen und Vorurteilsvollen ersticken zu dürfen glaubt.
Aber nicht nur Mitleid wird man ihr zollen, sondern
auch Dank spenden für eine Art der Feindschaft und
Bekämpfung, die dem Komitee nur Sympathien objektiv
Denkender einbringen kann. Von solchen Gegnern wie
Frau Anderson hat das Komitee nichts zu befürchten,
schon deshalb, weil derartige Streitschriften der Lächer-
lichkeit anheimfallen, und auch hier der Grundsatz sich
bewahrheitet:
Le ridicule tue.
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— 574 —
Quanter, Badolf, Wider das dritte ^esehlecht.
Ein Wort zur Aofkläning über die konträre Sexaal-
empfindung und die Ab8cha£fung des § 175 nach
Frau Marie Anderson. Zweite^ zugleich neubearbeitete
Ausgabe. Berlin, 1904, Verlag von Hugo Bermüller.
Ein wackerer Eitter ist in der Person von Quanter
der Frau Anderson zu Hilfe geeilt und hat nicht nur
die Elukubrationen der tapferen Dame in festeren Zu-
sammenhang und in logischeres Gefüge zu bringen ver-
sucht, sondern ist auch durch selbständige Ausführungen,
die diejenigen der kühnen Streiterin noch um die Hälfte
an umfang übertreffen, gegen die Homosexuellen und das
Komitee zu Felde gezogen. Noch nachdrücklicher als
Frau Anderson will Quanter durch geschichtliche Bei-
spiele nachweisen, daß Homosexualität meist ein Laster
sei. Hierbei glaubt er besonders in den römischen
Cäsaren gute Beispiele vorzufilhren. Er vergißt dabei:
1. daß der Verkehr mit Frauen neben dem homo-
sexuellen Trieb einhergehen kann, weil entweder ohne
heterosexuelle Veranlagung dieser Verkehr aus den ver-
schiedenen Gründen stattfindet, oder weil psychische
Hermaphrodisie besteht, daß also dieser Verkehr nicht
die homosexuelle Handlung als Laster erweist;
2. daß selbst, wenn in der römischen Zeit gleich-
geschlechtliche Handlungen als Laster Normaler vor-
gekommen sein mögen, dies nicht beweist, daß regel-
mäßig dies die Quelle der Homosexualität ist, weil die
neuere Untersuchung zahlreicher Homosexueller ergeben
hat, daß regelmäßig angeborener Trieb vorliegt;
8. daß Ausschweifungen mit Männern auch bei Homo-
sexuellen vorkommen, ebenso wie mit Weibern bei
Heterosexuellen, und daß daher Sioheußlichkeiten römischer
Cäsaren im Verkehr mit Männern nur beweisen, daß es
auch homosexuelle Wüstlinge gibt, ebenso wie es an
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— 575 —
heterosexuellen nicht mangelt, daß aber die Exzesse der
Homosexuellen nicht beweisen, daß sie ursprünglich
heterosexuell waren.
Wie hoch der Wert der Quanterschen Beweisführung
zu veranschlagen ist, geht daraus hervor, daß er z. B. von
einem so offenbar geborenen Konträren, dem alle Zeichen
völligster Effemination darbietenden Heliogabal behauptet,
er sei kein Urning gewesen. Quanter mag ihn homo-
sexuellen Wüstling nennen, einverstanden, aber ihn als
einen durch Überdruß am normalen Verkehr zu einem
Liebhaber gleichgeschlechtlicher Handlungen Gewordenen
zu bezeichnen, beweist nur Quanters Verblendung.
Nach dem historischen Überblick, der als Schreck-
gespenst dienen soll, geht Quanter zur Aufklärung nach
seiner Art über. Diese Aufklärung ist ganz die von der
Frau Anderson beliebte. Auch er leugnet und verhöhnt
einfach die Resultate, die die bisherige Forschung auf homo-
sexuellem Gebiet ergeben hat, setzt an ihre Stelle seine
theoretischen, durch keine Erfahrung bestätigten De-
duktionen und zieht sich auf den durch Jahrhunderte
lange Vorurteile sanktionierten Standpunkt zurück. Auch
er läßt es — in galanter Nachahmung der liebenswürdigen
Frau Anderson — an Schmähungen und Wutausbrüchen
nicht fehlen gegenüber den Homosexuellen und allen
denjenigen, welche es wagen, in irgend einer Weise für
sie einzutreten, oder auch nur die Beseitigung des § 175
zu befürworten. Desgleichen schreckt er nicht zurück
vor direkten Verunglimpfungen und Beschimpfungen des
Komitees und des Dr. Hirschfeld, ja sogar vor Vorwürfen,
wie Handeln wider besseres Wissen.
Durch den saftigen Ton und das an Kraftworten
reiche Auftreten sucht Quanter seine Unkenntnis, Un-
erfjBthrenheit und Unwissenheit in der homosexuellen Frage
zu verbergen. In dem ganzen Buch ist auch nicht eine
einzige Stelle, welche auf persönliche Erfahrung hinweist.
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— 576 —
welche zeigen würde^ daß Quanter überhaupt jemals
Homosexuelle kennen gelernt hat.
Er spricht also von der ganzen Frage, wie ein
Blinder von der Farbe, wagt es jedoch nichtsdestoweniger,
den selbstverständlichen Satz, „in den homosexuellen
Fragen könnten nur diejenigen als Sachverständige gelten,
welche zahlreiche Homosexuelle kennen gelernt'', als den
heillosesten Unsinn zu bezeichnen, wobei er sich zu dem
heillosesten Unsinn versteigt, die wahren Sachverstän-
digen, Männer wie KraflPb-Ebing, Moll, Hirschfeld, Fuchs,
Schrenck-Notzing, welche Hunderte von Homosexuellen
untersucht haben, für parteiisch, für Richter in eigener
Sache, für Verteidiger des Lasters um jeden Preis zu erklären.
Für Quanter sind einwandsfrei nur diejenigen, welche
von den Forschungen und Feststellungen in der homo-
sexuellen Frage nichts wissen wollen, mögen sie auch
nicht einmal ein Dutzend oder überhaupt jemals einen
Homosexuellen studiert haben.
Am höchsten preist daher Quanter auch die Ansicht
eines gewissen Scholta, der das schöne Wort von der
„homosexuellen Schweinerei' ' geprägt hat.
Die traurige Methode Quanters, die unbequemen
Ergebnisse anerkannter Sachverständiger einfach dadurch
hinwegzueskamotieren, daß er die einfachsten Grundsätze
der wissenschaftlichen Methodik auf den Kopf stellt,
richtet das ganze Buch und stellt den Verfasser außer-
halb des Kreises ernst zu nehmender Autoren, so daß
eine Widerlegung sich erübrigt. Alles, was zu antworten
wäre, kann übrigens Quanter in meiner Widerlegung
der Wachenfeldschen Schrift im Jahrbuch IV finden.
Fischer, Wilhelm, Die Prostitution, Ihre beschichte
and Ihre Beziehungen zum Verbrechen und die
kriminellen Ausartungen des modernen 0^
schlechtslebens. Stuttgart-Leipzig, Verlag Daser.
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— 577 —
Mehr oder weniger zasammenIläDgende Extrakte aus
verschiedenen Werken über Prostitution und geschlecht-
liche Dinge in populärer, an der Oberfläche haftender
Form; unter den salbungsvollen und moralisierenden
Phrasen schaut nichtsdestoweniger die ,,pikant sein
wollende" Absicht hervor.
In Kapitel 5 „Perverse Laster bei den Griechen" wird
Sokrates als ein weiser Don Juan bezeichnet, der sich von As-
pasia dem Alkibiades, einem ihrer Liebhaber habeverkuppehi lassen.
Femer Mitteilung zweier Bruchstücke aus Lucian, das eine die
Schilderung der Rynäden, das andere die Erzählung der zu les*
bischer Liebe verfiihrten Le&na.
Das ist ungefähr alles, was Verfasser über die Ho-
mosexualität bei den Griechen zu sagen weiß.
Am Schlüsse des Kapitels empfiehlt er das Studium der
antiken Geschichte, um daraus die Lehre zu ziehen, daß nicht nur
der § 175 beizubehalten, sondern auch auf die Tribadie auszu-
dehnen sei.
Kapitel 10 „Die Prostitution im Mittelalter'* enthält eine
Anzahl von Angaben Über Lesbismus, insbesondere über Weiber
in Männerkleidern, die verschiedenen Werken entnommen sind.
Kapitel 26: Im Schlußwort polemisiert Verfasser gegen die
Aufhebung des § 175, es sei keine Veranlassung vorhanden, die
Knabenschändung noch zu privilegieren (als ob dies etwas mit der
Beseitigung des § 175 zu tun hätte); femer werden die angeblichen
Gefahren geschildert, die aus der Straflosigkeit der schon längst
gemeingefährlich gewordenen (!) Tribadie entständen.
Die Tribadie finde sehr leicht unter der heranwachsenden
Jugend ihre Opfer, denn sie stille die Brunst unter den Küssen
der Freundschaft, ohne die natürlichen Folgen der natürlichen
Liebe.
Die Freundinnen der jungen Frau seien schuld, daß so
manche Ehe schon am Traualtar zertrümmert liege.
Gerland, Heinrich. Anläßlich der Besprechung des
Buches von Koehler ,,Reformfragen des 8trafrechts^<
im „Gerichtssaal" Bd. 63, Heft 1, S. 78 sagt öerland:
„Bezüglich der Bestimmung des § 175 wäre einmal zunftchst
die Entstehung einer derartigen Strafsetzung zu ergründen.
Jahrbuch VI. 37
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— 578 —
Zweifellos beruht de auf veralteten religiösen Yorstellaugen
und namentlich wäre es interessant zu untersuchen, warum wohl
Pftderastie, nicht aber lesbische Liebe so häufig unter Strafe ge-
stellt wird.
Der Beibehaltung des § 175 stimme ich bei, nicht aber einer
Forderung, ihn auf lesbische Liebe auszudehnen. Meine Ansicht
kann ich indes hier nicht eingehender begründen.^*
Eine Ergründung der Entstehung der Straf bestimmung
ist nicht mehr nötig. Gerland mag meinen Aufsatz im
Jahrbuch I über die geschichtliche Entwickelung der
Bestrafung des homosexuellen Verkehrs nachlesen, wo
ich betonte, daß eine Strafe für homosexuelle Akte
zwischen Männern bei Griechen und Römern vor Ein-
führung des Christentums als solche nicht existierte und
heryorhob, daß die gleichgeschlechtliche Liebe dem
Christentum ein Greuel war, da ihm jede Fleischeslust
als Sünde erschien und sogar die Ehe nur als Notbehelf
galt (S. 109).
Gerland trifft ja selbst das Richtige, wenn er die
Strafen aus alten religiösen Vorstellungen ableitet Warum
aber dann noch die Strafe aufrecht erhalten wollen, heute,
wo die Entstehung einer Strafbestimmung aus religiösen
Vorstellungen keinen Strafgrund mehr abgibt, namentlich,
wenn es sich um alte und veraltete, nicht mehr an-
erkannte Vorstellungen handelt.
Auch über die Frage, warum Päderastie, nicht aber
lesbische Liebe so häufig unter Strafe gestellt wird, be-
darf es keiner großen Untersuchung. Das Rätsel ist
leicht gelöst.
Zu Zeiten, wo die Anschauungen über geschlecht-
lichen Verkehr am unduldsamsten, strengsten waren, wo,
wie zur Zeit des kanonischen Rechtes, jede vom normalen
Verkehr zwischen Mann und Weib abweichende sexuelle
Handlung bestraft wurde, war auch der gleichgeschlecht-
liche Verkehr zwischen Weibern mit Strafe belegt.
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— 579 —
Heute dagegen, wo immerhin die Anschauungen
über sexuelle Delikte mildere geworden sind und der
Gesetzgeber eine Bestrafung des gleichgeschlechtlichen
Verkehrs nur beim Vorliegen eines dem normalen Koitus
ähnlichen Aktes für angebracht hält — die geschichtliche
Ent Wickelung des § 175 beweist diese einschränkende
Absicht, die die Praxis dann wieder erweitert hat —
wird die lesbische Liebe nicht mehr bestraft^ weil ein
dem normalen Koitus nachgebildeter Akt zwischen
Weibern nur äußerst selten möglich ist Die Fälle des
Verkehrs mittels Instrumentes oder des Koitus bei ver-
größerter Klitoris sind zu selten und gesucht, um eine
Strafbestimmung zu rechtfertigen.
Zu diesem einen Orund kommt aber noch ein zweiter.
Gesetzgeber ist der Mann, nicht die Frau. Während nun
gegen den gleichgeschlechtlichen Verkehr zwischen Männern
der normale Mann heutzutage einen derartigen instinktiven
Abscheu empfindet, daß sich dieser Abscheu in einer Straf-
androhung gegen diesen verabscheuten Verkehr entladet,
ist ein derartig starkes Ekelgefühl gegenüber dem weib-
lichen gleichgeschlechtlichen Verkehr beim Manne nicht
vorhanden, weil die Anziehung, die das Weib als solches
auf den Mann ausübt, ihre sexuellen Handlungen in den
Augen des Mannes verklärt und selbst gleichgeschlechtliche
Praktiken der Frau eine abstoßende Wirkung nicht oder
wenigstens in bedeutend geringerem Maße als ähnliche
Handlungen des Mannes aufkommen lassen. Der Ab-
scheu des Mannes vor gleichgeschlechtlichen Handlungen
des Weibes mußte überhaupt im gleichen Verhältnis ab-
nehmen, in dem die Vergötterung und Verhimmelung
des Weibes in den letzten zwei Jahrhunderten zu-
genommen hat, deshalb ist z. B. gerade in einem Lande
wie Frankreich, wo die Frauenliebe, die Galanterie, die
Verehrung des Weibes zur höchsten Blüte gelangt ist,
die Beurteilung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs
87*
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— 580 —
zwischen Männern und zwischen Weibern eine so grund-
verschiedene, deshalb wird dort oft der eine ekelhaftes
Laster und schauerliche Immoralität, der andere bloße
Spielerei, yerzeihliche Sünde genannt.
Vielleicht ist es auch die gleiche übelangebrachte
Galanterie gegen die Damen, welche Gerland eine Be-
strafung der männlichen Homosexuellen befürworten läßt^
während er den Damen kein Haar krümmen will.
KOhler, Dr. August, Beformft*agen des Stnft*eclits.
München, 1903, C. ü. Beckersche Verlagsbuchhandlung.
Köhler verlangt Abänderung des § 175, aber Abänderung
einmal im Sinne einer Verschärfung, nämlich Ausdehnung auf die
Weiber, sodann zweifelsfreiere Bestimmung der Art des strafbaren
Verkehrs. .
Einer Entscheidung, welche von den verschiedenen Grundan-
schauungen über die Perversität richtig sei, bedürfe es nicht. Jeden-
falls habe sie schädliche Folgen für das Familienleben und wider-
spräche den sittlichen Gefühlen der überwältigenden Mehrheit in der
menschlichen Gesellschaft. Dieser Trieb bedinge keineswegs Un-
zurechnungsfähigkeit und sei meist unterdrückbar.
Köhler ist Anhänger der Vergeltungstherien, er ver-
wirft die Anschauungen der neueren Schule und will als
Strafzweck lediglich die gerechte Vergeltung (S. 7) an-
erkennen.
Bei diesem Standpunkt ist es völlig unbegreiflich, wie
Köhler angesichts der wissenschaftlichen Feststellungen
betreflfend das Wesen der Homosexualität den Fortbestand
des § 175 verlangen kann und es für gleichgültig erklart,,
welche Grundanschauung über die Homosexualität die
richtige sei.
Gerade derjenige, welcher der Stihnetheorie huldigt,
wird mindestens dann die Aufrechterhaltung des § 175
nicht befürworten können, wenn die Homosexualität kein
Laster Normaler, sondern einen angeborenen Trieb bildet.
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— 581 —
Ein großer Teil der für die Straflosigkeit des gleich-
geschlechtlichen Verkehrs geltend gemachten Grründe, wie
z. B., daß kein Recht Dritter verletzt werde, daß der
Staat kein Recht habe, lediglich unmoralische Handlangen
zn strafen usw. treffen zxx, einerlei, wie man sich zu den
Grundanschauungen der Homosexualität stellt
Aber wenn man diese Gründe nicht ftlr durch-
schlagend hält, so kommt gerade für den Anhänger der
Sühnetheorie als entscheidend in Betracht, aus welcher
Quelle regelmäßig der gleichgeschlechtliche Verkehr fließt.
Denn ist diese Quelle, wie dies tatsächlich zutrifft,
nicht Laster Normaler, sondern meist eingewurzelter Trieb
einer anders gearteten Menschenklasse, so fällt jede ge-
rechte Vergeltung weg.
Diese setzt mindestens voraus, daß eine lasterhafte,
sündhafte Handlung vorliegt, daß eine Schuld gesühnt
werden soll
Die Bestrafung von Handlungen, die aus angeborenem
Trieb fließen, widerspricht der Vergeltungs- und Sühne-
theorie. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Handlungen
etwa Schaden anstiften oder nicht; denn die Vergeltungs-
theorie rechtfertigt ja die Strafe nicht wegen des an-
gerichteten Schadens, ihr Zweck ist ja nicht die Un-
schädlichmachung.
Deshalb würde eine Strafe auch unzulässig sein,
selbst wenn die Homosexualität schädliche Folgen für
das Familienleben hätte. Derartige Folgen zieht aber
nicht die Straflosigkeit der Homosexualität, sondern die
jStraf barkeit nach sich. Durch die Strafandrohung werden
eher Homosexuelle zur Heirat veranlaßt Derartige Hei-
raten aber können schädliche Folgen haben, nicht der
gleichgeschlechtliche Verkehr zwischen Erwachsenen. Die
Verletzung des sittlichen GeftLhles der Mehrheit des Volkes
kann einie Bestrafung nicht rechtfertigen, weil dieses
Gefühl auf unrichtigen Voraussetzungen, auf Unkenntnis
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— 582 —
über das Wesen der Homosexualität beruht Tatsächlich
widerspricht dem sittlichen Gefühl des aufgeklärten Teiles
des Volkes schon jetzt die Bestrafung der Homosexuellen.
Die Frage, ob der homosexuelle Trieb Unzurechnungs-
fähigkeit bedingt oder nicht, hat mit der Frage der Be-
seitigung des § 175 nichts gemein.
Es ist Köhler zuzugeben , daß die Homosexualität
nur selten die Zurechnungsfähigkeit ausschließt. Die
Frage der Zurechnungsfähigkeit hat Bedeutung daflir,
ob die jetzt angedrohte Strafe im Einzelfall wegzufallen
hat oder nicht, dagegen nicht dafür, ob das Gesetz in
Wegfall zu kommen hat.
Enhlenbeck, L., Bas StraJFrecht als soziales Organ
der natürlichen Auslese, in der Politisch-Anthropo-
logischen Bevue, Januar 1903.
Die Grundsätze der Selektion, der natürlichen Auslese auch
auf das Strafrecht anwendend, warnt Ruhlenbeck vor dem heut-
zutage herrschenden Humanitarismus gegenüber dem Verbrechet
und vor den Anschauungen , die auf Grund der Determination
alles Geschehens manches Verbrechen als pathologisch entschul-
digten.
Ein interessantes Beispiel biete der gegenwärtige Ansturm
unserer infolge ungünstiger Bassenkreuzungen und mitwirkender
sonstiger Mißverhältnisse an Zahl erschreckend zunehmenden De-
generierten gegen § 175.
Mit keiner absoluten Strafrechtstheorie lasse sich diese Straf-
androhung rechtfertigen, nicht einmal aus der individualistisch-
geschichtlichen Ableitung des Strafgedankens aus der Rache. Nur
der Selektionsgedanke halte Stich. Diese Strafuorm, die kein
Recht eines Dritten verletze, vielmehr gegen ein an für sich die
Menschenehre beleidigendes, unwürdiges Verhalten gerichtet sei,
sei diejenige, bei der zuerst die bewußte Selektion als Strafprinzip
zum historischen Durchbruch gelange.
Auch die Selektionstheorie kann die Bestrafung des
gleichgeschlechtlichen Verkehrs nicht rechtfertigen. Die
Betätigung des homosexuellen Triebes hat mit einer Be-
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— 583 —
leidigung der Menschenehre nichts gemein, noch viel
weniger aber läßt sich die Bestrafung eines der Menschen-
ehre unwürdigen Verhaltens mit dem äelektionsgedanken
in Verbindung bringen.
Der Hauptgesichtspunkt der Selektionstheorie ist die
Verhütung einer ungeeigneten Portpflanzung. Die Natur
sorgt nun gerade beim Homosexuellen dafUr» daß er
dieser Fortpflanzung aus dem Wege gehe, indem sie
ihm den Trieb zum Manne eingepflanzt hat
Einer Ausscheidung des Homosexuellen aus der Ge-
sellschaft bedarf es wahrlich nicht, um seine Fortpflanzung
zu verhüten^ falls man ihn für einen Minderwertigen und
Degenerierten hält. Eine Heirat und Fortpflanzung der
Homosexuellen ist viel eher beim Bestehen einer Be-
strafung der homosexuellen Liebe zu befürchten, als
ohne ein solches Gesetz, weil manche Homosexuellen
sich im Hinblick auf die Straf bestimmung durch Heirat
,,heilen^< oder den Ärgwohn homosexueller Veranlagung
beseitigen wollen. Übrigens mag man von der Selektions-
theorie aus bei Aufhebung des § 176 eine Verheiratung
Homosexueller verbieten und bestrafen. Nur die wenigsten
Homosexuellen werden sich über ein solches Gesetz be-
schweren!
Wüst, Fritz. In dem ,,iristokratlssismu8<S der von
Wüst herausgegebenen winzigen „Zeitschrift für Kunst
und Leben*', bringt er verschiedene Aufsätze über
Homosexualität :
1. Das dritte Geschlecht in No. 10.
2. Die Hede (Diskussionsrede. D. K) des Fritz Wüst über
die Homosexualität, gehalten in der 11. Halbjahreskonferenz des
wissenschaftlich-humanitären Komit^s in Nr. l4.
3. Die sexuellen Perversitäten in Deutschland. 1. Rede an
die deutsche Nation in Nr. 17.
4. Herren und Ludewigs, Damen und Dirnen. 6. Bede an
die deutsche Nation in Nr. 28.
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•^ 584 —
Nr. 1 war mir nicht zagänglich.
Nr. 2. Wüst's Rede auf der Konferenz. Die Forderung
der Straffreiheit des homoBezuellen Verkehrs sei ein Beweis für
das schnelle Sinken der modernen Gresellschaft. Die Homosexuellen
seien Entartete. Die Möglichkeit, daß ein Homosexueller zu einem
Individuum seines Geschlechts sich hingezogen fühlte, sei durchaus
unsinnig. Die Freigabe des homosexuellen Verkehrs würde all-
gemeine Demoralisation und Untergang jeder Gresellschaft bedeuten.
Alle würden erbärmliche, lasterhafte Schweinehunde werden.
Er, Wüst, halte im Gegensatz zu Hirschfeld alle Pllderasten
für Wüstlinge, ob durch eigene Schuld oder durch Entartung dazu
geworden, sei gleichgültig.
Glaube so ein Mensch nicht mehr gesund zu werden, könne
er sich totschießen.
Die Homosexuellen wollten sich nicht bessern, weil sie zu
faul seien, weil es ihnen zu unbequem sei; sie zögen ein erbärm-
liches Betragen und die elende Schweinerei yor.
Ein Zeichen von viehischer Verkommenheit liege schon z. B.
darin, wenn wie Dr. Hirschfeld erzähle, ein Mensch mit dem
größten Widerwillen den Beischlaf ausführe.
Wer habe denn den Dreckjuden, von dem Dr, Hirschfeld
erzähle, er habe mit größter Überwindung seine vier Kinder fertig
gebracht, dazu veranlaßt
Die ^,geistigen Führer*^, zu denen Wüst anscheinend
in erster Linie sich selbst zählt (denn er sagt: ^,wir, die
geistigen Führer<<) hätten unbedingt die Pflicht^ diesen
gemeinen Unfug der homosexuellen Ausschweifung als
solchen anzuerkennen. Man beachte diesen für die kon-
fuse Geistesverfassung des Mannes charakteristische Bildung
des Schlußsatzes, in dem er gerade das Gegenteil aus-
drückt von dem, was er sagen will.
3. Die sexuellen Perversitäten in Deutschland.
Deutschland beginne in das Stadium des Abwärtsganges einzu-
treten; das zeige die sich allmählig immer mehr einbürgernde An-
erkennung der sexuellen Perversitäten. Zwar so weit wie z. B. in
Frankreich sei es noch nicht gekommen. Dort seien die ge-
meinsten Exzesse an der Tagesordnung, die bei den meisten Leuten
dieser sinkenden Gesellschaft nicht nur nicht als Beleidigung,
sondern als vornehme Passion gelten würden. Dort lache man
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— 585 —
die jangen Leute auB, die noch so naiv seien, auf natürliche Art
ihre Sinne zu befriedigen.
Noch sei die deutsche Kultur die erste der Welt, die deutsche
Intelligenz die höchste; wer wolle bestreiten, daB das deutsche
Militär an jeder militärischen Tugend jedes andere der Welt weit
hinter sich lasse. Es sei kein Zweifel: Der Deutsche sei der erste,
beste, stärkste Mensch der Welt und er wolle der erste, beste und
stärkste Mensch der Welt bleiben.
Würde die perverse Belästigung erlaubt, d. h. stillschweigend
gestattet, so sei die Demoralisation des Staates notwendig; er
würde immer tiefer sinken, bis seine Nachbarn über ihn herfielen
und ihn knechteten.
4. Herren und Ludewigs, Damen und Dirnen. Die
Wahrheit über die Homosexuellen sei: Die meisten unterließen den
Verkehr mit Weibern nicht deshalb, weil sie keine liebten und
sich erst zum Verkehr mit ihnen zwingen müßten, sondern weil
sie keine hätten, keine für sie passenden erreichen könnten. Es
gäbe auch für die Homosexuellen Weiber, zu denen sie sich nicht
zwingen müßten, nämlich die männlichen Weiber, die die Normal-
männer wenig reizten.
Diese würden die Homosexuellen allerdings nicht so leicht
finden oder erreichen, deshalb dürften sie sich aber nicht den
ersten besten Individuen in die Arme werfen. Das Heilmittel für
alle Homosexuellen und Heterosexuellen sei, anständig zu bleiben.
Anständig sein, heiße, sich vor sich selbst rechtfertigen zu können.
Jeder Mensch sei um so anständiger, je bessere Weiber er ge-
brauche oder zu erreichen strebe.
Die Homosexuellen behaupteten, um anständig zu sein, bliebe
ihnen nur Onanie oder Selbstmord. Gesetzt, sie hätten Hecht, sei
nicht die Päderastie gefahrlicher als Onanie? Er, Wüst, wisse auch,
daß jeder Selbstmord durchaus anständig sei.
Die Herren Homosexuellen sollten sich nicht zum weiblichen
Verkehr zwingen, am wenigsten zum Dirnen verkehr — und dies
gelte auch für die Normalen — sondern sich zwingen, sich zum
weiblichen Verkehr nicht zwingen zu müssen,
Aus dem wüsten Wust des Herrn Wüst (man ver-
leihe das billige, aber verlockende Wortspiel)^ habe ich
die Hauptgedanken im Gewände ihrer stilistischen Schön-
heit angeführt, um die Bibliographie auch mit etwas
Komik zu erheitern. Vielleicht ist aber gar nicht das
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— 586 —
Lachen am Platz, wenn man die eigentlichen Ursachen
des Verhaltens des Herrn Wüst ergründet. Den Schlüssel
hierzu und damit den Maßstab für die richtige Beurteilung
der konfusen, teilweise gemeinen Schimpfereien des an
patriotischem Dünkel^ an unheilbarer chauvinistischer
Verblendung und an verderblichem Sittlichkeitsfanatismus
kranken^ an unverdautem Nietzscheismus leidenden Über-
menschleins Wüst gibt dieser selbst an die Hand. Denn
in einer Anmerkung (in Nr. 23) wehrt er sich ausdrücklich
gegen den Vorwurf der Unzurechnungsfähigkeit und be-
hauptet, von einem Kollegium hervorragender Ärzte auf
Geistesstörung untersucht und für gesund befunden worden
zu sein.
Wenn irgendwo, so scheint hier das Sprichwort sich
zu bewahrheiten:
Qui s'excuse s'accuse.
Anhang zu Kapitel IV.
Oesetzesauslegiing.
Brunner, Dr. Aug., Oberlandesgerlehtsrat, Ab*-
grenzung der Übertretung gegen die Öffentliche
Sicherheit von dem Verbrechen der Unzucht
wider die Natur zwischen Personen des gleichen
Geschlechts. BechtsprechuDg des Kassationshofes
in Wien, Entscheidung vom 11. Juli 1902, mitgeteilt
im „Gerichtssaal", Band LXIII.
A. wurde vom Landgericht wegen „Unzucht wider die
Natur^* auf Grund § 129 I 6 österreichisches St-G. zu 6 Monaten
schweren Kerkers verurteilt, weil er zwei ELnaben an ihren Ge-
schlechtsteilen betastet, gegen ihren After gegrififen und ihr Glied
berührt habe.
Der Kassationshof hob auf Nichtigkeitsbeschwerde des A. hin
das Urteil des Landgerichts auf, nahm lediglich den Tatbestand
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— 587 —
einer Übertretung des § 516 Sf.-G. an (gröbliche Verletzung der
Sittlichkeit und Schamhaftigkeit auf eine öffentlich Ärgernis er-
regende Weise) und erkannte nur auf 4 Wochen strengen Arrestes.
Das Urteil des Kassation shof es geht davon aus, daß der
Begriff „Unzucht wider die Natur" des § 129 St.-G.B. nur im
Wege der historischen Interpretation erläutert werden könne und
gibt einen geschichtlichen Überblick über die Bestrafung der w. U.
(Kanonisches Becht: Carolina, Theresiana, Josephinisches Gesetz
von 1787.)
Aus dieser Entstehungsgeschichte ergäbe sich, dass § 129
mindestens einen onanieartigen Akt zwischen Personen des gleichen
Geschlechts voraussetze. In keinem Stadium der Gesetzgebung
im Laufe der Zeit seien Akte, wie die des A., zur widernatürlichen
Unzucht gerechnet worden.
Das Österreichische Becht erfordere nicht wie das deutsche
,,beischlafähnliche Handlungen*^, andererseits seien nicht alle un-
züchtigen Handlungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts
strafbar, wie z. B. das Ergreifen der Geschlechtsteile.
Die Handlung des Täters müsse mindestens so weit gegangen
sein, daß sie als Selbstbefleckung mit Benutzung des Körpers
einer anderen Person des gleichen Geschlechts sich darstelle.
Die Handlung des A. könne aber nicht als solch ein onanieartiger
Akt aufgefaßt werden.
Es folgen noch Bemerkungen über das germanische und
römische Becht
Im alten germanischen Becht seien zu den unsittlichen
Angriffen auch bloße Berührungen gezählt worden. Sie seien
als Injurien mit Buße belegt worden. Wahrscheinlich seien straf-
bar gewesen nicht nur Angriffe auf Frauen, sondern auch auf Un-
mündige beiderlei Geschlechts.
Bezüglich des römischen Bechts wird behauptet, in alt-
romischer Zeit sei der Mißbrauch einer Person mannlichen Ge-
schlechts strafbar gewesen, und später habe auch die lex scantinia
die Päderastie bestraft. Augustus habe für stuprum, adulterium
und Päderastie Kriminalstrafe angesetzt Insofern unzüchtige
Handlungen nicht zu den Kriminaldelikten gehörten, seien sie mit
der Injurienklage verfolgt worden, diese habe daher z. B. Platz
gegriffen, wenn es sich bloß um den Versuch der Verführung
eines freien Knaben gehandelt, da Augustus nur die Vollendung
mit krimineller Strafe belegt habe.
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— 588 —
Wie aas der ausführlichen Begründung des Kassations-
hofurteils hervorgeht, ist der Begriff der Unzucht wider
Natur nach § 129 des österreichischen Gesetzes ein
weiterer, als der Begriff der w. U. des § 175. Denn in
Österreich wird auch gegenseitige Manustupration, in
Deutschland nur die beischlaf ähnliche Handlung bestraft.
Demnach ist die Angabe Wachenfelds in seinem
Buch ^^Homosexualität und Strafgesetz'^ unrichtig, wo-
nach der Tatbestand des § 129 Ost StG. ganz derselbe
sei wie derjenige des § 175 R.St.G.B.
Auf diesen Irrtum Wachenfelds^ der mir vor ^wei
Jahren entgangen war, hat mich auch ein anonymer
homosexueller Herr brieflich aufmerksam gemacht, indem
er sehr richtig hinzufügte:
,,Ixi einem wUsenschaftlichen Bache eines ordentlichen Pro-
fessors der Bechte sollte man eigentlich derartige Irrtümer auf
rein jaristiachem Qebiet nicht erwarten."
Übrigens hat Wachenfeld auch versäumt, zu er-
wähnen, daß schon der Versuch nach österreichischem
Recht strafbar ist Die Handlungen des A. wären nach
deutschem Recht niemals unter den Begriff der „w. U."
zu subsumieren gewesen, da sie noch weniger f&r bei-
schlafähnliche, als für onanieäbnliche gehalten werden
können.
Die historische Entwickelung des vom § 175 auf-
genommenen Begriffes der w. ü. ist nicht die gleiche
wie diejenige des österreichischen Gesetzes. Sie fährt
dahin, wie ich an anderen Stellen des näheren ausgeführt
habe (vgl Jahrbuch IV, S. 692 ff.), daß man unter dem
Begriff der „w. U.'' nur eigentliche Päderastie (immissio
penis in anum), nicht aber sonstige Handlungen, auch
nicht beischlaf ähnliche, wie das Reichsgericht annimmt,
zu verstehen ist.
Die Ausführungen des Urteils über das römische
Recht sind meiner Ansicht nach nicht zutreffend. Es
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— 589 —
ist kein Beweis Yorhanden, daß die lex scantinia die
Päderastie an und für sich — auch beim Fehlen yod
qualifizierenden Momenten — bestraft habe, ebenso fehlt
es an Anhaltspunkten daf)ir, daß unter Augustus die
Päderastie mit Eriminalstrafen belegt worden sei^
Wegen der näheren Gründe meiner Ansicht verweise ich
auf meine Widerlegung des Wachenfeldschen Buches,
Jahrbuch IV, S. 680, wo ich mich ausfuhrlich über die
Frage verbreitet habe.
Was Ist unter beischlafShnllehem Akte zu rer-
stehen? Reichsgerichtsentscheidung Bd. 36, Nr. 13^
S. 32; Urteil des IV. Strafsenats vom 19. Dezember
1902.
Der erste Richter habe den Tatbestand des § 175 teils darin
gefunden, daß die beiden Angeklagten nebeneinander sitzend „ihre
Hosenschlitze aufgemacht und gegenseitig in die Schlitze hinein-
gegrififen und sich umarmt haben^% teils darin, daß die Ange-
klagten — soviel ersichtlich ohne jede Entblößung — sich auf-
einander gelegt und beide in dieser Lage mit ihren Unterleibern
beischlaffthnliche stoßende Bewegungen gegeneinander gemacht
haben/'
Anlangend den ersten Punkt fehle jeder Ausspruch, daß und
inwiefern hier ein beischlafähnlicher Akt angenommen sei. Bei
dem zweiten Punkt sei unklar, wie die Strafkammer« die Beischlaf-
ähnlichkeit aufgefaßt habe. Eine solche könne nur da ange-
nommen werden, wo die eine Mannsperson bei beischlafähnlichem
Gebrauch des Gliedes den Körper der anderen mit dem Glied be-
rührt habe. Habe eine Entblößung des Gliedes auf Seiten des
aktiven Teiles nicht stattgefunden, wie dies anscheinend hier der
Fall gewesen, so sei in Ermangelung einer unmittelbaren Be-
rührung des gemißbrauchten Körpers mit dem Glied des andern.
— abgesehen von besonderen, hier in keiner Weise angezeigten
Ausnahmefällen — ein beischlafähnlicher Akt nicht anzunehmen
und deshalb der Tatbestand des § 175 zu verneinen.
Der Fall zeigt deutlich die Neigung gewisser ünter-
gericbte, den § 175 wenn nur irgendwie möglich — und
selbst wenn unmöglich — anzuwenden und den Begriff
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— 590 —
^, beischlafsähnlich'' ins Unbegrenzte auszudehneD. Er
beweist weiter die Unrichtigkeit der reichsgerichtlichen
Rechtsprechung, welche nicht nur immissio penis in
anum, sondern sogenannte beischlafsähnliche Handlungen
bestraft, d^ unter den Begriff ,,beischlafsähnlich'< schließe
lieh mit etwas gutem Willen auch solche Handlungen,
die dem Beischlaf ganz unähnlich sind, untergebracht
werden können.
Kapitel V.
Der Geschlechtstrieb an und für sich (ohne
Berücksichtigung der Homosexualität).^)
Elbcsklrehen, Johanna, Die Sexualempfindung bei
Weib und Mann. Leipzig, 1903, Magazin- Verlag.
Verfasserin bekämpft die Anschanung, als sei der Geschlechts-
trieb bei Mann und Frau qualitativ verschieden. Die Qualität des
Triebes sei bei beiden die gleiche.
Nicht die Sehnsucht nach der Mutterschaft treibe das Weib
in die Arme des Mannes, sondern das elementare sexuelle Ver-
langen nach einem bestimmten Manne.
Der angebliche Unterschied in der Qualität des Sexualtriebes
zwischen Mann und Weib sei das Produkt der doppelten Sexual-
moral und -praxis und letztere die Folge der bei der Frau not-
wendigen Brutpflege, der sog. Mutterschaft.
Schwangerschaft und Brutpflege seien die Ursachen der ge-
schlechtlichen Sklaverei der Frau, der doppelten Sexualmoral.
Die Liebe der Frau sei aber durch Erziehung, Leid und
Sorge für das Kind tiefer als die des Mannes geworden, als Mensch
stehe das Weib höher als der Mann.
^) Die Bibliographie für dieses Kapitel macht auf Vollständig-
keit keinen Änspntchy da es sich nicht um Homosexualität handelt.
Wegen der Wichtigkeit der allgemeinen Fragen über den Geschlechts-
trieb für die Homosexualität war jedoch die Aufnahme der folgen-
den Schriften in die Bibliographie angezeigt.
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— 591 —
Der Mann von der Sorge am das Kind frei, habe sich im
Obermaß und unbeschränkt seinem Geschlechtstrieb hingegeben.
Aus der doppelten Sexualpraxis seien entstanden einerseits
die Prostitution, da ein Teil der Frauen den geschlechtlichen
Ausschweifungen der Männer dienen müßten, andererseits die per-
verse Unterdrückung des Geschlechtstriebes der Frau und seiner
physiologischen Befriedigung.
Efie physiologische G^schlechtsbefriedigung des Mannes
hätte nie der Prostitntion bedurft.
Die Geschlechtsempfindung des Mannes habe infolge großer
Willensschwäche und Überreizung der Phantasie auf sexuellem
Gebiet einen pathologischen Zustand erreicht.
Eine normale physiologische Gleichung zwischen Mann und
Frau sei nur möglich, wenn das pathologische Plus des männ-
lichen Geschlechtstriebes und seine Befriedigung auf das physio-
logische Maß sich vermindereund das pathologische Minus der
weiblichen Geschlechtsbefriedigung auf das physiologische Maß
sich erhöbe.
Auch ich glaube, daß die Geschlechtsempfindung bei
Mann und Frau qualitativ die gleiche ist; dagegen bin
ich der Meinung, welche Autoritäten wie Krafft-Ebing
und Löwenfeld verfechten, daß der Trieb beim Manne
durchschnittlich starker ist als beim Weibe, daß also ein
quantitativer Unterschied besteht, und daß dieses größere
Plus auf Seiten des Mannes nicht, wie Verfasserin glaubt,
einen pathologischen Zustand, sondern einen in der
Natur des Mannes physiologisch begründeten bedeutet.
ElUs, Hareloek, Das OeschlcchtsgefilhL Eine bio-
logische Studie (übersetzt von Eurella). Würzburg,
1903, Sttibers Verlag.
Teil I enthält eine Analyse des Geschlechtstriebes. Nach
Erörterung der verschiedenen Theorien über den Geschlechtstrieb,
wobei er die Untersuchungen Molls als die vielleicht tiefgehendsten
aller bisherigen Versuche einer Erforschung der fundamentalen
Probleme des Geschlechtsinstinkts bezeichnet, gibt er eine neue
Erklärung des Geschlechtstriebes. Die Unterscheidung Molls von
KontrektationS' und Detumeszenztriebe befriedigt EUis insofern nicht,
als Moll keine intimen Beziehungen zwischen beiden Trieben finde.
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— 592 —
Ellis sucht diese Beziehungen herzostellem Dem Detnmes-
zenztrieb gebe die Tumescenz vorans, d. h. ein Stadiam, in dem
unter dem parallelen Einfluß innerer und äußerer Reize Vor-
stellungen, Wünsche und Ideale in dem Bewußtsein sich bildeten,
wobei zugleich der ganze Organismus eine Energieladung erhalte
und der Sammelapparat kongestiv an Blutgehalt zunehme.
Durch diesen ersten Prozeß werde die Spannung herbei-
geführt, welche der zweite Prozeß, die Detumeszenz, löse. Nor-
maliter verlange der Detumeszenztrieb nicht immer Befriedigung
und es sei ein Irrtum zu glauben, daß es nur eines äußeren Reizes be-
dürfe, um ihn sofort auszulösen, vielmehr seien bei beiden Geschlech-
tem sehr mannigfaltige und lange fortgesetzte Einwirkungen er-
forderlich, um die Turgeszenz hervorzurufen, die dann durch die
Detumeszenz ausgeglichen werde.
Durch zahlreiche, sehr interessante Beispiele aus
der Natur und Völkerkunde sucht Ellis den dem De-
tumeszenztrieb vorangehenden Zustand der Tumeszenz
und seine allmähliche Entstehung nachzuweisen. Be-
sonders der Tanz sei ein besonders günstiges Mittel zur
Hervorbringung der Tumeszenz.
Als Verbindungsglied zwischen Kontrektations- und
Detumeszenztrieb scheint mir allerdings die Annahme
des sogenannten Zustandes der Tumeszenz sehr richtig.
Ellis dagegen läßt den Zustand der Kontrektation in
denjenigen der Tumeszenz aufgehen. Ich halte dafür,
daß der Kontrektationstrieb von der Tumeszenz zu trennen
ist und daß man den Geschlechtstrieb in die drei Kom-
ponenten zerlege. Kontrektation^ d. h. das psychische
Begehren nach einem bestimmten, sexuell passenden
Individuum kann vorhanden sein und ist vorhanden vor
dem eine direktere organische Wirkung hervorbringenden
Zustand der Tumeszenz. Kontrektation, d. h. das Sehnen
nach dem adäquaten Objekt ist ein von dem schon durch
das Objekt in Wallung gebrachten, die Detumeszenz vor-
bereitenden Zustand der Tumeszenz verschieden.
Nach Erörterung der Beziehungen zwischen Erotik und
Schmerz im zweiten Teil behandelt Ellis im dritten den Qe-
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— 593 —
Bchlechtstrieb beim Weib. Er kommt dabei zu dem Ergebnis,
daß die Verteilung des Geschlechtstriebes auf beide Geschlechter
eine ziemlich gleichmäßige sei, jedoch unterscheide sich der Ge-
schlechtstrieb des Weibes von dem des Mannes durch gewisse,
Wohlabgegrenzte Merkmale. So z. B. zeige er größere äußerliche
Passivität, er sei komplizierter, weniger geeignet, spontan in die
Erscheinung zu treten und häufiger der äußeren Anregung be-
dürftig, während sich der Orgasmus langsamer einfände, als beim
Manne.
Er entwickele sich erst nach dem Beginn des regelmäßigen
Geschlechtsgenusses in seiner vollen Stärke.
Die Geschlechtssphäre habe eine größere Ausdehnung und
sei difiuser verteilt als beim Manne.
Ein Appendix enthält: eine Abhandlung über den Geschlechts-
trieb bei Naturvölkern und zwölf Autobiographien, die einen Ein-
blick in die Entwicklung des normalen Geschlechtstriebes ge-
währen sollen.
Im Fall 11 und 12 kommen auch gleichgeschlechtliche Hand-
lungen und Gefühle vor. Der Autobiograph von Fall 11 scheint
ein psychischer Hermaphrodit zu sein, denn nach dem Tode seiner
Frau lebt er mit einem alten Schulfreund, mit dem er früher
manustupriert hatte, in eheähnlichem Verhältnis zusammen.
Alle 12 Fälle lehren, daß ein Punkt, den man bis-
her als charakteristisch für die sexuellen Anomalien, ins-
besondere für Homosexualität, angesehen hatte, nämlich
die frühen Regungen des Triebes, auch bei der Hetero-
sexualität vorzukommen scheinen. Denn in allen Bio-
graphien wird von — mehr oder weniger bestimmten,
mehr oder weniger unbewußten — geschlechtlichen
Regungen und Empfindungen im frühen Eindesalter ge-
sprochen.!
Jastrowltz, Dr. M«, Einiges Aber das Physiologische
und über die außergewöhnlichen Handlungen Im
Liebesleben der Mensehen. Vortrag, gehalten am
22. Juni 1903 im Verein für innere Medizin zu Berlin.
Leipzig, 1904, Verlag von Thieme.
Jahrbuch VI. 38
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— 594 —
Die Homosexualität oder überhaupt die eigentlichen Ano-
malien werden nicht behandelt, sondern nur gewisse außergewöhn-
liche Verhältnisse innerhalb der heterosexu^len liebe.
Eine Hauptrolle für die Äußerung des Geschlechtstriebes
schreibt Jastrowitz einem Sekret zu, das dem Hauptteile nach als
Sauerstoff der Fortpflanzung diene, zum Teil aber auch — und zwar
seien dies wahrscheinlich Begleitsubstanzen — in die Körpersäfte
der Individuen aufgenommen werde und erogen wirke.
Je stärker beanlagt und je enthaltsamer ein Individuum sei,
um so mehr trete eragoger Stoff ins Blut, um so mehr werde es
dadurch gepeinigt und zur Liebe angetrieben. Bei der geschlecht-
lichen Anziehung walte das Prinzip der Ergänzung. Im allge-
meinen wirke auf das eine Geschlecht die typischsten charakte-
ristischsten Eigenschaften des andern am stärksten.
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Teil II.
Belletristik.
Der Eigene. Ein Blatt für männliche Eultor, Kunst
und Literatur. Herausgeber Adolf Brand. Nummern
Januar bis Juli 1903. Januar bis April Verlag von
Spohr, Leipzig; Mai bis Juli Verlag Charlottenburg,
Buch- und Kunsthandlung „Der Eigene", Adolf
Brand & Co.
Im Jahrbuch IE, S. 393 habe ich über die früheren
Versuche Brands^ eine homosexuelle Zeitschrift heraus-
zugeben, berichtet Seit der 5. Nummer des „Eigenen"
aus dem Jahre 1899 war das Blatt infolge der ver-
schiedensten Umstände wieder eingegangen. Im Jahre 1903
ist der „Eigene" abermals, in neuem Gewand, in einer
noch geschmackvolleren Ausstattung als sein Vorgänger
aus dem Jahre 1899, erschienen.
Das Äußere des „Eigenen" verdient das höchste Lob.
Zahlreiche Vignetten und Kunstblätter verleihen ihm den
Charakter einer echten Kunstzeitschrift. Sehr schöne
Photographien italienischer Jünglinge in ausgesuchtester
Komposition , vorzügliche Eeproduktionen berühmter,
plastischer Werke, Zeichnungen von Fidus usw. zeigen
die Schönheit des männlichen Geschlechts auf den ver-
schiedenen Altersstufen und in den mannigfachsten
Formen: Die Zartheit des zum Jüngling heranreifenden
Knaben, die Anmut und Liebenswürdigkeit des Jung-
38*
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— 596 —
lings, die Stärke und Bjraft des Mannes, die Würde und
Erhabenheit des Greises.
Der literarische Inhalt steht bei weitem nicht auf
gleicher Höhe. Manches Gute findet sich vor, aber auch
viel Mittelmäßiges und Diiettantenhaftes im weniger
guten Sinne.
I. Die Lyrik (Januamummer).
Clitus, Zur Wanderfahrt.
Schwerdtfeger, Wulf, Was tust du für mich?
Helling, Viktor, Der Offiziersposten.
Brand, Adolf, Der Abend.
Geiß 1er, Karl Wilhelm', Der Stellvertreter.
Rößner, A. von, Bußtag.
Katte, Max, Wenn Du . . .
Hadrian, Der Schopf.
•Hamecher, Peter, Im Garten.
Lehnhard, Paul K,, Entgegnung.
Caesareon, An Narkissos.
Februamummer.
Brand, Adolf, Raphael.
Brand, Adolf, Im Kerker.
Brand, Adolf, Neue Liebe.
Lenau, Nikolaus, Am Rhein.
Hadrian, Dolabella.
Märznummer.
Burchard, Ernst, Glückliche Fahrt.
Burchard, Ernst, Beichte.
Nicholson, John Gambril, Mein Traumengel. Übersetzt
von B. Esmarch.
Kupffer, Elisar, Chanson de Ciarens.
Brand, Adolf, Meine Seele.
Brand, Adolf, Wiegenlied.
Brand, Adolf, Sehnsucht
Aprilnummer.
Nicholson, John Gambril, Mein Garten der Sehnsucht
Übersetzt von B. Esmarch.
Brand, Adolf, Das Fischerhaus.
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— 597 —
Brand, Adolf, Minnelied.
Brand, Adolf, Bahnhof Friedrichstraße.
Swinburne, Charles Algernon, Hermaphroditas.
Katte, Max, Zeus and Ganymed.
Hadrian, Ganymed.
Image, Kennst Du das Weh?
Mainammer.
Brand, Adolf, Waldfrei.
Brand, Adolf, Kahnfahrt
Schiller, Freundschaft.
Ehren fr ied, Walter, Liebeslied.
E. V., Verlorenes Glück.
Evers, Franz, An einen Jüngling.
Juninummer.
Lindemann, Frido, Antinous.
Schwerdtfeger, Wulf, Unterwegs.
Ernest, Amand, Im Strudel der Hauptstadt verloren.
Orestes, In Sanssouci.
Brand, Adolf, Bergnacht.
Julinummer.
Faustino, Ganymed.
Lysis, Der junge Pan.
Meyer, Hugo Christoph Heinrich, Hylas.
Alle diese Gedichte haben direkt homosexuellen In-
halt oder Beziehung zur Homosexualität.
Die Gedichte weisen im allgemeinen keine besondere
künstlerische und psychologische Eigenart auf. Man kann
nicht sagen, daß charakteristische Merkmale der homo-
sexuellen Liebe hervorträten.
Das gleichgeschlechtliche Empfinden ist im Durch-
schnitt weder in das seelische und soziale Leid des
Liebesparia getaucht, noch mit seelischen Sonderheiten
eines „dritten Geschlechts" gefärbt. Mit den gleichen
Tönen, in denen der Mann das Weib zu preisen pflegt,
besingen die Liebhaber ihres eigenen Geschlechts ihr
Gefühl, jenseits von Krankheit und Ächtung, mit Natür-
lichkeit und Selbstverständlichkeit
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— 598 —
Unter den verschiedenen Dichtem des „Eigenen"
verdient Brand hervorgehohen zu werden. Er hat Farbe,
Rhythmus, Sinn für Wortschönheit und musikalischen
Klang, dabei Feuer und Temperament, das allerdings
manchmal etwas ausgelassen und zügellos sich äußert
Manches erscheint zwar in frischer Ursprünglichkeit hin-
geworfen, aber die Leichtigkeit seines Schaffens verführt
ihn oft dazu, die künstlerische Ausführung zu vernach-
lässigen.
Von den übrigen Dichtem möchte ich Schwerdtfeger
nennen, der in seinen zwei Gedichten seelische Züge
psychologisch und tief in wenig Worten auszudrücken
vermochte, ferner Ehrenfried, dessen kraftvolles, empfin-
dungsreiches Liebeslied den echten Dichter verrät.
Hadrians Gedichte gefallen durch sinnliche Frische
und schalkhaften Ton, die Verse von Nicholson durch
innige Schlichtheit
Zur Lyrik kann man außer den obigen Gedichten
noch zählen einige poetische oder wenigstens in ge-
hobenem oder rhythmischen Stil geschriebene Prosa-
stücke, nämlich:
Januarnummer.
Caesareon, Ein Wort voraus an die Besseren. (Die Hoff-
nung auf das Herannahen einer besseren Zeit, wo die Schönheit
siegt and die besseren Gresetze gibt.)
Februamammer.
Andrä, Dalio, Vier Poesieen.
Mainammer.
Brand, Adolf, Inseln des Eros (das gleiche Poem, welches
die eine der beiden Nummern des „Eigenen" 1898 eröffnete, das
ich schon im Jahrbuch II warm lobte).
Juninammer.
Hille, Peter, Antinoas, Sophokles, Michelangelo, Shake-
speare.
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— 599 —
Julinnmmer.
Ein EroBJünger, Wenn der Ginster blüht. (Erinnerang
an erste Jugendliebe.)
IL Novellistik.
An erster Stelle ist zu nennen:
Hanns Fuchs, der drei Novellen veröffentlicht:
Gewittemacht (Februamummer). Das Abenteuer zwischen
einem zur Manöverzeit einquartierten homosexuellen Rittmeister
und dem gleichföhlenden Sohn des Hausherrn.
Eine Keieebekanntschaft (Märznummer). Die zufällige, knrze
Bekanntschaft des in einem kleinen Städtchen verweilenden Rezi-
tators mit einem jungen italienischen > Orgelspieler. Von der
Schönheit des Jungen, der Anmut seines Charakters und Offenheit
seiner Seele bestrickt und durch seine traurige Familiengeschichte
gerührt, gibt ihm der Rezitator das nötige Reisegeld, um in
die Heimat zurückzukehren. Bis zum nächsten Zuge bringen
beide traute Stunden (jer Freundschaft miteinander zu, der Wohl-
täter beglückt durch die [erfrischende Nähe des lieben Natur-
burschen.
Das Plauderstündchen (Mainummer). Freundschafts- und
Liebesbuud zwischen Kurt und Emesto, den vornehmen Gesandten-
söhnen in Hamburg.
Die Novellen sind gut geschrieben, sie bilden ab-
geschlossene, proportionierte Stimmungsbilder voll Anmut
und scharf geschauten Konturen.
Caesareon, Sterben in Schönheit (Februamummer). Die
Fahrt des Homosexuellen auf den Lagunen Venedigs und hinaus
auf die gefahrvolle See allein mit dem geliebten Gondoliere und
dann der Tod des Homosexuellen, der in seiner Villa am Corner
See von der Hand seines geliebten Gondolieres während der Um-
armung sterben darf.
Die künstlerisches Streben verratende und poetisch
angehauchte Erzählung leidet an überschwenglicher Ge-
fühlsrhetorik und etwas konfuser Symbolik.
Caesareon, Brief an eine Mutter (Märznummer).
Geständnis des Sohnes an seine Matter von seiner Liebe
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— 600 —
zum eigenen Geschlecht, von den Leidenschaften, die ihn be-
glücken.
Immoralicns, Es lebe die Tugend (Märznummer).
Der durch die gestrengen „moralischen'^ Schwestern wegen
„Unsittlichkeit" des Stückes am Theaterbesuch verhinderte Junge
entschädigt sich an demselben Abend für den Genoß in den
Armen des Freundes, den er in seinem Schlafzimmer aufsucht
Eine burschikos und leichtgeschürzte, auch in Stil
und Ton etwas nachlässig gehaltene Erzählung.
Rehren, Ludmilla von, Sonderlicher, denn Frauenliebe
ist . . . (Aprilnummer).
Das Geständnis eines Homosexuellen an den Freund, der
sich verheiratet hat, von seiner seit der Kindheit bestehenden ver-
borgenen Liebe, seiner Eifersucht bei der Verlobung und seinem
Schmerz, da er von dem Freund nun auf immer scheidet
Arden, Hans, Marcel (Aprilnummer).
Gallus war nach der Verführung des jungen Marcell in ein
Kloster gegangen, der Zufall führt später auch Marcel dorthin,
auch er hat nun eine Jugendknospe geknickt und sucht Vergessen-
heit und Vergebung, Wiedersehen beider Freunde; sie sterben
beide durch Gift.
Eine exzentrische Erzählung^ deren psychologischer
Untergrund längerer Ausführung bedürfte, um überhaupt
verständlich zu sein, und mehr zu bedeuten, als ein
bloßes Gerippe.
Caesareon, Es soll (Mainummer).
Erinnerung an die erste Bekanntschaft des geliebten Freundes,
an den Schmerz bei der längeren Trennung, an das Wiedersehen
des vor Sehnsucht erkrankten, sterbenden Geliebten.
Eine sentimental lyrische Variation mit etwas ver-
dunkeltem Hauptgedanken über das Thema: „Es soll
Menschen geben, die sterben, wenn sie lieben."
Ein Erosjünger, Im Frühlingsgarten (Mainummer).
Erinnerungen an den ersten Geliebten, die beim Anblick des
schönen Sees und der prächtigen Natur auftauchen.
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— 601 —
Diogen, Ist es nötig? (Janinummer).
Die Freundschaft zwischen dem homosexuellen Herrn und
dem urwüchsigen Naturburschen, den er sich zum Diener ge-
nommen hatte und der Durchbruch der Liebe des Burschen zu
seinem Herrn.
E3ine frisch empfundene, liebenswürdige Novelette.
Außer diesen zum ersten Male veröffentlichten Erzählungen
sind noch wiedergegeben:
Die Sterbeszene aus Essebac, ,,D6dä". Übersetzt von
G^rg Herbert (Märznummer).
Ulrichs, Manor (Aprilnummer).
Die an Edgar Poe erinnernde phantastisch -symbolische und
doch im guten Sinn rührende Erzählung des toten Freundes, der
nachts den Geliebten aufsucht, bis ihn dieser zu Tode geliebt, in
das Grab folgt
Drachmann, Holger, Alkibiades an der Leiche des Char-
mides aus dem Drama „Alkibiades'^, Szene aus dem 1. Akt.
Andersen, Freundschaftsweihe (Juninummer).
Ein Bild herzlicher Männerfreundschaft zwischen Natur-
burschen im heutigen Griechenland, die der Priester wie eine
Ehe einsegnet.
UL Verschiedenes.
Roeßler, Arthur, Der arme Lelian (Januamummer).
Biographisches und Kritisches über Verlaine.
Gaulke, Die Homosexualität in der Weltliteratur (Februar-
nummer).
Erwähnt wird kurz die homosexuelle persische Literatur,
dann die homosexuelle Lyrik von Shakespeare, Michelangelo,
Platen und Wilde besprochen.
Lucifer, Dr., Zur Erziehung des homosexuell veranlagten
Knaben.
Durch Strenge und Züchtigung sei die homosexuelle Anlage
nicht zu unterdrücken; der bedauernswerte Knabe sei mit doppelter
Liebe zu behandeln; seinem Gefühlsleben gebe man die ruhige
Entfaltung, lasse ihn schwärmen in glühenden Freundschafts-
bündnissen, das rein Sexuelle werde auf diese Weise selteüer die
Oberhand gewinnen. Herangewachsen kläre man ihn über seine
Lage auf.
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— 602 —
Herder, Über die Schamhaftigkeit der Griechen nnd Vir-
gils (Janin ammer).
Eine warme Verteidigung des antiken Empfindens für Jüng-
lingsschönheit, die zeigt, wie schön vor Jahrzehnten der erhabene
Geist eines Herder sich über die Vorurteile seiner Zeit hinaus-
gesetzt hat.
Die Nummern: Januar, Februar, März und April enthalten
noch einen Aufsatz von Dr. 0. Kiefer: „Der schöne Jüngling
in der bildenden Kunst aller Zeiten^^
Verfasser bespricht die hauptsfichlichsten Kunstwerke (der
Plastik und Malerei), welche die schönen Jüngsiingskörper dar-
stellen.
Seine Arbeit zerfallt in vier Teile: Altertum, Renaissance
bis Raphael, bis Murillo, bis zur Gegenwart.
Kiefers Arbeit verdient alles Lob, sie ist kunstsinnig, ver-
ständnisvoll und anregend geschrieben.
Kiefer betont, wie die Beschäftigung des Künstlers mit dem
Jüuglingskörper und seine Darstellung von den jeweils herrschen-
den Anschauungen über die Männerliebe abhänge.
Am Schlüsse seiner Arbeit sagt Kiefer:
Es sähe so aus, als ob unsere Zeit an Künstlern mit echt
hellenischem Schönheitsempfinden ärmer sei wie irgend eine
andere Zeit künstlerischen Aufschwunges. Da gelte es zu kämpfen
für alle, die sich zu des Eros Schönheitsbanner bekennten, zu
kämpfen für eine freie 'geläuterte Religion und Weltanschauung
der Schönheit, die sich nicht muckerisch die Augen zuhalte vor
der schönsten Erscheinung des Menschenlebens, vor dem hüllen-
losen jungen Menschen. Nur das heutige bornierte Philistertum
mit seinem Ideal des ;,Hurrapatriotismus" und seinem Muckertum
sei im letzten Grund schuld daran, daß wir keinen Praxiteles^
keinen Michelangelo hätten.
Man müsse die Wurzel des Baumes anders nähren, wenn
man schönere Blüten und bessere Früchte haben wolle.
Schließlich enthalten sämtliche Nummern Besprechungen von
homosexuellen Neuerscheinungen, sowie die beiden letzten Nummern
homosexuelle Annoncen.
Der „Eigene" des Jahres 1903 hatte leider wie sein
Vorgänger nur ein kurzes Dasein. Es konnten nur sechs
Nummern herausgegeben werden. Das weitere Erscheinen
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— 603 —
der Zeitschrift wurde infolge strafrechtlicher Verfolgung
unmöglich gemacht, die im November zur Verurteilung
von Brand zu 2 Monaten Gefängnis, yon Spohr zu
150 Mark Geldstrafe, wegen Verbreitung unzüchtiger
Schriften führte. Ich kann mit dem besten Willen in
dem „Eigenen*^ keine einzige unzüchtige, d. h. porno-
graphische Zeile finden. Nirgends begegnet man einer
aus Geilheit entsprungenen oder einer auf Erregung von
Geilheit abzielenden, auf die niedere Sinnlichkeit speku-
lierende Absicht. Damit entfällt aber der Begrifif „des
Unzüchtigen". Mag man selbst vom heterosexuellem
Standpunkt die Darstellung homosexueller Liebe für ab^
stoßend halten, so ist deshalb das gesetzliche Erfordernis
des „Unzüchtigen" nicht gegeben.
Demolder, Eugene, Le Jardinier de la Pompadour.
Zuerst publiziert im „Mercure de France'^, November
und Dezember 1903, Januar und Februar 1904.
In diesem hübschen Roman, der unter der Dienerschaft der
Pompadour, der Geliebten Ludwigs XV., spielt, befindet sich die
Figur eines homosexuellen Koches, der zwar als boshafter un-
sympathischer Mensch gezeichnet, nichtsdestoweniger in ergötz-
licher Weise silhouettirt ist.
Agathon Piedfin war zuerst Koch bei Klosterbrüdern. Dort
hat ihm ein Abt „den Frauenhaß eingeimpft und ihn gelehrt, die
Frauen zu entbehren". Seither kaun er nicht genug über die Ge-
fährlichkeit und Unreinheit des Weibes schimpfen.
Gegenüber den Jünglingen sind seine Gesinnungen ganz
andere.
Einen kleinen Neger der Marquise nimmt er in seine Gunst
auf, angeblich, um ihn Gott zuzuführen und ihn vor den Ver-
suchungen des Teufels und der Evatöchter zu bewahren. Nicht
minder freundlich zeigt er sich gegen einen frisch vom Lande
gekommenen jungen Bedienten, den 14jährigen blauäugigen Valöre.
Als dieser einmal vom Baden kommend seinen nackten Leib ab-
trocknet, entgeht er nur mit Mühe den kühnen Liebkosungen des
Koches.
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— 604 —
Fazy, Edmond, La nourelle Sodome. Paris, Edition
moderne.
Das neue Sodom ist Konstantinopel mit seiner torkischen
Pascba- und Günstlingswirtschaft.
Joseph-ben-Juda, der Sohn armer jüdischer Eltern, der keine
18 Jahre alt, schon in alle Geheimnisse des Geschlechtslebens
eingeweiht, später noch durch zahlreiche Griechen, Türken, Euro-
päer in sämmtlichen Künsten der Liebe vervollkommnet ward
und in der Dämmerung oder im „Morgengrauen in Skutari*' ein-
trägliche Spaziergänge abzuhalten pflegte, wird im 17. Lebens-
alter der Geliebte des Marineministers Deliberader Pascha, der
selbst in seiner Jugend aus Vergnügen den Buhljungen spielte.
Joseph heißt jetzt Selim Pascha und führt den Titel eines
Privatsekretärs des Pascha. Bald wird er nebenbei Journalist
und Dichter und allgemein in der Gesellschaft bekannt.
Im 21. Jahre schickt ihn Deliberader nach Paris zur Re-
gelung finanzieller und politischer Sachen.
Auch in Paris findet Selim Gelegenheit zur Zerstreuung.
Ein Kuppler von Jungfrauen und unschuldigen Epheben versorgt
ihn jeden Tag mit einer Neuigkeit und auf dem Boulevard findet
er die gewissen Jünglinge,
„die manches Herz an sich ziehend unter den Fremden
herumschwirren".
In Genf, wo Selim kurze Zeit weilt, langweilt er sich.
„Diese Protestanten haben wohl dieselben Laster wie er,
aber sie schämen sich ihrer". (S. 52.)
Nach Konstantinopel zurückgekehrt, wird er dem Sultan
vorgestellt
Die wunderbare Schönheit des 26jährigen Selim,
,,seine Frische, die Zartheit seiner Ohren und Lippen, die
melodische Harmonie seiner Glieder entzücken den Sultan. Er
schaudert vor ihm wie vor einem heidnischen Götzenbild, das le-
bendig werden würde**.
Seine Augen und sein Herz können sich nicht mehr von
ihm trennen; Selim wird der erste Günstling des Sultans.
Ein prachtvolles Haus mit herrlichen Gärten ist für ihn er-
baut worden. Selim hat Zeiten der Langeweile, die er durch
Ausschweifungen zu heben sucht. Er richtet eine ganze Schule
von Gitonismus ein.
In einem jungen türkischen Zigeuner Seifoullet erwächst
Selim ein Rivale. Seifoullet, der Prostituierte, geschminkt wie
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ein Weib, mit dem Gang nnd den Gesten einer Frau weiß sich
bei Deliberader einzuschmeicheln und bald wird auch er dem
Sultan vorgestellt. Der schlaue Selim, um durch zeitweilige Ab-
wesenheit die Sehnsucht des Sultans wieder zu wecken, erbietet
sich zu diplomatischen Missionen nach St. Petersburg und Berlin.
Auch in St. Petersburg begegnet er seinesgleichen, so dem
russischen Diplomaten von Mittau, „die Frau, und wenn es sein
muß, der Mann aller Männer". In Berlin wie überall braucht
Selim Zei-streuungen einer besonderen Art: Er tanzt im Hotel
zum König von Portugal mit den Originalen der Psychopathia
sexualis, und in einer Kneipe in der Nfihe des Stettiner Bahn-
hofes wird ihm Börse und Schmuck gestohlen, aber er ist klug
genug, sich nicht bei der Polizei zu beschweren. (S. 222.)
In Konstantinopel hat Seifoullet den Sultan gegen die Anders-
gläubigen aufgestachelt. Als die Pest ausbricht, sieht der Sultan
die Krankheit als Rache Gottes wegen Duldung der Fremden an.
Er befiehlt ihre Ausrottung. Mordbrennerei, Notzucht von Frauen
und Männern ohne Unterschied mit nachfolgendem Totschlag,
Niedermetzelung aller Gesandten. Der Sultan fällt selbst dem
entfesselten Fanatismus der Menge zum Opfer, die ihn als ver-
steckten Fremdenbesehützer betrachtet. Die europäischen Mächte
rächen den Tod ihrer Gesandten, bemächtigen sich Koustanti-
nopels und teilen die Türkei in Distrikte unter dem Oberbefehl
eines militärischen Präfektes. Selim hat sich rechtzeitig auf Seite
der Europäer geschlagen, mit ihm wird der Friedensschluß her-
beigeführt. Er lebt lange hochgeehrt in der nunmehr geordneten
und glücklichen Türkei.
Auch außerhalb des Lebenslaufes von Selim bringt Fazy
zahlreiche Episoden gleichgeschlechtlichen Verkehrs. (S. 25 ff.)
Luki-Laras-Bey, mit dem Spitznamen Panama-Bey, eine der Haupt-
persönlichkeiten der englisch-türkischen Bank hat seine Stellung
„der Preisgabe seines Körpers und desjenigen seiner Frau" ver-
dankt. Er will einen höchstens 15 Jahre alten Sekretär haben.
Selim, der wie keiner dazu geeignet ist, ihm den ersehnten Lecker-
bissen zu verschaffen, führt ihm einen Zögling des Bischofs von
Smyma, den 15jährigen, vom Bischof seinem Freund warm em-
pfohlenenen Athanasius zu, den Jüngling „mit dem wallenden
Haar, der jungfräulichen Stirn, den Augen glänzend und lieblich
wie der Abendstem".
S. 46. Gheikh Salad wurde in seiner Jugend von einem kur-
dischen Weib, das ihn mit ihrem jungen Ehemann ertappte,
durch Scheerenschnitte zum Eunuchen gemacht.
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S. 55. Szene zwischen dem Sultan and seinem Narr und
Zwerg, der in gewisser Beziehung wie ein Riese begabt ist.
S. 76. Im Bade versucht der Sultan seinen gewohnten Masseur,
einen Jüngling aus Bithynien, ,,reizend wie Hylos'* zu vergewal-
tigen; aber es mißlingt ihm jämmerlich, trotz des genossenen
Cantharid enpul vers.
S. 228. Der wirkliche oder angebliche Sohn von Deliberader
Pascha, Ali Nedim Bey, der türkische Gesandte in Paris,
,,die Dirne, die im Lyceum zu Byzanz Französisch und . . .
den Rest studierte, von seinem würdigen Vater eingeübt, spielt
in Paris eine glanzvolle Rolle und die Mitglieder des französischen
Kasinos erröten nicht, ihn bei sich aufzunehmen. Ali Nedim Bey,
bald Encolpe, bald Giton des Scheusals, den er seinen Vater
nennt."
Die homosexuellen Momente in der Charakteristik
des Selim sind in obigem Referat herausgeschält und zu
einem zusammenhängenden Ganzen verwoben^ im Boman
kommt ihnen teilweise s.ur nebensächliche, mehr episoden-
hafte Bedeutung zu; sie verschwinden in dem Gesamtbild
des gestriegelten, parfümierten, diplomatischen, schlauen
und mit europäischem Kulturfimis übertünchten Buhl-
jungen und Emporkömmlings.
Den politisch -sozialen -satirisch - erotischen Roman
Fazys, der den in den geschilderten Zuständen und
Kreisen Eingeweihten verrät, füllt ein buntscheckiges
Gewimmel, in welchem die Symposien Selims und die
Exkurse über Literatur und Philosophie mit den Wahn-
sinnsphanthasien des „verrückten Sultans" wechseln. In
spöttischen, gewollt verzerrten Konturen, in sprunghaftem
Stil und wenig harmonischer Komposition wird ein
kaleidoskopartiges Gemälde entrollt, das stellenweise an
Neronische Zeiten erinnert und die Homosexualität nur
als käufliche Hingabe oder Resultat geiler Sinneslust ab-
gelebter Paschas und Giftpflanze verrotteter, türkischer
Wirtschaft kennt
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— 607 —
Fuchs, Hanns, Ciaire. Ein masochistischer^) Roman in
Tagebuchblättem und Briefen. Berlin, 1903, Bars-
dorf.
Der homosexuelle Etienne hat ein Yerhältnis mit dem kon-
trärsezuellen Walter, einem jungen Assifltenzarzt. Etienne weilt
zum Sommeraufenthalt mit seiner Schwester Ciaire und deren
Gratten Kurt in Baden-Baden, von wo aus er auch mit Walter
korrespondiert
Aus seinen Briefen lernen wir seine Biographie kennen.
Etienne hat nie die Kämpfe der Homosexuellen durch-
gemacht; frühzeitig wurde er von seinem homosexuellen Haus-
lehrer aufgeklart; Offizier geworden, nahm er schon im 25. Lehens-
jahr, des öden militärischen Berufes überdrüssig, seinen Abschied.
In Baden-Baden hat Etienne ein vorübergehendes Abenteuer
mit einem Baron Krailsheim. Dieser ist Sadist; Etienne muß
Schimpf Worte und Schläge erdulden. Nur einmal gibt er sich
dem Baron hin, aber seine den Eigentümlichkeiten des Sadisten
abholde Natur fühlt sich durch die Liebesform des Barons zu-
rückgestoßen.
Etienne sehnt sich, müde des verweichlichenden Genuß- und
Badelebens nach ernster Arbeit
Er kauft ein Schloß in Bayern und zieht dorthin mit Walter,
der seine Stelle aufgibt, und mit dessen Mutter. Etienne arbeitet
an einem Roman, Walter an einem wissenschaftlichen Werk.
Ihre Liebe wird immer inniger, verklärter, sie spornt sie an
zu intensiver Arbeit Ihre Werke haben großen Erfolg.
Das Liebesglück der Beiden ist ein harmonisches, unge-
trübtes..
„Was wir uns seelisch sind**, schreibt Etienne an seine
Schwester, „ist nicht zu sagen. Ich frage mich oft, wie es über-
haupt möglich gewesen ist, daß ich ohne den Freund einmal leben
konnte. Die Jahre, in denen ich ohne ihn war, sind nutzlos, in-
haltslos verstrichen. Könnte ich sie noch einmal leben! Oder sie
wenigstens vergessen! Meine Seele lag in banger Haft, bis er in
^) Über Sadismus und Masochismus j insbesondere die belle-
tristische Literatur dieser Anomalie orientiert unter den in letzter
Zeit erschienenen Schriften am besten die gemeinverständlich und
doch wissenschaftlich geschriebene Broschüre von Eulenburg ,^Sadis-
mus und Masochismus^' (Wiesbaden, 1902, Verlag von Bergmann,
In den Grenzfragen des Nerven- und SeelenlebenSy Nr, 19),
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— 608 —
meines Lebens Kreis trat. £r ist in Wahrheit mein Erlöser ge-
wesen" (S. 162).
Etiennes Schwester Ciaire hat inzwischen ihren Gatten ver-
lassen. Sie liebte ihn nie und sehnte sich schon längst nach
einer Liebe, deren Inhalt ihr selbst nicht völlig klar war. Infolge
einer Zeitungsannonce, wonach ein gestrenger Herr eine Dame
sacht und, nachdem sie sich mit diesem Manne (Ralph von Bode)
brieflich in Verbindung gesetzt, wird sie sich ihres eigentlichen
Empfindungslebens bewußt. Sie ist Masochistin und findet in
Ealph, dem Sadisten, ihr Ideal. Sie lebt mit ihm zusammen,
allen sonstigen Familien- und Standesrücksichten zum Trotze. An
den Mißhandlungen, Demütigungen, Qualen, die ihr ihr Herr zu-
fügt, empfindet sie die höchste Wollust, sie schwelgt in der
Stellung der Dienerin, der Sklavin. Die harmonisch verklärte
ruhige Liebe ihres Bruders kann sie nicht begreifen. Ihre Liebe
wächst zur grenzenlosen Leidenschaft, die sie in unsagbares
Liebesglück versetzt.
Aber eines Tages wird sie von Ralph, der ihrer überdrüssig
geworden, verlassen. Etienne nimmt die vom Gipfel ihres namen-
losen Glücks herabgesunkene, an Geist und Körper gebrochene
Schwester in sein Haus auf, wo sie bald stirbt. Ihr Mann, der
sie stets als Kranke und Verirrte betrachtet, hat ihr nie gegrollt
und nur Worte des Verzeihens und des Mitleids für sie gehabt.
Das Hauptinteresse des Romans konzentriert sich
dem Titel entsprechend auf die masochistische Heldin
„Ciaire". Fuchs hat sich, wie mir scheint, in die abnorme
Gefühlsweise seiner Heldin trefflich hineinzuleben gewußt
und ein pathologisches Bild geschaffen, dem man stellen-
weise recht packende Wirkung zuerkennen muß. — Die
wilde Glut, die unbändige Leidenschaft, das Schwelgen
in Qualen und Demütigungen der krankhaft Liebenden
sind recht charakteristisch und anschaulich getroffen.
Gegenüber der Abnormität krankhafter Leidenschaft-
lichkeit und Zügellosigkeit in der Empfindung, welche
Ciaire kennzeichnen, sticht die ideal schöne und edle
homosexuelle Liebe zwischen Etienne und Walter scharf
und auffallend, in absichtlich festgehaltener Tendenz, ab.
Hier ist alles Schönheit, Ruhe, Abgeklärtheit> Harmonie
und stetes, wahres Glück.
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— 609 —
Die Tendenz tritt allzu unverkennbar hervor. Fuchs
will die Homosexualität als völlig gesunde, maßvolle, die
schönsten Blüten des Geistes und der Seele zeitigende
Liebe schildern, im Gegensatz zu wirklich krankhaften,
Körper und Geist zerrüttenden Anomalien, wie Sadismus
und Masochismus.
In dem Verhältnis zwischen Etienne und Walter wird
ein Beispiel edler, vollkommener Liebe aufgestellt^ einer
Zuneigung, beglückend die Liebenden und nützlich dem
Gemeinwohl, wie sie die Heterosexualität nur selten auf-
weist. Unter dieser Idealisierung leidet die Lebenswahr-
heit und plastische Gestaltung.
Einzig und allein Ciaire weist Individualität und
Charakteristik, Belief und Kolorit auf. Etienne und Walter
ermangeln des Fleisches und Blutes, sind Schemen, Per-
sonifikationen abstrakter Gedanken.
Einen Vorzug wird man der homosexuellen Idylle
aus dem arkadischen Traumland zuerkennen müssen, die
Fähigkeit, auf die bisher noch im großen Publikum
herrschenden irrtümUchen Anschauungen einen günstigen
Einfluß auszuüben durch die Art und Weise, wie die
Homosexualität von Fuchs aufgefaßt und dargestellt
wird.
Der Enterbte des Liebesglücks hat sich bei ihm in
einen Beglückten verwandelt, der Verfehmte in einen sich
seiner Liebe Freuenden.
Die tendenziöse Seite des Romans und besonders
der Mangel an Kraft und Charakteristik in der Dar-
stellung der Homosexualität mögen den künstlerischen
Wert des Werkes beeinträchtigen; dagegen ist es völlig
falsch, dem Roman diesen Wert wegen des behandelten
Stoffes an und für sich abzusprechen, wie dies in einer
Kritik der Straßburger Post vom 15. Juli 1903 ge-
schehen ist.
Jahrbuch VI. 39
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-r 610 -..
&rfln-Lesehkirch, Dr., Lieder eines Einsamen, ge-
widmet den Tschandalas der Liebe. Leipzig, 1903,
Verlag von Spohr.
54 Gedichte, von denen nur wenige offen die homosexuelle
Leidenschaft des Dichters aussprechen. Meist werden Gef&hle,
Stimmungen und Seelenleiden besungen, die gerade oft den Homo-
sexuellen als Folgeerscheinungen seiner von der Welt verpönten
Liebe und seiner durch die Vorurteile geschaffenen unglücklichen
Lage beherrschen: Das Gefühl der Vereinsamung, der Sehn-
sucht nach einer gleichempfindenden Seele, Traurigkeit, Ver-
zweiflung usw.
Die Widmung „Den Tschandalas der Liebe" und einige deut-
lich homosexuelle Gedichte am Schlüsse der Sammlung weisen
uns die Quelle von des Dichters Leid und Wehe. Die Notlage
des Homosexuellen, seine unverschuldete Verdammung bringt
Nr. 22: „Fatum" cum Ausdruck.
In Nr. 25 wagt der Dichter die Ursache seines Grams noch
nicht zu nennen.
Aber in Nr. 28: „Flut und Brand" verrät er sein Geheimnis:
„Lodernde Gluten
Züngelnder Brunst,
Schäumende Fluten
Wogenden Meeres —
Ihr nicht so glühend brennt
Auch nicht so schäumend rennt,
Wie der Begierden Glut
Und wie der Lüste Flut,
Die mich durchrast.
Mich brennend umfaßt.
Wenn ich dich, Liebling seh",
Zu dir um Liebe fleh!"
Seiner Leidenschaft will der Dichter nicht mehr vdder-
stehen, denn schuldlos hat ihn der Naturtrieb ergriffen: Nr. 29
„Schuldlos".
Die Sammlung von Dr. Grün-Leschkirch muß man
als ein poetisches Erzeugnis schwächsten Grades be-
zeichnen. Verse wie die folgenden:
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oder
— 611 —
„Deiner Schönheit junge Pracht
Sehnsuchtsvoll mich zittern macht" —
,,E8 ist so mein Schicksalslos^
Schon bestimmt im Mutterschoß" —
können auch den niedrigstgesteilten Ansprüchen nicht
genügen. Derartige Verse mit den gezwungensten Um-
stellungen^ Jahrmarktsreimen und einer Banalität in
Ausdruck und Empfindungsweise, die jedem poetischen
Gefühl ins Gesicht schlägt, finden sich aber nicht selten.
Wie die Worte auf dem Titelblatt: „Erste Folge"
ankündigen, plant der Dichter noch einen zweiten Band
oder vielleicht sogar mehrere. Zu ihrer Veröffentlichung
vermag ich ihn jedoch nicht zu ermutigen. Dichtungen
wie diese ,,Lieder eines Einsamen'^ wirken nur nachteilig
auf den Geschmack des Publikums und als unfreiwillige
ironische Illustrierung der Übertreibungen, welche den
von manchen Homosexuellen der angeblichen künst-
lerischen Überlegenheit des üraniers gezollten Lob-
preisungen anhaften.
Heller, Ludwig, Die Spiegel, in der „Freistatt^ kri-
tische Wochenschrift für moderne Kultur, Nr. 44,
1902.
Eine symbolistische Erzählung, anscheinend durch
das Schicksal Ludwig 11. und sein Verhältnis zu Kainz
angeregt
Der exzentrische König sehnt sich ruhelos nach dem gleich-
gestimmten Freund, den er endlich in dem bleichen Jüngling, dem
herrlichen Schauspieler gefunden zu haben glauht. Als er jhm
aber seine Liehe gesteht, flieht dieser entsetzt. Seither bemäch-
tigt sich wieder ungestillte Sehnsucht und Verzweiflung der Seele
des Königs, bis er in der Gallerie der hundert Spiegel im Wahnsinn
zusammenbricht.
39»
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Offenstadt
Unter der ^,Hölle des Soldaten^^ ist das Militärlazarett
verstanden. Als typisches Beispiel wird ein Militär-
lazarett Südfrankreichs mit seinen verlotterten und schmäh-
lichen Zuständen heschrieben.
La Hire geißelt besonders die Gleichgültigkeit und
Härte gewisser Militärärzte, sowie die Nachlässigkeit, den
Egoismus und Cynismus der zur Holle der Ejrankenpileger
völlig ungeeigneten Soldaten.
Im Mittelpunkt steht ein als Krankenpfleger eingestellter
junger Literat, de Sainte Ciaire, der, anfanglich von dem besten
Willen beseelt, allmählig unter dem Einfluß des verderblichen
Milieus in den Schlamm der Unehrlichkeit und Charakterlosigkeit
hineingerissen wird.
Unter den schwarzen Flecken in dem dunklen Gemälde
begegnet man auch homosexuelle Liebschaften.
Offizier Dulaurier, der gewöhnlich barsche und ungerechte
Vorgesetzte, bekundet gegen den Krankenpfleger Maxime,
„einen kleinen, blonden Mann, stets rasiert wie ein Schau-
spieler und mit geschmeidigen Gesten eine mehr als wohlwollende
Nachsicht und einen dauernden Schutz.*'
In den Nächten, in denen Dulaurier Wache im Speise-
saal hält, fehlt Maxime regelmäßig in der Schlafstube seiner
Kameraden. Eines Abends^ sieht ein Krankenpfleger, durch das
Schlüsselloch spähend, in dem Zimmer des Leutnants „interessante
Dinge** und erzählt am andern Morgen den Kameraden, daß
Maxime
„nicht, wie man bisher geglaubt, familienlos sei, er habe
vielmehr eine Tante.**
Übrigens scheute Maxime mit der lasterhaften Gleichgültige
keit eines Pariser voyou keineswegs die Anspielungen und prahlt
sogar mit seinem „Beschützer** (S. 94).
Auch der Krankenpfleger Cailotte wird eines Abends von
einem Kameraden im Bette eines nur leicht erkrankten, mädchen-
haft aussehenden hübschen Husaren entdeckt; später dann war
es ein Jäger zu Pferd, der „für seine Zerstreuung** sorgte.
„Diese skandalösen Tatsachen, die keinen Skandal erregten,
waren das Tagesgespräch. Übrigens mehrten sich die Fälle
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— 618 —
schnell, besonders unter den schlechten, oft bestraften »Soldaten.
Sie maßten manchmal zwei Monate ohne Aosgaofi^ bleiben und sie
benutzten die erzwungene Gemeinschaft in der Arreststube, am
untereinander ihr Bedürfnis nach dem Weib zu befriedigen" (S. 95).
In einer schwülen Sommernacht werden Dulaurier und Maxime,
die im Garten ihren Gefühlen freien Lauf lassen, vom Oberarzt
beobachtet. £r wird keine Anzeige erstatten, am den Skandal
zu vermeiden, aber er veranla&t, am andern Tag Dulaurier, seine
Versetzung in die Kolonien zu beantragen. Er wolle ihm bloß
eine Warnung geben, er wisse, daß keine Strafe ihn von seiner
Krankheit heilen könne. In Südafrika mangele es an Offizieren,
dort, setzte er spöttisch hinzu, werde Dulaurier in jeder Be-
ziehung sich wohl fühlen (S. 106). Maxime wird einfach aus
dem Lazarett entfernt und erhält 14 Tage Arrest.
Der Roman gehört zu den Produkten des in Frank-
reich längst überwundenen krassen Naturalismus, er führt
ein Konglomerat von Niedertracht und Gemeinheit vor
Augen. Deshalb ist auch die Homosexualität eigentlich
nur als Laster dargestellt, und zwar als Resultat der
Abgeschlossenheit vom Weib, zu der die Soldaten im
Lazarett gezwungen sind. Nur in Dulaurier scheint La
Hire den geborenen Konträren zu erblicken.
Hoche, Jales, Le rice mortel. Paris, 1903, Librairie
illustr6e, I. Tallandier.
Der Millionär Ostermann hat seine beiden Kinder Lucette
und Maxime nach eigenartigen, von den landläufigen völlig ver-
schiedenen Prinzipien über Moral und Erziehung aufgezogen.
Von der Anschauung ausgehend, daß die gewöhnlichen heuch-
lerischen Auffassungen der Geschlcchtsliebe als einer Sünde
und eines schmählichen Mysteriums, andererseits wieder die Ver-
himmelung derselben als eines überschwenglichen Gefühles zum
großen Teil an der Schlechtigkeit und dem Unglück der Menschen
schuld seien, hat er frühzeitig seine Kinder über die Geheimnisse
des Geschlechtslebens aufgeklärt und ihnen den Gedanken ein-
gepflanzt, daß es sich um nichts weiter als um Befriedigung eines
— weder guten noch bösen — natürlichen Bedürfnisses handele,
in der Zuversicht, daß Kinder, denen man alle Laster bloßlege,
weder schlecht noch lasterhaft würden.
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Lucette und Maxime haben frühzeitig die halbe Welt be-
reist. Lucette hat niemals Liebe zum Manne verspürt, ihre An«
schauungen haben sie vor Torheiten bewahrt. Die erste prak*
tische geschlechtliche Erfahrung sucht sie bei einer Bekannten
ihres Vaters, Madelaine, zu erlangen. Gelegentlich einer im ge-
meinsamen Bett zugebrachten Nacht verführt sie Madelaine zu
sinnlichen Handlungen.
Madelaine, die Idealistin, ^ie an Liebe und Poesie glaubt,
schftmt sich ihrer Handlung, während Lucette zu fühlen beginnt,
daß die Liebe doch kein leeres Wort sei.
Spftter geht Lucette in der praktischen Anwendung der ihr
eingepflanzten väterlichen Theorie soweit, ihrem Bruder den Inzest
vorzuschlagen.
Maxime hat seine Neugierde und seinen Geschlechtstrieb
mit hunderten von Frauen der verschiedensten Rassen befriedigt;
die Liebe ist ihm stets, getreu der Erziehung, die er genossen,
nur eine vom Standpunkt der Hygiene zu betrachtende Handlung
ohne höhere Bedeutung gewesen. Zweimal hat er auch gleich*
geschlechtlichen Verkehr kennen gelernt In Jafia war es das
Abenteuer mit einem mädchenhaft aussehenden jungen Syrer, dem
er in einer schwülen Nacht, angeekelt von dem „brutalen Sinnen-
genuß^^ mit dem Weib aus einem Gefühl plötzlicher, zarter An-
wandlung sich hingegeben. Später dann ließ er sich von dem in
Algier aufgewachsenen „der bestialischen Paarung mit den mau-
rischen Bordelldirnen überdrüssigen^' blasierten Dosmont verführen,
den Sinnenlust jeder Art lockt.
Was Maxime in Jaffa aus fast entschuldbarer Neugierde, auö
unbewußter Anziehung, aus Güte erduldet, tat er mit Dosmont
aus Eitelkeit, aus reiner Perversität, um ihm zu beweisen, daß er
zu Allem f^hig sei. Sein Verhältnis mit Dosmont ist aber nur
vorübergehend; Madelaine weckt in ihm die bisher unbekannte
Liebe. Er gesteht ihr 'alle seine Abenteuer, auch seine homo-
sexuellen Fehltritte. Madelaine verzeiht ihm alles, aber seinQ
Frau will sie niemals werden, denn ihre .verschiedene Erziehung
habe aus ihnen Menschen gemacht, die sich nicht würden ver-
stehen können. Verzweifelt und von Madelaine verstoßen gibt er
sich immer mehr dem Gedanken an den jungen Syrer hin. Eine
gewaltige Sehnsucht nach ihm bemächtigt sich seiner. Bei diesem
Jüngling will er die Liebe suchen, er schifft sich nach Syrien ein,
stürzt sich aber unterwegs ins Meer.
Der Romau will die verhängnisvollen Wirkungen
einer freien, eigenartigen Erziehungsmethode demon-
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— 615 —
strieren, obgleich der Verfasser im Vorwort die Absicht
einer bestimmten Tendenz von sich weist
Dieser Versuch ist recht schwach und wenig über-r
zeugend ausgefallen. Auch bei anderen Erziehungsarten
kommen ähnliche homosexuelle Handlungen wie die yon
Maxime begangenen vor. Der Verfasser ist sich aber
selbst nicht recht klar darüber^ ob er die Homosexualität
Maximes als ein Produkt seiner Erziehung oder ein Stück
seiner angeborenen Natur darstellen will. Denn zu Beginn
des Romans hebt er ausdrücklich Maximes effeminiertes
Äußere hervor und gegen Schluß bringt er eine Seite aus
einem medizinischen Werke des Psychiaters Magnan über
die angeborene, trotz aller Hindemisse und Widerstände
sich durchdringende Inversion, eine Schilderung, die
Maxime als auf seinen Zustand passend anerkennt.
Und trotzdem die glühende Leidenschaft zu Madelaine,
an die sich die plötzliche Sehnsucht nach dem jungen
Syrer gleichsam nur als Ersatz für verschmähte, hetero-
sexuelle Liebe anschließt.
Man könnte an psychische Hermaphrodisie denken^
aber der ganze Charakter ist so widerspruchsvoll und
verschwommen, daß man von bestimmter Charakteristik
nicht sprechen kann. Der Roman, welcher mit seinem
Aufputz von Philosophisterei und sexueller Anomalie auf
andere als künstlerische Interessen spekuliert, worauf auch
der Untertitel: „Ausnahmssitten'' hindeutet, hinterläßt
einen gemischten und verworrenen Eindruck.
S. 251 — 258 findet sieb ein allgemeiner Exkurs ttber die
Homoseznalität mit Bezug auf ihre Verbreitung im Orient and
besonders in Marokko.
Hoche meint, die Zunahme der Inversion würde im Gegen-
satz zu den heutigen AnBcbauungen die Rolle des Mannes in
Mißkredit geraten lassen, weil alsdann die Eigenschaft der passiven
LiebesfKhigkeit geschätzt würde.
Die Homosezualitfit sei im Orient eine Folge der Abge-
schlossenheit der Frauen. Ebenso würde die Frauenemanzipation,
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— 616 —
welche einem ähnlichen Ziel entgegensteuere, die gleichen Wirk-
kungen hervorrufen. Der Triumph des Feminismus würde eine
Art Trennung der Geschlechter erzeugen und beide zur Unisexu*
alität hindrängen. In Marokko spielten die Lustknaben dieselbe
Rolle wie bei uns die weiblichen Prostituierten. Jeder Student
und überhaupt jeder sogenannte Gebildete habe seinen Knaben.
Der passive Teil sei allgemein verachtet, aber in gewissen Gegen-
den seien seine Funktionen als eine Art Noviziat der Männlichkeit
betrachtet. Vielleicht solle dies bedeuten, daß man die am meisten
charakteristischen Empfindungen der Fi-au habe kennen lernen
müssen, um sich von ihrem Geschlecht loszumachen und ein Mann
zu werden. Vielleicht bedeute es auch gar nichts.
Hoche, Jules, La carriire de Lneette. Librairie
illustr^e, Tallandier, 1903.
Roche erzählt das weitere Schicksal der Lucette (vgl. den
vorher besprochenen Roman: „Le vice mortel'O» Nach dem Tode
ihres Bruders und ihres Vaters findet sie endlich den Mann, der
imstande ist, ihr Liebe einzuflößen und sie dauernd zu fesseln.
Sie beichtet ihm ihre homosexuellen Experimente:
„Ich habe früher mit Freundinnen gewisse wollüstige Ver-
suche angestellt, die ich kennen zu lernen für nötig hielt, und
mit ihnen Zärtlichkeiten ausgetauscht, die für viele das Verderben
bedeutet hätten Aber es gibt überhaupt keine Laster,
sondern nur lasterhafte Menschen."
Ihr Geliebter verzeiht ihr: „Du hast Recht, ein Vergnügen,
das keinen schlechten Hang darstellt, nicht in eine Gewohnheit
ausartet und niemanden verletzt, ist kein Laster, weder vom in-
dividuellen noch vom sozialen Standpunkt . . . Das Wort Laster
ruft auch den Gedanken an eine Handlung, deren man sich
schämt, oder wenigstens an einen häßlichen und unsauberen Akt
hervor und das konnte bei Dir nicht der Fall sein!'^
Lucette atmet auf: „Gewiß, es war gerade das Gegenteil
von etwas Schmutzigem oder Häßlichem und die Scham war
immer fem von den in meinen Augen unschuldigen Liebkosungen
mit Jenny oder Alice. Überdies wußte ich, daß ich sie mora-
lisch nicht gefährdete, da sie, besser unterrichtet als ich, die Ini-
tiative unserer Spiele ergrifien. Endlich bildeten die Liebkosungen
für mich außer der Anziehung eines kurzen Vergnügens ein not-
wendiges psychisches Untersuchungsmittel, eine wertvolle Unter-
stützung meiner eigenartigen Erziehung. \\
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— 617 —
Ohne diese Ablenkang, meint Lucette, würde sie wohl dem
ersten besten Manne einmal in die Arme gesunken sein and hätte
dann niemals die wahre Liebe gefunden (S. 206—208).
Lucette eriimert in vielen Punkten an Claudine, sie
ist aber mit weniger Ursprünglichkeit und Urwüchsigkeit
gezeichnet^ wie überhaupt der ganze Roman Ton Hoche
eine nicht ohne Talent geschriebene, aber die Willysche
Verve und witzsprühende Phantasie nicht erreichende
Imitation der Claudine-Bücher darstellt.
Janitsehek, Maria, Mlmlkiy. Ein Stück modernen
Lebens. Leipzig, 1903, Hermann Seemanns Nachf.
Die Unterredung der jungen Leute während des Besuches
bei ihrem Freunde, dem 16jährigen verwöhnten Lucian, weist
homosexuelle Andeutungen auf.
Der abgeschmackte, greisenhafte 19jährige Mirzo antwortet
auf die verwunderte Frage Emils, des jungen Lehrers Lucians,
ob denn der erst 17jährige Alojs schon eine Maitresse habe:
„Noch, wollen Sie sagen, der Mann ist IT Jahre alt, in den
Jahren ist man allerdings schon über das Weib hinaus, der Junge
ist eben naiv geblieben. Als ich in seinem Alter stand, war ich
nicht nur über das Weib, sondern auch schon über Antinous
hinaus*' (S. 118).
Der Gedanke liegt nahe, Verfasserin habe überhaupt den
Freundeskreis Lucians als homosexuell verdächtigen wollen. 8o
K. B. sagt Lengthien, der ,Junge Mensch mit dem blassen Gesicht
und den glimmenden Augen'^ zu Emil, ihn „vertraulich^' ansehend :
„Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich voraussetze, daß
Sie einer der ünsem werden" (S. 114)
und S. 135 heißt es:
„Sie machen allerlei Dummheiten, die Jungen spielen Tibe-
rius, maskieren sich ab Mädel und so weiter.^'
Die Verfasserin spricht sich nicht dentlich aus, aber
es scheint ihr darauf anzukommen, die Homosexualität,
die ihr Blüte jugendlichen Geckentums und lächerlichen
Snobismus scheint, in satirisch karikierten Bildern blasierter,
dekadenter Jünglinge zu verwenden. Allerdings noch eine
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— 618 —
andere Seite der Homosexualität läßt sich yielleicht in
dem Eoman finden.
Der verzogene^ kränkliche neuropathische Lacian zeigt große
Anhänglichkeit an den schönen Emil, der einen Einfloß wie sonst
niemand auf ihn gewinnt. Lucian wird auch von Eifersacht ef-
faßt, als Emil fdr ein Mädchen sich interessiert und bricht in die
Worte aus: ^»Das leide ich nicht, laß die Weiber!*' Schließlich
verfällt er in Tobsucht, als er den Freund in den Armen der
Mutter trifft.
Das Verhältnis zwischen Lucian und seinem jugend-
lichen Lehrer und Gesellschafter Emil ist wohl einer
homosexuellen Deutung fähige obgleich ich nicht sicher
bin^ daß es von der Verfasserin in diesem Sinne gedacht
worden ist^ wie eine Besprechung des Romans im „Eigenen'',
Juninummer, ohne weiteres annimmt
Aber im Grunde braucht man nicht notwendig die
Grenzen der £Yeundschaft als überschritten zu betrachten,
und das Verhalten Lucians^ der übrigens mit dem Dienst-
mädchen seiner Mutter geschlechtlich yerkehrt, ist ohne
homosexuelles Moment begreiflicL
Eine nicht uninteressante — aber nur sehr bedingt
richtige — Erörterung über die allmähliche Entfremdung
der beiden Geschlechter und die Ursache der Homo-
sexualität legt Verfasserin gegen Schluß des Bomans in
den Mund der emanzipierten, knabenhaften LilitL
Sie verwirft den Heiratsantrag Emils: „Heiraten , nein, das
konnte ich nicht Wo ist denn das Ergänzende bei euch zu
finden? Ihr seid ja viel schwächer und schwankender als wir.
Ihr seid ja weniger als wir. Hast du es nicht verfolgt, das
neueste Zeichen der Zeit, daß sich das gleiche Geschlecht dem
gleichen Geschlecht zuzuwenden beginnt? Die Ergänzung fehlt
zwischen Mann und Weib. Die Weiber sind wie die Männer
geworden, weil die Männer wie die Weiber geworden sind. Die
Frau findet bei der Frau mehr als beim Mann. Und der Mann
findet die Eigenschaften, die er früher vom Weib begehrte und
an ihm liebte, viel eher bei seinen eigenen — Geschlcchtsgenossen
(S. 244—245).
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— 619 —
Lcpage, Francis, Les fansses Yierges. Roman pas-
sionnel illustre par la Photographie d'aprfes nature.
Paris, 1902, Ed. Oflfenstadt.
Jano kommt frühzeitig in die Rlosterschule, sie befreundet
sich mit der altersgleichen 14jäbrigen Suzanne. Allmählich nimmt
die zärtliche Freundschaft einen sinnlichen Charakter an. Von
einer Lehrerin werden sie in einer Kammer auf dem Speicher
in verdächtiger Stellung überrascht. Beide müssen die Schule
verlassen. Der Vater von Jane, der mit einer Geliebten zusammen-
lebt, läßt Jane bei einer alten Tante wohnen und möchte sie
möglichst bald verheiraten. Ein passender Bräutigam ist bald
gefunden. Es ist Henri Dalberg, der sich in Jane verliebt. Aber Jane
will nichts von Heirat wissen. Zwei Wochen bringt sie bei Su-
zanne auf dem Landgut ihrer Eltern zu. Beide schlafen in einem
gemeinsamen Zimmer.
„Die zwei Wochen waren für die beiden Freundinnen eine
fortgesetzte Wollust. Ihre Leidenschaft, bisher durch die Zucht
der Schule zurückgehalten, dann durch die Abwesenheit, be-
friedigte sich mit Wut" (S. 131).
Vor dem Weggange von Jane beschließen beide, sich form-
lich zu heiraten.
„Diese Absicht, scheinbar ziemlich seltsam, war in Wirk-
lichkeit durchaus logisch und ohne den Hintergedanken eines
ruchlosen Baf&nements. Weil die jungen Mädchen sich wirklich
liebten, warum sollten sie nicht diese Liebe auf endgiltige Weise
einsegnen und sie gleichsam legitimieren? Sie sahen nicht, daß
ihre Leidenschaft anormal war, sie sündigten ^anz offenherzig.
Was sie aufrichtig empörte, war die Ehe des Mannes mit der
Frau. Ihr eigenartiges Schamgefühl konnte nicht einmal den
Gedanken einer männlichen Umarmung ertragen'^ (S. 137).
]Eines Abends ahmen sie in der alten Kapelle die Heirats-
zeremonie nach und schwören sich ewige Treue. Suzanne muß
ihre Eltern auf einer Reise nach Amerika begleiten. Die
Freundinnen sind lange getrennt. Henri fährt fort, um Janes
zu werben. Lange widersteht sie.
„Henriks Liebe hatte zuerst Jane überrascht, dann ihr ge-
schmeichelt; später hatte sie in diesem Gefühl, dessen natürliche
Erscheinungsform sie nicht kannte j einen Beiz des }^euen gefun-
den und sogar, ohne sich dessen klar bewußt zu werden, etwas
Perverses .... denn einen Mann zu lieben war für sie eine per-
versö verbotene Sache" (S. 205).
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— 620 —
Zugleich zog sie ihre durch den Verkehr mit Suzaxme ge-
weckte Sinnlichkeit allmählich, aber unwiderdtehlich £am Maune
hin. Nach und nach erscheint ihr der Gedanke, einem Manne
anzugehören, nicht mehr ^^monströs und ekelhaft'' (S. 208).
Halbgezwungen gibt sie ihr Jawort, das sie aber bald wieder
bereut. In der Brautnacht kämpft ihr Gefühl für Suzanne ver^
geblich gegen die stürmische Umarmung des Mannes, der unwider-
stehlich ihre Sinnlichkeit entfacht
Nachher, als sie zu sich kommt, schämt sie sich der Wollust,
die sie in den Armen des Mannes empfunden, sie hat Ekel vor sich
selbst und vor dem Manne, der sie besessen. Suzanne hat in-
zwischen keinerlei Nachrichten von Jane erhalten ^ sie kann sich
ihr Schweigen nicht erklären. Plötzlich erföhrt sie von Jane*8 Heirat
('urch eine Zeitungsnotiz. Sie kehrt bald mit ihren Eltern nach
Europa zurück und sucht sofort Jane auf. Sie trifft sie allein zu
Hause. ' Jane bittet sie unter Tränen um Verzeihung, sie habe
doch nur Suzanne geliebt. Aber Suzanne will für immer scheiden
von der Treulosen. Jane klammert sich an die Freundin, beide
sinken sich liebend in die Arme. Henri, der nichts ahnend nach
Hause kommt, überrascht die beiden halbentkleidet in rasender
Liebesumarmung. Von blinder Wut ergriffen, will er mit einem
Stuhl die beiden Liebenden erschlagen. Aber Jane kommt ihm
zuvor. Sie entnimmt dem Nachtkästchen den geladenen Revolver
Heurfs, und als Henri trotz ihrer Mahnung mit dem erhobenen
Stuhl sich immer weiter nähert, schießt sie ihren Gatten nieder.
Dann, vor dem Leichnam Henris, stürzt sie sich auf die Freundin
und umschlingt sie in toller Liebeswut.
Einige interessante , gut getroffene psychologische
Einzelheiten in der Darstellung der homosexueUen Leiden-
schaft, welche beide Frauen beseelt, verdienen Lob. Auch
die, wie Verfasser mit Recht hervorhebt, in der eigen-
artigen Psyche der Heldinnen wohlbegründete Veranstaltung
einer Heiratszeremonie zeugt von richtigem Verständnis
der umischen Seele. Das tief Eingewurzelte der homo-
sexuellen Liebe, der Kampf gegen die als pervers em-
pfundene Mannesliebe, die vorübergehende Selbsttäuschung
der Heldin über ihre Gefühle gegen den Mann, die
baldige Erkenntnis ihr^s instinktiven Ekels vor männ-
licher Berührung, die siegreiche Liebe zur Freundin auch
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— 621 —
inmitten der stürmischen, männlichen Umarmung^ die zwar
momentane Sinnlichkeit zu wecken vermag, aher das
eigentliche natürliche Liebesempfinden unberührt läßt —
alle diese Momente sind mit Geschick entwickelt
Im allgemeinen kann aber der Koman eine größere
Bedeutung nicht beanspruchen, er gehört zur Dutzend-
ware und ist auf Sensation berechnet. Auf diesen Zweck
weisen schon die süßlichen, teilweise lüsternen Illustrationen
hin, ,^hotographie8 d'aprfes nature", wie es auf dem Titel-
blatt verlockend heißt.
Lorrain, Jeau,' Coins de Byzance. Le rice errant.
Paris, 1902, Ollendorfl
Den Hauptteil des prickelnden, geistreichen Romans
des talentvollen, bekannten Feuilletonisten und Schrift-
stellers füllt die Geschichte des russischen Fürsten Noro-
soflF, des hundertfachen Millionärs, des an Leib und Seele
kranken, bizarren, despotischen, kapriziösen Dekadenten.
Mit der Marke „Champagner und Kaviar" ließe sich
diese Epope neronianischer Verrücktheiten und römischer
Cäsarenlaunen am besten charakterisieren.
Der Fürst lebt in Nizza unter dem Eioflaß einer polnischen
Gräfin, er umgibt sich mit einem Heere von Parasiten, Tänzern,
Schauspielerinnen, Sängerinnen, Tingeltangelkünstlem, Abenteu-
rern aller Art, die ihn zerstreuen sollen.
Direkt Homosexuelles findet sich in dem Roman nicht
Einige Episoden enthalten jedoch homosexuelle Anklänge. So
z. B. wird der Fürst eines Tages von einem schönen Matrosen
Marius, gefesselt, er empfindet für ihn „eine Art zarter und me-
lancholischer Freundschaft" (S. 184). Marius und seinem Freund,
Etschegarj, gelingt es, eine Zeitlang den Fürsten völlig in An-
spruch zu nehmen und durch ihre Redseligkeit, ihre Erzählungen,
ihre Witze, ihre Frische und ürwüchsigkeit zu zerstreuen. Er
kann sich nicht mehr von ihnen trennen, mit ihnen besucht er
schließlich die niedrigsten Bordelle und Kneipen. In ihrem Um-
gang lebt er wieder neu auf.
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— 622 —
Eine ZeitlaDg herrschen die beiden Matrosen m der YilU
des Fürsten, bis er wieder zu neuen Spielzeugen, zu neuen Ca-
prizen übergeht. Später aber, kurz vor seinem Tode, als er, eine
wandelnde Leiche, noch ausfährt, entdeckt er auf der Straße einen
neapolitanischen Fischer, dessen Ähnlichkeit mit Marius die
früheren lieben Erinnerungen in ihm wachruft. Der Fischer muß
sofort mit in die Villa und wird in den Dienst des Fürsten ein«
gestellt Aber seine eifersüchtige Geliebte veranlaßt ihn schon
am nächsten Tage, zu fliehen. Wütend sucht ihn der Fürst in
ganz Nizza. Er flndet ihn auf dem Markt, sich scheu hinter seinem
Mädchen verbergend. Als Norosoff vorwurfsvoll an ihn heran tritt,
streckt ihn das Mädchen mit einer wuchtigen Ohrfeige zu Boden.
Dies ist das letzte Abenteuer des Fürsten, der bald darauf
unter Flüchen und Wutausbrüchen stirbt.
ran Berer, Ad., et STansot-Orland, Oeuvres galantes
des conteurs Italiens (XIV., XV., XVL siöcles). Mer-
cure de France.
In der Januamummer des „Mercure de France"
bespricht Jean de Gourmont die Sammlung dieser lustigen,
ausgelassenen Geschichten und berichtet über eine homo-
sexuelle Erzählung von
Franzesco Maria Molza, betitelt: Bidolfo ron Florenz.
Ridolfo vernachlässigt seine Frau, obgleich sie schön ist, er
zieht ihre junge Ganymede vor«
„Mein scheußlicher Gatte/* sagt die edle Dame, „weigert
sich andauernd, in meinen Hafen einzulaufen.** Sie tröstet sich
mit einem Liebling ihres Mannes. Letzterer überrascht beide, läßt
sich aber nichts merken und nimmt seine nichtsahnende Frau mit
auf das Land. Dort zieht er einen Dolch und will sie töten. Sie
fleht ihn an, ihr wenigstens den Anblick des tötenden Stahles zu
ersparen.
„Ihrem Manne den Rücken kehrend, hob sie die Röcke em::
por, zog ihr Hemd über den Kopf und zeigte Ridolfo die Teile,
die, wie sie wußte, ihm gefielen. Als er sie sah, weißer als Schnee,
frisch und angenehm, war Ridolfo ganz geblendet**.
Und er söhnte sich mit seiner Frau wieder aus.
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— 623 —
Horel, Hanrice, Sapho de Lesbos. Roman. Paris,
1903, Librairie acad6mique Didier, Perrin et Co.
SapphOy die ganz jung einen alten, reichen Raufmann in
Mjtilene geheiratet, und in ihrer Ehe mit dem ungeliebten, ab-
gelebten Gratten für immer einen tiefen Ekel vor den männlichen
Umarmungen geschöpft, hat, frühzeitig verwitwet, alle Liel^haber
zurückgewiesen und ihr Liebesbedürfnis auf ihre Freundinnen
übertragen.
Ihr Gefühl gegen sie war das einer Liebenden, sie kannte
die Eifersucht und die Empfindlichkeit einer verliebten Seele, und
wenn die eine oder andere ihrer Freundinnen heiratete, war der
Hochzeitstag für Sappho ein Tag der Trauer.
Ihre Liebesschmerzen waren aber, bis sie Gleis kennen
lernte, nur vorübergehende gewesen. Gleis erst, die jugendliche
Athenerin f die mit ihrem infolge politischer Wirren aus Athen
verbannten Vater nach Mytilene gekommen war, flößte ihr eine
tiefe Leidenschaft ein und fand bei Sappho eine dauernde Aufs
nähme.
Menon, der Sohn des Pittakos, des vertriebenen Führers der
vom Tyrannen Mytilenes, Myrsilos, unterdrückten Partei, kehrt
im Verborgenen zurück, den Tyrannen zu stürzen. Er liebt Gleis
und sie, seine Gefühle erwidernd, wftre bereit, ihn zu heiraten,
aber Sappho will die Geliebte nicht verlieren. Mit allen Mitteln
der Überredung und den inständigsten Bitten fleht sie Gleis an,
„ihre Jungfräulichkeit nicht einem Manne, ihre zarten Glieder
nicht seinen rauhen Umarmungen preiszugeben'^
und schildert ihr in düsteren Farben die Hochzeitsnacht,
„die etwas Schreckliches ist, den Mann in ein Tier vers
wandelt" (S. 107).
Aus Dankbarkeit und Anhänglichkeit an Sappho entschließt
sich Gleis zuerst, auf den Geliebten zu verzichten, aber als Menon
erklärt, mit ihr in Mytilene bleiben zu wollen, da könnte Gleis
Menon heiraten, ohne zugleich auf die Nähe der Freundin ver»
ziehten zu müssen.
Doch Sappho will die Freundin nicht mit dem Manne teilen,
wütend ergießt sich der Ausbrach ihres gekränkten, beleidigten
Gefühls über das Liebespaar, dem sie ihre Rache ankündigt.
In dem zweiten Teil des Eomans tritt die homosexuelle
Leidenschaft Sapphos völlig zurück.
Neera, deren Liebe Menon verschmäht, rächt sich, indem sie
Menon dem Thyrannen als Verschwörer denunziert. Menon wird
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gegen juenon vergesseno, wui lün retten, es gelingt inr, den ly-
rannen, der sie besitzen zu dürfen wähnte, zu erdolchen. Menon
wird gerettet, seine Partei, unter Anführung Yon Pittakos, der in
Mytilene eintrifft, besiegt die Ankläger des Tyrannen. Menon
heiratet Cleis. Während der Hochzeitnacht stirbt Gleis, yergiftet
durch. einen Gifttrank, den Neera ftür Menon bestimmt hatte.
Der Verdacht, Cleis vergiftet zu haben, ftllt auf Sappho.
Halb wahnsinnig, eilt sie dem Meere zu, ungewiß, ob sie nicht
in dessen Fluten den Tod suchen soll.
Der Roman entbehrt der Einheit in der Motivation
und der inneren Geschlossenheit des Aufbaues.
In dem ersten Teil ist das homosexuelle Verhältnis
der Sappho zu Cleis in den Vordergrund gerückt und es
hat den Anschein, als würde sich der Hauptkonflikt und
die Katastrophe aus der Homosexualität Sapphos ent-
wickeln. Aber bald wird das Interesse völlig von der
umischen Liebe abgelenkt, der Roman nimmt eine von
ihr ganz unabhängige Richtung, die Handlungsweise der
Sappho verliert den Zusammenhang mit ihrem homo-
sexuellen Empfinden.
Morel hat mit sichtlichem Behagen sich in die gleich-
geschlechtlichen Neigungen der Dichterin zu Beginn des
Romans versenkt, mehr aber, um diesen poetisch und
zugleich auch etwas pikant zu wtLrzen, als der inneren
Notwendigkeit halber. So läßt er sich auch nicht die
Gelegenheit entgehen, ein besonderes Kapitel einem
Stimmungsbild zu widmen: Sappho, im Kreise ihrer
Freundinnen mit Gesang, Dichtung und philosophisch-
ästhetischem Gespräch sich vergnügend.
Die Psychologie der Sappho erscheint ziemlich
schwankend und unbestimmt. An dem gleichen Fehler
leidet die Charakteristik ihrer Homosexualität. Der
Dichter erklärt das umische Liebesleben seiner Heldin
aus dem durch den Geschlechtsverkehr mit dem un-
geliebten, alten Gatten erzeugten Ekel vor männlicher
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— 625 —
Umarmung und hebt andererseits wied(
Zeichen ihrer angeborenen Gynandrie her
Ihre flachen Hüften, ihre nervigen Anne, ih:
den Mangel an Grazie in ihrem Gange — ^^ei
eines Mannes^^ — sagten ihre Nebenbahlerinnen
Nach der etwas süßlich poetischen S<
homosexuellen Verhältnisses läßt Morel in d
Szene zwischen Sappbo und den Verlobt
Menon Töne kräftiger Sinnlichkeit zur Gel
In der gleichen Szene gibt er ein interess
antiker Moral und Empfindungs weise in d(
und Ruhe, mit der Menon die Vergan,
Geliebten erfährt: Er ist nicht nur einve
sie die Freundin auch noch nach der Ehe b<
er wird nicht im geringsten erschüttert i
Wut ausbrechend, sich des Vorbesitzes
rühmt,
^yderen Küsse sie vor ihm gekannt, von der
keit sie den besten Teil bereits genommen, wfihi
noch zum Nachtisch erscheine" (S. 135).
Morels Roman verrät Talent, aber mehi
Mache als echtes Temperament.
Ryner, Hans, La Alle manqu^e. Paris,
ceaux et Co.
Fran^ois von Taulane kommt als Knabe in c
geleitete Schule. Die gegenseitige Onanie in alle
in der Anstalt. Die meisten Lehrer und alle
dem Laster.
In Fran9ois regt sich frühzeitig ein anbei
bedürfnis. Er erinnert sich der unschuldigen Liel
Onkels und die Bilder lieber Kameraden bevöikei
Bald wird er das geschlechtliche Treiben um ihr
Den Verführungs versuch eines Lehrers sl
ebenso entflieht er den Armen des energischen h{i
der auch „ohne Liebe Freuden genießen kann.'*
Jahrbuch VI.
liebt, die Anstalt verlassen, überträgt er seine Liebe an Dargant
Dargant darf als erster der eigentliche Geliebte von Franyois sein.
Aber Fran^ois hat sich in Dargant getäuscht. Dargant hat nur
seine Eitelkeit befriedigen wollen, er brüstet sich offen mit der
Eroberung des bisher im Rufe des Spröden und Stolzen stehenden
Fran^ois.
Dieser, in seinem Gefühl und seiner Liebe tief gekränkt,
wird sich jetzt keinem mehr anschließen, er wird der Geliebte
eines jeden Mitschülers sein, sich jedem preisgeben. FranQois
wird auch der Begehrteste, Meistumworbene der Schule. Einer
nach dem andern darf ihn hinnehmen. Aber nur Einer konnte
ihn dauernd fesseln, nur für Einen empfindet er tiefere Anziehung,
für den kräftigen Pierre. Pierre, der krank war, als die Än-
derung in Francois Benehmen vor sich ging, verkehrt nach seiner
Genesung auch mit Francois. Aber er behandelte ihn mit Ver^
achtung wie eine Dirne. Doch von Pierre läßt sich Francois
alles gefallen; seine Brutalität inmitten der Liebkosungen erhöht
nur Francois Anhänglichkeit und sein Gefühl sklavischer Unter-
würfigkeit zu dem geliebten Pierre.
Als Francois die Schule verlassen hat, verliebt er sich in
eine Kousine, die seine Liebe erwidert. Beide gehen aufs Land,
wo Lisa sich Fran9ois hingibt Fran9ois hat jedoch nicht die
Fähigkeit zum normalen Geschlechtsverkehr. Ein Versuch ge-
lingt zwar, aber tagelange Krankheit ist die Folge. Jede weitere
Bemühung muß er mit erschöpfendem Siechtum bezahlen. Lisa
hält längere Zeit bei Francois in Liebe und Geduld aus, doch
allmählich erkaltet ihre Liebe an der Seite des unmännlichen
Mannes. Eines Tages verschwindet sie mit Pierre, der bei dem
Paar zu Besuch geweilt hatte.
Franrois versucht im Verkehr mit Dirnen seine Männlich-
lichkeit zu erringen, aber vergeblich, endlich findet er eine Art
Gynander, eine Dirne, die wie ein Jüngling aussieht, die imstande
ist, ihn wochenlang zu fesseln, da sie sich mit anderen Lieb-
kosungen, als den normalen, deren Francois unfähig ist, begnügt
und daran Freude findet. Aber auch sie verläßt ihn eines Tages,
um einem kräftigen Manne zu folgen.
Francois verweichlicht immer mehr, das Weib wird ihm völlig
zum Ekel, nur männliche Statuen erregen noch sein Interesse, im An-
legen von Weiberkleidern und Schmuck findet er sein Vergnügen.
Aber den männlichen Liebkosungen will er sich nicht mehr hin-
geben, er fuhrt einen K«ampf gegen sich selbst Eines Tages er-
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— 627 —
hält er einen Brief von Pierre, der ihm traurig und reuig seine
,,Rückkehr zu dem einzigen Herzen, das ihn geliebt, zur einzig
wahren Schönheit meldet." Fraii^ois weiß, daß er seinem Trieb
nicht wird widerstehen können, daß er in Pierres Arme sinken
wird. Aber er will meinem als schimpflich empfundenen Trieb
entfliehen und tötet sich.
Ein zerfahrenes, stellenweise an das Pornographische
grenzende, wenig empfehlenswertes, jedenfalls verfehltes
Buch, dieses „verfehlte Mädchen."
Was Verfasser beabsichtigt hat, bleibt unklar. War
es die Sittenschilderung jugendliclier Laster, so verdient
sie den Vorwurf der Unwahrheit und Übertreibung. Wenn
auch in mauchen Instituten^ unerfreuliche Zustände in
geschlechtlicher Beziehung herrschen mögen — mir selbst
sind in meiner Jugend ähnliche Verhältnisse nicht bekannt
geworden — , so zweifle ich doch,' daß es Institute gibt,
worin eine derartige Mißwirtschaft, eine derartige Parodie
der Liebe zwischen Knaben existiere.
Diese Unwahrheit wäre verzeihlich, wenn die Schil-
derung der Sittenzustände wenigstens eine künstlerische
Verkörperung gefunden hätte, etwa in der romantischen
überlebensgroßen Zola-Manier; statt dessen jeder Mangel
packender Formung, ein kleinhches Haftenbleiben an
den unsauberen Irrungen des Helden, um den sich die
Gesamtdichtung dreht.
Kher als eine Sittenschilderung könnte man geneigt
sein, das Buch als eine Studie der unheilvollen Wirkungen
der Jugendsünden auf die spätere Lebensgestaltung des
,,Helden" aufzufassen. Aber wie schon der Titel aus-
drückt, wird er gar nicht erst durch Versuchungen oder
schlechte Gewohnheiten homosexuell, sondern er hat seine
Homosexualität mit auf die Welt gebracht. An ver-
schiedenen Stellen weist Verfasser auf den Zwiespalt
zwischen seiner weiblichen Seele und seinen Organen, auf
sein weibisches Fühlen und seinen männlichen Körper hin.
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sexuell geborene Mann, der schon vor dem Eintritt in
das Institut von männlichen Liebkosungen träumte, nie-
mals zu den Liebestaten des echten Mannes befähigt
gewesen.
Berechtigt somit war nur die Charakterisierung des
verfehlten Mädchens, wie auch die Schilderung der Dis-
harmonie und des Unglücks des geborenen Homosexuellen,
der nicht wie die übrigen Schüler in lasterhafter Sinn-
lichkeit und geschlechtlichen Spielereien aufgehen kann,
sondern dazu verdammt ist, sein Leben lang ein unerreich-
bares Ideal zu verfolgen, der schon in der Jugend nach
Liebe lechzt und sie nicht bei den lasterhaften Kameraden
und noch weniger später bei dem Weib finden wird.
Schließlich enthalten auch einige Stellen manche für die
Psychologie des jugendlichen üraniers verständnisvolle
Züge, die ein gewisses Interesse beanspruchen. Völlig
unnütz und überflüssig war es aber, wenn man von
diesem Gesichtspunkte aus das Buch betrachtet, zwei
Drittel des Romanes mit der breiten Schilderung ge-
schlechtlicher Kinderfreuden auszufüllen; sollte nicht
dadurch der Gedanke nahe gelegt werden, daß es dem
Verfasser um unlautere Nebenabsichten zu tun war, ein
Gedanke, den die scheußliche Umschlagszeichnung — ein
lüsterner, behäbig-häßlicher Mönch, der einen schönen
Knaben auf dem Schoß hält — verstärkt.
Siegfried, Freuiidesmimie. Zehn Gedichte. Druck
von Reichardt, Groitsch i. S.
Das beste ist: „Des Freundes Antlitz", eine ziemlich im-
nnutige und anziehende Beschreibung der Reize des Freundes.
Die übrigen Gedichte enthalten fast alle teils recht
holperige, teils banale Verse und hätten eine VeröflFent>-
lichung kaum verdient.
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— 629 —
Stadler, £mst, Frenudlnnen« Ein lyrisches Spiel, im
„Magazin für Literatur", 2. Februarlieft, 1904.
Unter dem Einfluß der mondbeglänztcn herrlichen Sommer-
nacht und ihrer aufkeimenden Sinnlichkeit sinken sich die Freun-
dinnen Silvia, die 15 jährige, und Bianca, die 18jährige, liebe-
lechzend in die Arme:
„0 komm! Das Leben bräutlich glühend winkt
Uns zu und lockt. Die Fesseln sind gerissen . . .
Hörst du des Windes Wiegen in den Zweigen
Und brünstig dunkle Stimmen schwüler Nacht
Und Geigenklang? Das ist der Hochzeitsreigen,
Der uns mit Spiel und Singen heimgebracht.
Fühlst du das Leuchten, das am Esti-ich schaukelt,
Von spätem Ampelglühen und dem Glanz
Des weißen Monds? Das ist der Fackel tanz.
Der unsre Hochzeitsnacht flatternd umgaukelt!"
Das Gedicht in seiner musikalischen, poesievollen
Sprache, yoU hinreißenden Schwungs und prächtiger,
glutvoller Empfindung, zaubert die ganze Atmosphäre der
berückenden Sommernacht mit ihren berauschenden
Düften, Tönen und Bildern vor Augen, unter deren
schwülem Hauch die sprossenden Jugendtriebe, die jung-
fräulichen „Sehnsüchte'^ auflodern.
„Es lebt ein Hauch von wilden, grenzenlosen
Sehnsüchten durch den Einklang dieser Lieder,
Und ringsum glüht und strömt der weiße Flieder
Und mischt betäubend sich dem Duft der Rosen.
Wenn weit die grauen Stämme dampfend gluten.
Wie rotgeschweißtes Erz, Scharlach umronnen,
Und alle Brunnen, funkenübergossen,
In heißen Güssen schluchzend sich verbluten.
Dann tönt so wund und weh ihr dunkles Rauschen
Wie Regen, der auf welke Blätter rinnt,
Wie eine Seele, die im Flnstem sinnt ....
Dann könnt' ich Stunden ihren Liedern lauschen."
Auch der psychologisch -dramatische Aufbau zeigt
künstlerisches Feingefühl in der geschickten Steigerung
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— 630 —
der erwachenden, allmählich wachsenden Liebessehnsucht,
die unter der Wucht der glühenden Leidenschaft sich
bis in die Natur hineinprojizierend sinnliche Gestalten in
den feehaft beleuchteten Umrissen vorgaukelt, um schließ-
lich in der Umarmung der leibhaften Freundin ihr end-
liches Ziel und ihre stürmische Erfüllung zu finden.
Das Werkchen des kaum 20jährigen Dichters be-
rechtigt zu den schönsten Hoffnungen.
Stangen, £agen, Antlnonslleder. Mit Anhang: Die
Insel der Seligen. Zürich, 1903, Verlag von Cäsar
Schmidt.
Die 48 Gedichte tragen alle bis auf drei: Im Eilzug (S. 37),
Warum (S. 38) und Blauleuchtende Hortensienblöten (S. 52) homo-
sexuellen Charakter. Verschiedene Gruppen lassen sich unter-
scheiden :
I. Das Leid der verpönten Liebe, das Aufbäumen gegen
die Vorurteile der feindseligen Welt bringen zum Ausdruck gleich
das £inleitung8gedicht:
1. Antinous mein Gott.
2. Sünde (S. 11).
3. Mit roten Verben en krönen (S. 24).
4. In deiner Liebe (S. 43).
5. Gassenkönig (S. 42).
6. Narkissos (S. 51).
Auch für die Uranier nahen bessere Zeiten:
„Die Schuld ist tot, die Liebe atmet frei,
,Vae victis* gellt's, ein tausendkehliger Schrei.
Narkissos siegt, sein Banner weht im Licht . . .
— Zum Leben reift, was jetzt noch Traumgesicht.**
II. Eine zweite Gruppe von Gedichten ließe sich über-
schreiben: Liebessehnsucht und Liebesträume.
Der Dichter fühlt sich nicht mehr als Verfehmter, «eine
Liebe empfindet er nicht als die geächtete, verpönte; er sehnt
sich nach der Erfüllung seiner Wünsche, nach Liebe^glück und
Lebensfreudigkeit.
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— 631 —
1. Meine Sehnsucht (S. 18).
„Meine Sehnsucht ist wild, meine Sehnsu
Sie steigt in die tiefsten Schächte,
Sie ringt mit dem gi'oßeu Entsagangslos
Und fordert Antinousnächte.*'
2. Ein Brief blatt (S, 19).
3. Ein Prinzlein war es . . . (S. 20).
4. Sommernachtstriebe.
5. Wonnetraum.
6. Blütenelf (S. 34).
7. In den Fittig der Sonne (S. 35).
8. Aus goldenen Schalen (S. 39).
9. Ein Hauch vom Paradies (S. 42).
10. Ijotoskranz.
III. Eine dritte Serie von Gedichten schi
des Geliebten und das genossene Liebosglück,
sinnlich glühenden Tonen.
1. Gottesdienst (S. 8).
2. In einer Vollmondnacht (S. 0).
3. Auf goldner Sonnenbahn (S. 9).
4. Zwei junge Panter (S. 14).
5. Herzblut (S. 15).
6. Tiger (S. 16).
7. Saul (S. 17).
8. Brautnacht (S. 22).
9. Es soll alles wieder blühen (S. 23).
10. Komm her (S. 25).
11. Molluskenhand (S. 27).
12. Das ist das Einzige (S. 28).
13. Wehre nicht (S. 30).
14. Minne in Minne (S. 33).
15. Flut (S. 40).
16. So bin ich beseligt (S. 41).
17. Guglielmo (S. 50).
IV. Der Dichter verliert den Geliebten,
dichte schildert seinen Schmerz und seine We
1. Salome (S. 21).
2. Ein Ring (S. 44).
3. Strandgut (S. 45).
4. Lau mich (S. 46).
5. Erscheinung (S. 48—49).
6. Manchmal im Traum (S. 55).
Der Geliebte hat in anderen Armen das Glück ge-
sucht.
7. Antinous (S. 55).
V. Drei Gedichte schildern fremde homosexuelle Gefühle.
1. Caesarion (S. 12).
Die Liebe zwischen Friedrich dem Großen und
Caesarion.
2. Es war einmal ein König (S. 31).
Anspielung auf das Schicksal Ludwig IL von Bayern.
3. Simon Johanna hast du mich lieb (S. 32).
Auch Stangens Gedichte wie diejenigen von Hamacher
und Brand sind nicht dichterische Spielereien mit anor-
malen Trieben, sondern Ausfluß eigensten Empfindens.
Diese sentimentale Gestaltung der homosexuellen Leiden-
schaft beschäftigt den Dichter nicht allein, auch vor der
Ausmalung der sinnlichen Glut, des in der Erfüllung
seiner Wünsche schwelgenden Liebesdranges schreckt er
nicht zurück. Einige Gedichte gehen sogar ziemlich weit
in dem geschlechtlichen Moment, unter andern z. B. das
gewagte Gedicht: „Molluskenhand."
Stangens Poesie legt mehr Zeugnis von guten Willen,
als von echter dichterischer Begabung ab.
Der Rythmus und die Metrik wandeln oft recht
holprige Bahnen. Nicht schlecht gelungene, teilweise
hübsche Sachen wechseln oft mit weniger schönen Ge-
dichten, in denen unpoetische Wortstellungen, prosaische
Verse, poetisch-banale Strophen auffallen.
An die Gedichtsammlung schließt sich eine Novelle in
Prosa an:
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— 633 —
Dlo Insel der Seligen.
«Woldemar Lindt, der Dichter, besucht ei
Insel in der Havel, — die Insel der Seligen -
Zeit in Abgescliiedenheit und Einsamkeit sein
gessen. Das Einzige, was er auf der Welt liel
gestorben, seine Frau betrügt ihn mit ihrem Vi
hat Woldemar an Selbstmord gedacht, um* au
entsetzlichen Ehe zu entfliehen.
Horst, der „unheimlich schöne'^ Kellner
Wirtschaft, in der Woldemar absteigt, erre
Beide fühlen sich zueinander hingezogen. Wol
Zutrauen von Horst, der ihm sein Lebensschicl
Nach Verbüßung einer fünflährigen GefS
Totschlags, den er in einer Zornesaufwallung a
seiner Geliebten verübt, wandten sich Familie
ihm ab, und so mußte er, um nicht zu verhuuj
der Wirtschaft auf der einsamen Insel annehm
Woldemar, der jetzt Horst völlig kennt
erduldet, wird sich klar über das seltsame Gefü
kiimpft und das er sich nicht erklären konnte.
Freund und Geliebter soll ihm Horst sein
„Ich liebe dich, Horst", bricht er aus, „i
ich bisher nie geliebt habe, viel, viel stärker u
je das Weib geliebt habe. Und wenn das Sür
„Sünde?'* Wie ein heller, jubelnder Schre
von Horsts Mundo. „So laß es doch Sünde sc
nur in den Himmel führt." Er stürzt Wolden
umklammert seine Knie.
„Wir sind beide durch Staub und Sündi
und Jammer gegangen, wir sind beide über
gekommen." „Ja, wir sind über das Weib
Aber würde je ein Weib auch so gehandel
Woldemar? Nie!"
Seine Augen streben in des Freundes Bli
Antinous! Wie einst Hadrian, der Despot, we
durch die Liebe zu seinem Liebling, so jetzt ic
Woldemar zieht den Freund empor, an s<
Herz. „Ja, wie Hadrian und Antinous, wir hi
Die Freunde, die sich endlich in ihrem e
funden, sie dünken sich am Ziel aller Wünsch
auf dem Gipfel der Seligkeit.
schön diese Stunde", da springt Woldemar jäh empor. „Zum
Sterben schön, sagst du? Ja, du hast Recht. Die Welt^ die
kleine, hämische Welt von heute, würde in ihrem Unverständnis
uns doch zu Tode hetzen — sie hätte für unser heiliges, großes
Lieben nur Steinwürfe und Geißelhiebe. Komm, mein Geliebter,
komm — — "
Beide sind entschlossen zu sterben, sie legen ihre Kleidung
ab und nackt, festumschlungen steigen sie in die Fluten, in den
freiwilligen Tod.
Höher als Stangens Gedichte schätze ich seine poesie-
volle Prosa. Überhaupt ist die interessanteste Seite der
Novelle der Stimmungsgehalt und das poetisch Male-
rische.
Besonders über die Schlußszene breitet sich Böcklin-
sche Stimmung, über das Bild dieser zwei Männer, Schiff-
brüchigen des Lebens und der Frauenliebe, die sich in
inniger Männerliebe finden und der Welt entfliehend, in
der hellen Mondnacht eng umschlungen, hüllenlos in die
silbernen Fluten hinabgleiten.
Das Psychologische dagegen steht auf schwachen
Füßen.
Zunächst kann Horst sein Unglück, seine Achtung
gar nicht auf Konto getäuschter Liebe setzen, sondern
nur auf einen bösen Zufall, die Hartherzigkeit seiner
Familie, die Vorurteile der Welt machten ihn zum Aus-
gestoßenen, also nicht über das Weib, sondern yielmehr
über sein unglückliches Schicksal hinweg gelangt er zur
Homosexualität. Die Entwicklung und der Ausbruch
der konträren Liebe von Horst und Lindt muß man
dem Verfasser aufs Wort glauben, den Beweis ihrer
Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit ist er schuldig
geblieben.
Die Anziehung der beiden Weltmüden, das homo-
sexuelle Gefühl, in das ihr Lebenslos mündet, sind wohl
eher symbolistisch für die Seelenverwandtschaft und den
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- 635 —
Schicksalsparallelismiis beider Enterbten
verstehen. Die verfehmte Liebe, die si
sie nicht bedeuten den passenden Port
Refugium für die Weltverstoßenen, wo]
um in ihr gegenseitiges Mitleiden, Tr<
und die Kraft zum befreienden, weltübe
zu finden?
yiylen, Ren6e, 1. Sapho. Traduction
texte grec. 2. Evocations. Paris,
Die wenigen erhaltenen, der Dichteriu
geschriebenen Bruchstücke — im Urtext um
Übersetzung abgedruckt — werden paraphrac
weniger langen Gedichten.
Auch die von Swinbume durch Sapphos G«
Verse — in englischem Text und französische
hat Vivien beigefügt.
In dem Gedichtband „Evocations" wil
Leidenschaft und ihre verschiedenen G(
Auge zaubern. Die Gedichte haben in
ungefähr denselben Charakter, die Verse
tönender, abgeklärter, angenehmer Sprac
im allgemeinen etwas kraft- und farbl«
etwas fade Milch gereicht, wo man ^
erwarten durfte. Mehr Temperament,
hätte man gewünscht.
Den meisten Gedichten aus „Evo«
Frauen besingen, sieht man an sich dei
Charakter nicht an, sie sind nur homos
Verse gleichsam der Dichterin Sappho in
werden.
In einigen dagegen tritt offen die 1
Frau zu Frau aus dem Gedicht selbst ]
in Salto (S. 70); Gorgo (S. 83); Soir (S. 9
(S. 107); La Faunesse (S. 137); Les Noyf
Beide letzteren Gedichte gehören mit zu den hesten
der Sammlung und sind von kräftigeren, temperament-
volleren Akzenten.
Ein interessantes Sonett — Sonett k l'Androgyne — erinnert
ein wenig an Theophile Gautiers berühmtes, durch den Anblick
des Hermaphroditen im Louvre veranlaßtes Gedicht in ,,Emaux
et Cam^es":
Souris, Amantc blonde, ou reve sombre araant,
Ton Stre double attire, ainsi qu'un double aimant,
Et ta chair bi-üle avec l'ardeur froide d'une cierge
Mon coeur ddconcert^ se trouble quand je vois
Ton front pensif de prince et tes yeux bleus de vierge,
Tantöt Tun, tantöt l'Autre, et les Deux ä la fois.
Wedekind, Frank, Mlne-Haha oder Über die körper-
liche Erziehung der Jungen Mädchen. München,
1903, Albert Langen.
Die phantastisch-parodistische Erzählung von den Mädchen,
die in einem Haus mitten in einem Pai'k hauptsächlich zum Tanz
erzogen werden, enthält vielleicht homosexuelle Andeutungen (z.
vgl. S. 58—59). Das häßliche Mädchen, Margaretha, die ihr ganzes
Leben nicht aus dem Park herauskam, weil sie zu einem an-
dern Mädchen gegangen ist, als sie ein Rind war.
Bei Wedekind ist man jedoch nie recht sicher, ob
man den richtigen Sinn erraten hat.
Willy, Clandlne s'en ra. Roman. Paris, 1903, Ollen-
dorf.
Willy setzt in diesem IV. Band die Lebensgeschichte
seiner ausgelassenen urwüchsigen Claudine fort. Das
Homosexuelle tritt im Gegensatz zu den früheren Bänden
in den Hintergrund und Claudine selber spielt nicht mehr
die Homosexuelle.
Auf die Geschichte — in Tagebuchfonn — einer Jungver-
heirateten Frau, der bescheidenen, schüchternen, zurückgezogenen
Annie und ihre Charakterumwandlung konzentriert sich das In-
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— 637 —
teresse. Anoies Ehemann Alain hat eine Reise nach Amerika
angetreten und seine junge Frau zu Hause zurückgelassen, nicht
ohne sie mit den eingehendsten VerhaltungsmaBregeln verschen
zu haben. Besonders vor allzu großer Intimität mit dem Ehepaar
Renaud-Claudine hat er sie gewarnt. Aber durch ihre Schwägerin
Martha, eine Bekannte Ciaudine's, wird Annie auch mit dieser
näher befreundet. Im modischen Bad und später in Bayreuth
treffen Annie und Marthe auch mit Claudine zusammen.
Annie hat ihren Mann, den sie seit ihrer Kindheit kannte,
zu lieben geglaubt. Er, ein positiver, kühler, jeder Leidenschaft
abholder Ordnungsmensch, hat Annie stets als willenloses Wesen,
als Kind, als unterwürfige Gattin behandelt. Sie hat nie gewagt,
einen Willen, einen selbständigen Impuls zu haben. Er hat sie
nie in iliren Gefühlen verstanden, nicht einmal ihre zurückgedrängte
Sinnlichkeit zu befriedigen gewußt.
Der Umgang mit ihrer Schwägerin, der skrupellosen, be*
rechnenden Marthe und besonders mit der übermütigen, temp&:
ramentvoUen Claudine. sowie die Abwesenheit von ihrem Gatten, der
ihr in anderem Lichte wie bisher erscheint, bewirken eine Um-
wandlung in ihrem Charakter. Ihre Individunlität entwickelt sich,
ihr Liebesbedürfnis erwacht und ihr Herz und ihre Sinne sehnen
sich nach einer gleichempfindenden Seele. Mitten in der aus-
gelassenen Gesellschaft bewahrt Annie eine gewisse Unschuld
und Naivität. Von dem früheren Verhältnis Claudines und Rezis
weiß sie nichts; sie versteht nicht die Andeutungen ^ die Marthe,
die exzentrische Calliope und Claudine über Rezi wechseln. Auch
sonst ist ihr Manches in den gewagten Gesprächen der drei
Frauen fremd.
Annie erfahrt, daß ihr Gatte sie früher mit einer ihrer Be-
kannten betrogen. Sie ist entschlossen, sich von ihm zu trennen.
Bei Claudine, die ihr Vertrauen und ihre Zuneigung gewonnen,
sucht sie Rat.
Claudine ist ganz von der Liebe zu ihrem Manne gefangen
genommen, beide sind ineinander verliebt, wie am Tage der Ver-
lobung. Diese Liebe gibt ihr die Kraft, die reizende Annie nicht
zu verführen, obgleich sie in Bayreuth fast der Versuchung unter=
legen wäre. Aus der Ferne gesteht Claudine der Freundin das
Gefühl, das sie in ihr erweckt:
„Wie sehne ich mich nach Ihnen, Annie, die rosenduftende!
Sie müssen mir nicht grollen. Ich bin nur ein armes, die Schön-
heit, die Schwäche und das Zutrauen liebendes Tierchen, und ich
habe Mühe, es zu begreifen, daß ich, wenn ein Seelchen wie das
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— 638 —
Ihrige, auf mich sich stützt, wenn ein halb geöffneter Mund, wie
der Ilirige, nach meinem sich neigt, nicht beide mit einem Kusse
verschließen soll. Ich verstehe es nicht sehr gut, sage ich Ihnen,
obgleich man mir es erklärt hat. Man hat Ihnen wahrscheinlich,
Annic, von mir und einer Freundin gesprochen, die ich zu ein-
fach , zu völlig liebte. Es war ein böses und reizendes Mädchen,
diese Rezi, die zwischen Renaud und mich ihre blonde, nackte
Grazie stellen wollte und die lieblose Freude sich zu ver-
schaffen suchte, uns beide zu verraten. Ihretwegen habe ich Re-
naud — und auch Claudiue — versprochen, zu vergessen, daß es
hübsche, schwache und verlockende Kreaturen geben kann, die
eine Geste von mir zu entzücken und zu unterjochen vermöchte.
Ich küsse von den Lidern bis zum Kinn Ihr Antlitz ....
Aus so weiter Feme verlieren die Küsse ihr Gift und ich kann
einen Augenblick ohne Reue unsem Traum in Bayreuth weiter
verfolgen" (S. 259—62).
Später besucht Claudine Annie. Sic rät ihr entschieden,
ihren Mann zu verlassen, da die ihn nicht liebe, und auf die
wahre Liebe zu warten, die sicher ihr begegnen wird. Claudine
fühlt, daß Annie bereit wäre, diese Liebe bei Claudine zu finden.
Aber sie darf und will nicht Annies Neigung nachgeben.
Beide Freundinnen trennen sich. Claudine selber wii'd sich
von der Welt und ihren Freundinnen zurückziehen und nur ihrem
Renaud leben. Annic wird sich von Alain trennen, in der
weiten Welt umherirrend, das Glück und die Liebe suchen, die
sie noch nicht gefunden.
„Claudine s'en va." Die frühere Homosexuelle
Claudine verschwindet, wandelt sich um, so könnte man
den Titel deuten. Die große, alles verzehrende Liebe
Claudines zu ihrem Gatten hat die homosexuelle Neigung
überwunden, hat ihr die Kraft der Entsagung gegeben,
selbst dann, als die jugendlichen Reize der schönen
Annie sie locken und ein ZugriflF genügte, um die frische
Frauenblüte zu pflücken. Nur geringen Kampf kostet
ihr die Überwindung der homosexuellen Empfindung; im
Guten und Schlechten stets instinktiv und impulsiv
handelnd, drängt ihre Leidenschaft zu Renaud ihre auf-
keimenden Begehrungen zurück und macht die Untreue
zur Unmöglichkeit.
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— 639 -
Und wie die flammende Liebe zam Gatten den Aus-
bruch der unter der Asche lodernden Glut der homo-
sexuellen Lockungen zurückdämmt, so lassen der Mangel
echte^ Liebe die Ode und Leere in Annies Seele, ihr
ungestilltes Liebesbedürfnis, ihre Sehnsucht nach liebe-
vollem Verständnis sie zur leichten Beute gleichgeschlecht-
licher Neigung werden, bringen eine Umwandlung in
ihren Gefühlen hervor und führen sie widerstandslos den
Armen einer Freundin, den Gefilden Lesbos zu.
Willy betrachtet in diesem vierten Roman seiner
Claudine-Serie, wie in den drei früheren, die gleich-
geschlechtliche weibliche Liebe mit entschuldbarem Lächeln,
mit freundlicher Milde. Sie erscheint ihm als eine bei jeder
Frau zu erwartende, psychologische Möglichkeit, als eine
gleichsam in dem normalen Bereich der Leidenschaft
liegende Neigung. Sie ist ihm weder Perversion, noch
Perversität, vielmehr eine Art natürliche Modifikation der
Empfindungsweise der normalen Frau.
Die lesbischen Motive bieten Willy willkommene
Gelegenheit zu psychologischen Finessen und pikanten
Situationen, ohne daB er sich kümmerte, ob seine Dar-
stellung der Wirklichkeit entspricht und ob die logische
Charakterentwicklung darunter leidet. Auch „Claudine
s'en va" erfreut durch die sprudelnde Verve, durch die
ergötzlichen, oft an das Karikaturhafte streifende
Momentphotographie der Personen mit ihren Gesten und
Reden, durch die gewürzte, saftige Sprache der welt-
männischen Pariser und Pariserinnen. Willys Virtuosität
und geistreiches Talent verführt ihn allerdings manchmal
übers Ziel zu schießen und artet in die Sucht zu ver-
blüffen und in das unverkennbare Streben, den Gaumen*
mit seltenen Leckerbissen zu kitzeln, aus.
Die mäDDliche Homosexualität wird nur an einör Stelle
gestreift, in dem witzsprühenden, pöbelhaft geistreichen Brief des
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— 640 —
Mneikkritikers Mangis. Er erzählt von eiDcm serbischen Journa-
listen, der Gewohnheiten k la Cambacer^s gehabt habe.
Cambac6rfe8, der bekannte Minister Napoleon I. und
einer der Hauptredaktoren des Code civil soll homosexuell
gewesen sein.
Beyerleln, Franz Adam, Jena oder Sedan? Berlin^
1903, Vita.
Inmitten der Nacht und Schattenseiten des Militaris-
mus, die Beyerlein in seinem vielbesprochenen Roman
vor Augen führt, glänzen auch Lichtpunkte, unter denen
besonders erstrahlt das Herz und Gemüt erhebende,
rührende Freundschaftsverhältnis zwischen dem kräftigen
Bauernburschen Vogt und dem schmächtigen städtischen
Schreiber Klitzing. Beyerlein hat meiner Ansicht nach
dabei nicht an Homosexualität gedacht, aber die umische
Färbung edelster Art läßt sich nicht abstreiten.
Gleich am ersten Tag ihres Soldatenlebens werden die beiden
Burschen Freunde. Voigt sucht, wo er nur kann, den unbe-
holfenen, eben erst aus dem Krankenhaus entlassenen Klitzing
beizaspringen. Er sorgt für ihn, wie eine Mutter für ihr Kind.
Vogt trägt für den Kameraden, den die Soldaten „verhauen
wollen", einen blutigen Kopf davon. Aus Dankbarkeit und
Rührung umarmt Klitzing Vogt
„Da schlug plötzlich Klitzing die Arme um die Schultern
Vogts und küßte den Kameraden." Und Vogt drückte den
schmächtigen Schreiber fest an sich und erwiderte:
„Heinrich, so mach doch kein Aufhebens davon! Du bist
doch mein lieber Freund!" (S. 153.) Beide meiden die Dirnen.
„Begreifst du, was die andern an den Frauenzimmern finden?" fragt
Vogt Klitzing. Nein, wahrhaftig nicht. Du machst Dir wohl
überhaupt nichts aus Frauenzimmern." Der Schreiber schüttelte
^verneinend den Kopf.
„Und Du Franz!" erkundigte er sich. „Ich auch nicht. Jetzt
wenigstens nicht." Es war bei Beiden die Wahrheit. Das Leben
war ihnen in so anhaltender Arbeit entflohen, daß sie niemals die
Muße ge'funden hatten, sich mit Liebeleien abzugeben. Und was
man nicht kannte, vermißte man nicht" (S. 282).
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— 641 -
Und S. 401. „Vogt überlegte, wie merkwürdig es doch war,
daß er so wenig für die Franenzimmer übrig hatte. Hin und
wieder gefiel ihm wohl ein besonders hübsches Mädchen, und er
hätte es auch ganz gern recht tüchtig beim Kopf genommen und
geküßt, aber dazu war er allemal zu schüchtern und bei den ge-
malten Frauenzimmern wollte er nicht in die Lehre gehen."
Vogt teilt mit dem Freunde die Sendungen des Vaters, er
nimmt ihn mit nach Hause in Urlaub, wo Klitzing zum ersten
Mal in seinem Leben wahres Glück empfindet.
Um den in die Zugtaue verwickelten Vogt vor dem Huf-
schlag des ausschlagenden Pferdes zu retten, stürzt sich Klitzing
dazwischen und wird tötlich getroffen. Vogt möchte alles ver-
suchen, um den Freund dem Tode zu entreißen. In rührender
Naivität denkt er daran, durch Einführung des eigenen Blutes
dem Sterbenden die Gesundheit wieder zu geben. Aber ELlitzing
ist verloren. Seit des Schreiberleins Tod ist für Vogt die Freude
am Soldatenleben vorbei; stets traurig und entmutigt verrichtet
er seinen Dienst, seit ihn die Nähe des Freundes nicht mehr
erhellt
Jahrbuch VI. 41
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Teil III.
Besprechungen.
1. Besprechungen des Jahrbuchs.
Ärztliche Zentralzeitung, 31. Oktober (Besprechung
von Bolgar).
Beilage der Charlottenburger Zeitung Neue Zeit,
15. Dezember.
Breslauer Morgenzeitung, 23. März.
Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychia-
trie, 15. Oktober (Besprechung des Jahrbuchs IV von
Flatau).
Es werde Licht, Januarnummer 1904.
Die Feder, 1. September und 1. Oktober.
General -Anzeiger (Magdeburger Tageblatt), 23. Oktober.
Literatar- und Unterhaltungsblatt (Beilage des
Hamburger Fremdenblattes), 10. Oktober.
Medice, 26. August.
Der Mensch, 12. Dezember (Besprechung von Dr. Kiefer).
Monatsschrift für Soziale Medizin, Heft 3 (Be-
sprechung von Rechtsanwalt Dr. Fuld-Mainz).
Betont wird, daß die früheren zornigen Auslassungen über
das Erscheinen des Jahrbuchs nachgelassen hätten.
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— 643 —
Selbst die Gegner der Bestrebungen müßten anerkennen, daß
die Aufsätze des Jahrbuchs sich jeder Frivolität fernhielten und
unter dem Gesichtspunkt strengster Wissenschaftlicbkeit und Sitt-
lichkeit die Probleme erörterten. Heute werde die Existenz-
berechtigung des Jahrbuchs kaum noch bestritten.
Münchener Medizinische Wochenschrift, 2. Februar
1904 (Besprechung Ton Bleuler-Burghölzli).
Bleuler stimmt mit Hirschfeld darin überein , daß Über-
sättigung unter den Ursachen des Uranismus keine Rolle spiele*
Dagegen will er mehr Urninge von wenig lobenswerten Charakter-
eigenschaften als Höherstehende in seiner Praxis getroffen haben.
Der Naturarzt, August (Besprechung Ton Meienreis)
und Februar 1904 (Besprechung von Hans Rau).
Neue Zeit, Nr. 51, 21. Jahrg. (Besprechung von Kreowski).
Neue Medizinische Presse, 20. September.
Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift,
24. Oktober.
Reformblätter, Novembernummer, Was ist Homo-
sexualität? Aufklärende Besprechung der Homo-
sexualität an der Hand der Jahrbücher.
Schmidts Jahrbücher, S. 107 u. Januarnummer 1904,
S. 110 (Besprechung von Möbius).
Weekblad van Het Recht, 4. November.
Wiener Klinische Wochenschrift, 25. Oktober.
Zukunft, 14. November (Selbstanzeige von Dr. Hirsch-
feld).
2. Besprechangen des „Urnischen Menschen^^
Äskulap, Beiblatt der Allgemeinen Deutschen üni-
versitätszeitung, 1. März 1904.
Archiv für Kriminal-Anthropologie und Krimi-
nalistik, Bd. XII, Heft 2 — 3, (Besprechung von
Näcke).
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— 644 —
Archiv für physikalisch-diätische Therapie, in der
ärztlichen Praxis, Julinummer.
Deutsche Medizinal-Zeitung, 17. August (Besprechung
von Preuß).
Deutsche Warte, ünterhaltungsblatt, 18. Juni.
Kampf, Nr. 100 (Besprechung von Senna Hoy).
Magazin für Literatur, zweites Januarheft 1904 (Be-
sprechung von Gaulke).
Medice, 2. September.
Der Mensch, 17. September.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie,
Bd. XIV, Heft 4 (Besprechung von Lilienstein-
Bad Nauheim).
Enthält zugleich Besprechung von Blochs „Beiträge zur
Ätiologie der Psychopathia sexualis". Referent hält Blochs Er-
klärung der Homosexualität aus Variationsbedürfnis für unmög-
lich. Blocks Ansicht dürfe mehr als das Resultat eifrigen {^ite-
raturstudiums, als der Erfahrung und Beobachtung von umranken
aufzufassen sein.
Neue Medizinische Presse, 20. Juli.
Politisch-A.nthropologische Revue, November.
Reformblätter, Juli.
Hervorgehoben wird, daß wenn nur ein Zehntel aller Arbeiter
einen ähnlichen Charakter hätten wie der umische Arbeiter,
dessen Biographie Hirschfeld mitteile, es keine Arbeiterfrage gäbe.
Schmidts Jahrbücher (Besprechung von Möbius),
(vgl. oben).
Unter sämtlichen obigen Besprechungen des Jahrbuchs und
des „Urnischen Menschen" ist eigentlich nur eine, die von Preuß
in der Deutscheu Medizinal-Zeitung, die sieh den Anschauungen
Hirschfelds nicht in dem Kernpunkte anschließt. Allerdings
widerspricht Preuß nicht direkt, er hebt sogar hervor, daß man
Hirschfelds Anschauung von der Entstehung der Homosexualität
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— 645 —
nicht ohne weiteres unbeachtet lassen könne, meint aber, man
müsse erst abwarten, bis die Wogen der Erregung sich gelegt
und eine exakte Forschung sine ira cum studio Klarheit ge-
bracht habe.
Irrtümlich ist die Behauptung von Preuß, daß die
meisten von Hirschfeld untersuchten Homosexuellen den
besseren und besten Ständen angehörten und nicht minder
falsch die bei Preuß anscheinend vorhandene Meinung,
als ob im Arbeiterstand Homosexualität seltener wäre
als in andern Ständen. Die meisten Verurteilungen aus
§ 1 75 treffen gerade Leute aus den Volkskreisen.
Die von Hirschfeld bekundete Tatsache, daß in Ländern
ohne Straf bestimmung, wie Frankreich und Holland, Homosexuelle
weniger zahlreich seien als in Deutschland, will Preuß darauf zu-
rückfuhren, daß gerade verbotene Früchte am süßesten schmeckten.
Höchstens nur aus diesem Grunde würde er eine Aufhebung des
§ 175 für nicht unangebracht halten.
Die größere Anzahl daher gehöriger Bezensionen kannte leider
nicht mehr berücksichtigt werden, da sie zur Zeit, wo dieser Ab-
schnitt der Bibliographie hergestellt wurde, aus Anlaß des Prozesses
gegen Dr, Hirschfeld vor Gericht gelegen hqiten. Sie werden im
Jahrbuch VII nachtragsweise zur Besprechung gelangen.
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Bild aus dem Kopenhagener „Verbrecheralbum":
Ein im Jahre 1869 wegen „widernatOrlicher Unzucht" verhafteter Mann.
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Jahresbericht 1903-1904.
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Wiederum halten wir in fortschreitender Bewegung
kurze Rast, einerseits um zurückzublicken auf die Strecke,
die uns das vergangene Arbeitsjahr vorangebracht, anderer-
seits um, wie der Dichter sagt, rückwärtsblickend vorwärts
zu schauen. Noch sind wir dem Ziele lange nicht
so nahe gekommen, daß wir hoffen dürften, schon bald
die Höhe zu ersteigen, der wir entgegenstreben und
von der Wahrheit und Gerechtigkeit herunterleuchten.
Noch können wir nicht einmal sagen, ob das größere
Stück Weg vor uns oder hinter uns gelegen ist. Wohl
aber dürfen wir, am Meilenstein der Veröffentlichung
eines neuen Jahrbuchs angelangt, uns das Zeugnis aus-
stellen, daß wir wieder ein Jahr unverdrossen fortgesetzter
Arbeit, beharrlich weitergeführten Kampfes, aber auch
ein Jahr vielseitigen Erfolges zurückgelegt haben.
Ein Jahr unverdrossen fortgesetzter Arbeit! Wir
erwähnen zuerst der Verbreitung unserer Petition, die,
dank den verhältnismäßig reichlichen Mitteln, welche uns
dieses Mal zu Gebote standen, in einem Umfang versendet
werden konnte, wie es uns bisher noch niemals möglich
gewesen war. Wir traten zunächst an die Schul-
deputationen, die Mitglieder der Provinzial-SchulkoUegien,
sowie sämtliche Direktoren, Rektoren und Lehrer aller
höheren Unterrichtsanstalten des Reiches heran und
gewannen damit für die Petition einen Zuwachs von un-
gefähr 750 Unterschriften. Eine große Zahl dieser neuen
Unterschriften war wieder von bedeutsamen Zusätzen,
Äußerungen des lebhaftesten Einverständnisses und der
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— 650 —
herzlichsten Anerkennung begleitet. Wir begnügen uns
damit, nur einige wenige davon hier zum Abdruck zu
bringen :
„HoflFentlicb gelingt es, jene Unglücklichen vom § 175 zu be-
freien, mit den Ausnahmen, die gerechter Weise zugestanden
werden müssen. Einen der Unglücklichen aus hoher Familie, die
mir ans Herz gewachsen, kenne auch ich und sehe mit Herzeleid
auf seine vernichtete Existenz, die er an der Botschaft in Ruß-
land, England u. s. f. sich gegründet hatte."
„Ich schließe mich umso lieber Ihren Bestiebungen an, als
ich aus eigener Erfahrung einen frappanten, ich möchte sagen,
typischen Fall kenne, durch dessen Verfolgung eine ganze Familie
in bemitleidenswertes Unglück geraten ist."
„Bii^ völlig mit Ihren Bestrebungen hinsichtlich Abschaffung
des § 175 einverstanden und zwar auf Grund langjähriger eigener
Erfahrungen. Verfügen Sic über meinen Namen."
„Infolge einer 7 wöchentlichen Abwesenheit im Ausland bin
ich leider erst heute in der Lage, Ihnen dafür danken zu können,
daß Sie meine Mitwirkung zu einem so verdienstvollen Werke in
Anspruch nehmen."
„Durch das polizeiliche und gerichtliche Verfahren wird leicht
die Sittlichkeit mehr verletzt, als durch die Straftat selber."
„Meine an sich recht wenig bedeutende Unterschrift gebe
ich mit der freudigen Genugtuung, daß bereits eine so stattliche
Zahl glanzvoller Namen für die gute Sache eintritt, in der sichern
Hoffnung, daß die kriminalistischen Auffassungen unseres hervor-
ragenden Strafrechtslehrers Professors von Liszt in immer größeren
Kreisen des gebildeten Bürgertums Boden gewinnen, und, von
ihnen getragen, ihrer praktischen Verwirklichung sich nähern."
„Ich unterzeichne gern, schon wegen des namenlosen Un-
glücks, welches dieser F*aragraph, der an mittelalterliche Institu-
tionen erinnert, verursacht hat, als Zerstörung der Familie, Mord
und Selbstmord."
„Ich gebe meine Unterschrift um so lieber, als gerade hier
ein solcher Fall vor ein paar Jahren vorgekommen ist und durch
die Behandlung in der Öffentlichkeit, durch Untersuchungen usw.
in den jugendlichen Kreisen viel Unheil angerichtet hat. Sogar
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— 651 —
kleine Mädchen, selbst aus den ersten Kreisen, wurden durch
diese öffentlichen Verhandlungen über den Fall mit Ausdrücken
und Vorgängen bekannt gemacht, die ihnen sonst wohl zu ihrem
Heile für immer unbekaimt geblieben wären.'^
„Ich danke Ihnen, daß Sie es mir ermöglichen, an Ihrem
ernsten und wichtigen Werke in bescheidener Weise mitzuarbeiten.
Seit Jahren bin ich mit Ihren Gedanken und Gründen vertraut
und werde, was an mir liegt, zu ihrer Verbreitung beitragen."
„Da ich unter anderen Fällen auch einen kenne, wo der
Unglückliche es vorzog, Selbstmord zu begehen, statt sich dem
Skandal des gerichtlichen Verfahrens auszusetzen, so begrüße ich
diese humanitäre Bewegung für Aufhebung des § 175 auf das
Herzlichst« und bitte Sie, meinen Namen in die Liste aufzu-
nehmen."
„Mit Vergnügen ergreife ich die Gelegenheit bei der Um-
änderung des § 175 mitzuwirken, dessen Bedenklichkeit sich mir
im Prozesse eines erwachsenen Schülers, den ich vor Gericht zu
beleumunden hatte, zur Evidenz bewies."
„Indem ich micli beehre, dem wissenschaftlich-humanitären
Komitee meinen Dank abzustatten für die Möglichkeit, meine
Stellungnahme zu der Bewegung auf Abschaffung des § 175 K.-
Str.sG.-B. zum Ausdruck zu bringen, hege ich den Wunsch, daß
die gesetzgebenden Körperschaften durch eine zeitgemäße Änderung
dieses entsetzlichen Paragraphen der Humanität Rechnung tragen
werden."
„Noch bei der Erörterung des Falles Krupp gehörte ich,
völlig unbekannt mit der hier in Rede stehenden Materie, zu
denen, die an die Notwendigkeit des § 175 glauben. Erst nach
dem Tode eines edeln, für das Schöne, Wahre und Gute be-
geisterten Jünglings, dem die Entdeckung konträrsexueller Nei-
gungen den Revolver in die Hand drückte, sind mir die Augen
aufgegangen und übergegangen. Ein schwergebeugter Vater dankt
dem wissenschaftlich -humanitären Komitee für sein menschen-
freundliches Wirken."
Kurz nach Ostern dieses Jahres versandten wir die
Petition zum zweiten Mal, nnd zwar jetzt an sämtliche
Ärzte des Reiches. Wir hatten ihr folgendes Anschreiben
beigefügt:
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Hochgeehrter Herr!
Wir gestatten uns, Ihnen beifolgende Eingabe zu unter-
breiten, welche aufs Neue den gesetzgebenden Körperschaften
vorgelegt werden soll. Dieselbe wurde bereits dem letzten Reichs-
tage Überreicht und von diesem der Regierung als Material über-
wiesen. Die Regierung verschließt sich, wie wir zuverlässig mit-
teilen können, nicht den gewichtigen Gründen, welche für die
Abschaffung des § 175 R.-Str.-G.-B. sprechen. Einer ihrer maß-
gebendsten Vertreter hat uns geraten, die öffentliche Meinung weiter
aufzuklären, damit die Regierung verstanden wird, wenn sie selbst
auf die Wiederaufnahme des verhängnisvollen Paragraphen in das
Strafgesetzbuch^ dessen Revision bevorsteht, verzichtet.
Da sich bereits vor Erlaß des jetzigen Deutscheu Reichs-
strafgesetzbuches das oberste deutsche Medizinalkollegium, vor
allem Virchow und Langeubeck energisch gegen die Be-
stimmung des § 175 ausgesprochen haben und auch später sämt-
liche medizinische Sachverständige, . die sich eingehend mit Homo-
sexuellen beschäftigt haben, zu der Überzeugung gelangt sind,
daß hier eine Konstitutions- Anomalie vorliegt, erlauben wir uns
jetzt, an die praktischen Ärzte mit der ergebensten Bitte heran-
zutreten, ihre wertgeschätzten Unterschriften den Namen der
zahlreichen hervorragenden Persönlichkeiten beifügen zu wollen,
die sich aus lautersten Motiven zur Beseitigung einer unzeitgemäßen
Inhumanität zusammengefunden haben.
Außerdem würden wir Urnen auch sehr dankbar sein für die
Mitteilung, ob Sie bereits über diese Materie Erfahrungen zu sammeln
Gelegenheit hatten, namentlich für die Mitteilung daher gehöriger
Selbstmordfälle, unglücklicher Ehen und dergleichen, überhaupt
für alle Beiträge, die das wissenschaftliche Verständnis dieser
Frage fordern und vertiefen können.
Mit ausgezeichneter Hochachtung und kollegialer Wertschätzung
für das wissenschaftlich-humanitäre Komitee
Dr. med. Hirschfeld. Professor Dr. Karsch.
Die Anzahl der hierauf eingegangenen Unterschriften
beläuft sich auf über 2700, ein Erfolg, der als über-
aus erfreulich bezeichnet werden muß, namentlich wenn
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— 658 —
man bedenkt, daß der Arzt, falls er nicht etwa auf Grund
literarischer oder sonstiger Spezialbeschäftigung mit der
Homosexualität ein besonderes Interesse für dieses Gebiet
voraussetzen läßt, nur ganz ausnahmsweise Homosexuelle
als solche kennen lernt, wenn man ferner bedenkt, daß
selbst dieses Mal wieder so manche Unterschrift, wie das
nach unseren Erfahrungen immer geschieht, der Rücksicht
auf die Möglichkeit von Mißverständnissen und Miß-
deutungen zum Opfer gefallen sein wird, wenn man
endlich bedenkt, daß wohl nicht wenige, wie das ebenfalls
immer vorzukommen pflegt, zunächst im Drang der
Tagesarbeit die Unterzeichnung vergaßen und dann die
Petition ganz aus dem Auge verloren. Mußten wir doch
sogar einen Teil der Ärzte, die schon seit längerer Zeit
uns nahe standen und deren Bereitwilligkeit, ihre Namen
auf die Liste der Petenten zu setzen, als selbstverständ-
lich gelten durfte, erst noch eigens daran erinnern, und
wurde es doch Mitte Juli, bis der Zufluß von Unter-
schriften völlig ein Ende nahm. Um so mehr verstärkt
sich das Gewicht dieser eindrucksvollen Kundgebung, mit
der 2700 Vertreter praktisch-medizinischer Wissenschaft
ihre Stimme gegen das Unrecht des § 175 in die Wag-
schale warfen.
Zu großer Befriedigung gereichten uns die zahl-
reichen, zum Teil überaus herzlich gehaltenen Zuschriften,
die wir aus diesem Anlaß entgegennahmen. Freilich ent-
rollten viele von ihnen gleichzeitig auch erschütternde
Bilder des Elends, Bilder voll gewaltiger Tragik, voll
Blut und Verzweiflung. Man wünscht unwillkürlich,
solche Bilder, mit der Eindruckskraft der unmittelbaren
Wirklichkeit ausgestattet, all denjenigen vor Augen führen
zu können, die da immer noch ein Strafgesetz, welches
die Natur verfolgt, rechtfertigen zu können vermeinen.
Wir beschränken uns wiederum darauf, eine kleine Aus-
wahl zum Abdruck zu bringen:
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der in seiner jetzigen Fassung das größte Unheil anrichtet, halte
ich für ein dringendes Erfordernis."
„Habe in meiner früheren Stellung als begutachtender Nerven-
arzt viel des namenlosen Unglücks kennen gelernt, das der un-
selige Paragraph über geistig und moralisch höchststehende
Menschen gebracht hat/'
„Bemerken möchte ich, daß ich auf Grund zahlreicher, viel-
• seitiger Erfahrungen, namentlich auch bei Gericht die Überzeugung
erlangt liabe, daß die Aufhebung des § 175 R.-Str. G.-B. Tauseude
von dem schweren Druck befreien wird, unter dem sie unver-
schuldet leiden und ihre Lebenslust einbüßen.'^
„Hatte mehrfach Gelegenheit, hierüber Erfahrungen zu sam-
meln: Selbstmorde und unglückliche Ehen."
,.Schon vor Jahren bekam ich von Ihnen eine ähnliche Druck-
schrift zugesandt und obwohl in völliger Übereinstimmung mit
Ihren humanen Bestrebungen auf Abschaffung des unheilvollen
Paragraphen, hielt ich es kaum noch für nötig, meine Unterschrift
zu geben und versäumte es leider. Jetzt in meinem 78. Jahre
hole ich es aus Überzeugung nach.**
„Eine ganze Welt von Stimmen des Einwandes gegen die
Abänderung dieses verderblichen Gesetzes ändert nichts an dem
ehernen Tatbestand des Eingeborenseins homosexueller Triebe.
Wer wollte auf Grund dieser wissenschaftlichen Errungenschaft
sein Herz den leidenden Mitmenschen verschließen und am Kampfe
nicht teilnehmen!"
„Meine Unterschrift zur Petition zu geben, entspricht einem
regen Hei-zensbedürfnis. Mit tiefster Überzeugung darf ich sagen,
daß uns Nervenärzten nichts von gleicher Tragik begegnet, wie
die Aussprache mit Homosexuellen, diesen Ärmsten aus der Gruppe
der von der Natur Enterbten. Man muß ihr verzweifeltes Klagen,
ihr Fürchten, durch Befriedigung des energisch fordernden Triebes
mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, ihr Flehen um Befreiung
von so schwerer Not gehört haben, um zu ahnen, was im Innern
so grausig geplagter Menschen sich abspielt. Mit klarer Über-
legung zu wissen, wie verächtlich das Ziel des stürmischen Ver-
langens ist, auf der anderen Seite ängstlich zu fürchten, daß der
unselige Naturtrieb einmal mächtiger sein dürfte, als alle Vor-
sätze und Wünsche, desselben Herr zu bleiben, quält furchtbar
ein Wesen, das nicht selten hoch über Ethik denkt. Vor einigen
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Wochen verurteilte hier das Gericht einen Mann, den seine homo-
sexuelle Anlage in seiner Ehe mit einer von ihm geachteten und
geliebten Frau ungezählte Tränen kostete, der versuchte, Frau
und ELindern durch Überraschungen und dergleichen seine warme
Liebe stets aufs Neue zu beweisen, dessen ganze Lebensgeschichte
verriet, daß die andersgeartete Konstitution ihm von Jugend auf
anhing wie eine unerträgliche Qual, zu 8 Jahren Zuchthaus und
5 Jahren Ehrverlust. Das Gericht nahm im Gegensatz zum Ver-
teidiger das Verhältnis des Lehrherm zum Lehrling an in einer
Anschuldigung wegen gleichgeschlechtlichen Verkehrs. Durch das
Urteil ist die arme Frau aller Existenzmittel beraubt, sind die
Kinder gebrandmarkt und der strebsame Mann vernichtet, der
unter dem Zwange eines Triebes handelte, dessen Wucht und
Gewalt zu schätzen keiner sich vermessen darf. Mein ausfuhr-
liches Gnadengesuch . . . wurde leider abschlägig beschieden. Da-
mit war ich darüber im Klaren, daß wieder einmal ein ai*mer
Mensch, ein sonst brauchbares Mitglied der Gesellschaft, unter-
ging, weil die medizinisch-naturwissenschaftliche Errungenschaft
schweigen muß vor der Starre unglücklicher Gesetzesparagraphen.'*
„Ein mir bekannter Philologe in Hamburg, ein Mann von
außergewöhnlichen Kenntnissen und vorzüglicher Herzensbildung,
früher als Lehrer an vornehmen Bildungsanstalten tätig und hoch
geschätzt, kam durch homosexuelle Neigungen verschiedentlich mit
dem Staatsanwalt in Konflikt und erlitt, so viel mir bekannt, auch
eine kürzere Freiheitsstrafe. Seit jener Zeit ist dem durchaus
ehrenwerten Manne (der übrigens aus sehr vornehmer Familie
stammt) die Möglichkeit einer seinem Bildungsniveau entsprechen-
den Existenz durchaus abgeschnitten. Der unglückliche Mensch
bewohnt jetzt in einem Alter von ungefähr 65 Jahren eine Arbeiter-
wohnung und fristet sein Leben kümmerlich durch Privatunter-
richt für wenige Groschen.**
„Von den mir bekannten Konträrsexuellen wurde einer in
noch jungen Jahren unter großem Widerstände der Familie katho-
lisch, um sich dem Priester stände zu widmen, in der Hofihung,
auf diese Weise gegen sexuelle Impulse sich zu sichern. Ein
zweiter, der immer bestrebt gewesen war, ein sittenreines Leben
zu führen, und dem infolge großer Vorsicht in der Auswahl seines
Umgniiges sein eigener Zustand trotz großen Hingezogenseins zu
Männern unbekannt geblieben war, verheiratete sich in der Hoff-
nung, endlich einmal eine Befriedigung seines überaus regen Ge-
schlechtstriebes zu erfahren. Die Folgen waren die üblichen. —
Einige andere, die absolut keine Ahnung von ihrem Zustande
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sehr; noch Mitte der zwanziger Jahre war es ihnen, die sonst
ganz prächtige Menschen waren, tüchtig und fleißig in ihrem Be-
rufe, ganz fremd, daß sie in Gefahr standen, mit dem Strafrichter
in Konflikt zu kommen/*
„Ich habe früher den § 175 — als Theologe noch befangen
in dem Irrtum einer absoluten Moral — für unentbehrlich ge-
halten. Nachdem ich mich aber durch das medizinische Studium
davon überzeugt, daß infolge der zwittrigen Anlage des mensch-
lichen Embryos nicht nur Mannlein und Fräulein^ sondern auch
ungezählte, geschlechtlich oft gar nicht genau zu bestimmende
Mittelstufen vorhanden sind, glaube ich, daß dieser Paragraph
schon aus theoretisch- wissenschaftlichen Gründen nicht aufrecht
erhalten werden darf. Zur Pflicht aber wurde mir der Protest
gegen denselben, seitdem ich als Nervenarzt immer und immer
diese armen Menschen zu Gesicht bekam. Niemals habe ich so
schwere Formen der Hysterie und Neurasthenie beobachtet als
bei diesen Homosexualen, die durch den fortgesetzten vergeblichen
Kampf gegen den mächtigsten Naturtrieb und die beständige
Angst vor der Polizei und den schlimmsten Erpressern stets die
Symptome weitgehender Nervenerkrankung darboten. Sie finden
sich nach meiner Erfahrung als Arzt in allen Ständen. Ich habe
Arbeiter, Referendare, Offiziere, Pastoren als Homosexuale in ärzt-
licher Behandlung gehabt. Diejenigen der bemittelten Stände
werden durch § 175 krank und unglücklich, diejenigen der un-
bemittelten Stände werden durch denselben Paragraphen zu Er-
pressern und Verbrechern gemacht. Darum, weil diese Gesetzes-
bestimmung nichts bessert, aber viel schadet, schließe ich mich
diesem Protest an. Sollten wider Erwarten bei der Revision des
Strafgesetzbuches abermals nicht Gesichtspunkte der Gerechtig-
keit, sondern falscher Prüderie maßgebend werden, so dringe man
wenigstens darauf, daß die Konsequenz gezogen und der Para-
graph auch auf das weibliche Geschlecht ausgedehnt werde. Dann
wird in einigen Jahren das Erpressertum auch bei den Dienst-
boten, Bonneu usw. soweit gezüchtet sein, daß kein Abgeordneter
mehr zu den Reichstagsverhandlungen reisen darf, ohne der lieben
Gattin vorher in die Hand versprochen zu haben, doch nur gegen
den § 175 zu sprechen, der für den Frieden so mancher hoch-
ehrbaren Häuser denn doch wirklich recht gefährlich sei."
„Vor nunmehr 13 Jahren studierte ich in Freiburg und dann
in Berlin mit einem Mediziner B. H. aus der Umgegend von
Dobberan in Mecklenburg zusammen. In unserem großen Freundes-
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kreise war dieser Herr, ein fleißiger Student, außerordentlicli beliebt
und geachtet wegen seiner guten Manieren und seines anständigen
Charakters. Er war ein fideler Student, aber er war nie aus-
gelassen oder übermütig. Er machte dann sein Staatsexamen und
wurde Assistent Alle, die ihn kannten, wurden durch die Nach-
richt von seinem plötzlichen Ableben tief betrübt Er endete
durch Selbstmord aus Furcht vor dem unseligen Paragraphen.
Wie ich nachträglich erfahr, hatte er einigen unserer gemein-
samen Studienfreunde gegenüber schon damals in Freiburg über
seine homosexuellen Neigungen ganz offenherzige Mitteilungen ge-
macht G-egenüber den Vorwürfen, die ich noch nach seinem
Tode über seine Handlungsweise gehört habe, erkläre ich zur
Ehrenrettung unseres leider zu früh dahingeschiedenen Freundes,
daß er wegen seiner bieder-rechtlichen Ansichten, wegen seines
Fleißes und seiner kameradschaftlichen Ehrenhaftigkeit allen, die
ihn kannten, in ehrenvollem Andenken bleiben wird — trotz allem
und allem.''
„Wer, wie ich, gesehen hat, welche verzweifelten An-
strengungen von Urningen gemacht werden, um von dem un-
seligen Verhängnis loszukommen, welche seelischen Kämpfe durch-
gefochten, welche materiellen Opfer zu diesem Zwecke gebracht
werden und welche geradezu bewundernswerte Energie von diesen
Stiefkindern der Natur entwickelt wird, der wird alles daran
wenden, um jenen unheilvollen Paragraphen des Strafgesetzbuches
zu Falle zu bringen. Auch habe ich schon in meiner Praxis er-
fahren, daß dieser Paragraph Anlaß zu Zwangsvorstellungen bei
Disponierten werden kann, die, ohne homosexuell zu sein, von der
Vorstellung gequält werden, als Urning leben zu müssen. Warum
weisen Sie nicht (für das große Publikum) mit auf den Punkt hin,
daß jeder normal veranlagte Mensch das Unglück haben kann,
unter seinen eigenen Söhnen einen Urning heranwachsen zu sehen
und dann die Ronsequenzen tragen zu müssen?*'
„Der § 175 spricht jeglicher Kultur Hohn."
„Per noctem ad lucem!" (Durch Nacht zum Licht!)
„Möchten Ihre segensreichen Bestrebungen endlich über Un-
verstand, Gleichgültigkeit und Heuchelei den Sieg davontragen!"
„Mir sind zwei Selbstmorde aus diesem Grunde bekannt —
Femer sind mir außer mehreren anderen zwei Herren bekannt,
die mit der höchsten Aufopferung für ihre ausgebreitete Ver-
wandtschaft sorgen und deren Kinder erziehen lassen."
Jahrbuch VI. 42
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ernst nimmt, von dieser Eingabe ausschließen/*
,,Mit Freuden gebe ich meinen Namen zur Unterschrift zu
obengenanntem Zweck, der so manchem bisher Unglücklichen
das Recht, ein geachteter Mensch unter Menschen zu sein, wie-
dergibt"
„Ich stelle mich nach meinen in der Praxis gesammelten
Erfahrungen durchaus auf Ihren Standpunkt und wünsche Ihren
humanen Bestrebungen besten Erfolg."
„Die Bestrebungen des wissenschaftlich-humanitären Komi-
tees sind im besten Sinne des Wortes „humane" und verdienen
die eifrigste Unterstützung von allen Seiten."
„Ich bemerke zu meiner Unterschrift, daß ich wiederholt im
Laufe der Jahre über diese Materie Erfahrungen zu sammeln Ge-
legenheit hatte. In den 18 Jahren meiner früheren Tätigkeit in
einer kleinen Stadt habe ich viele homosexuelle Klienten gehabt,
besonders da in den beteiligten Kreisen mein volles Verständnis
sich verbreitete. Dadurch gewann ich einen Einblick in Verhält*
nisse, die Anderen ängstlich verschlossen bleiben, namentlich an-
deren Ärzten."
„Aus persönlicher Erfahrung, die ich namentlich an einem
über seine anormale Konstitution tief unglücklichen, hoch ge-
bildeten Manne machte, befürworte ich diese Petition aus tiefster
Überzeugung."
„Meine Doktorthesen lauten über § 175. Seit meiner Stu-
dienzeit mich interessierend für die Frage des § 175, bin ich aus
medizinischer Überzeugung und menschlichem Empfinden für Auf-
hebung."
„Vor etwa 14 — 15 Jahren ertränkte sich in hiesiger Gegend
ein etwa 50 Jahre alter wohlhabender Junggeselle, der, homo*
sexuell veranlagt, durch Erpressungen in den Tod getrieben wurde.
Für das weibliche Geschlecht hatte der Herr keine Neigung."
„Mir selbst ist ein Fall bekannt aus dem Jahre 1888. Ein
damals vielleicht 18 jähriger, hochgewachsener, brünetter Jüngling
erwies sich im Lauf der Behandlung wegen Cardialgie als anima
muliebris in corpore virili inclusa und endete vor einigen Jabreu
durch Selbstmord."
„Besonders unlogisch ist, daß das Weib, das doch in allen
Rechten gleichgestellt sein will, wegen des gleichen Vergehens
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nicht verfolgt wird. Albern ist die Differenzierung der Juristen
zwischen den verschiedenen Arten des mannmännlichen Verkehrs."
,,In meiner Praxis ereignete sich vor mehreren Jahren der
Selbstmord eines talentvollen jungen Mannes, welcher durch ano-
nymen Brief aus dritter Hand^ in welchem er mit gerichtlicher
Anzeige seiner homosexuellen Neigung bedroht war, in den Tod
getrieben wurde."
„Unterzeichneter war Sachverständiger in einem Gerichts-
verfahren gegen einen hochbegabten cand. jur., den Sohn eines
hohen Forstbeamten. Derselbe wurde wegen Verletzung des
§ 175 zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt Er riß sich
von den ihn nach der Verurteilung abfuhrenden Gerichtsdienem
los und schoß sich, nachdem er einen kleinen Vorsprung vor
seinen Verfolgern gewonnen hatte, in den Mund. Der Tod er-
folgte sofort"
„Vor ca. 5 Jahren habe ich als Polizeiarzt unserer Stadt die
Leiche eines Selbstmörders aufgehoben, der sich in der Nähe in
einem Flüßchen ertränkt hatte, weil nach seiner Verlobung mit
der Tochter einer hiesigen angesehenen Familie — er selbst war
junger Tierarzt und ein sehr begabter und tüchtiger Mann — das
beglaubigte Gerücht im Publikum verbreitet war, daß er mit
einem Fleischergesellen sexuellen Umgang gepflogen habe. Ge-
nannter Fleischer hatte nach geschehener Verlobung die Sache
weiter erzählt und die Folge war der Selbstmord zur Verhütung
des bevorstehenden Skandals, von „Schimpf und Schande''.
„Ich kenne aus meiner Praxis einen Homosexuellen aus den
besseren Kreisen und in guten Vermögensverhältnissen, der hei-
ratete — der Ehe, die keine glückliche war, entsprosste ein Kind
— und einige Jahre nach geschlossener Ehe durch Selbstmord
endete."
„Eine Beobachtung: Homosexualität. Ehescheidung. Weiter-
hin schwere Neurasthenie mit chronischer Schlaflosigkeit und da-
neben öfteren Bedrohungen und Erpressungsversuchen auegesetzt
Die Homosexualität äußert sich von jeher als fast unüberwind-
licher Trieb. Patient gehört den besten Ständen an und steht
geistig durchaus hoch."
„Ich kenne hier einen etwa 42jährigen Grundbesitzer, der
dieserhalb bereits zwei- bis dreimal mit mehreren Wochen Ge-
fängnis bestraft worden ist, in unglücklicher Ehe lebt und zur
Zeit dem wirtschaftlichen Bankerott nahe ist."
42*
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rungen in dieser Sache, die mich von der Notwendigkeit der Ab-
änderung überzeugt haben."
),Als ich als Student Krafft-Ebings Psychopathia sezualis las,
empfand ich neben dem Gefühl des Mitleids für die Enterbten
des natürlichen Glückes mit noch tieferem Bedauern die rück-
ständigen Grundsätze, nach denen ein krank veranlagter Mensch
dem Richter, anstatt dem Arzt übergeben wird. Ich setze mit
Freudigkeit meinen Namen mit unter die Petition."
„Wenn Weiber, die doch denselben Drang und dieselbe Be-
friedigung haben, straflos ausgehen, weshalb denn nicht der
Mann? Ist dieser denn ein Homo minor?"
„Ich hatte während meines Studiums auf der Universität
einen Freund, einen guten, idealen, aufopferungsfahigen Menschen ;
Anno 1870/71 ging er als freiwilliger Krankenpfleger mit nach
Frankreich, erhielt für seine aufopfernde Pflege das Verdienst-
kreuz (in Bayern) und errang später eine angesehene Lebens-
stellung. In der ersten Zeit unserer Bekanntschaft machte er
einen Selbstmordversuch aus dem Unglücksgefühl über seine Homo-
sexualität heraus.^*
„In meiner früheren Praxis wurde ein Herr von ca. 50 bis
60 Jahren in angesehener Zivilstellung (Notar) in der Ausübung
des homosexuellen Verkehrs . . . überrascht und zur Anzeige ge-
bracht, verurteilt und eingesperrt. Er starb bald im Gefängnis.
Die vorher gut situierte Familie mit Frau, erwachsenen Söhnen
und Töchtern wurde hierdurch aufs schwerste betroffen und auf-
gelöst. Die Söhne mußten ihren Beruf ändern (der eine studierte
Theologie). Die Familienmitglieder waren gesellschaftlich un-
möglich geworden."
„Der Schlußaufforderung Ihres Rundschreibens entsprechend,
erlaube ich mir, Ihnen über folgende, mir bekannte Fälle von
Homosexualität zu berichten: 1. J . . ., stud. pbil., hochbegabt,
I. Vorsitzender eines studentischen Vereins, von Jedermann ge-
schätzt und gern gelitten, im Übrigen anscheinend von streng
sittlichen Anschauungen, wurde Anfang der 90 er Jahre beim ge-
schlechtlichen Verkehr mit einem Kellnerlehrling betroffen. Der
Konvent des betreffenden Vereins beschloß seinen Ausschluß. Es
bedurfte der größten Mühe des Unterzeichneten, die Konvents-
teilnehmer dahin aufzuklären, daß es sich um einen Fall patho-
logischer Art handle, so daß von dem Vorhaben, den Betreffenden
bei der Universitätsbehörde und bei der Staatsanwaltschaft anzu-
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zeigen, doch schließlich noch Abstand genommen wnrde. Der
Betreffende hat meines Wissens später seine £xamina mit Glanz
absolviert and dürfte ein tüchtiges Mitglied der menschlichen
Gresellschaft, sowie auch ein tüchtiger Lehrer und Erzieher ge-
worden sein. — 2. Th . . . , Tierarzt, tüchtiger, begabter, in seinen
Bekanntenkreisen geschätzter und beliebter Mann, verlobte sich
Mitte 90 er Jahre mit einer Dame aus gut bürgerlichen Kreisen.
Bald nach seiner Verlobaog wurden von einem Fleischergesellen,
mit welchem jener in homosexuellem Verkehr gestanden. Er-
pressungsversuche gemacht. Als Th. den unverschämten Forde-
rungen nicht oder nicht genügend entsprach, machte der be-
treffende Fleischergeselle der Braut des Th. und ihrem Vater
Mitteilung über seine Beziehungen zu Th. und den früher mit
demselben gepflogenen Verkehr. Der Bräutigam erhielt seinen
Ring zurückgesandt, sah sich öffentlich bloßgestellt, nahm Gift
und stürzte sich in den Fluß. Seine pekuniären Verhältnisse
hätten ihm allerdings ganz gut gestattet, an einem anderen Orte,
an dem von seinen , Verfehlungen* nichts bekannt war, weiter
zu leben."
„Am 20. Januar ds. J., mittags erhielt ich die Aufforderung,
sofort nach B. zu kommen, wo sich eben der R. M. J. erschossen habe.
Als ich vor dem Hause vorfuhr, empfing mich I. K. und geleitete
mich an eine verschlossene Tür. Diese öfinend, ließ er mich in
ein düsteres, kaltes, dunkles Gemach eintreten. Auf mein Geheiß
wurde der das Fenster schließende Laden entfernt und nun bot
sich meinen Blicken folgendes grausige Bild: Glasscherben lagen
vor dem Fenster, in der wüst aussehenden Stube stand an jeder
Längs wand ein noch ungemachtes Bett, am Fußboden des einen
lag lang ausgestreckt eine menschliche Gestalt, deren Kopf mit
Tüchern umwickelt war, auf denen Eisstückchen lagen. Auf
der rechten Seite waren Lachen geronnenen Blutes, den Unter-
leib bis zu den Knöcheln bedeckte eine schwarze Reiseplüsch-
decke und unterhalb dieser ragten ein Paar gelb-braune Stiefel
hervor. Niederknieend entfernte ich die Eisstückchen und das
blutige Kopftuch und vor mir mit aschfahlem und blutbesudeltem
Gesicht lag röchelnd R. M. J. Nach Abwaschung des Blutes sah
ich am rechten Schläfenbein eine etwa erbsengroße Schußwunde,
die Haare rings herum waren durch das Pulver verbrannt und
die Haut geschwärzt. — Während des Verbindens wurde mir er-
zählt, daß der sehr tüchtige, hochachtbare Mann von einer heftigen
Leidenschaft zu einem kräftigen jungen Stallburschen von 16
Jahren beherrscht gewesen sei und sich mit ihm vergangen habe.
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— 662 -
— Die Rüchenmädchen, welche selbst der freiesten Liebe hul-
digen und mit den Knechten nnd Stallschweizem kohabitieren,
aach mit jedem andern, der will, hatten, als M. J. sich mit dem
Barschen ins Zimmer eingeschlossen hatte, darch das Schlüsselloch
geschaut und gesehen, daß dieser den Koitus inter femora ausübte,
indem M. J. aktiv, der Bursche passiv war. Der Bursche, später
von mir darüber befragt, gab nur zögernd und widerstrebend
Auskunft und sagte: „J. hat mich aber nie anderweitig miß-
braucht/' Es hatte auch niemals Masturbation stattgefunden. Es
kam zur Anzeige bei dem Besitzer. Am Vormittage des 20. Ja-
nuar ist M. J. vor diesen gerufen und von ihm zur Bede gestellt
worden. Er sollte sofort dem Amtsvorsteher zur Bestrafung zu-
geführt werden. Er hatte darauf erwidert, er möchte sich nur
noch einen Überrock anziehen, ist in sein Zimmer gegangen, hat
hinter sich abgeschlossen und, da er sich sagte: „Nun ist Ehre
und Existenz, alles dahin !'^, sich die Kugel in den Kopf gejagt.
M. J. wurde dem Krankenhause zugeführt und ist am 22. Januar
d. J. mittags infolge hinzugetretener Lungenentzündung gestorben,
ohne die Besinnung wiedererlangt zu haben. M. J., ein sonst
ganz ehrenwerter, hochachtbarer, sehr gewissenhafter Beamter^
aus sehr angesehener Familie stammend, ist ein Opfer des § 175
geworden."
,.Ich bin in der Lage, Ihnen einen Fall aus dem Jahre 1893
mitzuteilen, der seiner Zeit in Gießen zur Gerichtsverhandlung
kam. Ein Student der Jurisprudenz aus Gießen, namens Th . . . .
hatte sich mit einem Knechte homosexuell vergangen. Er wurde
zu einer minimalen Strafe verurteilt. Nach Anhörung der Urteils-
verkündigung tötete sich der junge Mann vor seineu Richtern
im Sitzungssaale durch einen Schuß in die Schläfe.'^
„Vor einigen Jahren wurde ich durch einen Homosexuellen,
Ingenieur, der mich wegen Lues maligna konsultierte, zugfeich er-
sucht, die Castration an ihm zu vollziehen, damit er nicht ein zweites
Mal genötigt werde, sich ev. durch Selbstmordversuch der Ver-
haftungsgefahr zu entziehen. Von dem ersten Versuch, seinem
angeblich durch sein „Laster'* verfehlten Leben ein Ende zu
setzen, zeugte eine charakteristische Narbe an der rechten Schläfe.
— Dem Ansinnen des Kranken habe ich aus medizinischen und
juristischen Gründen nicht stattgegeben."
„Die Ansichten über § 175 des R.-Str.-G.-B. sind abhängig
von der naturwissenscliaftlichen Bildung und dem Grad mensch-
lichen Empfindens. Fortschreitende Erkenntnis von dem Ent-
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— 663 —
wicklangsgange organischer Materien nnd somit auch des Menschen,
ebenso wie wahre Menschlichkeit, verlangen gebieterisch baldigste
Abschaffung dieses so viel Unkenntnis verratenden und so viel
Leid bringenden Paragraphen."
,,Ihre Bestrebungen bin ich sehr gern bereit zu unterstützen,
zumal mir in meinem Leben zwei derartige Fälle entgegengetreten
sind, die einen recht unglücklichen Ausgang genommen haben.
Zu dem einen Fall, der vielleicht auch in weiteren Kreisen be-
kannt geworden ist, mußte der Betreffende, ein hoher Verwaltungs-
beamter, ins Ausland flüchten. — In dem zweiten Fall handelt es
sich um einen näheren Bekannten von mir, einen jungen Arzt,
der, eben verheiratet, schon eine gute Praxis hatte. Er wurde
denunziert, beging Suicidium durch Morphium und ließ seine
Familie im Elend zurück."
„Wenn ich das reichhaltige Material, das von Ärzten und
anderen bereits angehäuft ist, um einen Fall vermehre, so geschieht
das, um zu beweisen, daß oft die edelsten Mitbürger unter den
bestehenden Zuständen aufs Empfindlichste zu leiden haben. —
Es handelt sich um einen hochbegabten, schriftstellerisch und po-
litisch bekannten Herrn, dessen hochedle Charaktereigenschaften
ich aufs Höchste schätze. Er war zuerst Vikar und erzählte mir,
daß er nach einer Erziehung, die ihn völlig vom anderen Ge-
schlecht abschloß, in dieser Stellung gern gerungen, auch gern
nackte männliche Körper gesehen habe, ohne sich seiner Veran-
lagung bewußt zu sein. Dann widmete er sich der Politik und
Schriftstellerei. Auf einer Agitationsreise machte er eine Wan-
derung in Gesellschaft eines Anderen, der ihn zu mutueller Onanie
verführte. Der Verführer wußte die Sache dann unter die Leute
zu bringen und gab an, daß er der Angegriffene gewesen sei —
Joseph und Potiphar bei Homosexuellen. Der betr. Herr war
natürlich daraufhin unmöglich geworden und lebt seit einigen
Jahren in Italien. Obwohl er jetzt seiner Neigung zum gleichen
Geschlecht sich völlig bewußt ist, ist es bezeichnend für seinen
Charakter, daß er jetzt noch unter Selbstqualen zu leiden hat und
mit größter Energie gegen seine Veranlagung ankämpft. Ein
einziger solcher Fall genügt völlig, um die Absurdität der be-
stehenden Verordnungen zu illustrieren. — Auf der anderen Seite
bedenkt man nicht, daß das gleiche „Vergehen" unter Frauen
nicht selten geübt wird, obgleich bisweilen nicht einmal Homo-
sexualität vorliegt. Erst letzthin gestand mir ein junges Mädchen
mutuelle Onanie zu, und solche Fälle dürften nicht selten sein."
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GtLBtwiTt S. erh&Dgte sich, weil er durch fortwährende Erpressungen
sich ruiniert sah. Er konnte in seinem Geschäft kaum die Summen
verdienen, die gewissenlose Hallunken (frühere Angestellte usw.)
durch Drohung mit Anzeige immer und immer wieder von ihm
erpreßten.*'
„Eine Verwandte von mir heiratete einen Gerichtsbeamten,
von dem ein Gerächt andeutete, daß er perverse Neigungen habe
(mir persönlich war dieses Gerücht nicht zu Ohren gekommen,
auch der Braut nicht). Nach etwa zweijähriger Ehe kam es zur
Einleitung einer gerichtlichen Untersuchung nach der angegebenen
Richtung. Das Ergebnis derselben wartete der Angeschuldigte
nicht ab, sondern er verließ den Ort seines Aufenthaltes ohne An-
gabe seines späteren Wohnsitzes. Die Untersuchung führte nicht
zu einer Verurteilung, doch wurde er disziplinarisch seines Amtes
entsetzt. Er lebte später in Berlin als Privatbeamter. Seine Ehe
wurde geschieden. Er hat sich insofern als ein anständig denken-
der Mensch erwiesen, als er seiner geschiedenen Frau den Betrag
der Schulden, die sie vor Eingehung der Ehe für ihn bezahlt
hatte, ganz oder teilweise zurückerstattet, ohne daß die Frau
darauf Anspruch erhoben hatte. Wie mir, allerdings nicht von
der Frau selbst, sondern von ihren nächsten Verwandten, mit-
geteilt wurde, soll nie eine sexuelle Annäherung des Mannes an
die Frau erfolgt sein."
„Mir ist bekannt, daß ein achtbarer, wohlhabender Herr aus
Furcht, wegen seiner homosexuellen Neigung belangt zu werden,
Selbstmord begangen hat."
„Ein Assistenzarzt an einem Krankenhause, ein besonders
befähigter Mensch, endete vor ca. 5 — 6 Jahren durch Suicidium,
weil eine Anklage aus § 175 gegen ihn erhoben werden sollte.
Einziger Sohn seiner Mutter."
„Unlängst hat die Gesundheitskommission unserer Stadt
einstimmig den Beschluß gefaßt, der Stadtverordnetenversammlung
zu empfehlen, vorstehende Petition zu unterstützen. — Vor etwa
zwei Jahren gelangte zu meiner Kenntnis ein sehr trauriger Fall,
in welchem ein hochgeachteter juristischer Staatsbeamter bald
nach seiner — gegen seinen Wunsch stattgehabten — Verheira-
tung wegen schweren Delikts gegen den § 175 bestraft und da-
durch ein unglücklicher Mensch geworden ist."
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— 665 —
„Der AufFordeniDg bin ich mit Freuden nachgekommen, da
ich Gelegenheit gehabt habe, über die Materie Erfahrungen zu
sammeln, speziell ist mir ein in hoher Beamtenstellung befindlicher
Herr gut bekannt, dessen Frau infolge der Anlage ihres Mannes
in ihrer langjährigen kinderlosen Ehe sehr viel hat leiden müssen
und noch leidet/*
„Ich habe während meiner Studienzeit einen feingebildeten
Herrn aus hoher Gesellschaftsklasse gekannt, der ausgesprochen
homosexuell war. Ich hatte auf einem Studentenkommers, wo ich
stark berauscht und auch er wohl etwas angeheitert war, meinen
Hausschlüssel verloren oder vergessen und wußte nicht, wo ich
nun die Nacht zubringen sollte. Er bot mir an, mit in seine
Wohnung zu kommen und auf seinem Sopha zu schlafen. Ich
nahm das ahnungslos an und war dann sehr überrascht, als er
mich dort leidenschaftlich zu küssen und zu masturbieren anfing.
Ich ließ die Sache über mich ergehen, so unangenehm und lächer-
lich sie mir war, weil ich zu berauscht war, um ernstlich Wider-
etand zu leisten. Später lud mich der Betreffende häufig zum
Abendessen ein. Da ihm, wenn ich nüchtern war, keinerlei An-
näherungen gelangen — wir sprachen übrigens ganz offen darüber
und damals habe ich die ersten Kenntnisse von der mannmänn-
lichen Liebe erhalten, die mir unbegreiflich und lächerlich er-
schien — so ging er später mit mir in ein Weinlokal. Weil ich
damals gern und viel trank und er mich reichlich mit guten
Weinen bewirtete, wurde ich öfters berauscht und in diesem Zu-
stande gelang ihm dann, öfters, teils in seiner, teils in meiner
Wohnung, die Erfüllung seiner Wünsche. — Femer weiß ich von
einem Schauspieler, der einem Konfuchs von mir, einem allerdings
auffallend hübschen, aber keineswegs urnischen, sondern im Gegen-
teil ziemlich weibertollen Menschen in einer Weise den Hof
machte, über die wir uns oft königlich amüsiert haben: Kuß-
hände zuwerfen. Sträußchen ins Fenster legen. Liebesbriefchen —
Alles kam vor. Es war die reinste Komödie. Annäherungen
sind dem Betreffenden, soviel ich weiß, nie gelungen."
„Ich trete ganz entschieden für Abschaffung des § 175 ein,
weil der Urning Rechte dritter Personen, ebensowenig wie eine
Tribade, verletzt und somit nicht vor das Forum des Richters,
sondern des Arztes gehört. — Dagegen möchte ich an dieser Stelle
Gelegenheit nehmen, scharfe Strafen gegen den Exhibitionismus
zu fordern, der, gleichviel, ob er einer pathologischen Veranlagung
entstammt oder nicht, in hohem Maße geeignet ist, öffentliches
Ärgernis zu erregen und die Sittlichkeit zu gefährden.^'
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— 666 —
„In meiner Klientel befindet sich ein Jnnggeselle, der sich
durch homosexuelle Veranlagung fast vollständig wirtschaftlich
ruiniert hat, wie ich bestimmt weiß, da ich jahrelang in seinem
Anwesen wohnte. Sein Ansehen nach außen ist sehr gesunken,
da die von ihm gebrauchten Subjekte laut die versuchten Mani-
pulationen verkündeten. Eine Verlobung ging plötzlich zurück,
meiner Ansicht nach wegen Lautwerdens seiner unglücklichen
Anlage."
„Wenn man die homosexuellen Menschen als strafwürdige
Verbrecher verfolgt^ so müßten logischer Weise auch die körper-
lichen Hermaphroditen für ihr körperliches Zwittertum bestraft
werden. So wenig Letzteres geschehen kann, so sehr ist auch die
Bestrafung der seelischen Zwitter verfehlt. Denn ob man sie
bisexuell oder homosexuell nennt, sie sind nichts anderes als see-
lische Hermaphroditen. Sie verdanken dieses unheimliche Erbgut
einer angeborenen Anlage, nicht einer falschen Erziehung. Äußer-
lich, d. h. primär eingeschlechtlich, besitzen sie doch sehr viele
sekundäre Merkmale des anderen Geschlechts Ob man diese
sexuellen Zwischenstufen für etwas Normales mit Weininger halten
will, oder in ihnen mit MÖbius Entartungsprodukte erblickt, ändert
an der kriminellen Bewertung der Sache nichts. Sie sind niemals
mit Strafe zu belegen, sondern allerhöchst regelwidrig veranlagte
Menschen.**
„Meine Unterschrift kann ich Ihnen um so bereitwilliger
zur Verfügung stellen, als ich mich gelegentlich der schriftlichen
Phjsikatsprüfung über diese Frage auszusprechen hatte und zu
denselben Anschauungen betreffs Änderung des § 175 gekommen
bin, wie solche von Seiten des Komitees niedergelegt sind,"
„Mit ganzem Herzen meine Unterschrift."
„Statt besonderer Bemerkungen nur ein lebhaftes Bravo!"
Am 21. April kam die von uns inzwischen neuer-
dings eingerichtete, um die ca. 750 Unterschriften
vom vergangenen Sommer bereicherte Petition in der
einschlägigen Kommission des Reichstags abermals zur
Beratung. Es entspann sich darüber eine lebhafte
Diskussion, die über zwei Stunden in Anspruch
nahm. Als Vertreter der Regierung war Herr Ober-
Regierungsrat Dr. V. Tischendorff erschienen. Er
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— 667 —
erklärte auf die Frage, wie sich die Yerbündeten
Begier ungen zu einer Änderung des § 175 stellten, daß
er hierüber eine Mitteilung zu machen nicht in der Lage
sei. Ein der Yorliegenden Petition wörtlich gleicher
Antrag sei auch an den Reichskanzler gelangt und den-
jenigen Materialien beigefügt worden, welche bei der
bevorstehenden allgemeinen Revision des Strafgesetzbuches
in Betracht zu ziehen sein würden. Der Referent, Ab-
geordneter Dr. Thal er (Ctr.), trat in längerer Rede ent-
schieden gegen die gewünschte Abänderung des Straf-
gesetzbuches ein. Er berief sich namentlich auf Wachen -
feld, daueben aber auch auf Eulenburg und Näcke,
die bekanntlich beide zu den Unterzeichnern der Petition
gehören. Die Gründe, welche gegen den § 175 angeführt
würden, könnten nicht anerkannt werden, und wie der
Staat alle Mittel aufbiete zur Bekämpfung der Reblaus
in den Weinbergen und der Rotzkrankheit der Pferde,
so sei er auch verpflichtet, der Unzucht zwischen Gleich-
geschlechtlichen entgegenzutreten. Er bedauerte, daß
in dieser Hinsicht nur die Männer und nicht auch die
Frauen unter Strafe gestellt würden. Würde man den
Wünschen der Petenten Rechnung tragen, so wäre das
eine schwere Schädigung des Staatswohls. Die Straf-
losigkeit der Homosexuellen sei mit schuld, daß Frank-
reich unter der Abnahme der Bevölkerung zu leiden habe.
Einer solchen Gefahr dürfte sich das Deutsche Reich
nicht aussetzen.
Die Sozialdemokraten Abg. Dr. Braun und Thiele
traten dem Referenten entgegen. Man brauche keine
besondere Vorliebe für Homosexuelle zu haben, um die
Petition für berechtigt zu halten, um so mehr als nam-
hafte medizinische Sachverständige sich für die Auf-
hebung des bezeichneten Strafgesetzes erklärt hätten. Es
sei nachgewiesen, daß ein großer Teil der mit Strafe
Bedrohten unter dem Zwang einer anormalen Ver-
/
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— 668 —
anlagung stehe. Die Annahme des Referenten, daß die
Entvölkerung Frankreichs auf die Straflosigkeit des
gleichgeschlechtlichen Verkehrs zurückzufuhren sei, sei
eine durchaus irrige.
Abg. Dr. Potthoff (frs. Vg.) führte aus, daß man
nicht, wie es der Referent getan, auf die in früheren
Jahrhunderten gegen den Verkehr zwischen Gleich-
geschlechtlichen vorgebrachten Gründe einzugehen habe,
da wir ja sonst auch heute noch in Deutschland die
Hexenverbrennung haben würden. Durch die Bestrafung
mache man die Homosexuellen zu Märtyrern und fördere
die von ihnen getriebene Agitation.
Abg. Dr. Mugdan (frs. Vp.) trat ebenfalls für die
Petition ein. Nur wenn ein Zwang ausgeübt würde oder
falls Eander mißbraucht würden, sei eine Bestrafung zu
empfehlen.
Abg. Dr. Hof fei (Rp.) erwiderte, daß in ärztlichen
Kreisen die Mehrheit sich der Forderung der Petenten
gegenüber ablehnend verhalte. Wenn man von natür-
licher Veranlagung vieler Homosexueller spreche, so könne
er nur sagen, daß ihm in seiner dreißigjährigen ärztlichen
Praxis noch kein solcher Fall zur Kenntnis gekommen sei.
Das Ergebnis der Abstimmung in der Petitions-
kommission war folgendes: Der sozialdemokratische An-
trag, die Petition dem Reichskanzler zur Berücksichtigung
zu überweisen, wurde gegen 5 Stimmen, der freisinnige
Antrag: Überweisung zur Erwägung gegen 6 Stimmen
und ein anderer Antrag: Überweisung an den Reichs-
kanzler als Material gegen 9 Stimmen abgelehnt. Die
Mehrheit beschloß Übergang zur Tagesordnung.
. Nach den Bestimmungen der parlamentarischen Ge-
schäftserledigung mußte die Angelegenheit hierauf im
Plenum des Reichstags zur weiteren Verhandlung kommen.
Diese Verhandlung hat aber bis heute noch nicht statt-
gefunden. Als die Petition — am 11. Juni — zur Sprache
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— 669 —
kommen sollte, stellte vielmehr der Abgeordnete Graf
Hompesch den unbegründet gebliebenen Antrag, sie von
der Tagesordnung abzusetzen. Dem Antrag gemäß warde
sodann, wie es auch mit noch anderen Petitionen ge-
schehen war, Vertagung des Gegenstandes beschlossen.
Die Kommission zur Vorberatung eines neuen Straf-
gesetzentwurfs für das Deutsche Reich ist, so viel wir
wissen, innerhalb des Berichtsjahres nicht zusammen-
getreten. Danach zu urteilen^ dürfte wohl noch eine
geraume Zeit verstreichen und noch manches Opfer fallen,
mancher rechtschaffene Mann sein Brot, mancher Andere
seine Heimat und seine Lieben, und mancher Lebens-
mut und Widerstandsfähigkeit verlieren, bis durch
eine allgemeine Revision des Strafgesetzes der folgen-
schweren Rechtsverirrung ein Ende bereitet wird, die
heute einer ganzen Menschenklasse ihre Natur zum Ver-
brechen stempelt, vorausgesetzt, daß es nicht gelingt,
schon früher eine Änderung herbeizufuhren. Wir unter-
ließen übrigens dessen ungeachtet keineswegs, an die
Mitglieder der Kommission neuerdings Material zu ver-
senden und ihnen die Bedeutung einer Frage, welche die
tiefsten Interessen tausender von Menschen berührt, nach-
drücklich in Erinnerung zu rufen.
Anders steht es, wie in diesem Zusammenhang
erwähnt werden mag, mit den neuen Strafgesetzentwürfen
in Österreich und der Schweiz. Beide Entwürfe liegen
bereits fertig vor. Der österreichische hat, wie wir aus
zuverlässiger Quelle erfahren, den gegenwärtigen § 129
völlig ausgeschaltet und behandelt den homosexuellen
Verkehr nicht anders, als den außerehelichen Umgang
der Normalsexuellen. Der schweizerische Entwurf dagegen,
der als Grundlage für ein, allen Kantonen gemeinsames,
Strafgesetz gedacht ist, setzt für homosexuelle Hand-
lungen nur bedingte Straflosigkeit fest. Er bestimmt:
„Der Mehrjährige, welcher mit einem Minderjährigen wider-
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— 670 —
natürliche Unzucht begeht, wird mit Gefängnis nicht
unter 6 Monaten bestraft/' Auf eine von uns eingezogene
Erkundigung über die Begriffe „Mehrjährig" und „Minder-
jährig'' erhielten wir folgende Antwort:
Schweizerische Bundesanwaltschafit.
MinistSre public fiSd^ral. Bern, den 17. Mai 1904.
Geehrter Herr!
Ihre Anfrage vom 80. April ds. Jb., betreffend die Bedeutang
des Ausdruckes „Minderjährig" in Art 134 des revidierten Vor-
entwurfes f&r ein schweizerisches Strafgesetz, kann ich dahin be-
antworten, daß in diesem Entwurf überall unter „Minderjährigen"
solche Personen beiderlei Geschlechts verstanden sind, welche das
zwanzigste Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben, entsprechend
dem Art. 2 des Bundesgesetzes vom 22. Juli 1881, betreffend die
persönliche Handlungsfähigkeit.
Die Expertenkommission , welcher der Unterzeichnete im
Jahre 1902/8 präsidierte, hat selbstverständlich die Literatur über
Homosexualität usw. gewürdigt, soweit ihr solche zugänglich war,
und es wird dies auch in den weiteren Stadien der Gesetzes-
beratung geschehen. Die Publikationen des wissenschaftlich-
humanitären Komitees lagen uns allerdings bis dahin noch nicht vor.
Hochachtungsvoll
Der Greneralanwalt: (gez.) O. Eronauer.
Danach wäre der sexuelle Verkehr von männlichen
Personen nicht strafbar , wenn beide Beteiligte über
20 Jahre oder beide unter 20 Jahre alt sind.
Es ist selbstverständlich unser Wunsch, auch hier
zu einer glücklicheren, weniger willkürlichen Lösung der
Frage beitragen zu können.
Im Anschluß hieran mag noch des Standes der An-
gelegenheit in Rußland Erwähnung geschehen. Wie uns
von dort mitgeteilt worden, ist vom Justizministerium in
St. Petersburg ein Geheimerlaß ergangen, der den Ge-
richten nahelegt, homosexuelle Handlungen nur so weit
zu verfolgen, als es sich mit Rücksicht auf die vor-
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- 671 —
handenen Umstände nicht wohl vermeiden läßt. Nach
Berichten, die uns schon früher geworden sind, ist es
übrigens, namentlich in den größeren Städten, auch bisher
bereits ähnlich gehalten worden. In vielen Teilen des
asiatischen ßußlands wird das Gesetz, welches unserem
§ 175 entspricht, überhaupt gar nicht gehandhabt. So
sehr nun die Einsicht zu begrüßen ist, welche immerhin
aus diesen Zugeständnissen spricht, läßt sich doch
andererseits wieder denken, welch ernste Gefahren ein
solcher Zustand für den moralischen Geist der Bechts-
ptiege, für ihre gesunden Grundsätze und ihr Ansehen
in sich schließt Es ist der Fluch des Unrechts, das man
zum Gesetz erhoben, daß aus ihm, wie man es auch
immer damit halten mag, niemals Segen, sondern nur
Übel und Unheil erwachsen kann.
Neben unserer Petition war es besonders auch die
kleine Schrift: „Was soll das Volk vom dritten
Geschlecht wissen?", deren Verbreitung wir uns an-
gelegen sein ließen. Die Schrift erschien, nach sorg-
fältigen Beratungen verbessert und ergänzt, in neuer —
neunzehnter — Auflage und erfüllt fortgesetzt ihren
schönen Beruf, Menschen, die ihr eigenes Selbst als ein
drückendes, quälendes Rätsel empfinden, Klarheit und
Beruhigung zu gewähren, sie zu erlösen von der Pein
des Gedankens, mit ihrem Geheimnis ganz allein zu
stehen in der Welt, und ihren Mitmenschen die Mög-
lichkeit eines richtigen und gerechten Urteils zu ver-
mitteln.
In dem Streben, die Ergebnisse der Wissenschaft
zur Kenntnis immer weiterer Kreise zu bringen, sind wir
übrigens auch von einem Teil der Presse dankenswert
unterstützt worden. Eine große Anzahl von Artikeln, in
Blättern und Zeitschriften der verschiedensten Art, er-
örterte das Problem der Homosexualität, die Beseitigung
des § 175 und die damit zusammenhängenden Fragen,
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wohlgesinntem Ton. Der Bann des Schweigens, der noch
vor einem Jahrzehnt, sogar noch vor einem halben^ über
dem Gegenstand gelegen hat, ist, wenn auch noch nicht
gebrochen, so doch schon wesentlich erschüttert Das
aber ist ein Erfolg, dessen Tragweite wir nicht verkennen,
über den wir uns aufrichtig freuen dürfen. Hieran ver-
mögen auch Angrifife von Gegnern nichts zu ändern.
Sie können vielmehr nur, wenn auch sehr im Widerspruch
mit ihrer Absicht, die Entwicklung beschleunigen, auf
Grund deren die Frage der Homosexualität immer mehr
in den Vordergrund des öffentlichen Interesses rückt
Es gibt Kreise, in welche die Wahrheit kaum anders zu
dringen vermag, als auf dem Umweg ihrer polemisch
betonten Negation. Unter diesem Gesichtswinkel betrachten
wir Veröffentlichungen, wie sie im Monat Juni dieses
Jahres der „ßeichsbote^^ und die „Deutsche Tages-
zeitung'^, sowie ein kleines Antisemitenblatt der Reichs-
hauptstadt gebracht hatten. Von der „Deutschen
Tageszeitung'^ war sogar der Mord an der kleinen
Lucie Berlin als Anlaß benutzt worden, um Beschuldi-
gungen gegen die Homosexuellen zu erbeben. Das Blatt
hatte geschrieben:
„Wir wollen heate nur noch auf eine Erscheinung auf-
merksam machen, die in ursächlichem Zusammenhang mit dem
eben erwähnten Verbrechen steht Wir meinen das schamlose
Eintreten für geschlechtliche Verirrungen, für den sogenannten
Homosexualismus, der sogar durch Eingaben an den Reichstag
unter Beihilfe von Ärzten, Professoren usw. für seine verbreche-
rische Neigung die gesetzliche Erlaubnis und Anerkennung zu er-
wirken bestrebt ist ... . Die Regierung erkennt augenscheinlich
nicht, daß zwischen Homosexualität und Lustmorden eine sehr
nahe Verwandtschaft besteht, und daß bereits Lustmorde von
Homosexuellen zu verzeichnen sind.^'
Wie sehr das literarische Interesse fortgesetzt unserem
Gegenstande zugewendet blieb, zeigt wieder die umfang-
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— 673 -^
reiche Bibliographie, trotzdem sie keineswegs auf Voll-
ständigkeit Ansprach macht Denn die Besprechungen
des letzten Jahrbuchs sind darin, aus Gründen, die bereits
an anderer Stelle mitgeteilt wurden, nur zum kleinsten
Teil verzeichnet. Und gerade diese waren, durch ihre
Zahl sowohl, als durch die warme Anerkennung, die sie
beinahe ausnahmslos unserer wissenschaftlichen Tätigkeit
zollten, in erhöhtem Maß bemerkenswert Der Reichtum
und die Fülle des Materials, der wissenschaftlich ernste
Geist und die Bedeutsamkeit der Arbeiten haben fast
einstimmige Würdigung gefunden. Wenn nun das Jahr-
buch heuer, trotzdem es zu einem so erfolgreichen Hilfs-
mittel für uns geworden ist, in stark verkleinertem Um-
fang erscheint, so erklärt sich das aus Gründen, die in
der besonderen Eigenart der Verhältnisse liegen, mit
denen wir rechnen müssen. P]s ist nicht etwa Mangel
an Stoff, der uns eine Reduktion nahe legte. Als vor
6 Jahren der erste Band, 280 Seiten stark, erschien,
glaubten freilich sehr viele, es werde sich der Stoff nicht
finden lassen, alljährlich einen Band zu füllen. Bald
aber zeigte es sich, daß das Gebiet des Uranismus einem
großen Stück Lande gleicht, welches lange verschüttet
lag. Als die Ersten zu graben begannen, meinten sie
nur eine kleine Fläche vor sich zu haben. Je tiefer sie
aber drangen, auf um so breitere Schichten stießen sie.
Wer auch immer sich an die Arbeit machte, ob der Arzt,
der Theologe, der Naturforscher, der Philosoph oder der
Historiker, ob der Gelehrte, der Künstler oder der
Philantrop, ein Jeder fand unter der Decke Schätze, von
denen er sich in solchem Umfang nichts hatte träumen
lassen. Von Mangel an Stoff kann also nicht die Rede
sein, dieser wächst vielmehr dem Forscher sozusagen
unter der Hand.' Denn fortgesetzt eröffnen sich ihm
neue Ausblicke und fortgesetzt stößt er, erst ahnend,
dann erkennend, auf neue Zusammenhänge. Ebenso fehlt
Jahrbuch VI. 43
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aroeitem. wom aoer iieDen wir uns zunacnst oesummen
durch die Bücksicht auf minder bemittelte Interessenten,
aus deren £j*eisen schon wiederholt Klage geführt worden
war^ daB viele von ihnen das Buch seines hohen Preises
wegen nicht mehr anzuschaffen vermöchten. Dazu kam
weiter der Umstand, daß wir uns in der propagandistischen
Verbreitung des Werkes infolge des wachsenden Umfangs
und der dadurch bedingten Verteuerung allmählich zu
starke Beschränkungen auferlegen mußten, so daß eine
Beduktion^ ungeachtet des reichlicheren Zuflusses von
materiellen Mitteln, im Interesse größerer Beweglichkeit
und extensiverer Wirkung unserer Aufklärungsarbeit
überaus wünschenswert erschien. Wir werden daher
voraussichtlich auch in den nächsten Jahren den Umfang
des heurigen Bandes beizubehalten suchen.
Durch die Freigebigkeit des Verlags von Max
Spohr in Leipzig waren wir in den Stand gesetzt, das
Jahrbuch sämtlichen Universitätsbibliotheken Deutschlands
und Österreich-Ungarns unentgeltich zur Verfügung zu
stellen. Wir hatten uns dazu entschlossen, um für das
Werk, wenn möglich, die Begünstigung zu erwirken,
trotz seines rein sexual- wissenschaftlichen Inhalts ohne
erschwerende Schranken benutzt werden zu können. Auf
unser an die Bibliotheksverwaltungen gerichtetes Schreiben
hin haben sich bis zur Zeit^ wo dieser Jahresbericht dem
Druck übergeben wurde, die nachfolgenden Universitäten
bereit erklärt: Budapest, Erlangen, Gießen, Graz, Halle,
Jena, Leipzig, Marburg, München, Prag, Straßburg,
Tübingen und Würzburg. Die Bibliotheksverwaltung der
Universität Erlangen verwies in ihrer Antwort noch
besonders auf ein Gutachten der medizinischen Fakultät,
das den „wissenschaftlichen Wert des Jahrbuchs für die
gerichtliche Medizin, die Psychiatrie und die Kultur-
geschichte" ehrend hervorhob. Die Universitätsbibliothek
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— 675 —
Berlin will das Werk denjenigen zugänglich machen^ die
sich entweder über ihre wissenschaftlichen Absichten
genügend ausweisen können oder durch ihren Beruf ein
Fachinteresse voraussetzen lassen. Die Universitäts-
bibliothek Breslau behält sich vor, von ihrem Recht, in
jedem einzelnen Fall über die Zulässigkeit der Benutzung
zu entscheiden, Gebrauch zu machen. Die K. K üniversi-
tätsbibhothek Wien endlich teilte uns mit, daß sie sämt-
liche Bände des Jahrbuchs schon besitzt.
Neben der mit literarischen Mitteln betriebenen Auf-
klärungsarbeit ging wieder diejenige durch das lebendige
Wort einher.
Der Herausgeber sprach auf der 75. Versammlung
Deutscher Naturforscher und Ärzte in Kassel über „Das
urnische Kind", desgleichen zweimal vor Berliner Ärzten
über „Sexuelle Zwischenstufen unter nament-
licher Berücksichtigung der Homosexualität.^'
Auch ein Vortrag Dr. Merzbachs, ebenfalls vor Berliner
Ärzten, galt demselben Gegenstand. Trotz großer
Schwierigkeiten, die bisweilen zu überwinden waren,
blieben wir ferner darauf bedacht, durch öffentliche Volks-
versammlungen die Sache der Aufklärung zu fördern.
Der Herausgeber sprach, außer in Berlin, in Dresden, in
Frankfurt a. M., hier zum zweiten Male, und in Hannover,
immer unter zahlreicher Beteiligung. Ein Vortrag in
Leipzig war verboten worden, während die Genehmigung
für den in Hannover von Bedingungen abhängig gemacht
wurde. Wir glauben, das betreffende Schreiben des Herrn
Polizeipräsidenten veröffentlichen zu sollen;
„Auf die Eingabe vom 10. v. Mts. gestatte ich hiermit die
Abhaltung eines Vortrags über „Die homosexuelle Frage". Ich
mache jedoch dabei zur Bedingung, daß 1. die Erörterungen nur
eine wissenschaftliche Erläuterung der Homosexualität, die Cha-
rakterisierung der Homosexuellen als Kranker statt als Verbrecher
und somit nur eine Aufklärung der Verhältnisse bezwecken, welche
48*
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sammennange stenen, ana 2s. zu dem vortrage nur manniicne rer-
Bonen, and zwar solche, die das 18. Lebensjahr überschritten
haben, zugelassen werden. Falls Sie diesen Bedingungen nicht
nachkommen sollten, insbesondere, wenn Sie die Ausübung der
zur 2^it strafrechtlich verfolgten sogenannten widernatürlichen
Unzucht den Versammelten aus irgendwelchen Gründen empfehlen,
die Einführung dieser strafbaren Handlung als Zweck des Vor-
trags bezeichnen und in Verfolgung dieses Zweckes etwa die
widernatürliche Unzucht verherrlichende Gedichte oder andere
schriftstellerische Arbeiten zum Vortrag bringen oder wenn Sie
schließlich die Erörterung des Themas der Homosexualität zum
Ausgangspunkte nehmen würden, um sich in anstößiger Weise
über normale und anormale Geschlechts Vorgänge auszulassen,
haben Sie die Auflösung der Versammlung zu gewärtigen. Wann
und wo der geplante Vortrag stattfinden soll, haben Sie mir ge-
mäß § 1 des Vereinsgesetzes vom 11. März 1850 rechtzeitig an-
zuzeigen.
Der Polizei- Präsident zu Hannover,
(gez.) Steinmeister."
Von anderen Vorträgen, die zum größeren Teil un-
abhängig von unserem Komitee veranstaltet wurden, er-
wähnen wir noch diejenigen Dr. M. Eosenthals in
Erfurt und in Apolda, Schriftstellers M. Kaufmann in
verschiedenen Orten der Schweiz, so in Bern, Biel,
Luzern, Winterthur und Zürich, Eeinhold Gerlings
in Bremen, Chemnitz, Döbeln, Frankfurt a. M., Köln,
Magdeburg, Stralsund und Wiesbaden, L. S. A. M. von
Römers in Amsterdam, Delft, Haarlem und Leiden. Die
Vorträge v. Römers, der in den Niederlanden eine
überaus rührige, geschickte und opferwillige Tätigkeit
entfaltet, begegneten einem nicht minder regen Interesse
als diejenigen in Deutschland, weckten aber selbstver-
ständlich auch Widerspruch. Namentlich war es der
niederländische Ministerpräsident, Dr. Kuyper, der sich
auf einer Versammlung der „Vereinigung christlicher
Lehrer" in Amsterdam gegen v. Römer wendete. Letzterer
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— 677 —
antwortete darauf in einem offenen Brief an den Minister,
in dem er betonte, daß er keineswegs beabsichtige, die
„Sünde Sodoms" gutzuheißen, wie ihm vorgeworfen worden
war. 'EjT sei mehrfach gebeten worden, einen Vortrag
über das homosexuelle Problem zu halten, und dieser
Einladung folgend, habe er in Versammlungen gesprochen.
Die Sünde Sodoms und der üranismus seien zwei ganz
verschiedene Dinge und nur Unkenntnis des letzteren
könne beide miteinander verwechseln, wie der Minister
es getan habe. Er wies das aus der Schrift selber nach
und berief sich dabei auf eine große Anzahl von Stellen,
namentlich des alten Testamentes. Die Liebe von David
und Jonathan sei, wie er besonders hervorhob, als höchst
ideale Form uranischer Liebe aufzufassen. Er sei über-
zeugt, daß der Minister sich niemals so geäußert haben
würde, wie er (auch früher schon, in der ersten und
zweiten Kammer der Generalstaaten) getan, wenn er den
Uranismus wirklich gekannt hätte. Er, Schreiber des
Briefes, habe die Kühnheit, zu behaupten, daß es eine
heilige Pflicht des Ministers wäre, über eine Angelegen-
heit, die mindestens 2,2 ^/^ der Menschheit betrifft, in
Holland also mehr als 100 000 Menschen, sich Klarheit
zu verschaffen.
Mehr vielleicht als alle von uns im abgelaufenen
Berichtsjahr unternommenen Schritte hat den Namen
und die Sache des Komitees der vielbesprochene Enquete-
Prozeß dem Interesse der Öffentlichkeit nahegelegt.
Auf seine Vorgeschichte einzugehen, können wir uns
um so eher versagen, als bereits in dem Artikel
„Das Ergebnis der statistischen Untersuchungen
über den Prozentsatz der Homosexuellen'' aus-
flihrlich davon die Rede war. Dagegen mag hier Er-
wähnung finden, daß der Anteil, den Herr Pastor Philipps
vom Johannesstift in Plötzensee an dem Prozeß gehabt,
weit weniger entscheidend war, als man nach den Be-
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wissen, daß sehr wahrscheinlich auch ohne Herrn Pastor
Philipps, wenn schon nicht ohne den Einfluß verwandter
Inspirationen, die Anklage erhoben worden sein würde,
was wir, um völlig gerecht zu sein, ausdrücklich fest-
stellen möchten.
Dies vorausgeschickt, bringen wir zunächst die An-
klageschrift des Oberstaatsanwaltes Isenbiel, datiert
vom 13. März 1904, zum Abdruck:
„Der praktische Arzt. Dr. med. Magnus Hirschfeld in Char-
lotteuburg wird angeklagt, zu Berlin und Charlottenburg im
Dezember 1903 durch eine und dieselbe Handlung
a) unzüchtige Schriften verbreitet,
b) die Studenten Walter Götze (phil.), K. Lange (jur.),
B. Senkpiel (jur.), W. Jakobi (ing.), Hans Heinze (arch.), und
Hans Wrede (cand. med.)
beleidigt zu haben und zwar durch Verbreitung von Schriften.
Beweismittel:
A. £igene Angaben.
B. Das Eundschreiben nebst Antwortkarten.
Der Angeschuldigte hat im Dezember 1903 an 8000 Stu-
dierende der Universität in Berlin und der Technischen Hoch-
schule in Charlottenburg durch die Post in geschlossenem Eouvert
ein gedrucktes Schreiben versandt, in welchem die Adressaten
zur Beantwortung der Frage, ob sich ihr Liebestrieb (Geschlechts-
trieb) auf weibliche, männliche, oder weibliche und männliche
Personen richte, sowie zu sonstigen Mitteilungen aus ihrem Sexual-
leben, sofern dieses von der Norm abweiche, aufgefordert wurden.
Zur Beantwortung der ersterwähnten Frage lag dem Schreiben
eine frankierte Postkarte bei, auf welcher die Buchstaben W. M.
und W. + M. sowie die Zahlen von 16—30 vorgedruckt waren.
Durch Unterstreichung der zutreffenden Buchstaben sollte die
Kichtung des Geschlechtstriebes, durch Unterstreichung der zu-
treffenden Zahl das Alter des Antwortenden bezeichnet werden.
Diese Rundfrage hat bei vielen Empfangern und deren Eltern
sowie in der Presse gerechte Entrüstung hervorgerufen und die
in der Anklageformel benannten Studenten haben dieserhalb unter
dem 15. Januar bezw. 15. Februar 1904 Strafantrag wegen Be-
leidigung gestellt.
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— 679 —
Der Angeschuldigte behauptet, die Rundfrage im Auftrage
des yywissenschaftlich-humanitären Komitees", dessen Vorsitzender
er sei, lediglich im Interesse der Wissenschaft erlassen zu haben,
und zwar in so diskreter Form, daß sich niemand dadurch habe
beleidigt fühlen können. Das erwähnte Komitee habe den Zweck,
das Wesen der sogenannten sexuellen Zwischenstufen zu ermitteln.
Das versandte Schreiben tiägt auch die Überschrift „Rundfrage
des wissenschaftlich-humanitären Komitees", ebenso lautet die
vorgedruckte Adresse auf der Antwortpostkarte: „An das wissen-
schaftlich-humanitäre Komitee" in Charlottenburg, Berlinerstraße
104, II. In der Tat aber besteht dieses Komitee eigentlich über-
haupt nur aus dem Angeschuldigten selbst.
Denn nach den eigenen Angaben des Angeschuldigten in
einer ähnlichen früheren Sache handelte es sich dabei um eine
freie Vereinigung ohne festen Mitgliederbestand, welche wissen-
schaftliche Konferenzen veranstaltet. Zu diesen Konferenzen er-
läßt aber das Sekretariat (d. i. der Angeschuldigte und sein aus
freiwilligen Beiträgen bezahlter Privatsekretär) immer erst be-
sondere Einladungen an 300—500 Personen angesehener Kreise,
bei denen Interesse für die Frage der Homosexualität voraus-
gesetzt wird. Daß die vorliegende Rundfrage auf einem beson-
deren Beschluß einer solchen Versammlung beruhe, behauptet der
Angeschuldigte selbst nicht.
In jedem Falle rechtfertigt aber das etwaige wissenschaft-
liche Interesse, das eine solche Enquete haben könnte, nicht die
schamverletzende und ehrenkränkende Form des vorliegenden
Rundschreibens.
Es wird beantragt,
die Hauptverhandlung vor der Strafkammer des Königlichen
Landgerichts I zu Berlin stattfinden zu lassen."
Rechtsanwalt Chodziesner-Charlottenburg, der zu-
sammen mit Justizrat Wronker-Berlin die Verteidigung
übernommen hatte, beantragte hierauf, das Verfahren
gegen den Angeschuldigten einzustellen, und reichte zu
diesem Zweck eine ausführliche Denkschrift ein, die wir
ebenfalls hier folgen lassen:
„In der Strafsache gegen Dr. Magnus Hirschfeld beantrage
ich, das Verfahren gegen den Angeschuldigten einzustellen.
Auf die Anklage wird Folgendes erwidert:
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richtigt werden:
a) Es wird behauptet, daß die Rundfrage bei vielen Em-
pfängern und deren Eltern sowie in d(;r Presse gerechte Ent-
rüstung hervorgerufen habe.
Die tatsächliche Unrichtigkeit ergibt sich daraus, daß von
3000 Befragten über 1700 die Karten anstandslos in der ge-
wünschten Weise ausgefüllt haben. Nur zehn Namen von Em-
pfängern und deren Eltern weisen die Akten auf trotz eines An-
schlages am schwarzen Brett der Technischen Hochschule. Von
ihnen haben die beiden Väter Rendschmidt und Uagemann ihre
Anzeigen zurückgezogen, desgleichen die beiden Empfänger
Malbranc und Strieboll.
Beim besten Willen wird man 10 unter 3000 Personen nicht
als „viele" bezeichnen können.
Im Gegensatz zur medizinischen Fach- und Universitätspresse
hat die Tagespresse — deren Meinung sonst für die Königliche
Staatsanwaltschaft nicht existiert — vereinzelt gegen die Enquete
Stellung genommen.
Es sollte gerechterweise, wenn man hierauf Bezug nimmt,
zunächst aufgeklärt werden, ob die für die Artikel verantwortliche
Persönlichkeit auch selber das Rundschreiben gesehen und mit
Aufmerksamkeit durchgelesen oder ob diese ihre „gerechte Ent-
rüstung'' nicht vielmehr aus der unverantwortlichen Quelle ge-
schöpft hat, von welcher die jetzige Verfolgung des wissenschaft-
lich-humanitären Komitees und insbesondere des Hen-n Dr. Hirsch-
feld ausgeht.
b) Das wissenschaftlich-humanitäre Komitee besteht weder
„eigentlich" noch uneigentlich überhaupt nur aus dem Ange-
schuldigten selbst. Nur der Sitz des Komitees ist in der Privat-
, Wohnung des Herrn Dr. Hirschfeld. Es beteiligen sich zu jeder
Zeit verschiedene Herren an den zur Aufklärung über die sexu-
ellen Zwischenstufen notwendigen Arbeiten.
Die Enquete an sich ist — im Gegensatz zu der Behauptung
der Anklage — auf der 11. Halbjahrskonferenz beschlossen worden,
die im Hotel „Prinz Albrecht" tagte und von etwa 150 bis 200
Personen, darunter einer großen Anzahl von Ärzten, besucht war.
Von dieser Versammlung wurde die statistische Kommission ge-
wählt, welche vorzugsweise aus Ärzten bestand und nach wieder-
holten eingehenden Beratungen die Form des Rundschreibens be-
stimmte.
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— 681 —
Es wurden die Studierenden der Technischen Hochschule
aus der Erwägung heraus für hesonders geeignet zur Anfrage ge-
halten, daß sie in einer eminent modernen Wissenschaft gebildet
werden, der jede Sentimentalität und Weichlichkeit fehlt, bei der
klares, mathematisches Denken im Vordergrunde steht. So konnte
man auf einen besonders großen Prozentsatz der Antworten und
auf eine besondere Zuverlässigkeit rechnen.
IL Die Anklage beschränkt sich darauf, von der scham-
verletzenden und ehrenkränkenden Form des Rundschreibens zu
sprechen. Worin diese Schamverletzung und Ehrenkränkung der
vorliegenden Form besteht, verschweigt die Anklage. Sie ist da-
her, wie sie vorliegt, gar nicht zu widerlegen, da man bekannt-
lich nur gegen Gründe ankämpfen kann. Sie reicht mit ihren
Kriterien „Schamverletzung" und „Ehrenkränkung" allein nicht
zur strafrechtlichen Verfolgung der zur Anklage stehenden Hand-
lung, Verbreitung unzüchtiger Schriften und Beleidigung, aus.
a) Verbreitung unzüchtiger Schriften. Unzüchtige Schriften
sind solche, deren Inhalt das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in
geschlechtlicher Beziehung gröblich verletzt. (Entscheidung des
Reichsgerichts in Nr. 8, Bd. IV, S. 37, Rechtsprechung des
Reichsgerichts in Nr. d, Bd. HI, S. 52).
Der Inhalt muß jedoch objektiv unzüchtig sein. Die sub-
jektive Anschauung und individuelle Empfindung einzelner Per-
sonen ist nicht entscheidend. (Annalen des Reichsgerichts, Bd. II,
S. 121, Entscheidungen des Reichsgerichts, Bd. XXVI, S. 370,
Goltdammers Archiv, Bd. XLIII, S. 115.)
Diese objektive Unzüchtigkeit des Rundschreibens nimmt
offensichtlich nicht einmal die Anklage an. Es dürfte auch schwer
fallen, unter Anlegung des obigen Maßstabes der Unzüchtigkeit
sie in dem Rundschreiben zu finden. Vornehmer und zurück-
haltender konnte sich dieses Schreiben überhaupt nicht halten.
Es wird zunächst der Zweck und die Bedeutung der Enquete
klargestellt. Sodann wird erklärt, warum man gerade zu dieser
Rundfrage gekommen ist und warum man sich zuvörderst an
die akademische Jugend wendet: „Weil wir bei ihr den sitt-,
liehen Ernst . . . . voraussetzen dürfen, worauf wir unbedingt
rechnen müssen." So spricht nicht die Unzüchtigkeit!
Es heißt dann wörtlich weiter: „Die Haupt&age, welche wit
Ihnen vorlegen, ist folgende: „Richtet sich Ihr Liebestrieb (Ge-
schlechtstrieb) auf weibliche (W), männliche (M) oder weibliche
und männliche Personen?" Soll in dieser Frage eine grobe Ver-
letzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls gefunden werden?
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Behandlung sexueller Fragen einnimmt. Es gibt hier zwei
Richtungen: die ältere knüpft an die mittelalterliche Tradition
an, welche im Sexuellen an sich, also abgesehen von der Frage,
ob irgend Jemand oder irgend ein Interesse verletzt wird, etwas
Unheimliches oder Sündhaftes wittert, von dem man am besten
gar nicht redet. Die Folge dieses unseligen Irrtums ist vor
Allem die, daß, nach der Ansicht der Spezialisten, wie Eohleder,
etwa 99 Prozent unserer männlichen erwachsenen Jugend dem
Laster der einsamen Onanie verfallen war oder größtenteils noch
ist, einer Form der Unkeuschkeit, welche mehr als irgend andere
oder doch noch am ehesten das Prädikat der sogenannten „Wider-
natürlichkeit" verdient und die nach den ausgezeichneten Er-
wägungen Gustav Jägers besonders auch in moralischer Beziehung
wahre Verheerungen anrichtet, indem sie Lüsternheit, Unmäßig-
keit in der Befriedigung des Geschlechtstriebes und eine heuch-
lerische Heimlicheit erzeugt und außerdem den Liebestrieb, auf
welchem im Grunde alle menschliche Sympathie und somit auch
die wahre Moral beruft, an der Wurzel anzehrt (Vgl. Jäger,
Entdeckung der Seele, zweite Auflage, Band I, Seite 263/265.)
Auf der andern Seite haben wir die moderne Strömung,
welche eine Aufklärung der Jugend anstrebt, nach dem Grund-
satze, daß Naturalia non sunt turpia und daß Selbsterkenntnis,
namentlich auch Kenntnis der eigenen sexuellen Veranlagung, die
Grundlage aller Weisheit und aller Tugend ist. Es wird hierin
von pädagogischer Seite vielleicht mitunter zu weit gegangen, in-
dem man die systematische Aufklärung unerwachsener Kinder
befürwortet, aber daß die geschlechtlich erwachsene männliche
Jugend wohl in jeder Bichtung aufgeklärt werden kann und darf,
darüber dürften, mit Ausnahme der Eückständigsten, gegenwärtig
Alle einig sein.
Die Gegenpartei dient unbewußt nur der Verbreitung der
Onanie und der Geschlechtskrankheiten, jwelche in hohem Grade
am Marke der Volksgesundheit und der Volksvermehrung zehren.
Sie ärgert sich über jede Diskussion sexueller Gegenstände und
fürchtet nichts so sehr, als die Aufklärung.
•Stellte man sich auf den Standpunkt dieser, so müßte die
Besprechung sexueller Fragen aus unserem öfientlichen Leben
verschwinden. Die in ganz Deutschland bestehenden großen Ver-
einigungen zur Einschränkung der Prostitution, die von ihnen
abgehaltenen großen Volksversammlungen und Enqueten, die Reden
der Parlamentarier, die Petitionen gegen § 175 St.-G.-B., sie alle
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— 688 —
w&ren gebrandmarkt mit dem Stempel der Unzüchtigkeit. Ein
großer Teil der anthropologischen, medizinischen, zoologischen,
lyrischen und anderweitigen Literatur müßte völlig verschwinden.
Das will aber der § 184 St.-6.-B. nicht. Er will nur die
frivole, dem Ernst der Sache unangemessene Behandlung sexueller
Themata ahnden, welche bestimmt ist, die geschlechtliche Lüstern-
heit zu reizen, und welche das normale Scham- und Sittlichkeits-
gefühl verletzt.
Nun ist zwar das normale Scham- und Sittlichkeitsgefühl
ein sehr dehnbarer Begriff. Man geht aber keineswegs mit der
Behauptung fehl, daß das normale Gefühl nicht verletzt ist, wenn
die g^oße Mehrheit der einer und derselben sozialen Schicht an-
gehörigen Personen den Standpunkt des angeblich Verletzenden
teilt. Dieses Resultat hat in überwältigender Weise die be-
mängelte Enquete gezeitigt Wie erwähnt, haben von 3000 Be-
fragten über 1700 die Karten in der gewünschten Weise ausgefüllt,
einige sogar unter Hinzufügnng anerkennender Worte, obwohl solche
Bemerkungen nicht gewünscht wurden. Es werden hier drei solcher
Karten von normal veranlagten Personen beigefügt. Und die etwa
1200Nicht-Beantworter? Der Motive zur Nichtbeantwortung gibt es
eine ganze Reihe: Bequemlichkeit, Vergeßlichkeit, Besorgnis, sich
zu kompromittieren, da nachträglich festgestellt wurde, daß die
Postkarten „Wasserzeichen" hatten, die bei jeder eine etwas ver-
schiedene Lage haben, so daß besonders manche Homosexuelle,
die sich zudem durch eine sehr begreifliche Schüchternheit aus-
zuzeichnen pflegen, abgehalten worden sein dürften, die Karte
abzusenden. Wieder andere werden sich über ihre eigene Natur
noch nicht ganz klar gewesen sein und deswegen nicht geantwortet
haben.
Zu den 1700 Beantworten! ist also sicher noch eine große
Zahl Anderer zu rechnen, welche aus allen möglichen Gründen,
nur nicht wegen Verletzung ihres Scham- und Sittlichkeitsgefühls
ihre Beihülfe versagt haben.
Dem gegenüber stehen sechs Befragte, die sich in ihrem
Gefühl verletzt glauben. Daß diese Zahl nicht viel größer wird,
djifür sprechen folgende Tatsachen:
Der Kriminalkommissar von Treskow hat bemerkt: „Es wird
versucht werden, Studenten, die sich durch Zusendung des Schrei-
bens beleidigt gefühlt haben und Strafantrag stellen, zu ermitteln."
(Bl. 1 der Akten). Das Resultat waren die sechs Antragsteller.
Die beiden Väter Rends<?hmidt und Hagemann haben nichts
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„Veto!" eingelegt haben? Herr Hagemaun verneint es freilich!
Die Antragsteller haben, wie erwähnt, auf einem Anschlag
am schwarzen Brett zum Beitritt aufgefordert. Die Initiative für
Gleichempfindliche war dadurch gegeben und sie pflegt sonst in
hohem Grade zu wirken, da sich bekanntlich nur Jeder scheut,
den ersten Schritt zu tun. Der Erfolg war aber gleich Null.
Der Kriminalkommissar Hollmann hat zwei Strafanträge der Stu-
dierenden Malbranc und StrieboU zu den Akten gebracht. Und
mit welcher Begründung ziehen diese beiden ihre Anträge zurück?
Jener, weil er den Antrag in falscher Voraussetzung gestellt hat;
dieser, weil seine Beurteilung des Falles infolge Aussprache mit
Anderen eine bedeutend mildere geworden ist
So einsichtsvoll sind diese jungen Leute! Es wäre den An-
tragstellern zu empfehlen gewesen, in gleicher Weise das Schreiben
nicht sofort wegzuwerfen, wie sie es getan, sondern es zwei- und
dreimal durchzulesen und mit Anderen ihre Meinungen auszu-
tauschen. Auch sie wären von der falschen Voraussetzung zu
einer bedeutend milderen Auffassung gelangt. So aber wissen sie
wahrscheinlich gar nicht mehr, was das Schreiben — seinem In-
halt nach — bezweckte und welche Rolle sie dabei spielen sollten.
Von hier komme ich auf die Form des Handschreibens. An
sich — seinem Inhalt nach — ist es nicht unzüchtig. Was mag
wohl nun an der Form unzüchtig sein?
Wollte Jemand den Prozentsatz der Rückgratverkrümmungen
eruieren, so wäre zur Feststellung der Häufigkeit solcher sicht-
baren Dinge die Form der Enquete überflüssig.
Für die Feststellung der Häufigkeit der Homosexualität war
das aber der einzige Weg, da diese nicht an die Öffentlichkeit
tritt, sondern — in ihrer Betätigung von der herrschenden Mei-
nung und dem Gesetz verfehmt — sich scheu verbirgt. In dem
Rundschreiben war — wie bereits erwähnt — der ernste wissen-
schaftliche Zweck für Jedermann verständlich hervorgehoben, auch
darauf hingewiesen-, daß das Resultat nur durch das ungewöhn-
liche, aber wahrhaftig harmlose Mittel der Enquete zu erreichen
sei. Das Mittel ist darum harmlos, weil es an 3000 Personen der-
selben sozialen Klasse ohne Auswahl in diskreter Form — in
geschlossenem Kouvert — versandt wurde. Die Antwortkarten
waren anonym und unpersönlich gehalten. Die Karten wurden
als rein statistisches Material verwertet. Wenn überhaupt in der
Geschichte der Wissenschaft und Literatur ein sexuelles Thema
zurückhaltend, diskret, ernst, sachlich und unter möglichster
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— 685 —
Schonung des Scham- nnd Sittlichkeitagef&hls behandelt worden
ist, so liegt das hier vor.
Im Übrigen fällt mit der Verneinung der objektiven ün-
züchtigkeit dieser Teil der Anklage in sich zusammen, da an sich
nicht unzüchtige, wissenschaftlichen Zwecken dienende Schriften
nur durch die Form einer gewissen Schaustellung (Aufdrängen in
schamloser Form) zu unzüchtigen Schriften werden. Eine Bezug-
nahme auf den vorliegenden Fall bleibt daher ohne Weiteres aus»
geschlossen.
b) Beleidigung. Die sechs Antragsteller fühlen sich in ihrer
Ehre gekränkt und verlangen die Bestrafung des Angeschuldigten.
Welchen Eindruck dieser Strafantrag gemacht hat, geht aus einer
Einsendung an die am 5. April erschienene, hier beigefügte
Nummer der ,Welt am Montag* hervor. Ein Herr cand. phil.
Johannes Heinze • rückt weit ab von dem Antragsteller Hans
Hei uze und wünscht nicht seines Namens wegen mit diesem
identifiziert zu werden.
Ais Beleidigung ist im Allgemeinen jede gegen die Ehre
eines Anderen gerichtete vorsätzliche und rechtswidrige Kund-
gebung anzusehen. (Entscheidungen des Reichsgerichts, Bd. IH,
S. 433.) Eine Kundgebung liegt aber überhaupt nicht vor. Hierin
liegt gerade die Verkennung des Rundschreibens. Es enthält
eben keine gegen den Adressaten gerichtete Kundgebung, keine
Behauptung, keine Vermutung und keine Zumutung. Es fragt, es
will im Interesse der Statistik etwas wissen. Ob der Angefragte
normal oder anormal, homosexuell, heterosexuell oder bisexuell ist,
das ist den Fragestellern an sich gleichgültig; die Rundfrage ist
eben völlig indifferent. Wo soll da also der Angriff auf die Ehre
des Anderen liegen?!
Ein Angriff auf die Ehre eines Anderen liegt, wie das
Reichsgericht mit Recht festgestellt hat, in der an einen Anderen
gestellten Zumutung, widernatürliche Unzucht vorzunehmen, weil
man ihm zumutet, § 175 St.G.B. zu verletzen.
Die Rundfrage geht ja nicht einmal so weit, zu fragen, ob
der etwa anormale Befragte sich betätigt, sei es unter Verletzung
von § 175 StG.B. oder auch ohne diese Verletzung. Es ist ledig-
lich nach dem Liebestrieb (Geschlechtstrieb), und zwar in völlig
anonymer Weise, gefragt.
In dieser Form wäre selbst eine mehr prononzierte persön-
liche Anfrage keine Ehrenkräukung. Denn die Homosexualität
ist nach der begründeten Ansicht aller Sachverständigen eine an-
geborene Veranlagung, eine vollkommen unverschuldete Eligen-
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uuuuorus vuu luiuiucru, weiuuts uie auiicgvuuc ir cbibiuu tui uic
gesetzgebenden Körperschaften des Deutschen Reichs unterzeichnet
haben, die hervorragendsten Mediziner, Richter in hohen Stel-
lungen, Theologen, Schulräte, Schuldirektoren und unzählige, au
der Spitze der deutschen Nation stehende Grelehrte, Künstler,
Schriftsteller und sonstige bedeutende Persönlichkeiten. Eine
Sache, der diese Männer dienen, sollte also in Wirklichkeit ge-
eignet sein, junge Studenten i d ihrer Ehre zu kränken, wenn mau
an sie die Bitte stellt, auch ihrerseits ein Scherflein zu dem
Kulturwerk beizutragen? Daß die Antragsteller erklären, ihre
Ehre sei dadurch gekränkt, das ist *kein gutes Zeichen für sie
selbst Wären sie bewandert in der schon seit Jahren gegen
§ 175 St.G.B. vorhandenen Bewegung, wären sie mit der Kultur-
geschichte vertraut, so müßten sie wissen, daß ein Teil der
bedeutendsten Männer des Altertums und der Gegenwart homo-
sexuell veranlagt waren. Wenn man daher Jemanden direkt fragen
würde, ob sein liiebestrieb so geai-tet sei, wie der vieler, an der
Spitze der Zivilisation stehender Männer, so könnte er sich selbst
dadurch wohl kaum beleidigt fühlen. Um wie viel weniger also,
wenn man ihn nicht direkt danach fragt, sondern die Frage so
stellt, ob er normal oder anormal sei, und die Frage in der Form
stellt, daß der Befragte sie nach Belieben unter den Tisch fallen
lassen oder beantworten kann, ohne daß eine Kontrolle hierüber
möglich ist. Ja, bei dieser Unpersönlichkeit von alternativ ge-
stellten Fragen ist es unverständlich, wie hier eine Beleidigung
konstruiert werden kann.
Die Enquete ist in sehr ähnlicher Weise auch an 5000
Metallarbeiter (Eisen- und Revolverdreher) gegangen. Aus diesen
einfachen Kreisen ist an Dr. Hirschfeld ein Brief gerichtet worden,
der fast wörtlich die Stelle enthält:
„In Arbeiterkreisen hat man die Anfrage als das aufgefaßt,
was sie sein soll, nämlich als eine wissenschaftliche Forschung.'*
Die Antragsteller glauben wohl auch nur, in ihrem Ehr-
gefühl gekränkt zu sein. Sie stehen offenbar auf dem Standpunkt,
daß von geschlechtlichen Dingen überhaupt nicht gesprochen
werden darf, ganz gleich, zu welchem Zweck dies geschieht. Sie
ärgern sich deshalb über die Enquete und insbesonderere des-
wegen, daß man sie zur Mitarbeit an einer ihnen verhaßten Auf-
klärung heranziehen will. Sie verwechseln darüber ihre Meinungs-
verschiedenheit mit ihrem Ehrgefühl. Sie werfen das Verstandes-
mäßige und Gefühlsmäßige durcheinander.
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— 687 —
Sollte aber wirklich ihr Gefühl verletzt sein, so ist dies, wie
die Enquete gelehrt hat, ein krankhaftes, von der Mehrheit ab-
weichendes Empfinden, welches, wenn man es berücksichtigen
wollte, einen großen Teil aller Wissenschaft, aller Kunst und Lite
ratur unmöglich machen würde.
DaB sich anders Denkende über die Enquete ärgern würden,
darauf war das wissenschaftliche Komitee bei seiner Enquete ge-
faßt, daß aber Jemand sich persönlich beleidigt fühlen würde, hat
weder der Angeschuldigte noch sonst Jemand vom Komitee für
möglich erachtet. Selbst wenn daher objektiv eine Beleidigung
in der Anfrage gefunden werden sollte, so fehlte zur Strafbarkeit
das Bewußtsein des beleidigenden Charakters, das unbedingt er-
forderlich ist. (Entscheidungen des Reichsgerichts, Bd.XXVI, S.202.)
Mit diesem Bewußtsein hatte Dr. Hirschfeld das Rund-
schreiben nicht versandt. Ihm ist es nicht um Beleidigungen,
nicht um Unzüchtigkeiten, sondern um ernste, wissenschaftliche
Arbeit zu tun.
Seine bisherige Tätigkeit bürgt für diese Auffassung. Er
ist der Herausgeber der umfangreichen, wissenschaftlich außer-
ordentlich anerkannten Jahrbücher. Er ist der Verfasser ver-
schiedener größerer und kleinerer wissenschaftlicher Arbeiten.
Zwei derselben mögen hier beigefügt werden, der „Umische
Meusch^' und ein sich an den Inhalt dieses Buches zum Teil an-
schließender Vortrag über das „Umische Kind", gehalten auf der
75. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte
in Kassel und im Auftrage der Gesellschaft für Kinderheilkunde
herausgegeben. Medizinalrat Dr. Leppmann, Medizinalrat Dr. Naecke,
Hubertusburg, Geh. Sanitätsrat Dr. Küster, Arzt und Herausgeber
der Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung, der in dieser
Frage besonders kompetent sein dürfte, sie und viele andere. Ka-
pazitäten werden sich in eventuellen Gutachten über die ernsten
wissenschaftlichen Leistungen des Angeschuldigten nur aner-
kennend äußern.
Nicht zum Mindesten wird auch eine demnächst als Resultat
der Enquete erscheinende Schrift die ernste wissenschaftliche Be-
deutung seiner Arbeit zeigen.
Sollte trotzdem eine Beleidigung angenommen werden, so
würde doch hier dem Angeklagten als in einem geradezu schul-
mäßigen Falle der § 193 St.-G.-B. zur Seite stehen. Denn es liegt
für einen Spezialforscher auf dem Gebiete der Homosexualität
und für seine Mitarbeiter, die weder Zeit, noch Arbeit, noch sehr
erhebliche materielle Opfer gescheut haben, ein offenbares, be-
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erscheinung nach Kräften festzustellen. Der § 193 Tvird nach der
Natar der Dinge, in 99 7o ^^^r Fälle freilich nur da in Betracht
gezogen werden, wo es sich um Streitigkeiten oder Angriffe han-
delt Davon weiß aber der Wortlaut des § 193 nichts. Wenn
er schon für jene Fälle gilt, so gilt er ä plus forte raison erst
recht für solche, wo von einer aggressiven Beleidigung überhaupt
nicht die Rede sein kann.
Der Rechtsanwalt"
Dem Antrag wurde nicht stattgegeben und es kam
am 7. Mai vor der IV. Strafkammer des Königlichen
Landgerichts I Berlin zur Verhandlung. Ein Bericht
des „Berliner Tageblattes", worin kurz die vom
Angeklagten zugunsten der Homosexuellen entfaltete Tätig-
keit hervorgehoben war, hatte darauf vorbereitet. Er
lautete:
„Das dritte Greschlecht." Der Beleidigungsprozeß gegen Dr.
M. Hirschfeld aus Charlottenburg, der heute die vierte Straf-
kammer des Landgerichts I beschäftigen wird, hat eine interessante
Vorgeschichte. Der seit dem Jahre 1896 in Charlottenburg prak-
tizierende Angeklagte schrieb im Jahre 1896, durch den Selbst-
mord eines Patienten — eines homosexuellen Offiziers — veranlaßt,
seine erste Schrift über die Ursachen der Homosexualität Nach-
dem er infolge dieser Schrift eine größere Reihe homosexuell
veranlagter Personen kennen gelernt hatte, stellte er in einer
Petition an die gesetzgebenden Körperschaften die medizinischen
und juristischen Gründe zusammen, die für die Abänderung des
§ 175 Strafgesetzbuches sprechen. Diese Petition wurde nicht nur von
ärztlichen und juristischen Autoritäten, wie v. Krafft-Ebing, Rubner,
Mendel, Eulenburg, Neißer, v. Liszt, v. Lilienthal unterschrieben,
sondern auch von zahlreichen bekannten Persönlichkeiten aller
Gebiete, wie Gerhard Hauptmann, Ernst v. Wildenbruch, v. Lilien-
cron, Hartleben, Hermann Kaulbach, Max Liebermann, Wein-
gartner, v. Sonnentbai, Tepper-Laski, v. Oppenheim. (Neuerdings
haben über 2400 praktische Ärzte diese Petition unterschrieben.)
Über die Zustimmungen und Gegenäußerungen zu der Petition
verfaßte Dr. Hirschfeld eine Broschüre, die den Titel führte:
„Die homosexuelle Frage im Urteil der Zeitgenossen." Inzwischen
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— 689 —
hatte sich im Jahre 1897 ein Ausschuß von MäDnern als wissen-
schaftlich-humanitäres Komitee konstiiuiert, das sich die weitere
Erforschung der zwischen dem männlichen und weiblichen Ge-
schlecht liegenden Übergänge zur Aufgabe setzte. Dieses Komitee
gab eine größere Reihe von Schriften heraus und entfaltete eine
rege Propaganda, um eine Änderung der über die Homosexuellen
vielfach herrschenden Anschauungen herbeizuführen. Nachdem
Dr. Hirschfeld die zwölf Broschüren von Ulrichs neu herausgegeben
hatte, der in den sechziger Jahren als einer der Ersten die homo-
sexuelle Frage wissenschaftlich erörtert hatte, begründete er 1899
das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, ein umfangreiches Werk,
an dem Gelehrte aller vier Fakultäten mitarbeiten. Unter den
in dieser Encyklopädie erschienenen Arbeiten ist eine unter dem
Titel „Der urnische Mensch" als separates Buch erschienen, welches
zur Zeit auch in holländischer, englischer und französischer Sprache
erscheint Auf der im letzten Sommer tagenden Konferenz hatte
das wissenschaftlich-humanitäre Komitee infolge vielfacher An-
regungen in der Fachpresse beschlossen, eine statistische Kom-
mission zu ernennen, die über die Verbreitung der Homosexuellen
Untersuchungen anstellen sollte. Es wurden zu diesem Zweck
unter anderem größere Enqueten in der Weise veranstaltet, daß
die Befragten - nachdem ihnen die Bedeutung der Umfrage aus-
einandergesetzt war — aufgefordert vnirden, auf einer Postkarte,
die ohne Unterschrift und Schriftzeichen abgesandt werden sollte,
Buchstaben zu unterstreichen, die dem Komitee zu statistischen
Zwecken die sexuelle Anlage der Absender ersichtlich machten.
Die Resultate sind von Dr. Hirschfeld in einer Schrift „Das Er-
gebnis der statistischen Untersuchungen über den Prozentsatz der
Homosexuellen" bearbeitet worden. Darin wird die Zahl der
Homosexuellen in Deutschland auf 120Ö000 Personen berechnet.
Von den 8000 Befragten haben sich 6 Studenten trotz des diskreten
Charakters der Anfrage beleidigt gefühlt und Strafantrag gestellt,
von denen jedoch zwei den Strafantrag wieder zurückgenommen
haben. In dieser eigenartigen Strafsache steht nun heute Termin
zur Hauptverhandlung an. — Von den Verteidigern Justizrat
Wronker und Rechtsanwalt Chodziesner sind verschiedene
Sachverständige und Zeugen geladen worden, darunter als Sach-
verständige: Sanitätsrat Dr. Konrad Küster, Herausgeber der
Allg. Universitätszeitung, Medizinalrat Dr. Leppmann und Spe-
zialarzt Dr. med. Merz b ach, als Zeugen, außer verschiedenen
Assistenten und Studenten der technischen Hochschule, Obmänner
und Mitglieder des wissenschaftlich-humanitären Komitees."
Jahrbuch VI. 44
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— 690 —
Die Verhandlung erfolgte, im Gegensatz zu einem
Antrag der Verteidigung und des Angeklagten, unter
gänzlichem Ausschluß der 0£fentlichkeit und war von dem
Landgerichtsdirektor Oppermann geleitet. Das Gericht
wollte zunächst darauf verzichten, die geladenen Sach-
verständigen und Zeugen zu vernehmen, da es die Frage,
ob die Enquete als Verbreitung einer „unzüchtigen
Schrift^^ und als Beleidigung angesehen werden dürfe,
selbst entscheiden zu können glaubte. Schließlich
wurden aber doch die Sachverständigen Geh. Sanitäts-
rat Dr. Küster, Medizinalrat Dr. Leppmann und
Dr. Merzbach vernommen, die sämtlich den streng
wissenschaftlichen Charakter der Rundfrage hervorhoben.
Als Zeuge wurde nur ein Assistent der Technischen
Hochschule gehört, der die fast durchweg günstige und
verständnisvolle Aufiiahme der Enquete unter derStudenten-
schaft bekundete. Der Staatsanwalt beantragte wegen
Verbreitung unzüchtiger Schriften einerseits, wegen Be-
leidigung andererseits 500 Mark Geldstrafe. Dem gegen-
über beleuchtete Verteidiger Justizrat Wronker in ein-
drucksvollen Worten die reinen und ernsten Motive des
Angeklagten. Es handle sich hier „nimmermehr um ein
unsittliches Werk, sondern um eine aus tiefem Herzen
unternommene, mit sittlicher Strenge und wissenschaft-
lichem Ernst durchgeführte Arbeit." Verteidiger Rechts-
anwalt Chodziesner wies noch besonders darauf hin,
daß von 5000 Metallarbeitern, die in gleicher Weise
befragt worden waren, kein einziger Anstoß genommen
hätte. Zuletzt nahm noch der Angeklagte das Wort zu
einer kurzen Selbstverteidigung. Er sagte:
„Ich würde glauben, eine Schuld auf mich zu laden, wenn
ich, im Besitz der Kenntnisse, welche ich mir auf dem Gebiet
der Homosexualität gesammelt habe, nicht alle Kräfte daran setzte,
einen Irrtum zu zerstören, dessen Folgen zu schildern die mensch-
liche Sprache zu arm ist. Erst zu Beginn dieser Woche hat ein mir
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— 691 —
bekannter bomosezaeller Stadent der Tecbni sehen Hochscbule sich
vergiftet, weil er bomosezueli veranlagt war. In meiner ärztlicben Be-
handlung befindet sich zur Zeit ein Student derselben Hochschule, der
sich wegen Homosexualität in die Brust geschossen hat. Vor nur
wenigen Wochen habe ich in diesem Saal einer Verhandlung
gegen zwei Erpresser beigewohnt, die einen homosexuellen Herrn,
einen der ehrenwertesten Männer, die ich kannte, zum Selbstmord
trieben, von dem ein Zweiter, durch die nämlichen Erpresser be-
droht, nur mit Mühe zurückzuhalten war. Solche und ähnliche
Fälle könnte ich hundertfach anfuhren. — Ich glaubte diese
Umfrage veranstalten zu müssen, um die Menschheit
von einem Makel zu befreien, an den sie einst mit
tiefster Beschämung zurückdenken wird: Per scientiam
ad justitiam!^^
Hierauf zog sich der Gerichtshof zu einer langen
Beratung zurück, um sodann, nach Verlauf von ungefähr
2 Stunden, durch Landgerichtsdirektor Oppermann das
Urteil bekannt zu geben. Es lautete, schon hier in seiner
schriftlichen Fassung wiedergegeben, wie folgt:
„Im Namen des Königs!
In der Strafsache
gegen den Arzt Dr. med. Magnus Hirschfeld in Charlottenburg
wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften und Beleidigung hat die
IV. Strafkammer des Königlichen Landgerichts I in der Sitzung
vom 7. Mai 1904, an welcher teilgenommen haben:
Landgerichtsdirektor Dr. Oppermann als Vorsitzender,
Landgerichtsrat Braun,
Landgerichtsrat Cohr,
Amtsrichter Dr. Graeber,
Amtsrichter Dorendorf als beisitzende Richter,
Staatsanwaltschaftsrat Heibig als Beamter der Staatsanwalt-
schaft,
Referendar Leidert als Gerichtsschreiber,
für Recht erkannt:
Der Angeklagte wird wegen Beleidigung unter Auferlegung
der Kosten des Verfahrens mit 200 Mark Geldstrafe, an deren
Stelle im Nichtbeitreibungsfalle für je 10 Mark ein Tag Gefängnis
tritt, bestraft.
44»
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Der Angeklagte praktiziert als Arzt in Charlottenbarg. Er
betätigt sich außerdem seit Jahren in wiesen schaftlicher Beziehung.
Den Gegenstand seiner wissenschaftlichen Forschungen und Ar-
beiten bildet hauptsächlich das Geschlechtsleben des Menschen.
Er sucht durch Schriften und Vorträge darauf hinzuwirken, daß
die strafrechtliche Verfolgung des geschlechtlichen Verkehrs
zwischen Personen männlichen Geschlechts durch Gesetz auf-
gehoben werde, und hat bereits im Jahre 1896 eine darauf ab-
zielende Petition dem Deutschen Reichstag unterbreitet. Im An-
schluß hieran hat sich durch den Zusammentritt einer Anzahl
von Männern, welche dasselbe Ziel verfolgen, das wissenschaftlich-
humanitäre Komitee gebildet, welches der Angeklagte seit dem
Jahre 1897 leitet. Der Sitz des Komitees ist die Privatwohnung
des Angeklagten; es stellt sich also als eine freie Vereinigung
dar, deren Mitglieder Jahresbeiträge leisten, soweit sie solche ge-
zeichnet haben. Ein von ihnen angestellter und besoldeter
Sekretär vermittelt den Verkehr zwischen der Zentralstelle und
den Mitgliedern. Der Zweck der Vereinigung ist, in weitesten
Kreisen Aufklärung zu verbreiten über das richtige Wesen der
Homosexualität, wissenschaftliche Erforschung der sexuellen Zwi-
schenstufen und im Endziel die Aufhebung des § 175 Strafgesetz-
buches. Dieser Zweck wird angestrebt durch Veröffentlichung
von Schriften, so der „Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen",
welche der Angeklagte unter Mitarbeit medizinischer Autoritäten
herausgibt, durch regelmäßige Monatsberichte und durch Petitionen,
welche an Staatsregierungen und parlamentarische Körperschaften
gerichtet werden.
In der letzten Halbjahrskonferenz des Komitees im Jahre
1908, an welcher auch eine Anzahl Gelehrter des Auslandes teil-
nahmen, wurde der Beschluß gefaßt, behufs weiterer Erforschung
der erwähnten wissenschaftlichen Fragen eine Enquete durch
Rundfragen anzustellen. Es wurde zugleich eine statistische
Kommission gewählt, zu welcher auch der Augeklagte gehörte,
und mit den erforderlichen Vorarbeiten betraut. Die Kommission
bestimmte nach wiederholten Beratungen die Form des Rund>
Schreibens und beschloß, dasselbe zunächst an 8000 Studierende
der Technischen Hochschule in Charlottenburg zu versenden.
Das Rundschreiben ist vom Angeklagten mit Kenntnis des Inhalts
unterzeichnet und im Dezember 1903 auf Grund eines Namens-
verzeichnisses der Technischen Hochschule in 8000 Exemplaren
an Studierende zur Versendung gelangt. Anfangs 1004 wurden
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— 693 —
von ihm Rundfragen gleichen Inhalts an 5000 Metallarbeiter in
Berlin versandt. Über das Ergebnis der statistischen Unter-
suchungen berichtet der Angeklagte in einer Anfangs Mai 1904
erschienenen, bei den Akten befindlichen Broschüre.
In vorstehender Schilderung ist das Gericht den un wider-
legten, an sich auch glaubhaften Angaben des Angeklagten ge-
folgt Den Gegenstand der Anklage bildete nun der Inhalt der
an die Studenten gerichteten Rundfrage. Der Angeklagte soll
sich dadurch der Verbreitung unzüchtiger Schriften und der Be-
leidigung der vier Studenten: Walter Götze, B. Senkpiel, Hans
Heine und W. Jacobi schuldig gemacht haben. Die letzteren
haben die Strafantrage deswegen rechtzeitig gestellt Die Stu-
denten Lange, Malbrano, StrieboU und Wrede hatten gleichfalls
die Bestrafung des Angeklagten wegen Beleidigung beantragt,
haben ihre Strafanträge aber vor der Hauptverhandlung zurück-
genommen.
Die von dem Angeklagten an die Studenten versandten
Rundfragen hatten sämmtlich den gleichen Wortlaut.
Die Versendung erfolgte durch die Post in verschlossenem
Umschlag. Jedem Schreiben lag eine frankierte, an das wissen-
schaftlich-humanitäre Komitee, Charlottenburg, Berlinerstr. 104, II
adressierte Postkarte bei, auf der die Buchstaben W., M. und
W.-hM., sowie die Zahlen 16 bis 30 vorgedruckt waren. Durch
Unterstreichung des betreffenden Buchstabens sollte in Beant-
wortung der gestellten Frage der Empfänger die Richtung seines
Geschlechtstriebes, durch Unterstreichen der betreffenden Zahl
sein Alter bezeichnen. <
Nach der Behauptung des Angeklagten haben mehr als
1700 Studenten die Anfragen in der gewünschten Weise anstands-
los beantwortet, einige von diesen haben auf den Karten außerdem
ihre Zustimmung zu den Bestrebungen des Komitees Ausdruck
gegeben.
Daß der Angeklagte für den Inhalt der Rundfrage in vollem
Umfange verantwortlich zu machen ist, kann keinem Zweifel be-
gegnen. Ob das Komitee, wie die Anklage behauptet, eigentlich
von ihm allein repräsentiert wird oder aus einer Vereinigung
Mehrerer besteht, bleibt hierbei gleichgültig. Denn der Ange-
klagte gibt selber zu, daß die Form der Rundfrage unter seiner
Mitwirkung bestimmt worden ist und daß er mit Kenntnis des
Inhalts derselben seinen Namen darunter gesetzt und die Ver-
sendung an die Studenten vorgenommen hat.
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rieht unter Würdigung der Bestrebungen des wissenschaftlich-
humanitären Komitees und der hierbei entfalteten Tätigkeit des
Angeklagten davon ausgegangen, daB die Grundlage, aus der
heraus das Rundschreiben erlassen ist, eine streng wissenschaft-
liche ist und daß der Angeklagte hierbei im Interesse der Wissen-
schaft tätig gewesen ist Ob sein Standpunkt bei der von ihm
angestrengten Lösung des Problems der Homosexualität im juris-
tischen oder medizinischen Sinne als berechtigt anzuerkennen ist,
das hat das Gericht hier nicht zu entscheiden. £s ist lediglich
zu prüfen, ob der Inhalt des Rundschreibens in objektiver und
subjektiver Beziehung als unzüchtig und ferner als beleidigend
anzusehen ist.
I. Unzüchtige Schriften sind solche, deren Inhalt das nor-
male, im Volke herrschende Scham- und Sittlichkeitsgefühl in
geschlechtlicher Beziehung verletzt. Es ist an sich nicht wohl
zu bezweifeln, daß in dem Rundschreiben diejenigen Stellen, in
welchen auf den Liebestrieb zwischen Männern untereinander
und auf das von der Norm abweichende Sexualleben der Adressaten
als möglich hingewiesen wird, als unzüchtig in jenem Sinne auf-
zufassen sind. Andererseits erscheint es unzulässig, bei Prüfung
des sittlichen Charakters einer Schrift einzelne Sätze und Stellen
herauszugreifen und nach diesen den Gesammtinhalt der Schrift
zu beurteilen. Insbesondere darf dies nicht geschehen, wenn, wie
in diesem Falle, die Schrift wissenschaftlichen Zwecken dient
(Reichsgericht, Bd. XXVII, S. 115.) Es handelt sich hier allerdings
noch nicht um ein wissenschaftliches Werk, welches unzüchtige Dinge
zur Sprache bringt und nach seiner Tendenz zur Sprache bringen
muß, sondera nur um die Vorbereitung eines solchen, wie es ja in-
zwischen durch die Veröffentlichung des Ergebnisses der Rund-
frage tatsächlich zu Stande gekommen ist Diese das wissen-
schaftliche Werk vorbereitenden Rundschreiben sind jedoch nach
ihrem Charakter von dem Werke selbst untrennbar, sie verfolgen
ebenso wissenschaftliche Zwecke, wie dieses selbst. Das wissen-
schaftliche Interesse, das ihnen zur Grundlage dient, überwiegt
dergestalt, daß sie als „unzüchtige Schriften'^ nicht angesehen
werden können. Es kommt hinzu, daß diese Rundschreiben nicht
allgemein verbreitet sind, sondern für einen begrenzten Ejeis von
Lesern bestimmt waren, und zwar für Studenten, also Menschen
mit höherer Bildung, die wenigstens teilweise die wissenschaft-
liche Tendenz der Zuschrift erfassen konnten. (Reichsgerichts-
Entscheidungen in Sti-afsachen, Bd.XXXII, S.418, Bd. XXIII, S.388.)
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— 695 —
Auch die Form der Verbreitung der Rundschreiben steht der
Auffassung, daß es sich dabei um rein wissenschaftliche Anfragen
handelte, keineswegs entgegen. Im Gegenteil, sie bestätigt die
Annahme, daß keine Publikation unzüchtigen Inhalts vorliegt.
Die Verbreitung ist in der denkbar diskretesten Form erfolgt,
unter möglichster Schonung des Schamgefühls des Empfängers.
Der gegenteilige Standpunkt in der Würdigung dieser Ver-
öffentlichung müßte dazu fuhren, daß wissenschaftliche Erörte-
rungen sexueller Verhältnisse in Druckschriften stets als strafbar
zn beanstanden wären. Darin würde aber eine unzulässige, vom
Gesetzgeber nicht gewollte Beschränkung der freien Forschung
und der Entwickelung der Wissenschaft liegen.
Da hiernach die Rundfragen als unzüchtige Schriften in ob-
jektiver Beziehung nicht zu betrachten sind, so erübrigt sich ein
Eingehen auf die subjektive Seite des Tatbestandes in diesem
Umfange.
IL Der Rempunkt des Rundschreibens besteht in der
Stellung der Frage: Richtet sich Ihr Liebestrieb (Geschlechtstrieb)
auf weibliche (W.). männliche (M.) oder weibliche und männliche
(W.+M.) Personen? und femer in der Aufforderung an den Em-
pfänger, Mitteilungen aus seinem Sexualleben zu machen, sofern
dieses nach seiner Ansicht von der Norm abweiche. Das sind
Zumutungen, welche für den Empfänger ehrverletzend sind. Der
Angeklagte stellt dadurch Leuten, die er gar nicht kennt und
deren sittliche Anschauung ihm' gleichfalls unbekannt ist, das An-
sinnen, ihm ihre geschlechtlichen Neigungen kund zu tun, ja,
mutet ihnen besonders zu, ihm ,streng wahrheitsgemäß* zu be-
kennen, ob sie einen perversen, d. h. vom normalen abweichenden
Liebestrieb haben, also, mit anderen Worten, in geschlechtlicher
Beziehung sich in einer Weise betätigen, daß sie dadurch nicht
nur Sitte und Anstand nach den heute geltenden Begriffen ver-
letzen, sondern auch der Gefahr strafrechtlicher Ahndung sich
aussetzen. Es liegt hierin zugleich die Unterstellung, daß die
Befragten eines nicht nur durch Zucht und Sitte verbotenen,
sondern sogar strafbaren, sie in der allgemeinen Wertschätzung
herabsetzenden Verhaltens fähig sein könnten. Daß derjenige, der
in der Antwortkarte durch das Unterstreichen der Buchstaben M.
oder W. + M. seine Neigung zum männlichen Geschlecht offen-
bart, damit zugleich zu erkennen gibt, daß er diese Neigung auch
betätige, ist in Anbetracht des Zweckes der Rundfrage unbedenk-
lich anzunehmen. Der Angeklagte selbst hat die Fragen und
Antworten nicht anders aufgefaßt; denn er hat in der Broschüre,
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jenigen, die ihren anormalen Geschlechtstrieb in den Antworten
bekannt haben, denen gleichgestellt, die diesen Geschlechtstrieb
auch betätigen. Der Angeklagte hatte kein Recht dazu, solche
Zumutungen an unbekannte Leute zu richten und ihnen gegenüber
Derartiges zu unterstellen. Es liegt darin eine rechtswidrige
Kundgebung gegen die Ehre eines Anderen. Sie ist für den, an
den sie gerichtet ist, ehrverletzend und beleidigend. Es haben
sich ja auch Empfänger der Rundfragen, durch deren Inhalt ver-
letzt und in ihrer Ehre gekränkt gefUhlt, wie die Strafanträge
beweisen. Daß daneben eine große Anzahl von Empfangern sich
nicht beleidigt gefühlt hat, ist wohl möglich, hier indessen gleich-
gültig. Daß zu diesen aber alle Empßlnger außer den Antrag-
stellern gehören, dieser Schluß des Angekll^^en ist schon deshalb
unbegründet, weil wohl viele, die sich verletzt fühlten, die An-
fragen voll Ärger in den Papierkorb geworfen haben mögen, ohne
die Frage einer strafrechtlichen Ahndung in Erwägung zu ziehen.
Der objektiv ehr verletzende Charakter der Rundfragen wird
auch dadurch nicht beseitigt, daß diese, wie bereits mehrfach
hervorgehoben, einem streng wissenschaftlichen Zwecke dienen.
Die Wissenschaft hat auch die Schranken, die ihr das Gesetz zum
Schutz der Einzelnen zieht, zu respektieren. Es würde beispiels-
weise für die wissenschaftliche Forschung hochbedeutsam sein,
und die Aufklärung wichtiger Probleme erheblich fördern, wenn
gesunde Menschen mit Krankheitserregern geimpft würden. Dies
ist zweifellos die einzige Art, wie mit denkbar größter Zuver-
lässigkeit die Entwickelung und Fortpflanzung der Krankheits-
erreger sowie ihre verderbliche Einwirkung auf den menschlichen
Organismus in einzelnen Stadien beobachtet werden könnte. Es
liegt auf der Hand, welche eminente Wichtigkeit für die Heil-
kunde und für die Bakteriologie eine solche Feststellung hätte,
wieviele Tausende von einem solchen Fortschritt der Wissenschaft
den größten Vorteil für ihre Gesundheit erwarten könnten. Und
doch stellt eine solche, streng wissenschaftlichen Zwecken die-
nende Manipulation einen unerlaubten, Eingriff in die Rechts-
sphäre, die körperliche Integi'ität des Mitmenschen dar, der hier-
gegen durch die Gesetze geschützt wird. In gleicher Weise mag
es für die Wissenschaft der Sexualpsychologie von höchster
Wichtigkeit sein, das für die Forschung erforderliche Material
durch die Beantwortung der Rundfragen zu erlangen. Es mag
dem Angeklagten selbst zugegeben werden, daß der von ihm
hierbei gewählte Weg der in solchem Falle einzig gangbare ge-
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— 697 —
wesen ist Dennoch aber durfte er diesen Weg nicht beschreiten,
da derselbe zu einem Eingriff in die Rechtssphftre Anderer führte,
ihre Ehre yerletste. Ein solcher Eingriff ist und bleibt rechts-
widrig, auch wenn er im Dienste der Wissenschaft erfolgt. Der
Wissenschaft sollen damit keineswegs ihre Quellen unterbunden
werden, doch besitzt sie keinen Freibrief dazu, zu ihrer eigenen
Förderung rücksichtslos und nach Belieben die Rechte Anderer
zu verletzen.
Die hiernach bestehende Rechtswidrigkeit seines Handelns
hat der Angeklagte, der selbst irgend eine Befugnis dazu nicht
fQr sich in Anspruch nimmt, als mit den Verhfiltnissen des Lebens
vertrauter Mann gekannt.
Der Angeklagte war sich bei der Versendung der Rund-
schreiben auch bewußt, daß ihr Inhalt für die Empflüiger ehr-
y erletzend sei. Er kannte die Menschen nicht, an die er sich
wandte. Er wußte nicht, wie sie über die Bestrebungen des
Komitees dächten und welche Kenntnisse in geschlechtlichen
Dingen sie besäßen. Da lag doch die Möglichkeit sehr nahe, daß
Empfänger der Anfi*agen sich durch ihren Inhalt verletzt fühlen
würden. Ja, es könnte wohl kaum Wunder nehmen, wenn junge
Studenten, welche vielleicht gerade ein Gymnasium in der Pro-
vinz verlassen haben und in geschlechtlicher Beziehung noch gar
keine Erfahrung besitzen, durch die ihnen gestellte Zumutung in
die größte Erregung und Entrüstung geraten sind. Damit mußte
der Angeklagte als verständiger und gebildeter Mann und als
Arzt rechnen. Er mußte sich sagen, daß in einem beliebigen
Kreis junger Männer, die zum großen Teil das zwanzigste Lebens-
jahr noch nicht erreicht haben, sich gewiß viele befinden werden,
welche sich durch die Anfrage in ihrer Ehre verletzt fühlen.
Dies ist um so mehr anzunehmen, als der Angeklagte auf diesem
Gebiete der Rundfragen schon Erfahrungen gesammelt hat. Be-
reits im Oktober 1902 hat er zum Zweck einer wissenschaftlichen
Enquete Fragebogen in großer Anzahl versandt. Die verwitwete
Rittergutsbesitzer Anna von Blankenburg in Berlin hatte den
Fragebogen gleichfalls erhalten und, da sie sich dadurch verletzt
fühlte, gegen den Angeklagten Strafantrag wegen Beleidigung
gestellt, später aber „wegen der mit einem Prozesse verbundenen
Unbequemlichkeiten" zurückgenommen. In diesem Fragebogen,
welche auch an Damen versandt wurden, ging der Angeklagte in
seinem wissenschaftlichen Ermittelungseifer erheblich weiter, als
bei den neueren Rundfragen. Er richtete dort an Damen z. B.
die Frage (48), ob sie Hang zu unanständigem, herausforderndem
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zur Befriedigung ihres Geschlechtstriebes bestimmten Benifisarten
den Vorzug geben, wie Kellnern, Schauspielern, Prostituierten,
namentlich uniformierten Standen, insonderheit Soldaten, und
femer die Frage (78), ob bei ihnen der Trieb bestehe, die Ge-
schlechtsteile zu zeigen (Exhibitionismus) oder dergleichen.') Es
läßt sich nicht verkennen, daß die an die Studenten versandten
Rundfragen in der Form wesentlich vorsichtiger abgefaßt sind»
als jene Fragebogen. Der Angeklagte wußte eben, zum mindesten
seit dem Strafantrage der Frau von Blankenburg, auf Grund
dessen er auch verantwortlich vernommen worden ist, daß es
Leute gibt, die an dem Inhalt seiner Anfragen Anstoß nehmen,
wenn er diese auch f&r ganz harmlos hält. Mit Rücksicht hierauf
vermutlich ist zur Abfassung der Rundfragen an die Studenten
eine besondere Kommission gebildet worden, welcher der An-
geklagte angehörte. Seine Besorgnis nach der Richtung, daß
durch die Form der Anfragen abermals jemand verletzt werden
könnte, spiegelt sich wieder in dem Monatsbericht des wissen-
schaftlich-humanitären Komitees vom 1. Januar 1904. Im An-
schluß an die Schilderung des Ergebnisses der an die Studenten
gerichteten Rundfragen erklärt dort der Angeklagte, es bestehe
die Absicht, die statistische Enquete tortzusetzen und seien „Vor-
schläge über eine möglichst einwandfreie Form derselben er-
*) Anmerkung des Herausgebers. Die hier erwähnten Fragen,
die selbstverständlich im Lichte des wissenschaftlichen Zweckes
betrachtet werden müssen, zu dem sie gestellt sind, lauten wörtlich:
48. „Besteht Abenteuersucht, Hang zu Überspanntheiten, zum
Herumtreiben, zur Verschwendung, zum Sammeln, zu unanstän-
digem, herausforderndem Betragen, zur Unsittlichkeit? Halten Sie
viel auf Ordnung oder sind Sie in dieser Beziehung lässig?"
72. „Fesselten Sie mehr gebildete oder gewöhnliche, sanft-
mütige oder rohe, zierliche oder kraftvolle Naturen? Geben Sie
bestimmten Berufsarten den Vorzug, wie Kellnern, Schauspielern,
Prostituierten, namentlich uniformierten Ständen, insonderheit
Soldaten?"
78. „Litten Sie an anderweitigen geschlechtlichen Störungen,
z. B. Sucht, zu peinigen (Sadismus), gepeinigt zu werden (Maso-
chismus), Leidenschaft für bestimmte Gegenstände, wie hohe
Stiefel, Taschentücher oder Körperteile, wie Zöpfe, Hand, Fuß,
Leberflecke (Fetischismus)? Besteht der Trieb, die Geschlechtsteile
zu zeigen (Exhibitionismus) oder dergleichen?'*
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— 699 —
waDScht/' Der Angeklagte gibt hiernach die £rklftruBg, er habe
MiByerständnisse befürchtet, er habe es aber für ausgeschlosEen
gehalten, daß sich jemand durch solche Anfragen verletzt fühlen
könnte. Dies wird* jedoch darch den ausgesprochenen Wunsch
widerlegt, aus dem erhellt, daß der Angeklagte das Rundschreiben
keineswegs als einwandsfrei angesehen hat. Da das Bedenkliche
aber nur darin liegen kann, daß die Frage objektiv eine Kränkung
der Ehre anderer enthalt, so war sich der Angeklagte dieser ihrer
Eigenschaft auch hiemach voll bewußt.
Die Annahme, daß der Angeklagte sich des ehrenkränkenden
Charakters der Anfragen bewußt gewesen, wird dadurch nicht
erschüttert, daß er schon vor der Versendung des Schreibens vor
einem Kreise von Studenten der Technischen Hochschule einen
Vortrag über die homosexuelle Frage gehalten Und daß er bei
Abfassung dieser Rundfragen einen Studenten dieser Hochschule
zu Rate gezogen hat. Die Möglichkeit, daß unter den 3000 Em-
pfängern der Rundfragen sich viele durch ihren Inhalt verletzt
fühlen würden, bestand trotzdem fort und der Angeklagte war
sich dessen, wie oben dargetan, unbedenklich bewußt.
Wenn dem Angeklagten, wie wiederholt betont ist, zugegeben
wird, daß er aus dem Motiv wissenschaftlicher Forschung die
Rundschreiben versandt hat, so kann er deshalb doch nicht etwa
den Schutz des § 193 Strafgesetzbuchs für sich in Anspruch
nehmen. Die Berechtigung zur wissenschaftlichen Forschung auf
dem von ihm gewählten Gebiet soll dem Angeklagten gewiß nicht
verkümmert werden. Es fragt sich hier aber, ob das Interesse
der Wissenschaft in seiner Berechtigung so weit anzuerkennen ist,
daß ihm selbst das Recht auf Achtung der Person zu weichen
hat. (Reichsgericht, Bd. XV, S. 17.) Diese Frage ist unbedingt
zu verneinen. Es mag an dieser Stelle auf das verwiesen werden,
was oben ausgeführt ist, daß nämlich selbst ein streng wissen-
schaftliches Motiv den dadurch veranlaßten Eingriff in eine fremde
Rechtssphäre nicht zu einem erlaubten stempeln kann, daß dieser
Eingriff vielmehr trotzdem ein rechtswidriger ist und bleibt. Die
gegenteilige Annahme würde auch zu unhaltbaren Konsequenzen
führen: Jemand, der sich mit Syphilis oder mit gleichgeschlecht-
licher Liebe wissenschaftlich befaßt, würde dann straflos berechtigt
sein, jeden Unbekannten auf der Straße zu befragen, ob er schon
die Syphilis gehabt oder ob er den Geschlechtsverkehr mit Männern
demjenigen mit Weibern vorziehe. Es könnten dann auch mit
gleichem Recht Anfragen an Mädchenpensionatc gestellt werden,
ob die Insassen in ihrem Liebestrieb sich mehr zu andern weib-
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— 700 —
liehen Personen, als zu Männern hingezogen fahlen und welche
von ihnen der lesbischen Liebe huldigen. Es käme hierbei ja
nur darauf an, daß derjenige, der die Frage stellt, glaubhaft
macht, daß er sich wissenschaftlich mit dem Geschlechtsleben der
Weiber, besonders mit der Frage der Häufigkeit der lesbischen
Liebe befasse. Dieser Fall würde dem vorliegenden recht ähn-
lich sein. Junge Mädchen von 15—16 Jahren stehen in ihrer
geistigen und geschlechtlichen Entwickelung etwa auf gleicher
Stufe mit einem jungen Mann von 17 — 18 Jahren, den Studenten
in den ersten Semestern. Beiden wird mit wenigen Ausnahmen
ein Verständnis für die Bedeutung solcher wisiaenschaftlichen
Enqueten völlig mangeln. Sie werden aus den Anfragen allein
nur das Eine herauslesen, daß durch solche Zumutungen ihre
Ehre empfindlich gekränkt sei. Beide werden in der Mehrzahl
der Fälle erst durch die Anfragen von der Möglichkeit homo-
sexueller Neigungen Kenntnis erhalten.
Der geschilderte Rechtszustand wäre unhaltbar. Zur Be-
stätigung dessen, daß der Gesetzgeber das rein wissenschaftliche
Interesse gegenüber dem Recht auf Achtung der Person zurück«
treten läßt, mag an dieser Stelle auf § 800 Strafgesetzbuchs
hingewiesen werden. Die dort unter Strafe gestellte unbefugte
Offenbarung von Privatgeheimnissen seitens eines Arztes wird
dadurch nicht straf&ei, daß die Privatgeheimnisse zu wissen-
schaftlichen Forschungen verwertet und nur in rein wissenschaft-
lichem Interesse geoffenbart werden. Ein vom Recht auch
gegenüber dem Recht auf Achtung der Person anerkanntes, mit-
hin ein objektiv berechtigtes Interesse liegt demnach in der
Verfolgung wissenschaftlicher Zwecke nicht vor, womit der § 193
Strafgesetzbuchs hier ausscheidet. Daß der Angeklagte ein solches
Interesse wahrzunehmen geglaubt habe, hat er selbst nicht be-
hauptet.
Da hiemach der Tatbestand der Beleidigung nach allen
Richtungen erfüllt ist, so war die Feststellung zu treffen: Daß der
Angeklagte in Berlin und Oharlottenburg im Dezember 1903
andere, nämlich die Studenten Götze, Senkpiel, Heine und
Jacobi beleidigt hat. Vergehen gegen § 185 Strafgesetzbuchs.
Es ist nur eine Handlung, die beleidigend gewirkt hat, an-
genommen. Denn wenn auch mehrere Personen beleidigt sind,
stellt sich die Versendung des gleichen Rundschreibens an die
mehreren Personen doch nur als Ausfluß eines and desselben
Vorsatzes dar.
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— 701 —
Wegen der ihm gleichfalls zur Last gelegten Verbreitang
unzüchtiger Schriften konnte aus den oben angeführten Gründen
mangels Beweises gegen den Angeklagten eine Feststellung nicht
getroffen werden. Ebensowenig konnte nach dem geschilderten
Sachverhalt festgestellt werden, daß die Beleidigung Öffentlich
oder durch Verbreitung von Schriften erfolgt sei.
Bei Abmessung der Strafe wegen Beleidigung ist in Betracht
gezogen, daß der Angeklagte die Tat im Eifer wissenschaftlichen
Interesses begangen hat, daß er sich dabei aber in den Mitteln
zur wissenschaftlichen Forschung versehen hat. Die Motive, die
ihn zum Erlaß der Rundfragen bewogen, mögen edel und an-
erkennenswert gewesen sein,' jedenfalls hat sich in dem Sachverhalt
nirgends ein niedriges Motiv gezeigt. Andererseits ist nicht zu
verkennen, daß gerade durch solche Anfragen junge, unverdorbene
Menschen in ihren Geschlechtsempfindungcn leicht verwirrt und
perversen Neigungen in die Arme geführt werden können. Eine
sittliche Schädigung der Empfänger war deshalb sehr wohl mög-
lich. Der Angeklagte hätte dies als Arzt besonders in Erwägung
ziehen müssen.
Hiemach erscheint die festgesetzte Strafe angemessen. Die
Substituierung der Freiheitsstrafe beruht auf §§ 28, 29 Straf-
gesetzbuchs.
Die Kosten des Verfahrens treffen den Angeklagten nach
§ 407 Strafprozeßordnung.
gez. Oppermann. Braun. Cohr.
Graeber. Dorendorf.
Ausgefertigt Berlin, 18. Mai 1904.
(L. S.)«
Formal unterlegen, hatte unser Komitee oflFenbar
einen bedeutsamen moralischen Sieg errungen. Schon
die Überschriften, unter denen die Blätter ihre Berichte
veröffentlichten, legten dafür Zeugnis ab. So hieß es im
„Tag": „Die sittliche Entrüstung vor Gericht", im
„Berliner Tageblatt": „Der Kampf um die Forschung**,
im „Vorwärts": „Dr. Hirschfeld verurteilt!", im „Neuen
Montagsblatt": „Die Schamhaften und die Scham-
losen", in der „Zeit am Montag": „Die wissenschaft-
liche Forschung auf der Anklagebank", in der „Morgen-
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lieber Publizistik**, in der „Mainzer Volkszeitnng":
„Böstrafte Wissenscbaft", und äbnlicb aucb in anderen
Blättern.
Im gleicben Sinn waren zablreicbe sonstige Stimmen
der Presse gebalten. „Daß die Denunziation gegen
Dr. Hirscbfeld von Studenten ausgegangen ist", äußerten
die „Dresdner Neuesten Nacbricbten", „muß als
eine Scbande für die deutseben Universitäten bezeiebnet
werden." Der „Vorwärts" sehrieb: „Naeb dieser Be-
gründung erbält man aueb für den seiner Zeit gegen
Galilei geftibrten Inquisitionsprozeß einiges Verständnis."
Das „Berliner Tageblatt" bemerkte: „Das Urteil wird
in weiten Kreisen bedenkliebes Kopfsebütteln erregen!"
Die „Berliner Zeitung": „Uns dünkt, daß die be-
leidigten Studenten und der Herr Pastor Pbilipps auf
ibren Sieg niebt allzu stolz zu sein braueben." Die
„Welt am Montag": „Das Urteil wird trotz seiner
bumanen Deutung befremden." Die „Leipziger Volks-
zeitung": „Jetzt wird es uns erst klar, daß die Verur-
teilung des alten Sokrates zu Reebt erfolgt ist und aueb
naeb den beutigen Beebtsgrundsätzen erfolgen müßte."
Die „Magdeburger Volksstimme":
„Bekanntlich wurden auch Galileo Galilei und Giordano
Bruno yemrteilt, weil sie vor dem Gesetz nicht Halt gemacht
hatten. Allein das war — vor beinahe 800 Jahren! Daß im
Jahre 1904 ein solches Urteil möglich war, charakterisiert besser
als tausend Zeitungsartikel den ,Geist unserer Zeit^"
Die „Königsberger Volkszeitung":
„Am Sonnabend ist in Berlin von der Strafkammer ein Ur-
teil gefällt worden, das unbegreiflich erscheinen müßte, wenn auf
dem Gebiete der Rechtsprechung überhaupt noch etwas unbe-
greiflich wäre Dr. Hirschfeld wurde wirklich und wahr*
haftig verurteilt.**
nigitJypr:
— 703 —
Die „Zeit am Montag":
„Nicht um Dr. Magnus Hirschfeld handelte es sich in dem
Prozeß, der am Sonnabend vor einer Berliner Strafkammer statt-
fiand. Seine Person kam nur soweit in Betracht, als er der Ver-
treter einer wissenschaftlicben Richtung ist, die nach einer eigenen
Methode Licht über ein Gebiet zu verbreiten sucht, das von der
wissenschaftlichen Forschung bisher nur ungenügend berücksichtigt
wurde. Dr. Hirschfeld ist Vorsitzender des wissenschaftlich-huma-
nit&ren Komitees in Charlottenbnrg, das mit Eifer und Hingabe
die Frage der Homosexualität studiert und dem volkstümlichen
Verständnisse näher zu bringen sucht. Um eine wenigstens an-
nähernd sichere statistische Unterlage für die Beantwortung der
Frage nach der Häufigkeit des Vorkommens homosexueller
Veranlagung zu finden, hat Dr. Hirschfeld im Einverständnis mit
dem Komitee eine Rund&age an einige tausend Schüler der
Technischen Hochschule und Metallarbeiter versandt, durch die
er die Adressaten im Interesse der Wissenschaft um Auskunft
über die Richtung ihres Geschlechtstriebes ersuchte. Die Frage-
bogen waren so abgefaßt, daß keiner der Adressaten auch nur
eine Silbe zu schreiben, geschweige denn seinen Namen bekannt
zu geben brauchte. Lediglich durch Unterstreichen vereinbarter
Zeichen sollte die Beantwortung erfolgen. Eine persönliche Bloß-
stellung war somit nach jeder Richtung hin ausgeschlossen. Den-
noch aber geschah das Unglaubliche: Sechs Studierende der Hoch-
schule fühlten sich durch die Anfrage beleidigt und stellten
Strafantrag. Natürlich nahm sich die Staatsanwaltschaft bereit-
willig der Sache an. Zwei der jungen Leute gelangten nach-
träglich zu der Erkenntnis, daß es ihrer als Jünger der Wissen-
schaft doch nicht würdig sei, gegen einen Mann der Wissenschaft,
der aus reinster Gesinnung heraus für Aufklärung strebt und
wirkt, mit einer Klage vorzugehen. Sie zogen ihre Sti'afanträge
zurück, während die übrigen vier sie aufrecht erhielten.
Die Strafkammer hat Dr. Hiischfeld zu 200 Mark Geldstrafe
verurteilt. In der Urteilsbegründung wurden zwar die Lauterkeit
seiner Motive und die strenge Wissenschaftlichkeit des Interesses,
das ihn einzig leitete, rückhaltslos anerkannt, dennoch aber er-
folgte die Verurteilung, mußte sie erfolgen nach der Ansicht der
Strafkammer.
Die Richter vertraten die Anschauimg, daß die Achtung vor
der Person höher stehe als das Interesse der wissenschaftlichen
Forschung. So wenig man am lebenden Körper medizinische
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— 704 —
Experimente machen dürfe» so wenig dürfe man im allgemeinen
wissenschaftlichen Interesse an jemanden eine Frage richten, die
ihn kränken könne.
In Anbetracht der Zimperlichkeit der jungen Leute, die in
ihrem Strafantrag erklärtem, daß sie sich durch die Rundfrage des
Dr. Hirschfeld beleidigt fühlten, konnte der Gerichtehof wohl zu
dieser Auffassung gelangen. Ein zwingender Grund dazu lag aber
für ihn nicht vor. Sein Urteil ist zum Teil wohl auch aus den
herrschenden Anschauungen einer gewissen Gesellschaftoschicht
heraus zu erklären, die auch den Richterstand schon längst in
ihren Bann gezwungen haben. Pastor Philipps von St Johannis
mag heute frohlocken. Wir andern aber, die wir bemüht sind,
uns freizuhalten von Vorurteilen, können das Geföhl der Scham
darüber, daß ein solcher Prozeß in Deutschland möglich gewesen,
nicht unterdrücken. Nicht um den Dr. Hirschfeld handelt es sich
hier und nicht um die Homosexuellen, sondern um die Wissen-
schaft und ihre berechtigten Interessen. Ihnen ist durch den
Prozeß eine empfindliche Schädigung zugefügt worden."
Die „Breslauer Zeitung":
„Man kann nicht sagen, daß dieses Urteil übelwollend ist,
aber dennoch müssen wir es bedauern. Die Hauptechuld trifft
jedenfalls die Denunzianten, die sich in sittlicher Entrüstung er-
gangen haben, statt die lediglich im Interesse der Wissenschaft
veranstaltete Umfrage des Dr. Hirschfeld richtig zu verstehen
und richtig zu würdigen. Da es sich hier um akademisch ge-
bildete junge Leute handelt, so hätte man bei ihnen wohl etwas
mehr Verständnis für einen wissenschaftlichen Zweck voraus-
setzen dürfen. Sie hätten ja die Anfrage einfach unbeantwortet
lassen können, wenn sie Anstoß daran nahmen. Daß aus der
Anfrage, wie der Gerichtehof als möglich annimmt, irgendwie ein
„sittlicher Schade" erwachsen sei, glauben wir nicht, und noch
weniger, daß Dr. Hirschfeld, der ein wissenschaftlich recht dunkles
Gebiet durch ernste Forschung zu klären versucht, irgendwie das
Bewußtsein gehabt hat, jemanden beleidigen zu wollen."
Der „Tag":
„Seit Jahren besteht ein sog. wissenschaftlich-humanitäres
Komitee, welches sich zur Aufgabe gemacht hat, die wichtige und
interessante Frage der Homosexualität einer gründlichen Klärung
zu unterwerfen und, wenn möglich, die Aufhebung des § 175 des
St.-G.-B. zu erreichen, welcher den geschlechtlichen Verkehr unter
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— 705 —
Männern einer harten Strafe aussetzt, während hekanntennaßen
der homosexaelle Verkehr unter Frauen straflos ist. £s kommt
hei diesen Fragen in letzter Linie darauf hinaus, nachzuweisen,
daß es sich hei der Homosexualität um eine unverschuldete
Anomalie handelt, welche strafrechtlich zu verfolgen eine Unge-
rechtigkeit bedeutet. Das genannte Komitee, dessen Zusammen-
setzung wohl nicht bekanntgegeben wird, ist offenbar mit reichen
Geldmitteln versehen und hat in seinem Generalsekretär Dr.
Magnus Hirschfeld in Charlottenburg einen ungemein rührigen
und eifrigen Vertreter. Alljährlich erscheint ein aus einem
oder zwei Bänden bestehendes „Jahrbuch für sexuelle Zwischen-
stufen'S in welchem eine reiche Zahl interessanter kasuistischer
und statistischer Daten niedergelegt ist. Es gehört eine aner-
kennenswerte Selbstlosigkeit dazu, sich im Dienste eines solchen
Komitees in die Öffentlichkeit zu begeben, und es kann nicht
wundernehmen, daß Angriffe aller Art in Szene gesetzt werden.
Es gibt eben noch eine große Reihe von Menschen, welche nicht
weit genug fortgeschritten sind, um bei solchen Fragen das rein
Wissenschaftliche von dem Pikanten zu trennen, und in der Auf-
rollung derartiger Fragen eine unsittliche Handlung erblicken.
Einer der wichtigsten Punkte der Arbeiten des wissenschaftlich-
humanitären Komitees besteht nun in einer statistischen Erhebung
über die Zahl der augenblicklich lebenden homosexuellen Männer,
denn nur nach Feststellung dieser Zahl wird es möglich sein, sich
ein Bild darüber zu machen, wieviel Menschen unter dem Druck
jenes Paragraphen stehen. Eine derartige statistische Erhebung
muß, das liegt klar auf der Hand, auf große Schwierigkeiten
stoßen, da die meisten homosexuellen Personen aus ihrer Anomalie
ein strenges Geheimnis zu machen pflegen und nur ungern Farbe
bekennen. Es kam daher dem Komitee darauf an, zunächst bei
einer beschränkten Gruppe eine derartige statistische Enquete zu
veranstalten und diese so einzurichten, daß eine Kompromittierung
des einzelnen gänzlich ausgeschlossen erschien .... Was die
Statistik ergab, interessiert uns hier nicht weiter, nur die dieser
Enquete folgenden Ereignisse will ich hier kurz beleuchten.
Zunächst befaßten sich einige Tagesblätter mit der Angelegenheit,
und vor allen schüttete die „Staatsbürger-Zeitung" ein gerütteltes
Maß voll Entrüstung über das Komitee und seinen Generalsekretär
aus. Man warf dem Komitee vor, es verführe die jungen Leute
zur Unsittlichkeit und Perversität. „Die jungen Leute, die Gott
sei Dank bisher keine Ahnung von solchen widernatürlichen
Dingen hatten, erst darauf zu bringen." ~ In ähnlicher Weise
Jahrbuch VI. 45
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Blätter bewiesen wieder einmal die ungeheure Beschränktheit im
Geist, welche in manchen Redaktionen herrscht, und die absolute
Verkennung eines rein wissenschaftlichen Zweckes. Doch es fehlte
noch ein Kritiker: Herr Pastor Philipps! Auch dieser nahm sich mit
gewohnter moralischer Entrüstung der Sache an und brachte in
einer von ihm zum Kampfe gegen die Unsittlichkeit einberufenen
Studenten Versammlung dieses „Attentat auf die studentische Ehre^*
zur Sprache. In gleich geistvoller Weise hatte er auch das An-
gebot von Vorbeugungsmitteln gegen Geschlechtskrankheiten einer
fthnlichen Kritik unterzogen. So war denn mit einem Male aus
einer wirklich ganz harmlosen wissenschaftlichen Enquete eine un-
moralische Handlung gemacht worden, und Herr Pastor Philipps
hatte den Triumph, die studentische Welt von einem so gefähr-
lichen Einfluß zu befreien. Denn infolge seiner Opposition nahm
sich die Staatsanwaltschaft der Sache an und versetzte Dr. M.
Hirschfeld in den Anklagezustand , weil er durch seine Umfrage
die Unsittlichkeit gefördert habe. Diese Anklage endete mit
einer Verurteilung zu 200 Mark Geldstrafe oder entsprechender
Haft. Natürlich ist die Strafe als solche ganz gleichgültig, es
handelt sich lediglich um das Prinzip. Eine wissenschaftliche,
ernste, mit aller Vorsicht inszenierte Enquete wird als eine die
Sittlichkeit gefährdende Unternehmung Grund zu einer Bestrafung.
Wie soll man denn derartige Fragen in Zukunft lösen oder zu
lösen versuchen? Gibt es wirklich jemand, welcher glaubt, daß
durch solche Anfrage, wie die oben geschilderte, ein einziger
Mensch zur Homosexualität geführt würde? Ist das der Erfolg
unseres aufgeklärten Jahrhunderts? Zu einer Zeit, wo die
obszönsten Witzblätter auf der Straße feilgehalten werden, hat die
Staatsanwaltschaft sicherlich keinen Grund, in moralischer Ent-
rüstung eine derartige wissenschaftlich-statische Forschung vor
die Schranken zu fordern. Wenn es sich um die Frage der
Unsittlichkeit handelt, da dürften sich wohl noch genügend Ge-
biete finden, wo die Staatsanwaltschaft mit vollem Recht ein-
zugreifen Veranlassung hätte. Herr Pastor Philipps hat sich aber
durch sein Vorgehen in den Augen denkender Menschen kein
Verdienst erworben, sondern nur mit seltenem Geschick den
Beweis erbracht, daß er in den Geist einer ernsten wissenschaft-
lichen Enquete nicht einzudringen vermag.*'
Die „Allgemeine Deutsche Universitäts-
zeitung":
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— 707 —
,,Wa8 keiner für möglich gehalten , Dr. M. Hirschfeld ist
infolge seiner Enquete bei den Studenten der Charlottenburger
Hochschule wegen Beleidigung einiger sich infolge Aufhetzung
beleidigt fühlender Studenten verurteilt worden und zwar zu
200 Mark Geldstrafe. Der Gerichtshof anerkannte die strenge
Wissenschafclichkeit, ebenso die durchaus ehrenhaften Beweg-
gründe, aber die Wissenschaft miisse vor dem Gesetz Halt machen.
Dadurch, daß man Jemand befrage, ob sich sein Liebestrieb
homosexuell betätige, beleidige man denselben, da dies nach dem
Gesetz noch immer strafbar sei. In der Anfrage an die Studenten
ist aber von einer Betätigung gar nicht die Rede, sondern von
dem Empfindungsleben, das bekanntlich angeboren und wofür
deshalb niemand bestraft werden kann. Die Anfrage war in streng
naturwissenschaftlichem und durchaus nicht im strafrechtlichen
Sinne gehalten. Noch eigenartiger war es, daß das Bewußtsein
der Beleidigung angenommen wurde, weil der Angeklagte nach
„einwandsfreien^* Formen der Enquete gesucht, selbstverständlich
um zuverlässige Antworten für die Statistik zu erhalten, nicht
weil er eine Kränkung der Befragten vermutete. Ebenso eigen-
artig war die Absprechung des Schutzes berechtigter Interessen
(§ 198). Ein Mann, der seit vielen Jahren in der eifrigsten und
wissenschaftlich anerkanntesten Weise dahin gearbeitet hat, die
Menschheit von mittelalterlicher Gesetzgebung und von einem
Makel zu befreien, an den sie einst mit tiefster Beschämung
zurückdenken wird, diesem wird der Schutz des § 193 abgesprochen!
Eigenartig war auch der Ausschluß der Öffentlichkeit, trotzdem
Angeklagter und Verteidiger sie im vollen Umfange wünschten;
er war um so weniger notwendig, als die homosexuelle Frage
naturwissenschaftlich gar nicht erörtert wurde und sich alles nur
um rein juristische Fragen handelte. Der Vorsitzende wies alle
dahin zielende Aussagen der Sachverständigen als belanglos zu-
rück. Und doch waren diese von der größten Wichtigkeit; denn
wenn festgestellt worden wäre, daß die Geschlechtsempfinduug
angeboren und daß die Enquete nur auf diese angeborene Em-
pfindung zielte, so war es auch juristisch klar, daß die Anfrage
auf keinen Fall beleidigend war. Staatsanwalt und Gerichtshof
bauten aber ohne Rücksicht auf die naturwissenschaftliche Seite
allein auf der nicht anwendbaren juristischen Unterlage ihre
Anklage auf. Nicht sehr schmeichelhaft für die Studenten war
es, daß sie in Vergleich mit einem Mädchenpensionat gestellt
wurden. Backfische können den wissenschaftlichen Ernst einer
solchen Anfrage nicht verstehen und ist deshalb eine derartige An-
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sittlichen Ernst zutrauen und das hat der Angeklagte getan. Der Gre-
richtshof schien den Studenten diesen durch seinen Vergleich mit
demMftdchenpensionat nicht zubilligen zu wollen. Hierdurch könnten
sich die Studenten mit Hecht beleidigt fühlen, während ein Zu-
trauen des wissenschaftlichen Ernstes seitens des Angeklagten sie
dagegen ehren mußte. Aber ein Gutes hat die Verurteilung doch.
Die Sache wird dadurch erst recht an die Öffentlichkeit gebracht.
Mau wird anfangen darüber nachzudenken, man wird sehr bald
herausfinden, daß die juristischen Anschauungen den natur-
wissenschaftlichen Erfahrungen gegenüber nicht mehr haltbar
sind, wie denn auch einer der Antragsteller seinen Antrag zurück-
gezogen hatte, weil er nach besserer Einsicht in die Frage sich
nicht mehr beleidigt fühlen könnte.*^
Die „Münchner Jugend":
„Ein die Forschungsfreiheit gefährdender Justizirrtum muß
die Verurteilung des Dr. M. Hirschfeld in Charlottenburg genannt
werden. Um die Frage, ob das Verlangen nach Aufhebung des
§ 175 des St-G.-B. berechtigt sei, statistisch begründen zu können,
hatte er eine große Anzahl von gedruckten Briefen versandt,
deren Adressaten ersucht wurden, auf einer beiliegenden Postkarte,
jedoch ohne ihre Namensunterschrift, Auskunft über ihre geschlecht-
lichen Neigungen zu geben. Einige Studenten nun sahen, an-
gestachelt durch einen Pastor, in jener Zumutung eine persönliche
Beleidigung und das Gericht gab ihnen Recht.
Nun aber kann man sogar ein Gegner der Aufhebung des
§ 175 sein, ohne in der Tatsache der Homosexualität irgend etwas
Schimpfliches zu erblicken. Denn jener Paragraph bedroht nur
gewisse Handlungen mit Strafe, keineswegs eine allgemeine
Neigung oder Veranlagung. Zudem war die Frage in äußerst
dezenter Form gestellt und sozusagen unpersönlich, da der Adressat
seinen Namen nicht zu nennen brauchte. Von einer ,,Ab8iclit"
zu beleidigen, konnte schon gar nicht die Rede sein. Wenn das
Erkenntnis besagt, daß „die Wissenschaft vor dem Gesetz Halt
machen müsse'^, so darf dieser Satz als eine Negierung alles wissen-
schaftlichen Fortschrittes bezeichnet werden, denn wer soll schließ-
lich zur Bekämpfung schlechter Gesetze mehr berufen sein, als
die Wissenschaft?
Es wäre schrecklich, wenn unsere Justiz auf dieser schiefen
Ebene allmählich die gesamte psychologische und soziale Statistik
und wer weiß, was sonst noch, lahm legen würde. Eine ganze
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— 7Ö9 —
Masse wichtiger Fragen sind nur durch derartige Umfragen zu
erledigen. Anstatt die gekränkte Leberwurst zu hegen und zu
pflegen, schreite man doch lieber zu einer gründlichen Be-
kämpfung der zahlreichen Roheitsdelikte und insbesondere der
Kindermißhandlungen/^
Der „Münsinger Albbote":
„Ein seltsamer Prozeß hat in weitgehendster Weise die
Aufmerksamkeit nicht nur der wissenschaftlichen, sondern auch
der Laienkreise erregt. Es handelte sich um eine Beleidigungs-
klage, die vier resp. sechs Studenten der Technischen Hochschule
gegen den bekannten Vorsitzenden des wissenschaftlich-humani-
tären Komitees angestrengt hatten .... Es ist ein trauriges und
nicht zu übersehendes Zeichen unserer Zeit, daß der Jugend, die
sich die Blüte der Nation nennt — wenn auch nur teilweise —
der Begriff der wahren Sittlichkeit so verwirrt worden ist, daß
einige ihrer Vertreter sich durch eine wissenschaftliche Frage
beleidigt fühlen können. Aber das kommt von den verschrobenen
Ehrbegriffen her — unter 3000 Arbeitern hätte sich gewiß keiner
gefunden, der sich beleidigt gefühlt hätte.
Bei der Verhandlung verkannte der Staatsanwalt den sitt-
lichen Ernst des Angeklagten nicht, konnte sich aber — wenigstens
nach außen hin — nicht dazu entschließen, die „Verbreitung
unzüchtiger Schriften'^ fallen zu lassen und beantragte 500 Mark
Geldstrafe. Der Gerichtshof schloß sich dieser Anpassung nicht
an, sah aber trotz des wissenschaftlichen Zweckes eine Beleidigung
für feststehend an und erkannte auf 200 Mark Geldstrafe mit der
denkwürdigen Begründung, die Forschung müsse vor der Person
Halt machen. Man muß sich doch wundem, daß die wissen-
schaftliche Forschung nicht höher eingeschätzt wird und daß
Menschen auf eine bloße Frage hin, die in feinster und diskre-
tester Form geschieht, eine Verurteilung des Fragers herbeiführen
können. Wie herrlich weit haben wir es doch gebracht, wehrlose Tiere
erklären wir der wissenschaftlichen Forschung durch Vivisektion
opfern zu müssen, aber an den Menschen dürfen wir im Interesse
derselben wissenschaftlichen Forschung keine Frage richten, trotzdem
ihm damit nicht das geringste Leid geschieht, nicht einmal 5 Minuten
Arbeit gemacht wird. Es ist eine Torheit, zu behaupten, die
freie Forschung könne ja auch einmal Experimente an lebenden
Menschenkörpem für notwendig ansehen, und wenn man das Eine
gestatte, müsse man das Andere auch zugeben. Solche Behaup-
tungen werfen ein grelles Schlaglicht auf die geistige Höhe ihrer
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heit zu gute kommt, hat ein Recht darauf zu beanspruchen, daß
man ihr keinerlei Hindernisse in den Weg legt, so lange sie sich
in den Bahnen wissenschaftlicher Fragen hält, und die Beant-
wortung derselben sollte jedermann, ganz besonders aber den
Studierten und Studierenden als eine Ehrenpflicht erscheinen, als
ein einfacher Dank für die gemeinnützigen Leistungen der wissen-
schaftlichen Forschung.
Dr. Hirschfeld wird seine Verurteilung zu ertragen wissen
in dem Bewußtsein, daß hunderttausende ihm täglich danken für
die mühevolle Arbeit, für das heiße Streben, das er ihrer Be-
freiung von schmählichen Ketten widmet, daß hunderttausende
mit ihm übereinstimmen in dem Gedanken, wie notwendig die
Abschaffung des § 175 ist, dieses Schandfleckes auf dem Schilde
der deutschen Ehre/*
Selbst die Zeitungen des Aaslandes, sogar Blätter
von jenseits des Ozeans widmeten dem Urteil ihre Auf-
merksamkeit. So hieß es — ein paar Wochen später —
in einem fast zwei Seiten langen Artikel des ^^Argen-
tinischen Wochenblatts'^ in Buenos Aires, der größten
deutschen Zeitung Südamerikas:
„Die Begründung des Urteils ist eine glänzende Recht-
fertigung des Angeklagten und seiner humanen Bestrebungen, so
daß selten ein Richterspruch den Gegensatz von Gesetz und
Recht klarer beleuchtet hat als dieser Spruch."
Ähnlich schrieb die „Germania", Allgemeine
deutsche Zeitung für Brasilien, in San Paolo, von einer
„ehrenvollen Rechtfertigung des Angeklagten, dessen rein
wissenschaftliche Ziele und humanitäre Motive das Urteil
anerkannt habe."
Selbstverständlich säumten wir nicht, gegen das Urteil
unsererseits Revision anzumelden, um so mehr, als wir
von den verschiedensten Seiten auf die höheren, all-
gemeinen Interessen hingewiesen wurden, welche hier
in Frage ständen. Die Begründung des Verteidigers
lautete:
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— 711 —
,Jn der Strafsache
gegen den Arzt Dr. med. Magnus Hirschfeld in Charlottenburg
wird in Verfolgung der Revisionsanmeldung beantragt,
das Urteil des Königlichen Landgerichts I Berlin vom
7. Mai 1904 aufzuheben, insoweit es eine Beleidigung für vor-
liegend erachtet.
Die Anfechtung wird auf Verletzung formeller und mate-
rieller Kechtsnormen gestützt.
I. Es ist in der mündlichen Verhandlung und im Urteil
nicht festgestellt worden, daß die 4 Antragsteller über 18 Jahre
alt, also zur selbständigen Stellung des Strafantrages berechtigt
waren. Bei einem Alter unter 18 Jahren wäre kein giltiger
Antrag vorhanden und demnach die Bestrafung ausgeschlossen.
II. Es unterliegt der Nachprüfung, ob der Rechtsbegriff der
Beleidigung nicht verkannt ist.
Die im Urteil festgestellten Tatsachen rechtfertigen die An-
nahme einer Beleidigung im objektiven Sinne nicht. (Vergleiche
Freudenstein: System des Rechts der Ehrenkränkungen, Han-
nover 1880.)
Die Beleidigung setzt die Mißachtung der fremden Persön-
lichkeit, eine gegen die Person gerichtete Spitze voraus; daher
gibt es keine Beleidigung eines Kollektivbegriffes.
Im vorliegenden Falle ist — wie festgestellt — die unter
Anklage gestellte Rundfrage an eine dem Angeklagten nur als
Zugehörige der Technischen Hochschule Charlottenburg bekannte,
im übrigen aber unbekannte Gesammtheit von ca. 8000 Personen
ergangen. Anstatt der Adressen mit Namen hätte der Angeklagte
ebenso gut Zahlen auf die verschlossenen Couverts gesetzt, wenn
damit der Zweck der ordnungsmäßigen Verteilung der Anfragen
erreicht worden wäre.
So unpersönlich wie die ;Form war auch der Inhalt des
Schreibens. Er enthält — wie festgestellt — unter Hinweis auf
die wissenschaftliche und humanitäre Bedeutung der Enquete eine
Aufforderung, sich an dem geplanten Werk der Aufklärung nach
Kräften zu beteiligen. In erster Linie hält der Angeklagte eine
Beteiligung der Angefragten in der Weise für möglich, daß sie
unpersönlich Angaben über ihr Sexualleben machen. Dem An-
geklagten ist das Sexualleben des Individuums an sich gleich-
gültig. Er will nur Zahlen für seine Statistik haben. Seine
Anfrage ist ganz indifferent. Sie erklärt nur etwa Folgendes:
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anormal veranlagt sind. Ich weiß nicht, wie Du, Angefragter
veranlagt bist, bitte, sage es mir. Wer Da bist und wie die
Antwort ausfallt, ist mir gleichgültig, wenn sie nur der Wahrheit
entspricht.
Es ist lediglich nach dem Trieb gefragt, bei der Arbeiter-
enquete das Wort sogar unterstrichen.
Wer nicht antworten mag, kommt nicht in Verlegenheit.
Der Angeklagte stellt niemanden. Jeder kann der Antwort ohne
Verlegenheit ausweichen. Das ist der Unterschied zwischen der
diskreten brieflichen Anfrage des Angeklagten und der vom
Urteil — in einem unzutreffeiiden Vergleich — herbeigezogenen
persönlichen Anfrage auf offener Straße.
Die Angefragten sind junge Leute, die eine Gymnasial-
bildung hinter sich haben, deren Aufgabe es gegenwärtig ist, sich
mit wissenschaftlichen Fragen zu beschäftigen. Der Angeklagte
hat für sie Vorträge über die in Hede stehenden Fragen gehalten.
Sie haben gerade als Studenten der Technischen Hochschule ein
Fach gewählt, das keine Zimperlichkeit verträgt. Dazu kommt,
daß junge Männer überhaupt mit sexuellen Fragen vertrauter sind
als junge Mädchen, daß das Schamgefühl beim Weibe von Natur
ausgeprägter ist und sein soll. Nach herrschender Anschauung
wird sich ein junger Student nicht verletzt fühlen durch die
Frage , ob er mit einem jungen Mädchen verkehrt. Mit Recht
würde aber das junge Mädchen aus der Pension eine derartige
Frage als eine grobe Beleidigung zurückweisen. An diesem, von
der ersten Instanz gewählten Vergleich der Studenten mit den
Zöglingen eines Mädchenpensionats allein sieht man, wie die
Strafkammer den objektiven Begriff der Beleidigung verkannt hat.
a) „Was eine Ehrenkränkung ist, muß die Anschau-
ungsweise der betreffenden Kreise und die Gewöhnung
der Beteiligten ergeben."
Es hat aber nicht festgestellt werden können, daß von den
3000 Angefragten sich außer den 4 Antragstellern noch Jemand
beleidigt gefühlt hat. Wohl aber ist festgestellt, daß 1700 ge-
antwortet haben. Die herrschende Anschauung der Angefragten
spricht also für den Angeklagten.
Der § 300 St.-G.-B. kann ebenfalls nicht herangezogen
werden, da gerade eine diskrete Verwertung des Anvertrauten
ohne Bezeichnung der Person zulässig ist.
b) Ferner muß der Täter mit dem Bewußtsein der
Ehrenkränkung und dem Bewußtsein der Rechtswidrig-
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— 713 —
keit seiner Kundgebang gehandelt haben: Der Animus
injnriandi ist erforderlich.
Der Angeklagte hat — wie festgestellt, junge Studenten zur
Klärung eines noch dunklen wissenschaftlichen Gebietes heran-
gezogen, ohne jede Nebenabsicht des Sinnenkitzels. Soll er sich
wirklich dabei gesagt haben, daß sittlich gesunde junge Studenten
die Zumutung, die Wissenschaft zu fördern, als eine Beleidigung
auffassen könnten? Auf diese Idee konnte er nur dann kommen,
wenn er ihnen eine schmutzige Phantasie, eine schwüle Sinnlich-
keit zuschrieb.
Der Angeklagte konnte die Möglichkeit der Beleidigung nur
erwftgen, wenn er den Inhalt des Bundschreibens für beleidigend
hielt. Da er aber ebenso wie die Strafkammer die Homosexualität
für abnorm, krankhaft, also ein unverschuldetes Übel hält, und
da er sich nicht darauf beschränkt hat, nach der Abnormität zu
fragen, sondern in gleicher Weise die Vermutung des normalen
Triebes unterstellt hat, so konnte er von seinem Standpunkte aus
die Möglichkeit der Beleidigung sicher nicht in sein Bewußtsein
aufnehmen.
Wie sollte auch der Angeklagte zu der vorsätzlichen und
rechtswidrigen Kundgebung der Mißachtung gegenüber Personen
kommen, die für ihn gar nicht als solche, sondern nur als Zahlen
existierten?!
Es ist bei der Frage nach dem Animus injuriandi nicht
gleichgültig — wie die Strafkammer sagt — daß hunderte hinter
dem Angeklagten stehen. Denn wo diese Vielen nicht auf
die Idee kommen, möglicherweise zu beleidigen, wird man wohl
schwerlich gerade bei dem einen Angeklagten dies Be-
wußtsein annehmen können!
Es ist daher zwar das Bewußtsein der Beleidigung im Urteil
festgestellt, doch nicht in rechter Würdigung des rechtlichen Be-
griffes „Animus injuriandi".
c) Bleibt aber eine Beleidigung in objektiver und subjektiver
Hinsicht schließlich bestehen, so muß, da der Angeklagte sie be-
streitet, ex officio die Frage geprüft werden, ob nicht der An-
geklagte in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt hat
und nach § 193 St.-Gr.-B. straffrei bleiben muß.
Die Wissenschaft allein soll ihm keinen Freibrief zur Be-
leidigung ausstellen, sagt das Urteil. Nun hat aber das Urteil
selber festgestellt, daß die wissenschaftliche Erforschung des
wahren Wesens des Uranismus der Abschaffung des § 175 St.-G.-B.
dienen sollte, daß also objektiv berechtigte Interessen der Homo-
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schlagen war, den für die Homosexuellen aus § 175 St.-G.-B.
fließenden Übelständen der Bestrafung, der Erpressung (Chantage)
— die übrigens auch an die Normalsexuellen herantritt — ab-
zuhelfen. Hierzu ist auch der persönlich nicht Betroffene be-
rechtigt, wenn es sich vermöge besonderer Eigenschaften — des
eingehenden Studiums der Sache — für berufen erachten konnte.
(Reichsgerichts-Entscheidung, Bd. V, S. 123, Bd. XIII, S. 41.
Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch, Anmerkung 6c zu
§ 193 St.-G.-B.)
Nun hat aber femer das Urteil festgestellt, daß der An-
geklagte der Vorsitzende des wissenschaftlich-humanit&ren Komitees
ist, welches sich die Aufklärung der Homosexualität zur Aufgabe
gemacht hat und dessen Mitglieder überwiegend Homosexuelle sind.
Als Vorsitzender dieses Komitees hat der Angeklagte doch
wohl in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt, wenn
auch nur mittelbar eigener Interessen als Teil des Ganzen, sodaß
ihn aus dieser Feststellung allein § 198 St-G.-B. straflos halten
muß. (Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch, Anmerkung
6 b zu § 193.)
Auf jedem der hier gerügten Punkte beruht die Verurteilung.
Mit dem Fortfall eines derselben fällt auch die Möglichkeit der
Verurteilung.
Der Rechtsanwalt,
gez. Chodziesner.^'
Aber auch der Staatsanwalt hielt sich veranlaßt, das
Urteil eiues höheren Gerichtes anzurufen. Er begründete
seinen Antrag auf Revision, wie folgt:
„I.
Das Urteil der 4. Strafkammer des Landgerichts I zu Berlin
vom 7. Mai 1904 wird insoweit angefochten, als der Angeklagte
nicht auch zugleich wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften ver-
urteilt ist, und es wird Verletzung der §§ 184, 78 Strafgesetzbuchs
durch Nichtanwendung gerügt.
Das Urteil erkennt selbst an, daß diejenigen Stellen des
vom Angeklagten verbreiteten Rundschreibens, in welchem auf
den Liebestrieb zwischen Männern und auf die Möglichkeit eines
von der Norm abweichenden Sexuallebens der Adressaten hin-
gewiesen wird, geeignet sind, das normale im Volke herrschende
Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung zu
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— 715 —
verletzen, meint aber, daß diese Stellen nicht aus dem Zusammen-
hange gerissen werden dürfen.
Indessen bilden diese Stellen den alleinigen Inhalt des
Rundschreibens, auch das angefochtene Urteil macht nicht er-
sichtlich, welchen Inhalt die Rundfrage sonst noch haben sollte.
Richtig ist zwar, daß die wissenschaftliche oder künstlerische
Wirkung einer Schrift derart vorwiegen kann, daß, was sonst
schamverletzend sein würde, diesen Charakter verliert. Aber,
wie das Urteil selbst zugibt, handelt es sich hier noch gar nicht
um ein wissenschaftliches Werk, sondern nur um die Vorbereitung
eines solchen.
Das Rundschreiben selbst hat keinen eigenen wissenschaft-
lichen Wert, es könnte in der vorliegenden Form auch von jedem
einigermaßen gebildeten Laien abgefaßt sein und es dient nicht
dazu, seine Leser zu belehren, sondern der Verfasser will sich im
Gegenteil von den Lesern belehren lassen.
Die Berufung auf die Entscheidung des Reichsgerichts,
Bd. XXVII, S. 114 ff. erscheint daher sowohl bez. der Hervor-
hebung der wissenschaftlichen Tendenz als auch bez. der Be-
trachtung des Leserkreises der inkriminierten Schrift verfehlt.
In letzterer Beziehung kommt noch hinzu, daß der Angeklagte,
wie im Urteil festgestellt wird, eine ähnliche Rundfrage auch an
Damen und unmittelbar nach dem hier vorliegenden Rund-
schreiben, wie aus der von ihm überreichten, im Urteil erwähnten
Druckschrift Blatt 117 d. A. hervorgeht, ein ganz gleichartiges
Zirkular an Metallarbeiter verschickt hat, daß aber auch in dem
vorliegenden Rundschreiben Antworten von 16- und 17-jährigen
Studenten erwartet wurden, denen, wie an anderer Stelle des Ur-
teils zugegeben wird, das Verständnis für die Bedeutung solcher
Enqueten völlig mangelt. Die wissenschaftliche Verwertung des
Ergebnisses der Umfrage in der oben erwähnten Druckschrift,
welche sich an fachwissenschaftlich gebildete Leser wendet, mag
größere Freiheiten für sich in Anspruch nehmen, die Umfrage
selbst, die an zum Teil unreife Laien gerichtet ist, ist hiervon
ganz verschieden und mußte das allgemeine Sittlichkeitsgefühl
berücksichtigen. Daß sie einen wissenschaftlichen Zweck ver-
folgte, ist ohne Belang. (Entscheidung des Reichsgerichts in
Strafeachen, Bd. XXIV, S. 365, und in den hiesigen Akten 2. E.
M. 87 .08 — D. 4820 .03.)
IL
Für den Fall, daß vorstehende Rüge nicht durchgreifen und
§ 73 St.-G.-B. für nicht anwendbar erachtet werden sollte, wird
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Verletzung des § 200 St.-G.-6. durch Nichtanwendung gerügt,
insofern nicht auf Publikationsbefugnis für die Beleidigten erkannt
ist. Es ist nicht ersieh tlich^ warum in der Versendung eines und
desselben vervielfältigten Eundschreibens an 3000 willkürlich aus-
gewählte Studenten keine „Verbreitung von Schriften" zu finden
sein soll.
gez. Isenbiel
Oberstaatsanwalt.
An das Kgl. Landgericht I, Strafkammer 4 in Berlin."
Über die Aussichten der von uns eingelegten Revision
Betrachtungen anzustellen, wäre müßig. Auf alle Fälle
glauben wir, hoffen zu dürfen, daß die Sympathie der
OflFentlichkeit, wie sie in den Stimmen der Presse zum
Ausdruck kam, auf unserer Seite bleiben wird.
Diese Sympathie äußerte sich übrigens nicht allein
in den Stimmen der Presse. Auch zahlreiche Zuschriften
und sonstige Kundgebungen bewiesen uds, daß der Aus-
gang des Prozesses für das wissenschaftlich-humanitäre
Komitee einen erfreulichen moralischen Gewinn und einen
unverkennbaren Aufstieg im urteil der öffentlichen
Meinung bedeutete. Wir erwähnen zunächst zweier
Resolutionen, einer vom „Verein für Gesundheitspflege
des Volkes in Moabit", und einer anderen, die nach dem
schon erwähnten Vortrag in Apolda beschlossen worden
war. Wir geben, da beide im Wesentlichen dieselben
Gedanken zum Ausdruck bringen, nur die letztere hier
wieder:
„Nach dem soeben gehörten Vortrage des Herrn Dr. med.
Max Rosen thal- Weimar, welchen derselbe auf Veranlassung des
Gewerkschaftskartells Apoldas über „Widernatürliche Geschlechts-
empfindung und § 175" am heutigen Abend im Saale des Burger-
vereins hielt, fühlen sich die versammelten Arbeiter veranlaßt,
dem unermüdlichen Kämpfer für Menschlichkeit, Herrn Dr. med.
Magnus Hirschfeld, Charlottenburg, ihre vollsten Sympathien aus-
zusprechen. Die Versammlung verurteilt auf das Schärfste das
Vorgehen jener vier Studierenden gegen Herrn Dr. Hirschfeld,
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sowie die von jenem Geistlichen ausgesprochenen Beleidigungen,
indem sie gleichzeitig der Hoffnung Ausdruck gibt, daß auch all-
mählich in diejenigen akademisch gebildeten Kreise, die sich
heute noch zu Verteidigern des § 175 aufwerfen, soviel Verständnis
für die homosexuelle Frage dringen möge, wie es die einfache,
nicht akademisch gebildete Arbeiterschaft, die am heutigen Abend
hier versammelt ist, dieser Frage entgegenbringt
Die Versammlung wünscht den Be8b*ebungen des wissen-
schaftlich-humanitären Komitees um Aufhebung des § 175 vollen
Erfolg, denn „über den Gesetzen von Menschenwerk steht das
Gesetz der Natur".
Als ehrenvolle Kundgebung für unser Komitee erschien
sodann, wenigstens mittelbar, eine am 17. Mai stattgehabte
Protestversammlung, welche die Abteilung für Sozial-
wissenschaft an der Technischen Hochschule Charlotten-
burg einberufen hatte. Als Tagesordnung war angesetzt:
„Der Fall Hirschfeld und die Charlottenburger
Studentenschaft", worüber ein ausführliches und vor-
nehm gehaltenes Referat erstattet wurde. Die Presse
berichtete über den Verlauf:
„Ein Protest gegen den Obskurantismus. Mit der be-
kannten Rundfrage des Dr. Hirschfeld über homosexuelle Veran-
lagung und den sich daran knüpfenden, durch die Presse zu all-
gemeiner Kenntnis gelangten Vorgängen beschäftigte sich gestern
abend eine stattliche, von der sozial wissenschaftlichen Abteilung
der Charlottenburger Wildenschaft einberufene Versammlung.
Das Keferat hatte Herr Drenckhahn übernommen, der mit scharfem
Spott das Verhalten jener wenigen Studierenden geißelte, die sich
durch die Rundfrage angeblich beleidigt gefühlt und gegen
Dr. Hirschfeld erfolgreiche Anzeige erstattet hatten. Manch gutes,
kerniges Wort wurde auch von anderen Rednern gesprochen, die
Ankläger aber hatten es vorgezogen, an der Versammlung nicht
teilzunehmen und sich in Schweigen zu hüllen. In einer gegen
drei oder vier Stimmen angenommenen Resolution wurde das
Vorgehen der „beleidigten" Studierenden auf das entschiedenste
verurteilt, im übrigen wies die Versammlung das summarische
Urteil eines großen Teils der deutschen Presse und des Publikums
zurück, als hätten die Studierenden nicht die nötige Reife und
Bildung, um wissenschaftliche Arbeiten und Forschungen, im vor-
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als solche zu erkennen und zu bewerten. Für die Resolution
sollen noch Unterschriften gesammelt werden."
Derselbe Tag brachte allerdings auch einen öfiFent-
lichen AngriflF auf uns und ganz besonders einen Angriff
auf die von uns veranstalteten Rundfragen. Er ging aus
von der Kreissynode Berlin 11, auf der zunächst Synodale
Pastor Philipps heftige Anklagen erhob. Es hieß darüber
in den Blättern:
„Auf der Kreissynode Berlin II wurde von dem Synodalen
Pastor Philipps der Antrag gestellt: Die Kreissynode ersucht
ihren Vorstand, die nachstehende Resolution zur Kenntnis des
Staatsministeriums zu bringen: Die Kreissynode hat mit großer
Besorgnis von dem Treiben des sogenannten „wissenschaftlich-
humanitären Komitees" zu Gunsten der „Homosexuellen^^ Kenntnis
genommen und ersucht die königliche Staatsregierung, ein wach-
sames Auge darauf zu haben, daß die Agitation, welche sich
gegen § 175 des Heichsstrafgesetzbuches richtet, nicht zu einer
staatlichen Duldung bezw. Anerkennung der widernatürlichen
Unzucht führt, wie solches von dem genannten Komitee erstrebt
wird. Die Kreissynode ist der Überzeugung, daß die gleich-
geschlechtliche Unzucht erwachsener Personen .... bei normalen
Menschen mit Gefängnis bezw. Zuchthaus, bei anormalen dagegen
als gemeingefährliche sittliche Verirrung mit zwangsweiser Über-
führung in eine Heil- oder Irrenanstalt zu bestrafen ist Ea wird
zugegeben, daß der § 175 vom Eechtsstandpunkte aus anfechtbar
ist, weil er nur das eine, nämlich das männliche Geschlecht trifft,
während das weibliche straffrei bleibt. Einer Agitation zum
Zweck der Änderung des § 175 könne deshalb die Berechtigung
nicht abgesprochen werden, wohl aber einer solchen, welche auf
die gänzliche Beseitigung dieses Paragraphen abzielt, weil dadurch •
die sittlichen Grundlagen unseres Staats- und Volkslebens zerstört
würden. Das königliche Staatsministerium ist um Antwort zu er-
suchen. Pastor Philipps führte sodann noch weiter aus, die
Homosexuellen drängten sich jetzt in dreister und frecher Weise
an die Öffentlichkeit, sie hätten sich organisiert, ein eigenes Klub-
haus gegründet und unter dem Deckmantel eines Kampfes auf
Abschaffung des § 175 suche die Bewegung einen Boden für die
Ausbreitung der widernatürlichen' Unzucht. Es sei mit Freuden
zu begrüßen, daß auf Anregung des Schriftstellers Otto v. Leixner
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jetzt ein Verband entstehen solle, der alle anstllndigen Leute,
gleichgültig, welcher Partei und welchen Bekenntnisses, zusammen-
fügen wolle zur Beseitigung des wüsten, unmoralischen Schmutzes,
der das Volk je länger desto mehr verwüsten und zersetzen müsse.
Syn. Prediger Dr. Runtze betonte, daß gegen die Agitation
der Homosexuellen und gegen solche Umfragen, wie sie Dr. Hirsch-
feld an die Studenten der Technischen Hochschule gerichtet, nicht
laut genug Protest erhoben werden könne. Der Ausdruck ,dreist
und frech* sei in diesem Falle viel zu milde, er nenne es eine ruch-
lose Schamlosigkeit, die gegen Alles verstoße, was Sitte und Re-
ligion fordere. (Beifall.)
Die Anträge, der Sittenkommission wurden sämtlich an-
genommen."
Die „Berliner Zeitung" antwortete auf diese und
ähnliche Angriffe in einem Leitartikel vom 20. Mai, in
dem es unter Anderm hieß:
„Man kann den gleichgeschlechtlichen Verkehr beklagen,
verdammen, bekämpfen. Aber man hat kein Recht, die glück-
licherweise doch nicht allzu beträchtliche Verbreitung dieses
Übels als eine schwere Gefahr für unser staatliches und sittliches
Volksleben hinzustellen. Und man hat vor allem kein Recht, das
ernste, aus ehrlicher Menschenfreundlichkeit hervorgehende Streben
wissenschaftlich hochstehender Männer, die Homosexuellen nicht
mehr als Verbrecher, sondern als Unglückliche, als Kranke zu
behandeln, so zu schmähen und zu verdächtigen, wie dies auf der
genannten Ereissynode geschehen ist. Es ist eine Ungehörig-
keit, die nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann; wenn
der Pastor Philipps den hochehrenwerten Unterzeichnern des be-
kannten Gesuchs an den Reichstag um Aufhebung des § 175 des
Strafgesetzbuchs vorwirft, sie suchten unter einem Deckmantel
einen Boden für die Ausbreitung der widernatürlichen Unzucht.
Es fehlt uns an den hier anwendbaren Worten zur Bezeichnung
des Auftretens des Predigers Dr. Runtze gegen den bekannten
Dr. Hirschfeld, der zu wissenschaftlichen Zwecken auch Studierende
der Technischen Hochschule für seine Sammelforschung über die
homosexuelle Frage um Auskunft gebeten. Der Herr Prediger
nennt diese Anfrage an Studierende eine „ruchlose Schamlosig-
keit'^ Die allermeisten anderen sind der Meinung, daß aus sehr
duichsichtigen Gründen das aus den besten Erwägungen eines
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Vorgehen des Herrn Dr. Hirschfeld ganz künstlich zu einer Be-
leidigung gestempelt worden ist."
An Prediger Dr. Runtze richtete der Herausgeber
folgenden Brief:
„Geehrter Herr Pastor!
Wie ich aus der Presse ersehe, haben Sie auf der Kreis-
synode meine im Interesse der medizinischen Wissenschaft unter-
nommene statistische Umfrage, deren ,edle und anerkennenswerte
Motive* das Gericht selbst hervorhob, als ruchlose Schamlosigkeit
und mich als dreist und frech beschimpft.
Ich habe geschwankt, ob ich Sie einfach der Staatsanwalt-
schaft übergeben solle, da es keinem Zweifel unterliegt, daß Sie
für diese Äußerungen, durch die Sie sich der schwersten Belei-
digung schuldig gemacht haben, eine erhebliche Strafe, höchst
wahrscheinlich sogar eine Gefängnisstrafe erhalten würden.
Wenn ich davon Abstand nehme, so tue ich es lediglich,
indem ich des Bibelwortes gedenke: „H^rr, vergieb ihnen, denn
sie wissen nicht, was sie tun."
Damit Sie jedoch in Zukunft wissen, worum es sich handelt,
übersende ich die soeben von dem Theologen Caspar Wirz, einem
Vertreter der strengsten kirchlichen Orthodoxie, verfaßte Ab-
handlung: „Der Uranier vor Kirche und Schrift", femer die eben-
falls von einem Geistlichen herrührende Abhandlung: „Homo-
sexualität und Bibel", sowie meine eigene letzte Arbeit: „Das
Ergebnis der statistischen Untersuchungen über den Prozentsatz
der Homosexuellen".
Hochachtend
Dr. Hirschfeld."
Die Vertreter des intransigenten Orthodoxismus
würden sich vielleicht doch etwas größerer Duldsamkeit
befleißigen, wenn sie bedächten, wie sehr auf solche Weise
bekämpfte Menschen gereizt, erbittert und der Kirche
entfremdet werden müssen, vielleicht auch schon dann,
wenn sie Einblick nehmen könnten in unsere Korrespon-
denz und in derselben Briefen von geistlicher Hand
begegneten, die Sätze nach Art der folgenden enthalten:
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— 721 —
„Wer hat uns denn so geschaffen? Wir selbst? Ich sage mit
Recht: £ine jede Verorteilang eines Urnings ist eine Lflstening
Gottes, der nun einmal auch solche Menschen geschaffen hat . . . /'
„Grott segne, ich wiederhole es, Grott segne die gerechten
Forderungen der Sozialdemokraten! Ja, unsere Herzen müssen ihnen
insbesonders entgegenschlagen, da sie die Ersten waren, die auch
in uns mit Füßen Getretenen die Menschenwürde und Menschen-
rechte erkannten, anerkannten und verteidigten . . . ."
„Ich versichere Sie, die Zahl der Uranier ist auch hier nicht
kleiner als anderswo, die Kreise der protestantischen Pastoren
keineswegs ausgenommen. Ich verkehre nur mit einem geringen
Teil meiner Amtsgenossen, aber selbst unter diesen kenne ich
vier, die homosexuell sind, drei unverheiratet, einer verheiratet,
selbstverständlich sehr unglücklich. Seine Frau hat ihm in ihrem
Unverstand und in ihrer Eifersucht schon viel Kummer gemacht.
Und demgemäß war er auch schon längere Zeit geisteskrank.
Die Welt sagte, „aus Überanstrengung", aber Sie werden den
wahren Grund sich denken. Er fand kurz vorher in einem
Katalog zufallig die Anzeige einiger Ihrer Schriften und sprach
dann auch mit mir darüber. Wir lasen und lasen. Wie wahr
fanden wir Alles, was in dem Buche stand! Ich selbst habe schon
vor Jahren das Gefühl gehabt, ich müßte ein Buch schreiben,
ungefllhr in Ihrem Sinne, um die Welt aufzuklären über das furcht-
bare Verbrechen, das sie fortgesetzt begeht. Wollte Gott, es
würde auf diesem Gebiet ein Luther erstehen, der endlich den
Wahn zu bannen vermöchte, welcher heute Tausenden ihr Leben
zur Pein, zur Folterqual, zur Hölle macht . . . ."
Oder auch Briefen von Pastoren wie der folgende:
„Sehr geehrter Herr Doktor I Herr Dr. N. dahier hat auf
meine Bitte an Sie geschrieben in Sachen der perversen Veranlagung
eines meiner Söhne. Ihren Vorschlag, bei meiner Durchreise nach
K. Sie aufzusuchen, werde ich ausführen. Ich komme, so Gott
will, am nach Berlin und werde mich beeilen, mit
Ihnen zusammenzutreffen .... Es tut mir sehr leid, daß, wie Sie
schreiben, eine Heilung nicht möglich ist Es wird aber doch
Mittel und Wege geben, die Neigung oder vielmehr die Begierde
abzuschwächen, wie es andererseits auch eine Lebensweise geben
wird, die sie stärker macht Auch für die Erziehung hoffe ich
von Ihnen guten Rat zu hören. Wäre ein Aufenthalt in einer
Kaltwasserheilanstalt oder sonst in einer Nervenheilanstalt von
Jahrbuch VI. 4Q
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— 722 —
Nutzen, um die Neigung zu dämpfen? Und wenn ja, welche?
Mein Sohn raucht stark und meint, daß dies „zur Beruhigung
seiner Nerven" diene. Hat er darin Recht? Wie verhält es sich
mit dem Schlafengehen und Aufstehen? Zu geistigen Getränken
hat piein Sohn gar keine Neigung, und das ist wohl das Beste
für ihn .... Ich gedenke den jungen Mann mitzubringen, damit
Sie ihn sehen. Er ist 22 Jahre alt, sehr kräftig, geistig gut ver-
anlagt, aber menschenscheu und nicht energisch gegen sich selbst.
Er ist Kandidat der Theologie . . . .'^
Wir haben bis heute, das dürfen wir mit gutem
Gewissen sagen, noch Niemand Anlaß gegeben, durch
unsere Tätigkeit in seinen religiösen und religiös-sittlichen
Überzeugungen sich verletzt zu fühlen. Es liegt uns
nichts femer, als auf kirchliches Gebiet überzugreifen,
und wir wüßten nicht, wann wir gegen diesen Grundsatz
verstoßen hätten. Unser Ziel ist es einzig, an die Stelle
eines naturwissenschaftlichen Irrtums die naturwissen-
schaftliche Wahrheit zu setzen, den Gesetzgeber an die
Pflicht zu mahnen, die ihm aus dieser Wahrheit erwächst,
und, so weit es geschehen kann, Unglück zu verhüten,
Unglück zu mildern, Unglück wieder gut zu machen.
Daß wir auf diesem Weg mit irgendwelchen religiösen
Normen zusammenstoßen können, glauben wir, aus
Achtung vor der Religion, nicht annehmen zu dürfen.
In dem letztbezeichneten Streben, in dem Streben,
Unglück zu verhüten oder doch wenigstens nach Mög-
lichkeit zu mindern, haben wir selbstverständlich auch
im abgelaufenen Jahr wieder Schutz und Hilfe zu bieten
gesucht, so oft eine homosexuelle Existenz unter die
Räder des § 175 geraten war und wir Kenntnis davon
erhalten hatten. Wir übersandten in solchen Fällen
Material an die Anwälte, die Richter, die Angehörigen
und Vorgesetzten der Betroffenen. Wir beschränkten
uns aber nicht darauf allein, sondern unternahmen, wo
es anging, auch noch weitere Schritte, die wir vielfach
von Erfolg gekrönt sahen. Ähnlich bemühten wir uns,
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— 723 —
Erpressern ihre Opfer zu entreißen, und wir dürfen wohl
behaupten^ gerade nach dieser Seite hin eine besondere
yerdiensüiche Tätigkeit entfaltet zu haben.
Leider mußten wir uns nur allzu häufig auch Fällen
gegenüber sehen, in denen von Hilfe überhaupt nicht die
Bede sein konnte. Wir gedenken hier ganz besonders
der vielen Selbstmorde aus homosexuellem Motiv, die in
diesem Jahre wieder zu verzeichnen waren. Es gab
keinen Monat, in dem nicht solche Nachrichten an uns
gelangt wären. Im September allein belief sich ihre
Zahl auf fünf. Die meisten blieben in Dunkel gehüllt
und es soll auch von uns der Schleier, der darüber liegtj
nicht abgehoben werden. Nur dreier Fälle glauben wir
erwähnen zu sollen.
Der erste, besonders typische Fall, betraf den
53jährigen Konsul von Schenk, Bruder des Wies-
badener Polizeipräsidenten und des Berliner Regiments-
kommandeurs. Derselbe, ein durch und durch vornehmer
und edler Charakter, hatte während eines vorübergehenden
Aufenthaltes in Berlin einen Schlächtergesellen kennen
gelernt^ zu dem er eine tiefe Zuneigung faßte. Der junge
Mann war nicht eben anspruchslos, da aber v. Schenk
ihn aufrichtig liebte, brachte er ihm gern die größten
Opfer, — in wenigen Wochen mehrere tausend Mark.
Das Glück des Schlächtergesellen erregte den Neid seiner
Kameraden; diese — zumeist Berliner Prostituierte —
lauerten dem alten Herrn auf Schritt und Tritt auf und
belästigten ihn mündlich und schriftlich mit Bittgesuchen
und Drohbriefen, In Verzweiflung getrieben wandte sich
V. Schenk schließlich an uns und es gelang mit Hilfe
der Berliner Kriminalpolizei, ihn vor den Verfolgern zu
schützen. Schon schien alles gütlich enden zu wollen,
als einer von den Freunden des Schlächtergesellen nicht
davor zurückscheute, die hochgestellten, völlig un-
beteiligten Brüder des Konsuls zu behelligen. Als der
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— 724 —
beklagenswerte Mann, von dem der Gerichtspräsident
sagte, daß er bis aufs Blut gepeinigt war, er hatte
mittlerweile Europa verlassen, von diesem neuen Vor-
gehen Kenntnis erhielt, jagte er sich eine Kugel in die
Schläfe.
Über den zweiten Fall, dessen wir hier gedenken
möchten, berichteten die Blätter:
«^Selbstmord eines Studenten. Der 23 Jahre alte Student
der Chemie Rudolf Wittgenstein in Berlin, Uhlandstraße 170, der
Sohn eines Kaufmanns aus Wien, kam gestern abend um 9"/«
Uhr in eine Gastwirtschaft in der Brand enhurgstraße und bestellte
Milch mit zwei Gläsern. Nachdem er eine Weile sehr verstört da-
gesessen hatte, ließ er dem Klavierspieler eine Flasche Selters
geben und erbat sich dafür sein Lieblingslied „Verlassen bin ich^^
Während der Musiker dieses spielte, nahm der Student Cyankali
und sank auf seinem Stuhl zusammen. Der Wirt holte drei Ärzte
aus der Nachbarschaft, aber sie konnten nicht mehr helfen, der
Vergiftete starb unter ihren Händen. Wittgenstein hinterließ
mehrere Abschiedsbriefe. Seinen Eltern schrieb er, daß er sich
das Leben genommen habe, weil ein Freund von ihm gestorben
sei, ohne den er nicht länger auf der Welt bleiben wolle. Von
anderer Seite wird mitgeteilt, der junge Mann habe aus Ver-
zweiflung über seiue perverse Veranlagung den Selbstmord
verübt."
Der Unglückliche hatte einige Zeit früher in unserem
Komitee sich vorgestellt^ doch reichte unser Einfluß auf
ihn nicht weit genug, um das Schicksal ' der Selbst-
vernichtung von dem jungen Menschenleben abzu-
wenden.
Der dritte Fall ist der Selbstmord des Pfarrers
Stahel von Ermatingen in der Schweiz. Stahel war
schon vor einigen Jahren unserem Komitee näher getreten
und hatte, selbst homosexuell, unsere Bestrebungen seither
mit warmem Interesse verfolgt. Da wurde plötzlich,
durch die schwer verständliche Indiskretion eines Arztes,
sein mit ängstlicher Sorgfalt bewahrtes Geheimnis offen-
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— 725 —
bar^ und, ohnedies schon seelisch bedrängt, gab sich der
unglückliche Mann vor dem Altar der Ermatinger Kirche
den Tod. Wir lassen noch ein paar Berichte aus
schv^eizerischen Blättern folgen, die für die seltene, fast
Schwärmeriche Liebe zeugen, mit dem die Gremeinde
an Pfarrer Stahel gehangen hatte. Die ^^Zürcher
Zeitung^' schrieb nach der Begräbnisfeier:
„Jesus, Barmherzigkeit!^' so liest man im alten Kirchhof
von Ermatingen auf dem verwitterten Grabstein eines längst ver
gessenen Selbstmörders. „Jesus, Barmherzigkeit!*' In diese Worte
kleidete auch der unglückliche Pfarrer Rudolf Stahel seinen letzten
Wunsch an die Menschen, vorab an seine lieben Ermatinger. Und
fürwahr, sie wurde ihm nicht versagt, diese Barmherzigkeit. Unter
tausendfältigem Wehklagen der Erwachsenen, in das sich das
herzzerreißende Schluchzen der Kinderschar mischte, wurde er
heute nachmittag hinausgeführt auf den malerisch gelegenen
Hügel der Seligen. „Von Ermatingen bringt mich keiner fort,
die Ermatinger müssen mich behalten'', so äußerte er sich kurze
Zeit vor seinem Tode einem Freunde gegenüber. Und dachten
die Ermatinger etwa anders? Aus der überwältigenden Teilnahme,
welche die Bevölkerung an dem herben Geschick ihres Pfarrers
genommen, läßt sich ihre Anhänglichkeit und Liebe ermessen, die
sie dem Unglücklichen entgegenbrachte ....
Die Fabriken, Schulen und Geschäfte haben ihre Tore ge-
schlossen. In hellen Scharen sind sie herbeigekommen, um ihrem
geliebten Seelsorger ein letztes Lebewohl zuzurufen. Im Flur des
Pfarrhauses liegt er aufgebahrt, tief eingebettet in Palmen des
Friedens. Im anmutigen Kirchlein drängt sich Arm an Arm, und
groß ist die Zahl derer, die wegen Platzmangels darauf verzichten
müssen, der kirchlichen Feier beizuwohnen. Auch das teil-
nehmende und liebevolle Entgegenkommen des katholischen Pfarrers,
welcher, der Feier selbst beiwohnend, das Eisengitter zur Kapelle
(die Kirche ist paritätisch eingerichtet) hatte öffnen lassen und
das Betreten derselben ausnahmsweise gestattete, vermochte nicht,
Allen Einlaß zu ermöglichen. Liedervorträge des Kirchenchores
und Kindergesänge umrahmten die Feier. In wahrhaft ergrei-
fendem, vom Geiste der Versöhnung getragenen Vortrage hielt
Professor von Schultheß-Kechberg aus Zürich die Abdankung.
Er erfüllte damit den ausdrücklich geäußerten Wunsch Pfarrer
Stahels. Aus dieser Predigt reproduzieren wir: „Gebeugt, er-
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— 726 —
schüttelt, von widerstrebenden Empfindungen bewegt, seid ihr zn
dieser Totenfeier erschienen. Es gilt eurem Pfarrer Stahel, der
im Alter von erst 35 Jahren euch und den Seinigen entrissen
worden ist. Euch allen war er ein warmer Freund. Aber in das
Lichtbild mischen sich düstere Züge. Ihr hörtet, daß er in seiner
Jtigend die Tat eines Irrsinnigen begangen hatte. Es wurde
ruchbar, daß er sich eine Schuld aufs Gewissen geladen. Der
Mann, dessen Herz euch so rein schien und dessen Verstand so
klar die Lebensverhältnisse beurteilte, wurde vor Gericht gestellt
Knd in der Irrenheilanstalt eingeschlossen und schließlich kam
sein Ende durch eigene Hand an dieser geweihten Stätte, als ob
es keinen Gott gäbe, als ob ein Christ so sterben möchte. Was
sollen wir dazu sagen?! Einige Wochen vor seinem Ende hat er
einen kurzen Abriß seines Lebens aufgesetzt, worin er bewegt,
aber doch licht und klar, Bild an Bild reiht Seine Jugend war
freudlos. Im Lehrerseminar zu Eüsnacht begann der Geist und
das Gemüt sich zu dehnen, sich zu freuen an der Welt, sich zu
entwickeln zu hohen, schönen Erkenntnissen. Da drangen aus der
Tiefe ! seiner Natur unheimliche Mächte empor, rissen ihn in
Schuld und Bann, umnachteten ihm die Sinne, sodaß er, seiner
selbst nicht mehr bewußt, beschloß, mit einem Freunde zu sterben.
Er richtete auf ihn die Pistole und dann gab er sich selbst eine
Kugel in die Brust. Er wurde als geistig krank in eine Anstalt
gebracht ....
Heute vor einem Jahre betrat Rudolf Stahel zuerst die
Kanzel in Ermatingen. Die thurgauische Kirchenbehörde aber
behandelte in der Folgezeit sein Verhältnis zu euch in jener for-
malistischen Art, wie man eine rechtliche Angelegenheit zu be-
handeln pflegt. Ihr aber gabt die Antwort darauf durch die am
10. Mai erfolgte einstimmige Wahl Stahels zu eurem Pfarrer.
Wie freutet ihr euch, und wie dankbar war er hinwiederum für
den Schutz, den ihr ihm botet! Wie hing nun seine Seele an euch,
an seinen geliebten Ermatingem! Liebe Freunde! Wir
wollen ihm an seinem Grabe nichts versagen von dem Dank, von
der Anerkennung, auf die er mit Fug und Recht Anspruch er-
heben durfte. Er hatte ein überaus liebevolles Herz. In den
letzten Tagen allerdings sind aus seiner Feder gelegentlich auch
harte Worte geflossen. Aber achtet nicht darauf. Das war schon
der Schlachtruf im letzten furchtbaren Verzweiflungskampf ge-
wesen. Sonst war er milde, zuweilen bewunderungswürdig milde.
Er konnte die, welche gegen ihn waren, in einer Weise beurteilen,
die in Staunen setzen mußte. Wo andere Gift und Galle ge-
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— 727 —
spieen hätten, konnte er etwa sagen: ,, Diese X.eute müssen tief
unglücklich sein!" Mir ist es vorgekommen, daß er mich mit
einem solchen Wort verzeihender Liebe dermaßen überraschte,
daß ich ein Grefuhl der Ehrfurcht vor ihm empfand. Rudolf
Stahel war ein Sünder: £r hatte Schuld auf dem Gewissen, wie
in dieser oder jener Form, in diesem oder jenem Maße wir alle.
Darum ehrt ihn. Hebe Freunde, aber schwfirmt nicht für ihn!
Werdet keine Knechte eures Pfarrers Stahel und vor allem : Ent-
zweit euch nicht über ihn! Er wollte Frieden haben um sich her,
sein Herz umfaßte alle."
Von der Kirche bewegte sich der lange Begräbniszug, an
dessen Spitze der ergraute Vater und ein jüngerer Bruder des
Verstorbenen schritten, nach dem anmutig auf einer Anhöhe ge-
legenen Friedhof. Hier sprach am offenen Grabe Vikar Boßhard
von Zürich herzliche Worte des Abschiedes für den unglücklichen
Freund. „ . . . Wir wollen es uns nicht verhehlen: Dein Leben
hat durch Tiefen und Dunkel gefuhrt, aber du hast dich gesehnt
nach Licht, aufwärts gestrebt, und darin bist du uns allen, die
wir uns manchmal reiner dünken, als du gewesen bist, ein großes
Beispiel. Es ist kurze Zeit erst, als ich mit meinem Freunde hier
in Ermatingen auf der Höhe umherging, da sagte er zu mir, er
freue sich dieser schönen, herrlichen Gegend und der Bevölkerung,
welche ihm mit so großer Anhänglichkeit seine Dienste lohne.
Am letzten Montag noch wai* es, da haben wir noch miteinander
an einem Briefe gearbeitet, den er hat schreiben wollen an seine
liebe Gemeinde. In demselben stand: „Ich habe mich bemüht,
in Ermatingen zu wirken, ein Vertreter des Amtes, das die Ver-
söhnung predigt. Und nun komme ich noch einmal vor euch, als
einer, der Euhe und Versöhnung will. Meinetwegen soll kein
Streit sein."
Von anderen Schweizer Blättern wurde im Anschluß
hieran noch mitgeteilt:
„Bestimmend für die Verzweiflung Stahels war auch die
Preisgabe des ärztlichen Geheimnisses durch Dr. Frank, der die
homosexuelle Veranlagung bekannt werden ließ. Ein furchtbarer
innerer Kampf muß dem Entschluß zum Selbstmord vorangegangen
sein, und in der Verzweiflung, als er seiner selbst nicht mehr
mächtig war, schrieb er an eine befreundete Familie in Erma-
tingen: „Bald wird es von mir heißen: Er hat sich gemordet.
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— 728 —
Das ist falsch. Es muß heißen: Er ist gemordet worden.*^ Diese
Worte scheinen von den Verehrern als Vermfichtnis aufgefaßt zu
werden, und sie nennen bereits die Gegner, die teilweise auch in
der Hauptstadt ihr Domizil haben, als Mörder Stahels. ....
Die Leute lassen sich das freundliche Bild 8tahels nicht
rauben. Sie hüten seine letzten Zeilen und bald wird überall
seine Photographie die Stube zieren. '^
Die Anerkennung, welche den Verdiensten von Ura-
niern nach ihrem Tode gezollt wird, kann das Leid nicht
wieder gut machen^ das ihnen zu Lebzeiten aus ihrer
Natur erwachsen ist.
Es war ein eigenartiger Zufall, daß im Juni d. J.
im Beisein des deutschen Kaisers innerhalb weniger Tage
zwei Männern aus alter und neuer Zeit, die in weitesten
Kreisen als homosexuell galten, Denkmäler enthüllt wurden,
— Kaiser Hadrian und Friedrich Alfred Krupp.
Wie viel äußerlich Gegensätzliches und doch, wie viel
innerlich Verwandtes enthalten diese beiden Namen. Wir
glauben, diesem Bericht einen versöhnlichen Abschluß zu
geben, indem wir ihn mit der Wiedergabe dieser beiden
Standbilder enden.
Friedrich Hebbel sagt einmal:
„Wenn es heilige Pflicht ist, einen Toten,
Wer er auch immer sein mag, zu bestatten.
So ist die Pflicht noch heiliger, ihn von Schmach
Zu reinigen, wenn er sie nicht verdient/^
Im Dienste dieser Pflicht arbeiten wir, flir die Ehre
vergangener, flir das Recht gegenwärtiger, flir das Glück
zukünftiger Menschen.
Charlottenburg, Berlinerstraße 104,
1. September 1904.
Dr. M. Hirschfeld.
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Standbild des Kaisers Hadrian auf der Saalburg,
enthQIlt im Beisein des deutschen Kaisers am 16. Juni 1904.
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Standbild von F. A. Krupp in Kiel,
enthüllt Im Beisein des deutschen Kaisers am 22. Juni 1904.
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VIL Abrechnung (pro 1903).
a) Von den Zeichnern von Jahresbeiträgen
für das Jahr 1903 bei den Geschäftsstellen in Charlotten-
burg, Frankfurt a. M. und Leipzig eingegangene Beträge:
Lfd.!
Nr. I
Name resp. Chiffre der Fondszahler
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
18
14
15
16
17
18
19
20
21
22
P. R. und R. A. in RuBland . . .
R. V. St J. 85 + 51 + 42.50 . . .
Dr. phil. A. in Charlottenburg. . .
Dr. Aletrino, Amsterdam
Max A. in Berlin SW
P. A. in Kopenhagen
Willy Arlt, Charlottenburg ....
Carl A. in Seh
G. B. in Köln
E. 0. B. in L
M. B. L
Mark vom See (Seehase)
Überzeugt
F. W. B. in Frankfurt
Marcus Behmer
Berthold B. in A
Georg B. in Berlin
Fräulein M. B,
Fmil B. in Charlottenburg ....
E. B. in P.
S. B. jr. in B
Eduard Bertz, Schriftsteller, Potsdam
Fol.
Mk.
158
200.-
188
178.60
178
10.-
202
20.-
137
8.-
14
25.-
88 1
'e.—
161
5.—
193
30.-
199
100.-
19
20.—
209
10.-
128
35.-
184
20.-
114
10.—
118
22.—
132
20.-
110
6.-
208
20.-
47
50.-
165
7.—
20
20.-
Übertrag 822.50
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— 730
Lfd.
Nr.
28
24
25
26
27
28
29
30
31
32
38
84
35
36
87
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
Name resp. Chifire der Fondszabler
Fol.
Mk.
Übertrag
Greorg B. in K
da. Extrabeitrag f. Jahrbuch .
Alfred B. in C
do. Extrabeitrag
Carl B. in Frankfurt
Al&ed Böhm, Berlin
Dr. C. B. In Berlin
Jean B. in Berlin
Adolatus
do. Extrabeitrag
Chemiker F. Brinkmann, Berlin ....
V. B. in K . . . .
Rechtsanwalt Dr. B
102
C. B. 75
E. B , Brüssel
0. C, Magdeburg
Holland 1000
H. S. C. 1034
Ch. in Berlin
M. Cl., New- York
Dr. Cl. in F
G. H.
R.
211
82
109
81
164
58
187
»
29
78
111
91
100
15
198
215
165
172
197
46
109
206
108
127
5
36
159
50
114
175
23
Dr. Ernst Eckart, Berlin 104
Egon EickhofF, Berlin | 71_
Übertrag
Alexander Cohen, Berlin, II. Semester
J. C, Berlin
Dr. D. in E
Wladimir Davidow, ELlin bei Moskau
Fabrikbesitzer D. in S
Fürst D
Josef Glinnowski
Rittergutsbesitzer D
Sten D
W. H. E. in Seh
E.
822.50
100.-
20-—
25.—
25.-
20.—
25.—
100.—
8.-
50.—
5.—
20.—
20.—
12.—
6.-
30.-
100.—
20.—
80.-
20.—
12.—
20.—
20.—
10.—
20.-
20.—
20.—
60.—
20.—
20.—
50.—
2.—
20.-
85.—
24.-
20.-
1830.50
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— 781 —
Lfd.
Nr.
Name resp. Chifire der Föndszahler
Fol.
Mk.
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
88
84
85
86
Obertrag
Eidgenössische Bank
Emil E. in Berlin
Max E. Sch.-D
do. Extrabeitrag
G. E. in Berlin
C. E. E. in Berlin
Frau Therese Eschholz, Berlin
Ingenieur B. E
P. E. in Berlin , . . .
Bobert E. in Berlin . .
K. F. in L
Gustav F. in Charlottenburg
M. F. durch P
A. F. in H
Agricola
Ph. F. in Osnabrück
F. F. in Hamburg
V. F. in Berlin
Freiherr v. F. in H
L. F. in B
Dr. Benedict Friedlaender, Berlin . . .
do. Extrabeitrag
E. F. in Ch
do. Extrabeitrag f. Jahrbuch . .
Reichsfreiherr v. Fürstenberg, Heiligenhofen
Willy. F. in B
Siegfried Gabriel, Berlin
F. J. in Florenz
Bechtsanwalt Dr. G. in Frankfurt . . .
Ludwig G. in Berlin
0. Gerstenberg in Berlin
A. V. G. (Baden)
G. in Z
Dr. Adolf G. in Berlin
F. W. G. in Berlin
82
71
47
19
40
86
129
215
68
140
103
224
54
33
182
84
42
131
83
183
166
V
56
«
221
43
145
228
31
28
89
28
185
6
200
Übertrag
1830.50
24.25
1.—
50.—
6.—
10.—
25.-
20.-
20-—
18.-
80.—
10.—
20.-
8a.20
100.—
20.-
20.—
10.-
80.—
20.-
150.—
100.—
20.-
10.—
100.—
10.—
36.—
25.-
100.—
10.—
20.-
5.-
21.-
25.-
37
2969.95
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— 732
Lfd.
Nr.
Name resp. Chiffre der Fon
dszahler
Übertrag
Fol.
I M..
2969.9^
87
Martin G. in Berlin ....
117
1 *•-
88
H. G. in Amsterdam . . .
24
10.—
89
U. G. in Chemnitz ....
30
12. -
90
H. G. in Hamburg ....
27
' 20.—
91
C. G. in Bayern
45
1 20.—
92
Baron de G. in W
189
94
1 20.-
25.-
98
K. G. in B
94
cand. F. G
ISO
10
1 10.-
95
L. N. in Posen
1 100.-
96
M. H. in Wien
^»
75
17.-
97
F. II. in Hamburg ....
52
1 20.-
98
E. H. in Karlsruhe ....
6
1 20.—
99
B. H. in Berlin
162
4.—
100
K. H. in Hannover ....
141
5.-
10t
J. H. in Potsdam ....
74
3
1 ^•'~
102
0. H. in V
20.—
108
Frau H. in Berlin ....
78
! 1'^-
104
A. H. in München ....
21
' 70.-
105
W. H. in Berlin
67
■;
222
119
101
155
1 10.—
106
W. H. A. in Berlin
1 30.—
107
Mercur in Frankfurt
20.—
108
R. H. in Berlin
1 2.—
109
V. H.-H
1 20.—
110
H. in Frankfurt ........
1 *'^'
60.—
111
Waldemar Heßling, Grunewald
....
1 20.—
112
Rechtsanwalt Eugen Heudtlaß,
Berlin . .
88.
1 21.—
do. Extrabeitrag
n
7.—
113
K. H. in D
183
20.-
lU
W. K. H. in D
78
1 100.—
115
gilvantis
194
i 26.-
10.-
do. Extrabeitrag . . .
116
Dr. phil. H. in H
64
20.-
117
K. R. Z., Frankfurt ....
162
30.-
118
C. C. Aa.
190
21.—
do. Extrabeitrag 5 + 20
Übe
! 25.-
rtrag
3790.95
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733 —
Lfd.
Nr.
Name resp. Ghiffire der Fondszahler
Fol.
Mk.
119
120
Übertrag
Dr. med. H. in Newark
Dr. L. H. in G
38
196
120
41
59
124
14
114
219 •■
82 >
196
84
192
112
229
180
7
216
108
80
98
217
164
133
55
171
198
84
173
96
104
130
195 1
^1790.95
i lO,—
5,_
121
122
Dr. H. in Berlin
Th. H. in D
20,-
20.—
12B
Paul H. in Berlin
1.—
124
Siegfried J. in B
20.—
125
126
Dr. pbil. J. in Berlin
H. J. in H
20.-
20.—
127
128
129
Richard J., II. Semester
W. J. in F
do. Extrabeitrag 63.80 + 25 . . .
A. J. in Seh
6.—
180.-
88.80
5 —
180
Dr. M. Katte
30.—
131
1B2
W. K. in Leipzig
R. V. K
20.-
6.—
18B
Dr. Richard K
25.—
1B4
M. K. in M
20.—
135
136
Professor Dr. F. Karsch, Berlin ....
Carl K. in Berlin
40.-
24.—
137
188
Konrad K. in Berlin
0. K. 72
1 80.-
80.—
139
140
P. S. (durch Dr. Hirschfeld)
F. K. in Hamburg
200.-
80.—
141
142
Paul K. in L
20.—
Fritz K. in Berlin
12.—
148
W. Kl. durch P
20.—
144
Musikdirektor K
2.—
145
146
0. K. 100, IV. Quartal
R. K. V. Fr
6.-
20 —
147
Architekt K
8.—
148
Otto K. in Berlin
10.
149
Ernst K. pro 1902
20.—
do. pro 1903
20.—
150
•l51
Richard Ko. in Berlin
A. K. A
20.-
30.—
1 Übe
rtrHg 1
4824.75
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Uta,
Nr.
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
168
164
165
166
167
168
169
170
171
172
178
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
Name reap. ChifiPre der Fondszahler
Obertrag
F. K. in Berlin
Chr. K. in B.N
Rudi K. in Berlin
Richard Kr. in Berlin
Robert Krüger in Berlin
de K. in Konstantinopel
Oscar K. in Berlin
W. K. in Köln
O. K. in Berlin
Frau F.-Lehmann, Berlin
Schriftsteller Paul R. Lehnhard ....
Carl L. in Berlin
B. L. in Berlin
J. L. in Breslau
A. L. in Berlin
E. M. in B
Heinr. Lichte in Berlin
F. B. in Dresden
Dr. L. in G
Paul L. in Charlottenbarg
Dr. Lilienstein
Dr. med. L. in F
J. L. aus K
Dr. phil. L. in Holland
L. W. 1877
Karl A. L. in L
Willy L. in Berlin
Dr. A. L. in Berlin
L. in Charlottenburg
Arthur L. in B
Georg L. in F
Dr. Paul Lutze, Köthen 1 44
L. M. in L I 182
M. 200 I 207
H. M. in Berlin ' 92_
Obertrag
Fol.
178
20
126
153
65
49
132
9
129
85
141
64
220
52
131
94
11
61
40
209
156
39
203
146
93
37
208
202
225
154
126
Mk.
4824.75
20.—
5.—
10.—
12.—
4.—
20.-
1
a.—
20
10.—
12.-
10.—
80.—
20 —
20.—
30.—
18.—
20
25.—
20.-
20.-
20.—
20.—
30.-
25.—
20.—
24.-
24.—
10.—
12.-
10.—
20.-
20.—
25.—
7.—
5421.75
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735
Lfd.
Nr.
Name resp. Chiffre der Fondszahler
Fol. 1 Mk.
187
188
189
190
191
192
198
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
Übertrag
Frau Reg.-Rat Dr. Martha Marquardt, Berlin 159
R. M. E 8
Richard M. in Berlin 204
cand. arch. M 29
J. M. in Hannover 24
M. 0. 23 70
Freiherr v. M 16
Dr. Th. M 140
Otto M. in L 160
Otto M. in Berlin 35
Jul. M. in Berlin 66
do. Extrabeitrag f. Jahrbuch. ,,
Friedel ; 188
S. M. in Ch
E. G. H
Professor N. in St P
Nobody
F. N. in Breslau, II. Semester . . .
J. F. in Wien (Falieri)
Integer vitae
N. N. in Hamburg
E. 0. in B
„Ohne Namen"
Dt, Karl von Oppell, Charlottenburg
Otto Christoph
P. 0. in C
J. P. in C
O. P. durch P
P. P.^in Berlin
L. I. P. in D
D. M., St. Petersburg
Baron v. P. in St
Erich P. in L. . .
Numa Praetorius
Dr. med. Pr. in F
97
167
34
72
3
205
32
59
10
53
106
177
102
219
58
5
147
187
45
11
63_
Obertrag
5421.75
iO.-
20, -
26.—
50.-
80.—
20.—
50.—
10.-
20.—
20.—
20.—
21.-
20.-
20.—
20.—
24.—
25.—
20.—
20.—
60.—
140.-
25,-
20.—
10.—
20.—
20.—
20.—
4.—
35.-
40.—
20.-
10.-
200.—
40.-
6617.75
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L.fd
Nr.
22'
22
25
21
">
r
r
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737
Lfd.
Nr.
252
253
254
255
256
257
258
259
260
261
262
263
264
265
266
267
268
269
270
271
272
278
274
275
276
277
278
279
280
281
282
288
284
I '
Name resp. Chiffre der Fondszahler I Fol. | Mk.
W. S. in M
E. 0. S. in D. ......
Franz S. in Berlin
Dr. S. in Rotterdam ....
Dr. Sp. in M
Pauline S
do. Extrabeiträge 5 + 5 .
S. H. in San Francisco I 20. —
J. Seh. in B
G. Seh. in Chg
E. S. in Ch
J. S. 77, München
R. S. in H
Alex Seh. in B
S. u. T. in B • . .
Pastor S. in U.-S.-A
y. Seh. in B
H. S. 0
C. Seh. in Leipzig
Dr. Seh
H. Seh. in Riga pro 1902 . .
do. pro 1903 . .
S. in D
Otto Seh. in Berlin
Ernst Seh. in H
Paul Sch.-D
A. G. Seh
Jonkheer Dr. jur. J. A. Schorer
Dr. Alfred Schroeder ....
Emil S. in Berlin
Graf Seh
E. S. in E
G. Seh. in Berlin
Robert Seh. in Berlin ....
R. S. in Berlin
Obertrag i
37
186
127
180
102
79
148
138
134
4
51
148
213
22
124
48
191
86
7867.25
25.—
20.-
10.—
10.—
40.-
20.-
10.—
88.20
24.—
20.—
20.—
25.-
20
10.—
10.-
50.—
10.—
100.-
25.-
50.—
18
86.-
jj
36.—
99
20.-
112
4.-
25
20.—
104
4.—
137 i
6.-
31
20.-
106
40.—
39
10.—
67
50.—
30
20.—
27
25.-
16
2.—
118
5
krag
8747.45
Jahrbuch VI.
47
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Name resp. Chifire der Fondazahler
Fol.
1
Mk.
285
286
287
Übertrag
Dr. jur. Stegemann, Referendar, Parchim .
Ad. St. in Prankfurt
Ch. St. in Berlin
76
17
115
73
152
57
163
204
2
205
216
87
218
58
151
125
144
36
172
220
147
101
184
192
70
44
113
8
167
191
8747.45
25.—
20.—
12.—
288
G. St in P
20.
289
do. Extrabeitrag
H. St. in Leipzig.
a.—
40.—
290
Alfr. St in Berlin
8.—
291
292
Ludwig St
J. S. in B
80.-
20.—
298
294
N. N. in V
Leoni Thiel
20.-
20.—
295
296
Baron Carl v. T. in R
Dr. M. M., Rom
20.-
50.—
297
do. Extrabeitrag
do. do. für Weiterbe-
stand des Jahrbuches
E. T. in Köln
20.-
200.-
20.—
298
E. T. in Flensburg
20.—
299
Baron v. T.-R
50.—
300
801
Modest Tschaikowsky, Klin bei Moskau .
ü. in Berlin
40.-
86.—
802
C. L. A. H
22.—
808
Paul V. in Berlin
25.
804
V. V. in Wien
25.50
805
do. Extrabeitrag für Jahrbuch .
Paul V. in R.
10.—
12.—
806
H. W. in Berlin
10.—
807
I. W. in F. durch P
20.—
808
Wilh. W. in M
20.—
309
810
Fr. W. in Berlin
Opernsänger W
5.—
10.—
811
P. W. in Berlin
20.—
812
0. W. 21 in B
25.—
313
314
H. W. in Berlin
E. W. Hellek
Übe
20.-
8«.—
rtrag 1
9681.95
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Lfd.
xNr.
315
316
317
318
319
320
321
322
323
324
325
326
327
328
329
330
331
382
333
334
Name resp. Chiffre der Fondszahler
Übert
Wilh. W. in H
Non moriar, sed vivam
Otto W. in Ch
Dr. H. W. in Berlin . .
Ajo W. in Berlin . . .
Otto Wiesenthaly Hamburg
M. W. in Berlin ....
Harry W. in Ch
J. W. in R, (Ch.) . . .
Caesareon
Leo W. in E
Professor C. Wirz, Mailand
do. Eztrabeitr. 10.90
K. W., Schanmbnrg-Lippe
Wolf in C
P. A. W. in D
L. W., Berlin
do. ExtrabeitrSge
Ernst W. in Berlin . . .
St. V. Z. in B
20
Maximilian Bayer, Karlsruhe
Gertrud Zucker, Friedenau .
a) Summe der Jahre
+ 50
bogle
— 740 —
b] Außerdem erfolgten 1903 folgende einmalige Zahlungen:
Datum
11^ Januar
11. „
20. „
17. Februar
22. „
18. März
1. April
9. „
30. „
9. Mai
28. „
26. „
5. Juni
16. „
28. „
5. Juli
14. „
U. „
3. August
3. „
14. Septbr.
1. Oktober
1. „
1. »
1. „
1. V
1. »
1. „
1. »
1. „
10. „
15. „
Name resp. Chiffre
S. K
Konferenzsammlung
0. W. durch Max G.
H. R
N. N., Hamburg
C. H. in Berlin
Emma W. in G
Ungenannt, Düsseldorf
Münchener Subkomitee, I. Rate . .
Ungenannt, Wien
Frau A. W. in Berlin
Einzelbeitrag
B. L. in M
C. B. 75, Witten
Incognitus durch Dr. J
Konferenzeammlung 195.40 + 4.60 .
N. N. in Berlin
Aug. F. in E
Victor Wilhelm Sammlung in Köln .
C. H. in M. durch K
Aug. F. in E
Brüssel
F. K. in N
E. Z
N. N
Maaß
X. Y
W
S. B. .
L. Hirt .
Seh . . d .
C. F., Dresden ....
Müll. W. R. H., München
Mk.
5.—
400.—
20
1.—
10.—
2.—
2.50
20
50.-
8.-
3.-
1.—
2.60
20.—
28.—
200.—
100.—
3.—
12.—
20
3
40.—
20.—
20.—
7.—
8.—
—.50
1.—
8.—
1.—
1.—
5.—
100
Übertrag |i 1102.60
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741 —
Datum
18. Oktober
81. „
31. „
31. „
10. Novbr.
14. „
27. „
19.
29.
31.
Name resp. Chififrc
Mk.
Dezbr.
Obertrag
DetmeriDg
Franz W., Berlin
Fritz H., Berlin
Ühle, BLlein-Zscbachwitz
X. P. 100 durch F. ü. in M
Barth. Seh. in T., Kr. 7.60
V. R. in R
Arzt S. W
G. B. .
Münchener Subkomitee, II. Rate . . .
Tessmer, für nnbest. Petitionen zurück
für leere Eisten von Spohr zurück . .
für Volksschriften, um. Menschbrosch.,
Jahrbücher nsw. 20, 14, 12, 15.50, 18,
0.20, 1, 1.20, 2.30, 10, 8, 9.35, 3, 4, 0.20,
20, 4, 3.40, 36.80, 5, 10.40, 3, 3.90, 5, 10,
4.20, 1, 1.20, 0.60, 3, 25, 5, 15.50, 12.50,
4, 10.60, 1, 25, 14.45, 23, 21.20, 8, 17, 1
für Jahrbucheinbände n. Portos: 2, 1.75,
1.50, 3, 2.20, 3, 1.50, 1, 2, 2, 1.50, 4, 3,
1.50, 3, 2, 3, 1.70, 2, 3, 2.43, 4, 5, 0.50,
3, 1.50, 0.25, 1.50, 3, 1.50, 2.75, 1.75, 2,
1.50, 3, 3.50, 1.50, 1.70, 3, 3.50, 5, 3.25,
3.25, 7, 3.50, 5, 3, 3, 2.70, 3.50, 3, 1,75,
4, 3.50, 3.25, 1.50, 1.50, 3.40, 1.75, 3, 3,
5.45, 2, 3.50, 2, 5, 4.50, 5
für Monatsberichte: 3, 5, 5, 3, 3, 5, 3, 10,
8, 6, 3, 3, 4.95, 4, 5, 3, 8, 8, 3, 4, 3, 3, 8,
8, 3, 4.35, 6, 5, 8, 3, 3, 2, 5, 4, 10, 5, 3,
5, 3, 8, 8y 5} 5, 3, 5, 3, 5, 8, 5, 3, 3, 5, 8,
3, 3
b) Summe der einmaligen Zahlungen
1102.60
20.—
6.-
2.—
20.-
100.-
6.40
20.—
2.—
5.—
50.—
8.99
9.50
408.50
187.83
218.30
2166.12
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— 742
Ausgaben laut Buch:
Mk.
Petitionsversandt an ca. 25000 Direktoren und
Lehrer höherer Lehranstalten, Schnldepatationen
und Provinzial-Schulkollegieu
Rezensionsexemplare vom Jahrbuch u. umischen
Menschen an Zeitungen, Zeitschriften, Autoritäten
usw., sowie sonstige Propaganda (198.65) ....
Jahrbächer an die Fondszeichner
Volksschriften
Unkosten der Monatsversammlungen u. Konfe-
renzen (Einladungen, Portos usw.)
Fragebogenstatistik bis 81. Dezember . . . .
Statistische Enquete, technische Hochschule . .
Zeitungsausschnitte, Abonnements usw
Bücher, Bilder und Einbände für Bibliotheksbücher
Inventar, Präparate Zwitter und Embryo, Akten-
schrank, Stempel, Emailleschild usw
Monats- und Konferenzberichte
Schreibmaterialien (Papier, Kuverts usw.) . . .
Portos
Gehalt des Sekretärs
Diverses: Save-Depot, Inv.-Marken, Oessionsstempel,
Bote, Spesen und Baarauslagen bei behördlichen,
gerichtlichen und sonstigen Konferenzen in Berlin,
sowie bei den Kongressen der internationalen kri-
minalistischen Vereinigung in Dresden und der
Naturforscher in Kassel usw
Subkomitee Frankfurt f. dortige Monatsberichte,
Einladungen usw. durch J 68.80
für Portos, Aktenmappe usw. durch P. . . . 21. —
2405.49
2920.20
2879.70
215.60
504.50
249.—
315.15
158.85
268.85
68.70
249.85
178.95
604.11
1490.-
575.65
84.80
12658.40
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— 743 —
Gesamt- Einnahmen:
a) Beitrage der Fondszeichner . . . Mk. 10374.35
b) Einmalige Zahlungen „ 2166.12
c) Überschuß vom Jahre 1902 . . . „ 501.64
Mk. 13042.11
Gesamt-Ansgaben:
Wie vorseitig Mk. 12,658.40
Mithin Überschuß am 31. Dezbr. 1903 Mk. 383.71
Charlottenburg und Leipzig, 31. Dezember 1903.
Dr. Hirschfeld. Max Spohr.
Gegengezeichnet :
Fabrikbesitzer J. Heinr. Denker, Suliugen.
Rittergutsbesitzer W. Jansen, Friemen.
Anmerkungen zur Abrechnung:
1. Wir bemerken, daß diese Abrechnung nur die Beiträge
für 1908 und nachträgliche Eingänge für 1902 enthält, während
alle Eingänge für 1904 — auch die bereits im Jahre 1903 ge-
zahlten — erst in der nächsten Abrechnung erscheinen.
2. Die Abrechnungen sollen fernerhin schon im ersten
Quartal nach Ende eines Geschäfts-Kalenderjahres den Fond-
zahlem zugestellt werden, damit dieselben zeitiger in den Besitz
der Quittungleistung kommen und bitten wir daher, noch aus-
stehende Beiträge für 1904 baldigst einzusenden, damit die Rech-
nunglegung rechtzeitig und möglichst vollständig erfolgen kann.
3. In dieser Abrechnung haben bereits 43 Fondszahler die
Nennung ihres vollen Namens gestattet und wäre es sehr er-
wtlnscht, wenn diese Zahl sich noch erheblich steigern würde, um
so mehr, als viele Fondsbeiträge von Personen eingehen, die kein
persönliches, sondern rein sachliches Interesse an unserer Be-
wegung nehmen; eine Dekouvrierung als Homosexualer ist also
mit der Namensnennung nicht verbunden.
4. Unser Fonds wächst von Jahr zu Jahr, die Zahl der
Fondszahler ist von 243 (1902) auf 334 (1903) gestiegen, der Ge-
sammteingang von 7942.46 Mark (1902) auf 13042.11 Mark (1903)
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— 744 —
eine erfeuliche Steigerung im Verhältnis zu früheren Jahren; die
Befreiungsaktion verlangt naturgemäß jedoch immer mehr Mittel,
sodaß die vorhandenen Beträge fast ausschließlich für den Kampf
selbst verwendet werden mußten und wir die vielen Unterstützungs-
gesuche ihrer Existenz beraubter — sehr häufig dem Selbstmord
naher — Homosexueller leider unberücksichtigt lassen mußten.
Wieviel mehr hätte geleistet, wieviel Elend hätte gelindert werden
können, wenn eine zehnfache Anzahl Opferwilliger die Arbeiten
des Komitees unterstützen, wenn wohlhabende Persönlichkeiten
durch Kapitalzuwendungen einen eisernen Bestand schaffen würden,
aujs dessen Ertrag Würdigen Beistand gewährt werden könnte.
Wissenschaftlich-humanitäres Komitee München.
München, 31. Dezember 1908.
Abrechnung:
A. Einnahmen vom 1. Oktober 1902 bis 31. Dezember 1903:
1. An Teilnehmerbeiträgen . . . Mk. 415« —
2. An freiwilligen Beiträgen ... „ 41. —
3. Erlös aus verkauften Schriften . „ 89*90
Summa Mk. 495.90
B. Ausgaben für gleichen Zeitraum . . Mk. 467.54
Mithin ÜbeiBchuß am 81. Dzbr. 1908 . Mk. 28.36
Die Ausgaben verteilen sich für:
1. Inventar Mk. 41.95
2. Archiv und Bibliothek „ 128.40
8. Propaganda „ 58.71
4. Druckarbeiten „ 41.10
5. Schreibmaterialien „ 20.25
6. Schreibgebühren „ 28.15
7. Porti „ 44.88
8. Beitrag an das Berliner Komitee . „ 100. —
9. Diverse Spesen » 4.60
Summa Mk. 467.54
Gezeichnet: J. Seh edel. Gegengezeichnet: Dr. C. Hauck.
Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.
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lOogle
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